Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte
0911
2017
978-3-8385-4821-0
UTB
Stefan Neuhaus
Freiheit ist der Schlüsselbegriff der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte. Literatur stellt die Frage: Wie frei kann ein Individuum in einer Gesellschaft überhaupt sein? Goethes Götz stirbt im Kerker, seine letzten Worte lauten: "Freiheit! Freiheit!" Schillers Marquis Posa fordert vom spanischen König Philipp: "Geben Sie Gedankenfreiheit!" Für die orientierungslosen Figuren der Gegenwartsliteratur gilt hingegen: "Die Freiheit kommt, wenn sie irrelevant geworden ist" (Zygmunt Bauman).
Freiheit ist nicht nur zentrales Thema der Literatur, sie ist auch die Grundlage ihrer Entwicklung. Die Lyrik der Weimarer Klassik folgt anderen Regeln als die Lyrik der Klassischen Moderne. Die Freiheit der Autoren, eine eigene Form und Sprache finden zu dürfen, schließt auch den Zwang ein, stets etwas Neues bieten zu müssen.
Diese Einführung gibt nicht nur einen Überblick über die Literaturgeschichte, sondern verknüpft diesen Überblick mit einer zentralen Frage. An wichtigen Beispielen wird eine Geschichte der Literatur erzählt, die von etwas handelt - von der (Un-)Möglichkeit, frei zu sein.
<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-ceicbf! ISBN 978-3-8252-4821-5 Stefan Neuhaus Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte Diese Einführung gibt einen Überblick über die Neuere deutschsprachige Literaturgeschichte und verknüpft damit die Frage: Wie frei kann ein Individuum in einer Gesellschaft sein? Zugleich ist Freiheit Grundlage schöpferischer Produktion und damit der Entwicklung von Literatur. An eindrucksvollen Beispielen wird eine Geschichte der Literatur erzählt, die von der (Un-)Möglichkeit handelt, frei zu sein. Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte Neuhaus Lehrbücher mit einem klaren Konzept: ▶ Definitionen, Beispiele und Zusammenfassungen erleichtern den Überblick ▶ Testfragen fördern das Verständnis ▶ ideal für die Prüfungsvorbereitung basics basics Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Germanistik | Literaturwissenschaft 48215 Neuhaus_M-4821.indd 1 10.08.17 15: 16 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 4821 48215_Neuhaus_Titelei.indd 1 06.07.17 09: 59 <?page no="2"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 4821 48215_Neuhaus_Titelei.indd 1 06.07.17 09: 59 <?page no="3"?> basics 48215_Neuhaus_Titelei.indd 2 06.07.17 09: 59 Stefan Neuhaus Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte A. Francke Verlag Tübingen 48215_Neuhaus_Titelei.indd 3 06.07.17 09: 59 <?page no="4"?> basics 48215_Neuhaus_Titelei.indd 2 06.07.17 09: 59 Stefan Neuhaus Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte A. Francke Verlag Tübingen 48215_Neuhaus_Titelei.indd 3 06.07.17 09: 59 <?page no="5"?> IV Stefan Neuhaus ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Umschlagabbildung: Alexander Deyneka, Portrait of a Girl with book, 1934. © 2017, State Russian Museum, St. Petersburg. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet <über http: / / dnb.dnb. de> abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Layout und Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany utb-Band-Nr. 4821 ISBN 978-3-8252-4821-0 <?page no="6"?> V Inhalt Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI 1 Einleitung: Eine allgemeine Literaturgeschichte mit einem besonderen Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Die Erfindung der Freiheit und die Neuere deutschsprachige Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2.1 Die Erfindung der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2.2 Das Problem der individuellen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.3 Das Problem der Organisation von Freiheit . . . . . . . . . . . . 12 2.4 Freiheit und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3 Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang . . . . . . . . 19 3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.2 Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus (1668) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.3 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772) . . . . . . 34 3.4 Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen (1773) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.5 Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther (1774/ 87) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.6 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise (1779) . . 55 3.7 Friedrich Schiller: Die Räuber (1781) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.8 Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.9 Friedrich Schiller: Don Carlos. Infant von Spanien (1787) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4 Klassik und Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.2 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) . . . . . . . . . . . . 94 <?page no="7"?> VI I nhalt 4.3 Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802) . . . . . . . . . . . . . . 99 4.4 Friedrich Schiller: Wilhelm Tell (1804) . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.5 Heinrich von Kleist: Penthesilea (1808) . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.6 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I und II (1808/ 1833) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.7 E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf (1814) . . . . . . . . . . . . . . 134 4.8 E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann (1816) . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.9 E. T. A. Hoffmann: Der Einsiedler Serapion (1819) . . . . . 146 5 Vormärz, Realismus und Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.2 Heinrich Heine: Buch der Lieder (1827) . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 5.3 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) . . 169 5.4 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5.5 Georg Büchner: Woyzeck (1879) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 5.6 Gerhart Hauptmann: Die Weber (1892) . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 5.7 Theodor Fontane: Effi Briest (1895) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 6 Literarische Moderne (Jahrhundertwende, Expressionismus, Weimarer Republik) und Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 6.2 Thomas Mann: Buddenbrooks (1901) / Der Tod in Venedig (1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 6.3 Franz Kafka: Das Urteil (1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 6.4 Franz Kafka: Die Verwandlung (1916) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 6.5 Kurt Pinthus: Menschheitsdämmerung (1919) . . . . . . . . . 232 6.6 Bertolt Brecht: Hauspostille (1927) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 6.7 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928) . . . . . . . . . . . 247 6.8 Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz (1929) . . . . . . . . . . . 252 6.9 Erich Kästner: Emil und die Detektive (1929) . . . . . . . . . . 260 6.10 Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen (1932) . . . . . 268 7 Nachkriegszeit, Studentenrevolution, Popliteratur und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 7.2 Günter Grass: Die Blechtrommel (1959) . . . . . . . . . . . . . . . . 287 7.3 Hilde Domin: Nur eine Rose als Stütze (1959) . . . . . . . . . . 295 <?page no="8"?> VII I nhalt 7.4 Michael Ende: Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer / Jim Knopf und die Wilde 13 (1960/ 1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 7.5 Christa Wolf: Der geteilte Himmel (1963) . . . . . . . . . . . . . . 309 7.6 Uwe Timm: Heißer Sommer (1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 7.7 Martin Walser: Ein fliehendes Pferd (1978) . . . . . . . . . . . . . 324 7.8 Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin (1983) . . . . . . . . . . . . 332 7.9 Ruth Klüger: Weiter leben (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 7.10 Christian Kracht: Faserland (1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 7.11 Ulla Hahn: Das verborgene Wort (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . 353 7.12 Felicitas Hoppe: Johanna (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 7.13 Thomas Bernhard: Meine Preise (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 7.14 Wolfgang Herrndorf: Tschick (2010) / Bilder deiner großen Liebe (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 8 Epilog: Johann Nestroy: Freiheit in Krähwinkel (1849) . . . . . . . . . . . . 377 9 Literatur und Freiheit gestern und heute. Ein vorläufiges Fazit . . . 383 10 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 10.1 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 10.2 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 11 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 12 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 13 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 <?page no="10"?> IX Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit. Friedrich Schiller (SÜ, 572) <?page no="12"?> XI Siglenverzeichnis Um ökonomisch mit den Nachweisen im Text umzugehen, findet sich die Sigle mit der Seitenzahl nicht hinter jeder zitierten Stelle, sondern jeweils nach dem letzten Zitat der angegebenen Seite. AS = Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von: Der abenteuerliche Simplizissimus. (Grimmelshausen 1983) BA = Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. (Döblin 1997) BB = Thomas Mann: Buddenbrooks. (Mann 1990b) BD = Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. (Herrndorf 2014) BW = Georg Büchner: Woyzeck. (Büchner 1986a) DB = Günter Grass: Die Blechtrommel. (Grass 1987) DJ = Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche. (Droste-Hülshoff 2014) DK = Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin. (Jelinek 2009) DO = Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper. (Brecht 1997c) DU = Franz Kafka: Das Urteil. (Kafka 1995a) DV = Franz Kafka: Die Verwandlung. (Kafka 1995b) DW = Ulla Hahn: Das verborgene Wort. (Hahn 2012) EB = Theodor Fontane: Effi Briest. (Fontane 1969a) ED = Erich Kästner: Emil und die Detektive. (Kästner 1998a) EG = Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. (Lessing 2003a) EM = Paefgen / Geist (Hg.): Echtermeyer. Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. (Paefgen / Geist 2010) FK = Johann Nestroy: Freiheit in Krähwinkel. (Nestroy 1987) FL = Christian Kracht: Faserland. (Kracht 1997) FP = Martin Walser: Ein fliehendes Pferd. (Walser 1980) GB = Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. (Goethe 1998e) GF1 = Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. (Goethe 1998d) GF2 = Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. (Goethe 1998c) GW = Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther. (Goethe 1998b) HB = Heinrich Heine: Buch der Lieder. (Heine 1994a) HE = E. T. A. Hoffmann: Der Einsiedler Serapion. (Hoffmann 2001) HG = E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf. (Hoffmann 1993) <?page no="13"?> XII S IglenverzeIchnI S HO = Novalis: Heinrich von Ofterdingen. (Novalis 1999) HP = Bertolt Brecht: Hauspostille. (Brecht 1997b) HS = E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. (Hoffmann 1995) HW = Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. (Heine 1994b) JK = Michael Ende: Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer. (Ende 1973) JO = Felicitas Hoppe: Johanna. (Hoppe 2006) JW = Michael Ende: Jim Knopf und die Wilde 13. (Ende 1995) KM = Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. (Keun 2003) MD = Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. (Pinthus 1999) NW = Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. (Lessing 2003b) PE = Heinrich von Kleist: Penthesilea. (Kleist 1994) RS = Hilde Domin: Nur eine Rose als Stütze. (Domin 1959) SD = Friedrich Schiller: Don Carlos. (Schiller 1981c) SO = Uwe Timm: Heißer Sommer. (Timm 1998a) SR = Friedrich Schiller: Die Räuber. (Schiller 1981b) ST = Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. (Schiller 1981i) SÜ = Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. (Schiller 1981g) SV = Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. (Schiller 1981a) TF = Jonas Pfister (Hg.): Texte zur Freiheit. (Pfister 2014) TM = Thomas Bernhard: Meine Preise. (Bernhard 2010) TS = Wolfgang Herrndorf: Tschick. (Herrndorf 2012) WE = Gerhart Hauptmann: Die Weber. (Hauptmann 2002) WH = Christa Wolf: Der geteilte Himmel. (Wolf 1994) WL = Ruth Klüger: Weiter leben. (Klüger 1993) <?page no="14"?> 1 S IglenverzeIchnI S Einleitung: Eine allgemeine Literaturgeschichte mit einem besonderen Blick Mit der Aufklärung beginnt das unvollendete Projekt der größtmöglichen individuellen Freiheit. Nicht nur für das Individuum, auch für die Literatur sind die starren alten Ordnungsmuster immer weniger verbindlich. Freiheit wird das zentrale Thema der Neueren deutschsprachigen Literatur, auf der Ebene der Form, mit der zunehmend experimentiert wird, und auf der Ebene der Handlung, wenn die Figuren von ihrer Umwelt mehr Freiheit verlangen oder wenn sie mit ihren Freiheiten nicht zurechtkommen. Eine Geschichte der Literatur ist auch immer eine Geschichte der Freiheit - und umgekehrt. Der Kontinent der Literatur ist unermesslich groß. Deshalb gibt es auch keine Weltliteraturgeschichte, obwohl es sie geben müsste, um den Verbindungen zwischen den Autoren und Texten gerecht zu werden. Literatur war schon immer international und global. Ohne die Epen Homers, die Erzählungen aus den tausendundein Nächten (8.-10. Jhd.), Boccaccios Dekameron (1470), Cervantes’ Don Quijote (1605) oder die Dramen Shakespeares wäre die deutschsprachige Literatur nicht zu denken. Sir Walter Scott schrieb den ersten modernen historischen Roman und orientierte sich dabei an Goethe, Scott beeinflusste wiederum deutschsprachige Autoren wie Wilhelm Hauff oder Theodor Fontane. Die Literatur der literarischen Moderne beginnt mit französischen Autoren, die Popliteratur der 1990er Jahre orientiert sich an englischen und US-amerikanischen Romanen - um nur einige Beispiele zu nennen. Doch schon die Neuere deutschsprachige Literaturgeschichte ist zu umfangreich, um sie auch nur annähernd zufriedenstellend in einem einzigen Buch behandeln zu können. Das deutsche Sprachgebiet umfasst heute vor allem die Länder Deutschland und Österreich sowie Teile der Schweiz, folglich wird hier auch der Begriff der deutschsprachigen Literatur verwendet, nicht der 1. Zusammenfassung Literatur ist international Notwendige Begrenzungen <?page no="15"?> 2 e InleItung etablierte, aber etwas diskriminierende der ›deutschen‹ Literatur. Jedes dieser Länder, aber auch viele Regionen haben eine eigene, besondere Geschichte der Literatur. In einer Überblicksdarstellung, wie sie hier versucht wird, kann nur ein kleiner Teil von Autoren und Texten angesprochen werden. Auch wenn dies in der Natur einer solchen Auswahl liegt, muss es nicht nur erwähnt, sondern ausdrücklich bedauert werden. Es erscheinen 80 000 neue Titel jährlich allein in deutscher Sprache, ein nicht unerheblicher Teil davon gehört zur Belletristik, also zur fiktionalen Literatur. Historisch gesehen handelt es sich um eine nicht mehr überschaubare Zahl von Texten. Da die Lebens- und Lesezeit begrenzt ist, werden selbst fleißige Leser nicht mehr als vielleicht 6000 Bücher in ihrem Leben lesen können. Titelseite der Breslauischen Sammlungen, 1718, einer der seinerzeit führenden deutschen wissenschaftlichen Zeitschriften, als die Wissenschaften noch nicht so getrennt waren wie heute Abb. 1.1 <?page no="16"?> 3 e InleItung Auch wenn eine Einführung in die Literaturgeschichte immer danach trachten wird, möglichst viele Autoren und Texte zumindest anzusprechen, gibt es besonders schmerzliche Lücken, literaturgeschichtlich und thematisch. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Es fehlt der erste Bildungsroman, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795 / 96), in dem die Suche nach individueller Freiheit die zentrale Motivation der Hauptfigur ist. Es fehlt der zu Lebzeiten viel gelesene und 1972 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete Heinrich Böll (1917-85), etwa mit seiner Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann (1974), in der gezeigt wird, wie mit Hilfe der modernen Massenmedien an einer jungen Frau Rufmord begangen und sie selbst zu einem Mord getrieben wird. Um das Thema Freiheit, das für diese Einführung eine besondere Rolle spielt, für die 1970er Jahre zu behandeln, müsste auch auf die Rote Armee Fraktion (RAF) eingegangen werden, über die es eine eigene Literatur gibt. Ebenfalls ausdrücklich bedauert wird, dass zwei zentrale Freiheitsbewegungen - die Emanzipation von Frauen und die Auseinandersetzung mit dem ›Fremden‹, etwa aus Sicht von MigrantInnen und deren Kindern - nicht abgebildet werden können. Beides hätte größere Schwerpunktsetzungen zur Folge gehabt, die in einem solchen kursorischen, notwendig allgemein bleibenden Überblick nicht zu leisten sind. Autorinnen haben sich erst seit der Nachkriegszeit mühsam einen Platz im literarischen Feld erkämpfen müssen, die vorherigen Beispiele erfolgreicher Schriftstellerinnen sind Ausnahmen. Die männliche Herrschaft, so der Titel von Pierre Bourdieus Studie, 1998 auf Französisch und 2005 auf Deutsch erschienen, ist auch heute noch nicht vorbei. Sie wird allerdings in einem Diskurs verhandelt, der - nach Judith Butler - Geschlecht als kulturell geformte Kategorie begreift; was natürlich nicht heißt, dass damit die Geschlechtsunterschiede geleugnet würden (dies ist ein populäres Missverständnis). Unzweifelhaft bleibt, dass die gesellschaftliche Stellung, die Frauen historisch zugewiesen wurde, dazu geführt hat, dass sie bis vor wenigen Jahrzehnten deutlich schlechtere Chancen hatten, als Autorinnen zu reüssieren. Ebenfalls in diesem Zeitraum mussten und müssen sich MigrantInnen mit ihren Texten behaupten. Feridun Zaimoglu (geb. 1964) beispielsweise hat mit Kanak Sprak (1995) für diesen Emanzipationsversuch eine eigene Sprache gefunden und damit, im Lesepublikum wie bei Literaturexperten, großen Erfolg gehabt. Die Qual der Wahl Andere mögliche Schwerpunkte <?page no="17"?> 4 e InleItung Alle Leserinnen und Leser 1 sind also ausdrücklich dazu eingeladen, dieses Buch in Gedanken zu ergänzen! Denn auch das ist Freiheit - sich anregen zu lassen und die in Auseinandersetzung mit den Ideen anderer gewonnene, eigene Auffassung von Literaturgeschichte zu entwickeln. Literatur ist ein Prozess und, wie bereits Michail Bachtin betont hat, ein Dialog (vgl. Zima 2000, 374 f.). Jedes Buch spricht mit seinem Leser, Leser sprechen untereinander und auch Autoren, Kritiker, Literaturwissenschaftler und viele andere sind an einem solchen, bei bekannten Büchern oftmals polyphonen und unüberschaubaren Gespräch beteiligt. Die Idee zu diesem Buch basiert auf zwei Beobachtungen: Erstens, dass ein thematischer roter Faden beim Lesen hilft und zweitens, dass es ein solches Buch noch nicht gibt. Es existieren zahlreiche Einführungen in die Literaturgeschichte, aber wenige monographische (also von einem Autor) und keine solche, die Literaturgeschichte mit einem thematischen Schwerpunkt und an einer Reihe von Beispieltexten erläutert. Die praktische Umsetzung versucht der Absicht Rechnung zu tragen, dass das Buch als erster Schritt zu einem stets ergänzungs- und diskussionswürdigen, aber allerersten Kanon der Neueren deutschsprachigen Literatur gelesen werden und im Rahmen einer Einführung in die Literaturgeschichte im Studium der Germanistik Verwendung finden kann. Ein solches Einführungsbuch kann keine Bibliothek ersetzen, aber es kann als eine mögliche Orientierung dienen, welche Bücher aus welchen Gründen lesenswert sein können. Wenn dieses Buch zum Lesen und Weiterlesen anregt, dann hat es sein wichtigstes Ziel erfüllt. 1 Auch wenn dies unbefriedigend ist, wird zugunsten des Leseflusses in den folgenden Kapiteln in der Regel die männliche Form verwendet und die weibliche mit gemeint. Literatur als Prozess und Dialog <?page no="18"?> 5 S IglenverzeIchnI S Die Erfindung der Freiheit und die Neuere deutschsprachige Literaturgeschichte 2.1. Die Erfindung der Freiheit 6 2.2. Das Problem der individuellen Freiheit 9 2.3. Das Problem der Organisation von Freiheit 12 2.4. Freiheit und Literatur 16 Freiheit ist der Schlüsselbegriff der Moderne. Seit der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit wird das Individuum aus der bisherigen christlich-feudalen Ordnung gelöst und kann zunehmend seinen eigenen Lebensweg bestimmen. Doch die Abwesenheit äußerer Zwänge führt zu der Frage, wie frei ein Individuum sein darf, ohne die Freiheit der anderen einzuschränken. Die Krisen der Freiheit in der Moderne führen wieder in die Unfreiheit (im Nationalsozialismus) oder zur Orientierungslosigkeit angesichts der zahlreichen Möglichkeiten, zwischen verschiedenen Lebensentwürfen zu wählen. Mit der Genieästhetik wird auch die Literatur von den früheren Zwängen der Form befreit. Die Texte folgen ihren eigenen Regeln. Sie spielen verschiedenste Versuchsanordnungen der Freiheit durch. Auf der Ebene der Handlung inszenieren sie an gesellschaftlichen Zwängen oder an sich selbst scheiternde Figuren bis zu solchen, die lernen, kollektive Freiheit zu organisieren oder mit der individuellen Freiheit umzugehen. Form und Stil reflektieren die Auseinandersetzung mit der Freiheit, durch die produktive Rezeption überlieferter Formsprachen, etwa in der Klassik, oder durch das Aufbrechen von Formen in der literarischen Moderne, in der die Brüche in der Erzählung mit den Brüchen in den Lebensläufen der Figuren konvergieren. 2. Inhalt Zusammenfassung <?page no="19"?> 6 D Ie e rfInDung Der f reIheIt Die Erfindung der Freiheit »Es gibt wohl kein Wort, dem man mehr unterschiedliche Bedeutungen gegeben hätte als dem Wort Freiheit. Kein Wort hat die Geister so vielfältig gefesselt«, meint schon Montesquieu in seiner Schrift Vom Geist der Gesetze aus dem Jahr 1748 (TF, 246). Ernst Bloch (1885-1977) kommt 1954-59 in Das Prinzip Hoffnung zu einem ähnlichen Ergebnis: »Je größer die Worte, desto eher kann sich Fremdes in ihnen verstecken. Dies ist besonders mit Freiheit, mit Ordnung der Fall, wobei oft jeder sich das Seine denkt« (Bloch 1986, 74). Der deutsche Begriff der Freiheit hat seine Wurzeln im althochdeutschen fr ī heit, was laut Duden soviel heißt wie ›freier Sinn‹ oder ›verliehenes Privileg‹, dann im mittelhochdeutschen vr ī heit, das den ›Stand eines Freien‹ und ein ›Privileg‹ ebenso bezeichnet wie ein ›Asyl‹ und einen ›Zufluchtsort‹. Freiheit wird zu dem Schlüsselbegriff der Moderne und damit auch der Literatur der Moderne, seit sie im 18. Jahrhundert diskursiv und somit verhandelbar geworden ist. Mit der Entstehung des modernen Subjekts und einer bürgerlichen Öffentlichkeit setzt sich die Auffassung durch, dass Freiheit etwas ist, das Menschen ganz individuell zusteht. Immanuel Kant (1724-1804) koppelt den Begriff der Aufklärung an den der Freiheit: »Zu dieser Aufklärung wird aber nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen« (Kant 2002, 11). Dieses Zitat, das Freiheit auch und besonders als Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung konzipiert, findet sich in Kants programmatischem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1783, der mit den folgenden, berühmten Worten beginnt: 2.1. Freiheit wird zu dem Schlüsselbegriff der Moderne Freiheitsstatue, New York City Abb. 2.1 <?page no="20"?> 7 D Ie e rfInDung Der f reIheIt Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (Kant 2002, 9) Für Kant ist Freiheit also eine Frage des individuellen Mutes und Wollens, sie setzt dabei die Auffassung von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen voraus. Das ist ein radikaler Bruch mit dem früheren Denken, das Freiheit einerseits von der sozialen Stellung des Menschen und andererseits von Gott abhängig machte. Im antiken Griechenland waren Männer frei, die am politischen Leben teilhaben durften und »keiner äußeren Gewalt unterworfen«, also etwa keine Frauen oder Sklaven und damit Eigentum eines anderen waren (TF, 13 f.). Der menschliche Wille zur Freiheit ist für den antiken Menschen durch das Schicksal begrenzt. In der antiken Tragödie sind jene adeligen Männer Helden, die ihr Schicksal, also das, was sie nicht ändern können, annehmen und nicht unnötig dagegen aufbegehren. Die Religionen machen Freiheit vom Glauben und von der Gnade des jeweiligen Gottes abhängig. Doch wie kann es ein guter Gott zulassen, dass Menschen leiden, dass ihnen Böses widerfährt, und wie kann ein Mensch einen ›freien Willen‹ zum Guten oder Bösen haben, wenn es eine Vorsehung gibt? Im christlich geprägten Mittelalter wird dieses Problem als Frage der Theodizee diskutiert (abgeleitet von den altgriechischen Wörtern für ›Gott‹ und ›Gerechtigkeit‹) (vgl. TF, 7-31, 53-65). Erst im späten Mittelalter knüpft der Diskurs über Freiheit wieder an die vorchristliche Zeit an. Die zunehmende Schwäche des christlichen Weltbildes, mit den Kirchenspaltungen in England und auf dem Kontinent, macht es notwendig, die Ordnung zwischenmenschlichen Zusammenlebens irdisch zu begründen. An die Stelle einer religiösen Moral tritt eine säkulare, die den egoistischen Trieben des Menschen neue Zügel anlegt. Kants Ansatz ist revolutionär, bestimmt er doch das Subjekt als - zumindest potentiell - autonom Handelndes, so wie es auch in der Literatur des Sturm & Drang angelegt ist. Gott wird entthro- Freiheit und Schicksal Freiheit und Religion Die Aufklärung <?page no="21"?> 8 D Ie e rfInDung Der f reIheIt nisiert, der Mensch an seine Stelle gesetzt, denn er kann selbst, unabhängig von einer höheren Instanz, schöpferisch tätig sein, indem er etwas Neues beginnt: »Dagegen verstehe ich unter Freiheit, im kosmologischen Verstande, das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen […]. Die Freiheit ist in dieser Bedeutung eine rein transzendentale Idee […]« (TF, 100). Die Welt ist nicht einfach so, wie sie ist, sie wird erst durch unsere Wahrnehmung geschaffen, erschlossen, erklärt. Ob es einen Gott gibt oder nicht und wie sein Wille mit dem des Menschen zu vermitteln ist, ist eine nicht zu beantwortende Frage. Hinter unsere Wahrnehmung können wir nicht zurückgehen. Das Subjekt wird als begrenzt und grenzenlos zugleich gedacht. Um auch ohne höhere Instanz die Interessen von Individuum und Gesellschaft ausgleichen zu können, ist eine weitere gedankliche Operation notwendig. Der Mensch ist, wie wir bereits festgestellt haben, Zwängen der Natur unterworfen und er kann durch seinen eigenen Willen Gutes oder Böses tun. Hier kommt Kants kategorischer Imperativ zum Einsatz, für ihn ist »ein schlechterdings guter Wille […] derjenige, dessen Maxime jederzeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich enthalten kann« (TF, 105). »Der positive Begriff der Freiheit« (ebd.) ist daher untrennbar mit dem für die Aufklärung so grundlegenden Begriff der »Vernunft« verbunden (TF, 107). Kant fasst zusammen: Als ein vernünftiges, mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft jederzeit sich selbst beilegen muß) ist Freiheit. Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit, welches in der Idee aller Handlungen vernünftiger Wesen ebenso zum Grunde liegt, als das Naturgesetz allen Erscheinungen. (TF, 108 f.) Aber ist der Wille des Menschen denn wirklich so frei? Arthur Schopenhauer (1788-1860) meldet Bedenken an, zu widersprüchlich ist für ihn das, was Menschen wollen. Er hält es für naiv, Menschen gottähnliche Attribute zuschreiben zu wollen (TF, 113). Friedrich Nietzsche (1844-1900) zieht aus der säkularen Verbindung von Wille und Moral eine radikale Konsequenz: »Also: weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet Kants kategorischer Imperativ Grenzen der individuellen Freiheit <?page no="22"?> 9 D a S P roblem Der InDIvIDuellen f reIheIt er Reue und Gewissensbisse« (TF, 117). Die Vorstellung von Moral, also was richtig oder falsch, gut oder böse ist, ist eine »an die Entwicklung der Sitte und Cultur geknüpfte Sache und vielleicht nur in einer verhältnismässig kurzen Zeit der Weltgeschichte vorhanden« (TF, 113). Peter Bieri hat das Paradox der Freiheit so erklärt: »Seine Unbeeinflußbarkeit würde den unbedingt freien Willen nicht nur zu einem fremd anmutenden, sondern auch zu einem verrückten Willen machen. Er würde sich nämlich nicht nur dem Einfluß des Überlegens entziehen, sondern auch dem Einfluß der Wahrnehmung« (Bieri 2013, 232). Wie individuell Wahrnehmung ist und welche Konsequenzen es haben kann, wenn Wahrnehmung stillgestellt wird, wird in der Literatur immer wieder beispielhaft durchgespielt, etwa in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann. Doch bevor die Literatur zum Thema werden kann, sind weitere, den Begriff der Freiheit betreffende Fragen zu klären. Das Problem der individuellen Freiheit Der Diskurs über Freiheit wird von den Fragen nach Natur und Moral bestimmt, von einer als natürlich angesehenen Ordnung, an die es sich klugerweise anzupassen gilt, bis zu einer göttlichen oder irdischen Moral, die verbindliche Verhaltensweisen vorsieht, um zwischen individuellen und kollektiven Bedürfnissen zu vermitteln. »Die grundlegende Frage lautet: Welche Einschränkung der Freiheit durch andere Menschen ist erlaubt? « (TF, 21). Der Gegensatz, den Kant noch zwischen »Natur« und »Freiheit« sieht (»Man kann sich nur zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht, denken, entweder nach der Natur, oder aus Freiheit«; TF, 99), erscheint fragwürdig. Denn wo sind die Grenzen der Natur, wenn der Mensch sein eigenes Umfeld geschaffen hat, das nach eigenen Gesetzen funktioniert, Freiheit und Wahrnehmung 2.2. Jeanne d’Arc bei der Krönung Karls VII. in der Kathedrale von Reims, 1854. Gemälde von Jean-Auguste Dominique Ingres Abb. 2.2 <?page no="23"?> 10 D Ie e rfInDung Der f reIheIt oder wenn er von seiner Natur in seiner Psyche so bestimmt wird, dass er nicht einmal angeben kann, wo in seinem Denken und Handeln die Grenze zwischen Natur und Freiheit verläuft? Sigmund Freud (1856-1939) führt 1917, in seiner Abhandlung Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, die neue Auffassung von den Grenzen menschlichen Wollens und Könnens prägnant auf drei ›Kränkungen der Menschheit‹ zurück. Er spricht von der »Zerstörung dieser narzißtischen Illusion« des Menschen. Mit der ›Kopernikanischen Wende‹ (der Mensch ist nicht mehr Mittelpunkt des Universums), Darwins (1809-82) Anthropologie (der Mensch »ist selbst aus der Tierreihe hervorgegangen«) sowie der Psychoanalyse ist laut Freud das vormals so mächtige Subjekt dezentriert worden. Die Psychoanalyse selbst habe gezeigt, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus« (Freud 1999b, 7). Die ›völkische Literatur‹ versucht, hinter die Moderne zurückzugehen und mit neuen Allmachtsphantasien des Menschen ein neues totalitäres Denken zu installieren. Angesichts von NS-Diktatur und Holocaust ein fataler Irrweg. Die Postmoderne wird aus den Fehlern der Moderne vor allem die Konsequenz ziehen, dass es nicht genügt, nur die Beschränkungen und Begrenztheiten dar- und auszustellen, sondern sie zugleich auch zu reflektieren und durch Distanz zu ihnen den Menschen wieder handlungsfähig werden zu lassen. Denn Distanz erzeugt die Freiheit, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Heute lässt sich angesichts wieder erstarkender totalitärer Tendenzen allerdings fragen, was die Menschen aus der Geschichte gelernt haben. Die im 18. Jahrhundert neu gewonnene Freiheit hat also entschiedene Ambivalenzen. Der Mensch ist frei, aber er ist zugleich und zunehmend, so hat es der Soziologe Zygmunt Bauman im Jahr 2000 formuliert, zur Freiheit verdammt: »Die Freiheit kommt, wenn sie irrelevant geworden ist. In der auf dem Herd der Individualisierung angerichteten schmackhaften Suppe der Freiheit schwimmt die Fliege der Ohnmacht, die um so unangenehmer auffällt, als die langersehnten Möglichkeiten der Freiheit nun vor Augen treten« (Bauman 2003, 46). Nimmt man aber statt der unbestreitbaren Risiken auch die Chancen der Freiheit in den Blick, dann lässt sich mit Judith Butler feststellen, dass Begrenzungen zugleich die Grundlage der Befreiung von Zwängen sein können: »Es heißt aber, dass wir von eben dem, was unser Handeln bedingt, keine vollständige Grenzen des menschlichen Wollens und Könnens Ambivalenzen der Freiheit <?page no="24"?> 11 D a S P roblem Der InDIvIDuellen f reIheIt Rechenschaft geben, dass wir keine konstitutive Grenze dafür angeben können, und es heißt, dass dieser Zustand paradoxerweise die Grundlage unserer Zurechenbarkeit ist« (Butler 2002, 148). Butler greift hier auf Vorstellungen von Foucault (1926-84) zurück, der Identität und gesellschaftliche Stellung von Individuum und Subjekt kritisch reflektiert. Foucault spricht von einer »zweifache[n] Unterwerfung«: »die Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und die Unterwerfung der Diskurse unter die Gruppe der sprechenden Individuen« (Foucault 2000, 29). Diskurse strukturieren das menschliche Zusammenleben. Sie bestehen aus sozialen Beziehungen, die immer auch Machtbeziehungen sind. Beziehungen manifestieren sich in Regeln - Erwartungen, Verhaltensvorschriften, ungeschriebenen oder geschriebenen Gesetzen. Diese Regelhaftigkeit des Diskurses lässt sich zeigen oder auch historisch nachverfolgen, wenn man die Kommunikation und die Interaktion der Menschen untersucht. Das, was gesagt wird, ist dabei oft nicht das, was gemeint ist, da Menschen bestrebt sind, ihre eigenen Interessen durchzusetzen und ihre Position im Diskurs, also ihre Stellung gegenüber anderen Individuen zu verbessern. Individuen können im Rahmen der gegebenen Regeln und Ordnungen Diskurse gestalten, sie sind aber auch als Subjekte - bereits im Begriff steckt Unterwerfung (lat. subiectum) - von diesen Regeln und Ordnungen abhängig. Die relative Freiheit wird noch dadurch erschwert, dass es, je nach Subjekt oder Gruppe, unterschiedliche Wahrnehmungen gibt, welche Regeln in welcher Situation für wen gelten sollten. Foucault stellt fest: Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht. Man muß den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen. In dieser Praxis finden die Ereignisse des Diskurses ihre Regelhaftigkeit. (Foucault 2000, 34 f.) Die Möglichkeiten, als Individuum frei zu sein, sind weder von der Wahrnehmung noch von den Regeln und Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens zu trennen. Freiheit im und als Diskurs <?page no="25"?> 12 D Ie e rfInDung Der f reIheIt Das Problem der Organisation von Freiheit Freiheit ist auch das Schlüsselwort der Politik, wenn man Hannah Arendt (1906-75) folgt: »Man kann nicht über Politik sprechen, ohne immer auch über Freiheit zu sprechen, und man kann nicht von Freiheit sprechen, ohne immer schon über Politik zu sprechen« (TF, 294). Literatur und Politik sind einerseits getrennt und andererseits eng miteinander verbunden. Die Rolle des kritischen Intellektuellen hat Pierre Bourdieu (1930-2002) am Beispiel von Émile Zola (1840-1902) gezeichnet (Bourdieu 2001, 209-214). Demnach fällt die »Erfindung des Intellektuellen« (Bourdieu 2001, 209) in die Zeit des Beginns der Literarischen Moderne um 1900: »Der Intellektuelle konstituiert sich als solcher, indem er in das politische Feld eingreift im Namen der Autonomie eines kulturellen Produktionsfeldes, das zu einem hohen Grad von Unabhängigkeit gegenüber den staatlich-gesellschaftlichen Machtinstanzen gelangt ist […]« (Bourdieu 2001, 210 f.). Émile Zola veröffentlicht am 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore J’accuse …! , einen offenen Brief an Félix Faure, den Präsidenten der Französischen Republik; es geht um die sogenannte Dreyfus-Affäre (Bourdieu 2001, 214). Diese Intervention markiert aber weniger einen Neubeginn als eine neue Qualität der Rolle von Autoren und Künstlern im politischen Diskurs. Bereits Goethe, Schiller, Heine und viele andere deutschsprachige Autoren haben sich, wie wir noch sehen werden, als autonom verstanden und politisch zu Wort gemeldet, gerade, wenn es um die zentrale Frage der Freiheit des Individuums geht. Dieser Zusammenhang wird selten thematisiert, denn das Übergreifen vom literarischen Feld ins politische ist ein Problem für die Literaturwissenschaft, die autonom-ästhetische Bewertungskriterien präferiert. Wie lässt sich nun das Interesse des Individuums und das einer Gemeinschaft miteinander vermitteln? Diese Frage ist und bleibt strittig, doch an Konzepten hat es, seit es Vorstellungen von Freiheit gibt, nicht gefehlt. Aristoteles stellt fest: »Eine Voraussetzung also der demokratischen Verfassung ist die Freiheit«, wobei für ihn der Maßstab demokratischer Freiheit ist, dass das gilt, »was der Mehrzahl richtig scheint« (TF, 122). Nur - wer wird jeweils mitgezählt? Die angeblich so freie Schweiz beispielsweise hat das allgemeine Frauenwahlrecht erst 1971 eingeführt, in einzelnen Kantonen dauerte die Umsetzung sogar bis 1990. 2.3. Die Rolle des kritischen Intellektuellen Individuum und/ oder Gemeinschaft <?page no="26"?> 13 D a S P roblem Der o rganI SatIon von f reIheIt Bis ins 18. Jahrhundert und in der Praxis weit darüber hinaus ist Freiheit abhängig von Herrschaft. Thomas Hobbes (1588-1679) hält 1651 im Leviathan fest: »In den Fällen, in denen der Souverän keine Regel vorgeschrieben hat, besitzt der Untertan die Freiheit, nach eigenem Ermessen zu handeln oder es zu unterlassen« (TF, 235). Diese Auffassung wird zunehmend problematisch. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) wird 1762 sehr deutlich: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten« (TF, 253). Deshalb plädiert er für einen »Gesellschaftsvertrag« (TF, 255). Und Adam Smith (1723-90) meint in Der Wohlstand der Nationen von 1776: »Gibt man daher alle Systeme der Begünstigung und Beschränkung auf, so stellt sich ganz von selbst das einsichtige und einfache System der natürlichen Freiheit her. Solange der einzelne nicht die Gesetze verletzt, läßt man ihm völlige Freiheit, damit er das eigene Interesse auf seine Weise verfolgen kann […]« (TF, 257). Diese klassische liberalistische Position wirft allerdings die Frage nach den ›Gesetzen‹ auf, also nach der Ordnung und den Regeln, innerhalb derer die ›natürliche Freiheit‹ wirken kann. Die Französische Revolution von 1789 hat gezeigt, was geschieht, wenn der Souverän ausfällt - erst Napoleon als neuer Souverän konnte die blutig-chaotischen Zustände der Republik beenden und wurde selbst zum Tyrannen. John Stuart Mill (1806-73) zieht in seiner Studie Über die Freiheit von 1859 wichtige Schlüsse aus den Erfahrungen mit Extremen: »Schutz gegen die Tyrannei der Behörde ist daher nicht genug, es braucht auch Schutz gegen […] die Tendenz der Gesellschaft, durch andere Mittel als zivile Strafen ihre eigenen Ideen und Praktiken als Lebensregeln denen aufzuerlegen, die eine abweichende Meinung haben […]« (TF, 279 f.). Und weiter: »Die große Mehrzahl aller guten Taten hat ihren Zweck nicht im Wohl der Welt, sondern im Wohl einzelner Individuen, aus dem sich das Wohl der Welt zusammensetzt […]« (Mill 1991, 32 f.). Es ist Aufgabe des Staates, dies zu gewährleisten (Mill 1991, 108 f.). Mill plädiert für eine größtmögliche Freiheit des Individuums: »Über sich selbst, über seinen eigenen Körper und Geist ist der einzelne souveräner Herrscher« (Mill 1991, 17). Die Gemeinschaft darf der Freiheit des Einzelnen nur Grenzen setzen, wenn es notwendig ist, die Gemeinschaft »zu schützen« oder »die Schädigung anderer zu verhüten« (Mill 1991, 16). Denn: »Die Menschen gewinnen mehr dadurch, daß sie einander gestatten, so zu leben, wie es ihnen richtig Freiheit und Herrschaft Die größtmögliche Freiheit des Individuums <?page no="27"?> 14 D Ie e rfInDung Der f reIheIt erscheint, als wenn sie jeden zwingen, nach dem Belieben der übrigen zu leben« (Mill 1991, 21). Zugleich wird (anders als in früheren Konzepten des Utilitarismus) der Vorstellung, es gehe um das größte Glück der größten Zahl, eine Absage erteilt: »[…] die allgemeine Tendenz in der Welt geht doch dahin, die Mittelmäßigkeit zur überlegenen Macht unter den Menschen zu machen« (Mill 1991, 91). Denn »verschiedene Personen erfordern auch verschiedene Bedingungen für ihre geistige Entwicklung« (Mill 1991, 94). Überhaupt gilt: »[…] die einzige untrügliche und andauernde Quelle für den Fortschritt ist die Freiheit, weil durch sie ebensoviel unabhängige Zentren des Fortschritts möglich sind, als Individuen vorhanden« (Mill 1991, 97). Mill stellt kritisch fest: »Die Macht ist an und für sich unrechtmäßig« (Mill 1991, 25). Wer auf welche Weise Macht ausüben darf, ist also jeweils zu legitimieren. Nicht einzuschränken ist der öffentliche Diskurs, auch eine solche Formulierung klingt heute noch radikal im Sinne einer größtmöglichen Freiheit des Subjekts: »Wir können nie sicher sein, daß eine Meinung, die wir zu ersticken bemüht sind, falsch ist - und wenn wir auch sicher wären, würde das Unterdrücken immer noch eine Schmach sein« (Mill 1991, 26). Zumal es im öffentlichen Diskurs die Tendenz gibt, aus der ›Verteidigung hergebracher Meinungen‹ »alle möglichen Vorteile zu ziehen« (Mill 1991, 34). Die freie, ungehinderte Meinungsäußerung imprägniert gegen Irrtümer, weil sie potentiell alle Positionen zu jeder Zeit auf den Prüfstand stellt. Hier haben wir ein reflexives Moment, das erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als konstitutiv für ein demokratisches Gemeinwesen erachtet wird; so stellt beispielsweise Anthony Giddens (geb. 1938) fest: »Die Reflexivität des Lebens in der modernen Gesellschaft besteht darin, daß soziale Praktiken ständig im Hinblick auf einlaufende Informationen über ebendiese Praktiken überprüft und verbessert werden, so daß ihr Charakter grundlegend geändert wird« (Giddens 1996, 54). Judith Butler gründet auf der »Rechenschaft von sich selbst« ihre Überlegungen zu einer reflexiven Moral, die ohne den Glauben an institutionelle Macht (Gott, Souverän) auskommt (Butler 2002, 9). Neben Reflexivität ist »Pluralität« der »Schlüsselbegriff« einer »Durcharbeitung und Verwandlung der Moderne«, als eine »postmoderne Moderne« verstanden. Gegenbegriff zu Pluralität ist für Wolfgang Welsch (geb. 1946) »Pluralismus« als eine »Uniformie- Die notwendige Legitimation von Macht Reflexivität Pluralität <?page no="28"?> 15 D a S P roblem Der o rganI SatIon von f reIheIt rung in den diversen Erscheinungsformen der Gleichgültigkeit, Indifferenz und Beliebigkeit« (Welsch 2002, XVII u. 6). Eine entscheidende Frage für die individuelle Bewertung dürfte sein, so Ulrich Beck (1944-2015), wie mit den vor allem aus den sozialen Veränderungen resultierenden, »wachsenden Zwängen zur Selbstverarbeitung von Unsicherheit« umgegangen wird (Beck 2003, 102). Beck, Anthony Giddens und andere sprechen lieber von der ›reflexiven Modernisierung‹ (Beck 1996). Bereits Friedrich Schiller (1759-1805) trifft in Über naive und sentimentalische Dichtung eine Unterscheidung, die nicht nur für Autoren, sondern auch für Leser gilt. Anders als der naive Dichter verhalte es sich »[…] mit dem sentimentalischen Dichter. Dieser reflektiert über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen, und nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen, und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft« (Schiller 1981f, Bd. 5, 694-780). 200 Jahre später stellt Michel Foucault fest, dass Reflexivität das zentrale Merkmal von Kritik (und Kritikfähigkeit) und damit auch die Voraussetzung von Freiheit ist: Die Kritik also wird sagen: um unsere Freiheit geht es weniger in dem, was wir mit mehr oder weniger Mut unternehmen als vielmehr in der Das Problem der Unsicherheit The House of Commons at Westminster (1808) Abb. 2.3 <?page no="29"?> 16 D Ie e rfInDung Der f reIheIt Idee, die wir uns von unserer Erkenntnis und ihren Grenzen machen, und folglich braucht man sich nicht von einem anderen »Gehorcht! « sagen lassen, um das Prinzip der Autonomie zu entdecken, vielmehr hat man sich von seiner eigenen Erkenntnis eine richtige Idee zu machen. (Foucault 1992, 17) Foucault schließt an Kants Schrift Was ist Aufklärung? an (Foucault 1992, 41) und fügt Kants Forderung, selber zu denken, die Notwendigkeit der Erkenntnis der Grenzen jeden Denkens hinzu, um so überhaupt erst handlungsfähig zu werden: »Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992, 12). Echte Autonomie des Individuums entsteht also erst mit der Einsicht in die eigenen Begrenzungen von Erkenntnis, man könnte auch sagen: in der Akzeptanz von Kontingenz (Rorty 2012). Wenn man sich der eigenen Möglichkeiten auf diese Weise sicher(er) geworden ist, kann man die Begrenzungen genauer sehen, die andere einem auferlegen. Freiheit ist nicht umsonst zu haben, das hat 2017 Carlo Strenger noch einmal betont. »Wirkliche Freiheit« ist für ihn »bestenfalls eine Errungenschaft, die durch harte Arbeit erworben werden« kann (Strenger 2017, 9). Es sei wichtig, darauf zu achten, dass dieses Wissen angesichts westlicher »Verwöhn- und Konsummentalität« (Strenger 2017, 8) nicht in Vergessenheit gerate: »Der Mythos, wir seien frei geboren, führt dazu, dass immer mehr Bewohner der westlichen Welt nicht begreifen, dass wir uns mit dem langen Prozess, der die freiheitliche Ordnung möglich gemacht hat, auseinandersetzen müssen, wenn wir die Freiheit wirklich schätzen und bewahren wollen« (Strenger 2017, 13). Freiheit und Literatur Für diese notwendige Auseinandersetzung lässt sich, auch und ganz besonders, auf das kollektive Gedächtnis mit Namen Literatur zurückgreifen. Literatur stellt, wie bereits Schiller erkannt hat, einen Raum für das Nachdenken über die eigenen Möglichkeiten und Begrenzungen zur Verfügung, Literatur ist in diesem Sinn »Idee« (Foucault 1992, 17). Sie ist darüber hinaus zentraler Bestandteil der Kultur- und Ideengeschichte und damit der kollektiven wie individuellen Identität. Nur wenn wir wissen, woher wir kommen, wissen wir auch, wer wir sind und wer wir sein können. Autonomie Freiheit ist Arbeit 2.4. Die Bedeutung der Literatur <?page no="30"?> 17 f reIheIt unD l Iteratur Literatur ist der traditionelle Wissensspeicher der Gesellschaft, auch wenn die audiovisuellen Medien und das Internet (als Hybridmedium, das die anderen in sich aufnimmt und ergänzt) hinzugekommen sind. Bis ins 20. Jahrhundert war Literatur für den öffentlichen Diskurs zentral. Da es keine freie Meinungsäußerung gab, nahm das, was die Menschen politisch und sozial bewegte, in der Literatur Gestalt an. Literatur handelte nicht nur von Freiheit, wie es sie nicht gab und wie sie sein könnte. Sie war das Medium der Freiheit. Und in nicht zu unterschätzender Weise ist sie es auch heute noch. An wichtigen Beispielen aus der Literaturgeschichte soll nun gezeigt werden, welche Bedeutung die erläuterten Konzeptionen von Freiheit nicht nur für die Literatur haben, sondern durch die Literatur auch weit über sie hinaus. Mill, John Stuart: Über die Freiheit. Aus dem Engl. übers. v. Bruno Lemke. Mit Anhang und Nachwort hg. v. Manfred Schlenke. Stuttgart: Reclam 1988 (RUB 3491). Pfister, Jonas (Hg.): Texte zur Freiheit. Stuttgart: Reclam 2014 (RUB 18 997). Strenger, Carlos: Abenteuer Freiheit. Ein Wegweiser für unsichere Zeiten. 2. Aufl. Berlin: Suhrkamp 2017. Literatur als Medium der Freiheit Lektürehinweise <?page no="31"?> Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang 3.1. Einführung 20 3.2. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus (1668) 28 3.3. Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772) 34 3.4. Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773) 40 3.5. Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther (1774 / 87) 48 3.6. Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise (1779) 55 3.7. Friedrich Schiller: Die Räuber (1781) 62 3.8. Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) 69 3.9. Friedrich Schiller: Don Carlos (1787) 74 Die noch stark höfisch geprägte Dichtung des Barock wird in der Aufklärung durch eine Literatur abgelöst, die das bürgerliche Individuum in Freiheit setzen will. Die Literatur der Frühaufklärung möchte zur Freiheit erziehen, sie hat einen pädagogischen Auftrag. Die Spätaufklärung bringt Beispiele auf die Bühne, sieht aber die Verantwortung des Individuums für sich selbst. Lessings Dramen fordern die Zuschauer dazu auf, sich mit den Figuren zu identifizieren und eigene Schlüsse aus 3. Inhalt Zusammenfassung <?page no="32"?> 19 f reIheIt unD l Iteratur Barock, Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm & Drang 3.1. Einführung 20 3.2. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus (1668) 28 3.3. Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772) 34 3.4. Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773) 40 3.5. Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther (1774 / 87) 48 3.6. Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise (1779) 55 3.7. Friedrich Schiller: Die Räuber (1781) 62 3.8. Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) 69 3.9. Friedrich Schiller: Don Carlos (1787) 74 Die noch stark höfisch geprägte Dichtung des Barock wird in der Aufklärung durch eine Literatur abgelöst, die das bürgerliche Individuum in Freiheit setzen will. Die Literatur der Frühaufklärung möchte zur Freiheit erziehen, sie hat einen pädagogischen Auftrag. Die Spätaufklärung bringt Beispiele auf die Bühne, sieht aber die Verantwortung des Individuums für sich selbst. Lessings Dramen fordern die Zuschauer dazu auf, sich mit den Figuren zu identifizieren und eigene Schlüsse aus 3. Inhalt Zusammenfassung <?page no="33"?> 20 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang ihrem Verhalten zu ziehen. Mit der Genieästhetik im Sturm & Drang entsteht ein Konzept von Autonomie für das Individuum und für die Literatur. Individuelle Freiheit wird auf radikale Weise gedacht, der Autor wird zum Schöpfer, der Text folgt seinen eigenen Regeln. Figuren wie Götz von Berlichingen, Karl Moor oder Marquis Posa scheitern an äußeren Zwängen, doch verkörpern sie bereits ein Potential an Selbstbestimmung, für das die Gesellschaft, in der sie leben (so wird es Marquis Posa formulieren), noch nicht reif ist. Figuren wie Werther, Karl und Franz Moor oder Don Carlos scheitern zudem an ihrer inneren Unfreiheit, also auch daran, dass sie mit den neuen Freiheiten nicht verantwortlich umgehen können. Einführung Epochenbegriffe sind schwer zu definieren und wer mehrere Literaturgeschichten nebeneinanderhält, wird unterschiedliche Einteilungen finden, nicht bei allen Bezeichnungen, aber doch bei vielen. Dabei stehen Kategorien nebeneinander, die ursprünglich abwertend (Barock; Biedermeier), personenbezogen (Goethezeit), zeitlich klar eingrenzbar (Weimarer Republik) oder zeitlich variabel (Gegenwartsliteratur), die eher unterhalb des Epochenbegriffs als Strömung (Magischer Realismus) oder über dem Epochenbegriff als Klammer (literarische Moderne) angesiedelt sein können. Jede Literaturgeschichte findet andere Antworten auf Fragen wie: Ist die Empfindsamkeit nun eine Epoche oder eine Strömung? Wann beginnt der Vormärz? Ist Biedermeier eine eigene Epoche? Spricht man passender vom poetischen oder vom bürgerlichen Realismus? Wie geht man mit dem Begriff des Jungen Deutschland um? Die hier vorgenommene Einteilung versucht so allgemein wie möglich und so präzise wie nötig zu sein, aber sie könnte, wie jede Kategorisierung, auch anders aussehen. Eine Neuere deutschsprachige Literaturgeschichte beginnt üblicherweise um 1600 mit der Literatur des Barock, einer Epoche, der gern das ganze 17. Jahrhundert zuerkannt wird, auch wenn die genauen zeitlichen Einteilungen variieren. Zunächst ist der mit ›unregelmäßig‹ aus dem Portugiesischen übersetzbare Begriff abwertend gemeint, er bezeichnet einen übertrieben schwülstigen Stil, bürgert sich dann aber als Klammerbegriff für alle Künste und Stile der Zeit vor der Aufklärung ein. Das Heilige 3.1. Epochenbegriffe sind unscharf <?page no="34"?> 21 e Inführung Römische Reich deutscher Nation wird durch das seit dem Mittelalter geltende Feudalsystem geprägt, es wird von einem Kaiser regiert und besteht aus einer großen Zahl kleiner Königreiche, Fürsten- und Erzbistümer. Bis zum 30-jährigen Krieg (1618-48) ist die Ordnung, auch wenn sie immer wieder durch Konflikte erschüttert wird, klar: Der Glaube an den christlichen, das heißt katholischen Gott ist das Fundament; der Papst, die Kaiser, Könige und Erzbischöfe leiten die Legitimation ihrer Herrschaft von Gott ab. Deshalb ist auch jedes Vergehen gegen sie oder gegen die - als göttlich verstandene - weltliche Ordnung ein Verstoß gegen Gott und den Glauben. Der zahlenmäßig kleine Adel steht in der Hierarchie der Stände oben, ebenso der Klerus. Darunter stehen Kaufleute, Handwerker und schließlich, am Fuß der Pyramide, die lange Zeit leibeigenen Bauern. Erst mit dem 30-jährigen Krieg, der ein Glaubenskrieg um die Einführung der von Martin Luther (1483-1546) inspirierten Reformation ist, wird diese Ordnung so nachhaltig erschüttert, dass es zur Kirchenspaltung und im folgenden Jahrhundert zu einer Ablösung des christlichen Weltbilds durch das naturwissenschaftliche kommt. Literatur gilt im Barock, wie die anderen Künste auch, als erlernbares Handwerk. Da das Lesepublikum klein ist, ist die Zahl der Autoren nicht groß. Schriftsteller gibt es, wegen der Abhängigkeit vom Mäzenatentum des höheren Adels, vor allem in Residenzstädten und an Fürstenhöfen. Freiheit wird in dieser Zeit anders definiert, als Freiheit innerhalb der geltenden Ordnung. Die für uns heute leitende Auffassung von Freiheit entwickelt sich erst. Dennoch wäre es falsch anzunehmen, dass es im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (wie der Übergang vom Mittelalter zur Moderne gern bezeichnet wird, also etwa vom 16.-18. Jahrhundert) keine Menschen gegeben hat, die Gefühle und Wünsche gehabt haben wie wir. Die Konventionen der Zeit geboten andere Ausdrucksformen. Und doch gibt es beachtenswerte Ausnahmen, etwa den wohl berühmtesten Roman der Epoche, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens (1622-76) Der abenteuerliche Simplicissimus (1668), der ein Panorama des von Krieg und sozialen Verwerfungen geprägten Barockzeitalters entfaltet. Bevor im 18. Jahrhundert der Roman immer mehr akzeptiert und dann seit Goethes exemplarischem Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre zur gleichwertigen Gattung wird, besteht die Literaturproduktion vor allem aus Gedichten und Dramen. Bei den Literatur als Handwerk <?page no="35"?> 22 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang Gedichten ist, von den zahlreichen Gelegenheitsgedichten (zu Taufen, Hochzeiten, Begräbnissen, Krönungen o. Ä.) abgesehen, das Sonett besonders verbreitet. Eines der am häufigsten in Schule und Universität behandelten Gedichte des Barock dürfte Andreas Gryphius’ (1616-64) Sonett Es ist alles eitel (1637) sein. Gryphius ist der wohl heute noch bekannteste Dichter des Barock, auch für seine Dramen. Das Sonett eignet sich durch seine Struktur besonders gut für die Darstellung des Gegensatzes von Diesseits und Jenseits, dem Barocksonett ist in der Regel eine Hoffnung auf das Jenseits eingeschrieben. So auch in Es ist alles eitel: Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein, Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein, Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden. Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden. Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein; Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein. Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden. Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn. Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn? Ach, was ist alles dies, was wir vor köstlich achten, Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind, Als eine Wiesenblum, die man nicht wiederfind’t. Noch will, was ewig ist, kein einig Mensch betrachten. (EM, 149) In der Mitte jeder Verszeile befindet sich eine Zäsur, in vielen Zeilen entspricht dem eine inhaltliche Trennung: Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein; auf Glück folgen Beschwerden. Der Gegensatz zwischen jetzt und später strukturiert das ganze Gedicht, er verweist auf den Gegensatz zwischen dem mühe- und leidvollen irdischen Dasein und der Belohnung für alle Mühen, für alles Leid im Leben nach dem Tod. Die letzte Zeile ist eine Mahnung, an das Jenseits zu denken und sich nicht im Diesseits an die »Eitelkeit auf Erden« zu verlieren. Das Motiv der Vanitas, der Vergänglichkeit, wird in immer neuen Bildern vor Augen geführt, die auch einen Gegensatz zwischen vergänglicher Zivilisation (das von Menschen Gemachte) und ewiger Natur (Gottes Werk) aufbauen. Insofern wird auch ein zweites wichtiges Motiv des Barock aktualisiert - Hoffnung auf das Jenseits <?page no="36"?> 23 e Inführung Memento mori, gedenke, dass du sterblich bist, und nutze diesen Gedanken, um dich auf das bessere Leben zu konzentrieren. Denn nur durch den richtigen - das heißt Gott und der Kirche gemäßen - Lebenswandel lässt sich dieses bessere Leben im Jenseits auch erreichen. Der religiöse Bezug klingt bereits im Titel des Gedichts an, es handelt sich um ein Bibelzitat aus dem Buch Kohelet. Das Kunstvolle des Gedichts ist eine relativ neue Errungenschaft, denn erst im 17. Jahrhundert wird die deutsche Sprache auch zu einer Literatursprache. Und erst seit 1692 sind die Neuerscheinungen in deutscher Sprache in der Überzahl (Wittmann 1999, 84). Vorher sind Texte vor allem auf Latein, Gebildete können zudem Altgriechisch. Den Weg für die Karriere der deutschsprachigen Literatur bereiten die Poetiken der Epoche, die berühmteste ist Martin Opitz’ (1597-1639) Buch von der deutschen Poeterey (1624). Aufklärung ist ein eindeutig positiv besetzter Begriff: Der Mensch wird aufgeklärt, er wird erleuchtet, im Englischen heißt die Epoche deshalb auch ›Enlightenment‹. Das christliche Weltbild wird abgelöst, es setzt ein Wandel in allen Lebensbereichen ein. Ist der Mensch vorher ein Teil einer Masse, in der er seinen ›natürlichen‹ Platz hat, so wird dieser Platz nun variabel. Der Zweifel an der göttlichen Allmacht wächst ebenso wie der Wohlstand. Damit einher geht die Vergrößerung der Schicht des Bürgertums, es entstehen die modernen Naturwissenschaften, die Geisteswissenschaften entwickeln sich. Die beginnende Ausdifferenzierung der Gesellschaft sorgt für Mobilität, und zwar geographisch, ökonomisch, auf das Leben der Individuen bezogen, die immer mehr Zugang zu Bildung bekommen und deren Bedürfnisse wachsen, das eigene Schicksal nicht als vorherbestimmt zu sehen, sondern als gestaltbar. Die Frühaufklärung legt ein säkularisiertes Bildungsprogramm auf. Nicht zufällig ist es mit Johann Christoph Gottsched (1700-1766) ein Professor der Universität Leipzig, der mit Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) eine wegweisende Poetik und zudem als beispielhaft gemeinte Dramen verfasst, letztere gemeinsam mit seiner Frau Luise Adelgunde. Gottscheds Sterbender Cato (1732) oder Die Pietisterey im Fischbein-Rocke; Oder die Doctormäßige Frau. In einem Lust-Spiele vorgestellet (1736) aus der Feder seiner Frau, der Gottschedin, gehören auch heute noch zu den bekanntesten Dramen der Zeit. Ebenfalls lehrhaft, aber spiele- Deutsch als Literatursprache Das Zeitalter der Aufklärung <?page no="37"?> 24 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang rischer sind Christian Fürchtegott Gellerts (1715-69) Fabeln und Erzählungen (1746), einer der ersten Bestseller der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Es entsteht ein moderner Begriff von Freiheit, der allerdings noch stark an ständische und religiöse Kontexte gebunden wird, wie etwa die Epoche oder Strömung der Empfindsamkeit zeigt. Religiöse und private Gefühle gehen ineinander, die zugrunde liegende Moral ist immer noch christlich durchtränkt. Dennoch wird das Individuum stark aufgewertet. Es darf sich selbst fühlen, in seinen Gefühlen für andere, es darf die anderen als etwas Besonderes sehen und sich selbst von anderen so sehen lassen. Nicht zufällig spielen Briefe eine wichtige Rolle, als literarische Gattung wird der Briefroman etabliert. Das Vorbild für viele weitere Romane in der europäischen Literatur ist Pamela, or Virtue Rewarded von Samuel Richardson (1689-1761), erschienen 1740. Nicht der Briefform, aber der Verbindung aus den Anforderungen christlicher Moral und den individuellen Bedürfnissen ist beispielsweise Christian Fürchtegott Gellerts für die deutschsprachige Literatur der Zeit wegweisender Roman Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1755) verpflichtet. Es entsteht ein Konzept bürgerlicher Tugendhaftigkeit, das individuelle und gesellschaftliche Ansprüche miteinander zu vermitteln versucht. Im Gebrauch der Form des Briefromans verweist noch Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774) auf Richardson, aber der Unterschied, auch zu Gellert, ist mehr als deutlich: Die Ansprüche des Individuums und die Anforderungen, mit denen es sich konfrontiert sieht, gehen nicht mehr zusammen. Daher handelt es sich beim Werther bereits um ein Werk des Sturm & Drang. Der zentrale Autor der Spätaufklärung ist Gotthold Ephraim Lessing (1729-81), aus heutiger Sicht schlägt sein Werk die Brücke von der Frühaufklärung zum Sturm & Drang und den späteren Strömung der Empfindsamkeit Spätaufklärung Aufklärung. Kupferstich von Daniel Chodowiecki (1726-1801) Abb. 3.1 <?page no="38"?> 25 e Inführung Epochen. Lessing setzt auf gemischte Charaktere, auf Figuren, mit denen man sich identifizieren kann. Das große Vorbild Aristoteles interpretiert er anders. Bisher waren unter Berufung auf die aristotelische Poetik, aber vor allem geprägt durch die Ständegesellschaft des Mittelalters, die Figuren der Tragödie als heroisch, dem Adel zugehörend konzipiert worden, um ihr vorbildhaftes Verhalten deutlicher herausarbeiten zu können. Die Komödie als Verlach-Komödie, in der einfaches Volk grobes Fehlverhalten zeigt, ist bereits durch das Ehepaar Gottsched als problematischer Zeitvertreib identifiziert und in den Dienst der Bildung gestellt worden. Die publikumswirksame Vertreibung des Harlekin von der Bühne im Jahr 1737, die der Ächtung der beliebten Commedia dell’Arte- Tradition gleichkommt, und die Verbreitung der Auffassung, dass die gezeigten Laster dazu dienen sollen, die Zuschauer auf ihre eigenen Untugenden aufmerksam zu machen und moralisch zu bessern, ebnen den Weg für Lessings weitergehende Reform, an die Goethe, Schiller und andere anknüpfen können. Die Figuren werden immer individueller. In seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767 / 69), einer Sammlung von Theaterkritiken, entwirft Lessing ein Konzept, das bis zu Brechts Epischem Theater mit seinen Distanzierungs- und Verfremdungseffekten gültig bleiben wird. Auch in seiner eigenen Dramenproduktion orientiert sich Lessing stärker an Shakespeare als, wie vorher üblich, an Aristoteles und ersetzt die Wahrscheinlichkeit durch das Prinzip der »Nachahmung der Natur«. Der Dichter orientiert sich an großen Vorbildern, aber der Text folgt seinen eigenen Regeln (Lessing 1999, 354 f.). Die Tragödie kann für Lessing nur »Mitleid und Furcht« (Lessing 1999, 379) erregen, wenn es sich nicht um vorbildhafte, adelige Figuren handelt, sondern um solche mit den Problemen, die auch das Bürgertum beschäftigen. Lessing setzt sein Konzept um, indem er die Gattung des bürgerlichen Trauerspiels begründet, Miß Sara Sampson (1755) und Emilia Galotti (1772) zählen auch heute noch zu den bekanntesten Beispielen. Emilia Galotti wird der sterbende Werther in Goethes Briefroman von 1774 auf dem Pult liegen haben (GW, 124). Lessing erneuert außerdem mit Minna von Barnhelm (1767) das Lustspiel, das nun ebenfalls gemischte Charaktere aufweist, mit denen man sich identifizieren kann, und er plädiert mit dem ›dramatischen Gedicht‹ Nathan der Weise (1779) für religiöse Toleranz. Shakespeare als neues Vorbild <?page no="39"?> 26 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang Der Sturm & Drang vollzieht nun den Wandel, der sich in der Aufklärung bereits angekündigt hat. Die Epoche (ca. 1765-1785) bekommt ihre Bezeichnung von dem gleichnamigen, 1777 veröffentlichten Drama Friedrich Maximilian Klingers (1752-1831). Kunst und Literatur treten das Erbe der Religion an, der Dichter wird zum Schöpfer, zum Genie, das sich seine eigenen Regeln gibt. Der Dichter repräsentiert damit die Fähigkeiten des Individuums, von dem aus nun Gemeinschaft und Gesellschaft gedacht werden soll. Eine entsprechende Demokratisierung, wie sie 1789 mit der Revolution in Frankreich eruptiv stattfindet (wenn auch die Euphorie nur für kurze Zeit anhält), wird aber im Gebiet, das bis 1806 Heiliges Römisches Reich deutscher Nation heißt, auf sich warten lassen. Goethe feiert zwar in der Prometheus-Hymne die schöpferischen Fähigkeiten des Einzelnen, doch werden die Begrenztheiten in zahlreichen anderen Texten deutlich, vom Götz (1773) über den Werther (1774) bis zu Schillers Die Räuber (1781), Kabale und Liebe (1784) oder Don Carlos (1787). Dabei wächst, beeinflusst von Johann Gottfried Herder (1744-1803), etwa durch seine Schrift Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter (1773), das Interesse an der sogenannten Volkspoesie. Herder ist gut mit Goethe befreundet, der beginnt, volkstümliche Gedichte zu verfassen. Das Volksliedhafte verkörpert aber vielleicht kein anderer Text mehr als die erste deutsche Kunstballade, Gottfried August Bürgers (1747-94) Lenore (1773) mit ihrem berühmt-berüchtigten Todesritt. Die Grenzgattung Ballade, von Goethe auch später als ›Ur-Ei der Dichtung‹ bezeichnet, vereint das Lyrische (in der Form), das Dramatische (in der Handlung, auch in der wörtlichen Rede) mit dem Erzählerischen und gilt auch deshalb als besonders ›volksnah‹. Zu den berühmtesten Gedichten der Zeit gehört Goethes numinose (naturmagische) Ballade Erlkönig (1782), die ebenfalls einen Ritt gestaltet, aber nicht von Braut und (totem) Bräutigam wie bei Bürger, sondern von Vater und (sterbendem) Sohn. Der Erlkönig ist eigentlich ein Elfenkönig, es handelt sich um eine (Fehl-) Übersetzung aus dem Dänischen. Der Text lässt offen, ob Vater oder Sohn recht haben, ob es den Elfenkönig gibt oder nicht, ob der Sohn krank ist oder von fremden Mächten, die nur er wahrnimmt, umgebracht wird: Im Sturm und Drang wird der Dichter zum Schöpfer Das Konzept der Volkspoesie <?page no="40"?> 27 e Inführung »Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? « - »Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? « - »Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.« - Der vierhebige Jambus mit freien Füllungen lässt an die dramatische Situation angepasste Betonungen zu. Rede und Gegenrede wechseln sich ab, nicht nur bei Vater und Sohn, auch in dem vom Vater ungehörten Gespräch des Sohnes mit dem Erlkönig: »Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.« - »Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! « (EM, 228) Zu vermuten wäre, dass der Sohn sich, in einem Fiebertraum, das Gespräch nur einbildet, doch der Schluss der Ballade erschüttert die Überzeugung des Vaters, wie seine Reaktion zeigt, und damit des Lesers: Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. (EM, 229) Die rationalistische, auf Vernunft setzende Aufklärung mit ihrem Ansatz, naturwissenschaftliche Erklärungen für die den Menschen umgebenden und bestimmenden Phänomene zu finden, wird mit solchen Texten verabschiedet. Frei nach Horatio in Shakespeares Hamlet wird hier suggeriert, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als sich die aufklärerische Schulweisheit träumen lässt. Die Betonung der individuellen Perspektive geht nun einher mit einer frühen Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis - und menschlicher Freiheit. Alt, Peter-André: Aufklärung. 3., aktualisierte Aufl. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2007 (Lehrbuch Germanistik). Borries, Erika und Ernst von: Aufklärung und Empfindsamkeit, Sturm und Drang. München: dtv 1991 (Deutsche Literaturgeschichte 2). Karthaus, Ulrich (Hg.): Sturm und Drang und Empfindsamkeit. Stuttgart: Reclam 2002 Grenzen der Aufklärung Lektürehinweise <?page no="41"?> 28 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang (Die deutsche Literatur in Text und Darstellung 6 / RUB 9621). Meid, Volker: Barock-Themen. Eine Einführung in die Literatur des 17. Jahrhunderts. Stuttgart: Reclam 2015 (RUB 17 687). Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus (1668) Ungefähr die Hälfte des Lebens von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1622-76) fällt in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-48), in dem Grimmelshausen auch Soldat war. Insofern verwundert es nicht, dass der Krieg den Hintergrund für seinen großen Roman bildet, einen der bedeutendsten frühen Romane in der Geschichte der Weltliteratur. Bereits zu seiner Zeit war der Roman ein Bestseller: »Sein Erfolg läßt sich nur mit dem Luthers und Goethes vergleichen […]« (Hohoff 1987, 7). Der Text ist ein Beispiel dafür, dass die gängigen Lehrsätze über den Barock vielleicht nicht falsch, aber sehr pauschal und ergänzungsbedürftig sind. Zwar gab es Regelpoetiken und konkrete Auffassungen darüber, wie Literatur herzustellen ist. Zugleich hielten sich viele Autoren ganz selbstverständlich nicht daran. Die äußere Ordnung war zwar eine angeblich von Gott gegebene und für alle verbindliche, aber sie wurde gerade in diesem Jahrhundert, mit dem genannten großen Krieg, fundamental erschüttert. Das 17. Jahrhundert ist für Europa eine Zeit voller Umbrüche. Die Kirchenspaltung verändert nicht nur die Religion, auch die Landkarten werden neu gestaltet. Um ein wichtiges Beispiel zu nennen: Der sogenannte Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620-88) machte Brandenburg-Preußen durch zahlreiche Reformen zu dem nach Österreich zweitmächtigsten Staat im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Damit bereitete er den Boden für die Errichtung des Königreichs Preußen (ab 1701). 1685 lud er mit dem Edikt von Potsdam die aus Frankreich vertriebenen Hugenotten ein, sich auf seinen Territorien anzusiedeln. Diese 3.2. Eine Zeit der Umbrüche Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1641) Abb. 3.2 <?page no="42"?> 29 g rImmelShauSen : D er abenteuerlIche S ImPlIcI SS ImuS (1668) lange nachwirkende liberale Haltung ›Fremden‹ gegenüber war zugleich ökonomisch ausgesprochen klug, denn die fleißigen Hugenotten brachten das Land weiter voran. Einer ihrer Nachfahren, der auf diese Herkunft immer sehr stolz war, heißt Theodor Fontane (1819-98). Auch wenn sich die heutige Auffassung von Freiheit noch entwickelt, so wird man den Menschen der Barockzeit im Allgemeinen und den Schriftstellern im Besonderen nicht absprechen wollen oder können, dass sie um ihre Freiheit kämpfen, zunächst natürlich um die Freiheit, sich die Auffassung der ›richtigen‹ christlichen Religion nicht vorschreiben zu lassen. Mit Martin Luther hatte die Reformation begonnen und damit war nicht nur die Frage nach dem richtigen Glauben gestellt, sondern auch die Frage nach der richtigen Ordnung - eine Frage, die sich schließlich genauso für die Organisation des weltlichen Staates und der Gesellschaft stellt. Der umfangreiche Roman besteht aus sechs Büchern mit jeweils 24 bis 34 Kapiteln. Es darf überraschen, dass der Text ein metafiktionales Spiel mit seinem Leser treibt, eine solche Selbstthematisierung ist in der Literatur erst für das 20. und 21. Jahrhundert einschlägig. Im »Beschluss« heißt es: »Hochgeehrter, großgünstigster lieber Leser, etc. Dieser ›Simplicissimus‹ ist das Werk von Samuel Greiffenson von Hirschfeld, maßen ich nicht allein dieses nach seinem Absterben unter seinen hinterlassenen Schriften gefunden […].« Es wird eine Ausgabe von Gedichten dieses Autors angekündigt und der ›Herausgeber‹ unterzeichnet mit »H. J. C. V. G., P. zu Cernheim« (AS, 726). Der fiktive Verfassername ist erkennbar ein Anagramm für Grimmelshausen. Dazu kommen, lange vor E. T. A. Hoffmanns Werken, ironische Leseranreden, die den Text als Text thematisieren (AS, 23). So stellt der Ich-Erzähler Simplicius fest, was er gerade über eine Geistererscheinung erzählt habe, sei wahr, allerdings sei »[…] Aufschneiden keine Kunst, sondern jetziger Zeit fast das gemeinste Handwerk«, insofern könne er »nicht leugnen, daß ichs nicht auch könnte« (AS, 188). Später, in Paris, wird der Protagonist sogar Schauspieler in einer Komödie (AS, 383). Am Ende des fünften Buches wird Simplicius wieder zu einem Einsiedler und erhofft für sich und seine Leser »ein seliges / Ende« (AS, 590), nur um am Anfang des sechsten Buches, dem allerdings wie dem ersten Buch ein Motto Ein Spiel mit Anagrammen <?page no="43"?> 30 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang vorangestellt ist, gleich weiter zu erzählen. 1 Der Roman mündet in eine Robinsonade und er entpuppt sich als Lebensbeichte des gestrandeten Protagonisten (AS, 706). Das letzte Kapitel ist ein Brief eines »holländischen Schiffscapitäns« an seinen guten Freund, »German Schleiffheim von Sulsfort« (AS, 707) - wieder ein Anagramm. Ebenfalls unzeitgemäß modern klingt der Anfang des Romans: »Es eröffnet sich zu dieser unsrer Zeit, von welcher man glaubt, daß es die letzte sei, unter geringeren Leuten eine Sucht […]«, mehr zu scheinen als zu sein, in dem Fall: sich als »rittermäßige Herrn und adlige Personen von uraltem Geschlecht« auszugeben, aber doch eigentlich nur Kinder von Schornsteinfegern, Tagelöhnern und anderen einfachen Leuten oder gar von »Huren« oder »Hexen« zu sein. »Solchen närrischen Leuten mag ich mich nicht gleichstellen […]« (AS, 9), meint der Ich-Erzähler. Er gibt sich als Sohn armer Leute aus dem Spessart aus, wobei er die Armut ironisch als Reichtum zeichnet, etwa in der Beschreibung der heimischen Hütte: »Sein Zimmer, Säl und Gemächer hatte er inwendig vom Rauch ganz erschwärzen lassen, nur darum, dieweil dies die beständigste Farbe von der Welt ist und dergleichen Gemäld bis zu seiner Perfection mehr Zeit braucht, als ein künstlerischer Maler zu seinen trefflichsten Kunststücken erheischt« (AS, 10). Gleich am Anfang des Romans wird also ein standes- und ökonomiekritischer Diskurs eröffnet. Der Ich-Erzähler befindet sich als Junge noch ganz im Zustand der Unschuld: »Ja, ich war so perfect und vollkommen in der Unwissenheit, daß mir unmüglich war zu wissen, daß ich so gar nichts wußte« (AS, 15). Die Austreibung aus dem Paradies der Kindheit kommt mit der Arbeit als Schafhirte. Auch hier wird der Roman auf der konzeptionellen Ebene wieder unerhört modern, denn er etabliert einen Kontrast nicht nur zwischen der die Sprache der Bildung imitierenden Sprache des Ich-Erzählers und dessen Herkunft, Wissen oder Tätigkeiten, sondern auch zwischen der Hochsprache und dem Dialekt, wie ihn der Vater des Jungen spricht: »Bub biß flissig, loß di Schof nit ze wit vunananger lafen […]« (AS, 17). Auch formal werden Kontraste und Brüche 1 Allerdings handelt es sich dabei um eine Erweiterung der ursprünglichen Fassung, denn »Grimmelshausen hat den Erfolg ausgenützt, die fünf Bücher des Romans um ein sechstes vermehrt« (Hohoff 1987, 7). Die Erzählsituation <?page no="44"?> 31 g rImmelShauSen : D er abenteuerlIche S ImPlIcI SS ImuS (1668) erzeugt, neben Liedtexten (AS, 30 ff.) finden sich beispielsweise Dialoge wie in einem Drama (AS, 33 ff.). Die Idylle wird durch den Gesang eines Liedes vervollständigt und sogleich unterbrochen, denn ein Trupp Kürassiere überfällt ihn, seine Eltern und seine Schwester können zunächst flüchten (AS, 20). Der Trupp verwüstet das Holzhaus der Familie (AS, 24), fängt die Flüchtenden wieder ein und dazu weitere Bauersleute, die allesamt gefoltert werden (AS, 25), die Frauen werden vermutlich vergewaltigt (AS, 26). Auf den Jungen wird geschossen, er erschreckt sich so, dass er ohnmächtig und für tot gehalten wird (AS, 27). Als er wieder aufwacht, flüchtet er und nun beginnt eine Reise mit zahlreichen Stationen, die es dem Roman ermöglicht, ein Panorama der Zeit und Gesellschaft zu entfalten. Charakteristisch hierfür ist der Kontrast zwischen der harten innerfiktionalen Realität und der mal ironischen, mal komischen Sprache, die teilweise Witzcharakter erlangt: »›[…] aber sage mir doch, was seind Leute, Menschen und Dorf? ‹ ›Behüte Gott! ‹ antwortete der Einsiedel, ›bist du närrisch oder gescheit? ‹ ›Nein,‹ sagte ich, ›meiner Meuder und meines Knäns Bub bin ich und nicht der Närrisch oder der Gescheit‹« (AS, 33). Die Dummheit des Jungen sorgt für Kontraste, die das Verhalten der Menschen entlarven, etwa wenn er ein Tanzvergnügen stört, das wenig von dem kulturellen Ereignis hat, als das es ausgegeben wird (AS, 117 ff.). Die ausgeübte Gewalt ist wechselseitig. Die Bauern sind keineswegs nur die Opfer, sondern auch Täter, die nicht weniger grausam vorgehen, etwa indem sie einem Soldaten »Nasen und Ohren abgeschnitten« und ihn gezwungen haben, dass er seinen toten Kameraden »den Hintern lecken müssen« (AS, 54). Der Junge schließt aus seinen bisherigen Erfahrungen, »[…] es müßten ohnfehlbar zweierlei Menschen in der Welt sein, so nicht einerlei Geschlechts von Adam her, sondern wilde und zahme wären wie andere unvernünftige Tiere, weil sie einander so grausam verfolgten« (AS, 58). Von hier aus lässt sich leicht ein Bogen zum Krieg schlagen, dessen grausames Schlachten in »ganz Europam« der Junge zunächst träumt (AS, 66), bevor er selbst hineingezogen wird. Als vorausdeutende moralische Botschaft kann eine im Traum vorkommende Inschrift verstanden werden: »Durch innerliche Krieg und brüderlichen Streit / Wird alles umgekehrt und folget lauter Leid« (AS, 67). Dies wird der Roman, mit der für ihn Ein Panorama von Krieg und Gewalt <?page no="45"?> 32 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang eigenen Lakonie und Ironie, in allen nur denkbaren Facetten vorführen. Zwar zeigt sich der Simplicissimus als ein früher Bildungsoman. Der Einsiedler unterrichtet den Jungen, vor allem natürlich in der Kenntnis der Bibel (AS, 37 ff.), ebenso im Lesen und Schreiben (AS, 41). Doch auch hier finden sich die für den Roman typischen ironischen Kontraste. Der Einsiedler meint, kurz bevor er stirbt, zu dem Jungen: »Vermeinst du, mich zu nötigen, länger in diesem Jammertal zu leben? Ach nein, mein Sohn, laß mich fahren […]«, zumal er durch »Gottes ausdrücklichen Willen« abberufen werde (AS, 47). Die dem Jungen mit auf den Weg gegebenen Ratschläge, »sich selbst erkennen, böse Gesellschaft meiden und beständig verbleiben« (AS, 48), wird dieser aber, wenn er am Leben bleiben und weiterkommen will, nicht befolgen können, eher im Gegenteil. Der üblicherweise für den Barock als verbindlich konstatierte christlich-philosophische Kontext wird auf diese Weise ironisch unterlaufen. Der vom Einsiedler wegen seiner Einfältigkeit Simplici getaufte Junge hat zunächst Glück im Unglück, denn der Einsiedler war »nicht allein des hiesigen Gouverneurs Schwager, sondern auch im Krieg sein Beförderer und wertester Freund« (AS, 81). Dies gibt dem Jungen gute Startchancen und dem Roman die Möglichkeit, die Lasterhaftigkeit des Adels, des Klerus und des gehobenen Bürgertums zu schildern (AS, 87 ff.). Dass sich Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel auf den Simplicissimus bezieht, zeigt sich möglicherweise nicht nur in dem Schelmencharakter der Figur und in der Parallele des Krieges, sondern auch darin, dass Grimmelshausens Protagonist bei der ersten Musterung »mit einer entlehnten Trommel« ›ausstaffiert‹ wird (AS, 133). Um dem Dienst in der Armee zu entgehen, folgt er dem Rat des Pfarrers und stellt sich noch dümmer, als er ist, damit er für einen Narren gehalten wird (AS, 134 ff.). Er ist allerdings ein doppelter Narr, wie sein Herr erkennt, der meint, der Junge sei unter der »Kalbshaut«, die er als äußeres Zeichen trägt, auch »mit einer Schalkshaut überzogen« (AS, 165). Und sein Herr stellt fest: »›Ich halte ihn vor einen Narrn, weil er jedem die Wahrheit so ungescheut sagt […]« (AS, 168). Das gute Narrenleben endet, als der Protagonist zunächst von kroatischen Soldaten entführt wird (AS, 175). Er dient verschiedenen Offizieren, nimmt an der Belagerung der Stadt Magdeburg teil (AS, 203) und hat viele weitere Erlebnisse im Krieg. Dabei ist er selbst oft und in jeder Hinsicht mitten im Bildung im Roman Die Figur des Narren <?page no="46"?> 33 g rImmelShauSen : D er abenteuerlIche S ImPlIcI SS ImuS (1668) Getümmel: »Ich lebte eben dahin wie ein Blinder in aller Sicherheit und ward je länger je hoffärtiger […]« (AS, 305), auch darin, dass es ihm später »nur darum zu tun war, wie ich den Ehestand ledigerweise treiben möchte« (AS, 351). Simplicius selbst fasst seine Erlebnisse mit folgendem Paradoxon zusammen: »Also ward ich beizeiten gewahr, daß nichts Beständigers in der Welt ist als die Unbeständigkeit selbsten« (AS, 289). Zwar stirbt seine Frau, aber er hat einen Sohn (AS, 501), wobei sich dieser als vermeintlicher Sohn und ein anderer als der richtige entpuppt (AS, 523). Auch sein vermeintlicher Vater begegnet ihm wieder (AS, 514), der allerdings enthüllt, dass Simplicius nur ein Pflegekind war, »Melchior Sternfels von Fuchsheim« heißt und »meines Einsiedlers und des Gubernator Ramsey Schwester leiblicher Sohn gewesen« (AS, 520). Es handelt sich um ein weiteres Anagramm des Namens von Grimmelshausen, erneut wird mit dem Verhältnis von Fakten und Fiktionen gespielt. Der Begriff der Freiheit bedeutet im Roman einmal als »Schutz, Schirm und alle Freiheit« die Sicherheit vor Angriffen innerhalb einer »Festung« (AS, 329), hier ist Freiheit in einem geordneten und gesicherten Raum einer (feudalen) Ordnung möglich. Als Simplicius geheiratet hat, stellt er fest, »daß ich meine edle Freiheit verloren hatte und unter einer Botmäßigkeit leben sollte« (AS, 359). Wieder bedeutet Freiheit, wenn auch bereits ironisch gebrochen, die Abwesenheit von Zwang und äußerer Gewalt. Die Frage von Freiheit und Religion wird diskutiert, wenn Simplicius mit einem »Wassermännlein« (AS, 534), dem »Fürst über die Mummelsee« (AS, 535) über Gott spricht. Simplicius wundert sich, dass auch die Wasserleute Gott als Herrn akzeptieren und sich trotzdem »der Freiheit rühmen könnten, wann sie einem König unterworfen«. Der Wassermann erwidert: »Gegen die Freiheit, deren er sich gerühmt, sei die Freiheit des allergrößten Monarchen unter uns irdischen Menschen gar nichts, ja nicht soviel als ein Schatten zu rechnen; denn sie könnten weder von uns noch andern Kreaturen getötet noch zu etwas Unbeliebigem genötigt, vielweniger befängnißt werden, weil sie Feuer, Wasser, Luft und Erde ohn einzige Mühe und Müdigkeit, von deren sie gar nichts wüßten, durchgehen könnten.« Auf die Frage, ob Gott sie dadurch mehr geadelt habe, stellt er fest: »›Was kann die Güte Gottes davor, wann euer einer sein selbst ver- Freiheit und feudale Ordnung <?page no="47"?> 34 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang gißt, sich der Kreaturen der Welt und deren schändlichen Wollüsten ergibt […]‹« (AS, 541). Hier sind wir mitten im Theodizee-Diskurs, der immerhin den Figuren einen freien Willen zum Bösen oder Guten zugesteht. Allerdings ist das Groteske der Szene nicht zu verkennen und es ist doch sehr zu fragen, ob die Verkündung der theologischen Botschaft durch einen Wassermann nicht eine weitere Ironisierung bedeutet, die den hier aufgerufenen Diskurs gleich wieder unterläuft; wie auch die spielerisch-metafiktionale Rahmung des Romans das zweimalige Herbeiwünschen der Erlösung »durch ein seliges / Ende« (AS, 706). Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772) Als der wichtigste deutschsprachige Autor des 18. Jahrhunderts gilt Gotthold Ephraim Lessing (1729-81). Bereits während seines Studiums in Leipzig wurde 1747 sein erstes Stück aufgeführt. Lessing kommt vor allem für seine Dramen eine in der Literaturgeschichte herausragende Bedeutung zu, er hat aber auch Fabeln und Gedichte geschrieben, dazu theologische, philosophische, kunsttheoretische oder literatur- und theaterkritische Arbeiten. Mit der »Theatersensation« (Sternburg 2010, 7) Miß Sara Sampson (1755) begründet Lessing, unter dem Einfluss von Vorbildern aus England und Frankreich, die folgenreiche Gattung des bürgerlichen Trauerspiels, in dem nicht mehr typenhafte Figuren, sondern gemischte Charaktere auftreten, mit denen sich die (bürgerlichen) Zuschauer identifizieren können. Die Figuren haben nun individuelle Züge und reagieren mit nachvollziehbaren Emotionen auf das Geschehen. Lessings Minna von Barnhelm (1767) ist das erste moderne Lustspiel, dessen Figuren nicht aus den niederen Ständen kommen und auch nicht dem Verlachen ausgesetzt werden. Das Lustspiel 3.3. Gemischte Charaktere Gotthold Ephraim Lessing, Gemälde von Anton Graff, 1771 Abb. 3.3 <?page no="48"?> 35 g ottholD e PhraIm l eSS Ing : e mIlIa g alottI (17 72) entwickelt eine dramatische Handlung und setzt nicht auf plakative Wirkung durch Wortwitz und Situationskomik, insofern kann man in ihm einen Vertreter der ›ernsten Komödie‹ (Arntzen 1968) und einen Vorläufer der Tragikomödien des 20. Jahrhunderts sehen. Kurz gesagt: »Lessing ist der Anfang« (Sternburg 2010, 8). Anders gesagt: Lessing steht am Anfang der Entwicklung einer modernen Literatur, die Autoren wie Goethe und Schiller fortführen werden. Er befreit das Drama und dessen Figuren, indem er die bisherige Auffassung von Literatur verabschiedet. Lessings Figurenrede ist so realistisch wie möglich, das Verhalten der Figuren ist für ein bürgerliches und adeliges Publikum gleichermaßen nachvollziehbar. Man kann sich identifizieren, man kann sich einfühlen und man kann mitfühlen. Martin Opitz hatte in seinem wichtigen Buch von der Deutschen Poeterey (1624) noch bündig formuliert: »Die Tragedie ist an der maiestet dem Heroischen getichte gemeße / ohne das sie selten leidet / das man geringen standes personen vnd schlechte sachen einführe […]« (Opitz 1995, 27). Opitz beruft sich, wie alle anderen Verfasser von Poetiken auch, auf Aristoteles, den Lessing nun vollkommen anders interpretiert: »Die Tragödie, so nimmt er [Aristoteles] an, soll Mitleid und Schrecken erregen; und daraus folgert er, daß der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann noch ein völliger Bösewicht sein müsse« (Lessing 1999, 378). Das absolutistische Zeitalter ist vorbei, zumindest in der Literatur. Das Vorbildhafte des Adels ist für Lessing unglaubwürdig. Nicht die dem Weltbild des Mittelalters angepassten Merkmale des Standes, sondern die individuellen Züge der Figuren entscheiden über die Qualität und Bedeutung eines Stücks. Emilia Galotti »gehört zum Kanon der klassischen deutschen Dramenliteratur« (Sternburg 2010, 117), das (bürgerliche) Trauerspiel hat zum Schauplatz einen »[…] mittelalterlichen italienischen Kleinstaat. Der Prinz Hettore Gonzaga hat sich in die bildschöne, tugendhafte Emilia Galotti verliebt und versucht vergeblich, sie für sich zu gewinnen« (Sternburg 2010, 119). Als er erfährt, dass Emilia den Grafen Appiani heiraten soll, lässt sein Kammerherr Marinelli die Braut entführen, dabei wird der Graf ermordet. Der Prinz hält Emilia fest und sie sieht zum Schluss keinen anderen Ausweg, ihre Tugend zu retten, als ihren Vater Odoardo zu bitten, sie zu erstechen. Mit ihrem Tod scheitert die Intrige. Lessing befreit das Drama von den alten Regeln <?page no="49"?> 36 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang Lessings Vorlage ist die legendenhafte Geschichte des Mädchens Verginia, verfasst vom römischen Geschichtsschreiber Livius (59 v. Chr.-17 n. Chr.). Auch hier wird das Mädchen vom mächtigsten Mann im Staat begehrt, der versucht, sich ihrer durch eine Intrige zu bemächtigen. Auch hier ersticht der Vater seine Tochter, um ihre Tugend und Ehre zu retten. Die Handlung endet jedoch, anders als bei Lessing, mit einem Aufstand und der Wiederherstellung der römischen Republik. Lessing musste bei seinem Arbeitgeber, dem Herzog von Wolfenbüttel, eine Druckerlaubnis einholen und ein revolutionärer Schluss hätte wohl ein großes Problem dargestellt. Von der Forschung sind bereits viele Anspielungen auf die Zeitgeschichte identifiziert worden (Fick 2010, 378 ff.). Die neuere Forschung sieht in diesem Drama vor allem die Frage nach der »Autonomie« der Figuren im Mittelpunkt (Fick 2010, 387). Damit steht die individuelle Freiheit in einem gegebenen - und zur Kritik freigegebenen - Ordnungsrahmen zur Disposition, aber auch im Rahmen der individuellen Bedingtheiten. In diesem Fall wird von der Interpretation besonders Emilias Konflikt betont, mit ihrem auf die Werbung des Prinzen reagierenden »sexuellen Begehren« umzugehen (Fick 2010, 389). Tatsächlich scheinen alle Figuren des Stücks von Anfang an unfrei zu sein, schließlich beginnt es mit den Worten des Prinzen: »Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften! - Die traurigen Geschäfte; und man beneidet uns noch! « (EG, 517). Er steht kurz vor seiner Hochzeit mit der »Prinzessin von Massa«, die er nicht liebt: »Mein Herz wird das Opfer eines elenden Staatsinteresse« (EG, 524). Selbst der Prinz ist demnach unfrei, sogar, wie sich unmittelbar darauf zeigen wird, in einem weiteren Sinn, als Sklave seiner Triebe, seiner unbändigen Liebe zu Emilia Galotti. Der Prinz ist sogar bereit, ein Todesurteil zu unterschreiben, ohne zu wissen warum, nur um schnell fortzukommen und bei Marinellis Plan zu helfen (EG, 531). Denn sein Kammerherr hat ihm von der für denselben Tag geplanten Hochzeit des Grafen Appiani mit Emilia berichtet. Er sei »ein sehr würdiger junger Mann, ein schöner Mann, ein reicher Mann, ein Mann voller Ehre«, meint der Prinz noch, bevor er die Nachricht erfährt. Für Marinelli handelt es sich, wegen des geringen Standes der Verlobten Appianis, um ein »Mißbündnis« (EG, 526). Der Prinz fragt ungläubig nach, zum ersten Mal wird Die Vorlage Alle Figuren sind unfrei Kritik am Absolutismus <?page no="50"?> 37 g ottholD e PhraIm l eSS Ing : e mIlIa g alottI (17 72) hier angedeutet, dass es eine Gewalttat geben wird, auch die Waffe wird benannt, nur das Opfer wird ein anderes sein: »Sprich dein verdammtes ›Eben die‹ noch einmal, und stoß mir den Dolch ins Herz! « (EG, 527). Marinelli wiederholt die Worte ohne zu zögern, denn er weiß, dass es der Prinz nicht so ernst meint, wie es klingt. Marinelli fordert vom Prinzen »freie Hand«, um die Hochzeit zu verhindern, und bekommt dies gewährt (EG, 529). Odoardo, der Vater Emilias, wird zunächst als Bewacher von Emilias Tugend vorgestellt, für ihn ist schon der kurze Weg vom Haus in die Kirche »genug zu einem Fehltritt« (EG, 533). Odoardo sieht in der »Nähe des Hofes« eine Gefahr für die Tugend der Tochter (EG, 536). Allerdings scheint das Misstrauen seiner »rauhen Tugend«, wie seine Frau Claudia tadelnd feststellt, mehr als gerechtfertigt zu sein. Anders als seine Frau ahnt er in der Begegnung des Prinzen mit Emilia die Wurzel möglichen Übels: »Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt« (EG, 537). Und seine Befürchtung wird bestätigt, denn der Prinz hat Emilia in der Kirche seine Liebe gestanden (EG, 539). Sie kehrt »in einer ängstlichen Verwirrung« nach Hause zurück, weil sie Angst davor hat, durch »fremdes Laster« zur »Mitschuldigen« zu werden (EG, 538). Sie war in der Situation nicht mehr Herrin über ihre Affekte: »Meine Sinne hatten mich verlassen« (EG, 540). Die Tochter will dem Bräutigam alles beichten, doch die Mutter rät ihr davon ab (EG, 540 f.). Dagegen ist die Beziehung Emilias zu Appiani - und umgekehrt - von der Freiheit der Wahl geprägt. Emilia erinnert sich, wie sie ihrem Bräutigam, »als ich Ihnen zuerst gefiel«, »fliegend und frei« entgegen ging (EG, 543). Diese Freiheit hat keinen Bestand. Marinelli inszeniert einen Überfall, bei dem Appiani getötet wird (EG, 551 u. 560). Emilia flüchtet, auch das ist inszeniert, in das Lustschloss des Prinzen (EG, 554 f.). Der führt sie fort und ihre Mutter sucht nach ihr. Die Bedienten des Prinzen führen zweideutige Reden, Marinelli spricht von dem »Wolf bei dem Schäfchen« (EG, 558). Battista meint zu Claudia: »O, Ihre Gnaden, sie könnte in dem Schoße der Seligkeit nicht aufgehobner sein« (EG, 559), und Marinelli ergänzt: »Mit der zärtlichsten Sorgfalt ist der Prinz selbst um sie beschäftiget -«, wobei der Bindestrich eine bewusst gesetzte Leerstelle für die erotische Phantasie der Leser markiert (EG, 560). Claudia zieht die entsprechenden Schlüsse, sie durchschaut die Absicht der Intrige und nennt Marinelli einen »Mörder« (EG, 561). Der Prinz wäscht seine Hände in Unschuld, Die Freiheit der Wahl hat keinen Bestand <?page no="51"?> 38 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang er bezeichnet sich selbst Marinelli gegenüber, dem er freie Hand gegeben hat, als »unschuldig an diesem Blute« (EG, 562). Und auch Marinelli vertuscht seine Absicht: »Als ob sein Tod in meinem Plane gewesen wäre! « Die beiden überzeugen sich gegenseitig, obwohl der Zuschauer es besser weiß. Dass der Prinz Emilia, wovon Marinelli nichts wusste, bereits in der Kirche seine Liebe gestanden hat und dass nun die Mätresse des Prinzen, die Gräfin Orsina auftaucht, verkompliziert die Lage (EG, 565 f.), zumal die Gräfin von dem Gespräch in der Kirche weiß und ahnt, welche Bewandtnis es mit den Vorgängen hat (EG, 573). Orsina klärt Odoardo über den Tod des Bräutigams auf und prognostiziert der Braut ein Schicksal »schlimmer als tot«, ein Leben als Mätresse des Prinzen: »Ein Leben voll Wonne! Das schönste, lustigste Schlaraffenleben, - so lang’ es dauert« (EG, 576). Sie gibt Odoardo einen Dolch in der Hoffnung, dass er damit ihre Rache am Prinzen ausführt und durch seinen Tod zugleich verhindert, dass noch viele andere das gleiche Schicksal ereilt (EG, 577). Claudia tritt auf und versucht Odoardo zu beruhigen. Emilia sei »die Furchtsamste und Entschlossenste unseres Geschlechts« und halte »den Prinzen in einer Entfernung« (EG, 579). Der Prinz und Marinelli spinnen eine weitere Intrige, als Odoardo die Herausgabe seiner Tochter verlangt. Sie geben sich als »Rächer« des Grafen aus und erfinden eine Geschichte von einem »Nebenbuhler«, der ihn ermordet haben soll (EG, 585). Deshalb soll Emilia nicht mit dem Vater auf dessen Landsitz reisen, sondern mit dem Prinzen in die Residenzstadt, sie werde »in eine besondere Verwahrung« im Haus seines Kanzlers genommen. Odoardo durchschaut den Trick (EG, 586) und reagiert mit Ironie: »Das Haus eines Kanzlers ist natürlicher Weise eine Freistatt der Tugend.« Zugleich verlangt er, Emilia nur kurz zu sprechen (EG, 588). Emilia will fliehen, doch Odoardo sieht keine Möglichkeit: »Du bist, du bleibst in den Händen deines Räubers« (EG, 589). Emilia will sich selbst töten, ihr Vater will sie abhalten: »Auch Du hast nur Ein Leben zu verlieren«, worauf Emilia erwidert: »Und nur Eine Unschuld! « Ihr Vater meint, ihre Unschuld sei ja »über alle Gewalt erhaben«, und Emilia entgegnet: »Aber nicht über alle Verführung.« Und es folgt die viel diskutierte Stelle: »Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. - Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts« (EG, 590). Weil ihr Vater Intrige folgt auf Intrige <?page no="52"?> 39 g ottholD e PhraIm l eSS Ing : e mIlIa g alottI (17 72) nicht will, dass sie sich selbst tötet, bittet sie ihn darum und er tut es im Affekt, wofür seine Tochter ihm dankt: »Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert« (EG, 591). Hier ist ein zentraler Aspekt der Konzeption zu betrachten. Das Stück wird zum Schluss genauso metafiktional wie am Anfang, als ein Diskurs über die Bedeutung von Kunst geführt wurde. Der Maler Conti, der ein Porträt Orsinas bringt, ist der Meinung: »Die Kunst muß malen, wie sich die plastische Natur, - wenn es eine gibt - das Bild dachte: ohne den Abfall, welchen der widerstrebende Stoff unvermeidlich macht; ohne das Verderb, mit welchem die Zeit dagegen an kämpfet« (EG, 519 f.). Darauf erwidert der Prinz, der Orsina nicht mehr liebt: »Der denkende Künstler ist noch eins so viel wert« (EG, 520). Der Maler wird durch seine Reden der Lächerlichkeit preisgegeben. Dass er außerdem ein hervorragendes Porträt von Emilia Galotti gemalt hat, scheint eher an der Inspiration durch die Schönheit des Vorbilds gelegen zu haben (EG, 521 f.). Doch auch die Literatur selbst verfällt der Ironie, wenn Marinelli über die vom Verhalten des Prinzen enttäuschte Orsina berichtet: »Sie hat zu den Büchern ihre Zuflucht genommen; und ich fürchte, die werden ihr den Rest geben.« Und der Prinz ergänzt, nicht weniger ironisch: »So wie sie ihrem armen Verstande auch den ersten Stoß gegeben« (EG, 525). Den gänzlich unironischen Stoß gibt Odoardo seiner Tochter. Als der Prinz ihn zur Rede stellt, wirft er ihm den Dolch vor die Füße: »Sie erwarten vielleicht, daß ich den Stahl wider mich selbst kehren werde, um meine Tat wie eine schale Tragödie zu beschließen? « Und weiter: »Ich gehe und liefere mich selbst in das Gefängnis. Ich gehe, und erwarte Sie, als Richter. - Und dann dort - erwarte ich Sie vor dem Richter unser aller! « (EG, 592). Der Richter aller Figuren und des Stücks, dessen Konstruktionscharakter durch solche metafiktionalen Stellen durchsichtig gemacht wird, ist der Leser oder Zuschauer. Der versierte Theaterkritiker Lessing weiß das und er führt es hier in einer Analogie von Richter, Gott und Leser vor, die alle die Funktion haben, über die Tugend zu beschließen, genauer über verschiedene Tugenden. Mit dem Begriff des Richters wird die Unfreiheit angesprochen, die in Guastalla herrscht, in einem exemplarischen feudalen Kleinstaat, der für alle Staaten steht, die der zeitgenössische Leser kennt. Der Leser muss aber nicht nur, wie es der offene Schluss will, über die Tugend des Vaters und die Untu- Die Rolle des Lesers <?page no="53"?> 40 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang gend des Prinzen zu Gericht sitzen, sondern auch über die Qualität des Stücks, die Motivierung der Figuren und der Handlung und natürlich die Aufführung selbst, für die das Drama geschrieben ist. Die Unfreiheit der Figuren korrespondiert mit der Freiheit des Lesers, der zwar durch die Strategien des Stücks Vorgaben erhält, über die - sonst wäre die Freiheit nicht vollständig - aber ebenfalls zu befinden ist. Mit dieser Konzeption steht Lessings Dramaturgie am Anfang einer bis heute andauernden Entwicklung, die Eigengesetzlichkeit der Dichtung wie die Individualität der Figuren zu betonen und dabei den Leser in die Freiheit zu setzen, sich seine eigene Meinung zu bilden - in der Hoffnung, dass er die literarischen Zeichen in ihrer flexibel gewordenen Kombination von Geschlossenheit und Offenheit versteht. Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen (1773) Goethes (1749-1832) erstes umfangreicheres Werk ist nicht nur für ihn selbst, für sein weiteres Leben und für die Epoche des Sturm & Drang programmatisch, es hat auch eine darüber hinaus weisende Bedeutung für die neue Stellung, die das Individuum in der Gesellschaft einzunehmen beginnt. 1749 geboren, begann der junge Jurist schon in frühen Jahren Lieder, Aufsätze, Übersetzungen und eben Dramen zu veröffentlichen, wobei die Produktionen ineinander griffen. So spielt der von Goethe übersetzte Ossian, den der Schotte James Macpherson ab 1762 als mittelalterliche Dichtung herausgegeben, tatsächlich aber selbst verfasst hatte (eine der berühmtesten Fälschungen der Weltliteratur), im Werther eine bedeutende Rolle. Auch zwischen dem 1773 veröffentlichten »Schauspiel« Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand und dem 1774 zunächst unter dem Titel Die Leiden des jungen Werther publizierten Briefroman gibt es Gemeinsamkeiten - 3.4. Johann Wolfgang von Goethe im 80. Lebensjahr, Gemälde von Joseph Karl Stieler, 1828 Abb. 3.4 <?page no="54"?> 41 J ohann W olfgang von g oethe : g ötz von b erlIchIngen (17 73) beide Hauptfiguren scheitern an der Gegensätzlichkeit zwischen den eigenen Ansprüchen und jenen, die ihre Umwelt an sie stellt (Boerner 1995, 45). Selbst wenn man den Beginn der Epoche des Sturm & Drang bereits auf die 1760er Jahre datieren kann: Aus heutiger Sicht markiert Goethes Götz nicht nur einen fulminanten Auftakt für das Werk des Autors selbst, sondern auch für die moderne deutschsprachige Literatur, und er ist ein Symptom für die sich radikal verändernde gesellschaftliche Entwicklung, zu der er selbst beiträgt. Mit der langsamen Ablösung des christlichen Zeitalters durch das naturwissenschaftliche wird der einzelne Mensch aus dem Gefüge der als gottgewollt gesehenen Ordnung ›freigesetzt‹, eine Ordnung, in der Kaiser, Könige und Fürsten, der Papst und der Klerus als Stellvertreter Gottes auf Erden agierten und über Bauern und Handwerker regierten. Der Mensch wird aus seinem bisherigen Ordnungs- und Bezugssystem herausgelöst und muss beginnen, selber zu denken: »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung« (Kant 2002, 9), wird es Kant in seinem Essay Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? im Jahr 1783 formulieren und in dem Begriff der Aufklärung die Entwicklung des ganzen 18. Jahrhunderts zusammenfassen. Das moderne Subjekt muss nun, anders als früher, eigene Entscheidungen treffen, ob es das will oder nicht. Die Ende des 20. Jahrhunderts von Ulrich Beck hervorgehobenen Chancen der Freiheit (Beck 2003, 370) oder, je nach Perspektive, der von Zygmunt Bauman konstatierte Zwang zur Freiheit (Bauman 2003, 12 f.) - beides beginnt bereits hier, im 18. Jahrhundert, und zwar mit dem Götz. Das »Schauspiel« verabschiedet alle noch geltenden, überlieferten Regeln - literarische, gesetzliche, soziale - in einer Tour de force, zumindest im Mikrokosmos eines Theaterstücks: »Der Bruch mit dem klassizistischen Drama war mit diesem Stück, das neunundfünfzig Szenenwechsel hat und weder eine Einheit der Zeit noch des Orts kennt, endgültig vollzogen« (Boerner 1995, 39). Die scheinbare Regellosigkeit, die sich in häufigen Orts- und Figurenwechseln, in Handlungs- und Zeitsprüngen ausdrückt und die signalisiert, dass sich Literatur nicht mehr an der aristotelischen Dramenpoetik (wie sie im deutschsprachigen Raum lange Zeit rezipiert wurde) orientiert, sondern sich eigene Regeln gibt, „Götz“ als fulminanter Auftakt „Sapere aude! “ Bruch mit den Regeln <?page no="55"?> 42 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang hat dennoch klare Vorbilder, die sich in Goethes Werk erkennen lassen: William Shakespeare einerseits, die antiken Mythen andererseits, wie sie bereits Shakespeare, in freier Form, produktiv rezipiert hat. Ein anderer Text Goethes soll kurz mit in Rechnung gestellt werden, der das neue (und doch nicht so neue) Bezugssystem aufzeigen hilft: die Rede Zum Schäkespears Tag, im Elternhaus am 14. Oktober 1771 anlässlich des Frankfurter Shakespeare-Tages vorgetragen. Nicht zufällig entstand im selben Jahr auch die erste Fassung des Götz (Neuhaus V. 2009, 68; Dahnke 1998, 982-987). Das Werk William Shakespeares (1564-1616) ist deshalb so bedeutsam, weil für den englischen Renaissance-Dichter die kontinentalen Bezugs- und Regelsysteme, von denen sich Goethe und seine Zeitgenossen verabschieden möchten, nicht verbindlich waren. Bereits Shakespeare stellt gemischte Charaktere auf die Bühne, die ein bürgerliches Bewusstsein haben, auch wenn sie dem Adelsstand angehören. Es finden sich, anders als in der durch Martin Opitz (Opitz 1995) oder Johann Christoph Gottsched (Gottsched 1998) tradierten Regelpoetik, häufige Ortswechsel, zahlreiche Schauplätze und Personen, psychologisierte Figuren, die weder nur gut oder böse sind und die komische Züge haben können, auch wenn sie dem höheren Stand angehören, oder tragische, selbst wenn sie aus den unteren Ständen kommen. Shakespeare setzt den jungen Dichter in Freiheit, seine eigenen Ideen zu verwirklichen, in den Worten von Goethes Rede über ihn: Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, dass ich Hände und Füße hatte. Und jetzo, da ich sahe, wie viel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wie viel freie Seelen noch drinnen sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte, ihre Türne zusammenzuschlagen. (Goethe 2014, 137) Schon hier spielt die Vokabel ›frei‹ eine zentrale Rolle. Es geht darum, sich von überkommenen Regeln zu befreien, die dem Individuum Fesseln anlegen und ihm ein »Unrecht« antun. Schuld sind »die Herrn der Regeln«, also Autoritäten, die nicht näher benannt werden. Shakespeare ist das Werkzeug, mit dem die Fesseln gesprengt werden können, denn seine Das Vorbild Shakespeare <?page no="56"?> 43 J ohann W olfgang von g oethe : g ötz von b erlIchIngen (17 73) […] Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt […], in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt. Unser verdorbener Geschmack aber umnebelt dergestalt unsere Augen, dass wir fast eine neue Schöpfung nötig haben, uns aus dieser Finsternis zu entwickeln. (Goethe 2014, 138) Goethe zieht für die Arbeit an seiner Dichtung entsprechende Konsequenzen. Er schreibt nicht ein historisches Drama, sondern ein Drama, das sich frei bei der Geschichte bedient. Das reale Vorbild des Götz lebte von ca. 1480 bis 1562, also deutlich länger als im Stück (Neuhaus V. 2009, 8 ff., 64 ff.). Götz und die anderen Figuren suchen Orientierung in einer Welt, die sich im Umbruch befindet. Mit dem Götz beginnt ein neues Zeitalter des Problem- und Verantwortungsbewusstseins (in) der Literatur. Wenn sich Autoren eigene Regeln geben, wenn Texte nach eigenen Regeln funktionieren, dann kann der Leser nicht bevormundet werden. Der Text kann ein Werkzeug sein, mit dem sein Leser sich ebenfalls eigene Regeln gibt, vor allem für seine Vorstellungen von Realität, für seine Identität, für sein soziales Leben. Anders als in der Frühaufklärung wird der Leser nicht mehr belehrt, er soll selber denken und sich seinen eigenen Reim auf die Themen machen, mit denen er konfrontiert wird. Konsequent ist daher der Verzicht auf den Reim und die Verwendung von Dia- und Soziolekten im Götz, die zu den radikalen Veränderungen in der Literatur beitragen. Der Götz beginnt in einer Herberge in Franken und mit dem Satz: »Sievers. Hänsel, noch ein Glas Branntewein, und meß christlich« (GB, 74). Wenn man den religiösen Bezug ernstnimmt, ist die Bemerkung nichts weniger als blasphemisch. Wenig später wird Sievers noch auf Metzlers Frage: »Seit wann hat denn der Götz wieder Händel mit dem Bischof von Bamberg? «, erwidern: »Ja, vertrag du mit den Pfaffen« (ebd.). Derbe Figuren und eine derbe Sprache - das Stück hält sich nicht mit einer langen Exposition auf. Und nicht nur die geistliche, auch die weltliche Obrigkeit wird geschmäht: »Sievers. Dürften wir nur so einmal an die Fürsten, die uns die Haut über die Ohren ziehen.« Die zweite Szene stellt Götz vor: »Wo meine Knechte bleiben! Auf und ab muß ich gehen, sonst übermannt mich der Schlaf. Fünf Tag und Nächte schon auf der Lauer. Es wird einem sauer gemacht, das bißchen Leben und Frei- Wichtige Veränderungen des Stoffes Kritik an der Obrigkeit <?page no="57"?> 44 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang heit« (GB, 76). Doch ist es, wie sich im Laufe des Stücks herausstellen wird, eben diese Freiheit, auf die Götz auf keinen Fall verzichten möchte. Götz wartet auf seinen ehemaligen Jugendfreund Weislingen, der jetzt mit dem Bischof von Bamberg paktiert und den er auf seine Burg entführen möchte, was auch gelingt. Götz und Weislingen sind die zentralen Figuren des Stücks. Götz setzt sein Leben für andere ein, er nimmt seinen ›Beruf‹ als Ritter ernst, übernimmt Verantwortung und will eine Auffassung von Gerechtigkeit durchsetzen, die unabhängig von Gerichten ist. Der Glaube an das Recht auf Selbstbestimmung eint ihn und seine Frau Elisabeth, die später die Ehe von Maria mit Sickingen mit den Worten segnet, ihre Kinder sollten vor allem ›rechtschaffen‹ sein: »Und dann laßt sie werden, was sie wollen« (GB, 136) - ein im 18. Jahrhundert bildungspolitisch revolutionärer Gedanke. Weislingen hingegen ist vor allem an sich selbst interessiert, er kann sich nicht zwischen dem Leben am Hof und dem Leben als freier Ritter entscheiden. Diesen Konflikt spiegelt nicht nur der häufige Szenenwechsel zwischen Hof und Ritterburg, sondern auch Weislingens Brautwahl, denn er ist zwischen Maria, der Schwester von Götz, und der sich am Bamberger Hof aufhaltenden Witwe Adelheid von Walldorf hin- und hergerissen. Die Bewertung der Figuren durch das Stück ist sehr klar: Adelheid ist nur an ihrer Karriere am Hof interessiert, ihr geht es nicht um Gerechtigkeit und gleiche Behandlung, sondern um Macht, etwa wenn sie Weislingen vorwirft, er werde durch seinen Bund mit Götz »ein Sklave eines Edelmanns werden, da du Herr von Fürsten sein könntest« (GB, 113). Hier wird ein anderes, auf das Eigeninteresse gerichtetes Konzept von Freiheit entworfen (»Ich redete für Eure Freiheit«; ebd.). Die Rechnung geht auf, Weislingen intrigiert beim Kaiser (gemeint ist Maximilian I., der von 1459-1519 lebte) gegen Götz und dessen Freunde (GB, 122 f.). Adelheid benutzt Weislingen allerdings ebenso wie seinen Diener Franz, mit dem sie sogar ein Liebesverhältnis eingeht, um Weislingen, der ihr zweiter Ehemann geworden ist, aus dem Weg räumen zu können, als sich der künftige Kaiser für sie interessiert (GB, 169 ff.). Die Namen sind sprechend, auch bei Götz’ Schwester Maria, deren Tugendhaftigkeit der Mutter Gottes Ehre macht. Adelheid ist von Adel und zugleich von heidnischer Gesinnung. Allerdings wäre es ein Fehler, solche Hinweise oder die häufige Nen- Sprechende Namen <?page no="58"?> 45 J ohann W olfgang von g oethe : g ötz von b erlIchIngen (17 73) nung von Gott und Himmel im Drama als Verankerung der vom Stück ausgestellten, positiven Werte und Verhaltensweisen in der Religion zu verstehen, das sollte bereits der Anfang des Stücks gezeigt haben. Wie in vielen anderen Texten auch werden die einst religiösen Zeichen ihrer transzendenten Bedeutung entkleidet und dienen, innerhalb des autonomieästhetischen Programms und innerfiktionalen Regelsystems, als starke, die Intention des Texts verstärkende Symbole für Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit. Obwohl Götz eine ältere, überwundene Rechtsauffassung repräsentiert, so ist er doch, im Vergleich mit dem Bischof von Bamberg, die modernere Figur, denn er wählt sich seine Ziele selbst und denkt über die Verantwortlichkeit der Mittel nach, die er einsetzt. Dies wird etwa in dem Gespräch von Maria und Götz’ Sohn Carl gespiegelt, wenn Maria Carl erklärt, sein Vater habe einem Schneider geholfen, dem ein größerer Gewinn vorenthalten wurde (GB, 84). Götz ist das deutsche Pendant zu Robin Hood und als Retter der Unterprivilegierten keineswegs nur ein Vertreter vergangener Zeiten. Während Götz für die als positiv verstandene Freiheit steht, repräsentiert Weislingen das Krisenhafte des modernen Subjekts, seine Orientierungslosigkeit und sein rücksichtsloses Verfolgen eigener Interessen auch auf Kosten von anderen. Anders als Götz werden Weislingen und mit ihm sein Diener Franz aber als unglückliche Figuren gezeigt. Beide sind orientierungslos: »Franz. Mir ist als wenn ich aus der Welt sollte. / Weislingen. Mir auch, und noch darzu, als wüßt ich nicht wohin« (GB, 111). Noch am Anfang des Stücks kann Götz seinen alten Freund im Streitgespräch davon überzeugen, das Lager zu wechseln, er hat dafür schlagende Argumente: »Bist du nicht eben so frei, so edel geboren als einer in Deutschland, unabhängig, nur dem Kaiser untertan, und du schmiegst dich unter Vasallen? « (GB, 90). Götz ist keineswegs gegen die neue Ordnung, er hält sie aber für problematisch, weil sie dem Machtmissbrauch Tür und Tor öffnet: »Weislingen, wären die Fürsten, wie Ihr sie schildert, wir hätten alles, was wir begehren.« Für Götz ist Freiheit eine Frage der Selbstverantwortlichkeit: »Wenn Euer Gewissen rein ist, so seid Ihr frei« (GB, 91). Politisch gesehen steht Aussage gegen Aussage. Der Bamberger Bischof ist davon überzeugt, dass der notwendige Verteidigungs- Konkurrierende Ordnungen Freiheit und Macht(-missbrauch) <?page no="59"?> 46 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang krieg gegen die Türken durch »Privathändel« im Reich gehindert wird, denn »[…] das Reich ist, trotz ein vierzig Landfrieden, noch immer eine Mördergrube. Franken, Schwaben, der Oberrhein und die angrenzenden Länder werden von übermütigen und kühnen Rittern verheeret. Sickingen, Selbitz mit Einem Fuß, Berlichingen mit der eisernen Hand spotten in diesen Gegenden des Kaiserlichen Ansehens -« (GB, 96). Götz wird dies ganz anders sehen und auf seine Treue gegenüber dem Kaiser, auf seine Rolle als Vertreter der kaiserlichen Ordnung pochen. Auch der berühmteste Satz des Dramas fällt im Kontext einer Rechtfertigung seines Verhaltens: »Sag deinem Hauptmann: Vor Ihro Kaiserliche Majestät, hab ich, wie immer schuldigen Respekt. Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsch lecken« (Goethe 2014, 77; die Beleidigung ist in vielen Ausgaben durch Gedankenstriche ersetzt, so auch in GB, 139). Der Unterschied zwischen Ritter und Bischof zeigt sich im Verhalten, etwa wenn Götz froh ist über Weislingens Liebe zu seiner Schwester, weil seine Interessen und die Liebe der beiden ohne sein Zutun übereinstimmen. Unfreiwillig zeigt Götz’ Wortwahl gegenüber seiner Schwester aber auch, dass Liebe und Freiheit nicht unbedingt zusammen gehen: »Du kannst mehr als Hanf spinnen. Du hast einen Faden gedreht, diesen Paradiesvogel zu fesseln« (GB, 99). Doch Weislingen bekundet: »Ich fühle mich so frei wie in heiterer Luft. […] So gewiß ist der allein glücklich und groß, der weder zu herrschen noch zu gehorchen braucht, um etwas zu sein! « (GB, 101). Auf der anderen Seite gibt der Bischof Adelheid den Auftrag, Weislingen durch Verführung an den Hof zu binden: »Ich bitt Euch, versagt mir nicht, was mir sonst niemand gewähren kann« (GB, 106). Liebetraut, der Vertraute des Bischofs, besorgt den stärkeren Hanf: »Wie er nun in sein Herz ging, und das zu entwickeln suchte, und viel zu sehr mit sich beschäftigt war, um auf sich achtzugeben, warf ich ihm ein Seil um den Hals, aus drei mächtigen Stricken, Weiber-, Fürstengunst und Schmeichelei, gedreht, und so hab ich ihn hergeschleppt« (GB, 109). Selbst als Götz verfolgt wird, hält er dem Kaiser die Treue: »Es lebe der Kaiser! « (GB, 141). Hier steht, wie beim englischen ›Long live the king‹, der Kaiser als Symbol für eine Ordnung, die wieder mit dem zentralen Begriff nicht nur dieses Stücks bedacht und dreifach bekräftigt wird, wenn Götz fragt: »[…] was soll unser letztes Wort sein? Georg. Es lebe die Freiheit! Götz. Es lebe die Frei- Liebe und Freiheit <?page no="60"?> 47 J ohann W olfgang von g oethe : g ötz von b erlIchIngen (17 73) heit! Alle. Es lebe die Freiheit! Götz. Und wenn die uns überlebt, können wir ruhig sterben« (GB, 141). Die hier propagierte Freiheit ist nicht einfach nur die historische Freiheit des Raubrittertums, sondern auch eine verantwortliche und selbstverantwortliche mit zukunftsweisendem Charakter: »Das wäre ein Leben! Georg! wenn man seine Haut für die allgemeine Glückseligkeit dransetzte.« Doch wie Georg so richtig feststellt, wurden sie im Namen des Kaisers eingesperrt, der für sie als Symbol und Garant für Freiheit steht (GB, 143). Als selbst Götz verzweifelt, als seine Vertrauten gegen alle Versicherungen gefangen genommen oder sogar getötet werden, beruhigt ihn seine Frau: »Sie haben ihren Lohn, er ward mit ihnen geboren, ein freies, edles Herz. Laß sie gefangen sein, sie sind frei! « (GB, 145). Das endgültige Scheitern von Götz wird - hier weist das Stück auf Schillers Die Räuber voraus - durch die falsche Annahme der Hauptfigur besiegelt, im Bauernaufstand mäßigend wirken und für Gerechtigkeit sorgen zu können: »Warum seid ihr ausgezogen? Eure Rechte und Freiheiten wiederzuerlangen! Was wütet ihr und verderbt das Land! Wollt ihr abstehen von allen Übeltaten, und handeln als wackere Leute, und die wissen, was sie wollen, so will ich euch behülflich sein zu euren Forderungen, und auf acht Tag euer Hauptmann sein« (GB, 160). Damit bricht Götz aber nicht nur sein Versprechen dem Kaiser gegenüber, sich ruhig zu verhalten, er vertraut auch den falschen Leuten, die sich als gewissenlose »Mordbrenner« entpuppen, so dass er sich wieder von ihnen lossagt: »So ist mein Tod der Welt das sicherste Zeichen, daß ich nichts Gemeines mit den Hunden gehabt habe« (GB, 163). Mit Götz’ Tod endet das Schauspiel, sein Tod ist zugleich eine Apotheose der Freiheit. Götz ist wieder eins mit sich: »Allmächtiger Gott! Wie wohl ist’s einem unter deinem Himmel! Wie frei! - Die Bäume treiben Knospen, und alle Welt hofft« (GB, 174). Elisabeth bescheinigt ihm: »Er wehrte sich wie ein Löw um seine Freiheit.« Die Gegenwart zeichnet sich dagegen durch Unfreiheit aus, so stellt der sterbende Götz fest: »Es kommen die Zeiten des Betrugs, es ist ihm Freiheit gegeben. Die Nichtswürdigen werden regieren mit List, und der Edle wird in ihre Netze fallen.« Nicht zufällig lauten seine letzten Worte: »Freiheit! Freiheit! (Er stirbt.)« Elisabeth stimmt ihm zu, dass es Freiheit nur bei Gott gebe, denn: »Die Welt ist ein Gefängnis.« Die Schlussworte des Stücks sind Nachrufe von zwei äußerst positiven Figuren: »Maria. Edler Mann! Wehe dem „Freiheit! Freiheit! “ <?page no="61"?> 48 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang Jahrhundert, das dich von sich stieß! Lerse. Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt! « (GB, 175). Götz und seine Frau sind Vorboten einer neuen Ordnung, die aus dem zu Goethes Zeit ›alt‹ gewordenen Feudalismus, wie ihn der Hof des Bischofs von Bamberg verkörpert, ihre Lehren ziehen will. Allerdings ist es noch nicht so weit, denn die Figur Götz (anders als der historische Götz) geht unter und die Frage, wie diese neue Ordnung aussehen könnte, bleibt dem Leser überlassen. Wie folgenreich Goethes frühes Drama war, ist kaum zu überschätzen. So hat beispielsweise Sir Walter Scott (1771-1832) im Jahr 1799 den Götz ins Englische übersetzt und sich von ihm für seine eigene literarische Beschäftigung mit der schottischen und englischen Geschichte anregen lassen. Scott gilt nicht nur als der Erfinder des modernen historischen Romans (dessen Konzept des ›mittleren Helden‹ ebenfalls an den Götz erinnert), er hat auch das Modell einer Auffassung vom Mittelalter geliefert, das für das 19. Jahrhundert - und darüber hinaus - stilbildend geworden ist. Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther (1774 / 87) Der Briefroman Goethes ist einer der erfolgreichsten Romane aller Zeiten und, neben Gellerts Fabeln und Erzählungen, vermutlich der größte belletristische Bucherfolg deutscher Sprache im 18. Jahrhundert. Darüber hinaus machte er Goethe auch international bekannt, und zwar so sehr, dass Goethe sich ärgerte, als er, als gestandener Autor mit zahlreichen Veröffentlichungen, noch auf seiner Italienreise immer wieder darauf angesprochen wurde. Die erste Fassung von 1774 überarbeitete Goethe, seither ist die 2. Auflage von 1787 in der Regel die Ausgabe, die wiedergedruckt und zitiert wird. Die Rezeption 3.5. Einzig erhaltenes Blatt der Handschrift Goethes zu Werthers Leiden in der ersten Fassung Abb. 3.5 <?page no="62"?> 49 g oethe : D Ie l eID en DeS Jungen W erther (17 74 / 87) Der durchschlagende Erfolg (Boerner 1995, 43 ff.) zeigt, dass es das richtige Buch zur richtigen Zeit ist. Es kommt zu einem regelrechten »Wertherfieber« (Jäger 1994, 224), über dessen Ausmaß noch heute spekuliert wird. Die Kleidung der Figur, blauer Frack und gelbe Weste (GW, 79), kommt in Mode und wird zum Zeichen. Der Grund ist, dass mit Werther erstmals eine Figur radikal individuell denkt und handelt: »Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! « (GW, 13), bis hin zum Selbstmord, der schon zu Anfang als extreme Form der Selbstbestimmung gewertet wird: »Und dann, so eingeschränkt er [der Mensch] ist, hält er doch immer im Herzen das süße Gefühl der Freiheit, und daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will« (GW, 14). Zumal Selbstmord aus der Sicht der Zeit eine Todsünde war, so dass, wie der Erzähler zum Schluss betont, Werther auch ohne Beistand eines Geistlichen beigesetzt wird (GW, 124). Das Medium, das Werther wählt, um seine Individualität zu leben, ist die Liebe, sie ist die Probe für die Äußerung von Gefühlen als »Strom des Genies« (GW, 16). Im Roman steht das neue Konzept der romantischen Liebe (Werther) gegen das traditionelle der Konventions- und Versorgungsheirat (Lotte und Albert). Aber die romantische Liebe bedeutet viel mehr - sie bedeutet Freiheit im Sinn selbstbestimmten Handelns auch und gerade gegen Regeln der Gesellschaft, und sie steht, als unverzichtbarer Bestandteil eines solchen Konzepts von Freiheit, für die Behauptung des individuellen Gefühlslebens gerade gegen die Vernunft. Daher setzt Werther Freiheit positiv ab von Notwendigkeit: »Es ist ein einförmig Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen! « (GW, 11). Der Roman ist in zwei Bücher eingeteilt, das erste Buch und die erste Hälfte des zweiten bestehen aus Briefen, die Werther vom 4. Mai 1771 bis zum 6. Dezember 1772 an seinen Freund Wilhelm schreibt. Den Rest des zweiten Buchs macht der Bericht des fiktiven Herausgebers über die weiteren Wochen bis zu Werthers Selbstmord kurz vor Weihnachten aus. Nicht zufällig beginnt der Roman im Frühling und endet im Winter, um die Zeit des kürzesten Tages im Jahr, die Jahreszeiten symbolisieren den Beginn der Liebe und den Untergang des oder der Liebenden. Dass auch Ein früher Bestseller Das Problem radikaler Individualität <?page no="63"?> 50 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang Lotte, inzwischen verheiratet, in Werther verliebt war, macht der Schluss sehr deutlich: »Man fürchtete für Lottens Leben« (GW, 124). Goethe hat mit der Figurenkonstellation eigene Erfahrungen verarbeitet, die Freundschaft mit Charlotte Buff und ihrem Bräutigam Johann Christian Kestner: »Trotz eines fast grenzenlosen Vertrauens, das sich alle Seiten entgegenbrachten, führte das Verhältnis jedoch zu schweren Spannungen. Goethes Empfindungen für Lotte steigerten sich zur Leidenschaft« (Boerner 1995, 42). Goethe verließ Wetzlar, um schließlich von einem anderen Fall zu hören, der ebenfalls in die Konzeption des Werther eingegangen ist, von einem Freund, dem »Legationssekretär Karl Wilhelm Jerusalem, [der sich] aus unglücklicher Liebe zu der Gattin eines Freundes das Leben genommen« hatte (Boerner 1995, 42 f.). Goethe hat, entgegen der Rezeption, seine Titelfigur nicht als Identifikationsfigur angelegt, schließlich hat er sich auch nicht selbst umgebracht. Goethe ging sogar so weit, einer späteren Ausgabe zwei Leitsprüche beizugeben, von denen der zweite lautete: Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele, Rettest sein Gedächtnis von der Schmach; Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner Höhle: Sei ein Mann, und folge mir nicht nach. (Goethe 1998 1, 92) Werther ist ein Schwärmer, dessen Gefühle und Phantasie sich durch äußere Umstände leicht entzünden lassen (GW, 9). Dabei unterliegt die Figur großen Stimmungsschwankungen (GW, 10). Werther ist stark auf sich selbst bezogen, nimmt seine Umwelt nur in der Wirkung auf sich wahr und ist psychisch instabil. Mit einem neueren Begriff könnte man von Werther auch als dem ersten bedeutenden Narzissten in der deutschsprachigen Literatur sprechen. Er weist, mit der Erzählung dieses Ereignisses beginnt der Roman, eine in ihn verliebte junge Dame zurück, so wie er selbst - zunächst - von Lotte zurückgewiesen werden wird: »Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiß, du verzeihst mir’s. Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meine zu ängstigen? Die arme Leonore! « (GW, 7). Werther verliebt sich auch nicht nur in Lotte. Bevor er sie ken- Der autobiographische Hintergrund Werther als problematische Figur <?page no="64"?> 51 g oethe : D Ie l eID en DeS Jungen W erther (17 74 / 87) nenlernt, denkt er an »die Freundin meiner Jugend« zurück, die er schmerzlich vermisst: »Aber ich habe sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte« (GW, 12). Auf einem Pfarrhof geht Werther mit der Pfarrerstochter Friederike, ihrem Verlobten und Lotte spazieren, Friederike ist »eine rasche, wohlgewachsene Brünette«, mit der sich Werther lebhaft unterhält, bis Lotte ihm ein Zeichen gibt, »daß ich mit Friederiken zu artig getan« (GW, 32). Als Werther Lotte und Albert verlässt und einen Posten bei einem Gesandten annimmt, verliebt er sich erneut, diesmal in »ein Fräulein von B.« (GW, 63). Werther meint, dass sie Lotte gleicht (GW, 65). Als Werther bei einer Gesellschaft bleibt, obwohl er vom Stand her nicht dazu gehört, weil er »noch ein gut Wort von ihr hoffte« und »nur auf meine B.. acht« gibt (GW, 68), kommt es zum Eklat. Das Fräulein erzählt ihm später, dass sie »gelitten habe um Ihretwillen«, so dass Werther überwältigt wird von dem Eindruck des ›süßen Geschöpfs‹, dem »Tränen in den Augen« stehen: »Ich war nicht mehr Herr von mir selbst, war im Begriffe, mich ihr zu Füßen zu werfen. - ›Erklären Sie sich! ‹ rief ich. - Die Tränen liefern ihr die Wangen herunter« (GW, 70). Doch will Werther nicht nur die »Teilnehmung«, die sie ihm bietet, er denkt vielmehr an Liebe, deshalb reagiert er auch negativ: »ich war zerstört und bin noch wütend in mir« (GW, 70). Die erneut enttäuschten Liebeshoffnungen lassen ihn kündigen (GW, 71). Wochenlang weiß er nicht, was er mit sich anfangen soll, er überlegt, »in den Krieg« zu gehen (GW, 74) und entschließt sich dann, an den Ort seines größten Glücks zurückzukehren: »ich will nur Lotten wieder näher, das ist alles«. Doch sofort meldet sich die Eifersucht: »Es geht mir ein Schauder durch den ganzen Körper, Wilhelm, wenn Albert sie um den schlanken Leib faßt. Und, darf ich es sagen? Warum nicht, Wilhelm? Sie wäre mit mir glücklicher geworden als mit ihm! « (GW, 75). Bald steigert sich Werther so weit in seine Gefühle hinein, dass er an nichts anderes mehr denken kann: »Ich habe so viel, und die Empfindung an ihr verschlingt alles; ich habe so viel, und ohne sie wird mir alles zu Nichts« (GW, 84). Werther ist also auf der Suche nach einer Projektionsfigur für seine Gefühle. Wenn er nicht zu sehr in die Ausbrüche seiner »Leidenschaft« (GW, 54) verstrickt ist, ist er durchaus in der Lage, dies selbst zu reflektieren: »Und, mein Lieber! ist nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Veränderung des Zustands eine Enttäuschte Liebeshoffnungen <?page no="65"?> 52 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang innere, unbehagliche Ungeduld, die mich überallhin verfolgen wird? « (GW, 54). Um die Zeit, als Werther Lotte kennenlernt, trifft er auch einen Bauernburschen, dessen Geschichte die Werther-Lotte-Handlung spiegelt. Der junge Mann hat sich in seine Arbeitgeberin, eine Witwe, verliebt und Werther sieht in seinen Erzählungen einen rührenden Ausdruck von »Treue und Zärtlichkeit« (GW, 19). Doch später muss Werther erfahren, dass der Bursche sich in seiner »Leidenschaft« zu einer Tat hinreißen ließ, wegen der er sich nun vor Gericht verantworten muss: »da sie seinen Bitten kein Gehör gegeben, hab’ er sich ihrer mit Gewalt bemächtigen wollen; er wisse nicht, wie ihm geschehen sei« (GW, 77). Der Bruder der Angebeteten, der ihn nicht gemocht habe, sei dazwischen gekommen. Der Bursche kündigt an, Selbstmord begehen zu wollen und Werther stellt fest: »Diese Liebe, diese Treue, diese Leidenschaft ist also keine dichterische Erfindung« (GW, 78). Angesichts der geschilderten Tat ein mehr als problematischer Satz. Erst später erfährt Werther die mit dieser Geschichte verknüpfte Vorgeschichte, die für den Leser die Verirrung Werthers umso deutlicher macht: »Wilhelm! Der Mensch, von dem ich dir schrieb, der glückliche Unglückliche, war Schreiber bei Lottens Vater, und eine Leidenschaft zu ihr […] hat ihn rasend gemacht« (GW, 91). Damit ist die Nebenhandlung aber noch nicht zu Ende, der Bursche tötet später seinen Nebenbuhler, den neuen Knecht (GW, 95). Bezeichnenderweise identifiziert sich Werther mit dem Täter: »›Du bist nicht zu retten, Unglücklicher! Ich sehe wohl, daß wir nicht zu retten sind‹« (GW, 97). Entsprechend fällt auch die Diagnose des Herausgebers der Briefe aus, als dieser sich zu Wort meldet: »Die Harmonie seines Geistes war völlig zerstört« (GW, 93). »Charlotten S.« ist, wie Werthers Begleiterin ihm beim ersten Treffen erzählt, »›schon vergeben‹«, und zwar »›an einen sehr braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist, und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben.‹ - Die Nachricht war mir ziemlich gleichgültig« (GW, 20). Und doch wird es gerade dieser Umstand sein, der für Werther tödliche Konsequenzen haben wird. Sehr schnell kommen Werther und Lotte sich näher. Tanzen steht kulturhistorisch für eine erotische Verbindung von Mann und Frau, deshalb waren auch manche Tänze zu früheren Zeiten und in bestimmten Kulturen nicht erlaubt. Die nun immer engere Erotische Spannungen <?page no="66"?> 53 g oethe : D Ie l eID en DeS Jungen W erther (17 74 / 87) Verbindung der beiden wird auch in der Wortwahl deutlich: »Nun ging’s an, und wir ergetzten uns eine Weile an mannigfaltigen Schlingungen der Arme. […] Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, daß alles rings umher verging, und - […]« (GW, 25). Der Bindestrich ist ein Platzhalter für erotische Phantasien, die im Kontext der Zeit nicht geäußert werden durften (Kittler 1994, 303). Eine Frau erkennt das erotische Spiel, sie zeigt Lotte »einen drohenden Finger« und ruft ihr den Namen Albert zu. Hier ist bezeichnend, wie Lotte selbst von ihrem künftigen Gatten spricht: »›Albert ist ein braver Mensch, dem ich so gut als verlobt bin‹« (GW, 25). Und doch lassen sich die beiden Tanzenden nicht beirren, die Szene endet mit einer symbolischen Vereinigung der Liebenden: Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: »Klopstock! « - Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. (GW, 27) Die beiden stehen, mit dem Blick aus dem Fenster, an der Schwelle von der Zivilisation zur Natur. Die Ode (ein feierliches Gedicht) des seinerzeit berühmten Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) bildet ein Bindeglied zwischen Kunst und Natur, Literatur und Liebe. Die Symbolik des Wetters (der Sturm ist draußen in der Natur und in ihren Gefühlen), die Flüssigkeiten und Flüssigkeits- Metaphern (»Strome von Empfindungen«), vor allem die vereinigten Hände und die Tränen sprechen, im Kontext der Literatur der Zeit, eine deutliche Sprache: Lotte und Werther werden in dieser Szene ein Paar. Deshalb kann Werther wenig später auch an Wilhelm schreiben: »Ich lebte so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen aufspart; und mit mir mag werden was will, so darf ich nicht sagen, daß ich die Freuden, die reinsten Freuden des Lebens nicht genossen habe« (GW, 28). Als Albert eintrifft, freundet sich Werther mit ihm an (GW, 42). Eine symbolische Vereinigung der Liebenden Symbolik des Wetters <?page no="67"?> 54 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang Er weiß, dass er Lotte nicht lieben darf - »wenn ich nur wüßte wohin, ich ginge wohl« (GW, 44). In den Gesprächen mit Albert argumentiert dieser stets vernünftig, Werther setzt seine Gefühle dagegen, in einem Dialog der beiden fällt auch die berühmt gewordene Formulierung der »Krankheit zum Tode« (GW, 48). Als sich später die Situation zuspitzt und als Albert Werther freundschaftlich bittet, Lotte seltener zu besuchen: »›Die Leute werden aufmerksam, und ich weiß, daß man hier und da drüber gesprochen hat‹« (GW, 97), als schließlich auch Lotte Werther ins Gewissen redet, nicht falsche Hoffnungen in sie als »das Eigentum eines andern« zu setzen (GW, 102), sieht Werther keinen Ausweg mehr als den Selbstmord. Allerdings kommt es beim Abschied zur zweiten, für Werther entscheidenden Liebesszene. Auch Lotte ist »in einen sonderbaren Zustand geraten«: »Alles, was sie Interessantes fühlte und dachte, war sie gewohnt mit ihm zu teilen, und seine Entfernung drohete in ihr ganzes Wesen eine Lücke zu reißen, die nicht wieder ausgefüllt werden konnte. O, hätte sie ihn in dem Augenblick zum Bruder umwandeln können, wie glücklich wäre sie gewesen« (GW, 106). Dennoch ist ihr Gefühl ambivalent: Es gibt auch keine Freundin, »der sie ihn gegönnt hätte« (GW, 107). In dieser Stimmung lesen die beiden Ossian (1760-63) (GW, 107 ff.), eine gälische Dichtung, die in der Zeit (so wie die Ode Klopstocks) als Ausdruck besonders intensiven Gefühlslebens gilt und die vielleicht wirkungsmächtigste Fälschung der Literaturgeschichte ist. (Das Epos in »Gesängen« stammt aus der Feder des Schotten James Macpherson), der es als Edition einer von ihm gefundenen, authentischen Handschrift eines altgälischen Barden ausgab.) Es kommt zu einer symbolischen Vereinigung von Körperflüssigkeiten: »[…] ihre Tränen vereinigten sich. Die Lippen und Augen Werthers glühten an Lottens Arme; ein Schauer überfiel sie […]« (GW, 114). Und weiter: »Ihre Sinne verwirrten sich […]. Die Welt verging ihnen. Er schlang seine Arme um sie her, preßte sie an seine Brust und deckte ihre zitternden, stammelnden Lippen mit wütenden Küssen« (GW, 115). Auch wenn jetzt Lottes Affektkontrolle einsetzt und sie Werther zurückweist, schenkt sie ihm doch den »vollsten Blick der Liebe« (GW, 115). Für Werther steht fest, dass sie nun, wenigstens kurz, ein Liebespaar waren: »Sünde? Gut, und ich strafe mich dafür; ich habe sie in ihrer ganzen Himmelswonne geschmeckt […]. Du Lotte: Affekt und Kontrolle <?page no="68"?> 55 g ottholD e PhraIm l eSS Ing : n athan Der W eI Se (17 79) bist von diesem Augenblicke mein! mein, o Lotte! Ich gehe voran! « (GW, 117). Werther sieht die Erfüllung der Liebe im Tod. Allerdings wird diese hochfliegende Hoffnung im Roman durch die brutale Realität konterkariert, Werther stirbt keinen schönen Tod: »Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Überfluß eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem« (GW, 124). Der Roman entwirft ein ambivalentes Bild individueller Freiheit in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft. Werther stirbt an seiner fehlenden Bereitschaft, einen Ausgleich zwischen seiner individuellen Freiheit und der Freiheit der anderen zu suchen. Das neue Modell der romantischen Liebe wird zweifellos favorisiert, allerdings nicht um jeden Preis. Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise (1779) Das »dramatische Gedicht in fünf Aufzügen« zählt zu den bedeutendsten Werken der deutschsprachigen Literatur, dafür gibt es nicht zuletzt wirkungsästhetische Gründe: Lessing konfrontiert und rührt sie [die Menschen] auf eine in der Welt bis heute nicht häufig zu hörende Weise mit Fragen der religiösen Toleranz und des Humanismus. Weil die Titelfigur ein Jude ist und Lessing sie nicht nur mit Weisheit ausstattet, sondern Nathan auch als sozial denkenden, seinen Reichtum für die Gemeinschaft einsetzenden Mann darstellt, erhält das Stück mit Blick auf den jahrtausendealten Judenhass und den modernen Antisemitismus sein zusätzliches Gewicht. Im Land von Lessings Sprache, in dem Nathans Brüder und Schwestern 160 Jahre 3.6. Denkmal von Nathan dem Weisen in Wolfenbüttel Abb. 3.6 <?page no="69"?> 56 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang nach dem Tod des Dramatikers millionenfach verfolgt und ermordet wurden, besitzt das Stück nach 1945 einen ganz besonderen Stellenwert. (Sternburg 2010, 130) Doch auch formal ist das Stück außerordentlich innovativ: »Mit dem in Blankversen geschriebenen Nathan der Weise sollte er dieser Versform auf den deutschen Bühnen zum Durchbruch verhelfen« (Sternburg 2010, 131). Dabei stammt die Geschichte der berühmten Ringparabel, mit der die Gleichwertigkeit der Religionen in ein Bild gefasst wird, im Kern aus Giovanni Boccaccios (1313-75) Decamerone, entstanden um 1350, zuerst gedruckt 1470; dazu kommt noch der Einfluss anderer Quellen (Fick 2010, 490 f.). Der zeitgeschichtliche Hintergrund für die Entstehung des Nathan ist der Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze, ein verbaler Schlagabtausch, der sich an den von Lessing herausgegebenen theologischen Schriften von Reimarus entzündet (Sternburg 2010, 126 ff.). Lessings Stück überwindet die Glaubensgegensätze in einer Utopie, der »geschwisterliche[n] Vereinigung der Menschen«, zumindest gilt dies als frühe Übereinkunft zur Deutung des Stücks (Fick 2010, 493). Mit der erfolgreichen Inszenierung durch Schiller 1801 in Weimar und dem Lob Goethes setzt sich die bis heute gängige Auffassung durch, dass die religiöse Toleranz im Zentrum steht (Fick 2010, 514). Toleranz und Freiheit sind Geschwister. Das Stück verhandelt die Frage der Freiheit des Glaubens und des Lebens in einer Gemeinschaft. Es spielt zur Zeit von Glaubenskriegen zwischen Christen und Muslimen in Jerusalem, also in der Stadt, die wie keine andere grundlegende Bedeutung für die weltweit verbreiteten großen Religionen hat. Saladin heißt der regierende muslimische Sultan, Nathan ist ein reicher jüdischer Bürger und Recha seine »angenommene Tochter« (NW, 595). Daja, Christin und Gesellschafterin von Recha, erzählt Nathan am Anfang des Stücks vom Brand in seinem Haus und dass Recha dabei beinahe umgekommen wäre (NW, 595), wenn sie nicht ein »junger Tempelherr« gerettet hätte, den der Sultan »begnadigt hatte«. Der aber ist zunächst verschwunden (NW, 598) und weigert sich dann, Recha noch einmal zu sehen, damit sie ihm ihren Dank abstatten kann (NW, 599). Die Rettung Rechas ist bereits »kein kleines Wunder«, wie Nathan feststellt: Der Blankvers Die Freiheit des Glaubens <?page no="70"?> 57 g ottholD e PhraIm l eSS Ing : n athan Der W eI Se (17 79) Denn wer hat schon gehört, daß Saladin Je eines Tempelherrn verschont? daß je Ein Tempelherr von ihm verschont zu werden Verlangt? Gehofft? ihm je für seine Freiheit Mehr als den ledern Gurt geboten, der Sein Eisen schleppt; und höchstens seinen Dolch? (NW, 602) Recha hat gehört, dass Saladin den Tempelherrn begnadigt haben soll, weil er einem toten Bruder ähnlich sehe (NW, 603). Der Patriarch des Klosters lässt den Tempelherrn durch einen Bruder ausforschen (NW, 614), um ihn als »Spion« für König Philipp und gegen den Sultan zu gebrauchen, doch weigert sich dieser (NW, 617). Als der Klosterbruder ihn sogar, im Auftrag des Patriarchen, als Attentäter auf das Leben des Sultans gewinnen will, obwohl der ihm gerade sein Leben geschenkt hat, befindet der Tempelherr, das sei ein »Bubenstück vor Gott« (NW, 618). Dennoch lehnt er es weiterhin ab, Recha oder Nathan zu treffen: »Jud’ ist Jude. / Ich bin ein plumper Schwab« (NW, 621). Die Vorurteile sind zunächst wechselseitig, so stehen die Christen beim Sultan und seiner Schwester nicht hoch im Kurs. Saladins Schwester Sittah fasst zusammen: »Ihr Stolz ist: Christen sein; nicht Menschen« (NW, 616). Als Saladin Nathan kommen lässt, um von ihm Geld zu borgen, stellt er ihm die Frage nach der »Wahrheit« und Nathan erzählt die Ringparabel (NW, 662). Nathan ist es schließlich, der Saladin darum bittet, ihm zu günstigsten Konditionen Geld leihen zu dürfen (NW, 669), denn er möchte sich für die Rettung Rechas erkenntlich zeigen, die ohne die Begnadigung des Tempelherrn nicht möglich gewesen wäre; außerdem ahnt er geheime familiäre Zusammenhänge. Im Tempelherrn geht im Verlauf des Stücks ein Wandel vor, denn nicht nur Recha hat sich in ihn, auch er hat sich in Recha verliebt. Dass der »Christ das Judenmädchen« liebt, erscheint ihm in Jerusalem, der Stadt der Religionen, plötzlich möglich, zumal das von Saladin geschenkte Leben einen Neuanfang bedeutet (NW, 671), wie Saladin ihm gegenüber noch einmal bestätigt: »Wem ich das Leben schenke, werd’ ich dem / Nicht auch die Freiheit schenken? « (NW, 691). Aus dieser Freiheit heraus schließt sich der Tempelherr dem Sultan an, dem die unterschiedliche Religion gleichgültig ist: »Ich habe nie verlangt, / Daß allen Bäumen eine Rinde wachse« (NW, 692). Vorurteile der Figuren <?page no="71"?> 58 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang Als das Familiengeheimnis gelüftet wird, können alle Beteiligten als Verwandte eine große Familie bilden, aber bis dahin ist es ein Weg voller Missverständnisse und Geheimnisse. Bereits als der Tempelherr den Namen »Curd von Stauffen« nennt, stutzt Nathan, denn der Name kommt ihm bekannt vor (NW, 644). Daja eröffnet dem Tempelherrn, dass Recha gar keine Jüdin ist, sondern die christlich getaufte Pflegetochter Nathans, und dass Recha davon selbst gar nichts weiß (NW, 679). Die dramatische Handlung wird durch Nathans scheinbar abweisendes Verhalten dem Tempelherrn gegenüber vorangetrieben, doch Saladin vermag den jungen Mann, der an Nathans Ehrlichkeit zweifelt, zu beruhigen: »Indes, er ist mein Freund, und meiner Freunde / Muß keiner mit dem andern hadern« (NW, 695). Und er fordert den Tempelherrn auf, nicht in alte Muster zurückzufallen: »Sei keinem Juden, keinem Muselmanne / Zum Trotz ein Christ! « (NW, 696). Auch weil das Vertrauen siegt und der Tempelherr Nathan offen schildert, welche Gründe er für seinen Besuch beim Patriarchen hatte (NW, 717 ff.), wird der Weg für eine glückliche Auflösung frei. Das durch Vertrauen gebesserte Misstrauen hat sein Gutes. Dass der Tempelherr beim Patriarchen war, trägt erheblich zur Lösung bei, denn der hat nun den Klosterbruder Bonafides mit Nachforschungen beauftragt, und es ist der Klosterbruder, der vor 18 Jahren Recha als Baby Nathan übergab (NW, 702). Als Bonafides Nathan davon unterrichtet, gesteht der ihm, dass er das Kind zu einem Zeitpunkt erhielt, als gerade »in Gath die Christen alle Juden / Mit Weib und Kind ermordet hatten«, darunter auch seine Frau und seine sieben Söhne (NW, 704). Das Kind hat ihm die Hoffnung wiedergegeben. Die Mutter des Kindes war die Schwester des Conrad von Stauffen (NW, 706). Nathan kann mit der Hilfe eines Notizbuches, das Bonafides dem toten Vater Wolf von Filneck abgenommen hat (NW, 702 u. 706), die Verwandtschaftsverhältnisse aufklären. Der Name des Tempelherrn ist Leu von Filneck (NW, 731), Rechas Name Blanda von Filneck, die beiden sind Geschwister (NW, 733). Wolf von Filneck schließlich ist kein anderer als Saladins verstorbener Bruder Assad (NW, 734), so dass Saladin und seine Schwester Sittah sich als Onkel und Tante von Recha und vom Tempelherrn entpuppen. Nathan, der trotz des Mordes an seiner Familie zum Pflegevater wurde, ist der Stifter einer großen Familie, die letzten Worte des Stücks sind eine Regieanweisung: »(Unter stummer Wiederholung allerseitiger Umarmungen fällt der Vorhang) (NW, 735). Glaubensgegensätze werden überwunden Die komplexe Handlung <?page no="72"?> 59 g ottholD e PhraIm l eSS Ing : n athan Der W eI Se (17 79) Der Diskurs über Religion und Toleranz durchzieht alle Dialoge. So enwirft sogar die betont christliche Daja, nachdem sie Nathan von der Rettung Rechas durch den Tempelherrn erzählt hat, aus Solidarität mit Recha eine Vision religiöser Toleranz: »Laßt lächelnd wenigstens ihr einen Wahn, / In dem sich Jud’ und Christ und Muselmann / Vereinigen; - so einen süßen Wahn! « (NW, 600). Für Nathan gilt, was Derwisch Al-Hafi so formuliert: »Jud’ und Christ / Und Muselmann und Parsi, alles ist / Ihm eins« (NW, 633). Dem Tempelherrn bietet Nathan seine Freundschaft an mit den Worten: »Verachtet / Mein Volk so sehr Ihr wollt. Wir haben beide / Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind / Wir unser Volk? Was heißt denn Volk? / Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, / Als Mensch? « (NW, 641). Und der Tempelherr stellt gegenüber dem Klosterbruder fest: »Religion ist auch Partei« (NW, 683). Der Klosterbruder schließlich befindet, es habe ihn »[…] Tränen gnug gekostet, / Wenn Christen gar so sehr vergessen konnten, / Daß unser Herr ja selbst ein Jude war« (NW, 703). Den Kern der Konzeption bildet bekanntlich die Ringparabel. Saladin lässt Nathan zu sich kommen, um seine Weisheit auf die Probe zu stellen. Von den »drei / Religionen« Christentum, Islam und Judentum könne »doch eine nur / Die wahre sein«, weshalb er, Nathan, denn beim Judentum bleibe? Nathan ist überrascht: »Ich bin / Auf Geld gefaßt; und er will - Wahrheit« (NW, 662). Nun fällt Nathan eine Geschichte ein, deren Bedeutung er scheinbar herunterspielt: »Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen ab« (NW, 663). Doch ist der Begriff hier nicht negativ gemeint, er bezeichnet das utopische Potential, an das die Figuren glauben wollen, so wie für den Tempelherrn auch die Liebe zur Jüdin Recha ein »Märchen« ist und Jerusalem der Ort, an dem solche Märchen ›glaublich‹ erscheinen (NW, 671), denn es ist, wie Daja feststellt, »das Land / Der Wunder! « Der Tempelherr sieht den Grund in der Vielfalt Jerusalems: »Die ganze Welt / Drängt sich ja hier zusammen« (NW, 677). Mit anderen Worten: Jerusalem ist ein Mikrokosmos, Stadt und Region stehen, so wie das Stück, exemplarisch für die Entwicklung der Welt, mit ihren realen Konflikten und ihrem utopischen Potential. Das »Geschichtchen«, das Nathan Saladin erzählt, beginnt so: »Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann in Osten, / Der einen Ring von unschätzbarem Wert’ / Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein / Opal, der hundert schöne Farben spielte, / Und hatte die Die Ringparabel <?page no="73"?> 60 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang geheime Kraft, vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen, wer / In dieser Zuversicht ihn trug« (NW, 664). Entscheidend ist hier die »Zuversicht«, also der Glaube an die Wirkung des Rings. Über Generationen wird der Ring an den Sohn vererbt, der dem Vater der liebste ist, bis ein Vater an die Reihe kommt, der drei Söhne hat, die er gleich liebt, so dass er jedem von ihnen den Ring verspricht. Vor seinem Tod lässt er den Ring von einem »Künstler« kopieren, dem es gelingt, die Ringe einander so ›vollkommen gleich‹ zu machen, dass »selbst der Vater seinen Musterring / Nicht unterscheiden« kann. Daraufhin kommt es aber zum Streit, wer den ›rechten Ring‹ hat, um Fürst des Hauses zu werden, doch findet man diesen rechten Ring nicht heraus (NW, 665). Nathan erläutert die Analogie zur Religion. Zwar sieht jede der Religionen anders aus, doch ist sie für ihre Gläubigen jeweils die »auf Geschichte«, auf Überlieferungen gegründete richtige Religion, darin unterscheiden sie sich nicht (NW, 666). Doch das »Märchen« (NW, 665) geht noch weiter. Die drei Brüder gehen vor den Richter, der feststellt: »Ich höre ja, der rechte Ring / Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; / Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß / Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden / Doch das nicht können! « Da sich die drei Brüder aber auch darin nicht unterscheiden, stellt der Richter fest: »O so seid ihr alle drei / Betrogene Betrieger! Eure Ringe / Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring / Vermutlich ging verloren. Den Verlust / Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater / Die drei für einen machen« (NW, 667). Jeder soll an die Echtheit seines Rings glauben, denn: »Möglich; daß der Vater nun / Die Tyrannei des Einen Rings nicht länger / In seinem Hause dulden wollen! « Die Lehre daraus lautet: »Wohlan! / Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! « Nathan appelliert an den Herrscher Saladin: »Wenn du dich fühltest, dieser weisere / Versprochne Mann zu sein: …« (NW, 668). Blickt man auf das Verhalten Dajas, über die Recha meint, weil sie Christin sei, müsse sie »aus Liebe quälen« (NW, 725), und auf die Darstellung der katholischen Kirche in der satirisch gezeichneten Figur des Patriarchen, der dem christlich-feudalen Weltbild des Mittelalters anhängt (NW, 685), und stellt man außerdem die kritische Haltung des Klosterbruders diesem wichtigen Vertreter seiner eigenen Kirche gegenüber in Rechnung, dann schneidet die christliche Religion in Lessings Drama am schlechtesten ab. Der <?page no="74"?> 61 g ottholD e PhraIm l eSS Ing : n athan Der W eI Se (17 79) Muslim Saladin wird hingegen zu einem aufgeklärten Herrscher und in seiner Familie vereinigen sich die Religionen, so dass Jerusalem von der Stadt und vom Land der Wunder zu einer Heterotopie (Foucault), zu einer konkreten Utopie wird (Foucault 2006). Doch gibt es eine Figur, die Freiheit in einem den Diskurs über Religionen und staatliche Ordnung sprengenden Sinn verkörpert und die mit dem Stück auch den Diskurs am Ende des zweiten Aufzugs verlässt - Al-Hafi, der Derwisch, der befindet: »Am Ganges nur gibt’s Menschen«, und der in Jerusalem einzig Nathan als »würdig« ansieht, ebenfalls dort zu leben (NW, 648). Nathan aber will ihn nicht begleiten, ohne darüber erst nachgedacht zu haben. Der Derwisch sieht sich zu folgender Rede veranlasst, bevor er verschwindet: Wer überlegt, der sucht Bewegungsgründe, nicht zu dürfen. Wer Sich Knall und Fall, ihm selbst zu leben, nicht Entschließen kann, der lebet andrer Sklav Auf immer. Nathan stellt am Ende des zweiten Aufzugs fest: »Wie nenn ich ihn? - Der wahre Bettler ist / Doch einzig und allein der wahre König! « (NW, 649). Al-Hafi wollte nicht für Saladin Geld borgen und die Einschätzung Nathans zeigt, dass es weder Geld noch Stand sind, über die sich Freiheit definieren lässt. Diese eine Figur hat die Freiheit, das Stück zu verlassen, aber der Leser hat die Freiheit, die Figuren aus der Distanz zu betrachten, weil er um deren Fiktionalität weiß. Darauf deutet nicht nur der häufige Verweis auf »Märchen«, sondern auch die satirisch zu lesende Weigerung des Patriarchen, dem Tempelherrn einen Rat zu geben in der Frage der möglichen Erziehung einer Christin durch einen Juden. Der Patriarch sieht in dem Fall, sofern er rein hypothetisch ist, nur: »Ein Spiel des Witzes: so verlohnt es sich / Der Mühe nicht, im Ernst ihn durchzudenken. / Ich will den Herrn damit auf das Theater / Verwiesen haben, wo dergleichen pro / Et contra sich mit vielem Beifall könnte / Behandeln lassen.« Wäre es aber »ein Faktum, dann müsste der Jude für seine Tat auf den »Scheiterhaufen« (NW, 686). Die Motive spielen keine Rolle: »Tut nichts! der Jude wird verbrannt«. Schließlich ist für den Patriarchen die christliche Religion »das Original« (NW, 687). In dieser Figur zeigt das Stück, wohin Fanatismus führen kann. Der höchste Das Vorbild des aufgeklärten Herrschers Die Freiheit von Figur und Leser <?page no="75"?> 62 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang Vertreter des Christentums ist der Antagonist des Vertreters der Toleranz, den er am liebsten auf dem Scheiterhaufen brennen sehen würde. Friedrich Schiller: Die Räuber (1781) Acht Jahre nach Goethes Götz erschien das zweite besonders bekannte und einflussreiche Drama des Sturm & Drang, Friedrich Schillers (1759-1805) Die Räuber, ebenfalls ausgewiesen als Ein Schauspiel: »Das Stück galt und gilt bis heute als eines der genialsten Erstlingswerke der deutschen Dramenliteratur […]« (Oellers 2005, 126). Wie sowohl die unterdrückte als auch die veröffentlichte Vorrede zeigen, steht wieder Shakespeare, der inspiriert gewesen sei vom »echte[n] Genius des Dramas« (SR, 482), Pate bei dem Versuch, sich von den überlieferten Regeln des Dramenschreibens zu emanzipieren. Schiller sieht dies als notwendig an, um »die Seele gleichsam bei ihren verstohlensten Operationen zu ertappen«. Sei es doch die Leistung der Bühne, »die Leidenschaften und die geheimsten Bewegungen des Herzens in eigenen Äußerungen der Personen« zu schildern (SR, 481). Schiller weiß, dass er mit seinen Figuren gegen die Vorstellungen von Tugend und Moral in Frühaufklärung und Empfindsamkeit verstößt. Er rechtfertigt dies mit der notwendigen »Freiheit« des Dramatikers, wenn dieser »der getreue Kopist der wirklichen Welt« sein wolle. Zur wirklichen Welt gehören eben auch »Bösewichter« (SR, 482), die allerdings als gemischte Charaktere konzipiert sind. Wieder wird, mit der Figur des Gegenspielers in Othello, Shakespeare als Bürge genannt: »Mit einem Wort, man wird sich auch für meine Jagos interessieren, man wird meinen Mordbrenner bewundern, ja fast sogar lieben. Niemand wird ihn verabscheuen, jeder darf ihn bedauren« (SR, 483). Auch auf »Shakespeares Richard« (gemeint ist das Stück Richard III. von 1597) wird 3.7. Schillers erstes Drama bricht Regeln und Tabus Friedrich Schiller, Gemälde von Anton Graff, zwischen 1786 und 1791, Städtische Galerie Dresden Abb. 3.7 <?page no="76"?> 63 f rIeDrIch S chIller : D Ie r äuber (1781) verwiesen mit der Forderung, »ganze Menschen« auf die Bühne zu bringen (SR, 487). Außerdem nimmt Schiller Anleihen bei der (auch für den Verbrecher aus verlorener Ehre wichtigen) Erzählung Zur Geschichte des menschlichen Herzens (1775) von Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-91) und bei der Lebensgeschichte des bekannten Räuberhauptmanns Nikol List (1654-99). Schon die äußere Ordnung sprengt die »allzu enge[n] Palisaden des Aristoteles« (SR, 485). Die fünf Akte haben, von den ersten beiden abgesehen, unterschiedlich viele Szenen, es gibt zahlreiche Ortswechsel und Figuren. Der wichtigste Handlungsort ist in »Franken«, das Schloss der Familie Moor. Schiller aktualisiert, unter Rückgriff auf Schubarts Abhandlung Zur Geschichte des menschlichen Herzens, das Motiv der feindlichen Brüder. Darüber hinaus geht es aber vor allem um die Frage der gesellschaftlichen Ordnung, die zu dieser Zeit noch nicht zu trennen ist von der Frage der göttlichen Ordnung. Franz Moor ist neidisch auf seinen älteren Bruder Karl Moor, der nicht nur der Erstgeborene und damit der Erbe der gräflichen Besitzungen, sondern ausgesprochen gutaussehend und in die schöne Amalia von Edelreich verliebt ist, die Franz selbst gern zur Braut hätte. Dem gebrechlichen Vater Maximilian, der Karl vergöttert und Franz schon immer wenig geschätzt hat, macht Franz zunächst vor, der als Student in Leipzig weilende Karl sei zum Schuldner, Räuber und Mörder geworden, schließlich sogar, dass Karl umgekommen sei. Franz möchte, dass sein Vater durch den Schrecken stirbt und kurze Zeit sieht es so aus, als würde sein Plan aufgehen. Doch Maximilian erwacht im Sarg. Franz sperrt ihn in ein Turmverließ, damit er verhungert und verdurstet, erklärt seinen Vater für tot und sich zum Erben. Weil der intrigante Franz ihm vorgemacht hat, dass sein Vater ihn verstoßen hat, wird Karl tatsächlich zum Räuber und sogar zum Anführer einer Bande, mit der Absicht eines neuen Robin Hood, jenen das Geld zu nehmen, die es nicht verdienen oder im Überfluss haben, und es den Armen zu geben, außerdem, um die zu bestrafen, die außerhalb der Gerichtsbarkeit stehen, weil sie zu einflussreich sind (vgl. SR, 540 f.; 553 f. u. 565, wo von der »Geschichte des Robins« die Rede ist). Die meisten seiner Räuber, vor allem der intrigante Spiegelberg, sind aber vor allem daran interessiert, sich selbst zu bereichern und ihre niederen Instinkte auszuleben. Spiegelberg ähnelt Franz darin, dass Freiheit lediglich die eigene Freiheit bedeutet, Das Motiv der verfeindeten Brüder Freiheit ohne Rücksicht <?page no="77"?> 64 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang zu tun und zu lassen, was er allein möchte: »Ich weiß nicht, was du oder ich für Begriffe von Freiheit haben, daß wir an einem Karrn ziehn wie Stiere, und dabei wunderviel von Independenz deklamieren - Es gefällt mir nicht« (SR, 586). Spiegelberg wird, wie Franz, sein radikales Negieren jeder sozialen Ordnung, gipfelnd in versuchtem Mord an Vater oder Anführer, mit dem Leben bezahlen. Die unterschiedlichen Motive der Räuber werden deutlich, wenn der später von Karl befreite und anschließend im Kampf gegen Vertreter der Ordnung getötete Roller gegen Spiegelberg als Anführer votiert, und zwar mit folgenden Worten: »Auch die Freiheit muß ihren Herrn haben. Ohne Oberhaupt gingen Rom und Sparta zugrunde« (SR, 513). Unter dem Stichwort der »Freiheit« hatte bereits Karl gegenüber Spiegelberg festgestellt, ohne dass Roller dabei war: »Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen« (SR, 504). Spiegelberg sieht sich selbst als »erleuchteter politischer Kopf« (SR, 513), doch Roller hält von Karl mehr: »Ohne den Moor sind wir Leib ohne Seele« (SR, 514). Als Karl verkleidet das Schloss seines Vaters besucht, entdeckt er die Intrige seines Bruders und er findet Amalia, die Franz widerstanden hat und Karl immer noch liebt. Doch es ist zu spät - Karl hat seinen Räubern geschworen, für immer bei ihnen zu bleiben. Als er seinen greisen Vater, den ein mitleidiger Diener am Leben erhalten hat, aus dem Turmverließ befreit, wird er zugleich zur Ursache seines Todes, als er ihm entdeckt, was aus ihm geworden ist. Als Karl eine Abordnung seiner Räuber zu Franz schickt, um ihn holen zu lassen, begeht dieser Selbstmord. Als die Räuber Karl an seinen Schwur erinnern und von ihm verlangen, dass er bei ihnen bleibt, statt mit Amalia fortzugehen, sieht das Paar keinen Ausweg mehr. Amalia bittet die Räuber darum, sie zu töten. Karl, seinen Schwur erfüllend, bringt sie selbst um und liefert sich anschließend der Justiz aus. Allerdings nicht, ohne sich selbst treu zu bleiben. Auf seinen Kopf ist ein Lösegeld ausgesetzt, das soll nun ein armer Mann und Vater vieler Kinder bekommen. Das Drama schließt mit dem zur Redewendung gewordenen Satz: »dem Mann kann geholfen werden« (SR, 618). Das Drama nimmt, wie fast alle bedeutenden Texte, Anleihen bei Werken der Weltliteratur (Oellers 2005, 112 f.). Vor allem ver- <?page no="78"?> 65 f rIeDrIch S chIller : D Ie r äuber (1781) handelt es zentrale Aspekte der Freiheit. Bereits bei dem Vater- Sohn-Konflikt geht es um die Freiheit von Autoritäten. Der Vater steht für die ehemals göttliche Ordnung, er ist in einer Linie zu sehen mit der Kette Gott - Kaiser / König - Landesfürst. Dass die alte, christliche Ordnung erodiert ist, wird in der Schwäche der Figur vorgeführt. Franz möchte ihn beerben, aber dies kann er nur tun, weil er Gott und damit die alte Ordnung leugnet. Auch Karl hat sich vom Vater emanzipiert, zunächst durch sein wildes Leben in der Stadt, dann durch das - freilich der Intrige von Franz geschuldete - Räuberdasein. Hätte Franz nicht intrigiert, wäre Karl als reumütiger Sohn und Erbe nach Hause zurückgekehrt, er hätte Amalia geheiratet und die alte Ordnung erneuert, wenn auch auf zeitgemäße Weise, schließlich ist er den Armen und den Untergebenen zugetan. Wenn wir annehmen, dass Karl nach seiner Verhaftung hingerichtet wird, dann sind zum Schluss alle Familienmitglieder tot. Von der alten Ordnung bleibt im Drama nichts weiter übrig als ein Antagonismus von Bürgern, die auf der Einhaltung ihrer Gesetze notfalls mit Waffengewalt beharren, und Räubern, die außerhalb der bürgerlichen Ordnung stehen, aber eine ebenfalls streng hierarchische Ordnung etablieren, mit dem Unterschied, dass die Führungspersonen nicht nach Genealogie, sondern nach Leistung ausgewählt werden. Franz ist keineswegs nur eine ›böse‹ Figur, wenn man die Gründe für seine Entwicklung in Rechnung stellt. Offenbar hat sein Vater Karl immer »Größe und Schönheit« und »alle diese schöne, glänzende Tugenden« zuerkannt (SR, 495), während der jüngere Bruder der »trockne Alltagsmensch, der kalte, hölzerne Franz« gewesen ist (SR, 496). Außerdem sieht sich Franz ungerecht von der Natur behandelt, die ihm, im Gegensatz zu seinem älteren Bruder, eine »Bürde von Häßlichkeit« aufgeladen habe. Aus dieser doppelten Benachteiligung leitet er die Berechtigung seines Handelns ab: »[…] wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache. Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten […] und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze« (SR, 500). In Franz wird die Frage nach der Individualität und damit nach der Freiheit des Individuums auf besonders radikale Weise gestellt. Wenn Franz die Motive seines Vaters hinterfragt, so hinterfragt er zugleich auch die seines Schöpfergottes. Er beginnt programmatisch mit »Ich« und stellt dieses Ich zugleich in den Mit- Vater-Sohn-Konflikt Franz als moderne Figur <?page no="79"?> 66 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang telpunkt: »Ich möchte doch fragen, warum hat er mich gemacht? doch wohl nicht gar aus Liebe zu mir, der erst ein Ich werden sollte? […] Wo stickt dann nun das Heilige? Etwa im Aktus selber, dem ich entstund? - Als wenn dieser etwas mehr wäre als viehischer Prozeß zur Stillung viehischer Begierden! « (SR, 501 f.). Die Frage der Theodizee klingt an und wird ganz anders beantwortet als gewohnt - weder der Vater noch der Schöpfergott konnten wissen, was sie tun. Gott kann es daher für Franz nicht geben: »[…] der Mensch entstehet aus Morast, und watet eine Weile im Morast, und macht Morast, und gärt wieder zusammen in Morast, bis er zuletzt an den Schuhsohlen seines Urenkels unflätig anklebt. Das ist das Ende vom Lied - der morastige Zirkel der menschlichen Bestimmung […]« (SR, 577). Erst spät wird Franz schwankend in seinem Nicht-Glauben, als Pastor Moser, ohne die tatsächlichen Zusammenhänge zu kennen, ihm verkündet, Vatermord und Brudermord seien die schlimmsten Sünden (SR, 606). Aus Todesangst betet Franz zu Gott und bettelt um sein Leben (SR, 607), schließlich erdrosselt er sich selbst (SR, 608). Sein Selbstmord wird allerdings, im Kontext des Glaubens der Zeit, die einzige Todsünde sein, die er begangen hat. Die Brüche in und Zweifel an seiner Existenz machen Franz zur modernsten Figur des Stücks. Franz erkennt nur die selbst gesteckten Grenzen seiner eigenen Freiheit an und er lehnt alle von außen an ihn herangetragenen moralischen Forderungen ab: »Wir wollen uns ein Gewissen nach der neuesten Façon anmessen lassen, um es hübsch weiter aufzuschnallen, wie wir zulegen« (SR, 501). Das Gewissen kann so gedehnt werden, wie der Körper bei größerer Nahrungsaufnahme zunehmen kann. Auch Karl ist eine moderne Figur, allerdings ist er nicht innerlich gebrochen oder mit Vater und Schöpfer zerfallen. Der Zwiespalt besteht zwischen seinen individuellen Maßstäben und der politischen Ordnung. Berühmt sind die ersten Worte, die Karl im Stück spricht: »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen« (SR, 502). Der Verweis auf den griechischen Schriftsteller verabschiedet die christlichen Werte und Moralvorstellungen. Auch Karl erkennt lediglich die eigenen, individuellen Maßstäbe an: »Außendinge sind nur der Anstrich des Manns - Ich bin mein und Himmel und meine Hölle« (SR, 591). Franz und Karl sind daher nicht nur Antagonisten, sie sind Brüche und Zweifel <?page no="80"?> 67 f rIeDrIch S chIller : D Ie r äuber (1781) auch komplementäre Figuren. Beide begehren als Individuum gegen die sie umgebende Ordnung auf, aus unterschiedlichen, aber sich ergänzenden Gründen. Vater und Gott sind Repräsentanten der Ordnung, gegen die Karl gewaltsam aufbegehrt. Franz’ Protest bleibt im engeren Rahmen der Familie, Karls richtet sich gegen die gesellschaftliche Ordnung (SR, 504). Unter dem falschen Eindruck, er sei von seinem Vater verstoßen, interpretiert Karl den Begriff der Freiheit so weit wie möglich: »Mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem nach Freiheit, - Mörder, Räuber! - mit diesem Wort war das Gesetz unter meine Füße gerollt […]« (SR, 515). Die falsche Annahme, verstoßen worden zu sein, führt zur Gemeinschaft der Räuber und zu dem Schwur der Treue »bis in den Tod! « (SR, 516), der am Ende des Dramas schreckliche Folgen haben wird. Freiheit gegenüber der gesellschaftlichen Ordnung ist nicht ohne den Preis der Unfreiheit innerhalb der Gruppe zu haben, die sich gegen diese Ordnung stellt und die, unter dem Druck des äußeren Zwangs, ihrerseits totalitär wird. »Freiheit! Freiheit! « meint hier für Karl die Befreiung Rollers und damit, ebenso wie für seine Räuber, die den Begriff in ähnlicher Weise verwenden, die Freiheit von äußeren Zwängen (SR, 543 ff.). Der Begriff wird zum Schlachtruf: »Tod oder Freiheit! Wenigstens sollen sie keinen lebendig haben! « (SR, 555). Die Kehrseite der Freiheit ist die Grausamkeit und Ungerechtigkeit der Taten, die aus dieser einseitig verstandenen Freiheit heraus geschehen können, wie etwa der Bericht der Figur mit dem sprechenden Namen Schufterle zeigt. Auch wenn Schufterle, der schildert, wie er ein Kleinkind ins Feuer geworfen hat, von Karl aus dem Kreis der Räuber verbannt wird (SR, 547), so kann er damit doch nicht die negativen Folgen einer lediglich gegen die etablierte Ordnung gerichteten Freiheit bannen. Karls Gewalttaten als moderner Robin Hood sind ambivalent, sie werden weder gerechtfertigt noch verurteilt. Doch wenn Amalia sich mit einem Degen gegen den zudringlichen Franz wehrt, der seine Macht ungerechtfertigt erlangt hat und für seine egoistischen Zwecke missbraucht, dann ist damit auch eine moralische Wertung verbunden: »Ah! wie mir wohl ist - Itzt kann ich frei atmen - ich fühle mich stark wie das funkensprühende Roß, grimmig wie die Tigerin dem siegbrüllenden Räuber ihrer Jungen nach […]« (SR, 558 f.). Amalias Tat ist legitimiert, und das, obwohl sie innerhalb einer männlichen Ordnung als Frau gegen einen Mann aufbegehrt. Aufbegehren gegen die Ordnung Freiheit und Gewalt <?page no="81"?> 68 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang Karl sieht ein, dass er die Grenzen der Freiheit zu weit ausgelegt hat. Den Missbrauch der Freiheit erkennt er als menschliche Hybris, als Selbstüberschätzung: »Warum soll dem Menschen das gelingen, was er von der Ameise hat, wenn ihm das fehlschlägt, was ihn den Göttern gleich macht? « (SR, 560). In diesem Moment des Zweifels taucht Kosinsky auf, eine Figur, die sich spiegelbildlich zu Karl verhält. Ein Fürst und dessen Minister haben ihm erst seine Braut Amalia und dann sein Vermögen genommen (SR, 567 f.). Kosinsky möchte deshalb einer von jenen werden, die »die Freiheit höher schätzen als Ehre und Leben« (SR, 563). Die so verstandene Freiheit heißt aber auch, wie Karl ihm erklärt, »aus dem Kreise der Menschheit« auszutreten (SR, 566). Persönliche und politische Erfahrung - verstanden als »das Joch des Despotismus« (SR, 568) - lassen Karl keine Alternative als weiterzumachen und sie bewegen ihn, in das heimische Schloss zurückzukehren, um nach seiner Amalia zu sehen. Hier ist es der private und, als neuer Graf, zugleich politische Despotismus von Franz, der Karl zur Rache anstachelt und beide Ordnungen, die private und die politische (sichtbar etwa in dem Brand des von den Räubern angezündeten Schlosses), implodieren lassen wird. Das Drama stellt die Frage der Freiheit auf so radikale Weise, dass es die bestehenden Ordnungen buchstäblich auslöscht. Schiller selbst hat Karl mit den Worten verteidigt: »Die gräßlichsten seiner Verbrechen sind weniger die Wirkung bösartiger Leidenschaften als des zerrütteten Systems der guten« (Schiller 1981f 1, 624). Die revolutionäre Kritik an der bestehenden Ordnung lässt sich kaum besser zusammenfassen. Und wenn Amalia gegenüber dem verkleideten Karl feststellt: »Lieber Herr Graf, es reift keine Seligkeit unter dem Monde« (SR, 571), oder auch: »Alles lebt, um traurig wieder zu sterben. Wir interessieren uns nur darum, wir gewinnen nur darum, daß wir wieder mit Schmerz verlieren« (SR, 571), dann weist dies etwa auf Georg Büchners Drama Woyzeck voraus. Die Wirkung des Stücks ist legendär. Die Uraufführung in einer sogar weitgehend entschärften Fassung am 13. Januar 1782 in Mannheim hatte ungeheure Folgen: Ein anonymer Augenzeuge berichtet von der tumultuarischen Reaktion des Publikums: »Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Missbrauch der Freiheit Kritik am Absolutismus Eine ungeheure Wirkung <?page no="82"?> 69 f rIeDrIch S chIller : D er v erbrecher auS verlorener e hre (1786) Zuschauerraume! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme. Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung bricht«. (Alt 2009 1, 282) Berühmt geworden ist auch die nicht minder revolutionäre Abbildung auf dem Cover der zweiten Ausgabe: »Die Titelvignette zeigt einen zum Sprung ansetzenden Löwen und trägt die Inschrift ›in Tirannos‹, doch sind weder Bild noch Inschrift von Schiller veranlaßt« (Schiller 1981f 1, 913). Kein Wunder, dass Schiller »zum französischen Bürger (›Citoyen François‹) durch die französische Nationalversammlung im August 1792« (Oellers 2005, 85) ernannt wurde - eine Ehre, die er, angesichts der Folgen, als zweifelhaft empfand und die ihn mit dazu bewogen haben dürfte, den Begriff der Freiheit neu zu denken und mit Wilhelm Tell den alternativen Entwurf einer Staatsordnung vorzulegen. Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) Diesen Titel mit dem Zusatz »Eine wahre Geschichte« gab Schiller seiner Erzählung in der Druckfassung von 1792, der Erstdruck hat den Titel Verbrecher aus Infamie. Eine wahre Geschichte (Koopmann 1998, 702). Die Änderung macht Sinn, da sie den Akzent verschiebt und so das Anliegen der Erzählung deutlicher macht. In ihr geht es nicht um die Genese des Verbrechens aus der Schande der Hauptfigur, sondern um die Motivierung der Schuld der Figur durch äußere Umstände. Schiller bearbeitet einen Stoff, von dem ihm zunächst sein Lehrer Abel aus erster Hand erzählte. Abels Vater hatte den »Sonnenwirt« verhaftet, der eigentlich Friedrich Schwan hieß und von 1729-60 lebte (Schiller 1981f 5, 1060). Bei allen Analogien zu der ›wahren Geschichte‹ bleibt aber auch hier - wie bei den Geschichtsdramen - festzuhalten, dass es sich um einen literarischen Text handelt und es die Literarisierung ist, die vor allem interessiert, nicht das ihr zugrunde liegende, wie auch immer rekonstruierbare tatsächliche Geschehen. Den Untertitel sollte man also nicht im heutigen Sinn als Dokumentation oder als, mit einem neueren Wort, Dokufiction verstehen. Gemeint ist vor allem, dass die Geschichte in dem Sinn wahr ist, dass sie sich so zugetragen haben könnte oder auch, in der hier als defizitär bewerteten Ordnung der Zeit, jederzeit so zutragen 3.8. Die Motivierung von Schuld <?page no="83"?> 70 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang kann. Der Begriff der Wahrheit wird in einem allgemeinen Sinn verstanden und nicht als Schilderung empirischer Realität. Wie jeder literarische Text ist auch dieser eine Versuchsanordnung, und zwar eine, die außerordentlich folgenreich war. Schiller begründet mit seiner kurzen Erzählung die deutschsprachige Kriminalliteratur. Er weist, und das ist unerhört modern für seine Zeit, auf die sozialen Ursachen von Verbrechen hin. Der Mediziner und Schriftsteller Schiller stellt sich gegen die gängige Praxis der Rechtsprechung. Kriminelle Handlungen begründen demnach keine objektive Schuld mehr, vielmehr richtet sich die Frage der Schuld nach den Gründen, die zu der kriminellen Handlung geführt haben. Auch hierbei spielt die Freiheit eine entscheidende Rolle, gleich in mehrfacher Weise: als Freiheit oder Unfreiheit der Hauptfigur, in einer bestimmten Art und Weise zu handeln; als Freiheit oder Unfreiheit der anderen Figuren, auf die Gründe der Hauptfigur für ihr Handeln Rücksicht zu nehmen; als Freiheit oder Unfreiheit der Vertreter der öffentlichen Ordnung, die Motive der Hauptfigur für ihr Handeln bei der Frage nach ihrer Schuld mit in Rechnung zu stellen; als Freiheit der Leser, sich eine eigene Meinung zu bilden. Auf die zuletzt genannte Freiheit weist der Erzähler ganz am Anfang hin - der Autor müsse bei der Wahl seiner Erzählweise Rücksicht nehmen auf »die republikanische Freiheit des lesenden Publikums, dem es zukommt, selbst zu Gericht zu sitzen« (SV, 14). Die innere Zerrissenheit der Hauptfigur wird bereits durch ihren Namen symbolisiert - Christian Wolf (SV, 15), der christliche Wolf. Hier klingt die berühmte Redewendung ›Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf‹ an, ursprünglich aus der Komödie Asinaria des römischen Dichters Titus Maccius Plautus (255-185 v. Chr.), popularisiert durch Thomas Hobbes in der Widmung seines Werkes Über den Bürger von 1642. Christian Wolf, der »Sohn eines Gastwirts« (SV, 15) ist durch seine Herkunft sozial benachteiligt. Sein Vater ist früh gestorben, seine Mutter vernachlässigt offenbar das Geschäft (»Die Wirtschaft war schlecht«) und »Wolf hatte müßige Stunden«, so dass er sich verleiten lässt, Unfug zu treiben. Dazu kommt: »Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt« (SV, 16). Wegen seiner Hässlichkeit kann er die von ihm umworbene Johanne nur mit solchen Geschenken für sich interessieren, die seine rechtmäßig erworbenen Mittel weit übersteigen. So entschließt er sich, »seiner angebeteten Freiheit zu entsagen« und »zu Die sozialen Ursachen des Verbrechens <?page no="84"?> 71 f rIeDrIch S chIller : D er v erbrecher auS verlorener e hre (1786) stehlen«, »er wird Wilddieb«. Doch wirbt auch Robert, der Jägerbursche des Försters, um Johanne und er sucht, »von Eifersucht und Neide« getrieben, nach dem Grund für den plötzlichen Wohlstand des »Nebenbuhlers« (SV, 16). Christian wird auf frischer Tat ertappt, beim ersten Mal kommt er noch mit einer Geldstrafe davon. Doch machte er weiter, um Johannes Gunst nicht zu verlieren. Beim zweiten Mal wird er mit einem Jahr Zuchthaus bestraft (SV, 17), beim dritten Mal wird er verurteilt, »drei Jahre auf der Festung zu arbeiten« (SV, 18). Wie der Erzähler betont, wird Christian in der Zeit der Festungshaft, beeinflusst durch die mitgefangenen Schwerverbrecher, erst eigentlich zum Verbrecher. Nun wechselt die Fokalisierung, der heterodiegetische Ich-Erzähler tritt hinter die Optik der Figur zurück und Christian wird selbst zum Ich- Erzähler, ein Kunstgriff, um den Leser zu stärkerer Anteilnahme zu bewegen. Christian hat sich unter den Bedingungen der Haft verändert: »Von jetzt an lechzte ich nach dem Tag meiner Freiheit, wie ich nach Rache lechzte. Alle Menschen hatten mich beleidigt, denn alle waren besser und glücklicher als ich. Ich betrachtete mich als den Märtyrer des natürlichen Rechts und als ein Schlachtopfer der Gesetze« (SV, 18). Die von ihm ersehnte Freiheit ist allerdings, wie er nach der Haft feststellen muss, mit dem Verlust der Teilhabe an der Gemeinschaft verbunden. Seinen Besitz hat er verloren, seine Mutter ist gestorben, Johanne ist zu einer Prostituierten geworden und durch Geschlechtskrankheiten schwer gezeichnet: »Ich hatte niemanden und nichts mehr« (SV, 20). Christian Wolf ist ein Ausgestoßener, dessen nun ernsthafte Versuche, sich zu resozialisieren, zurückgewiesen werden. Es sind die äußeren Umstände, die Christian zu der falschen Entscheidung bewegen: »Ich wollte Böses tun, soviel erinnerte ich mich noch dunkel. Ich wollte mein Schicksal verdienen. Die Gesetze, meinte ich, wären Wohltaten für die Welt, also faßte ich den Vorsatz, sie zu verletzen; ehemals hatte ich aus Notwendigkeit und Leichtsinn gesündigt, jetzt tat ichs aus freier Wahl zu meinem Vergnügen« (SV, 21). Aus freier Wahl - und doch zeigt Schiller, wie unfrei diese Wahl ist. Ganz anders als bei Kant, der Freiheit als regulative Idee mit dem selbstbestimmten Handeln beginnen lässt und für den der Wille somit grundsätzlich frei ist, wird bereits in dieser frühen Erzählung auf das verwiesen, was die spätere Philosophie und die Literatur von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart Die Härte des Gesetzes <?page no="85"?> 72 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang zur Grundlage einer post-aufklärerischen Auffassung von Freiheit machen werden. Der Mensch ist abhängig von sozialen Bedingungen wie seiner Herkunft, er ist abhängig von Gefühlen und Sinneswahrnehmungen, die mit Operationen des Verstandes keineswegs konform gehen müssen, und er ist eingebunden in ein Netz aus sozialen Beziehungen. Das Ich kann nicht ohne den anderen, ego kann nicht ohne alter sein, Individuum und Gruppe sind nur gemeinsam zu denken, wenn es darum geht, die Möglichkeiten zu erkennen, für sich selbst und für andere in einem verantwortlichen Sinn frei zu sein. Die Versuchsanordnung bei Schiller sieht vor, dass Christian zufällig beim Wildern auf Robert trifft, seinen ehemaligen Nebenbuhler, der ihn aus Selbstsucht verfolgt und verraten hat: »Rache und Gewissen rangen hartnäckig und zweifelhaft, aber die Rache gewanns, und der Jäger lag tot am Boden« (SV, 22). Kaum hat Christian die Tat begangen, bereut er sie zutiefst, aber nun ist es zu spät. Dennoch reagiert er nicht berechnend, er beraubt den Toten nicht. Erstens will er sich nicht an ihm bereichern, zweitens möchte er »für einen persönlichen Feind des Erschossenen, aber nicht für seinen Räuber gehalten sein« (SV, 23). Noch auf dem höchsten Punkt seiner Untaten versucht Christian sich einen Rest Ehrlichkeit zu bewahren. Auf seiner Flucht trifft er auf eine Räuberbande, deren Anführer er wird. Die zufällige Begegnung mit dem bisherigen Anführer wird inszeniert wie ein Teufelspakt, der unbekannte Mann benimmt sich wie der Versucher: »›Das ist brav, daß ich dich endlich habe, Sonnenwirt. Jahr und Tag schon sinn ich darauf, dich zu kriegen. Ich kenne dich recht gut. Ich weiß um alles. Ich habe lange auf dich gerechnet‹« (SV, 25). Wenig überraschend hausen die Räuber in einem »Abgrund der Hölle« (SV, 27). Nun wechselt die Fokalisierung wieder und der Rahmenerzähler ergreift das Wort: »Ein Unglücklicher, der bis zu dieser Tiefe heruntersank, mußte sich endlich alles erlauben, was die Menschheit empört - aber einen zweiten Mord beging er nicht mehr, wie er selbst auf der Folter bezeugte« (SV, 29). Der Ausgang wird hier vorweggenommen, der Räuber wird gefasst, gefoltert und, so steht anzunehmen, anschließend hingerichtet. Auch dies ist ein Kunstgriff, um den Leser nicht in höchster Spannung auf den Ausgang warten zu lassen, sondern seine Aufmerksamkeit auf die Einzelheiten der weiteren Erzählung zu lenken. Der Räuber ist nun in einem Sinn frei, wie wir es bereits in Schillers ers- Eine soziale Abstiegsgeschichte <?page no="86"?> 73 f rIeDrIch S chIller : D er v erbrecher auS verlorener e hre (1786) tem Drama gesehen haben, und Christian ist zunächst »so glücklich, jeden Anschlag auf seine Freiheit zu vereiteln« (SV, 29). Doch plagen ihn zunehmend Gewissensbisse: »Ein Jahr schon hatte er das traurige Handwerk getrieben, als es anfing, ihm unerträglich zu werden.« Er ist eben doch noch anders als die anderen Mitglieder »dieser verworfenen Bande« (SV, 29). Hier wird deutlich, dass die übrigen Bandenmitglieder als Kontrastfiguren dienen, um die Entscheidung Christians zu motivieren, einen Versuch zu wagen, über tätige Buße und Reue noch einmal in die Gemeinschaft zurückzukehren. Im Siebenjährigen Krieg versucht Christian sich als Soldat zu melden, »um einen Teil des Vergangenen gutzumachen; ich möchte leben, um den Staat zu versöhnen, den ich beleidigt habe« (SV, 30). An seinen Landesherr richtet er den Appell: »Lassen Sie Gnade vor Recht ergehen, mein Fürst. Wenn es in Ihrer fürstlichen Macht steht, das Gesetz für mich zu erbitten, so schenken Sie mir das Leben. Es soll Ihrem Dienste von nun an gewidmet sein« (SV, 31). Doch bekommt Christian auf seine Bittschriften keine Antworten. Schließlich wird er, weil er sich auffällig verhält, in einer kleinen Stadt zunächst verhaftet und soll, da er nicht erkannt wird und nichts gegen ihn ermittelt werden kann, wieder freigelassen werden. Der für die Untersuchung zuständige »Oberamtmann des Orts« war »ein starker Anbeter der Neuigkeit und liebte besonders, bei seiner Bouteille über die Zeitung zu plaudern« (SV, 32), außerdem beginnt er seine Befragung »mit ziemlich brutalem Ton« (SV, 33). In seiner Not vertraut sich Christian ausgerechnet ihm an: »›Ich glaube, daß Sie ein edler Mann sind‹« (SV, 34). Eine folgenreiche Fehleinschätzung, die zeigt, wie groß Christians Not geworden ist und wie gnadenlos die Ordnung ist, die ihm auch dieses Mal, und nun endgültig, keine Möglichkeit zur Rückkehr in die Gemeinschaft geben wird. Die letzten Worte sind auch für die Literaturgeschichte folgenreich, so zitiert sie beispielsweise später Wilhelm Hauff (1802-27) mit dem Schluss der Rahmenerzählung seines Märchenzyklus’ Die Karawane von 1825. Sie lassen sich als Anklage gegen die herrschende Ordnung verstehen: »Ahnden Sie noch nicht - Schreiben Sie es Ihrem Fürsten, wie Sie mich fanden und daß ich selbst aus freier Wahl mein Verräter war - daß ihm Gott einmal gnädig sein werde, wie er jetzt mir es sein wird - bit- Eine gnadenlose Ordnung <?page no="87"?> 74 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang ten Sie für mich, alter Mann, und lassen Sie dann auf Ihren Bericht eine Träne fallen: Ich bin der Sonnenwirt.« (SV, 35) Genau das Gegenteil wird geschehen, weder der »Oberamtmann« noch der Fürst noch Gott werden Gnade walten lassen. Im Namen und Werdegang Christians klingt auch eine Parallele zur Jesusgeschichte an. Anders als Jesus wird Christian zum Mörder, doch wird ihm nicht die Vergebung zuteil, die das Christentum, gerade unter Verweis auf die Gnade des Gottessohns, reuigen Sündern verspricht. Die göttliche und die weltliche Ordnung erschaffen erst das Problem, das sie dann mit extremer Gewalt und Gnadenlosigkeit wieder lösen, um den Fortbestand einer alten Ordnung zu sichern, in der jeder des anderen Wolf ist und niemand wirklich sicher oder frei sein kann. Friedrich Schiller: Don Carlos. Infant von Spanien (1787) Schon der Untertitel »Ein dramatisches Gedicht« zeigt, dass sich Schiller auch mit diesem Drama außerhalb der tradierten Regelpoetik positionieren wollte, zumal es für ein Theaterstück außerordentlich lang ausgefallen ist. Noch deutlicher als in den bishe- 3.9. Titelblatt und Frontispiz (anonymes Porträt) des Erstdruckes von Don Carlos, 1787 Abb. 3.8 <?page no="88"?> 75 f rIeDrIch S chIller : D on c arloS . I nfant von S PanIen (1787) rigen Stücken übt Schiller Kritik am Absolutismus und erschafft so ein »illusionsloses Lehrstück über die Ordnungen der Macht« (Alt 2009 1, 433). Zwar geht es wieder um eine desaströse Familiengeschichte und einen Vater-Sohn-Konflikt, doch steht hier nun tatsächlich ein Landesherr, ein König, im Mittelpunkt, er führt die Liste der Dramatis personae an: Philipp der Zweite, König von Spanien. Schiller, der wenig später, ab 1789, an der Universität Jena als Historiker lehrte, wählt einen historischen Stoff, der ihm zunächst in romanhafter Bearbeitung aus der Feder des Abbé de Saint-Réal (1639-92) zugänglich gemacht wurde (Oellers 2005, 172) und den er in einer geschichtswissenschaftlichen Abhandlung selbst bearbeitete (1788 unter dem Titel Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung). Schiller arbeitete etwa fünf Jahre an dem Stück, bereits 1783 schrieb er in einem Brief: »Carlos hat, wenn ich mich des Maßes bedienen darf, von Shakespeares Hamlet die Seele, Blut und Nerven von Leisewitz’ Julius [›Julius von Tarent‹, ein Lieblingsstück Schillers], und den Puls von mir« (Schiller 1981f 2, 1093). Der Anschluss an Shakespeare wird auch in der Form deutlich, denn Schiller wählt den Blankvers (engl. blank verse), einen fünfhebigen und meist ungereimten (deshalb: blank) Jambus, ein sehr flexibles Versmaß, das mit freien Füllungen versehen werden kann und Enjambements ermöglicht. Philipp II. lebte von 1527 bis 1598, sein Sohn Carlos, der in einer wegen Hochverrats angeordneten Haft starb, von 1545-1568. Don Carlos war zunächst mit der gleichaltrigen Elisabeth von Valois (1545-68) verlobt, ehe Philipp II. sie heiratete. Schiller setzt hier an, er zeigt einen weiterhin in seine Stiefmutter verliebten und darunter leidenden Carlos. Katalysator und Motor der weiteren Handlung wird sein Jugendfreund, der Malteserritter Marquis von Posa, der möchte, dass Carlos politische Verantwortung übernimmt, sich von seinem Vater in die Niederlande schicken lässt und die Aufstände in den flandrischen Provinzen nicht mit Waffengewalt unterdrückt, sondern eine diplomatische und friedliche, den Provinzen größere Freiheiten gewährende Lösung herbeiführt. Philipp findet Gefallen an Posa, der ihm offen entgegentritt und seine Meinung sagt, das ist der König nicht gewohnt. Seine Berater reden ihm entweder nach dem Mund oder sie versuchen ihn zu ihren Zwecken zu instrumentalisieren. Als eine rache- Ein „illusionsloses Lehrstück“ Der historische Stoff und seine Bearbeitung <?page no="89"?> 76 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang geleitete Intrige der Prinzessin von Eboli, die sich in Carlos verliebt hat und von ihm abgewiesen wird, darauf zielt, dem König ein heimliches Liebesverhältnis von Carlos und Elisabeth zu entdecken, glaubt Posa, mit einer Gegenintrige seinen Freund und Flandern zugleich retten zu können. Posa nimmt die angebliche Schuld auf sich und opfert sich für seinen Freund Carlos, doch der möchte dieses Opfer nicht. Der König sieht sich doppelt betrogen, von Posa, dem er vertraut hat, und von seinem Sohn, der Flandern vor ihm retten wollte. Philipp lässt Posa töten, als er diesen noch für einen Verräter hält, und übergibt schließlich, nachdem Carlos ihm alles erzählt hat, um seinen Freund zu rechtfertigen und den König zu beschämen, seinen eigenen Sohn der Inquisition. Philipp wird von Schiller aber nicht als Monster, sondern als Mensch gezeichnet, der mit einer Machtfülle ausgestattet ist, die jedes menschliche Maß übersteigt und keine objektiven und somit gerechten Entscheidungen zulässt. Absolutismus und Freiheit schließen sich gegenseitig aus, selbst der König ist nicht frei, denn er muss, um das System, für das er steht, zu bestätigen, seinen eigenen Sohn zum Opfer bringen. Dass es sich um eine Tragödie handelt, signalisieren bereits die ersten, berühmten Worte des Stücks, gesprochen von Domingo, dem Beichtvater des Königs: »Die schönen Tage in Aranjuez / Sind nun zu Ende« (SD, 9). Carlos ist ein Zögerer wie Hamlet, aus einem anderen und doch ähnlichen Grund. Hamlet ahnt und weiß später auch, dass sein Stiefvater seinen Vater getötet hat, um die Thronfolge anzutreten und seine Mutter heiraten zu können. Carlos weiß, dass sein Vater seine Verlobte geheiratet hat und ahnt, dass Elisabeth ihn immer noch liebt. In beiden Fällen steht der Thronfolger gegen den regierenden Monarchen. In beiden Fällen kann der Stiefsohn oder Sohn nichts tun, wenn er sich nicht selbst in Gefahr bringen möchte. Carlos sieht bereits in der ersten Szene des ersten Aktes die Gefahr - eine Vorausdeutung auf das Kommende: »Zu gut weiß ich, daß ich an diesem Hof / Verraten bin - ich weiß, daß hundert Augen / Gedungen sind, mich zu bewachen, weiß, / Daß König Philipp seinen Sohn / An seiner Knechte schlechtesten verkaufte, / Und jede von mir aufgefangne Silbe / Dem Hinterbringer fürstlicher bezahlt, / Als er noch keine gute Tat bezahlte« (SD, 12). Und zum Schluss der Szene heißt es: »Beweinenswerter Philipp, wie Dein Sohn / Beweinenswert! - Schon seh ich deine Seele / Vom giftgen Schlangenbiß des Argwohns bluten, / Der Vater-Sohn-Konflikt <?page no="90"?> 77 f rIeDrIch S chIller : D on c arloS . I nfant von S PanIen (1787) Dein unglückselger Vorwitz übereilt / Die fürchterlichste der Entdeckungen, / Und rasen wirst du, wenn du sie gemacht« (SD, 13). Posa ist die Gegenfigur zu Philipp, auch wenn er später den Fehler begeht, selbst eine Intrige zu spinnen und sich, um eine alte Schuld Carlos gegenüber zu tilgen (vgl. SD, 17), selbst opfert (SD, 144; 171), obwohl er vielleicht noch in der Lage gewesen wäre, die Niederlande vor dem spanischen Rachefeldzug zu bewahren. Posa stellt sich dem Jugendfreund gegenüber bezeichnenderweise vor als: »Ein Abgeordneter der ganzen Menschheit« (SD, 14), um Carlos zu bewegen, sich an die Spitze der Retter zu stellen und es nicht zuzulassen, dass der König Herzog Alba (»Des Fanatismus rauher Henkersknecht«; SD, 14) entsendet. Allerdings zeigt das Stück den Herzog auch von einer etwas anderen Seite - als treuen, wenngleich dem System blind ergebenen Diener seines Herrn: »Solang ein Herz an diesen Panzer schlägt, / Mag sich Don Philipp ruhig schlafen legen. / Wie Gottes Cherub vor dem Paradies / Steht Herzog Alba vor dem Thron« (SD, 39). Carlos sieht sich aber nicht in der Lage, Posa zu helfen, zu sehr leidet er unter seiner persönlichen Situation: »Du sprichst von Zeiten, die vergangen sind. / Auch mir hat einst von einem Karl geträumt, / Dems feurig durch die Wangen lief, wenn man / von Freiheit sprach - doch der ist lang begraben« (SD, 14). Sein Plan, Spanien zu erneuern, war für ihn untrennbar mit der Vorstellung verbunden, mit Elisabeth eine Familie zu gründen - die Heirat Philipps mit Elisabeth und die Geburt einer Erbin hat für ihn diesen Traum beendet und die fortdauernde Liebe sieht er als inzestuöse, unheilbringende Schuld: »Ich liebe meine Mutter […] Die Ordnung der Natur und Roms Gesetze / Verdammen diese Leidenschaft. Mein Anspruch / Stößt fürchterlich auf meines Vaters Rechte. / Ich fühls, und dennoch lieb ich. Dieser Weg / Führt nur zum Wahnsinn oder Blutgerüste« (SD, 17 f.). Carlos hat etwas von der Schwärmerei Ferdinands aus Kabale und Liebe, wenn er Elisabeth gegenüber feststellt: »Man reiße mich von hier aufs Blutgerüste! / Ein Augenblick, gelebt im Paradiese, / Wird nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt« (SD, 31). Doch als Elisabeth an die Folgen für sie selbst erinnert, sieht Carlos, und darin ist er anders als Ferdinand, den Egoismus seiner Gefühle ein. Die Königin stellt die »Pflicht« als notwendige Einschränkung ihrer individuellen Freiheit heraus, während Carlos auf seine Freiheit pocht: »So viel, / Daß Carlos nicht gesonnen ist, zu müssen, / Wo Die Freunde Carlos und Posa <?page no="91"?> 78 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang er zu wollen hat« (SD, 33). Seinem angekündigten Sturm auf die »Gesetze« begegnet Elisabeth, so die Regieanweisung, »mit Würde und Ernst« (SD, 34). Sie appelliert an ihn, die persönliche Liebe mit der Liebe zu den Menschen, denen er als Königssohn und Thronfolger helfen könnte, zu vertauschen: »Die Liebe ist ihr großes Amt. Bis jetzt / Verirrte sie zur Mutter« (SD, 35). Carlos wird auf sie hören. Doch sind es die dem unfreien System geschuldeten Heimlichkeiten um die Liebe zur Mutter, die den Stein ins Rollen bringen. Der Brief, den Carlos als Einladung seiner Mutter zu einem heimlichen Treffen missversteht, stammt von der Prinzessin von Eboli, die sich von Carlos getäuscht glaubt (SD, 72 ff.) und sich aus »Rache« dem König als Mätresse anbietet (SD, 79), um Carlos’ Liebe zu Elisabeth zu verraten. Posa ist zwar die Symbolfigur der Freiheit, in einer unfreien Zeit und Gesellschaft wäre aber eine Figur unglaubwürdig, die sich nicht auch durch Schwächen und Irrtümer auszeichnete. Elisabeth begrüßt ihn mit den Worten: »[…] ein Freier! / Ein Philosoph! « (SD, 26), die im Sinne Kants zeigen, dass Freiheit und Reflexion untrennbar zusammengehören. Es spricht für Philipp, dass er Posa zunächst als jemand anerkennt, der außerhalb seines Einflusses steht. So kann Posa im Gespräch mit Philipp seine antagonistische Position erklären: »Ich bin - ich muß / Gestehen, Sire - sogleich nicht vorbereitet, / Was ich als Bürger dieser Welt gedacht, / In Worte Ihres Untertans zu kleiden« (SD, 119). Er könne »nicht Fürstendiener sein«: »Ich liebe / Die Menschheit, und in Monarchien darf / Ich niemand lieben als mich selbst« (SD, 120). Dem König hält er den Spiegel vor: »Wie niedrig Sie von Menschenwürde denken, / Selbst in des freien Mannes Sprache nur / Den Kunstgriff eines Schmeichlers sehen« (SD, 122). Der König sei auf Kosten der »Freiheit« und des »Glück[s] von Millionen« ein »Gott«, aber er selbst müsse dafür den Preis bezahlen, als Gott einsam zu sein: »Wer teilt mit Ihnen Harmonie? « Der König ist zutiefst betroffen: »(Bei Gott, / Er greift in meine Seele! )« (SD, 123) Die berühmtesten Worte dieses Dialogs und auch des Stücks richtet Posa als Forderung an den König: »Geben Sie / Gedankenfreiheit.« Posa verweist auf die Natur und damit auf eine natürliche Ordnung, die durch die künstliche des Absolutismus missachtet wird: »Sehen Sie sich um / In seiner herrlichen Natur! Auf Freiheit / Ist sie gegründet - und wie reich ist sie / durch Freiheit! « (SD, 126). Carlos wird aus keinem anderen Grund für das System so „Geben Sie / Gedankenfreiheit“ <?page no="92"?> 79 f rIeDrIch S chIller : D on c arloS . I nfant von S PanIen (1787) gefährlich, dass er sterben muss. Domingo fasst zusammen: »Er denkt! / Sein Kopf entbrennt von einer seltsamen / Chimäre - er verehrt den Menschen.« Und weiter: »Er ist stolz auf seine Freiheit, / Des Zwanges ungewohnt, womit man Zwang / Zu kaufen sich bequemen muß« (SD, 81). Allerdings gibt es eine Differenz zwischen Carlos und Posa, die zutage tritt, als Carlos Elisabeth einen Brief des Königs als Beweis von dessen Untreue vorlegen will. Posa hält ihn auf und zerreißt den Brief (SD, 95). Posa möchte nicht, dass Carlos seinem »Eigennutz« frönt (SD, 96), sondern dass er Verantwortung für andere übernimmt. Carlos soll sich an die Spitze des Aufstandes der Niederlande stellen: »Die gute Sache / wird stark durch einen Königssohn. Er mache / Den span’schen Thron durch seine Waffen zittern. / Was in Madrid der Vater ihm verweigert, / Wird er in Brüssel ihm bewilligen« (SD, 136). Damit wäre Carlos der designierte Nachfolger des Königs und könnte auch die Verhältnisse in Spanien verändern. Zu spät sieht Posa seinen Fehler ein, von Carlos das Unmögliche zu verlangen: »Nein! Das, / Das hab ich nicht vorhergesehen - nicht / Vorhergesehen, daß eines Freundes Großmut / Erfinderischer sein könnte als meine / Weltkluge Sorgfalt. Mein Gebäude stürzt / Zusammen - ich vergaß dein Herz« (SD, 184). Doch ist Posa nicht in der Lage, die Tragweite seines Irrtums zu erkennen, denn er versucht noch, Carlos durch das Beispiel des eigenen Todes zur gewünschten Mission zu verleiten: »Rette dich für Flandern! « (SD, 192). Carlos kann nicht gleich so handeln, wie sein Freund es möchte, er ist zu erschüttert durch den Tod des Freundes und erklärt seinem Vater, welchen selbstlosen Menschen dieser hat ermorden lassen (SD, 195 ff.). Zwar besinnt sich Carlos noch und versucht, darin bestärkt durch Elisabeth, Posas Erbe anzutreten: »Ich eile, mein bedrängtes Volk / Zu retten von Tyrannenhand« (SD, 218). Doch ist es zu spät: Um der drohenden Rebellion zu entgehen (SD, 198), liefert der König seinen eigenen Sohn der Inquisition und damit der Folter und dem sicheren Tod aus. Auch wenn Philipp als Mensch gezeichnet wird, weil er sich durch das Beispiel Posas beeindrucken lässt bis zu dem Punkt, dass er über den (scheinbaren) Betrug des neu gewonnenen Freundes trauert (»Der König hat / Geweint«; SD, 181), so ist er doch durch seine Machtfülle durch und durch korrumpiert. Entsprechend wird seine Rolle von Posa gezeichnet. Ein König werde wie ein Gott verehrt, er habe offiziell »keine Schwächen mehr«, so dass Zwang statt Freiheit Korumpierende Machtfülle <?page no="93"?> 80 b arock , a ufklärung , e mPfInD Sa mkeIt unD S turm & D rang seine »Laster« keine Folgen haben (SD, 42). Carlos klagt über »eine knechtische / Erziehung« (SD, 19) und Philipp muss, weil er nur Untergebene hat, die etwas durch ihn erreichen wollen, Carlos’ Liebesbezeugungen als »Gaukelspiel« wahrnehmen (SD, 46), auch wenn er von den Appellen seines Sohnes durchaus nicht unbeeindruckt ist und ihm mehr vertraut als zuvor, bis die Intrigen einsetzen und er sich, als Marionette seiner Berater, darin bestätigt sieht, dass solches Vertrauen nur auf einen Irrweg führen kann. Der König bestätigt Posas Einschätzung absolutistischer Macht durch sein Verhalten. Er sieht kein Problem darin, das zu tun, was er seiner Frau und Carlos verweigert - er hat eine Affäre mit der Prinzessin von Eboli, eine Verbindung, die von Domingo und Alba gefördert wird, um Philipp zu manipulieren (SD, 82). So wie Posa die abwesende, aber erstrebte Freiheit verkörpert, so verkörpert Philipp die herrschende Ordnung, denn er exekutiert, was das Konzept absolutistischer Herrschaft verlangt: »Der Aufruhr wächst in meinen Niederlanden. / Es ist die höchste Zeit. Ein schauerndes / Exempel soll die Irrenden bekehren« (SD, 40). In einem falschen System ist es richtig, das Falsche zu tun: »Erbarmung hieße Wahnsinn« (SD, 50). Daher ist es konsequent, wenn der König am Schluss, wider besseren Wissens (»Er [Posa] dachte klein von mir und starb. Ich muß / Ihn wiederhaben«; SD, 205), das alte System und auch seine eigene Lebenslüge wieder ins Recht setzt: »Er sei gestorben als ein Tor. Sein Sturz / Erdrücke seinen Freund und sein Jahrhundert! « (SD, 207) Der Großinquisitor bestätigt die Einschätzung des Königs und fordert, er solle seinen einzigen Sohn der »Verwesung lieber als / Der Freiheit« geben (SD, 215). Goethes Götz von Berlichingen ähnlich, setzt das in der Vergangenheit spielende und auf die zeitgenössische Gegenwart anspielende Stück seine Hoffnung auf kommende Zeiten. Carlos sieht die Freundschaft mit Posa als Zeichen dafür, dass soziale Bindungen »Gleichheit« (SD, 44) herstellen und soziale Differenzierungen obsolet werden lassen: »Sind wir / Nicht Brüder? - Dieses Possenspiel des Ranges / Sei künftighin aus unserm Bund verwiesen! / Berede dich, wir beide hätten uns / Auf einem Ball mit Masken eingefunden, / In Sklavenkleider du, und ich aus Laune / In einen Purpur eingemummt« (SD, 41). Und weiter: »Ich fürchte nichts mehr - Arm in Arm mit dir, / So fordr ich mein Jahrhundert in die Schranken« (SD, 44). Doch ist, wie Posa später feststellen muss, die Zeit noch nicht gekommen für - mit den Leitbegriffen der Franzö- Gleichheit als Vorbedingung der Freiheit <?page no="94"?> 81 f rIeDrIch S chIller : D on c arloS . I nfant von S PanIen (1787) sischen Revolution - Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Posa hält fest: »Das Jahrhundert / Ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe / Ein Bürger derer, welche kommen werden« (SD, 121). In diesem Drama Schillers geht es noch stärker als in den früheren um politische Freiheit und um die Frage, welche Grenzen individuelle Freiheit notwendigerweise hat, wenn es auch andere Individuen gibt, die frei sein wollen. Der Absolutismus führt zu prinzipieller Unfreiheit, da er Menschen nicht als gleichberechtigt ansieht. Bereits durch die Höherstellung einer Person, des Fürsten, wird ein System der Ungleichheit etabliert, das unkontrollierbar ist und eine Gefahr für alle bedeutet, getrieben vom Egoismus, ihre Stellung und ihre Macht innerhalb des Systems zu halten und nach Möglichkeit zu verbessern oder der Angst, der Ordnung zum Opfer zu fallen. »Gedankenfreiheit« wäre die Voraussetzung für die Herstellung von Öffentlichkeit und Gerechtigkeit. 20 Jahre später wird Schiller in Wilhelm Tell einen literarischen Entwurf vorlegen, wie eine Ordnung herzustellen wäre, in der die größtmögliche Freiheit aller Individuen sichergestellt werden könnte. Ein System der Unfreiheit <?page no="96"?> 83 f rIeDrIch S chIller : D on c arloS . I nfant von S PanIen (1787) Klassik und Romantik 4.1. Einführung 84 4.2. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) 94 4.3. Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802) 99 4.4. Friedrich Schiller: Wilhelm Tell (1804) 105 4.5. Heinrich von Kleist: Penthesilea (1808) 114 4.6. Johann Wolfgang von Goethe: Faust I und II (1808 / 1833) 121 4.7. E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf (1814) 134 4.8. E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann (1816) 140 4.9. E. T. A. Hoffmann: Der Einsiedler Serapion (1819) 146 Die Autonomie des Individuums und die Autonomieästhetik der Literatur entwickeln sich weiter. Die Weimarer Klassik geht frei mit überlieferten Formsprachen um und prägt sie für die deutschsprachige Literatur neu. Goethe benennt Texte nach Gattungen (»Das Märchen«; »Novelle«) und Schiller prägt mit »Maria Stuart« und »Wilhelm Tell« die Dramenrezeption des 19. Jahrhunderts; beide orientieren sich mit ihrer Lyrik oder mit Dramen wie »Faust« oder »Wallenstein«, »Iphigenie auf Tauris« oder »Die Braut von Messina« an mittelalterlichen und antiken Stoffen und Formen. Der Orientierung an den Vorbildern einerseits und dem freien Umgang mit ihnen andererseits entspricht der Versuch in Handlung und Figurenzeichnung, individuelle und kollektive Freiheit in ein belastbares Verhältnis zu setzen. Die Literatur der Romantik hinge- 4. Inhalt Zusammenfassung <?page no="97"?> 84 k la SS Ik unD r om antIk gen reagiert auf ein Defizit an Transzendenz. Mit Hilfe eines verklärten Mittelalterbildes wird von der Literatur ein früheres Goldenes Zeitalter gestaltet, um auf Möglichkeiten hinzuweisen, wie die alltägliche Wahrnehmung erweitert und so der Mensch erst eigentlich in Freiheit gesetzt werden kann. Einführung Die Französische Revolution sorgte für eine massive politische Erschütterung nicht nur der bisherigen Ordnung. Die mit dem Umsturz verbundenen Hoffnungen erfüllten sich nicht, die Revolution mündete im Chaos, bevor sich mit dem General Napoleon (1769-1821) ein künftiger neuer, allerdings bürgerlicher Kaiser ankündigte. Viele literarische Texte stehen im Zeichen dieser politischen Erschütterungen, die auch die Potentaten in deutschen Ländern zittern lassen. Friedrich Schiller hat einige auch heute noch bekannte Balladen geschrieben, in denen die Risiken und Chancen der Veränderungen im politischen Machtgefüge diskutiert werden, verbunden mit der Frage, welche Rahmenbedingungen es dem Individuum (nicht) ermöglichen, frei zu sein. Aus dem sogenannten Balladenjahr 1797, als Goethe und Schiller im poetischen Wettstreit Balladen produzierten, stammen sowohl Der Taucher als auch sein Gegenstück Der Handschuh. Im Taucher werden die Folgen feudalen Machtmissbrauchs beispielhaft gestaltet, im Handschuh wird die Möglichkeit gezeigt, sich dagegen zu wehren. Die Figur des Tauchers ist ein junger Mann, der einen »goldenen Becher« aus einem brodelnden »Schlund« hervorholt (EM, 282), in den ein König ihn geworfen hat mit der Aufforderung, sich den Becher als Belohnung zu verdienen. Es ist wie ein Wunder, dass der »Jüngling«, der »sich Gott befiehlt« (EM, 283), aus dem gefährlichen Strudel zurückkehrt. Der Erzähler lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Wahnsinnstat handelt: Und wärfst du die Krone selber hinein Und sprächst: wer mir bringt die Kron, Er soll sie tragen und König sein, Mich gelüstete nicht nach dem teuren Lohn. Was die heulende Tiefe da unten verhehle, Das erzählt keine lebende glückliche Seele. (EM, 284) 4.1. Folgen der Französischen Revolution Das Balladenjahr 1797 <?page no="98"?> 85 e Inführung Der Taucher erzählt, was er gesehen hat, in ebenso dramatischen Worten wie originellen Bildern: »Und dräuend wies mir die grimmigen Zähne / Der entsetzliche Hai, des Meeres Hyäne« (EM, 286). Der König führt den Taucher ein zweites Mal in Versuchung, indem er ihm einen Ring verspricht, wenn er weitere Kunde vom Meeresgrund bringt. Als seine Tochter für den Taucher redet, »mit weichem Gefühl / Und mit schmeichelndem Munde«, und »fleht: / ›Lasst, Vater, genug sein das grausame Spiel‹« (EM, 286), wirft dieser den Becher erneut in den Strudel und verspricht dem Taucher sogar, seine Tochter zur Frau zu bekommen. Die Zeichen der Liebe stehen ihr ins Gesicht geschrieben: »Da treibt’s ihn, den köstlichen Preiß zu erwerben, / Und stürzt hinunter auf Leben und Sterben.« Die letzte Strophe bricht die hohe Erwartung der beiden Liebenden durch die lakonische Feststellung, es sei nur noch die Bewegung der »Wasser all« zu sehen: »Den Jüngling bringt keines wieder« (EM, 287). So einfach ist die Sache aber nicht. Die Ballade kündet nicht nur vom Machtmissbrauch durch den König, sie handelt zugleich auch von einem Jüngling, der nicht im Sinne Kants seinen Verstand zu gebrauchen weiß und daher eigentlich selbst an seinem Schicksal schuld ist. Der König ist denkbar grausam, aber der Jüngling hätte eine Wahl gehabt und sich mit dem Becher zufriedengeben, vielleicht hätte er auf anderem Weg die Tochter gewinnen können. Die Unfreiheit ist keine verordnete, sondern eine selbst gewählte. Andererseits wiederum ist fraglich, ob der Jüngling überhaupt dazu imstande war, seine Lage angemessen zu reflektieren. Im Gegenstück, dem Handschuh, wird der Protagonist ganz anders handeln. Ein Ritter, der dem vom König zum Zeitvertreib inszenierten und dirigierten Kampf von Tieren in einer Arena beiwohnt, wird von seiner angebeteten Dame provoziert: »Ein Handschuh von schöner Hand« fällt zwischen »den Tiger und den Leu’n / Mitten hinein« (EM, 281). Die Dame handelt hochmütig: »Und zu Ritter Delorges spottender Weis’ / Wendet sich Fräulein Kunigund: / »Herr Ritter, ist eure Lieb’ so heiß, / Wie ihr mir’s schwört zu jeder Stund, / Ei, so hebt mir den Handschuh auf.« Der mutige Ritter holt zwar den Handschuh unter Einsatz seines Lebens »mit keckem Finger« aus der Arena und er bringt ihn »gelassen […] zurück«, aber nur, um der »mit zärtlichem Liebesblick« ihn ansehenden Kunigunde »den Handschuh Machtmissbrauch und Unfreiheit <?page no="99"?> 86 k la SS Ik unD r om antIk ins Gesicht« zu werfen (zumindest in der ursprünglichen Fassung des Gedichts) und »sie zur selben Stunde« zu verlassen (EM, 282). Die Weimarer Klassik greift oft auf Formensprache und Themen der antiken Literatur zurück, man denke an die zahlreichen Verarbeitungen von Stoffen der griechischen Mythologie, nicht nur in Gedichten wie Schillers Die Götter Griechenlands von 1788 (EM, 272-276), auch in Dramen wie Goethes Iphigenie auf Tauris (1787). Gesucht und gefunden wird eine neue, klassische Ausdrucksweise nach Vorbildern der antiken Klassik. Behandelt werden Themen, Das Goethe-und-Schiller-Denkmal vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar Abb. 4.1 <?page no="100"?> 87 e Inführung die Gefühl und Verstand versuchen, miteinander zu vermitteln, die auf das Hier und Jetzt bezogen und trotzdem zeitlos sind. Eines der bekanntesten, am häufigsten zitierten und immer wieder adaptierten Gedichte Goethes zeigt dies wie kein zweites, es trägt den Titel Ein Gleiches (1801), weil es wie das davor abgedruckte Wandrers Nachtlied (1780) eine Abendstimmung einfängt, die zur Metapher des Lebens und Sterbens wird: Über allen Gipfeln Ist Ruh’, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde Ruhest du auch. (EM, 227) Freiheit entsteht in der Weimarer Klassik im und durch den freien Gebrauch der Form, der die produktive Rezeption früherer Formsprachen einschließt. Ein wichtiger Auslöser für die Beschäftigung mit der Antike waren Studien Johann Joachim Winckelmanns (1717-68), vor allem die Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst (1755). Winckelmann stellt fest: »Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden« (Winckelmann 1995, 3). Die heutigen Künstler sollten also in die Schule der griechischen Antike gehen: »Die Kenner und Nachahmer der griechischen Werke finden in ihren Meisterstücken nicht allein die schönste Natur, sondern noch mehr als Natur […]«, und zwar das durch Kunst hervorgebrachte Ideal (Winckelmann 1995, 5). Hinzu kommt ein republikanischer Gedanke. Die Schönheit der Kunstwerke hat ihren Grund in der Abwesenheit von Zwang und Gewalt: »Die Menschlichkeit der Griechen hatte in ihrer blühenden Freiheit keine blutigen Schauspiele einführen wollen […]« (Winckelmann 1995, 9). Die »Freiheit« des Künstlers liegt in der »Entdeckung der Schönheiten« in Verbindung mit »dem vollkommenen Schönen« (Winckelmann 1995, 14), also in der Veredelung der Natur. Aus einer solchen Perspektive haben die Künstler Gott abgelöst - sie können über das, was die Natur bietet, frei verfügen und ein Ideales schaffen, das außerdem bleibenden Wert besitzt. Die Rezeption der Antike <?page no="101"?> 88 k la SS Ik unD r om antIk Mit einem aus solchen Überlegungen entwickelten Programm wird die Genieästhetik zum Motor der weiteren Entwicklung in Kunst und Literatur bis zum Beginn der literarischen Moderne um 1900, wenn die immer offensichtlicher werdenden Begrenztheiten der Schöpfergaben des Individuums, auch des Schriftstellers, sichtbar werden. Auch der Spätaufklärer Lessing beteiligt sich an der neuen Begeisterung für die Antike. In seiner Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) differenziert er allerdings zwischen der bildenden Kunst und der Literatur, deren sprachliche Gestalt andere Konstruktionsprinzipien erfordert. Die künstlerische Freiheit erlaubt es, alle nur denkbaren Stoffe zu verwenden. Anleihen können auch bei Formen und Stoffen des Mittelalters genommen werden, wie der wohl berühmteste Text der deutschsprachigen Literatur, Goethes Drama Faust I (1808), mit seinem Gebrauch des Knittelverses und seinem Rückgriff auf ein mittelalterliches Volksbuch zeigt. Andere Quellen finden die Autoren, darunter der zu den Weimarer Klassikern gehörende und seinerzeit viel gelesene Christoph Martin Wieland (1733-1813) oder auch Goethe, in nichteuropäischen Literaturen. Eines der bekanntesten Zeugnisse ist Goethes Gedichtsammlung West-östlicher Divan (1819). Die Datierung der Epoche der Klassik ist unterschiedlich, die zeitlich äußeren Pole werden durch Goethes Italienreise von 1786 und seinen Tod 1832 markiert. Allerdings bedeutet bereits Schillers Tod im Jahr 1805 eine Zäsur. Auftakt für die fast parallel anzusetzende Romantik (die keineswegs nur als Gegenbewegung zur Klassik zu sehen ist, es gibt zahlreiche Überschneidungen), die auch gern in Früh-, Hoch- und Spätromantik oder, nach zwei wichtigen Zentren, in Jenaer und Heidelberger Romantik unterteilt wird, ist eine schmale Schrift: Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796), nach einer gemeinsamen Reise durch Franken verfasst von den Freunden Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-98) und Ludwig Tieck (1773-1853). Im Medium der Literatur wird die Anschauung der Kunst des Mittelalters und die Rezeption der Musik als (kunst-) religiöses Ereignis gefeiert. Es geht darum, »das Himmlische im Kunstenthusiasmus« wahrzunehmen und in der Kunst »wie in der übrigen Natur die Spur von dem Finger Gottes anzuerkennen« (Wackenroder / Tieck 1987, 8). Natur und Kunst werden als »zwei wunderbare Sprachen« verstanden, die eine ist Gottes Sprache, die andere eine dem Menschen von Gott verliehene (Wackenro- Die Rezeption des Mittelalters <?page no="102"?> 89 e Inführung der / Tieck 1987, 60): »Die Kunst stellet uns die höchste menschliche Vollendung dar« (Wackenroder / Tieck 1987, 64). Die Romantik ist keine Gegenbewegung zur Aufklärung, aber eine Reaktion darauf. Sie wendet sich nicht wieder der Religion zu, sondern sie wertet das Gefühl auf und konzentriert sich auf das, was außerhalb der alltäglichen Wahrnehmung steht. Der Kritik verfallen jene »kritischen Köpfe, welche an alle außerordentliche Geister, als an übernatürliche Wunderwerke, nicht glauben wollen noch können und die ganze Welt in Prosa auflösen möchten« (Wackenroder / Tieck 1987, 19) - eine bezeichnende Metapher, geht es doch um nichts weniger als um die Poetisierung der Welt. Sinnlich erfahrbar wird die Poesie für Wackenroder und Tieck in der Kunst des Mittelalters, vor allem in den Bildern Raffaels (1483-1520) und Albrecht Dürers (1471-1528). Die bürgerlich geprägte, gesellschaftliche Ordnung wird als defizitär empfunden, ihr wird eine andere, die Realität transzendierende Ordnung zur Seite gestellt. Ein berühmtes Beispiel ist Novalis’ Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren (posthum 1802 gedruckt): Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freie Leben Und in die (freie) Welt wird zurückbegeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit werden gatten, Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die (alten) wahren Weltgeschichten, Dann fliegt vor einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. (EM, 338) Freiheit wird hier anders aufgefasst als noch in der Aufklärung. Das Gedicht schafft einen Gegensatz von Rationalismus (»Zahlen und Figuren«) und Gefühl (»küssen«), Wissenschaft (»die Tiefgelehrten«) und Dichtern. Das Reale erscheint als ›unwahr‹, die echte Wahrheit und Klarheit findet sich in dem, was als (Volks-)Poesie (»Märchen und Gedichten«) und damit als erfunden gilt. Das »verkehrte Wesen« der beobachtbaren Realität sorgt für Unfreiheit, das »freie Leben« findet sich in dem, was diese Realität transzen- Die Romantik reagiert auf die Aufklärung Gefühl und Dichtung <?page no="103"?> 90 k la SS Ik unD r om antIk diert. Literatur steht in einem doppelten Sinn für Freiheit, als Schilderung des ›Wahren‹ und zugleich als Erfahrungsraum des ›Wahren‹ selbst, in seiner historischen Tiefe und Breite (»Weltgeschichten«). Die Erkenntnis dessen, was die Realität nicht ist, macht frei und das Medium dieser Erkenntnis ist die Poesie. Friedrich Schlegel (1772-1829) hält für die Romantik programmatisch fest: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen […]. (Uerlings 2000, 79) Schlegel führt in einem anderen berühmten »Fragment« ein Beispiel an: »Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters« (Uerlings 2000, 80). Die Veröffentlichung von Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre und von Johann Gottlieb Fichtes (1762-1814) philosophischem, mehrfach überarbeitetem Werk Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794 / 95) war also für diesen Theoretiker der Romantik ebenso bahnbrechend wie die Französische Revolution von 1789. Die größte Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung hat für Schlegel aber die Poesie: »Die Poesie ist eine republikanische Rede; eine Rede, die ihr eignes Gesetz und ihr eigner Zweck ist, wo alle Teile freie Bürger sind, und mitbestimmen dürfen.« Die Poesie hat Vorreiterfunktion, ihre Gestaltungsmöglichkeiten verweisen auf die noch zu schaffenden Möglichkeiten des Individuums in der Realität, sein Leben frei zu gestalten. Die Hoffnungen auf eine Ablösung des Feudalismus und der Kleinstaaterei im deutschsprachigen Raum werden, nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (1806), von Klassikern wie von Romantikern und von Autoren wie Heinrich von Kleist (1777-1811), die sich nicht einer dieser beiden Epochen zuordnen lassen, immer deutlicher artikuliert, doch auch nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon (1813-15) werden sie sich nicht erfüllen. Die Zeit der Herrschaft Napoleons, der Besetzung der deutschsprachigen Länder durch Napoleon und der Befreiungskriege bil- „Eine progressive Universalpoesie“ Napoleon und die Befreiungskriege <?page no="104"?> 91 e Inführung det eine Scharnierstelle in der Definition und Bedeutung von Freiheit. Schillers Wilhelm Tell (1804) entwirft ein utopisches Konzept der Vermittlung von individueller und kollektiver Freiheit, allerdings sind frühere Entwürfe, wie im Wallenstein (1800), deutlich skeptischer. Heinrich von Kleists Die Hermannsschlacht (1809) zeichnet sogar einen kühl kalkulierenden Germanenführer und frühen Guerillakämpfer, der sich erfolgreich die Schwächen der Römer zunutze macht, auch um seine eigenen Gefolgsleute und sogar die eigene Frau zu manipulieren. In eher naiven, die Freiheit als Topos verwendenden Texten zeigt sich eine Tendenz zu nationaler Hybris und zur Verherrlichung von Gewalt. Theodor Körners (1791-1813) posthum erschienene Gedichtsammlung Leyer und Schwerdt (1814) zeigt eine emphatische und aus dem Aufbruchsgeist der Zeit heraus erklärbare, allerdings auch hochproblematische Verwendung des Begriffs: Frisch auf, mein Volk! Die Flammenzeichen rauchen, Hell aus dem Norden bricht der Freiheit Licht. Du sollst den Stahl in Feindes Herzen tauchen; Frisch auf, mein Volk! - Die Flammenzeichen rauchen, Die Saat ist reif; ihr Schnitter, zaudert nicht! Das höchste Heil, das letzte, liegt im Schwerte! Drück’ dir den Speer ins treue Herz hinein; Der Freiheit eine Gasse! - Wasch’ die Erde, Dein deutsches Land, mit deinem Blute rein! (Körner 1925, Bd. 1, S. 17 f.) Damals wurde es als folgerichtige und nachahmenswerte Tat gesehen, dass Körner sein Leben geopfert und das ›deutsche Land‹ mit seinem ›Blute rein‹ gewaschen hatte. Soldaten trugen Körners Verse bei sich, um sich Mut zu machen. Heute könnte man eher eine unfreiwillige Ironie darin sehen, dass ausgerechnet der (freilich sehr junge) Dichter dieser Verse im Kampf gegen die französische Besatzung gefallen war. »Der Freiheit eine Gasse« auf diese Weise durch Blut zu schlagen pervertiert die rettende Tat der Teilung des Roten Meeres durch Moses. Friedrich von Hardenberg (1772-1801) nannte sich, nach dem Gut Großenrode und zugleich programmatisch für seine Kunst, Novalis (lat ›Neuland roden‹) und schrieb den wohl berühmtesten Roman der Romantik, der wegen des frühen Todes des Autors Fragment blieb: Heinrich von Ofterdingen (posthum 1802 erschie- Der erstarkende Nationalismus Der berühmteste Roman der Romantik <?page no="105"?> 92 k la SS Ik unD r om antIk nen). Allerdings passt der Fragment-Charakter zur Romantik, die das diesseitige Leben als fragmentarisch und brüchig ansah und damit erstmals ein Lebensgefühl beschrieb, wie es später für die Generationen der Klassischen Moderne prägend werden sollte. Insbesondere die Schwarze Romantik mit ihrer Betonung der ›Nachtseiten‹ - Nachtstücke (1816 / 17) ist der Titel einer berühmten Sammlung von Erzählungen aus der Feder E. T. A. Hoffmanns (1776-1822) - hat ihren Anteil daran. Die Natur kann als bewusstseinserweiternd erfahren werden, sie zeugt von einem ursprünglichen Goldenen Zeitalter, in dem alles miteinander verbunden war. Von dieser früheren Verbundenheit künden etwa jene Lieder, Sagen und Märchen, in denen Steine oder Pflanzen magische Wirkungen entfalten und Tiere sprechen können. Zwar ist die Gegenwart durch eine Spaltung des Menschen von seinen Wurzeln und seiner eigenen Natur gekennzeichnet. Doch die Möglichkeit zur Reflexion darüber, die in der Kunst (in der Musik, der bildenden Kunst und der Literatur) gegeben ist (und in der Reflexion über die Kunst), kann die mythische Vorzeit imaginieren helfen und eine Aussicht auf die Wiederherstellung der Einheit auf einer höheren Stufe eröffnen. Diese abstrakte, naturbezogene, pantheistische Sichtweise wird später allerdings als unbefriedigend empfunden. Dichter wie Clemens Brentano (1778-1842) wenden sich wieder der Religion zu, insbesondere dem Katholizismus, der eine jenseitige Freiheit verspricht, wie sie sich im Diesseits nicht erreichen lässt. Die Romantik bringt zwei Textsammlungen hervor, die für die weitere Literatur- und Kulturgeschichte unverzichtbar sind und die gemeinsame Wurzeln haben: Achim von Arnims (1781-1831) und Clemens Brentanos Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806 / 08) und die Kinder- und Hausmärchen (1812 / 15) der Brüder Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) Grimm, die zunächst auf Bitten von Brentano mit dem Sammeln von Märchen angefangen hatten. Gemeinsam ist beiden Sammlungen, dass sie mündlich und schriftlich überlieferte, als besonders ›volkstümlich‹ geltende Lieder oder Märchen in überarbeiteter, teils nachgedichteter, teils aber auch neu gedichteter Form versammeln. Den freien Umgang mit den Quellen aus Mittelalter und Früher Neuzeit haben die Romantiker mit den Klassikern gemein, allerdings ist es für die Autoren der Romantik Teil ihres nicht nur poetologischen Selbstverständnisses, dass alles mit allem zu tun hat und Die Idee des Goldenen Zeitalters Folgenreiche Sammlungen <?page no="106"?> 93 e Inführung es vor allem um das Finden einer Ausdrucksform geht, die dazu in der Lage ist, das Prosaische des Alltags durch Transzendierung in der Poesie zu überwinden. Während die Klassik die Frage nach der größtmöglichen Freiheit des Individuums in der Gesellschaft in noch radikalerer Weise als die Aufklärung stellt, problematisiert die Romantik die Möglichkeit, als Individuum in der gegebenen Realität überhaupt frei zu sein. Das macht die Romantik einerseits so modern, weil sie die Brüchigkeit der Existenz und die innere Zerrissenheit der Figuren betont. Und es macht sie andererseits so anfällig für den Rückschritt in die katholische Religion, weil diese das traditionsreichste und am besten ausgearbeitete Angebot an Transzendenz zur Verfügung stellt und weil sie, anders als der Protestantismus, durch ihre Opulenz (vom Weihrauch bis zur Verehrung der Mutter Gottes) dem Gefühl und der Sinnlichkeit entgegenkommt. Diese Ambivalenz zeigt E. T. A. Hoffmann mit seinem Roman Die Elixiere des Teufels (1815 / 16), in dem der Mönch Medardus vergeblich versucht, seinen Geschlechtstrieb durch Flucht in ein Kloster zu unterbinden. Die titelgebenden Elixiere symbolisieren die erotische Versuchung, der Medardus immer wieder erliegt und die dazu führt, dass er seinen inneren Zwiespalt durch Erfindung eines Doppelgängers nach außen wendet. Es zeigt sich als Irrtum, durch äußere Unfreiheit innere Freiheit erlangen zu wollen. Hoffmann, der gern zu den Romantikern gezählt wird, ist eigentlich ihr Überwinder. Die Transzendenz seiner Texte ist eine Allegorie der Poesie. Auch die gelungene Existenz in einer märchenhaften Welt wird, wie etwa am Schluss von Der goldne Topf (1814), durch Ironie wieder konterkariert. Der zweite große Überwinder der Romantik ist Heinrich Heine (1797-1856). Die Rezeption von seinem Buch der Lieder (1827) gehört zu den größten Missverständnissen der an Missverständnissen reichen Rezeption von Literatur. Die Texte verwenden volksliedhafte Formen, sind aber durchgängig so kunstvoll selbstreflexiv und vor allem so ironisch gestaltet, dass sie, von einer affektiv-emotionalen Lektüre abgesehen, keine Verheißung eines kommenden Goldenen Zeitalters mehr bieten. Das Goldene Zeitalter ist eine überdimensionale Leerstelle, die aber gern durch rührselige, identifikatorisch lesende Zeitgenossen mit der eigenen Gefühls- und Vorstellungswelt kolonisiert wurde und wohl auch immer noch wird. Autoren wie Hoffmann oder Heine ironisieren solche Leser Ambivalenz der Freiheit Überwinder der Romantik <?page no="107"?> 94 k la SS Ik unD r om antIk bereits, die meist nichts davon merken. Sie müssen es auch nicht, es ist ihr gutes Recht als Leser, auf der Oberfläche zu verharren. »Das ›Wesen‹ der Kunst ist die Selbstprogrammierung der Kunstwerke«, somit sind Kunst und Literatur stets »Artikulation ihrer Selbstreferenz« (Luhmann 1997, 332). Dies nicht wahrzunehmen ist eine Freiheit, die Literatur immer bietet. Borries, Erika und Ernst von: Die Weimarer Klassik, Goethes Spätwerk. München: dtv 1991 (Deutsche Literaturgeschichte 3). Glaser, Horst Albert (Hg.): Zwischen Revolution und Restauration: Klassik, Romantik: 1786-1815. Reinbek: Rowohlt 1987 (Deutsche Literatur: Eine Sozialgeschichte 5). Selbmann, Rolf (Hg.): Deutsche Klassik. Epoche - Autoren - Werke. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2005. Uerlings, Herbert (Hg.): Theorie der Romantik. Mit 10 Abb. Stuttgart: Reclam 2000 (RUB 18 088). Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) Diese umfangreichste und wichtigste theoretische Schrift Schillers (Koopmann 1998, 611) gehört zweifellos in eine Literaturgeschichte. Eigentlich wären auch andere nichtfiktionale Arbeiten Schillers zu behandeln, deren literarhistorische Wirkung kaum überschätzt werden kann, vor allem die wirkungsästhetische Schrift Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), die im weitestmöglichen Sinn theaterpädagogische Überlegung Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich bewirken? , auch unter dem Titel Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet (1784 / 85), die das literaturästhetische Programm perspektivierenden Studien Über Anmut und Würde (1793) und Über naive und sentimentalische Dichtung (1795 / 96), die Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789) und andere mehr. Die ursprünglich an den Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Augustenburg gerichteten Briefe, auf deren komplizierte Entstehungsgeschichte nur hingewiesen werden kann, stellen die für das Thema der Freiheit zentrale Konzeption einer ästhetischen Erziehung des Menschen in den Mittelpunkt, mit ihr soll der Weg hin zu einem ästhetischen Staat bereitet werden. Schiller verarbeitet seine Lektüre der Schriften Kants, dessen Lektürehinweise 4.2. Der Weg zu einem ästhetischen Staat <?page no="108"?> 95 S chIller : ü ber DIe ä SthetI Sche e rzIehung DeS m enSchen Wahlspruch der Aufklärung »sapere aude« wird zitiert (SÜ, 591); ebenso wird auf andere staats- und politiktheoretische Arbeiten zurückgegriffen, so knüpft er mit der Vorstellung vom »Naturstaat« (SÜ, 574) an Vorstellungen aus Thomas Hobbes’ Leviathan an (Alt 2009 2, 133 ff.). Bereits der erste der 27 Briefe stellt den Begriff der Freiheit in den Mittelpunkt, zunächst als »Freiheit des Geistes« (SÜ, 570) und der »freie[n] Denkkraft« (SÜ, 571), somit auch als Freiheit der Meinungsäußerung verstanden. Hier fühlt man sich unwillkürlich an Don Carlos’ Forderung nach Gedankenfreiheit erinnert. Schiller betont allerdings, dass seine Ausführungen wegen der notwendigen Systematik (»Fesseln der Regel«) und der Beschränkung auf die Möglichkeiten der Sprache (»Wortgerippe«) notwendigerweise an Grenzen stoßen (SÜ, 571), ein Gedanke, der auf sprachphilosophische Überlegungen des 20. Jahrhunderts vorausweist (von Hugo von Hofmannsthal oder Ferdinand de Saussure bis Jacques Derrida). Von der Freiheit zu denken leitet Schiller über zu einer engen Verbindung von Freiheit, Kunst und Politik, »[…] denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte frönen und alle Talente huldigen sollen« (SÜ, 572). Der zur Reflexion befähigte Mensch sieht sich in einem von ihm nicht gewählten »Staate«: »Der Zwang der Bedürfnisse warf ihn hinein, eher er in seiner Freiheit diesen Stand wählen konnte; die Not richtete denselben nach bloßen Naturgesetzen ein, ehe er es nach Vernunftgesetzen konnte« (SÜ, 574). Wie kann nun der Mensch aus dem »Naturstaate« herausfinden, gerade wenn man davon ausgehen muss, dass es zu dem »natürlichen Charakter des Menschen« gehört, »selbstsüchtig und gewalttätig, vielmehr auf Zerstörung als auf Erhaltung der Gesellschaft« aus zu sein (SÜ, 575)? Zunächst muss jeder äußere Zwang von ihm genommen werden: »Der Wille des Menschen steht aber vollkommen frei zwischen Pflicht und Neigung, und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und darf keine physische Nötigung greifen« (SÜ, 576). Allerdings soll beim Überschreiten der individuellen Rechte, beim Übergreifen in die kollektive Ordnung durchaus vom »Staat gegen den Bürger« der »strenge[n] Ernst des Freiheit, Kunst und Politik Wille, Pflicht und Neigung <?page no="109"?> 96 k la SS Ik unD r om antIk Gesetzes« angewendet werden (SÜ, 579). Der Staat hat die Aufgabe, zwischen den Individuen zu vermitteln, so dass jeder »individuelle Mensch« die Möglichkeit hat, den »reinen idealistischen Menschen«, den er »in sich« trage, auszubilden (SÜ, 577). Auf diese Weise kann der Staat »der Ausleger seines schönen Instinkts, die deutliche Formel seiner innern Gesetzgebung sein« (SÜ, 578). Hier klingt Kants kategorischer Imperativ an, der besagt, dass das Individuum stets so handeln solle, dass seine Handlung zur Grundlage eines allgemeinen Gesetzes werden könne. Schiller greift nicht nur auf Prinzipien der Aufklärung zurück, er kommentiert auch die Folgen der Französischen Revolution, ebenso in der folgenden Stelle: »[…] der Mensch ist aus seiner langen Indolenz und Selbsttäuschung aufgewacht, und mit nachdrücklicher Stimmenmehrheit fodert er die Wiederherstellung in seine unverlierbaren Rechte. Aber er fodert sie nicht bloß, jenseits und diesseits steht er auf, sich gewaltsam zu nehmen, was ihm nach seiner Meinung mit Unrecht verweigert wird« (SÜ, 579). Und weiter: »Die losgebundene Gesellschaft, anstatt aufwärts in das organische Leben zu eilen, fällt in das Elementarreich zurück« (SÜ, 580). Zur »wahren politischen Freiheit« (SÜ, 572) kann man für Schiller nur kommen, wenn man »die Schönheit der Freiheit vorangehen lasse«. Schiller ist überzeugt, »[…] daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert« (SÜ, 573). Es wundert nicht, dass Schiller dem Künstler die zentrale Rolle im Prozess der ästhetischen Erziehung zubilligt: »[…] er aber strebe, aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen« (SÜ, 594). Das Beispiel der Titelfigur in Schillers Trauerspiel Maria Stuart (1801) wird zeigen, dass es der Bund des Möglichen mit dem Notwendigen ist, der die ›edle Seele‹ (Schiller 1981e, 667) ausmacht. Maria wird ihre Verurteilung zum Tode, auch wenn sie ungerecht ist, als gerechte Strafe für ihre frühere Schuld annehmen und kann so selbstbewusst - sich selbst bewusst - in den Tod gehen. Schiller bemüht sich darum, Begriffspaare zu finden, die das Antagonistische der Zeit zeigen, um eine notwendige Aufhebung solcher Gegensätze in einer Synthese anzudeuten, etwa Person - Zustand, Freiheit - Zeit (SÜ, 601), Realität - Formalität (SÜ, 603), Die Freiheit und die Schönheit <?page no="110"?> 97 S chIller : ü ber DIe ä SthetI Sche e rzIehung DeS m enSchen Sensualität - Rationalität (SÜ, 609) und vor allem die besonders wichtigen Formtrieb - Stofftrieb (SÜ, 605 ff.) als Träger der Bedürfnisse von Gefühl und Verstand (SÜ, 608). Der Stofftrieb zielt auf die kurzfristige Befriedigung von sinnlichen Trieben und vernachlässigt langfristige, darüber hinausgehende Ziele. Der Formtrieb »dringt auf Wahrheit und Recht« (SÜ, 605), geht dabei aber über die für Menschen notwendigen Forderungen des Gefühls hinweg. Daher steht für Schiller fest: »einem jeden dieser beiden Triebe seine Grenzen zu sichern, ist die Aufgabe der Kultur« (SÜ, 608). Und weiter: »[…] den Stofftrieb muß die Persönlichkeit, und den Formtrieb die Empfänglichkeit oder die Natur in seinen gehörigen Schranken halten« (SÜ, 611). Die ästhetische Erziehung zielt darauf, Stoff- und Formtrieb in einem dritten Trieb, dem Spieltrieb (SÜ, 612), nicht nur zu vermitteln, sondern vollständig aufzuheben. Im 15. Brief findet sich der berühmte Satz: »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« (SÜ, 618). Ähnlich aufgehoben werden Leben und Gestalt als »lebende Gestalt«, die mit »Schönheit« gleichzusetzen ist (SÜ, 614): »Der Mensch, wissen wir, ist weder ausschließend Materie, noch ist er ausschließend Geist« (SÜ, 615). Der spielende Mensch ist schön, weil er auf selbstverständliche Weise seine individuellen, körperlichen und geistigen Bedürfnisse zugleich kontrollieren und befriedigen kann. Die Schönheit ist eine regulative Idee, die nicht nur Schiller in seinen Werken gestaltet hat. Er kann, wie andere Autoren vor und nach ihm, an kunsttheoretische Schriften Johann Joachim Winckelmanns und Gotthold Ephraim Lessings anschließen, die vor allem antike Statuen als Beispiele behandeln. In Schillers Konzept hat die Anschauung des Schönen eine erzieherische Funktion: »Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben« (SÜ, 624). Das ist die wirkungsästhetische Seite; es gibt aber auch eine produktionsästhetische. Der Künstler, der die Schönheit erschafft, hat auf diese erzieherische Funktion notwendigerweise nicht nur Rücksicht zu nehmen, sondern sie als Absicht zu verfolgen. Mit folgenden Ausführungen legt Schiller die Grundlage für eine autonom-ästhetische Wertungs- und Kanonisierungspraxis: Der Spieltrieb Die erzieherische Funktion <?page no="111"?> 98 k la SS Ik unD r om antIk In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten. Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt […]. (SÜ, 639) Damit wird auch gesagt, dass es sich bei den eigenen Stücken, die sich historischer Stoffe bedienen, nicht um Geschichtsdramen handelt. Die historischen Figuren sind austauschbar, es geht um die Prinzipien, für die sie stehen, und die Wirkung wird durch die Form erzielt, also durch Sprache und Gestaltung. Schiller verwendet wieder den Begriff des Spiels, denn es geht im künstlerischen Prozess darum, eine »Harmonie des Ganzen« zu erzeugen: »Kunst ist ein Widerspruch, denn der unausbleibliche Effekt des Schönen ist Freiheit von Leidenschaften« (SÜ, 640). Bei allem Idealismus, der Schillers Konzeption immer wieder attestiert wird, ist doch festzuhalten, dass er selbst darum weiß: »Dieses Gleichgewicht bleibt aber immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann« (SÜ, 619). Das anzustrebende Ziel ist das Erreichen eines ästhetischen Zustands (SÜ, 633) des Individuums und eines ›ästhetischen Staats‹ aller Individuen: »Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reichs« (SÜ, 667). Literatur und Kunst haben für Schiller demnach eine allgemeinbildende Funktion. Wenn ein literarischer Text oder ein Kunstwerk gelungen ist, dann kann durch die Rezeption der Prozess einer Vermittlung der antagonistischen geistigen und körperlichen Triebe und letztlich sogar ihre Aufhebung im Spieltrieb erreicht werden. Dieser ästhetische Zustand befähigt die Individuen, wenn sie alle einen solchen Bildungsprozess durchlaufen haben, zur Gründung eines ästhetischen Staats. Literatur und Kunst sind also von sich aus politisch und Politik kann nur erfolgreich sein, wenn sie auf eine ästhetische Erziehung durch Literatur und Kunst setzt. Die Wirkung dieser Ideen kann kaum überschätzt werden. Sie finden sich im Humboldt’schen Bildungsideal, in der Neugründung und Neuordnung von Universitäten und Schulen seit dem Geschichte als Material Literatur und Bildung <?page no="112"?> 99 n ovalI S : h eInrIch von o fterDIngen (1802) beginnenden 19. Jahrhundert und in der Wertungs- und Kanonisierungspraxis ebenso wie in Philosophie, Literaturkritik und Literaturwissenschaft. Wie weit Schillers Ideen auch heute noch als tragfähig angesehen werden, sei dahingestellt in einer Zeit, in der der Kompetenzbegriff den Bildungsbegriff weitgehend abgelöst hat und die Bewertung literarischer Texte oder Kunstwerke immer weniger an ästhetische Kategorien geknüpft ist. Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802) Die üblicherweise konstatierten Gegensätze zwischen Klassik und Romantik lösen sich schnell auf, wenn man die persönlichen und literarischen Beziehungen näher betrachtet. Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte, war auch ein Student Schillers in Jena und gehörte zu jenen, die im Jahr 1791 den schwer erkrankten Weimarer Dichter pflegten. Nach seinem Wechsel an die Universität Leipzig lernte Novalis Friedrich Schlegel kennen, diese Freundschaft war folgenreich, denn sie ließ die beiden zu den »führenden Köpfen der Frühromantik werden« (Uerlings 1998, 21). Auch wenn aus heutiger Sicht die von den Frühromantikern gestaltete Erfahrung der Transzendenz im Mittelpunkt steht, so ist die Anbindung an den politischen Diskurs der Zeit, stimuliert durch die Französische Revolution und ihre Nachwirkungen, doch nicht zu übersehen oder zu überlesen. So schreibt Novalis am 1. August 1794 an Friedrich Schlegel: »Aber immer ein Zirkel - zum Freidenken gehört Freiheit, zur Freiheit Freidenken - zum Zerhauen ist der Knoten - Langsames Nisteln hilft nichts« (Uerlings 1998, 24). Und Herbert Uerlings hat summarisch zu den Texten von Novalis festgestellt: »Es sind Utopien im Sinne von Gegenbildern zu bestehenden Ordnungen, die auf die gesellschaftliche Praxis wirken wollen« (Uerlings 1998, 27). Damit gerät, und das 4.3. Die Erfahrung der Transzendenz Zeitgenössisches Gemälde von Novalis Abb. 4.2 <?page no="113"?> 100 k la SS Ik unD r om antIk lässt die Romantik aus heutiger Sicht so modern erscheinen, erstmals in einem größeren Rahmen die Kontingenz des Daseins in den Blick: »Es geht also um die Bereitschaft und die Fähigkeit, Intensitäten, Sehnsüchte und Erfahrungen zuzulassen, die nicht lebbar, aber für das eigene Überleben unabdingbar sind« (Uerlings 1998, 57). Die Bedeutung von Novalis’ einzigem, Fragment gebliebenem und erst nach seinem frühen Tod veröffentlichtem Roman ist nicht zu überschätzen: »Heinrich von Ofterdingen gilt als der romantische Roman schlechthin« (Uerlings 1998, 175). Es geht ihm um die »Poesie des Lebens«, »Leben und Kunst verweisen aufeinander und fordern sich wechselseitig« (ebd.). Novalis selbst hat den Roman als ›Apotheose der Poesie‹ bezeichnet (Uerlings 1998, 177). Er hat ihn auch als Gegenentwurf oder Weiterentwicklung von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) gesehen (Uerlings 1998, 179). Heinrich antwortet also auf Wilhelm, und da es sich bei Goethes Roman um den ersten deutschsprachigen Bildungsroman handelt, geht es auch bei Novalis um Bildung, nur eben in einem frühromantischen Sinn einer Ausbildung nicht zum Bürger, sondern zum Schriftsteller und Künstler. Darauf verweist bereits der Stoff, den Novalis verarbeitet: Der Titel des Ofterdingen besaß um 1800 Signalwert: Heinrich von Ofterdingen galt unter den Gebildeten nicht als fiktive, sondern als historische Figur und als bedeutender mittelalterlicher Dichter. Als solcher erschien er im Sängerkrieg auf der Wartburg, einem um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen mittelhochdeutschen Gedichtzyklus, der von dem sagenhaften Wettstreit u. a. der Dichter Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Reinmar von Hagenau und Heinrich von Ofterdingen berichtet. Ähnliches galt für Klingsohr, den Zauberer in Wolframs von Eschenbach Parzival (1200-10), der in verschiedenen thüringischen Chroniken im Zusammenhang mit dem Sängerkrieg um 1205 erwähnt wird. (Uerlings 1998, 188 f.) Der Roman inszeniert »ein Streben nach Vereinigung« (Uerlings 1998, 208) nicht nur der Liebenden Heinrich und Mathilde, sondern in einem ganz allgemeinen Sinn der Menschen und der Natur. Die Vorstellungswelt der Frühromantik geht, durchaus auf der naturwissenschaftlichen Wissensbasis der Zeit (Novalis studierte an einer der führenden Bergwerksakademien), von einem früheren Goldenen Zeitalter aus, in dem alles eins gewesen sein Die „Poesie des Lebens“ „Streben nach Vereinigung“ <?page no="114"?> 101 n ovalI S : h eInrIch von o fterDIngen (1802) und von dem die mythische Vorstellungswelt des Mittelalters noch künden soll. Eine Vorstellungswelt, in der Tiere sprechen können und Wunder selbstverständlicher Teil des Lebens sind. Die Gegenwart ist durch Spaltung geprägt. Der Riss wird durch die Fähigkeit des Menschen zur Reflexion verursacht, doch liegt darin auch die Lösung. Das Getrennte und Disparate lässt sich durch die Reflexion wieder zusammenführen - zunächst einmal und paradigmatisch in den Künsten. Sie können Bilder des früheren Goldenen Zeitalters evozieren und das kommende Goldene Zeitalter antizipieren. Die Zusammenführung des Getrennten in der Poesie betrifft nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form, so dass in den Roman verschiedenste Gattungen wie Lieder und Märchen eingearbeitet sind. Zur Theorie der Romantik, die das Fragment als das Unabgeschlossene aufwertet, passt das ungewollt Fragmentarische des Romans. Der erste Teil, »Die Erwartung« (HO, 240), ist fertig ausgearbeitet, der zweite Teil, »Die Erfüllung«, in einzelnen Bausteinen und Notizen vorhanden. Schon der Romananfang gibt die zentralen Motive vor, darunter das bekannteste der Romantik, die blaue Blume: Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenstern sauste der Wind; abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. Und weiter: »Ich glaubte, ich wäre wahnsinnig, wenn ich nicht so klar und hell sähe und dächte […] (HO, 240). Der Traum als Zustand zwischen Schlafen und Wachen symbolisiert den Zustand des Daseins zwischen früherem und künftigem Goldenen Zeitalter. Im Traum geht Heinrich einen Gang in eine Grotte, die durch ein helles Licht erleuchtet ist: »Wie er hineintrat, ward er einen mächtigen Strahl gewahr, der wie aus einem Springquell bis an die Decke des Gewölbes stieg, und oben in unzählige Funken zerstäubte, die sich unten in einem großen Becken sammelten.« Die Wände geben ein »bläuliches Licht« (HO, 241). Und weiter: »Ein Das Vermittelnde der Poesie Das Motiv der Blauen Blume <?page no="115"?> 102 k la SS Ik unD r om antIk unwiderstehliches Verlangen ergriff ihn sich zu baden, er entkleidete sich und stieg in das Becken.« Wer bis hierher die erotischen Konnotationen des Springbrunnens und der Höhle noch nicht wahrgenommen hat, wird nun deutlicher darauf gestoßen: »Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen, die an dem Jünglinge sich augenblicklich verkörperten.« Dem »Entzücken« folgt die »Erleuchtung«: »Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte.« Er betrachtet sie »mit unnennbarer Zärtlichkeit« und ihre »Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel«, schließlich zeigt sich an Stelle der Blüte »ein zartes Gesicht«. Die »Stimme seiner Mutter« weckt ihn aus der erotischen Wunschphantasie, doch tritt der Traum zumindest andeutungsweise ins Leben, da seine Stube »die Morgensonne vergoldete« (HO, 242). Wie der Weg von der Mutter zur Geliebten ist auch der Weg vom Jüngling zum Mann vorgezeichnet und er geht hier mit dem Weg vom Leben zur Poesie, konkret: mit der Ausbildung von Heinrichs dichterischer Begabung einher. Heinrichs Vater, der den Weg auch einmal, aber nicht weiter gegangen ist als bis zur Hochzeit mit seiner Frau (HO, 245 u. 319), begrüßt ihn als »Langschläfer«, meint »Träume sind Schäume« und stellt den Status quo fest: »In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr Statt.« Nur in den »alten Geschichten und Schriften« sei etwas davon bewahrt (HO, 243). Heinrich widerspricht: »Ist nicht jeder, auch der verworrenste Traum, eine sonderliche Erscheinung, die auch ohne noch an göttliche Schickung dabey zu denken, ein bedeutsamer Riß in den geheimnißvollen Vorhang ist, der mit tausend Falten in unser Inneres hereinfällt? « (HO, 244). Nicht zufällig geschieht dies offenbar in der Johannisnacht (HO, 248), also zur Mittsommernacht, ab der die Tage wieder kürzer und die Nächte länger werden. Der Traum ist die Initiation des 20jährigen Heinrich, der »nie über die umliegenden Gegenden seiner Vaterstadt hinausgekommen« ist und jetzt mit seiner Mutter und einigen befreundeten Kaufleuten von Eisenach zu seinem Großvater nach Augsburg reisen soll (HO, 248). In der Gesellschaft der Kaufleute ergibt sich die Gelegenheit zum Gespräch über das Verhältnis von Ökonomie und Poesie, von Leben und Dichtung. Die Kaufleute attestie- Der Traum als Initiation <?page no="116"?> 103 n ovalI S : h eInrIch von o fterDIngen (1802) ren dem jungen Mann eine Begabung: »Auch neigt Ihr Euch zum Wunderbaren, als dem Elemente der Dichter« (HO, 254). Wie in Novellensammlungen findet sich nun im Roman geselliges Erzählen. Die Binnengeschichten spiegeln und vertiefen den Diskurs über Kunst und Leben innerhalb der Fiktion. Die erste Binnenerzählung ist das Atlantis-Märchen (HO, 259 ff.). Ein junger Mann verliebt sich in eine Prinzessin. Die beiden flüchten vor einem Unwetter in eine Höhle und es kommt zur Vereinigung (HO, 268). Der königliche Vater glaubt seine Tochter verloren, bis sie mit ihrem Geliebten und ihrem Kind wieder zum Hof zurückkehrt. Der junge Mann tritt als Sänger auf: »Der Dichter steigt auf rauhen Stufen / Hinan, und wird des Königs Sohn« (HO, 273). Das Märchen kündet vom früheren Goldenen Zeitalter und weist so auf das kommende voraus (HO, 275). Die nächste Station von Heinrichs Reise ist eine Burg. Der Hintergrund der Kreuzzüge wird zunächst mit scheinbar positiver Bewertung in die Handlung eingespeist (HO, 277), doch ändert sich dies sehr bald mit der Figur der geraubten »unglücklichen Zulima« (HO, 282): »Sie beschrieb die romantischen Schönheiten der fruchtbaren Arabischen Gegenden« (HO, 283) und sie kritisiert die Kreuzzügler: »Die meisten waren nichtsnutzige, böse Menschen, die ihre Wallfahrten mit Bubenstücken bezeichneten und dadurch freylich oft gerechter Rache in die Hände fielen. Wie ruhig hätten die Christen das heilige Grab besuchen können, ohne nöthig zu haben, einen fürchterlichen, unnützen Krieg anzufangen […]. Unsere Fürsten ehrten andachtsvoll das Grab eures Heiligen, den auch wir für einen göttlichen Profeten halten; und wie schön hätte sein heiliges Grab die Wiege eines glücklichen Einverständnisses, der Anlaß ewiger wohlthätiger Bündnisse werden können« (HO, 284). Hier zeigt sich das romantische Vereinigungsstreben als eminent politisches. Die Textpassage schließt an den Diskurs über religiöse Toleranz in Lessings Nathan an und weist den Dichtern eine wichtige Rolle darin zu, die »wunderliche Verwirrung in der Welt« (HO, 284) zu beseitigen. Auch der Dichter Klingsohr wird später befinden: »Was ist die Religion, als ein unendliches Einverständniß, eine ewige Vereinigung liebender Herzen? « (HO, 336). Von der Burg geht es in die Höhle, also in das Innere der Erde, zu einem »Schatzgräber« und »Bergmann« (HO, 286). Auch der Bergmann entpuppt sich als Künstler, der den Weg der Erfüllung Geselliges Erzählen Stationen der Reise <?page no="117"?> 104 k la SS Ik unD r om antIk über die Hochzeit mit einer leidenschaftlich geliebten Frau und über seine Arbeit gegangen ist (HO, 291). Der Arbeit im Berg liegt ein demokratisches Prinzip zugrunde: »Die Natur will nicht der ausschließliche Besitz eines Einzigen seyn« (HO, 292). In dem Höhlensystem trifft Heinrich noch auf einen Einsiedler, der »[…] vor sich auf einer steinernen Platte ein großes Buch liegen hatte« (HO, 302). Der Einsiedler war ein »Kriegsmann« (HO, 304) und außerdem »Graf von Hohenzollern« (HO, 306), also nicht zufällig Angehöriger der preußischen Königsfamilie, und er zog sich zurück, als seine Frau, die ihn begleitete, in der Nähe starb und er sie dort begrub (HO, 310). Das Buch wiederum, in dem er liest, ist eine Allegorie der Poesie und des Lebens, es ist »in einer fremden Sprache geschrieben« und erscheint Heinrich doch »ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah, entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unter den Figuren«. Dazu kommen »einige Gestalten seines Traumes«, doch »der Schluß des Buches schien zu fehlen« (HO, 312). Es handelt sich um einen »Roman von den wunderbarsten Schicksalen eines Dichters, worinn die Dichtkunst in ihren mannichfachen Verhältnissen dargestellt und gepriesen wird« (HO, 313). Da der Erzähler kurz darauf feststellt: »Heinrich war von Natur zum Dichter geboren« (HO, 315), besteht kein Zweifel über die Funktion des Buchs im Buch als Beitrag zu Heinrichs dichterischer Ausbildung und als Vorausdeutung auf ihre ›Erfüllung‹. In Augsburg bei Großvater Schwaning angekommen, verliebt sich Heinrich sogleich in Mathilde, die »schöne Tochter« des Dichters Klingsohr (HO, 317 f.). Schon die erste Begegnung ist eine symbolische Vereinigung: »Ob er gern tanze. Eben als er die Frage bejahte, fing eine fröliche Tanzmusik an. Er bot ihr schweigend seine Hand; sie gab ihm die ihrige […]« (HO, 318). Für die nötige Ausbildung sorgen Tochter und Vater, durch Klingsohr lernt Heinrich Disziplin: »Die Poesie will vorzüglich, fuhr Klingsohr fort, als strenge Kunst getrieben werden. Als bloßer Genuß hört sie auf Poesie zu seyn« (HO, 330). Das letzte und neunte Kapitel des ersten Teils führt dies programmatisch-praktisch vor, wenn Klingsohr ein allegorisches Märchen erzählt (HO, 338-364). Wie in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) steht am Schluss von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen also ein Märchen, das - in einer weiteren Steigerung - als Apotheose der Apotheose der Poesie gelesen werden kann. Wieder endet das Märchen mit einer Verei- Dichtung und Liebe Ein allegorisches Märchen <?page no="118"?> 105 f rIeDrIch S chIller : W Ilhelm t ell (1804) nigung von Liebenden unter Begleitung von Liedern, die Schlusszeile verweist auf einen autobiographischen Zusammenhang: »Sophie ist ewig Priesterin der Herzen« (HO, 364). Sophie ist nicht nur der Name der liebenden und geliebten Figur im Binnenmärchen, sondern auch der sehr jung verstorbenen Verlobten des Autors, Sophie von Kühn (1782-97). Die Vereinigung der Liebenden und der Gattungen, von Dichtung und (innerfiktionaler) Realität wird ergänzt durch die Vereinigung des lebenden Dichters mit der toten Geliebten in der Literatur. Auf den fragmentarischen zweiten Teil einzugehen würde hier zu weit führen. Es dürfte deutlich geworden sein, dass der Begriff von Freiheit keineswegs entpolitisiert, sondern um die Dimension der Transzendenz erweitert wird, und zwar einer nicht religiösen Transzendenz. Allerdings zeigt sich auch, wie unkonkret diese Erweiterung ist, da sie zirkulär wieder auf die Literatur selbst zurückführt. Das im Sturm & Drang geborene Programm der Autonomieästhetik kommt hier auf seinen Gipfel und zugleich an seine Grenze. Das Angebot der Freiheit ist das einer Möglichkeit radikaler Individualität unabhängig von äußeren Zwängen um den Preis des Rückzugs in die Fiktionalität. Welche Veränderungen dadurch möglich werden bleibt fragwürdig, E. T. A. Hoffmann wird am Beispiel unterschiedlicher Figurenkonzeptionen die Vor- und Nachteile von der jeweiligen (psychischen) Disposition abhängig machen. Welche Freiheit das Leben in der Poesie bedeuten kann, bleibt folglich jedem selbst überlassen. Friedrich Schiller: Wilhelm Tell (1804) Wilhelm Tell gilt als das meistgespielte Stück auf deutschsprachigen Bühnen im 19. Jahrhundert: »Kein Drama der klassischen Periode erfährt eine so eindrucksvolle Nachwirkung wie der Tell« (Alt 2009 2, 565). Das »Schauspiel« hat auch später noch eine beachtliche Wirkung entwickelt, so war es im Nationalsozialismus erst Schullektüre - die Kinder sollten in Tell eine Parallelfigur zu Hitler als dem angeblichen Befreier Deutschlands sehen. Doch werden die Gräuel des NS-Regimes so offensichtlich, dass das Drama die gegenteilige Wirkung provoziert und Hitler bald mit Geßler identifiziert wird. Daraufhin verbietet man kurzerhand das Stück. Wäre hier genügend Raum, die Rezeption des Tell nachzuzeichnen, dann ließe sich an diesem herausragenden Bei- 4.4. Das meistgespielte Stück und seine folgenreiche Rezeption <?page no="119"?> 106 k la SS Ik unD r om antIk spiel stellvertretend für viele andere zeigen, wie Literatur für politische Zwecke instrumentalisiert worden ist und werden kann. Dass das Stück bestimmte Deutungs- und Aktualisierungsmöglichkeiten eröffnet (etwa die Hitler- Geßler-Interpretation) und andere nur mit der Macht der Propaganda (Hitler als Tell), wäre Teil einer solchen Rezeptionsgeschichte (Neuhaus 2002a, 102 ff.). Die Schweiz, zu deren Gründungsmythos Schillers Tell sehr bald gehört, hat ihre eigenen Probleme mit dem Stück eines Dichters (wie etwa Max Frischs Wilhelm Tell für die Schule von 1971 zeigt), der selbst niemals in der Schweiz war (Koopmann 1998, 487), der sich die eher in den Bereich der Sage als den der Geschichte gehörenden Überlieferungen angelesen und Teile daraus dann so bearbeitet hat, dass man keinesfalls von einem Historiendrama sprechen kann. Wilhelm Tell ist, wie zu zeigen sein wird, ein Stück über individuelle und politische Freiheit. Es ist ein programmatisches Stück, für das die Schweiz nur die Kulisse ist, so wie das historische Spanien für Don Carlos oder das elisabethanische England für Maria Stuart. Gemeint sind stets die sozialen und politischen Verhältnisse der Gegenwart und die Möglichkeiten der Veränderung dieser Verhältnisse in der Zukunft. Die Handlung spielt im Mittelalter, die Ereignisse um die Figur Wilhelm Tell, aus denen Schiller auswählt und die er seinem Konzept entsprechend verändert, sind durch verschiedene Chroniken belegt. Schillers wichtigste Quelle, die »1570 geschriebene Chronik des Ägidius Tschudi«, stellt »ein kräftig fortwirkendes Medium der inneren Verquickung von Sage und patriotischer Geschichtsschreibung« dar (ebd.). Die Ereignisse der Jahre 1304-08 werden von Schiller weitgehend übernommen, aber entsprechend ergänzt und bearbeitet: »Bedeutendere Hinzufügungen sind die Schillers Quellen Wilhelm Tell, gestochen von Johann Leonhard Raab Abb. 4.3 <?page no="120"?> 107 f rIeDrIch S chIller : W Ilhelm t ell (1804) Gestalten des Rudenz und der Berta, der Tod Attinghausens, die Begegnung Tells mit Parricida. Tell selber wird vom 3. Akt an im Gegensatz zu Tschudi zur Hauptfigur«, außerdem weitgehend »zum Einzelgänger« (Koopmann 1998, 1282). Johannes Parricida, Herzog Johann von Schwaben (1290-1313), dient als Kontrastfigur, denn anders als Tell tötet er nicht aus Notwehr. Er ist 1308 an der Ermorderung seines Oheims König Albrecht I. beteiligt und wird deshalb von Heinrich VII. geächtet (Koopmann 1998, 1286). Kern der Handlung ist der Aufstand der Schweizer gegen die Herrschaft der Habsburger, exekutiert durch den Reichsvogt Geßler und seine Truppen. Geßler wird als Tyrann geschildert, der über die Schweizer Kantone Schwyz, Uri und Unterwalden eine Gewaltherrschaft ausübt. Vertreter der Kantone schließen sich zusammen, es kommt zum berühmten Rütli-Schwur, gemeinsam gegen Geßler vorzugehen und die Kantone von dessen Herrschaft zu befreien. Wilhelm Tell ist in die politischen Vorgänge nicht einbezogen, aber er wird in das Geschehen hineingezogen, weil er Bekannten in Not helfen will und nicht bereit ist, sich Geßler unterzuordnen. Tell und seine Familie werden deshalb von dem Tyrannen bedroht, Geßler wird schließlich sogar wortbrüchig und lässt Tell verhaften. Tell kann fliehen und tötet Geßler. Dieser ›Tyrannenmord‹ ist eine der komplexesten und in der Rezeption umstrittensten Szenen der Dramengeschichte. Tell zieht sich anschließend nach Hause zurück und begegnet dem über das Gebirge flüchtenden Parricida, der aber nicht aus Selbstlosigkeit, sondern aus Selbstsucht zum Mörder geworden ist (ST, 1025). In einem gemeinsamen Aufstand schütteln die Kantone die Herrschaft der Habsburger ab. Da Tell bereits das Oberhaupt der Unterdrücker beseitigt hat, fällt ihnen die Befreiung ihrer Ländereien nicht schwer. Abschließend wird ein freier Staat freier Bürger gegründet, wenn Ulrich von Rudenz, der Neffe und Erbe des verstorbenen Bannerherrs der Schweiz, verkündet: »Und frei erklär ich alle meine Knechte« (ST, 1029). Der Anfang des Schauspiels zeigt eine idyllische Szene mit einem singenden Fischerknaben und einem Hirten. Einerseits wird das »Paradies« beschworen und andererseits auf das kommende Geschehen mit Jahreszeitensymbolik vorausgedeutet: »Der Sommer ist hin« (ST, 917). Baumgarten tritt auf, er ist auf der Flucht, denn er hat den Burgvogt des Kaisers getötet, weil dieser seine Frau vergewaltigen wollte; dem Vogt ging ein entspre- Der „Tyrannenmord“ und die Freiheit <?page no="121"?> 108 k la SS Ik unD r om antIk chender Ruf voraus: »Der Wüterich! Der hat nun seinen Lohn! / Hats lang verdient ums Volk von Unterwalden.« Der Hirte Kuoni setzt sich sofort für Baumgarten ein, er will den Fischer bewegen, den Flüchtenden über den Vierwaldstättersee zu bringen: »Greif an mit Gott, dem Nächsten muß man helfen, / Es kann uns allen Gleiches ja begegnen« (ST, 920). Der Fischer weigert sich, weil über dem See ein Sturm aufzieht, symbolisch zu deuten für den beginnenden Sturm der sozialen und politischen Ordnung. Nun taucht »Tell mit der Armbrust« auf. Zunächst appelliert auch er an den Fischer: »Wos Not tut, Fährmann, läßt sich alles wagen« (ST, 921). Und weiter: »Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt, / Vertrau auf Gott und rette den Bedrängten« (ST, 922). Schließlich steigt Tell selbst ins Boot und wird zum furchtlosen Retter des Verfolgten. In der zweiten Szene wird der politische Grundkonflikt entfaltet. Stauffacher und die anderen stehen vor der Entscheidung, ob sie sich, wie Geßler von ihnen verlangt, enger an die Habsburger anschließen oder ob sie auf der bisher gewährten freien Reichsunmittelbarkeit beharren. Pfeiffer aus Unterwalden appelliert an den Vertreter von Schwyz: »Haltet fest am Reich und wacker wie bisher, / Gott schirme Euch bei Eurer alten Freiheit! « (ST, 923) Stauffachers Frau Gertrud weiß, dass das Festhalten an der ›alten Freiheit‹ gar nicht so einfach ist: »Dir grollt der Landvogt, möchte gern dir schaden, / Denn du bist ihm ein Hindernis, daß sich / Der Schwyzer nicht dem neuen Fürstenhaus / Will unterwerfen, sondern treu und fest / Beim Reich beharren« (ST, 925). Gertrud möchte, dass ihr Mann etwas unternimmt: »Willst du erwarten, / Bis er die böse Lust an dir gebüßt? / Der kluge Mann baut vor« (ST, 926). Sie rät ihrem Mann, sich mit Freunden aus den anderen Kantonen zu verständigen und sich gemeinsam gegen die Pläne Geßlers zu stellen. Stauffacher hat Bedenken, die seine Frau aber zerstreuen kann. Es ist bemerkenswert, dass Schiller hier eine starke Frau auf die Bühne bringt, die den Anstoß für die Organisation des Aufstandes gibt. Schnell wird deutlich, dass es höchste Zeit ist, etwas gegen die neue Tyrannei zu tun - Geßler lässt eine Festung bauen, die einen bezeichnenden Namen tragen soll. Der Fronvogt erklärt den Gesellen: »Zwing Uri soll sie heißen, / Denn unter dieses Joch wird man euch beugen« (ST, 929). Tell beobachtet die Arbeit und glaubt dem Steinmetz nicht, dass die Festung »wie für die Ewigkeit« gebaut Tell als Retter <?page no="122"?> 109 f rIeDrIch S chIller : W Ilhelm t ell (1804) sein wird: »Was Hände bauten, können Hände stürzen. / (Nach den Bergen zeigend) / Das Haus der Freiheit hat uns Gott gegründet« (ST, 930). Dennoch ist Tell nicht für schnelles Handeln, wie sein Dialog mit Stauffacher zeigt, von Schiller dynamisch als Stichomythie (Zeilenrede) in Szene gesetzt (ST, 931). Es zeigt sich Schillers Konzeption, das Wirken des Individuums, das unabhängig ist, mit der Gemeinschaft zu verschränken, um zu zeigen, dass beide aufeinander angewiesen sind und nur das gemeinsame Interesse von Individuum und Gemeinschaft auch zu einer freien Gesellschaft führen kann. Tell geht zunächst seinen eigenen Weg: Stauffacher. Wir könnten viel, wenn wir zusammenstünden. Tell. Beim Schiffbruch hilft der einzelne sich leichter. Stauffacher. So kalt verlaßt Ihr die gemeine [gemeinsame] Sache? Tell. Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst. Stauffacher. Verbunden werden auch die Schwachen mächtig. Tell. Der Starke ist am mächtigsten allein. (ST, 932) Doch versichert Tell seinem Freund Stauffacher, dass er zur Stelle sein wird, wenn er gebraucht wird (ST, 932). In der Folge werden auch andere Opfer der Willkürherrschaft Geßlers. Weil Melchtal sich gegen einen Boten wehrt, der ihn und sein Vieh schlecht behandelt, muss er fliehen und sich verstecken. Melchtal hat Angst um seinen Vater: »Der Vogt ist ihm gehässig, weil er stets / Für Recht und Freiheit redlich hat gestritten. / Drum werden sie den alten Mann bedrängen, / Und niemand ist, der ihn vor Unglimpf schütze« (ST, 934). Der Vogt lässt dem Vater zur Strafe die Augen ausstechen (ST, 936). Stauffacher, Melchtal und Walter Fürst sehen die Zeit gekommen, ihre drei Länder im Kampf gegen den Landvogt zu vereinen (ST, 939 u. 941). Das ebenfalls am Schluss des Dramas gelöste Projekt ist die Aufhebung der Standesgrenzen. Der zweite Akt setzt mit einem familiären Autoritätskonflikt ein. Der Freiherr von Attinghausen kann vor seinem Tod noch erleben, dass sein Neffe und Erbe Ulrich von Rudenz, der zunächst von der Pracht der Herrschaft der Habsburger geblendet war (ST, 944 ff.), sich zu brüderlichem Handeln gegenüber den Knechten und Untergebenen und zur Gleichheit unter allen Schweizern bekehren lässt. Rudenz lernt außerdem, dass Berta von Bruneck, die er liebt, gar nicht möchte, dass er sich für sie auf die Seite der Habsburger stellt (ST, 970 ff.). Sie ist eine starke Frau, die sein Handeln entscheidend beeinflusst: »Kämpfe / Der Einzelne und die Gemeinschaft Autoritätskonflikte <?page no="123"?> 110 k la SS Ik unD r om antIk Fürs Vaterland, du kämpfst für deine Liebe! / Es ist ein Feind, vor dem wir alle zittern, / Und eine Freiheit macht uns alle frei! « (ST, 974) Schiller motiviert den Schwur auf dem Rütlifelsen als zukunftsweisendes Projekt, das die Beseitigung einer herrschenden Ordnung als ebenso notwendig wie moralisch gerechtfertigt ausweist. Dazu kommt, dass es sich eigentlich nur um die Restituierung einer alten Ordnung handelt: »Wir stiften keinen neuen Bund, es ist / Ein uralt Bündnis nur von Väter Zeit, / Das wir erneuern! « (ST, 955 f.) Das »Recht« ist also auf der Seite der Aufständischen (ST, 955). »Recht und Gerechtigkeit« (ST, 961) sind zentrale Begriffe im Freiheitsdiskurs des Stücks. Stauffacher stellt fest: »Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, / Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, / Wenn unerträglich wird die Last - greift er / Hinauf getrosten Mutes in den Himmel / Und holt herunter seine ewgen Rechte«, dies sei der »alte Urstand der Natur« (ST, 959). Und weiter: »Sprecht nicht von Rache. Nicht Geschehnes rächen, / Gedrohtem Übel wollen wir begegnen« (ST, 950). Melchtal berichtet entsprechend von Proben der Mäßigung. Er war in der Burg von Sarnen, »verkleidet dort in Pilgertracht«, und »sah den Feind, und ich erschlug ihn nicht«. Doch hat er auf seiner Reise eine wichtige Erfahrung gemacht: »Und überall, wohin mein Fuß mich trug, / Fand ich den gleichen Haß der Tyrannei« (ST, 952). Auf dem Rütli verbrüdern sich sogar »Feinde vor Gericht« (ST, 953), so dass Rösselmann feststellen kann: »Wir stehen hier statt einer Landsgemeinde / Und können gelten für ein ganzes Volk« (ST, 954). Und weiter: »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, / In keiner Not uns trennen und Gefahr« (ST, 964). Mit den ersten beiden Akten sind die Grundlagen gelegt für die weitere Handlung. Der zentrale dritte Akt zeigt Tell, der seiner Frau erzählt, wie er im Gebirge Geßler getroffen hat, ohne ihm etwas anzutun: »Bloß Mensch zu Mensch, und neben uns der Abgrund« (ST, 968). Tell hat ihn nur gegrüßt und ihm sogar »sein Gefolge« nachgeschickt, während der Landvogt Angst vor ihm hatte. Seine Frau ahnt: »Er hat vor Dir gezittert - Wehe dir! / Daß er dich schwach gesehn, vergibt er nie« (ST, 969). Tell will mit seinem Sohn Walter den Großvater in Altdorf besuchen, als er an einem Hut auf einer Stange vorbeikommt, den er grüßen soll. Geßler hat den Hut aufstellen und bewachen lassen, der Gruß ist als Unterwerfung unter die herrschende Ord- „Recht und Gerechtigkeit“ <?page no="124"?> 111 f rIeDrIch S chIller : W Ilhelm t ell (1804) nung gedacht. Weil Tell den Hut ignoriert, soll er verhaftet werden (ST, 977). Tell entschuldigt sich bei Geßler (ST, 979), der aber zwingt ihn, mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen: »Den Apfel treffest auf den ersten Schuß, / Denn fehlst du ihn, so ist dein Kopf verloren« (ST, 980). Tell weigert sich: »Mit meiner Armbrust auf das liebe Haupt / Des eignen Knaben zielen - Eher sterb ich! « Daraufhin wird Geßler noch brutaler: »Du schießest oder stirbst mit deinem Knaben« (ST, 980). Rudenz spricht aus, was die anderen denken, obwohl Geßler ihm des Wort verbietet: »Ich will reden, / Ich darfs, des Königs Ehre ist mir heilig, / Doch solches Regiment muß Haß erwerben. / Das ist des Königs Wille nicht - Ich darfs / Behaupten - Solche Grausamkeit verdient / Mein Volk nicht, dazu habt Ihr keine Vollmacht« (ST, 983). Geßler zeigt sich einmal mehr als Willkürherrscher. Tell hat, um den Streit nicht eskalieren zu lassen, den Apfel mit dem ersten Pfeil getroffen. Geßler fragt ihn, wozu er einen zweiten Pfeil benötigt hat: »Was es auch sei, dein Leben sichr ich dir« (ST, 986). Doch als Tell erklärt, dass der zweite Pfeil, hätte er seinen Sohn verletzt, für Geßler gewesen wäre, lässt dieser ihn verhaften, obwohl er ihm zu Anfang zugesichert hatte, er würde frei ausgehen. Der vierte Aufzug beginnt wie der erste mit einem Sturm über dem Vierwaldstättersee, wieder ist Tell der Retter - diesmal seines eigenen Lebens, denn er kann seinen Bewachern entkommen. Geßler hat ihm versprochen, ihn freizulassen, wenn er das Boot sicher ans Ufer bringt, doch diesmal hat Tell dem Landvogt nicht vertraut, hat zum Schein eingewilligt und ist von Bord gesprungen (ST, 991 ff.). Tell sieht nun ein, dass er Geßler an der Fortführung seiner Willkürherrschaft hindern muss. Die entscheidende dritte Szene des dritten Aufzugs beginnt mit einem Monolog Tells und mit der berühmten Zeile: »Durch diese hohle Gasse muß er kommen« (ST, 1003). Tell reflektiert über das, was er tun muss, und über seine eigenen Motive zu der Tat in einer inneren Zwiesprache mit seinem Gegner: Ich lebte still und harmlos - Das Geschoß War auf des Waldes Tiere nur gerichtet, Meine Gedanken waren rein von Mord - Du hast aus meinem Frieden mich heraus Geschreckt, in gärend Drachengift hast du Der Apfelschuss Tells berühmter Monolog <?page no="125"?> 112 k la SS Ik unD r om antIk Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt, Zum Ungeheuren hast du mich gewöhnt - Wer sich des Kindes Haupt zum Ziele setzte, Der kann auch treffen in das Herz des Feinds. Die armen Kindlein, die unschuldigen, Das treue Weib muß ich vor deiner Wut Beschützen, Landvogt. (ST, 1003 f.) Tell wiederholt seine Motive sogar noch einmal, diesmal von sich selbst in der dritten Person sprechend: »Des Feindes Leben ists, worauf er lauert. / - Und doch an euch nur denkt er, lieben Kinder, / Auch jetzt - Euch zu verteidigen, eure holde Unschuld / Zu schützen vor der Rache des Tyrannen, / Will er zum Morde jetzt den Bogen spannen! « (ST, 1005). Dies darf man nicht wörtlich verstehen, Tell liefert vielmehr die Begründung dafür, von Notwehr zu sprechen. Dass er selbst es Mord nennt, zeigt nur, wie sehr er die Tat, zu der er sich gezwungen sieht, verabscheut. Tell ist eine Figur, die aus Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein keinen anderen Ausweg mehr sieht als das zu tun, was ihr am meisten widerstrebt. So erklärt sich auch der folgende, als Redewendung berühmt gewordene Satz: »Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, / Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt« (ST, 1007). Bevor Tell schießt, lässt er Geßler im Gespräch mit Rudolf der Harras die von ihm exekutierten Pläne des österreichischen Kaiserhauses offenlegen: »Dies kleine Volk ist uns ein Stein im Weg - / So oder so - Es muß sich unterwerfen« (ST, 1009). Schiller lässt außerdem eine Figur mit dem sprechenden Namen Armgard auftreten, die sich Geßler mit ihren Kindern in den Weg stellt, um die Freilassung ihres Mannes zu fordern, mit den bezeichnenden Worten: »Tu deine Pflicht! So du Gerechtigkeit / Vom Himmel hoffest, so erzeig sie uns« (ST, 1009 f.). Geßler wird so wütend, dass er kurz davor ist, nicht nur über die Frau und ihre Kinder hinwegzureiten, sondern auch über einen Hochzeitszug, der ihm unabsichtlich in den Weg tritt: »Den kecken Geist der Freiheit will ich beugen.« Doch dazu kommt es nicht mehr, »Tells Geschoß« durchbohrt sein Herz und Tell verkündet: »Frei sind die Hütten, sicher ist die Unschuld / Vor dir, du wirst dem Lande nicht mehr schaden« (ST, 1011). Stüssi hält Rudolf davon ab, sein Schwert zu ziehen: »Wagt es, Herr! / Euer Walten hat ein Ende. Der Tyrann / Des Die Motivierung der Tat <?page no="126"?> 113 f rIeDrIch S chIller : W Ilhelm t ell (1804) Landes ist gefallen. Wir erdulden / Keine Gewalt mehr. Wir sind freie Menschen. / Alle (tumultuarisch). Das Land ist frei« (ST, 1012). Der fünfte Akt setzt die Befreiungstat fort. Nun sind es die Rütli-Verschworenen, die Zwing Uri schleifen und die Truppen des Landvogts vertreiben, und zwar, was sehr wichtig ist, ohne Rache nehmendes Blutvergießen (ST, 1016 u. 1019). Das Treffen Tells, der seine Armbrust an den sprichwörtlichen Nagel gehängt hat (ST, 1024), mit Parricida gibt Schiller noch einmal die Möglichkeit, die Tat zu rechtfertigen. Tell weist den Wunsch nach »Gastrecht« und »Barmherzigkeit« zurück mit den Worten: »Darfst du der Ehrsucht blutge Schuld vermengen / Mit der gerechten Notwehr eines Vaters? / Hast du der Kinder liebes Haupt verteidigt? / […] Nichts teil ich mit dir - Gemordet / Hast du, ich hab mein Teuerstes verteidigt« (ST, 1025). Dennoch gibt Tell dem Unglücklichen Speis und Trank mit auf den Weg. Tell ist, in den Begriffen Schillers, von einem naiven zu einem sentimentalischen Charakter geworden, man könnte auch sagen: von einem aufklärerischen zu einem modernen. Tell, der Jäger, verzichtet künftig auf die Jagd selbst von Tieren, er kann, nachdem er einen Menschen töten musste, nicht mehr schießen. Anders als die Helden im antiken Drama, die unwissend und alternativlos schuldlos schuldig wurden, wird Tell wissend schuldlos schuldig. Über die Brüche in der Figur, auch in anderen Figuren, kann und will das allgemein gute Ende gar nicht hinwegtäuschen. In der letzten, extrem kurzen Szene des letzten Aufzugs zeigt ein Tableau »den ganzen Talgrund vor Tells Wohnung, nebst den Anhöhen, welche ihn einschließen, mit Landleuten besetzt, welche sich zu einem Ganzen gruppieren.« Hier ist nun, wie es die zugereiste Berta festhält, »der Freiheit Land« und mit dem Satz von Rudenz: »Und frei erklär ich alle meine Knechte«, ist auch der ästhetische Staat im Sinne Schillers errichtet, denn alle sind individuell frei und respektieren, weil sie einen Lernprozess durchlaufen und sich die neue Freiheit durch verantwortliches Handeln verdient haben, die Freiheit der anderen. Dies gilt auch für vormals Fremde wie für Frauen - schließlich fragt Berta: »Wollt ihr als eure Bürgerin mich schützen? « (ST, 1029) Freiheit ist hier das Ergebnis individuellen und gemeinschaftlichen Handelns. Die dafür notwendigen Werte wie Sicherheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind Ergebnis eines Prozesses, der dem Einzelnen und der Gemeinschaft viel abverlangt. Es gilt, Der utopische Schluss <?page no="127"?> 114 k la SS Ik unD r om antIk verantwortlich zu handeln und das lässt sich nur tun, wenn die eigenen Bedürfnisse im Zweifelsfall zurückstehen, wenn anderen damit Schaden zugefügt würde. Heinrich von Kleist: Penthesilea (1808) Heinrich von Kleist (1777-1811) gehört zu den unzeitgemäß modernen Autoren, die sich in keine Epoche oder Strömung einordnen lassen. Vielleicht ist Kleist sogar der unzeitgemäße Autor der Literaturgeschichte, wie Schillers Figur Marquis Posa hätte er das Recht zu sagen: »Das Jahrhundert / Ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe / Ein Bürger derer, welche kommen werden« (SD, 121). Oder, sachlich formuliert: »Heinrich von Kleist ist der Dichter der Wende vom Weltbild der deutschen Klassik zur Gegenwart. Er ist kein Pathetiker und kein Idealist« (Hohoff 1995, 7). Dazu gehört auch, dass Kleist, der »immer das Höchste« wollte (ebd.), »zu Lebzeiten fast ganz erfolglos geblieben« ist (Müller-Salget 2001, 7). Penthesilea beispielsweise wurde erst 1876 uraufgeführt (Breuer 2013, 50). Kleist fällt durch alle Raster. Die Romantik des Käthchens von Heilbronn (1810) hat nichts mit der gerade vorherrschenden Romantik zu tun, denn die Motivierung der Handlung erscheint, wie stets bei Kleist, irritierend. Amphitryon (1807) und Penthesilea behandeln antike Stoffe, doch ist ihre Handlung so verstörend, dass sie keinen idealistischen oder klassisch-realistischen Kern erkennen lassen. Was ist von der Erzählung Die Marquise von O. (1810) zu halten, in der die Hauptfigur erkennen muss, dass sie durch ihren Beschützer vergewaltigt wurde? Oder von der Erzählung Das Erdbeben in Chili (1810), in der nach einem Erdbeben die Hauptfiguren gerettet scheinen, bis das unverheiratete und deshalb der Unmoral bezichtigte Paar und nicht ihr Baby, sondern irrtümlich ein anderes nach einem Dankgottesdienst grausam ermordet 4.5. Irritierend und unzeitgemäß Heinrich von Kleist, Reproduktion einer Illustration von Peter Friedel, die der Dichter 1801 für seine Verlobte Wilhelmine von Zenge anfertigen ließ Abb. 4.4 <?page no="128"?> 115 h eInrIch von k leI St : P entheS Ile a (1808) werden? Und was von der Erzählung Michael Kohlhaas (1808), der im Recht ist und sich durch Fanatismus dann selbst ins Unrecht setzt? Das Stück Die Hermannsschlacht (1808 entstanden und posthum 1821 erschienen) zeichnet einen modernen Partisanenkrieg, der von der Wirklichkeit der Kriege von und gegen Napoleon weit entfernt, aber denen der jüngeren Zeit umso näher ist. Kleist hat auch poetologische Texte vorgelegt, die ausgesprochen erhellend literarische Strategien zeichnen und trotzdem immer wieder neue Deutungen provozieren, etwa Über das Marionettentheater (1810). Kleists Texte sind voller Brüche und Leerstellen, ihre programmatische Kontingenz weist bereits auf Kafkas Texte voraus. Dennoch handeln die Figuren nach - nicht logisch erklärbaren - Vorstellungen und die meisten scheitern dabei, ohne dass dieses Scheitern einem System der inneren poetischen Gerechtigkeit der Texte folgen würde. Penthesilea ist bereits in seiner Anlage unzeitgemäß modern: Das Stück läuft ohne Akte in 24 Szenen über das Schlachtfeld bei Troja. Unter Führung ihrer Königin Penthesilea rückt das Heer der Amazonen aus Kleinasien an. Die Trojaner hoffen durch sie entsetzt zu werden und erleben die erste Enttäuschung, als sich die Weiber auf das ihnen zur Begrüßung entgegengesandte Corps stürzen. Die Griechen, mit der Verblendung großartig dümmlicher Heroen, halten ihrerseits die Amazonen für Verbündete, werden aber mit gleicher Wildheit abgewiesen. (Hohoff 1995, 80) Kleist variiert einen der grundlegenden Stoffe der Weltgeschichte: »Die Namen der im Drama auftretenden Griechen sind allesamt schon in Homers Ilias zu finden« (Breuer 2013, 53). Kleist hatte sich vermutlich in einem zeitgenössischen Lexikon der Mythologie und in einer historischen Abhandlung das Hintergrundwissen für das Stück angeeignet: Der gängigen Überlieferung zufolge handelte es sich bei den Amazonen um skythische Frauenvölker, die Männer erst zur Begattung benutzten, nur die weiblichen Kinder aufzogen und diesen die rechte Brust wegbrannten, damit sie ungehindert den Bogen spannen konnten. Die Königin Penthesilea soll mit ihrer Schar den Trojanern im Kampf gegen die Griechen zu Hilfe gekommen und von Achill getötet worden sein, vom Blick der Sterbenden getroffen, habe Achill sich in sie verliebt […]. Einer anderen Überlieferung zufolge hat Penthesi- Brüche und Leerstellen Kleists Quellen <?page no="129"?> 116 k la SS Ik unD r om antIk lea zunächst den Achill erschlagen, der dann von seiner Mutter Thetis wiedererweckt wurde und dann erst die Amazone tötete. (Müller- Salget 2011, 219 f.) Müller-Salget nennt als einen zentralen Aspekt, der das Stück so modern macht: »Das Prinzip des Männlichen und das Prinzip des Weiblichen im Sinne von Eroberung bzw. Hingabe werden von der Gestalt der Penthesilea her, dann auch mit der (partiellen) Wandlung des Achill in Frage gestellt« (Müller-Salget 2011, 222). Und er bilanziert: »Die verzwickten Gesetze und Regeln des Amazonenstaates stehen stellvertretend für alle gesellschaftlichen Regelungen, die eine ›natürliche‹ Entfaltung des Individuums be- oder gar verhindern« (Müller-Salget 2011, 238). Im Zentrum des Stücks steht also einmal mehr das Verhandeln von individueller Freiheit und gesellschaftlichen Normen, aber auf ebenso neue wie verunsichernde Weise. Das »Trauerspiel« Penthesilea beginnt mit einer Exposition, die auf das weitere Geschehen vorausdeutet. Könige und Heerführer der Griechen unterhalten sich über den Angriff der Amazonen, die erst als Verbündete der Trojaner gesehen wurden, sich aber gegen diese richteten, als sie ihnen zur Begrüßung entgegen kamen (PE, 323). Doch auch die Griechen wurden von ihnen angegriffen. Odysseus glaubt über die »Amazonenfürstin«: »Sie muß zu einer der Partein sich schlagen«, und Antilochus pflichtet ihm bei: »Nichts anders gibts« (PE, 324). Damit klingt bereits das für das Stück zentrale Thema eines ›Dritten‹ an: »So viel ich weiß, gibt es in der Natur / Kraft bloß und ihren Widerstand, nichts Drittes.« Die gerade gemachte Erfahrung ist für die Könige hochgradig irritierend: »Doch hier / Zeigt ein ergrimmter Feind von beiden sich« (PE, 326). Für sie wird die Schlacht deshalb zu einem »sinnentblößten Kampf« (PE, 328). Es ist das unbestimmte Dazwischen, mit anderen Worten: die Erfahrung von Kontingenz, die den Kriegern, die nur Freund oder Feind kennen, gänzlich unbekannt ist. Das Dritte ist aber nicht, wie sich zeigen wird, identisch mit den Amazonen, die einen klaren Plan verfolgen. Sie sind äußerlich Mischwesen, weil sie als Kriegerinnen wie Männer auftreten, auch in ihrer androgynen, der Brust beraubten Gestalt. Die unvertraute Erfahrung, die Penthesilea macht, also die Erfahrung der nach den Regeln ihrer Gesellschaft nicht vorgesehenen Emotion der individuellen Liebe, wird den Raum der Kontingenz Die Erfahrung von Kontingenz <?page no="130"?> 117 h eInrIch von k leI St : P entheS Ile a (1808) eröffnen, in dem schließlich, weil Achilles zu einem konventionalisierten Verhalten von Liebe zurückkehrt, die sozial akzeptierte Gewalt an die Stelle der unvertrauten Liebe treten muss. So nähert sich Achilles Penthesilea zwar ohne Waffen, um sich ihr zu ergeben. Aber er wird dabei, um sich ihr nähern zu können, von Kriegern begleitet, die ohne zu zögern und auch auf seinen Befehl hin (»Triff sie! «; PE, 371) Amazonen, die Penthesilea beschützen wollen, bedenkenlos töten (PE, 370 ff.). Der Prozess der Individualisierung und damit der Freiheit von den Normen, die hier als unterschiedliche Systeme miteinander konkurrieren und so als kulturelle Konstruktionen sichtbar werden, kann angesichts der starren Ordnungsmuster, die auch in den Figuren wirken, nur scheitern. Am Anfang wird bereits geschildert, wie Penthesilea auf Achilles reagiert, sie gleicht »einem sechzehnjährigen Mädchen«, sieht auf ihn »mit trunknem Blick«, sie wirkt: »Verwirrt und stolz und wild zugleich« (PE, 325). Deshalb verschont sie Achill, als sie ihn töten könnte (PE, 327). Ein Beobachter der Kampfszenen stellt aber auch fest, dies kann man als Vorausdeutung auf das weitere Geschehen lesen: »Ha! Der Verschlagne! Er betrog sie -« (PE, 335). Achilles wird vorerst zum »Sieger auch noch in der Flucht« (PE, 338). Er wird nicht, wie Penthesilea, zum Bereich des Dritten gehören, weil er zu den üblichen Strategien greift, um sein Ziel zu erreichen - Penthesilea zu unterwerfen, als Kriegerin und als Frau: »Mich einen Mann fühl ich, und diesen Weibern, / Wenn keiner sonst im Heere, will ich stehn! « (PE, 341). Er träumt davon: »Sie ungestört, ganz wie ihr Herz es wünscht, / Auf Küssen heiß von Erz im Arm zu nehmen.« Er schwört daher, dass er nicht ruhen wird: »Als bis ich sie zu meiner Braut gemacht, / Und sie, die Stirn bekränzt mit Todeswunden, / Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen« (PE, 342). Insofern steht es unter anderen Vorzeichen, wenn er seinerseits Penthesileas Leben rettet, auch wenn an dieser Stelle zumindest eine vorübergehende Irritation der Figur sichtbar wird: »In seinen Armen hebt er sie empor, / Und laut die Tat, die er vollbracht, verfluchend, / Lockt er ins Leben jammernd sie zurück! « (PE, 359). Ist doch: »Das Herz in Liebe plötzlich ihm geschmelzt« (PE, 360). Doch ist diese Regung, wie sein späteres, kalkulierendes Verhalten zeigt, nur vorübergehend. Bei Penthesilea dagegen ist die Irritation dauerhaft, ihr ist: »Das kriegerische Hochgefühl verwirrt« (PE, 343). Sie denkt einer- Konkurrierende Normen und Wertesysteme <?page no="131"?> 118 k la SS Ik unD r om antIk seits in den Konventionen des Rosenfestes, das die Amazonen mit den nach Hause gebrachten, eroberten Männern feiern, um sich fortzupflanzen, aber sie spürt andererseits auch, dass dieses konventionalisierte, entindividualisierte Ziel nun plötzlich nicht mehr ausreicht. Wenn den gefangenen Griechen verkündet wird, dass ihnen: »Entzücken ohne Maß und Ordnung wartet! « (PE, 354), dann ist das nur in einem begrenzten (Zeit-)Raum zulässig, weil es sonst die herrschende Ordnung der Amazonen gefährdet. Es gibt in Achilles zusätzlich zu dem Aussehen und der Stärke, die als Attraktoren für die Fortpflanzung wirken, noch einen Überschuss, den Penthesilea nicht begreifen kann: »Wo ist der Sitz mir, der kein Busen ward, / Auch des Gefühls, das mich zu Boden wirft? « (PE, 343). Kein Wunder, dass die Oberpriesterin nur zu dem Befund kommen kann: »Ward solch ein Wahnsinn jemals noch erhört! « (PE, 356), den die Hauptmännin durch eine klare negative Bewertung ergänzt: »Doch taub schien sie der Stimme der Vernunft: / Vom giftigsten der Pfeile Amors sei, / Heißt es, ihr jugendliches Herz getroffen« (PE, 357). Die »Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn« ist für Foucault eines der Prinzipien der Ausschließung im Diskurs (Foucault 2000, 11 f.). Die Oberpriesterin sieht in einem solchen Fall das Ende der Ordnung und den Untergang der Amazonen voraus: »Uns alle reißt sie in den Abgrund hin« (PE, 358). Nur Penthesileas Vertraute Prothoe, die zur Mittlerin zwischen den beiden Liebenden wird, kann zumindest verstehen, dass das, was hier geschieht, nicht zu verstehen ist: »Und jeder Busen ist, der fühlt, ein Rätsel« (PE, 365). Die fundamentale Irritation Penthesileas führt zu einem heftigen Zwiespalt, der eine innere Gegenwehr produziert: »Verflucht das Herz, das sich nicht mäßgen kann« (PE, 345). Auch sie ist auf eine gewaltsame Eroberung programmiert, denn sie weiß, dass sie »mit Eisen ihn umarmen muß! « (PE, 349), später wird sie vom »erzene[n] Gewand der Hochzeit« sprechen. Der innere Konflikt wird ihr weiteres Verhalten bestimmen, bis zum zeitweisen Austreten aus der Ordnung: »Sie rast«; »Sie ist von Sinnen! «; »Der Sturz / Hat völlig ums Bewußtsein sie gebracht« (PE, 361). Doch Penthesilea diszipliniert sich anfangs immer wieder selbst, denn sie hat gelernt, in einem starren Ordnungsrahmen zu funktionieren, schließlich ist sie Königin (PE, 376). Auch auf der Ebene der Symbolik des Textes werden Gewalt, Liebe und Sexualität enggeführt, etwa wenn von Flüssigkeiten die Der Überschuss an Sinn „Ein Rätsel“ <?page no="132"?> 119 h eInrIch von k leI St : P entheS Ile a (1808) Rede ist. Die Amazonen brechen über die Trojaner und die Griechen herein: »Mit eines Waldstroms wütendem Erguß / Die einen, wie die andern, niederbrausend« (PE, 326). Penthesilea wünscht sich später: »O laß dies Herz / Zwei Augenblicke in diesem Strom der Lust, / Wie ein besudelt Kind, sich untertauchen« (PE, 379). Die Codierung von Gewalt im Diskurs führt dazu, dass Liebe und Tod zu Zwillingen werden: »Zum Tode war ich nie so reif als jetzt« (PE, 380). Freiheit ist in dieser Konzeption nie ohne Unfreiheit zu denken, alles andere wäre ein Außerhalb der im Stück herrschenden Diskurse (Foucault 2000, 25). So gegensätzlich die gezeigten Ordnungen auch zu sein scheinen, so sind sie doch gespiegelt. Penthesilea sagt, nachdem sie irrtümlich glaubt, dass sie Achilles besiegt hat: Die Freiheit schenk ich dir, du kannst den Fuß Im Heer der Jungfraun setzen, wie du willst. Denn eine andre Kette denk ich noch, Wie Blumen leicht, und fester doch, als Erz, Die dich mir fest verknüpft, ums Herz zu schlagen. (PE, 385) Sie fragt Achilles, ob er einverstanden ist, und er bestätigt dies - obwohl sich dann gleich herausstellt, dass er sie gar nicht verstanden hat. Während Penthesilea ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass er mit den anderen nach Themiscyra geht und die Vereinigung erst dort stattfindet, beharrt er auf einem sofortigen Vollzug im Hier und Jetzt (PE, 386). Beide können aus ihrer konventionalisierten Liebeserwartung, trotz vorhandener Grenzüberschreitung, nicht heraus. Nicht zufällig erläutert Penthesilea an dieser Stelle, um Achilles ihr Vorgehen zu erklären, die Geschichte der Amazonen, also den Mythos, auf dem ihr Handeln beruht und der ein Gegenentwurf zur Herrschaft der Männer ist (PE, 387 ff.). Deshalb zieht Penthesilea gerade die besondere Stärke und Gewalttätigkeit von Achilles an, dem »Überwinder Hektors« und Vollbringer anderer herausragender Taten: »Und in mein Herz, wie Seide weiß und rein, / Mit Flammenfarben jede brannt ich ein« (PE, 395). Auffällig ist hier der Reim, der ein größtmögliches Disparates zusammenbindet, Liebe und Unschuld auf der einen Seite, Gewalt und Schuld auf der anderen. »Der Gott der Liebe« ist einmal mehr ein Gott der Gewalt. Nun muss sich zeigen, dass es dieses erwünschte Gegensätzlich und gespiegelt <?page no="133"?> 120 k la SS Ik unD r om antIk Dritte im Hier und Jetzt der beiden nicht gibt. Penthesilea stellt fest: »Doch von zwei Dingen schnell beschloß ich eines, / Dich zu gewinnen, oder umzukommen« (PE, 396), während Achilles überzeugt ist, sich durchsetzen zu können: Zwar durch die Macht der Liebe bin ich dein, Und ewig diese Banden trag ich fort; Doch durch der Waffen Glück gehörst du mir; Bist mir zu Füßen, Treffliche, gesunken, Als wir im Kampf uns trafen, nicht ich dir. (PE, 397) Das Dritte wäre ein Raum der Gleichheit zwischen beiden, in dem sie sich ohne Über- oder Unterordnung begegnen könnten. So aber muss es nach dem verbalen Schlagabtausch, nicht zufällig um den Raum der Vereinigung entweder bei den Amazonen oder bei den Griechen (PE, 399), wieder zum Kampf kommen, den Penthesilea gewinnt - um den Preis des eigenen Lebens, denn wo es dieses Dritte nicht gibt, ist auch für sie kein Platz mehr. Nachdem Penthesilea von den Amazonen befreit wurde, fordert Achilles sie »zum Kampf, auf Tod und Leben« (PE, 402). Penthesilea wird nun endgültig zur Ausgestoßenen: »Sie ist wahnsinnig! « Auch die Regieanweisung vermerkt: Penthesilea kniet nieder, mit allen Zeichen des Wahnsinns«. Sie legt sogar den Bogen auf ihr »Schwesterherz« (PE, 418) Prothoe an und damit auf ihr anderes Ich, das die Vernunft repräsentiert (PE, 405). Meroe schildert in Form eines Botenberichts, wie Penthesilea, zur reißenden »Hündin« mutiert, Achilles regelrecht zerfleischt (PE, 413 f.). Sie selbst weiß allerdings gar nichts von dem traumatischen Vorgang: »Wer von euch tat das, ihr Entsetzlichen! « (PE, 422). Und sie stellt fest, eine der beiden wohl berühmtesten Stellen des Dramas: »So war es ein Versehen. Küsse, Bisse, / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das eine für das andre greifen« (PE, 425). Penthesilea kündigt nun dem Diskurs die Gefolgschaft auf: »Ich sage vom Gesetz der Fraun mich los, / Und folge diesem Jüngling hier« (PE, 426). Sie tötet sich selbst allein durch ihren Willen, die zweite berühmte Stelle: »Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder, / Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz, / Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.« Das Erz wird zu Stahl, der Stahl zu einem Dolch, mit dem sie sich in der Vorstellung tötet und dabei auch in der fiktionalen Realität: »Sie fällt und stirbt« (PE, 427). Die berühmtesten Stellen des Dramas <?page no="134"?> 121 J ohann W olfgang von g oethe : f auSt I unD II (1808 / 1833) Penthesilea führt vor, wie stark Ideen sein können. Nachdem die Heere der Amazonen und der Griechen gezeigt haben, wie stark ihre Muster sind, im System eines Mythos gebündelt, vermag Penthesilea abschließend ein Drittes an die Stelle zu setzen, aber nur, indem sie einen Schritt über die Grenze der Diskurse setzt, so wie das Drama hier über die Grenze des Textuellen weist und - aufhört. Freiheit ist, wie Prothoe feststellt, auch für eine Königin innerhalb der herrschenden Ordnungen nicht zu erlangen. Ihre Individualität wurde Penthesilea zum Verhängnis: »Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte! / Die abgestorbne Eiche steht im Sturm, / Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder, / Weil er in ihre Krone greifen kann« (PE, 428). Johann Wolfgang von Goethe: Faust I und II (1808 / 1833) Wenn man von Goethes Faust spricht, meint man in der Regel den ersten Teil der Tragödie, der im sogenannten Urfaust einen Vorläufer hat und dessen zweiter Teil erst nach Goethes Tod veröffentlicht wurde. Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil gilt als das bedeutendste Werk der deutschsprachigen Literatur. Seine Arbeit am Faust-Stoff beginnt Goethe bereits sehr früh. Erwähnungen in Briefen seiner Freunde sind bereits seit 1773 belegt, also seit dem Jahr der Veröffentlichung des Götz. Die Faust-Figur ist, wie zu zeigen sein wird, den Figuren Götz und Werther, vor allem aber der ebenfalls in der frühen Zeit entstandenen und in der bekannten Hymne verarbeiteten Prometheus-Figur entgegengesetzt. Anders als die anderen bekannten Figuren ist Faust, durch seinen Pakt mit dem Teufel, frei zu handeln, wie er möchte, und stößt dabei weniger an äußere als an innere Grenzen. Der Gegensatz Individuum und Gesellschaft tritt zurück und die Frage der individuellen Freiheit wird auf moderne Weise gestellt, das Individuum zeigt sich als krisenhaftes Subjekt. Vermutlich war die Entstehungszeit der Tragödie und, noch einmal mehr, ihrer Fortsetzung auch der Komplexität einer solchen Konzeption geschuldet. Dabei handelt es sich um einen bereits vor Goethe bekannten Stoff mit mythologischem Charakter: »Goethes Faust-Drama behandelt einen deutschen Stoff, der aus dem 16. Jahrhundert stammt. Im Jahr 1587 ist er zum ersten Male literarisch hervorgetreten in einem Buch, das der Frankfurter Verleger Spieß heraus- Die Stärke von Ideen Individualität als Verhängnis 4.6. Die Arbeit am „Faust“ beginnt früh <?page no="135"?> 122 k la SS Ik unD r om antIk gab. Es enthält die Geschichte eines Mannes, der einen Bund mit dem Teufel schließt; das ist ein mittelalterliches Motiv […]« (Goethe 1998f, Bd. 3, 470). Es gibt ein historisches Vorbild. Allerdings ist der »geschichtliche Faust« ein großer Unbekannter, da von ihm »nur wenige Lebenszeugnisse erhalten sind« und sich verschiedene Mythen um ihn ranken (Goethe 1998f, Bd. 3, 471). Der Faust-Stoff verbreitete sich in der Literatur, auf der Bühne und auf dem Marionetten-Theater, dort sah ihn der junge Goethe (Goethe 1998f, Bd. 3, 474 u. 476). Der Autor nimmt sich in der Gestaltung der Doppel-Tragödie alle Freiheiten. Er bricht die klassische Dramenform auf, indem er verschiedene Schauplätze aneinanderreiht. Auch wechseln, von Faust und Mephisto abgesehen, die Figuren in großer Zahl. Der erste Teil ist überwiegend im besonders variablen Knittelvers geschrieben, geht aber zum Schluss in Prosa über (GF1, 137), ein Bruch zwischen Walpurgisnacht und Kerkerszenen, der als Desillusionierung gelesen werden kann. Eine wichtige Rolle im ersten Teil spielt die Liebesgeschichte von Faust und Gretchen, die sogenannte Gretchen-Tragödie. Faust verliebt sich in das junge Mädchen und verursacht, seinem Trieb folgend, den Tod ihrer Mutter und ihres Bruders. Sie bekommt ein uneheliches Kind und tötet es aus Scham und Verzweiflung. Im zweiten Teil verliebt sich Faust in Helena, mit der er einen Sohn hat - Euphorion, und die sich von ihm trennt, als Euphorion stirbt. Aber es gibt auch andere Binnenhandlungen, etwa jene Episoden im ersten Teil, die als Gelehrten- oder Studentensatire bezeichnet werden können. Dazu gehören die Szenen mit Mephisto, Wagner und anderen Schülern Fausts (z. B. GF1, 61-67) oder die berühmte Trinkszene in Auerbachs Keller in Leipzig (GF1, 67-75), die bunten Szenen mit Bürgern oder das Geschehen am Hof des Kaisers im zweiten Teil. Die Fortsetzung ist außerdem durch eine produktive Rezeption der griechischen Mythologie gekennzeichnet; bekanntlich ist Helena die von Paris geraubte Schöne aus Homers Versepos Ilias, ein Raub, der den Trojanischen Krieg auslöste. Das bereits außerordentlich vielschichtige erste Drama beginnt mit einer »Zueignung« und dem »Vorspiel auf dem Theater«, das »Vorspiel« gibt dem Stück einen metafiktionalen Rahmen. Der »Direktor« diskutiert mit dem »Dichter« und der ›Lustigen Person‹ als Vertreter der Schauspieler, welche Anforderungen ein Thea- Die Gretchen-Tragödie Die metafiktionale Rahmung <?page no="136"?> 123 J ohann W olfgang von g oethe : f auSt I unD II (1808 / 1833) terstück zu erfüllen hat, um erfolgreich zu sein. Jeder sieht die Anforderungen an ein Stück aus seiner Rollenperspektive, Erfolg wird jeweils anders definiert - der Direktor möchte möglichst viele Zuschauer gewinnen, der Dichter ein künstlerisch möglichst überzeugendes Stück auf die Bühne bringen und der Schauspieler attraktive, die Zuschauer ansprechende Rollen vorfinden. Die Produktion eines Theaterstücks ist also verschiedenen Regeln, wenn nicht gar Zwängen unterworfen, die Grenzen der Freiheit in der Gestaltung werden deutlich. Die Position des Direktors orientiert sich an den Wünschen des Publikums: Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen, Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; Und jeder geht zufrieden aus dem Haus. (GF1, 11) Der Schauspieler wünscht sich Figuren, die möglichst realistisch wirken und zur Identifikation einladen: Greift nur hinein ins volle Menschenleben! Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt, Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant. In bunten Bildern wenig Klarheit, Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit, So wird der beste Trank gebraut, Der alle Welt erquickt und auferbaut. (GF1, 13) Der Dichter hingegen strebt nach dauerhaftem Ruhm: »Was glänzt, ist für den Augenblick geboren, / Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren« (GF1, 11). Es schließt sich ein zweiter Rahmen an, der »Prolog im Himmel« mit einem Zwiegespräch zwischen Gott und Mephistopheles, dem Teufel. Wir haben es nach den Schöpferfiguren des Dramas nun mit Repräsentationen der eigentlichen Schöpfer zu tun, und zwar im Plural, denn Gott und Mephisto schließen eine Wette um die Seele des Doktor Faust. Es geht nicht nur um das Erschaffen der Menschen, sondern auch um die Gestaltung ihres - weltlichen wie ewigen - Lebens. Während in der christlichen Heilslehre Gott der Schöpfer ist und der Produzent der Kunst sein Geschöpf, ist hier das Verhältnis umgekehrt: Der Künstler erschafft Gott. Dichter und Direktor Gott und Teufel <?page no="137"?> 124 k la SS Ik unD r om antIk Und nicht nur das: Gottes Macht wird durch die antagonistischen Kräfte eines Gegenübers als begrenzt gezeigt. Dem entspricht eine Ent-Idealisierung des Menschen, der sich als Ebenbild Gottes sehen möchte, durch Mephisto: Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag. Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag. Ein wenig besser würd’ er leben, Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein. (GF, 17) Mephisto glaubt also nicht, dass der Mensch im Sinne Kants vernünftig handelt und seinen freien Willen zum Guten gebraucht. Anders sieht es »Der Herr«: »Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange / Ist sich des rechten Weges wohl bewußt« (GF1, 18). Damit ist die Ausgangslage für ein Experiment am Menschen geschaffen. Gott stimmt zu, dass Mephisto seine Künste als Verführer zum Bösen bei Faust versucht. Mephisto ist dem Herrn zwar scheinbar unterworfen, schließlich bittet er ihn um Erlaubnis, andererseits wäre er offenbar frei, auch anders zu handeln: »Von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern, / Und hüte mich, mit ihm zu brechen« (GF1, 19). Mephisto ist das komplementäre Prinzip zu Gott, da es das Gute ohne das Böse nicht geben und der Mensch sonst auch nicht gut oder böse handeln kann. Die eigentliche Tragödie beginnt mit den berühmten Worten: Faust. Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh’ ich nun, ich armer Tor, Und bin so klug als wie zuvor! (GF1, 20) Da Doktor Faust in der Lage ist, Geister zu beschwören und sich als »Ebenbild der Gottheit« (GF1, 27) sieht, kann er die Begrenztheit seines Wissens nicht billigen. Er steht zum Wissen in einem kritischen Verhältnis, dies gilt auch für die Religion. So stellt er fest, als er den Gesang von Engeln hört: »Die Botschaft hör’ ich wohl, / allein mir fehlt der Glaube; / Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind« (GF1, 31). Den Gelehrten zieht es, mit seinem Schüler Wagner, aus seiner Studierstube in das bürgerliche und bäu- Ein Experiment Gut und Böse bedingen sich gegenseitig <?page no="138"?> 125 J ohann W olfgang von g oethe : f auSt I unD II (1808 / 1833) erliche Treiben des Frühlings: »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein« (GF1, 36). Das Gespräch mit Wagner zeigt, dass Faust ratlos ist, wie es weitergehen soll (GF1, 39). Angesichts der scheinbaren Erfolglosigkeit seines Studiums macht sich bei Faust ein Gegensatz von Gefühl und Vernunft, Trieb und Verstand bemerkbar: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust« (GF1, 41). In dem Moment sieht er einen Hund - Mephisto hat die Gestalt eines Pudels angenommen, um sich Faust zu nähern: »Das also war des Pudels Kern! « (GF1, 46) Mephisto stellt sich ihm vor, er sei: »Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Hier wird deutlich, dass das Gute das Böse als antagonistisches Prinzip benötigt. Und weiter: »Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / Ist wert, daß es zugrunde geht« (GF1, 47). Mephisto bietet Faust einen Pakt an: »Damit du, losgebunden, frei, / Erfahrest, was das Leben sei« (GF1, 53). Diese ›Freiheit‹ wird sich allerdings als nur scheinbare entpuppen. Das rücksichtslose, dem individuellen Interesse folgende Handeln wird zerstörerisch wirken und das Böse schaffen, ohne dass der gebildete Doktor Faust in der Lage sein wird, sich darüber Rechenschaft abzulegen. Sein ›freies‹ Handeln wird den Tod Gretchens, ihres Kindes, ihrer Mutter und ihres Bruders verursachen, ohne dass er dies so gewollt hätte. Auch wenn - oder gerade weil - Faust weiß, dass Mephisto ihn einlädt auf: »Ein Spiel, bei dem man nie gewinnt« (GF1, 56), schlägt er ein und verpfändet seine Seele. Faust hält sich für klüger als sein Gegenspieler: Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! (GF1, 57) Auch die Studenten in Auerbachs Keller identifizieren Freiheit mit dem Recht auf Vergnügen, verstanden als Befriedigung sinnlicher Triebe: »Es lebe die Freiheit! Es lebe der Wein! « Die ironische Brechung durch Mephisto folgt auf dem Fuße: »Ich tränke gern ein Glas, die Freiheit hoch zu ehren, / Wenn eure Weine nur ein bißchen besser wären« (GF1, 72). Die Szene in der Hexenküche gibt Mephisto Raum für weiteren Spott, diesmal am Beispiel der für Faust sinnlosen Sprüche des Hexenbuches: »Gewöhnlich Der Teufelspakt Freiheit als Triebbefriedigung <?page no="139"?> 126 k la SS Ik unD r om antIk glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, / Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen« (GF1, 83). Solche Stellen über die Grenzen der Sprache deuten auf die Erfahrung der Sprachkrise in der literarische Moderne voraus. Modern erscheint auch die Einbindung von komödienhaften Zügen in eine Tragödie. Die Verführbarkeit des Menschen wird auf ironische Weise in Figuren dargestellt, die teilweise Karikaturen sind (wie die Studenten in Auerbachs Keller), und selbst in den eher tragödienhaften Teilen kommt Mephistos Spott zum Tragen, etwa wenn er Marthe, der Vertrauten Gretchens, folgende Die Verführbarkeit des Menschen Faust-Szene (Mephisto verzaubert die Studenten) vor Auerbachs Keller (Leipzig), Plastik von Mathieu Molitor Abb. 4.5 <?page no="140"?> 127 J ohann W olfgang von g oethe : f auSt I unD II (1808 / 1833) Botschaft überbringt: »Ihr Mann ist tot und läßt Sie grüßen« (GF1, 93). Andererseits wird die Handlung durchaus ernsthaft mit der Verführung Gretchens, die in der Auslöschung ihrer ganzen Familie gipfelt. Gretchen lässt sich von Faust verführen, durch seinen Charme und seinen - von Mephisto herbeigeschafften - Reichtum. Den Schmuck, den er ihr schenkt, kommentiert sie mit den bekannten Worten: »Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch alles« (GF1, 90). Gretchen verzeiht Faust »die Freiheit«, die er sich »nahm« (GF1, 101), und er lässt sich mit ihr vom Bedürfnis des Augenblicks verleiten, vom »Gefühle«: »Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch« (GF1, 110). Dieser Freiheit, den eigenen Gefühlen zu folgen, steht die soziale Ordnung entgegen. Dies zeigt sich gleich im Anschluss, wenn junge Frauen schlecht über eine Freundin reden, die unehelich schwanger geworden ist (GF1, 113), oder wenn Gretchens Bruder Valentin, den Faust im Duell tödlich verletzt hat, Gretchen Vorhaltungen macht: »Ich sage, laß die Tränen sein! / Da du dich sprachst der Ehre los, / Gabst mir den schwersten Herzensstoß. / Ich gehe durch den Todesschlaf / Zu Gott ein als Soldat und brav. Stirbt« (GF1, 119). Gegenbild zur bürgerlichen Ordnung ist die Walpurgisnacht, in die Mephisto Faust anschließend entführt: »Man tanzt, man schwatzt, man kocht, man trinkt, man liebt; / Nun sage mir, wo es was Bessers gibt? « (GF1, 127). Auch die Walpurgisnacht trägt deutlich satirische Züge, wenn Figuren wie der »Proktophantasmist« auftreten, die man unter Hexen und Geistern eigentlich nicht vermutet; eine Figur, die das Motiv der menschlichen Hybris, der Selbstüberschätzung, unter Gelehrten einmal mehr betont: »Doch eine Reise nehm ich immer mit / Und hoffe noch, vor meinem letzten Schritt, / Die Teufel und die Dichter zu bezwingen« (GF1, 130). Als Faust aus dem »Walpurgisnachtstraum« (GF1, 132) erwacht, ist nur ein »trüber Tag«. Auch muss er von Mephisto erfahren, dass Gretchen wegen Kindsmordes im Kerker sitzt: »Bösen Geistern übergeben und der richtenden gefühllosen Menschheit! « (GF1, 137). Mephisto unterbricht sein Klagen und erinnert ihn daran, dass er Verantwortung für sein eigenes Handeln trägt: »Warum machst du Gemeinschaft mit uns, wenn du sie nicht durchführen kannst? Willst fliegen und bist vorm Schwindel nicht sicher? « (GF1, 138). Die bürgerliche Ordnung Die Walpurgisnacht <?page no="141"?> 128 k la SS Ik unD r om antIk Faust versucht mit Hilfe Mephistos, Gretchen zu befreien. Sie aber hat das Geschehene nicht verkraftet und ihre kurze Hoffnung: »Ich bin frei! «, die sogar davon begleitet wird, dass ihre Ketten abfallen (GF1, 141), täuscht nur kurz darüber hinweg, dass sie der Last der Schuld nicht entfliehen kann: »Ich darf nicht fort; für mich ist nichts zu hoffen« (GF1, 143). Ihre Freiheit besteht nicht darin, an der Seite Fausts aus dem Kerker zu flüchten. »Gericht Gottes! dir hab’ ich mich übergeben«, heißt es, und weiter: Margarete. Dein bin ich Vater! Rette mich! Ihr Engel! Ihr heiligen Scharen, Lagert euch umher, mich zu bewahren! Heinrich! Mir graut’s vor dir. Mephistopheles. Sie ist gerichtet! Stimme von oben. Ist gerettet! Mephistopheles zu Faust. Her zu mir! Stimme von innen, verhallend. Heinrich! Heinrich! (GF1, 145) Zwar wird am Schluss des Dramas der moralische Rahmen wieder geschlossen und Freiheit als nur noch durch christliche Vergebung realisierbar dargestellt. Auf der anderen Seite ist die Vergebung durch eine höhere Instanz eine ungeheure Provokation gegenüber der weltlichen Gerichtsbarkeit und zugleich gegenüber der christlichen Religion selbst. Wenn man an das Ende des Werther denkt und an den Satz: »Kein Geistlicher hat ihn begleitet« (GW, 124), dann steht die Vergebung, die eine Kindsmörderin hier im Medium der Literatur erfährt, im Gegensatz zur Haltung von Staat und Kirche der Zeit. Dazu kommt, dass Mephisto die starke, reflexive Figur des Stücks ist. Seine ironischen Kommentare und die satirische Zeichnung von Gelehrten und Bürgern verschiedenster sozialer Stellungen sorgt, ebenso wie die doppelte Rahmung des Stücks durch die beiden Vorspiele, für ein starkes Gegengewicht. Die Ambivalenz von Gut und Böse wird gespiegelt durch die Ambivalenz von Anfang und Schluss, von Gefühl und Vernunft, von Trieb und verstandesbasiertem Wissensdrang, von komödiantischen und tragischen Elementen, von äußerer wie innerer Freiheit und Unfreiheit. Das Stück beginnt im Himmel und endet im Kerker, der sich zum Himmel hin öffnet. Die wahre Freiheit liegt, so steht es zu vermuten, irgendwo dazwischen. Faust II dürfte zugleich eines der bekanntesten und am wenigs- Freiheit und Vergebung Mephisto als starke Figur <?page no="142"?> 129 J ohann W olfgang von g oethe : f auSt I unD II (1808 / 1833) ten gelesenen Werke der deutschsprachigen Literatur sein. Gegenüber dem ersten Teil haben wir es noch einmal mit einer erheblichen Komplexitätssteigerung zu tun, auch wenn es nun eine Einteilung in fünf Akte gibt, die formal Geschlossenheit signalisiert. Der deutlich längere zweite Teil setzt diesmal nicht nur geläufige Lektüren wie die Bibel oder verbreitetes Wissen wie das über Hexen voraus. Zahlreiche Figuren sind der Mythologie (vor allem der antiken Mythologie) entnommen oder spielen auf ihre Rezeption an. So setzt das Stück mit einem Gesang Ariels ein, einer Figur, die sowohl auf die Bibel als auch auf Shakespeare (Der Sturm von 1611) und andere mythologische wie literarische Traditionen zurückgeführt werden kann. Der in einer ›anmutigen Gegend‹ auf einem »blumigen Rasen« erwachende Faust (GF2, 146) endet seinen einführenden Monolog mit den Worten: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben« (GF2, 149). Dies trifft auf die Natur, die von der Figur betrachtet wird und die symbolisch-zeichenhaft auf sie wirkt, aber auch auf den Text selbst zu, der als farbiger Abglanz des Lebens die Geschichte von Faust bis zu dessen Tod weiter erzählt. Die Handlung um den Kaiser ist für das Thema der politischen Freiheit besonders interessant. Die Figuren, die den Staat verkörpern, werden ironisch gezeichnet, sie vertreten ein traditionelles Verständnis von Herrschaft. Der Kanzler fasst zusammen: Die höchste Tugend, wie ein Heiligenschein, Umgibt des Kaisers Haupt; nur er allein Vermag sie gütig auszuüben: Gerechtigkeit! - Was alle Menschen lieben, Was alle fordern, wünschen, schwer entbehren, Es liegt an ihm, dem Volk es zu gewähren. (GF2, 150 f.) Das Problem ist nur, dass der Kaiser bankrott ist und Mephisto benötigt, der durch die Erfindung des Papiergeldes dann sogar für neuen Wohlstand sorgt (GF2, 186) - an den der Kaiser sich schnell gewöhnt und nun von Mephisto und Faust unterhalten werden will. Dieser Kaiser ist kein verantwortlich handelnder, die größtmögliche Freiheit seiner Bürger garantierender Herrscher, zumindest nicht ohne äußere Hilfe, die er vor allem für sich selbst in Anspruch nimmt (GF2, 190). Zugleich gibt es aber auch kritische Untertöne, die eine gewaltsame Umwälzung der Ordnung betreffen und als Anspielung auf die Französische Revolution gelesen werden können: »Wie tobt’s in diesen wilden Tagen! / Ein jeder Intertextualität im zweiten Teil Das Problem der Herrschaft <?page no="143"?> 130 k la SS Ik unD r om antIk schlägt und wird erschlagen, / Und fürs Kommando bleibt man taub«, klagt beispielsweise der Heermeister (GF2, 151 f.). Mephisto ist erneut die Figur, die den hier geführten politischen Diskurs ironisch kommentiert: »Wie sich Verdienst und Glück verketten, / Das fällt den Toren niemals ein; / Wenn sie den Stein der Weisen hätten, / Der Weise mangelte dem Stein« (GF2, 158). Goethes skeptisches Alterswerk zeigt ein breites Spektrum an Figuren und Handlungen, vom Kaiser bis zum mittellosen Trunkenbold (GF2, 165), die sich alle etwas vormachen: »Saget nicht, daß ich verirrt bin, / Bin ich doch, wo mir’s behagt. / Borgt der Wirt nicht, borgt die Wirtin, / Und am Ende borgt die Magd« (GF2, 165), von mythologischen bis zu allegorischen Figuren wie Furcht, Hoffnung und Klugheit (GF2, 169 f.), die der Herold einführt mit den Worten: »Die eine bang, die andre froh zu schauen; / Die eine wünscht, die andre fühlt sich frei. / Verkünde jede, wer sie sei« (GF2, 169). Die Figuren treten in einem Stück im Stück auf oder sie sind auf der Ebene der Handlung ›real‹ gewordene Mythologie, etwa wenn Faust sich in Helena verliebt und mit Hilfe Mephistos im antiken Griechenland zu einem Fürsten wird. Zunächst ist es der Kaiser, der verlangt, die mythologischen Figuren Helena und Paris zu sehen, als »Musterbild der Männer so der Frauen« (GF2, 190). Mephisto beschwört die beiden, den Auftritt Helenas kommentiert er mit den ironischen Worten: »Hübsch ist sie wohl, doch sagt sie mir nicht zu.« Faust geht es anders, er verliebt sich sofort: »Du bist’s, der ich die Regung aller Kraft, / Den Inbegriff der Leidenschaft, / Dir Neigung, Lieb’, Anbetung, Wahnsinn zolle« (GF2, 199). Auch dies verfällt sogleich, reimend, der Ironie Mephistos: »So faßt Euch doch und fallt nicht aus der Rolle! « (GF2, 200). Doch genau das tut Faust, indem er das Wunschbild für bare Münze nimmt und versucht, es zu entführen, mit der Folge: »Die Geister gehen in Dunst auf. Mephistopheles, der Fausten auf die Schulter nimmt. Da habt ihr’s nun! mit Narren sich beladen, / Das kommt zuletzt dem Teufel selbst zu Schaden« (GF2, 201). Im zweiten Akt wird die Gelehrtensatire aus dem ersten Teil fortgesetzt, Fausts früherer Schüler Wagner ist inzwischen aufgestiegen: »Wer kennt ihn nicht, den edlen Doktor Wagner, / Den Ersten jetzt in der gelehrten Welt! / Er ist’s allein, der sie zusammenhält, / Der Weisheit täglicher Vermehrer« (GF2, 204). Die ironischen Worte Mephistos werden durch das Verhalten Wagners und seiner Schüler mehr als bestätigt. Wagner will nun auch, wie Mythologische und allegorische Figuren Die Gelehrtensatire <?page no="144"?> 131 J ohann W olfgang von g oethe : f auSt I unD II (1808 / 1833) vormals Faust, zum Gott werden, allerdings auf ganz praktische Weise, indem er einen Menschen herstellt (GF2, 209 ff.). Dabei ist die Homunculus genannte Gestalt nur als sehr kleines Ebenbild des Menschen in einer Phiole, also in einem geschlossenen Glas überlebensfähig: »Das ist die Eigenschaft der Dinge: / Natürlichem genügt das Weltall kaum, / Was künstlich ist, verlangt geschloßnen Raum« (GF2, 211). Homunculus führt den Zug ins antike Griechenland an, er will nach »Pharsalus«. Pharsalos in der griechischen Region Thessalien war Schauplatz der Entscheidungsschlacht zwischen Cäsar und Pompejus im Jahr 48 v. Chr. Mephisto will von dem »Streite / Von Tyrannei und Sklaverei« nichts wissen: »Sie streiten sich, so heißt’s, um Freiheitsrechte; / Genau besehn, sind’s Knechte gegen Knechte« (GF2, 213). In der griechischen Region findet nun eine »klassische Walpurgisnacht« statt (GF2, 215), germanische und antike Mythologie werden hier miteinander verschmolzen. Die thessalische Hexe Erichtho kommentiert die Schlacht: […] Denn jeder, der sein innres Selbst Nicht zu regieren weiß, regierte gar zu gern Des Nachbars Willen, eignem stolzem Sinn gemäß … Hier aber ward ein großes Beispiel durchgekämpft: Wie sich Gewalt Gewaltigerem entgegenstellt, Der Freiheit holder, tausendblumiger Kranz zerreißt, Der starre Lorbeer sich ums Haupt des Herrschers biegt. (GF2, 215) Der Gewaltherrschaft wird das Konzept der Selbstbestimmung durch Reflexion entgegengesetzt und Mephisto wird, noch mehr als im ersten Teil, zur Reflexionsinstanz. So antwortet er auf die Frage des Homunculus, der wie ehemals Faust mehr über die menschliche Natur wissen möchte, wohin er sich wenden soll, mit folgenden Worten: »Wenn du nicht irrst, kommst du nicht zu Verstand. / Willst du entstehn, entsteh auf eigne Hand! « (GF2, 238), Faust handelt entsprechend. Er siedelt sich in Griechenland an und wird zum Herrscher eines Landes, in das sich Helena flüchten kann. Sie ist von ihrem Gatten »Menelas« (GF2, 257), also Menelaos, dem König von Sparta, wegen ihrer Rolle im Trojanischen Krieg zum Tode verurteilt worden (GF2, 269). Wieder handelt es sich um einen hybriden Raum, denn laut Regieanweisungen regiert Faust »umgeben von reichen phantastischen Gebäuden des Mittelalters« (GF2, 276). Er legt sein Reich und seine Macht Gewaltherrschaft oder Selbstbestimmung <?page no="145"?> 132 k la SS Ik unD r om antIk Helena zu Füßen (GF2, 278), die daraufhin seine Gattin wird und den Sohn Euphorion gebärt. Euphorion ist in der griechischen Mythologie ein Sohn von Achill und Helena, die auf der Insel der Glückseligen leben. Der geflügelte Junge wird von Zeus getötet, der sich in ihn verliebt hat, dessen Liebe aber nicht erwidert wird. Goethe rückt seine Figur allerdings in die Nähe des Ikarus-Mythos (GF2, 298). Denn Euphorion stirbt wie Ikarus, weil er sich überschätzt und dabei im Flug abstürzt. Fausts Versuch, zum Herrscher über sein weiteres Leben zu werden, gelingt nicht. Helena gegenüber hat er noch festgestellt: »Durchgrüble nicht das einzigste Geschick! / Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick« (GF2, 284). Und die Verbindung mit Helena hat er so gepriesen: »Arkadisch frei sei unser Glück! « (GF2, 288). Als Folge dieser Selbstüberschätzung wähnt sich auch Euphorion »frei, unbegrenzten Muts« (GF2, 297) und muss deshalb sterben (GF2, 299). Helena verlässt Faust und dieser versucht nun sein Glück erst wieder am Hof des - kriegführenden - Kaisers, schließlich als Grundbesitzer, der Land an der Küste des Meeres urbar macht. Mit beidem ist er wieder nur bedingt erfolgreich. Er modifiziert eine frühere Überzeugung, wenn er als Motto seines Handelns ausgibt: »Herrschaft gewinn’ ich, Eigentum! / Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.« Mephisto reagiert gewohnt ironisch: »Doch werden sich Poeten finden, / Der Nachwelt deinen Glanz zu künden, / Durch Torheit Torheit zu entzünden« (GF2, 308). Der Kaiser wird von einem Gegenkaiser bedroht, weil er seine Aufgabe zu regieren nur unvollkommen erfüllt hat (GF2, 309). Dennoch will Faust ihm helfen, hier zeigt sich wieder die gegenüber Revolutionen skeptische Position (GF2, 307). Der Sieg des Kaisers kann den Leser nicht befriedigen, wir sehen ein Lehrstück in Sachen Bereicherung auf Kosten der Bürger. Besonders der Klerus - vertreten durch den Erzbischof - tut sich darin hervor und erscheint als der heimliche Herrscher im Reich (GF2, 352). Doch auch Faust wird, im 5. und letzten Akt, als Herrscher abermals schuldig. Er hat den beiden Alten Philemon und Baucis eine Hütte am Meer gegeben, die nun seinen Plänen der Landgewinnung im Weg ist. Faust gibt Mephisto den Auftrag: »So geht und schafft sie mir zur Seite! « (GF2, 339) Als Mephisto diesen Auftrag auf radikale Weise erfüllt: »Das Paar hat sich nicht viel gequält, / Vor Schrecken Faust scheitert und wird erlöst <?page no="146"?> 133 J ohann W olfgang von g oethe : f auSt I unD II (1808 / 1833) fielen sie entseelt«; hat Faust Gewissensbisse: »Tausch wollt’ ich, wollte keinen Raub« (GF2, 342). Philemon und Baucis sind ebenfalls Namen aus der griechischen Mythologie, sie stehen für vorbildliche Gastfreundschaft, also für das Gegenteil von dem, was Faust ihnen widerfahren lässt. Die Sorge tritt als Figur auf und blendet Faust - so wird dem Leser und Zuschauer buchstäblich vor Augen geführt, dass Faust durch seine Sorge über die Vergrößerung seines Landes und Reichtums blind geworden ist (GF2, 346). Insofern sind auch die bekannten Worte, die Faust vor seinem Tod spricht, durchaus ironisch zu lesen: Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß. […] Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! (GF2, 348) Faust stirbt im Genuss des letzten Augenblicks, damit den mit Mephisto geschlossenen Pakt erfüllend. Allerdings hat er sein Leben dem Genuss und dadurch einem vergeblichen Streben gewidmet. Dieser ironische Lebenslauf wird noch gesteigert durch die Ironie, dass Faust in den Himmel kommt und Mephisto, trotz des Pakts und seiner vielen Mühen, leer ausgeht. Er muss selbst erkennen, dass auch er sich selbst überschätzt hat: »Ich habe schimpflich mißgehandelt«, und weiter: »So ist fürwahr die Torheit nicht gering, / Die seiner [des ›Klugerfahrnen‹] sich am Schluß bemächtigt« (GF2, 356). Ganz am Ende stellt der »Chorus mysticus« noch einmal heraus: »Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis« (GF2, 364), so wie auch dieses Drama als Gleichnis oder als Parabel gelesen werden kann. Die Freiheit des eigenen Willens ist begrenzt. Faust probiert vieles aus und macht sich jedes Mal, wenn er handelt, schuldig. Selbst Mephisto überschätzt sich selbst, auch er geht am Ende leer aus. Die Doppel-Tragödie führt vor, dass das Individuum selbst dann unfrei ist, wenn es alle Möglichkeiten hat, die eigenen Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen. Zu komplex sind die äußeren und die inneren Gegebenheiten - eine Komplexität, die durch den Anspielungsreichtum und die Anlage der Tragö- Begrenzte Freiheit <?page no="147"?> 134 k la SS Ik unD r om antIk die(n) gespiegelt wird. Damit weist die Konzeption des Faust weit über seine Zeit hinaus. E.T. A. Hoffmann: Der goldne Topf (1814) Die Bedeutung dieses Texts für die Literatur- und Kulturgeschichte kann kaum überschätzt werden: »Richard Wagner, der das Märchen mehrfach las, bezeichnete sich und Nietzsche 1870 / 71 öfter als Lindhorst und Anselmus« (Hoffmann 1988ff, Bd. 2 / 1, 763). Umso erstaunlicher ist, dass es zuerst in einer Sammlung (Fantasiestücke in Callot’s Manier) veröffentlicht wurde, mit der ein verkrachter Musiker und stellenloser Jurist debütierte und die in einem Kleinverlag mit angeschlossener Weinhandlung erschien; freilich nicht unpassend, wenn man die Vorliebe des Autors für alkoholischen Rebensaft bedenkt. Es handelt sich um nichts weniger als um das erste deutschsprachige Kunstmärchen in der Literatur und zugleich um das erste Wirklichkeitsmärchen. Anders als in den üblicherweise als Volksmärchen apostrophierten und fast zeitgleich erscheinenden Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm haben wir es mit einer komplexen Sprache und Handlung, mit psychologisierten Figuren und mit einer zeitlichen wie geographischen Situierung zu tun. Der Untertitel ist daher programmatisch zu verstehen: »Ein Märchen aus der neuen Zeit« (HG, 229). Das Märchen trägt sich in der Gegenwart zu und zugleich gibt es eine zweite, mythische Orts- und Zeitebene, die den bürgerlichen Figuren in der Regel nicht zugänglich ist, nur dem Protagonisten nach einer sorgfältigen Prüfung seiner Eignung. Diese zwei voneinander getrennten und dennoch, über bestimmte Figuren, miteinander verbundenen Handlungsräume begründen das Wirklichkeitsmärchen, wie es 4.7. Das erste Kunstmärchen der Literatur … … und das erste Wirklichkeitsmärchen E. T. A. Hoffmann: Selbstporträt, um 1800 Abb. 4.6 <?page no="148"?> 135 e . t. a . h offm ann : D er golDne t oPf (1814) noch in Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979), in Joanne K. Rowlings Harry-Potter-Romanen (1997ff) und darüber hinaus zu finden sein wird. Die Zweiteilung der Handlungsebenen - über die mythische Welt erfährt man nur durch Erzählungen innerhalb der Erzählung - passt zur Differenzerfahrung der Romantik zwischen dem Sein in einer unvollkommenen Welt und der Vorstellung davon, wie diese Welt beschaffen sein könnte. Die bürgerlichen Figuren des Texts werden ironisch gezeichnet, in der Regel fehlt ihnen das Sensorium für alles, was über die unmittelbare Wahrnehmung und über angelerntes Wissen hinausgeht. Bildung und Wissen werden, in der Nachfolge der Aufklärung und als Kritik an ihr, für die Organisation eines als vernünftig verstandenen Alltags genutzt, der vor allem darin besteht, den beruflichen oder sonstigen Pflichten nachzukommen und ein materiell abgesichertes Leben zu führen. Die gelegentlichen Vergnügungen betreffen vor allem den Konsum von Alkohol. Der Student Anselmus (der Kalenderheilige des 18. März, des Geburtstags von Hoffmanns Gesangsschülerin Julia Mark), der Protagonist des Märchens, verliebt sich in Serpentina. Das Problem ist nur, dass Serpentina aus der mythologischen Welt kommt und als Schlange (das ist auch die Bedeutung ihres Namens) in der gegenwärtigen Welt erscheint, also in mythischer Gestalt (die Schlange ist ein vieldeutiges Symboltier und steht hier wohl für Weiblichkeit, Wiedergeburt und Heilung). Doch gerade dieses Verliebtsein zeigt, dass Anselmus in der Lage ist, die mythische Welt in der gegenwärtigen wahrzunehmen und sogar emphatisch zu bejahen. Am Ende des Märchens wird er Serpentina heiraten und mit ihr in dem mythischen Reich Atlantis leben (dort spielt auch ein Binnenmärchen von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen). Der Anfang hingegen ist für ihn relativ dramatisch, schon der Untertitel der ersten Vigilie (lat. Nachtwache) macht dies unmissverständlich klar: »Die Unglücksfälle des Studenten Anselmus.« Es gehört zum Spiel des Texts mit der Erfahrung von Differenz, dass der Untertitel in einen Gegensatz mündet: »Des Konrektors Paulmann Sanitätsknaster und die goldgrünen Schlangen« (HG, 229). Der erste Satz wirkt sehr gegenwartsbezogen, der erste Teil des zweiten Satzes auch (Sanitätsknaster ist Tabak), doch der Rest, sogar mit »und« angeschlossen, scheint dazu gar nicht zu passen - goldgrüne Schlangen sind äußerst ungewöhnlich und was haben sie Ironisierung des Bürgertums <?page no="149"?> 136 k la SS Ik unD r om antIk mit so bürgerlichen Figuren wie dem Studenten Anselmus und dem Konrektor Paulmann zu tun? Schon der Anfang des Texts klingt zunächst sehr alltäglich und wird dann immer mysteriöser (HG, 229 f.). Die Alte vom schwarzen Tor wird sich als Hexenfigur und als Gegenspielerin des Archivarius Lindhorst entpuppen, der Serpentinas Vater ist und Anselmus’ Mentor wird. Der Archivarius muss seine drei Töchter verheiraten, wenn er zurück nach Atlantis möchte, denn dort ist er in Ungnade gefallen. Die Symbolik mit dem Himmelfahrtstag, der Zahl Drei (als Zahl der Vollkommenheit), dem Schwarzen Tor und der Prophezeiung deuten auf den Übergang in einen anderen Zustand voraus, auf die kommende Veränderung der Wahrnehmung der Figur. Anselmus hat sich vor seinem kleinen Unfall sehr auf ein bürgerliches Vergnügen gefreut, auf Kaffee mit Rum und auf Bier, doch hat er dafür nun kein Geld mehr (HG, 230). Deshalb legt er sich am Ufer der Elbe unter einen Holunderbaum und hat dort eine Erscheinung. Es ist der Blick der Augen, also die Wahrnehmung der Organe der Wahrnehmung, mit dem sich alles verändert: »Und immer inniger und inniger versunken in den Blick des herrlichen Augenpaars, wurde heißer die Sehnsucht, glühender das Verlangen. Da regte und bewegte sich alles, wie zum frohen Leben erwacht« (HG, 235). Doch beginnt die zweite Vigilie gleich mit einem Bruch: »Der Herr ist wohl nicht recht bei Troste! « sagte eine ehrbare Bürgersfrau, die vom Spaziergange mit der Familie heimkehrend, still stand und mit übereinandergeschlagenen Armen dem tollen Treiben des Studenten Anselmus zusah. Der hatte nämlich den Stamm des Holunderbaumes umfaßt und rief unaufhörlich in die Zweige und Blätter hinein. (HG, 235 f.) Die Bezeichnung »ehrbare Bürgersfrau« ist erkennbar ironisch gemeint. Von nun an wird es Anselmus schwer haben, sich zwischen den beiden Welten zu entscheiden. Die eine besteht vor allem aus Konrektor Paulmann und seiner Tochter Veronika, die Anselmus heiraten könnte, sowie aus Registrator Heerbrand, den Veronika schließlich heiraten wird, nachdem sie mit Hilfe des Äpfelweibs und dessen dunklem Zauber versucht hat, Anselmus’ Liebe für sich zu gewinnen (HG, 281). Die andere Welt besteht aus Archivarius Lindhorst und seinem Gefolge, Heerbrand stellt ihn vor als Die Wahrnehmung verändert sich Der Dualismus der zwei Welten <?page no="150"?> 137 e . t. a . h offm ann : D er golDne t oPf (1814) ›wunderlichen alten Mann‹, der »geheime Wissenschaften« treibe und manchen für einen »Antiquar«, anderen für einen »Chemiker« gelte. »Er besitzt außer vielen seltenen Büchern eine Anzahl zum Teil arabischer, koptischer und gar in sonderbaren Zeichen, die keiner bekannten Sprache angehören, geschriebener Manuskripte. Diese will er auf geschickte Weise kopieren lassen […]« (HG, 241 f.). Anselmus wird die Stelle als Schreiber bei Lindhorst angeboten, doch als er vor seinem Haus steht, verwandelt sich der Türknauf: »Da stand er nun und schaute den großen schönen bronzenen Türklopfer an, aber als er nun auf den letzten die Luft mit mächtigem Klange durchbebenden Schlag der Turm-Uhr an der Kreuzkirche den Türklopfer ergreifen wollte, da verzog sich das metallene Gesicht im ekelhaften Spiel blauglühender Lichtblicke zum grinsenden Lächeln. Ach! es war ja das Äpfelweib vom Schwarzen Tor! « (HG, 243 f.). Hier lässt sich beobachten, wie geschickt der Text mit Realität und Fiktion spielt, denn das Vorbild für den Türknauf findet sich nicht in Dresden, sondern in Bamberg, dort wohnte Hoffmann von 1808-1813, bevor er für kurze Zeit nach Dresden zog. Die dritte Vigilie besteht aus einer Schöpfungsgeschichte, die Genesis wird zitiert und variiert: »Der Geist schaute auf das Wasser, da bewegte es sich und brauste in schäumenden Wogen […]« (HG, 244). In der Bibel heißt es: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser« (Mose 1,1 / 2). Der Jüngling Phosphorus verliebt sich in die Feuerlilie, beide tragen das Feuer im Namen. Wie in der Bibel kommt es zu Sündenfall und Wiedergeburt, beides wird durch die Reflexion ausgelöst: »Dieser Funke ist der Gedanke! « (HG, 245 f.) Auch der nun entstehende Drache als das böse Prinzip ist Teil der Schöpfung, ohne ihn könnte Phosphorus nicht zum Retter der Lilie werden - das Böse und das Gute bedingen sich gegenseitig. Doch auch hier gibt es einen Bruch, die Schöpfungsgeschichte des Märchens stellt sich als Erzählung des Archivarius heraus und wird gleich von Heerbrand so kommentiert: »›Erlauben Sie, das ist orientalischer Schwulst, werter Hr. Archivarius! ‹« (HG, 246). Lindhorst erwidert, es handele sich um »das wahrhaftigste was ich Euch auftischen kann«, dies sei Teil seiner Familiengeschichte und er selbst sei »eigentlich ein Prinz« - eine Behauptung, die bei den Zuhörern für »schallendes Gelächter« sorgt (HG, 247). Ein Spiel mit Realität und Fiktion <?page no="151"?> 138 k la SS Ik unD r om antIk Eine weitere Metamorphose betont erneut die Bedeutung von Wahrnehmung. Der Text inszeniert Grenzüberschreitungen in einer Art, dass nicht gesagt werden kann, ob sie sich auf der Ebene der Realität des Texts so zutragen oder ob die Figuren sie nur so wahrnehmen. Anselmus sieht den Archivarius in der Dämmerung davongehen, […] da setzte sich der Wind in den weiten Überrock und trieb die Schöße auseinander, daß sie wie ein paar große Flügel in den Lüften flatterten und es dem Studenten Anselmus, der verwunderungsvoll dem Archivarius nachsah, vorkam, als breite ein großer Vogel die Fittiche zum raschen Fluge. Wie der Student nun so in die Dämmerung hineinstarrte, da erhob sich mit krächzendem Geschrei ein weißgrauer Geier hoch in die Lüfte […]. (HG, 257) Es ist die Liebe von Serpentina, die Anselmus von seinem Hin- und Hergerissensein heilen wird. Ihre Mitgift wird der titelgebende goldene Topf sein, wobei es sich nicht nur um einen möglicherweise magischen Gegenstand von materiellem Wert, sondern auch um ein Symbol für Weiblichkeit und für eine erotische Vereinigungsphantasie handelt: »›Die schöne Lilie wird emporblühen aus dem goldenen Topf und wir werden vereint glücklich und selig in Atlantis wohnen! ‹« (HG, 291 f.). Die weibliche Lilie wird hier zum Phallus, nicht nur die Welten, auch die Geschlechter werden gekreuzt und verwandeln sich. Zuvor wird Anselmus auf eine letzte Probe gestellt. Ein alkoholseliger Abend bei Paulmanns, mit der schönen Veronika, lässt ihn an seiner Wahrnehmung der mythischen Welt und damit an seiner Liebe zu Serpentina zweifeln. Deshalb macht er beim Kopieren der wunderbaren Schriften einen Fehler, der zu dem bereits am Anfang angekündigten ›Fall ins Kristall‹ (HG, 229) führt: »Ach! er saß in einer wohlverstopften Krystallflasche auf einem Repositorium im Bibliothekzimmer des Archivarius Lindhorst« (HG, 302). Hier nun meldet sich der Erzähler mit einer Leseranrede: »Mit Recht darf ich zweifeln, daß du, günstiger Leser! jemals in einer gläsernen Flasche verschlossen gewesen sein solltest, es sei denn, daß ein lebendiger neckhafter Traum dich einmal mit solchem feeischen Unwesen befangen hätte« (HG, 302). Der Erzähler macht sich erkennbar über den Leser lustig. Neben Anselmus stehen andere, die aber nicht wahrhaben wollen, dass sie sich in einer Flasche befinden (HG, 304 f.). Auch hier geht es wieder um Grenzüberschreitungen Ein Spiel mit dem Leser <?page no="152"?> 139 e . t. a . h offm ann : D er golDne t oPf (1814) Wahrnehmung, wobei das Eingeschlossensein in der Flasche als ironische Metapher für die Beschränktheit der menschlichen Wahrnehmung gelesen werden kann. In einem dramatischen Kampf wird das Äpfelweib wieder zur Runkelrübe und Anselmus mit Serpentinas Hilfe aus der Flasche befreit (HG, 308 f.). Zu Beginn der zwölften und letzten Vigilie meldet sich wieder der Erzähler zu Wort, nun wird er sogar zur Figur der Handlung, wenn er schildert, dass er die Erzählung nicht fortführen kann, weil er das Ende nicht weiß (HG, 315 f.). Erst als Lindhorst ihn zu einem hochprozentigen Punsch einlädt, kann der namenlose Ich-Erzähler, ein Freund »des Kapellmeisters Johannes Kreisler« (HG, 318), die Geschichte des Anselmus zu Ende erzählen, der nun mit Serpentina ein Rittergut in Atlantis bewohnt. Mit dem Verweis auf Kreisler wird eine Verbindung zu anderen Werken Hoffmanns geschaffen; so ist Kreisler eine der beiden Hauptfiguren in Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern (1819 / 21). Das Happy End für Anselmus und Serpentina wird als Allegorie auf die erweiterte Wahrnehmung und damit auf die Kraft der Phantasie gestaltet, so kann Anselmus verkünden: »›Ja ich Hochbeglückter habe das Höchste erkannt - ich muß dich lieben ewiglich o Serpentina! - nimmer verbleichen die goldnen Strahlen der Lilie, denn wie Glauben und Liebe ist ewig die Erkenntnis‹« (HG, 320). Allerdings lässt der Text offen, ob es sich bei dem erzählten Happy End in Atlantis um die Vision als Folge eines Rausches handelt - auch dies gehört zur ironischen Konzeption des Märchens. Ebenfalls ironisch zu lesen ist der Schluss, wenn der Archivarius den Erzähler, der an sein »Dachstübchen und die Armseligkeiten des bedürftigen Lebens« denkt, das er selber führt, wie folgt tröstet: Waren Sie nicht so eben selbst in Atlantis und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum Ihres innern Sinns? - Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis offenbaret? (HG, 321) Wahre Freiheit, so wird hier vorgeführt und festgestellt, gibt es nur in der Phantasie - und in der Literatur, die in der Lage ist, wunderbare Welten zu entwerfen. Allerdings ist diese Befreiung Eine Punsch-Phantasie Freiheit und Phantasie <?page no="153"?> 140 k la SS Ik unD r om antIk keine eskapistische, denn die durch Ironie erzeugte Selbstreferenz, bis hin zur Metafiktionalität, führt dem Leser deutlich vor Augen, dass es sich bei Freiheit auch um eine Frage der Wahrnehmung handelt. Die bürgerliche Welt mit ihren prosaischen Verlockungen ist demnach nicht genug und es bedarf der Poesie, um das Leben ›wirklich‹ lebenswert zu machen. E.T. A. Hoffmann: Der Sandmann (1816) E. T. A. Hoffmanns »bekannteste Erzählung« (Kremer 2012, 169) Der Sandmann eröffnet 1816 die Sammlung der Nachtstücke. Dass es sich um einen der wirkungsmächtigsten, meistinterpretierten und meistzitierten Texte der Literaturgeschichte handelt (Kremer 2012, 172 ff.), hängt auch damit zusammen, dass ihn Sigmund Freud (1856-1939) im Jahr 1919 in den Mittelpunkt einer grundlegenden Abhandlung über Das Unheimliche stellt. Für Freud ist Hoffmann »der unerreichte Meister des Unheimlichen in der Dichtung« (Freud 1999a, 229). Das Unheimliche fällt für Freud mit dem »Angsterregenden« zusammen (ebd.). Auch wenn es in verändertem Gewand auftrete, so sei es doch »auf das Altbekannte, Längstvertraute« zurückzuführen (Freud 1999a, 231), allerdings auf etwas, das man sich nicht eingestehen wolle. Es ist die Wieder- 4.8. „Das Unheimliche“ Zeichnung von E. T. A. Hoffmann zu »Der Sandmann« Abb. 4.7 <?page no="154"?> 141 e . t. a . h offm ann : D er S anDm ann (1816) kehr des Verdrängten. Der Erzählung attestiert Freud eine »unvergleichlich unheimliche Wirkung« (Freud 1999a, 238). Der Titel der Sammlung Nachtstücke deutet bereits darauf hin, dass es sich hier um Texte handelt, die sich zu den Märchen komplementär und zugleich gegensätzlich verhalten. Auch in ihnen sind die Naturgesetze teilweise außer Kraft, doch führen diese Grenzüberschreibungen nicht zu Glücksmomenten und schließlich zum Happy End, sondern erst zu Angstzuständen und dann zum Tod. Damit ist Der Sandmann zugleich auch einer der prominentesten Texte der sogenannten Schwarzen Romantik, die sich aus Einflüssen der britischen gothic novel speiste. Der Student Nathanael, verlobt mit Clara und befreundet mit ihrem Bruder Lothar, erinnert sich an ein Kindheitstrauma: Nathanaels Vater stirbt bei einem alchemistischen Experiment, das er mit einem Freund durchführt, dem Advokat Coppelius. Der Advokat erscheint dem Kind als unheimlicher Mann, dazu kommt, dass die Kinderfrau ihm abends, damit er einschläft, eine angstmachende Geschichte vom Sandmann erzählt. Er werfe »› […] den Kindern, wenn sie nicht zu Bett‹ gehen wollen […] Händevoll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.‹ - Gräßlich malte sich nun im Innern mir das Bild des grausamen Sandmanns aus; sowie es abends die Treppe heraufpolterte, zitterte ich vor Angst und Entsetzen« (HS, 13). Die Erzählung vom Sandmann vermischt sich in der Wahrnehmung des Kindes mit der Erscheinung des Advokaten (HS, 15). In einer Nacht ist der kleine Nathanael heimlicher Zeuge des alchemistischen Geschehens: Ach Gott! - wie sich nun mein alter Vater zum Feuer herabbückte, da sah er ganz anders aus. Ein gräßlicher krampfhafter Schmerz schien seine sanften ehrlichen Züge zum häßlichen widerwärtigen Teufelsbilde verzogen zu haben. Er sah dem Coppelius ähnlich. Dieser schwang die glutrote Zange und holte damit hellblinkende Massen aus dem dicken Qualm, die er dann emsig hämmerte. Mir war es als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen - scheußliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer. »Augen her, Augen her! « rief Coppelius mit dumpfer dröhnender Stimme. Ich Ein Kindheitstrauma Eine Frage der Wahrnehmung <?page no="155"?> 142 k la SS Ik unD r om antIk kreischte auf von wildem Entsetzen gewaltig erfaßt und stürzte aus meinem Versteck heraus auf den Boden. Da ergriff mich Coppelius, kleine Bestie! - kleine Bestie! meckerte er zähnfletschend! - riß mich auf und warf mich auf den Herd, daß die Flamme mein Haar zu sengen begann: »Nun haben wir Augen - Augen - ein schön Paar Kinderaugen.« So flüsterte Coppelius, und griff mit den Fäusten glutrote Körner aus der Flamme, die er mir in die Augen streuen wollte. Da hob mein Vater flehend die Hände empor und rief: Meister! Meister! laß meinem Nathanael die Augen - laß sie ihm! Coppelius lachte gellend auf und rief: »Mag denn der Junge die Augen behalten und sein Pensum flennen in der Welt […].« (HS, 17 f.) Der Advokat wird hier zum teuflischen Verführer, das Geschehen zu einem Teufelspakt und was Coppelius mit Nathanael anstellt, lässt sich entweder als unheimliches Geschehen deuten, in dem Naturgesetze außer Kraft sind, oder als kindlicher Alptraum aus der Erinnerung heraus, die durch den gewaltsamen Tod des Vaters geprägt ist. Die Erinnerung wird deshalb wieder aufgerufen, weil Nathanael den nach dem schrecklichen Ereignis verschwundenen Coppelius in dem »Wetterglashänder« Coppola wiedererkannt zu haben glaubt (HS, 20). Der Erzähler tritt weitgehend zurück und lässt die Figuren selbst berichten. Der Anfang der Erzählung besteht aus Briefen von Nathanael an Lothar und von Clara an Nathanael. Der Protagonist ist, angesichts seiner kindlichen Traumatisierung, ein unzuverlässiger Erzähler. Clara, deren Name symbolisch auf die Aufklärung verweist, deutet seine Erzählung als Einbildung eines ›kindischen Gemüts‹: »Geradeheraus will ich es Dir nur gestehen, daß, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon Du sprichst, nur in Deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig Teil hatte« (HS, 21). Der Rahmenerzähler gibt sich selbst ratlos, was er glauben soll, er meldet sich erst nach den Briefen mit einer Leseranrede zu Wort: Seltsamer und wunderlicher kann nichts erfunden werden, als dasjenige ist, was sich mit meinem armen Freunde, dem jungen Studenten Nathanael, zugetragen, und was ich dir, günstiger Leser! zu erzählen unternommen. Hast du, Geneigtester! wohl jemals etwas erlebt, das deine Brust, Sinn und Gedanken ganz und gar erfüllte, Alles Andere daraus verdrängend? Es gärte und kochte in dir, zur siedenden Glut entzündet sprang das Blut durch die Adern und färbte höher deine Ironische Leseranreden <?page no="156"?> 143 e . t. a . h offm ann : D er S anDm ann (1816) Wangen. Dein Blick war so seltsam als wolle er Gestalten, keinem andern Auge sichtbar, im leeren Raum erfassen und die Rede zerfloß in dunkle Seufzer. Da frugen dich die Freunde: Wie ist Ihnen, Verehrter? - Was haben Sie, Teurer? […] - Mich hat, wie ich es dir, geneigter Leser! gestehen muß, eigentlich niemand nach der Geschichte des jungen Nathanael gefragt; du weißt ja aber wohl, daß ich zu dem wunderlichen Geschlechte der Autoren gehöre, denen, tragen sie etwas so in sich, wie ich es vorhin beschrieben, so zu Mute wird, als frage jeder, der in ihre Nähe kommt und nebenher auch wohl noch die ganze Welt: Was ist es denn? Erzählen Sie Liebster? - So trieb es mich denn gar gewaltig, von Nathanaels verhängnisvollem Leben zu dir zu sprechen. Das Wunderbare, Seltsame davon erfüllte meine ganze Seele, aber eben deshalb und weil ich dich, o mein Leser! gleich geneigt machen mußte, Wunderliches zu ertragen, welches nichts Geringes ist, quälte ich mich ab, Nathanaels Geschichte, bedeutend - originell, ergreifend, anzufangen: »Es war einmal« - der schönste Anfang jeder Erzählung, zu nüchtern! - »In der kleinen Provinzial-Stadt S. lebte« - etwas besser, wenigstens ausholend zum Klimax. - Oder gleich medias in res: »Scher’ Er sich zum Teufel‹, rief, Wut und Entsetzen im wilden Blick, der Student Nathanael, als der Wetterglashändler Giuseppe Coppola« - Das hatte ich in der Tat schon aufgeschrieben, als ich in dem wilden Blick des Studenten Nathanael etwas Possierliches zu verspüren glaubte; die Geschichte ist aber gar nicht spaßhaft. Mir kam keine Rede in den Sinn, die nur im mindesten etwas von dem Farbenglanz des innern Bildes abzuspiegeln schien. Ich beschloß gar nicht anzufangen. Nimm, geneigter Leser! die drei Briefe, welche Freund Lothar mir gütigst mitteilte, für den Umriß des Gebildes, in das ich nun erzählend immer mehr und mehr Farbe hineinzutragen mich bemühen werde. […] Vielleicht wirst du, o mein Leser! dann glauben, daß nichts wunderlicher und toller sei, als das wirkliche Leben und daß dieses der Dichter doch nur, wie in eines matt geschliffnen Spiegels dunklem Widerschein, auffassen könne. (HS, 26 f.) Die Erzählung wird metafiktional und ironisch. Sowohl das Verhalten Nathanaels als auch das des Autors wird als ›wunderlich‹ markiert und es erscheint der Umwelt im doppelten Sinn als komisch. Der typische Märchenanfang »Es war einmal« wird als »zu nüchtern! « bezeichnet, obwohl ein Märchen eine alles andere als nüchterne Gattung des Erzählens ist. Dass die Erzählung mit <?page no="157"?> 144 k la SS Ik unD r om antIk Humor und Ironie arbeitet, wird bei der Interpretation, die in der Regel ausschließlich das Unheimliche betont, gern übersehen. Zur Geschlossenheit der Form und Offenheit der Interpretation trägt die ausgefeilte Symbolik der Erzählung bei. Der Sandmann der Kinderfrau reißt den Kindern die Augen heraus, Coppelius möchte dies bei Nathanael tun. Die Namen Coppelius und Coppola leiten sich vom italienischen Wortstamm für Augenhöhle her. Coppola handelt mit Brillen, Ferngläsern und anderen optischen Instrumenten. Im vorhergehenden Zitat wird die Literatur mit »eines matt geschliffnen Spiegels dunklem Widerschein« verglichen. Nathanaels Sicht von Olimpia verändert sich, als er durch das Fernrohr blickt. Stets geht es also um Wahrnehmung. Dazu gehört, dass Nathanael Clara als »Du lebloses, verdammtes Automat! « beschimpft (HG, 32), obwohl Olimpia, in die er sich verliebt, ein Automat, also ein künstlicher Mensch ist, hergestellt von seinem Physik-Professor Spalanzani, der sie als seine Tochter ausgibt, mit der Hilfe von Coppola. Nathanaels Geburt seiner alptraumhaften »Fantasie« (HS, 30 f.) wird sich bewahrheiten. Doch zunächst scheint noch alles gut auszugehen. Das Duell zwischen dem außer sich geratenen Nathanael und Lothar findet nicht statt, sie versöhnen sich und »Nathanael war es zu Mute, als sei eine schwere Last, die ihn zu Boden gedrückt, von ihm abgewälzt, ja als habe er, Widerstand leistend der finstern Macht, die ihn befangen, sein ganzes Sein, dem Vernichtung drohte, gerettet« (HS, 33). Doch schon seine Rückkehr an seinen Studienort hält die nächste Katastrophe bereit. Das Haus, in dem er gewohnt hat, ist abgebrannt und er muss sich ein neues Zimmer suchen, von dem aus er in die Wohnung von Spalanzani und Olimpia sehen kann. Nun taucht Coppola auf, den der sich um Fassung bemühende Nathanael angemessen freundlich behandelt, und verkauft ihm ein »Taschenperspektiv«, also ein kleines Fernrohr, durch das sich alles verändert: Noch im Leben war ihm kein Glas vorgekommen, das die Gegenstände so rein, scharf und deutlich dicht vor die Augen rückte. Unwillkürlich sah er hinein in Spalanzani’s Zimmer; Olimpia saß, wie gewöhnlich, vor dem kleinen Tisch, die Ärme darauf gelegt, die Hände gefaltet. - Nun erschaute Nathanael erst Olimpia’s wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und tot. Doch Die Symbolik der Augen Ein künstlicher Mensch <?page no="158"?> 145 e . t. a . h offm ann : D er S anDm ann (1816) wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpia’s Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. Nathanael lag wie festgezaubert im Fenster, immer fort und fort die himmlisch-schöne Olimpia betrachtend. (HS, 36) Dass das Glas besonders rein sein soll ist ein Widerspruch zu der Belebung, die Olimpia durch den gefilterten Blick erfährt. Es ist der Blick durch das Glas, der ihre künstlichen Augen wie erstrahlen und lebendig erscheinen lässt. Dazu kommt, dass Coppola sich merkwürdig verhält, etwa indem er beim Weggehen laut lacht. Nathanael macht Olimpia den Hof und merkt gar nicht, dass sie kaum reagiert und dass sich seine Umwelt über sein Verhalten wundert (HS, 40 ff.). Erst als Nathanael Zeuge eines gewalttätigen Streits von Spalanzani und Coppola wird, erfährt er die Hintergründe: Erstarrt stand Nathanael - nur zu deutlich hatte er gesehen, Olimpia’s toderbleichtes Wachsgesicht hatte keine Augen, statt ihrer schwarze Höhlen; sie war eine leblose Puppe. Spalanzani wälzte sich auf der Erde […]. Nun sah Nathanael, wie ein Paar blutige Augen auf dem Boden liegend ihn anstarrten, die ergriff Spalanzani mit der unverletzten Hand und warf sie nach ihm, daß sie seine Brust trafen. - Da packte ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen und fuhr in sein Inneres hinein Sinn und Gedanken zerreißend. »Hui - hui - hui! - Feuerkreis - Feuerkreis! dreh dich Feuerkreis - lustig - lustig! - Holzpüppchen hui schön’ Holzpüppchen dreh dich -« damit warf er sich auf den Professor und drückte ihm die Kehle zu. Nathanael wird überwältigt und »in gräßlicher Raserei tobend […] nach dem Tollhause gebracht« (HS, 45). Zwar wird er später als geheilt entlassen, doch als er ein weiteres Mal in das von Coppola gekaufte Fernrohr schaut und dabei Clara ansieht, versucht er, wieder »Holzpüppchen dreh dich« rufend, Clara von einem Turm zu werfen (HS, 48). Lothar rettet seine Schwester und Nathanael, der den Coppelius in der zusammengelaufenen Menschenmenge sieht, springt vom Turm in den Tod, »Sköne Oke« rufend, also die Worte, mit denen ihm Coppla seine Produkte angepriesen hatte. Clara wird, wie der Erzähler zum Schluss berichtet, einen »freundlichen Mann« heiraten und mit ihm eine Familie gründen. »Es wäre Ist Nathanael wahnsinnig? <?page no="159"?> 146 k la SS Ik unD r om antIk daraus zu schließen, daß Clara das ruhige häusliche Glück noch fand, das ihrem heitern lebenslustigen Sinn zusagte und das ihr der im Innern zerrissene Nathanael niemals hätte gewähren können« (HS, 49). Hier macht der Konjunktiv stutzig, der Zweifel daran weckt, dass es sich um die ›richtige‹ Schlussfolgerung handelt. Die Erzählung bietet zwei Erklärungen für das Geschehen an, ohne eine davon zu favorisieren: Entweder ist Nathanael durch die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit wahnsinnig geworden oder er wird von Coppelius, der sich in Coppola verwandeln kann, mit Hilfe eines magischen Fernrohrs ins Unglück gestürzt. Über die Motive von Coppelius erfährt der Leser nichts, aber Nathanael und seine Familie machen ihn für den Tod des Vaters verantwortlich. Beide Deutungen werden durch Humor und Ironie, auch durch die für Hoffmanns Werk typische ironische Darstellung von Bürgerlichkeit, und durch die Metafiktionalität des Texts unterlaufen, der Wahrnehmen, Schreiben und Erfinden parallel führt. Schon wenige Jahrzehnte nach Kants programmatischen Aussagen zur Freiheit des Individuums ist von dieser Freiheit nicht mehr viel übrig. Das Individuum ist äußerlich frei, es kann im Rahmen seiner Möglichkeiten studieren, heiraten und Kinder bekommen, also ein glückliches bürgerliches Leben führen - wenn es nicht die Abhängigkeit von äußeren und inneren Prozessen gäbe, die sich jeder vernünftigen oder logischen Erklärung entziehen. Ein Jahrhundert vor Freuds Feststellung zeigt Hoffmann am Beispiel des Verhaltens von Figuren in literarischen Texten, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus« (Freud 1999b, 11). Das Konzept des freien Willens stößt an seine Grenzen und weicht der Erfahrung von Kontingenz. Allerdings gibt es immer noch die Ebene der Gestaltung der Erzählung selbst, also der Kunst und der Literatur, die für Freiheit stehen, da sie als einzige die Möglichkeit bieten, alle nur denkbaren Grenzen ohne Gefahr für Leib und Leben zu überschreiten. E.T. A. Hoffmann: Der Einsiedler Serapion (1819) E. T. A. Hoffmanns Die Serapions-Brüder, von 1819-21 in vier Bänden veröffentlicht, ist nach Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) und Tiecks Phantasus (1812-16) der dritte auch heute noch bedeutende Novellenzyklus in der deutschsprachigen Literatur. Wie schon Boccaccio im Decamerone versieht Hoffmann Das Problem der inneren Freiheit 4.9. Novellenzyklus <?page no="160"?> 147 e . t. a . h offm ann : D er e InS IeDler S era PIon (1819) die in Bände und Abschnitte eingeteilten Erzählungen mit einer Rahmenerzählung. Dass für Hoffmann vor allem Tieck Pate stand, belegt ein Brief an seinen Verleger, in dem er auf den Phantasus verweist (Hoffmann 1988ff 4, 1229). »Der ursprünglich vorgesehene Titel Die Seraphinen- Brüder nimmt Bezug auf den Namenstag des heiligen Seraphinus von Montegranaro, den 12. Oktober. Ein Brief […] gibt Auskunft darüber, daß dieser Titel auf einen literarisch-geselligen Zirkel zurückgeht, der sich gleich nach Hoffmanns Ankunft in Berlin (26. September 1814) dort konstituiert haben muß […]« (Hoffmann 1988ff 4, 1230). Der Kreis um Hoffmann löste sich 1815 auf, um sich 1818 neu zu finden, diesmal am Abend des 14. November, dem Tag des polnischen Kalenderheiligen Serapion (Hoffmann 1988ff 4, 1236). Literarische und biographische Erfahrungen, das Erzählen im geselligen Rahmen in den bekannten Novellenzyklen und im Kreis der Freunde Hoffmanns, all dies geht in die Gestaltung ein. Die Freunde, die Serapions-Brüder, erzählen sich gegenseitig Geschichten, die von Hoffmann größtenteils separat in Büchern oder in Zeitschriften veröffentlicht wurden. Der erste, zweite und vierte Band schließen jeweils mit einem berühmt gewordenen Märchen. Nußknacker und Mausekönig, am Schluss des ersten Bandes, hat in mehrfacher Hinsicht eine kulturhistorische Bedeutung. Hier findet sich die Gestaltung eines Schranks als Schleuse in eine Wunderwelt, wie sie später Erich Kästner (1899-1974) in Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee (1931) und C. S. Lewis (1898-1963) in dem bekanntesten Band der Chronicles of Narnia, in The Lion, the Witch and the Wardrobe (1950), nutzen werden. Peter Tschaikowsky (1840-93) schuf aus dem Stoff, den er in der Bearbeitung von Alexandre Dumas (1802-70) kannte, sein berühmtes Ballett Der Nußknacker (1892). Ebenfalls in seiner Wirkung kaum zu überschätzen ist die Der Schrank als Schleuse Die erste Ausgabe Abb. 4.8 <?page no="161"?> 148 k la SS Ik unD r om antIk Erzählung Das Fräulein von Scuderi im dritten Band, es handelt sich um eine der bedeutendsten Kriminalerzählungen der Literaturgeschichte. Auch dieser Stoff bot Anlass zur musikalischen Bearbeitung, Paul Hindemith (1895-1963) hebt in seiner Oper Cardillac (1926) den Namen des Goldschmieds aus dieser Erzählung in den Titel. Noch in Patrick Süskinds (geb. 1949) Weltbestseller Das Parfum (1985) lassen sich Spuren der Figuren- und Handlungskonzeption finden. In Rezeption und Forschung traditionell unterschätzt wird das wunderbare Märchen Die Königsbraut, das immerhin den vierten Band und damit die ganze Sammlung beschließt. Der hässliche Gemüsekönig Daucus Carota hat Ännchen von Zabelthau gegen ihren Willen durch einen magischen Ring gebunden und will sie heiraten. Ihr Verlobter, der Student und Möchtegern-Schriftsteller Amandus von Nebelstern, besiegt das gemeine Zauberwesen unfreiwillig, indem er eines seiner trivialen Gedichte vorträgt (Hoffmann 1988ff 4, 1194 f.). Nach der Apotheose der Poesie in den beiden anderen genannten Märchen steht am Ende des Novellenzyklus also die humorvolle Entzauberung jeder möglichen eskapistischen Tendenz - freilich im Medium der Literatur und des Wunderbaren. Serapions-Bruder Ottmar kommentiert dazu, dass ein Autor nicht »seine fantastische Werke auf Rechnung überreizter Nerven und daher entstandenen Fiebers« gründen könne: »Wer weiß es denn aber nicht, daß jeder auf diese jene Weise erregte Seelenzustand zwar einen glücklichen genialen Gedanken, nie aber ein in sich gehaltenes, geründetes Werk erzeugen kann, das eben die größte Besonnenheit erfordert« (Hoffmann 1988ff 4, 1199). Der ironisch-distanzierende Schluss ist also als Aufforderung an die Leser gedacht, das Gelesene als Kunst wahrzunehmen, über dessen Konstruktionsprinzipien nachzudenken und damit immer auch über die Konstruktionsprinzipien der eigenen Wirklichkeit. Die Traditionen des mündlichen und des schriftlichen Erzählens werden in den Serapions-Brüdern für ein Gespräch über die Möglichkeiten der Literatur genutzt. Vor allem geht es an den vielen Vortrags- und Gesprächsabenden der Freunde um die Möglichkeiten und Grenzen von Wahrnehmung und um die Funktion, die Literatur dabei spielt. Deshalb ist auch die - in der Sammlung selbst nicht als eigenständige Erzählung ausgewiesene - Geschichte des Einsiedlers Serapion so bedeutend, mit der die Eine Apotheose der Poesie Der Einsiedler Serapion <?page no="162"?> 149 e . t. a . h offm ann : D er e InS IeDler S era PIon (1819) Sammlung eröffnet wird und nach der das Serapiontische Prinzip benannt ist, das nicht nur der Kreis der Serapions-Brüder selbst, sondern auch die Forschung stets als besondere literarische Verfahrensweise Hoffmanns herausgestellt hat und herausstellt (Hoffmann 1988ff 4, 1260 ff.). Das die Erzählung vom Einsiedler Serapion vorbereitende Gespräch stellt die Bedeutung des Themas der Freiheit heraus: Also! - wir wollen keine Philister sein, wir wollen nicht darauf bestehen jenen Faden, an dem wir vor zwölf Jahren spannen, nun fortzuspinnen […]. Was Lothar ohne eigentlichen Anlaß über das Unwesen der Clubbs und Ressourcen gesagt hat, mag richtig sein und beweisen, wie sehr der arme Mensch geneigt ist sich das letzte Restchen Freiheit zu verdämmen und überall ein künstlich Dach zu bauen, wo er noch allenfalls zum hellen heitern Himmel hinaufschauen könnte. (Hoffmann 1988ff., Bd. 4, 22) Auch in der Erzählung vom Einsiedler Serapion geht es um Freiheit, und zwar um die Freiheit der Wahrnehmung und der Ausrichtung des eigenen Lebens nach dieser Wahrnehmung, wenn niemand anderes davon betroffen ist. In einer sehr schönen Gegend Süddeutschlands (Vorbild dürfte hier die Landschaft um Bamberg gewesen sein) trifft der Ich-Erzähler Cyprian, der sich im Wald verirrt hat, auf einen Einsiedler. Schon die Begegnung mit dem Mann in der Kutte lässt den Text selbstreflexiv werden: »Die ganze Erscheinung hatte etwas fremdartiges, seltsames, ich fühlte leise Schauer mich durchgleiten. Solchen Gefühle kann man sich auch wohl kaum erwehren, wenn das, was man nur auf Bildern sah oder nur aus Büchern kannte, plötzlich ins wirkliche Leben tritt« (HE, 24). Cyprian erzählt einem Bauern, der ihn mitnimmt, von dem seltsamen Verhalten des Mannes. Der Bauer kennt den Bewohner der kleinen Hütte im Wald: »›Die Leute sagen, er sei nicht recht richtig im Kopfe, aber er ist ein lieber frommer Herr der niemanden etwas zu Leide tut und der uns im Dorfe mit andächtigen Reden recht erbaut und uns guten Rat erteilt wie er nur kann.‹« Ein ihm bekannter Doktor erklärt Cyprian, was es mit dem rätselhaften Mann auf sich hat: Dieser Einsiedler war einer der geistreichsten vielseitig ausgebildetsten Köpfe die es in M- gab. Kam noch hinzu, daß er aus glänzender Familie entsprossen […]. Mit seinen Kenntnissen verband er ein ausge- Freiheit der Wahrnehmung <?page no="163"?> 150 k la SS Ik unD r om antIk zeichnetes Dichtertalent, alles was er schrieb, war von einer feurigen Fantasie, von einem besondern Geiste, der in die tiefste Tiefe schaute, beseelt. Sein unübertrefflicher Humor machte ihn zum angenehmsten, seine Gemüthlichkeit zum liebenswürdigsten Gesellschafter, den es nur geben konnte. (HE, 25) Doch als er einen Posten als Gesandter antreten soll, verschwindet er plötzlich und wird in einem verwilderten Zustand in den Alpen aufgegriffen. Erst die Behandlung in der »Irrenanstalt« in B. rettet ihn aus der »Tobsucht«. Hier stand Bamberg Pate, mit seiner Nervenklinik St. Getreu und deren seinerzeit sehr bekanntem ärztlichem Leiter, mit dem Hoffmann befreundet war. Es ist unklar, ob der Einsiedler aus der Anstalt flieht oder ob der Arzt ihn entkommen lässt, da »man ihn im Walde und dabei vollkommne Freiheit […] nach Willkür zu schalten und zu walten« lassen müsse. Die »vollkommne Freiheit«, die eigene Individualität zu leben, bedeutet die Freiheit, die eigene Wahrnehmung der Welt nicht der Wahrnehmung der anderen anpassen zu müssen. »Bis auf die Idee daß er der Einsiedler Serapion sei, der unter dem Kaiser Dezius in die Thebaische Wüste floh und in Alexandrien den Märtyrer-Tod litt, und was aus dieser folgte, schien sein Geist gar nicht zerrüttet.« Auch wenn der kluge Arzt ihn »für gänzlich unheilbar« hält (HE, 26), so will Cyprian, gestützt durch die Lektüre der seinerzeit bekannten Schriften über den Wahnsinn, einen Versuch unternehmen, »in Serapions verfinsterten Geist einen Lichtstrahl zu werfen« (HE, 27). Bezeichnend ist die hier verwendete Metaphorik der Aufklärung. Also sucht Cyprian Serapion auf und fragt ihn, wie es denn sein kann, dass er jemand zu sein vorgibt, der »›vor vielen hundert Jahren auf die jämmerlichste Weise umkam‹«. Serapion erwidert, hier schimmert die Ironie der Erzählung durch, »[…] daß es manchem der nicht weiter zu schauen vermag, als eben seine Nase reicht, sehr wunderbar klingen muß, allein es ist nun einmal so. Die Allmacht Gottes hat mich mein Märtyrertum glücklich überstehen lassen […]. Ein heftiger Kopfschmerz und eben so heftiges Ziehen in den Gliedern, nur das allein erinnert mich noch zuweilen an die überstandenen Qualen.« Als Cyprian alles versucht, ihm seine Wahnvorstellungen deut- Die Ironie der Erzählung <?page no="164"?> 151 e . t. a . h offm ann : D er e InS IeDler S era PIon (1819) lich zu machen, und ihn bittet, wieder Graf P. zu werden (HE, 29), erwidert Serapion: »Sie sind offenbar der ohnmächtigste von allen Widersachern die mir erschienen und ich werde sie mit ihren eignen Waffen schlagen, das heißt mit den Waffen der Vernunft. Es ist vom Wahnsinn die Rede, leidet einer von uns an dieser bösen Krankheit, so ist das offenbar bei Ihnen der Fall in viel höherem Grade als bei mir. […] Bin ich nun wirklich wahnsinnig, so kann nur ein Verrückter wähnen, daß er im Stande sein werde mir die fixe Idee, die der Wahnsinn erzeugt hat, auszureden. Wäre dies möglich so gäb’ es bald keinen Wahnsinnigen mehr auf der ganzen Erde, denn der Mensch könnte gebieten über die geistige Kraft die nicht sein Eigentum sondern nur anvertrautes Gut der höhern Macht ist, die darüber waltet. Bin ich aber nicht wahnsinnig und wirklich der Märtyrer Serapion, so ist es wieder ein törigtes Unternehmen mir das ausreden und mich erst zu der fixen Idee treiben zu wollen, daß ich der Graf P** aus M- und zu Großem berufen sei«. (HE, 30) Serapion erzählt von der Welt, in der er sich mit Dichtern der Weltliteratur wie Ariost, Dante und Petrarca unterhält und in der er die »wunderbarsten Ereignisse und Taten« beobachtet: »Viele haben auch das unglaublich gefunden und gemeint, ich bilde mir das nur ein, das vor mir im äußern Leben wirklich sich ereignen zu sehen was sich nur als Geburt meines Geistes, meiner Fantasie gestalte. Ich halte dies nun für eine der spitzfündigsten Albernheiten die es geben kann. Ist es nicht der Geist allein, der das was sich um uns her begibt in Raum und Zeit, zu erfassen vermag? Ja was hört was sieht, was fühlt in uns? - vielleicht die toten Maschinen die wir Auge - Ohr - Hand etc. nennen und nicht der Geist? - Gestaltet sich nun etwa der Geist seine in Raum und Zeit bedingte Welt im Innern auf eigne Hand und überläßt jene Funktionen einem andern uns innewohnenden Prinzip? - Wie ungereimt! Ist es nun also der Geist allein, der die Begebenheiten vor uns erfaßt, so hat sich das auch wirklich begeben was er dafür anerkennt«. (HE, 33 f.) Die außerordentliche Begabung Serapions zeigt sich in seiner Fähigkeit, Geschichten nicht nur zu erfinden, sondern vor seinen Augen zu sehen: »Serapion erzählte jetzt eine Novelle, angelegt, durchgeführt, wie sie nur der geistreichste, mit der feurigsten Phantasie begabte Dichter anlegen, durchführen kann« Eine besondere Begabung <?page no="165"?> 152 k la SS Ik unD r om antIk (HE, 34). Die andere Seite oder auch Bedingung dieser besonderen Begabung ist, dass Serapion nicht zwischen Realität und Fantasie unterscheiden, dass er nicht die Grenze zwischen der realen und der vorgestellten Welt sehen kann. Freilich wird dieses Problem in einem literarischen Text unter Freunden und als Teil einer Erzählung von einer Figur zur Diskussion gestellt, also als Erzählung in einer Erzählung, die fiktionsintern diskursiv verhandelt wird. Symbolischerweise stirbt der Einsiedler an einem 14. November, dem Tag des heiligen Serapion (HE, 36). Die Freunde diskutieren über Cyprians Geschichte, der ihren Wert darin sieht, dass sie »meinen Geist zum besonderen Aufschwung« gestärkt und belebt hat (HE, 37). Nach der Geschichte vom Rat Krespel nehmen die Freunde den Gesprächsfaden wieder auf und Lothar stellt fest: »Dein Einsiedler, mein Cyprianus, war ein wahrhafter Dichter, er hatte das wirklich geschaut was er verkündete, und deshalb ergriff seine Rede Herz und Gemüt. - Armer Serapion, worin bestand dein Wahnsinn anders, als daß irgend ein feindlicher Stern dir die Erkenntnis der Duplizität geraubt hatte, von der eigentlich allein unser irdisches Sein bedingt ist.« Die Duplizität betrifft die Unterscheidung »innere Welt« und »Außenwelt« (HE, 68). Lothar zieht daraus folgenden Schluss: »Jeder prüfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkünden unternommen, ehe er es wagt laut damit zu werden. Wenigstens strebe jeder recht ernstlich darnach, das Bild, das ihm im Innern aufgegangen recht zu erfassen mit allen seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten, und dann, wenn er sich recht entzündet davon fühlt, die Darstellung ins äußere Leben (zu) tragen.« Deshalb schlägt Lothar vor, Serapion zum »Schutzpatron« der kleinen Gesellschaft zu machen, »er lasse seine Sehergabe über uns walten« (HE, 69). Etwas weniger pathetisch bedeutet es für die Freunde, wie uns der Erzähler aus Theodors Perspektive erläutert, »daß sie überein gekommen sich durchaus niemals mit schlechtem Machwerk zu quälen« (HE, 70). Humor und Ironie der Erzählung und der Erzählung in der Erzählung sind mit Händen zu greifen. Schon die Worte »allein es ist nun einmal so« des Serapion, aber auch die Reduktion auf Die „Duplizität des Seins“ <?page no="166"?> 153 e . t. a . h offm ann : D er e InS IeDler S era PIon (1819) das Vermeiden von »schlechtem Machwerk« sind Distanzierungsmerkmale und lassen den Text - und damit seine Leser - in eine reflexive Schleife eintreten. Damit wird die kleine Erzählung über Serapion zum Betriebsprogramm der Sammlung. Keine Fiktion ohne Distanz, keine Lektüre ohne Kenntnis des Prozesshaften der Lektüre - ansonsten geht es dem Autor oder dem Leser wie Serapion, der sich, in einer Hütte im Wald lebend, als Heiliger in einer Wüste wähnt. Die Freiheit der Fiktion muss also notwendig Grenzen haben. Auch Freiheit ist ein relationaler Begriff. Zuviel Freiheit kann unfrei machen, wenn sie absolut gesetzt wird. Die Literatur ist in der Lage, Freiheit zu begründen und sinnvoll zu begrenzen, um die Möglichkeit zu haben, auch mit ihr umzugehen - zumindest in der Literatur. <?page no="168"?> 155 e . t. a . h offm ann : D er e InS IeDler S era PIon (1819) Vormärz, Realismus und Naturalismus 5.1. Einleitung 156 5.2. Heinrich Heine: Buch der Lieder (1827) 164 5.3. Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) 169 5.4. Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) 175 5.5. Georg Büchner: Woyzeck (1879) 179 5.6. Gerhart Hauptmann: Die Weber (1892) 183 5.7. Theodor Fontane: Effi Briest (1895) 187 Die deutschen Truppen siegen gegen Napoleon, aber die bürgerlichen Deutschen verlieren ihre Hoffnung in größere Freiheiten durch eine Verfassung in einem geeinten Deutschland. Angesichts der wiedererstarkten feudalen Ordnung und der territorialen Zersplitterung des 1815 gegründeten Deutschen Bundes wird die Literatur zunehmend politischer und radikaler. Die Zensur durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819 macht die Literatur unfrei, doch sie sucht sich andere Wege. Viele Texte üben an der Zensur vorbei indirekt Kritik. Autoren wie Heinrich Heine gehen ins Ausland. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 werden kritische Autoren entweder verfolgt und gehen ins Exil oder sie arrangieren sich mit den weiterhin feudalen Machtverhältnissen, erleichtert durch den zunehmenden Wohlstand dank der Industrialisierung, durch die Gründung der Kaiserreiche Österreich-Ungarn 1867 und Deutschland 1871. Zugleich entwickelt die Literatur ihre freie Formsprache weiter, Heine mit seinen post-romantischen Gedichten im »Buch 5. Inhalt Zusammenfassung <?page no="169"?> 156 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS der Lieder« oder mit den »Reisebildern«, Fontane mit dem kritischen Historischen Roman oder dem Zeitroman, während Texte von Autoren wie Georg Büchner bereits soziale Unfreiheit auf inhaltlich wie formal radikale Weise behandeln und so auf den kommenden Naturalismus vorausweisen. Einleitung Der Begriff des Biedermeier soll nicht unterschlagen werden, oftmals findet er sich als Epochenbezeichnung für die Zeit von 1815 (Ende des Wiener Kongresses) bis zur Revolution 1848. Man könnte ihn auch enger fassen, etwa von den Karlsbader Beschlüssen 1819, die jede öffentliche Meinungsäußerung einer strengen Zensur unterwarfen, bis zur Julirevolution in Frankreich von 1830, die auch im (1815 gegründeten) Deutschen Bund politische Folgen zeitigte. Allerdings steckt schon im Begriff selbst ein Widerspruch. Einerseits soll er den Rückzug ins Private bezeichnen, andererseits ist er von der Figur Gottlieb Biedermaier abgeleitet worden, die 1855 in den Münchner Fliegenden Blättern als Karikatur auf einen realen Dorfschullehrer auftauchte. Karikaturen sind aber nie unkritisch. 5.1. Biedermeier Erhard Joseph Brenzinger, Der Zug zum Hambacher Schloss am 27. Mai 1832 Abb. 5.1 <?page no="170"?> 157 e InleItung Das Widerständige der Epoche, die zahlreichen Versuche, mit allen denkbaren Mitteln die Zensur zu unterlaufen, betont der Begriff Vormärz - vor der Märzrevolution von 1848. Auch dieser Epochenbegriff wird unterschiedlich gebraucht. Das Enddatum steht fest, aber ob die Epoche 1819, 1830 oder 1840 - mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. von Preußen - beginnt, ist variabel. Außerdem gibt es noch die Bezeichnung ›Junges Deutschland‹ für eine Epoche oder Bewegung liberaler Autoren von 1830 bis 1835, bis zu dem Zeitpunkt, als die Schriften ihrer Vertreter durch den Deutschen Bundestag verboten und die Urheber dieser Schriften strafrechtlich verfolgt wurden. Der von den Schriftstellern Heinrich Laube (1806-84) und Ludolf Wienbarg (1802-72) geprägte Begriff wurde als Bezeichnung für das Verbot gewählt. Der bekannteste Vertreter des Jungen Deutschland wie auch des Vormärz ist Heinrich Heine, das Spektrum seiner Werke reicht von dem oft fälschlicherweise der Romantik zugerechneten Buch der Lieder (1827) über die Reisebilder (1826-31) bis zu den Versepen, allen voran Deutschland. Ein Wintermärchen (1844). Seit 1831 lebte Heine im Pariser Exil, mit Julius Campe (1792-1867) hatte er aber einen liberalen Verleger im vergleichsweise liberalen Stadtstaat Hamburg, so dass er satirische Pfeile insbesondere gegen das konservative Preußen schießen und den Boden für die Revolution von 1848 mit vorbereiten konnte. Heine schreibt nicht nur über Freiheit, er sorgt auch für mehr Freiheit im Umgang mit der Form. Die Bezeichnung Reisebilder beispielsweise wählt Heine bewusst, um eine offene Form zu schaffen, in die verschiedenste Gattungen integriert werden können. Anders als in der Romantik üblich geht es ihm aber nicht um eine Verschmelzung im Sinne einer transzendentalen Universalpoesie. Heine experimentiert gern mit tradierten Formen und Stoffen und ihm bietet eine solche Sammlung größerer Textmengen die Möglichkeit, die Vorzensur zu umgehen. Die neue Form wird prägend für die weitere Reiseliteratur, etwa für einen der Bestseller des 19. Jahrhunderts, Hermann Fürst von Pückler-Muskaus (1785-1871) Briefe eines Verstorbenen (1830 / 31). Das Besondere der Reisebilder wird in ihrer Zeit gleich erkannt: Man sah das Neue, Oppositionelle, Revolutionäre vielmehr im Genre und in der Schreibart selbst, sah es also in der Weise, wie da mit der Kunstidee, den Kunstprinzipien, der Kunstgesinnung der »ästheti- Vormärz Junges Deutschland Neue Formen <?page no="171"?> 158 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS schen Epoche« und das heißt der Goethezeit gebrochen wurde. Nicht erst durch bestimmte Themen und Ansichten galt Heines Prosa als Politicum, sondern schon als literarisches Phänomen. (Heine 1994d, Bd. 2, 859) Gegen die Begrenzung der Freiheit durch Zensur wendet sich direkt das Kapitel XII von Ideen. Das Buch Le Grand, in dem sich vor allem durch Gedankenstriche symbolisierte Streichungen finden. Stehengeblieben sind lediglich drei Worte am Anfang und eines nach der Mitte: »Die deutschen Zensoren« und »Dummköpfe« (Heine 1994c, 212). Heine führt so literarisch-praktisch nicht nur die Folgen von Zensur vor, sondern auch den Ungeist, der sie auslöst. Durch die Zensur war die Literatur für die Herstellung einer politischen Öffentlichkeit besonders wichtig, wie auch andere Autoren und Texte zeigen, etwa die erfolgreiche Sammlung Gedichte eines Lebendigen (1841 / 43) von Georg Herwegh (1817-75). Darin finden sich der berühmt gewordene Aufruf, der wie folgt beginnt: Reißt die Kreuze aus der Erden! Alle sollen Schwerter werden, Gott im Himmel wird’s verzeihn. Laßt, o laßt das Verseschweißen! Auf den Amboß legt das Eisen! Heiland soll das Eisen sein. Eure Tannen, eure Eichen - Habt die grünen Fragezeichen Deutscher Freiheit ihr gewahrt? Nein, sie soll nicht untergehen! Doch ihr fröhlich Auferstehen Kostet eine Höllenfahrt. (Herwegh 1977, 33) Der Aufruf zur Revolution wird mit dem Begriff der Freiheit enggeführt, so in dem ebenso programmatisch wie imperativisch Der Freiheit eine Gasse! betitelten Gedicht, das mit folgender Strophe endet: Wenn alle Welt den Mut verlor, Die Fehde zu beginnen, Tritt du, mein Volk, den Völkern vor, Laß du dein Herzblut rinnen! Zensur und Öffentlichkeit <?page no="172"?> 159 e InleItung Gib uns den Mann, der das Panier Der neuen Zeit erfasse, Und durch Europa brechen wir Der Freiheit eine Gasse! (Herwegh 1977, 37 f.) »Freiheit« ist das Schlüsselwort der Epoche. Hier wird allerdings Theodor Körners Aufruf von 1813 zitiert, ein Gedicht, in dem die Gasse der Freiheit nur durch tödlichen Kampf zu schlagen war. Gemeint ist politische Freiheit in Gestalt eines geeinten Deutschland mit einer Verfassung, in der die Beteiligung der (männlichen) Bürger an der politischen Partizipation festgeschrieben wird. Allerdings ist der Begriff der Freiheit ein kämpferischer und paradoxer. Mit Versen wird dazu aufgerufen, das »Verseschweißen« zu lassen und zur Waffe zu greifen. Das Gedicht wird nicht nur zu einem Mittel im politischen Kampf gegen den Absolutismus, es steht auch für eine aus der ›verspäteten Nation‹ (Helmuth Plessner) resultierende Hybris. Herwegh nimmt erkennbar Bezug auf Körners Lyrik der Befreiungskriege, die Verbindung von Freiheit und Gewalt wird aktualisiert und in den Kontext einer neuen, auch sozialen Bewegung gestellt. Wie andere Autoren der Zeit, etwa Georg Weerth (1822-56), stand Herwegh Karl Marx (1818-83) nahe. Dennoch findet sich der Wunsch nach einem Anführer (»Gib uns den Mann«), ein weit verbreiteter Wunsch, den sich später Otto von Bismarck (1815-98) zunutze machen sollte. Auch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) stellt sich in seinem 1841 auf Helgoland geschriebenen, gegen den Absolutismus gerichteten Lied der Deutschen, das im 20. Jahrhundert zum Text der deutschen Nationalhymne werden sollte, in die problematische Tradition von Körner zu Herwegh und anderen, indem er eine Verbindung von Freiheit und (deutschem) Messianismus postuliert. Die heute nicht mehr gesungene erste Strophe beginnt bekanntlich mit den Versen: »Deutschland, Deutschland über alles, / Über alles in der Welt« (Neuhaus 2002a, 147). Es ist erstaunlich, dass eine operative Auffassung von Lyrik, die eine Supremität Deutschlands und, bei Körner wie Herwegh, Gewalt als Mittel der Politik fordert, keine größere kritische Debatte auszulösen vermochte. Auch hätte ein anderer Text als der durch den Nationalsozialismus kontaminierte für die Nationalhymne gefun- Freiheit als Schlüsselwort »Das Lied der Deutschen« <?page no="173"?> 160 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS den werden können. Möglichkeiten dafür hätte es gegeben (Neuhaus 2002a, 288-291). Deutlich und früh thematisierte Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848), in ihrer Lyrik und vor allem in der heute ebenfalls kanonischen Erzählung Die Judenbuche (1842), den sozialen Umbruch, der Stil weist auf den Naturalismus voraus. Dies gilt ebenso für das Werk des früh verstorbenen und erst viel später entdeckten Georg Büchner (1813-1837). Seine Flugschrift Der Hessische Landbote (1834) gehört zur operativen Literatur der Vormärzzeit, aber seine Theaterstücke, allen voran Woyzeck, ein 1837 entstandenes und erst 1879 veröffentlichtes Dramenfragment, wirkten zeitversetzt auf Naturalismus und literarische Moderne. Zwar hatte die Revolution zunächst Erfolg, es kam zur Versammlung in der Frankfurter Paulskirche und zum Entwurf einer ersten gesamtdeutschen Verfassung. Doch konnten die regierenden Fürsten 1849 das Rad der Geschichte erneut zurückdrehen und die politische Macht wieder erobern. Schon der Deutsche Bund hatte, obwohl es sich um einen losen Bund von über 40 Einzelstaaten unterschiedlicher Größe handelte, bereits zu Reformschüben geführt, insbesondere durch Beseitigung von Zollschranken und weiteren wirtschaftlichen oder territorialen Hindernissen. Mit dem Ausbau der Verkehrswege, insbesondere des Eisenbahnnetzes, wurden dann die Voraussetzungen für eine durchgreifende Industrialisierung geschaffen, die auch die weiteren politischen Entwicklungen beeinflusste. 1860 kam es zum Krieg gegen Dänemark um Schleswig-Holstein, aus dem vor allem Preußen gestärkt hervorging, 1866 zum Krieg Preußen gegen Österreich um die Vorherrschaft im Deutschen Bund und 1870 / 71 zum Deutsch-Französischen Krieg mit der Folge der Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreichs unter der Führung Preußens und unter Ausschluss Österreichs. Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen (1797-1888) regierte seit 1858 Preußen, wurde 1861 zum König gekrönt, war von 1866 an Präsident des Norddeutschen Bundes und seit 1871 Deutscher Kaiser. Architekt der Macht Wilhelms I. war allerdings Otto von Bismarck. Die Reichsgründung war eine konservative, das Parlament hatte kaum Rechte und wurde von dem zum Reichskanzler ernannten Bismarck nach Kräften manipuliert. Der wirtschaftliche Erfolg sorgte für relative Stabilität, die auch unter dem (nach kurzer Regentschaft Die soziale Frage Reformen und Kriege Die Reichsgründung <?page no="174"?> 161 e InleItung des todkranken Friedrich III.) Nachfolger Wilhelm II. (1859-1941) zunächst andauerte. Allerdings sorgten die Bestrebungen des Kaisers und seiner Führung, die eigene Macht innerhalb und außerhalb von Europa, etwa durch Kolonien, immer weiter auszubauen, für Krisen und sie waren mitursächlich für den Ausbruch des ›großen Krieges‹. Der Erste Weltkrieg 1914 führte zum Untergang auch der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn (1867-1918). Die konservative Politik nach 1849 mit ihren vorsichtigen Reformen hatte eine Mischung aus Resignation und Hoffnung zur Folge. 1855 erschien mit Soll und Haben ein Roman, der den Beginn des bürgerlichen oder poetischen Realismus markiert. Gustav Freytag (1816-95) wurde zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Autoren, auch wenn sein Werk starke Anleihen bei den Romanen von Charles Dickens (1812-70) nimmt und nicht nur mit der Zeichnung der Figur Veitel Izig antisemitische Tendenzen aufweist. Dazu kommen antipolnische Töne, die man aus heutiger Sicht durchaus als fremdenfeindlich bezeichnen kann. Freytags Romanserie Die Ahnen (1872-80) versucht mit literarischen Mitteln eine teleologische Geschichte des Deutschen Reichs zu erzählen - alles steuert auf die Reichsgründung von 1871 zu. Das Epigonale und betont Nationale der Romankonzeption bei Freytag ist typisch für die restaurativen Jahrzehnte bis zum Naturalismus. Erfolgreich sind auch den aufkommenden Nationalismus in historischem Gewand feiernde Romane wie Ein Kampf um Rom (1876) von Felix Dahn (1832-1912), ein triviales, Gewalt verherrlichendes, aber spannendes Werk, das sich noch lange als Jugendbuch großer Beliebtheit erfreute. Die meisten angesehenen Autoren dieser Epoche sind, weil sie literarisch nicht innovativ waren, heute weitgehend vergessen. Das gilt auch für den Lyriker Emanuel Geibel (1815-84), dessen Vers »Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen« symptomatisch für eine Literatur ist, die sich politisch den im Kaiserreich herrschenden konservativen Tendenzen anpasste. Geibels Gedicht Deutschlands Beruf von 1861 schließt nicht zufällig in einem Begriffspaar »Macht und Freiheit« zusammen, handelt es sich doch um eine Auffassung von Freiheit, die sich der herrschenden konservativen Macht unterordnet und so den Feudalismus wieder in sein altes Recht einsetzt; lautet die zweite Hälfte dieser Verszeile doch »Recht und Sitte« (Neuhaus 2002a, 156). Folgen der konservativen Politik <?page no="175"?> 162 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS Die heute noch gelesenen Texte des Realismus stammen von Autoren, die seinerzeit eher einen mittleren Bekanntheitsgrad und auch eine kritische politische Haltung hatten. Zum Wegbereiter des Naturalismus wird der heute bekannteste Autor des bürgerlichen Realismus, Theodor Fontane. Sein Leben ist paradigmatisch für das 19. Jahrhundert. Der gelernte Apotheker wendet sich zunächst Shakespeare und in eigenen Gedichten der virulenten sozialen Frage zu, 1848 sympathisiert er mit den Revolutionären in Berlin, auch wenn seine Rolle eher die eines Statisten gewesen sein dürfte. Er hat sich allerdings schon vorher in konservativen (Adels-)Kreisen bewegt und er wird nach dem Scheitern der Revolution, vermittelt durch einen Freund, zum journalistischen Mitarbeiter der preußischen Regierung und der ultrakonservativen Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung, bei der er dann auch als Redakteur beschäftigt ist, bevor er kündigt und sich als freiberuflicher Schriftsteller über Wasser hält. Erfolg hat Fontane zunächst durch seine Bücher über die ›Einigungskriege‹ 1860, 1866 und 1870 / 71, aber auch durch die als patriotische Reiseschilderungen (miss-) verstandenen Wanderungen durch die Mark Brandenburg (der erste Band erschien 1862), bevor er mit Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13 (1878) im Alter von 59 Jahren als Romanautor debütierte. Sein später Roman Effi Briest (1895) dürfte aus heutiger Sicht sein bekanntestes Werk sein. Am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere beschreibt Fontane in Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853) die beginnende Epoche: »Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus« (Fontane 1979a, 38). Jahrzehnte später wird der etablierte Theaterkritiker der angesehenen Vossischen Zeitung, als Seismograph literarischer Entwicklungen, den Naturalismus enthusiastisch begrüßen. Die Uraufführung von Gerhart Hauptmanns (1862-1946) Drama Vor Sonnenaufgang sieht er 1889 als »Beweis dafür, daß die großen Wirkungen auf der Bühne […] immer nur von erst ›Werdenden‹ ausgehn« (Fontane 1979b 4, 208). Weitere bekannte Autoren des Realismus sind Theodor Storm (1817-88), Wilhelm Raabe (1831-1910), der Vater der modernen österreichischen Literatur, Adalbert Stifter (1805-68), und der Vater der modernen schweizer Literatur, Gottfried Keller (1819-90), zu denen ebenfalls viel zu sagen wäre. Stifters Naturschilderungen, etwa in Der Nachsommer (1857), sind von großer Realismus Naturalismus <?page no="176"?> 163 e InleItung sozialer und psychologischer Abgründigkeit. Kellers Novellensammlung Die Leute von Seldwyla (1856-75) zeichnet ein ironisches Panorama nicht nur der damaligen Gesellschaft der Schweiz. Storms Der Schimmelreiter (1888) gehört eher in die Spätphase der Epoche und zählt auch heute noch zu den meistgelesenen Novellen der deutschsprachigen Literatur. Bedeutende Bühnenwerke hat der Realismus nicht hervorgebracht, dafür zeichnet sich gerade der Naturalismus durch seine Dramenproduktion aus. Die Stücke von Gerhart Hauptmann sorgen für Theaterskandale, vor allem Vor Sonnenaufgang (1889) und Die Weber (1892). Hauptmann und andere, etwa Arno Holz (1863-1929) und Johannes Schlaf (1862-1941) mit Die Familie Selicke (1890), konzentrieren sich auf die unteren Schichten, das Kleinbürgertum und die Arbeiterschaft, deren soziale Notlage sie ebenso zum Thema machen wie private und emotionale Krisen. Erstmals werden auf der Bühne relativ offen Belastungen der Prägung durch Familie und Schicht, Probleme durch sexuelles Verlangen und Alkoholmissbrauch verhandelt. Obwohl Arno Holz die Devise ›Kunst = Natur - x‹ ausgegeben hat, zeichnet sich die Literatur des Naturalismus dennoch durch ihre ausgefeilte Symbolik und starke Metaphorik aus, also durch den Gebrauch literarischer Mittel. Aus der Reihe tanzt Wilhelm Busch (1832-1908), der mit seinen Bildergeschichten, die bekannteste ist Max und Moritz (1865), als Großvater des Comics gilt. Die fromme Helene (1872) ironisiert auf exemplarische Weise die bürgerliche Gesellschaft der Zeit. Die angeblich so fromme Helene betrügt ihren wohlhabenden Ehemann mit ihrem Vetter Franz, der wiederum, weil er dem Küchenpersonal nachstellt, von einem eifersüchtigen Bedienten erschlagen wird. Helene widmet sich dem Gebetbuch und dem Alkohol, getreu dem Motto: »Wer Sorgen hat, hat auch Likör! « (Busch 1986, 105). Schließlich setzt sie sich in betrunkenem Zustand aus Unachtsamkeit selbst in Brand. Die ironische Lehre wird von der Figur eines Spießers verkündet: »Das Gute - dieser Satz steht fest - / Ist stets das Böse, was man läßt! « (Busch 1986, 118). Die Figuren sind eingebunden in gesellschaftliche Strukturen, folgen aber auch ihren persönlichen Trieben. Beides macht sie unfrei. Was individuelle Freiheit sein und wie eine Ordnung aussehen kann, die Freiheit ermöglicht, ist die von der Vorstellung des Lesers zu füllende Leerstelle. Das „Kunstgesetz“ Bildergeschichten als Bürgersatiren <?page no="177"?> 164 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS Die Auffassungen von Freiheit reichen vom konservativ-bewahrenden, aufgeklärten Absolutismus über die Vorstellung eines einigen Deutschlands (nur: in welchen Grenzen? ) mit einer das Bürgertum an der Macht beteiligenden Verfassung bis zur Forderung einer Republik. Ebenso strittig ist, wie legitim Gewalt als Mittel im politischen Kampf sein kann. Dazu werden Fragen individueller Freiheit verhandelt, die sich eher auf die sozialen Bindungen beziehen, auf Kirche und Arbeit, Familie und Freunde. Welche Möglichkeiten kann oder sollte es geben, den Partner frei zu wählen? In Schillers Dramen sind die individuellen und kollektiven Freiheiten noch eng verknüpft, doch gibt es in Fontanes Romanen keine klaren Konzepte mehr, unter welchen Voraussetzungen Figuren frei sein können. Im 20. Jahrhundert wird die Literatur auf den Widerspruch von konservativen Ordnungsrahmen und Modernisierungsschüben in Wissenschaft, Wirtschaft und sozialem Miteinander mit radikalen Veränderungen reagieren. Glaser, Horst Albert (Hg.): Vom Nachmärz zur Gründerzeit: Realismus: 1848-1880. Reinbek: Rowohlt 1992 (Deutsche Literatur: Eine Sozialgeschichte 7). Huyssen, Andreas (Hg.): Bürgerlicher Realismus. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart: Reclam 1999 (Die deutsche Literatur in Text und Darstellung 11 / RUB 9641). Vaßen, Florian (Hg.): Vormärz. Stuttgart: Reclam 2012 (Die deutsche Literatur in Text und Darstellung 10 / RUB 9637). Witte, Bernd (Hg.): Vormärz: Biedermeier, Junges Deutschland, Demokraten: 1815-1848. Reinbek: Rowohlt 1987 (Deutsche Literatur: Eine Sozialgeschichte 6). Heinrich Heine: Buch der Lieder (1827) »Heines Werke gehören seit langem zu dem, was wir Weltliteratur nennen« (Kruse 2005, 120). Die Wirkung Heines fußt aber vor allem auf dem Erfolg des Buchs der Lieder: »Seine Lieder sind zum Inbegriff romantischen, ja - welche Ironie des Schicksals - deutschen Dichtens schlechthin geworden« (Heine 1994d 1, 493). Auch heute ist selbst jenen, die den häufig, etwa von Robert Schumann (1810-56), vertonten (Kruse 2005, 122) Heine nicht mehr kennen, zumindest der Text über den Lorelei-Felsen am Rhein bekannt, wobei es sich gar nicht um ein einzelnes Gedicht, sondern um den Beginn des Zyklus Die Heimkehr handelt. »Das Buch der Lieder besteht aus insgesamt fünf Abteilungen« (Kruse 2005, 76), die sehr heterogen gestaltet sind. Fragen individueller Freiheit und sozialer Bindung Lektürehinweise 5.2. Der Erfolg Heines <?page no="178"?> 165 h eInrIch h eIne : b uch Der l IeDer (1827) Die Rezeptionsgeschichte Heines ist von Problemen geprägt und von Brüchen durchzogen. 1 Dass er gegen die vom Feudalismus geprägte Machtausübung im Deutschen Bund und für individuelle Freiheiten eintrat und dies virtuos in Literatur transformierte, hat man ihm im überwiegend konservativ geprägten Deutschland lange Zeit ebenso übelgenommen wie seine Herkunft als Jude (wie viele Juden hat er sich assimiliert und taufen lassen, das war 1825). Die Nationalsozialisten bemühten sich, den Juden und Dichter der Freiheit aus dem kollektiven Gedächtnis zu entfernen, mussten aber ein Zugeständnis machen, indem sie das Loreley- Gedicht anonymisierten. Es »firmierte nun unter ›Dichter unbekannt‹« (Ziegler 1997, 108). Sogar in der jüngeren Geschichte finden sich Beispiele. Die Universität Düsseldorf hat sehr lange für die Entscheidung benötigt, den berühmten Sohn der Stadt zu ihrem Namenspatron zu wählen (Kruse 2005, 131). Das Buch der Lieder steht in der Tradition der ›Volkspoesie‹ Johann Gottfried Herders. Im Unterschied dazu handelt es sich bei Heines Veröffentlichung aber um neue Gedichte, die auf bekannte Themen, auf Stoffe und Motive ›volkstümlicher‹ Literatur auf spielerische Weise zurückgreifen. Dabei sind Heines Gedichte, anders als jene der ›Volkspoesie‹, durchweg ironisch. In der Rezeption hat das Kunstvolle und Ironische weniger eine Rolle gespielt, die Gedichte wurden und werden auch heute noch, wenn man an den Umgang mit dem Loreley-Stoff im Mittelrheintal denkt, für eine angeblich historische Tradition in Anspruch genommen. 1 Die Forschung hat mit dem Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf ein starkes Standbein. Über das Heinrich-Heine-Portal (URL: http: / / www.hhp.uni-trier.de, abgerufen am 3. 12. 2016) ist die Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA) mit Ergänzungen online zugänglich und elektronisch durchsuchbar. Mit Hilfe der DHA lassen sich auch die verschiedenen Fassungen und Bearbeitungsstufen des Buchs der Lieder, auf die hier nur hingewiesen werden kann, genauestens nachvollziehen. Tradition und Ironie Heinrich Heine, 1831, Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim Abb. 5.2 <?page no="179"?> 166 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS Heines Gedicht hat einen Vorläufer, Clemens Brentanos Ballade Zu Bacharach am Rheine (1801). Der Kern der Handlung selbst geht auf die Strömungen in dem engen und kurvigen Stück des größten deutschen Flusses zurück. Im Mittelalter gab es wenige naturwissenschaftliche Erkenntnisse und viele Erklärungen für Naturphänomene, die sich aus dem Reservoir verschiedenster Mythentraditionen bedienten. Schon der erste Gedichtzyklus des Buchs der Lieder, Junge Leiden betitelt, gibt den Ton des Bandes vor, der zwischen melancholischer Sehnsucht auf der einen und der Ironisierung eines solchen Gefühls auf der anderen Seite pendelt. Der Anfang lautet: »Mir träumte einst von wildem Liebesglühn«, doch ist dieser Traum ausgeträumt und weiter unten findet sich ein weiterer Traum, in dem sich das lyrische Ich als Bräutigam sieht und sein »Liebchen, süß und traut« fragt: »›Sind Sie Braut? / Ei! ei! so gratulier ich, meine Beste! ‹« (HB, 31). Witzig wird selbst der Gebrauch des Reims: Sie saßen und tranken am Teetisch, Und sprachen von Liebe viel. Die Herren die waren ästhetisch, Die Damen von zartem Gefühl. (HB, 46) »Teetisch« mit »ästhetisch« zu kombinieren lässt sich satirisch lesen, denn was hier beschrieben wird, ist eine Gesellschaft, die viel spricht und sich konventionell verhält, aber nicht handelt - aus ästhetischen Herren und Damen von zartem Gefühl dürfte so schnell kein Liebespaar werden. Der erwähnte Beginn des Zyklus Die Heimkehr (mit der Datierung 1823-24) lautet wie folgt: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, Daß ich so traurig bin; Ein Mährchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. Die Luft ist kühl und es dunkelt, Und ruhig fließt der Rhein; Der Gipfel des Berges funkelt Im Abendsonnenschein. Ironisch gebrochene Sehnsucht <?page no="180"?> 167 h eInrIch h eIne : b uch Der l IeDer (1827) Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar, Ihr goldnes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldnes Haar. Sie kämmt es mit goldenem Kamme, Und singt ein Lied dabei; Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei. Den Schiffer im kleinen Schiffe Ergreift es mit wildem Weh; Er schaut nicht die Felsenriffe, Er schaut nur hinauf in die Höh. Ich glaube, die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen Die Lore-Lei gethan. (HB, 49) Schon die erste Zeile wirft ein zweifelhaftes Licht auf die kommende Schilderung. Da es eine Handlung gibt, gibt es einen Erzähler, der ein »Märchen aus alten Zeiten« wiedergibt, das ihn hat »traurig« werden lassen, ohne dass er weiß warum und ohne dass er das Ende genau kennt, von dem er nur sagen kann, er »glaube«, dass »Schiffer und Kahn« untergehen. Deshalb wirkt die Schuldzuweisung am Ende auch fragwürdig. Das Gedicht unterläuft durch Ironie seinen romantischen Gestus. Es arbeitet geschickt mit Gegensätzen und Superlativen, es erweckt auf diese Weise ein starkes Gefühl der Sehnsucht: Die »schönste Jungfrau« - ein begehrender Mann; sie oben - er unten; sie reich - er arm. Erzählt wird die uralte Geschichte der Verführung durch eine schöne Frau, wie sie im Sirenen-Mythos bereits in Homers Odyssee Gestalt angenommen hat. Die Frau wird als erotische Gefährdung für den Mann dargestellt, der an seinem Begehren zugrunde geht. Und doch wird dieses stereotype Muster durch Relativierungen ironisch unterlaufen: Ein Ich meldet sich zu Wort, erzählt ein »altes Märchen« und weiß nicht so genau, was es dabei empfindet und wie es weitergeht. Die meisten Gedichte des Bandes (immer als Teile von Zyklen) arbeiten mit ähnlichen Mustern der Verfremdung, Relativierung und Ironisierung, sei es auch nur dadurch, dass sie Erwartungen übererfüllen oder ins Leere laufen lassen. Der Volksliedton wird Ein Spiel mit Traditionen <?page no="181"?> 168 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS variiert und durch originelle, sich der Chiffre nähernde Metaphern oder Symbole ergänzt: Ein Fichtenbaum steht einsam Im Norden auf kahler Höh. Ihn schläfert; mit weißer Decke Umhüllen ihn Eis und Schnee. Er träumt von einer Palme, Die, fern im Morgenland, Einsam und schweigend trauert Auf brennender Felsenwand. (HB, 43 f.) In der Sammlung finden sich viele bekannte Balladen, etwa Seegespenst (als 10. Teil des Zyklus Die Nordsee), ein Text, der in Theodor Fontanes Roman Effi Briest eine wichtige Rolle spielt. Der Ich-Erzähler sieht ins Meer und hat die Vision einer untergegangenen Stadt, in der er ein »Mädchen« entdeckt, das er kennt (HB, 71) und auf »der ganzen Erde« gesucht hat, seine »Immergeliebte«, zu der er sich hinabstürzen will: »Aber zur rechten Zeit noch / Ergriff mich beim Fuß der Kapitän, / Und zog mich vom Schiffsrand, / Und rief, ärgerlich lachend: / Doktor, sind Sie des Teufels? « (HB, 72) Die bekannteste Ballade des Bandes dürfte Belsatzar sein. Der klangvolle, bis in die Wahl der Vokale hinein präzise gearbeitete Text greift auf ein biblisches Motiv zurück und schildert den Aufstand gegen einen Herrscher, der Gott lästert. Belsatzar ist sich seiner eigenen Macht allzu sicher und erhebt sich über die Religion: »Der König rief mit stolzem Blick; / Der Diener eilt und kehrt zurück. / / Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt; / Das war aus dem Tempel Jehovas geraubt« (HB, 37). Nach dem gotteslästernden Spruch wird es »leichenstill« und an der Wand erscheint eine Schrift aus »Buchstaben von Feuer«, die von Menschen, selbst von herbeigerufenen ›Magiern‹, nicht zu »deuten« ist: »Belsatzar ward aber in selbiger Nacht / Von seinen Knechten umgebracht« (HB, 38). Abgesehen von dem bekannten Balladen-Motiv der Hybris darf nicht übersehen werden, dass es ein König ist, der durch eine Palastrevolution beseitigt wird. Liest man den Text als Parabel auf die politischen Verhältnisse der Zeit, dann wird der Machtfülle von Feudalherrschern eine Absage erteilt. Heine ist sich der lyrischen Traditionen sehr bewusst, das zeigt beispielsweise auch das Gedicht Die Götter Griechenlands, dem er Bekannte Balladen <?page no="182"?> 169 a nnette von D roSte -h ülShoff : D Ie J uDenbuche (1842) somit den gleichen Titel gibt wie einem bekannten Gedicht von Friedrich Schiller. Schiller preist die antike Götterwelt und setzt sie positiv von der monotheistischen christlichen Welt ab, um das Lob der antiken Götterwelt zu einer Apotheose der Literatur zu verdichten, hier die berühmten beiden Schlussverse: »Was unsterblich im Gesang soll leben, / Muß im Leben untergehn« (Schiller 1981f 1, 173). Das Gedicht Heines setzt sich deutlich von der Rezeption der antiken Klassik durch die Weimarer Klassik ab: »Ich hab euch niemals geliebt, ihr Götter! / Denn widerwärtig sind mir die Griechen, / Und gar die Römer sind mir verhaßt.« Es ist der Status der Götter, es ist ihre Macht, die hier problematisch wird, deshalb werden sie bereits mit Wolken assoziiert, die vorüberziehen. Der Schluss von Heines Gedicht ist ironisch zu verstehen: »Und siegreich traten hervor am Himmel / Die ewigen Sterne« (HB, 85). Heine steigert die Bedeutung von individueller Freiheit noch einmal. Schillers Text setzt die griechischen Götter als lustvoll-gerechte Herrscher wirkungsvoll von den Feudalherrschern der eigenen Zeit ab, während Heines Text das Herrschertum allgemein dem kritischen Spott preisgibt. Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) Die mit »Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen« untertitelte Erzählung, entstanden in der Vormärzzeit, ist wenige Jahrzehnte später in eine bekannte Sammlung namens Deutscher Novellenschatz und damit in den Kanon eingegangen und seither Bestandteil von Literaturgeschichten und Schullektüren. Die Autorin hat vor allem Gedichte geschrieben, sie ist besonders für ihre Balladen bekannt, allen voran Der Knabe im Moor mit dem berühmten Anfang: »O schaurig ists übers Moor zu gehn« (Droste-Hülshoff 1984, 68). Die kurze Ballade ist im selben Jahr wie die Erzählung Die Judenbuche erschienen und steht Heine und Schiller 5.3. Porträt der Annette von Droste-Hülshoff, 1838, Gemälde von Johann Joseph Sprick Abb. 5.3 <?page no="183"?> 170 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS am Beginn eines 1844 veröffentlichten Zyklus von zwölf Gedichten. Gemeinsam mit den anderen Heidebildern entfaltet sie ein Panorama der Gesellschaft der Zeit einer typischen Region im deutschsprachigen Raum. Die Naturerfahrung betont zwar das Magische, den Glauben und den Aberglauben, aber stets aus der Perspektive der Figuren, die ihrer Herkunft und Sozialisation verhaftet sind. Die Wahrnehmung der Natur ist keine romantische mehr, als symbolischer Spiegel sozialer Missverhältnisse weist sie auf den Naturalismus voraus. Auch die Betonung des Regionalen, wie sie etwa in der Sprache mit ihren Orts- und Dingbezeichnungen und ihrem Dialekt zum Ausdruck kommt, gibt den Texten der Autorin eine frühnaturalistische Färbung. So gibt es ein Mergelgrube überschriebenes Gedicht (Droste-Hülshoff 1984, 94), auch der Protagonist der Erzählung Die Judenbuche heißt Friedrich Mergel. Mergel bezeichnet ein Sedimentgestein aus Ton, von dem das Adjektiv ›ausgemergelt‹ abgeleitet ist (DJ, 3). Der Name passt zur Figur der Erzählung, die Not leidet und deren Handeln aus der sozialen Situation heraus erklärbar wird. Das unerhört Moderne des Texts aber ist die Verschränkung unterschiedlicher Motive ohne klare Gewichtung und ohne sie in ihrer Bedeutungsstruktur aufzulösen. Als Konsens heutiger Forschung kann gelten, dass gerade diese Offenheit innovativ ist (DJ, 85-98; Mecklenburg 2016). Sie steht im Widerspruch zu der Folie der ›wahren‹ Begebenheit, von der die Autorin durch ihren Onkel erfuhr (DJ, 71-78) und auf die von der Erzählung abschließend noch einmal hingewiesen wird: »Dies hat sich nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September des Jahres 1788« (DJ, 58). Die Erzählung wird durch ein Gedicht als Motto eröffnet, die letzten Zeilen lauten: »Leg hin die Waagschal’, nimmer dir erlaubt! / Lass ruhn den Stein - er trifft dein eignes Haupt! « Es handelt sich um ein Bibelzitat (»Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie«; Joh. 8,7). Kontrastierend zu dem poetischen Einstieg ist der berichtartige Anfang: »Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohn eines sogenannten Halbmeiers oder Grundeigentümers geringerer Klasse im Dorfe B. […].« Der Ort wird als prototypisch ausgewiesen: »[…] ein Fleck, wie es deren sonst so viele in Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tugenden, all der Originalität und Beschränktheit, wie sie nur in solchen Zuständen gedeihen« (DJ, 3). Dabei bekommt gerade die- Soziale Missverhältnisse <?page no="184"?> 171 a nnette von D roSte -h ülShoff : D Ie J uDenbuche (1842) ser Ort eine paradigmatische Bedeutung zugewiesen: »Das Dorf B. galt für die hochmütigste, schlauste und kühnste Gemeinde des ganzen Fürstentums.« Mit dem die Lage näher bezeichnenden Begriff der »Waldeinsamkeit« (DJ, 4) wird auf einen der zentralen literarischen Begriffe der Romantik verwiesen, ihn hat Ludwig Tieck in seiner berühmten Märchennovelle Der blonde Eckbert (1797) geprägt (Tieck 1990, 9). Der Verweis dürfte nicht zufällig sein, auch die Handlungsstruktur von Tiecks Novelle ist nicht auflösbar, sie lässt offen, ob der Protagonist wahnsinnig oder zum Mörder geworden ist. Wichtig für die weitere Handlung ist die Erläuterung: »Unter höchst einfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung geraten […]« (DJ, 3). Es gebe neben dem Gesetz »ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachlässigung entstandenen Verjährung« (DJ, 4). So gehören beispielsweise »Holzfrevler« zum Alltag, die sich ohne Bedenken im Wald der Gutsbesitzer bedienen: »In diesen Umgebungen ward Friedrich Mergel geboren […]« (DJ, 5). Die unklaren Werte des Kollektivs korrespondieren mit der individuellen Situation, mit der Lage, in der sich sein Elternhaus befindet: »Freilich hatten Unglücksfälle manches hiervon herbeigeführt; doch war auch viel Unordnung und böse Wirtschaft im Spiel. Friedrichs Vater, der alte Hermann Mergel, war in seinem Junggesellenstande ein sogenannter ordentlicher Säufer.« Die Ironie wird in dem Attribut ›ordentlich‹ ebenso deutlich wie in der Namensgebung. Der Vater heißt nach der deutschnationalen Mythengestalt der Schlacht im Teutoburger Wald, in dessen Nähe die Handlung der Erzählung spielt (DJ, 13 f.), und der Sohn trägt den Namen des legendären Preußenkönigs. Friedrich ist der Sohn aus Hermann Mergels zweiter Ehe. Hermann hat seine erste Frau verlassen, weil er sie misshandelt hat. Die zweite Frau, Margareth Semmler, eine ehemalige »Dorfschönheit« (DJ, 6), ist schon älter und heiratet ihn, weil sie glaubt, dass es nur an ihr liegt, wenn sie »übel behandelt wird«. Doch kommt es anders, als sie denkt: »Der Erfolg zeigte leider, dass sie ihre Kräfte überschätzt hatte« (DJ, 7). Der Vater wird später tot im Wald gefunden (DJ, 9), es wird angedeutet, dass er Opfer einer Gewalttat geworden ist (DJ, 11). Doch auch die Mutter ist kein Engel. Sie lässt Haus und Hof verkommen und sie hat unklare Begriffe von Recht und Unrecht sind fragwürdig geworden <?page no="185"?> 172 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS Recht und Besitz, so meint sie zu ihrem Sohn: »›Höre, Fritz, das Holz lässt unser Herrgott frei wachsen und das Wild wechselt aus eines Herren Lande in das andere […]« (DJ, 10 f.). Sie ist hochmütig, gehört sie doch zu jenen, die »wie die meisten Menschen« ihren eigenen Rat »für unschätzbar hielt« (DJ, 21). Ihr Bruder Simon, der Friedrich unter seine Fittiche nimmt, als dieser zwölf ist, gehört vermutlich, neben anderen krummen Geschäften, die er unterhält, zu einer Bande von Holzdieben (DJ, 51). Der religiöse Hintergrund der Symbolik und der Zeichnung der im Glauben fest verankerten Figuren wirkt nicht tröstend, sondern unheimlich, so ist beispielsweise immer wieder vom Teufel die Rede, auch doppeldeutig zu lesen als Anspielung auf Vater Mergel: »Wo ist der Teufel, Mutter? « (DJ, 8). Die Mutter hat zwar nur den Jungen einschüchtern und zur Ruhe bringen wollen, aber kurz darauf wird der Vater tot heimgebracht. Der Tote wird dort gefunden, wo sich die anderen Todesfälle zutragen werden, und er scheint, auf der Ebene des Aberglaubens, damit etwas zu tun zu haben: »Der alte Mergel war das Gespenst des Brederholzes geworden […],« ihm werden mehrere Unglücksfälle zugeschrieben, die sich dort zugetragen haben (DJ, 11). Kurz bevor der Jude Aaron tot aufgefunden wird, behaupten zwei Knechte, »von des alten Mergels Geist verfolgt worden zu sein, als sie durchs Brederholz heimkehrten« (DJ, 40). Auch der Onkel Simon Semmler wird zu einer mythischen, dem Teufel ähnlichen Gestalt und damit zum Versucher des jungen Mergel: Und bald sah Margreth den Beiden nach, wie sie fortschritten, Simon voran, mit seinem Gesicht die Luft durchschneidend, während ihm die Schöße des roten Rocks wie Feuerflammen nachzogen. So hatte er ziemlich das Ansehen eines feurigen Mannes, der unter dem gestohlenen Sacke büßt; Friedrich ihm nach, fein und schlank für sein Alter […], sonneverbrannt und mit dem Ausdruck der Vernachlässigung und einer gewissen rohen Melancholie in den Zügen. Dennoch war eine große Familienähnlichkeit Beider nicht zu verkennen, und wie Friedrich so langsam seinem Führer nachtrat, […] erinnerte er unwillkürlich an Jemand, der in einem Zauberspiegel das Bild seiner Zukunft mit verstörter Aufmerksamkeit betrachtet. (DJ, 14) Dabei hätte Margreth eine Wahl gehabt, dem Bruder den Jungen nicht mitzugeben, da ihm ohnehin »am Ende des alten Junggesellen Erbe zufallen« würde (DJ, 13). Auch der erste gemeinsame Unheimliche Religiosität <?page no="186"?> 173 a nnette von D roSte -h ülShoff : D Ie J uDenbuche (1842) Gang von Onkel und Neffe verknüpft die entscheidenden Begebenheiten der Erzählung miteinander. Im Brederholz wird das erste Gespräch »unter dem Schirme einer weiten Buche« zu Ende geführt (DJ, 15), vermutlich die Buche des Titels. Und die beiden kommen an die »breite Eiche«, unter der Friedrichs »Vater gefunden« wurde, »als er in der Betrunkenheit ohne Buße und Ölung zum Teufel [sic] gefahren war« (DJ, 16). Dass der Junge Johannes Niemand, vermutlich ein illegitimes Kind von Simon (DJ, 20), als »verkümmertes Spiegelbild« von Friedrich vorgestellt wird (DJ, 18), schließt an das Motiv des Doppelgängers etwa bei E. T. A. Hoffmann an. Nicht zufällig tritt genau in diesem Moment eine Spaltung im Wesen von Friedrich auf (DJ, 18). Friedrich ist »seitdem wie verwandelt« (DJ, 21). Er macht sich, im »Juli 1756« (DJ, 23), mitschuldig an der Ermordung des Försters Brandis durch Holzdiebe (DJ, 28). Sein Verhalten deutet darauf hin, dass er den Förster einen falschen Weg geschickt hat und dass er wusste, dass ihm etwas geschehen würde (DJ, 27). Der Förster ist mit einer Axt erschlagen worden und der Text liefert Indizien, dass Simon der Täter gewesen ist und dass Friedrich davon wusste. Friedrich erkennt, ohne dies vor Gericht zu zeigen, den Stiel der Axt an »einem ausgebrochenen Splitter« wieder (DJ, 32). Er fragt Simon daraufhin: »Wo ist Eure Axt? « Die Axt von Simon scheint nicht mehr die alte zu sein und Friedrich seufzt: »Ohm, ich habe Euch ein schweres Gewissen zu danken« (DJ, 34). Der sich in der Mitte der Erzählung zu Wort meldende, heterodiegetische Ich-Erzähler betont, dass der Mord an Förster Brandis »nie aufgeklärt wurde«, auch wenn der Text die Indizien dafür liefert, dass Simon der Täter ist. Dabei handelt es sich um eine Herausgeberfiktion: »Es würde in einer erdichteten Geschichte unrecht sein, die Neugier des Lesers so zu täuschen. Aber dies Alles hat sich wirklich zugetragen; ich kann nichts davon oder dazu tun« (DJ, 33). Friedrich ist nicht nur Täter, sondern auch Opfer seiner sozialen Verhältnisse: »Wer zweifelt daran, dass Simon Alles tat, seinen Adoptivsohn dieselben Wege zu leiten, die er selber ging? « (DJ, 35). Der Jude Aaron stellt Friedrich zur Rede, der bei ihm eine Uhr gekauft, aber nicht bezahlt hat, und wenig später wird Aaron ermordet (DJ, 41). Friedrich flüchtet und nimmt Johannes mit sich (DJ, 46). Allerdings kommen Zweifel an der Täterschaft Friedrichs auf, der sich auch seinen Schuldnern (DJ, 45) durch Flucht ent- Die Frage der Täterschaft <?page no="187"?> 174 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS zogen haben könnte. Ein Brief eines Gerichtspräsidenten, gerichtet an den Gutsherrn, offenbart ohne »Beweise«, aber mit großer »Wahrscheinlichkeit«, dass Friedrich gar nicht der Mörder Aarons sein kann: Ein Mitglied der Schlemmingschen Bande (die wir jetzt, nebenbei gesagt, größtenteils unter Schloss und Riegel haben), Lumpenmoises genannt, hat im letzten Verhöre ausgesagt, dass ihn nichts so sehr gereue, als der Mord eines Glaubensgenossen, Aaron, den er im Walde erschlagen und doch nur sechs Groschen bei ihm gefunden habe. […] während wir tafelten, hat sich der Hund von einem Juden an seinem Strumpfband erhängt. Was sagen Sie dazu? Aaron ist zwar ein verbreiteter Name usw. (DJ, 47) Der Schluss der Erzählung - Friedrich kehrt 28 Jahre später zurück, gibt sich aber als Johannes aus (DJ, 49) - führt auch zu keiner weiteren Klärung des Mordfalls. Dass sich Friedrich ausgerechnet am Heiligabend des Jahres 1788 wieder seinem Dorf nähert, kann als ironischer, wenn nicht satirischer Kommentar zum immer noch ungebrochenen, allerdings mit Aberglauben und Eigennutz verbundenen christlichen Glauben gelesen werden. Als Friedrich im Dorf auftaucht, wird dort gerade ein Weihnachtslied gesungen, das die Geburt von Jesus Christus feiert und mit dem Vers endet: »Erlös uns von der Hölle! « (DJ, 48). Friedrich ist eine ironische Gegenfigur zu dem wiedergeborenen Heiland. Für ihn ist es auch eine Art Wiedergeburt, ist er doch der »türkischen Sklaverei« entflohen, nachdem Johannes und er sich von österreichischen Truppen im Kampf gegen die Türken hatten anwerben lassen (DJ, 52). Von seinen Verwandten lebt niemand mehr, Simon ist in selbst verschuldeter Armut gestorben und seine Mutter »in völliger Geistesdumpfheit« (DJ, 50). Für Friedrich alias Johannes kommt die Freiheit zu spät: »[…] als wir nach Holland kamen, nach Amsterdam, ließ man mich frei, weil ich unbrauchbar war« (DJ, 53). Nach einiger Zeit als Bote des Gutsherrn verschwindet Friedrich spurlos. Der Sohn des ermordeten Brandis, der ebenfalls Förster geworden ist, findet den Erhängten in der Buche, unter der die Leiche des Juden Aaron lag und die von seinen Glaubensgenossen gekauft und mit dem Spruch versehen worden ist: »Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast« - dies ist auch der letzte Satz der Erzählung (DJ, 58). Die Judenbuche <?page no="188"?> 175 h eInrIch h eIne : D eutSchlanD . e In W Interm ärchen (184 4) Dass Friedrichs Leiche nicht beerdigt, sondern »auf dem Schindanger verscharrt« wird (DJ, 58), muss nicht auf seine Täterschaft hindeuten, an der schließlich der Gutsherr selbst begründeten Zweifel hat. Selbstmörder wurden nicht auf Friedhöfen beerdigt. Offen bleibt auch, weshalb sich Friedrich das Leben genommen hat. An dem Tod des Försters hatte er offenbar eine ungewollte Mitschuld. Ob er auch Aaron auf dem Gewissen hat, ist angesichts der Indizienlage nur eine Möglichkeit. Dem Text scheint es, gerade weil er die Frage der Schuld an den Kapitalverbrechen weitgehend ausspart, um etwas anderes zu gehen - um die soziale Determiniertheit der Figur, aber auch um die Wahlmöglichkeiten, die sie gehabt hätte. Wie frei wäre Friedrich gewesen, sein Leben anders zu leben? Die durch unterschiedliche, sich wechselseitig durchkreuzende Motivierungen erzeugte Deutungsoffenheit des Texts erlaubt absichtlich keine eindeutige Interpretation, wer welche Tat aus welchen Gründen begangen hat. Mit der Unfreiheit der Figuren kontrastiert die Freiheit des Lesers. Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) Heinrich Heine greift bei seinen Experimenten mit literarischen Formen zweimal auf ein Gattungsmodell zurück, mit dem Lord Byron (1788-1824) Erfolg hatte, das in der neueren Literatur aber eine Ausnahme darstellt. Deutschland. Ein Wintermärchen ist das erste von zwei Versepen Heines, in der Tradition des Mittelalters und der Romantik. Heine, der die populäre Volksliedstrophe verwendet, knüpft schon im Titel an Shakespeares A Winter’s Tale von 1611 an, doch dient die Jahreszeitensymbolik vor allem dazu, die politische Erstarrung des winterlichen Deutschlands zu zeigen. Hintergrund ist eine reale Reise des Autors: Im Herbst 1843, nach mehr als zwölfjähriger Abwesenheit, reiste Heine nach dem durch den großen Brand zerstörten Hamburg. Es drängte ihn, Mutter und Schwester wiederzusehen, aber auch die finanzielle Sicherung seiner Frau wollte er bei seinem Onkel und bei Campe (durch einen neuen Vertrag) regeln. Die Eindrücke dieser Reise verarbeitete er (in umgekehrter Reihenfolge seiner tatsächlichen Fahrt) in dem kleinen Epos […]. (Heine 1994d 1, 537 f.) Julius Campe war Heines Verleger. Die Zensurbedingungen in Hamburg waren lockerer als in den meisten anderen Ländern Die offene Frage der Schuld 5.4. Heines Versepen <?page no="189"?> 176 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS des Deutschen Bundes. Die biographischen Hintergründe spielen im Epos aber keine Rolle, vielmehr geht es dem Ich-Erzähler darum, ein bestimmtes Konzept von Freiheit zu entwickeln und mit der Situation in Ländern und an Orten des Deutschen Bundes abzugleichen. Mit der lyrischen Form konnte die Zensur leichter unterlaufen werden. Auch in dem ebenfalls auf ein Shakespeare- Stück anspielenden Schwesterepos Atta Troll. Ein Sommernachtstraum (1847) geht es um die Freiheit. Dies zeigt bereits der erste Satz des Vorworts: »Das nachstehende Gedicht schrieb ich im diesjährigen Monat Januar zu Paris, und die freie Luft des Ortes wehete in manche Strophe weit schärfer hinein, als mir eigentlich lieb war« (HW, 421). Schon hier wird Ironie verwendet, denn es ist genau diese freie Luft, die Heine möglichst kräftig wehen lassen will, so weit es die Zensur erlaubt. Auch dieser Text wurde durch die Zensur ›entschärft‹, obwohl Heine ihn als letzten Teil der Neuen Gedichte veröffentlichte, um durch entsprechenden Umfang die Vorzensur zu umgehen. Allerdings musste die Nachzensur bereits bei der Veröffentlichung mit bedacht werden. Der Text richtet sich nicht nur gegen die erstarrte politische Ordnung, sondern auch gegen den nach der sogenannten Rheinkrise von 1840 / 41 erstarkenden Nationalismus. Insofern zeigt sich der Autor des Vorworts »gewappnet gegen das Mißfallen dieser heldenmütigen Lakaien in schwarz-rot-goldner Livree« (HW, 422). Er hoffe darauf, dass »wir das vollenden, was die Franzosen begonnen haben«, also auf eine Revolution, mit der die Ideale der Französischen Revolution umgesetzt werden können. Der Ich-Erzähler wünscht sich eine Revolution auf der Basis von Ideen: »wenn wir diese [die Franzosen] überflügeln in der Tat, wie wir es schon getan im Gedanken« (HW, 422), dann werden »wir das arme, glückenterbte Volk und den verhöhnten Genius und die geschändete Schönheit wieder in ihre Würde einsetzen« (HB, 423). Heine nennt die Kapitel Caput von lateinisch ›Mensch‹ oder ›Kopf‹, zugleich klingt darin aber das deutsche Wort ›kaputt‹ an. Die Reise zeigt ein ›kaputtes‹ Land. Bereits der erste Vers nutzt die Symbolik der Jahreszeiten: »Im traurigen Monat November wars« (HW, 424). Der Erzähler hört ein »kleines Harfenmädchen« mit »wahrem Gefühle«, aber mit »falscher Stimme« singen, »vom irdischen Jammertal« und vom besseren »Jenseits«: »Sie sang das alte Entsagungslied, / Das Eiapopeia vom Himmel, / Womit man einlullt, wenn es greint, / Das Volk, den großen Lümmel« (HW, 424). Gegen die poitische Ordnung <?page no="190"?> 177 h eInrIch h eIne : D eutSchlanD . e In W Interm ärchen (184 4) An die Stelle solchen falschen Gesangs möchte der Erzähler, als Autor dieses sangbaren Epos, ein »neues Lied, ein besseres Lied« setzen: »Die Jungfer Europa ist verlobt / Mit dem schönen Geniusse / Der Freiheit, sie liegen einander im Arm, / Sie schwelgen im ersten Kusse.« Dafür sei kein »Pfaffensegen« notwendig (HW, 425). Für das Wintermärchen bedeutet Freiheit die Befreiung von feudaler Herrschaft und die Umkehrung der politischen Verhältnisse. Die Kunst, hier vertreten durch Literatur und Musik, ist das Medium, eine solche Revolution bereits in Gedanken zu gestalten und damit vorzubereiten. Deshalb wird die reale Situation in Deutschland mit der idealen konfrontiert, die sich aus den Idealen der Französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - und der literarisch-künstlerischen Tradition speist, etwa wenn es ironisch heißt: »Die geistige Einheit gibt uns die Zensur« (HB, 427). Immer wieder wird mit provokativer Absicht auf die politische Untätigkeit der Deutschen hingewiesen: »Franzosen und Russen gehört das Land, / Das Meer gehört den Briten, / Wir aber besitzen im Luftreich des Traums / Die Herrschaft unbestritten« (HW, 439). Freiheit ist der zentrale Begriff des Epos, er kommt immer wieder vor: »Die Freiheit hat sich den Fuß verrenkt, / Kann nicht mehr springen und stürmen; / Die Trikolore in Paris / Schaut traurig herab von den Türmen« (HW, 443). Napoleon wird zu einer Symbolfigur für die Ideale der Französischen Revolution (HW, 444), nicht in einem historischen Sinn, denn Heine war sich der Defizite des von eigener Hand gekrönten Franzosenkaisers sehr bewusst. Im politischen Diskurs des Texts geht es darum, die französische Auffassung von Freiheit, wie sie in den Idealen der Revolution angelegt ist, mit der deutschen Realität zu konfrontieren, und nach diesem Ziel werden die Metaphern, Symbole und Verweise des Texts organisiert (Neuhaus 2002a, 157-173). Entlang der Stationen der Reise lässt der Erzähler Bauwerke und Personen Revue passieren, die symbolische Bedeutung für die deutsche Geschichte und Gegenwart haben. Besonders hervorgehoben wird der Kölner Dom, an dem wegen seiner nationalen Bedeutung weiter gebaut wird (die Baugeschichte erstreckt sich von 1248 bis 1880), mit dem Kaisergrab von Karl dem Großen (HW, 427) und den Reliquien der Heiligen Drei Könige. Der Text schlägt aus Gegenwart und mythischer Vergangenheit satirisch Funken: »Der Balthasar und der Melchior, / Das waren vielleicht zwei Gäuche, / Die in der Not eine Konstitution / Versprochen ihrem Reiche, Befreiung von feudaler Herrschaft Nationale Symbole <?page no="191"?> 178 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS / / Und später nicht Wort gehalten […]« (HW, 433). Auch nationale Symbolfiguren wie der Römer-Bezwinger Hermann (der historische Arminius) werden dekonstruiert: »Hier schlug ihn [den römischen Feldherrn Varus] der Cheruskerfürst, / Der Hermann, der edle Recke; / Die deutsche Nationalität, / Die siegte in diesem Drecke« (HW, 447). Nicht besser ergeht es dem Stauferkaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, der nach der Überlieferung im Berg Kyffhäuser auf die Zeit warten soll, in der das Heilige Römische Reich deutscher Nation ihn braucht (HW, 453 ff.). Diese Sage ist für den Erzähler nichts weiter als ein »Märchen der alten Amme« (HW, 455). In einer inneren Zwiesprache mit dem schlafenden Kaiser kommt der Erzähler zu dem Schluss: »Bedenk ich die Sache ganz genau, / So brauchen wir gar keinen Kaiser« (HW, 461). Die Kritik am Feudalismus führt zu höchst originellen Wortneuschöpfungen wie »aristokrätzig« (HW, 472). Auf für den konservativen Nationalismus in Dienst genommene Autoren und Texte wird ironisch verwiesen. Etwa auf Theodor Körner (HW, 428), dessen Gedichtband Leyer und Schwerdt (1814) in den Befreiungskriegen gegen Napoleon eine große Rolle spielte, die mit dem Wiener Kongress von 1815, gegen alle bürgerlichen Hoffnungen, nicht zu einer Verfassung und Einigung Deutschlands, sondern nur zu einer Restituierung der Feudalordnung im Deutschen Bund führten. Auf die chauvinistische Literatur im Gefolge der Rheinkrise beziehen sich die durch die »Verse von Niklas Becker« ausgelösten Magenschmerzen des Erzählers (HW, 434). Nikolaus Beckers (1809-45) Rheinlied von 1840 gehört zu den wirkungsmächtigsten politischen Texten gegen Frankreich. Wie in dem zweiten Epos Atta Troll. Ein Sommernachtstraum gibt es zahlreiche ironische Verweise auf die zeitgenössische Literatur: »In Reimen dichtet Freiligrath, / Ist kein Horaz geworden« (HW, 448). Ferdinand Freiligrath (1810-76) gehörte zu den besonders bekannten politischen Vormärz-Lyrikern der 1840er Jahre. Das Wintermärchen gipfelt in einem ironischen Bild. Der Ich- Erzähler, in Hamburg angekommen, trifft die Hamburger Schutzgöttin Hammonia und begleitet sie nach Hause. Die Schutzgöttin entpuppt sich als Heilige und Hure, als Prostituierte und Tochter Karls des Großen, die den Krönungsstuhl ihres Vaters aus dem Aachener Dom in ihrer Wohnung stehen hat. In dem Stuhl ist ein Nachttopf eingelassen und sie lässt den Erzähler einen Blick hinein tun: Neologismen Kritik an konservativer Literatur <?page no="192"?> 179 g eorg b üchner : W oyzeck (1879) »Das ist ein Zauberkessel, worin Die magischen Kräfte brauen, Und steckst du in die Ründung den Kopf, So wirst du die Zukunft schauen - »Die Zukunft Deutschlands erblickst du hier, Gleich wogenden Phantasmen, Doch schaudre nicht, wenn aus dem Wust aufsteigen die Miasmen! « […] Entsetzlich waren die Düfte, o Gott! Die sich nachher erhuben; Es war, als fegte man den Mist Aus sechsunddreißig Gruben - - - (HW, 484) Gemeint sind die 36 Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes. Im letzten Caput adressiert dann der Erzähler noch den preußischen König (Friedrich Wilhelm IV.), der politisch als besonders rückwärtsgewandt und konservativ galt (auf Preußen wird im Epos immer wieder kritisch angespielt): O König! Ich meine es gut mit dir Und will einen Rat dir geben: Die toten Dichter, verehre sie nur, Doch schone die da leben. Beleidge lebendige Dichter nicht, Sie haben Flammen und Waffen, Die furchtbarer sind als Jovis Blitz; Den ja der Poet erschaffen. (HW, 488) Das Epos wird selbstreflexiv und metafiktional, es mündet in eine Apotheose der Literatur. Historisch gesehen hat Heine zweifellos recht behalten, das Andenken an ihn und an seine Texte ist ausgesprochen positiv, das an Friedrich Wilhelm IV. dagegen eher nicht. Das Verhältnis zur Freiheit gibt den Ausschlag. Georg Büchner: Woyzeck (1879) Das angegebene Datum ist irreführend. Bei keinem anderen Text in diesem Band klaffen Entstehung und Veröffentlichung so weit auseinander. Geschrieben wurden die fragmentarischen Fassungen des Stücks wohl 1836 / 37 (BW, 379). Der Abstand wird sogar noch grö- Das rückständige Preußen 5.5. <?page no="193"?> 180 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS ßer, wenn man bedenkt, dass die Uraufführung erst 1913 war (BW, 415). Dabei weicht die Erstausgabe von den überlieferten Fassungen ab, denn der Herausgeber Karl Emil Franzos »druckte den Text jedoch nicht […] originalgetreu ab, sondern ließ nach Gutdünken weg oder dichtete hinzu«, um »eine les- und spielbare Fassung zu erreichen« (BW, 385). Auf die komplizierte Entstehungs-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte kann hier nicht näher eingegangen werden, für dieses Kapitel wird vor allem die Lese- und Bühnenfassung der kritischen Ausgabe verwendet (BW, 159-180). Von seiner Entstehung her gehört der Text in den Vormärz, von seiner Wirkung her kann man ihn auch mit dem Naturalismus und dem Expressionismus in Verbindung bringen. Heute gilt das Stück als eines der bedeutendsten deutschsprachigen Dramen, neben den beiden anderen des Autors, dem als Drama bezeichneten Trauerspiel Dantons Tod (1835) und dem Lustspiel Leonce und Lena (1838). Ebenfalls eine große Wirkungsgeschichte hat die psychologische Erzählung Lenz (1839). Nicht zufällig ist der wichtigste deutschsprachige Literaturpreis nach dem sehr früh an Typhus verstorbenen Georg Büchner (1813-37) benannt. Im Zentrum seiner politisch-publizistischen Aktivitäten steht die Zeitschrift Der Hessische Landbote (1834). Die französische Julirevolution von 1830 und ihre Nachwirkungen beschäftigten gebildete junge Leute wie Büchner, der zu der Zeit in Gießen Medizin studierte: Mehrere Zeugnisse belegen eindeutig, dass Büchner alle politischen Anstrengungen nicht auf die Erringung bürgerlicher Freiheitsrechte beschränkt wissen wollte, sondern dass sie insgesamt der Beseitigung der »schneidenden Gegensätze des Reichtums und der Armut« als der »Quelle aller Übel« dienen müssten. (Hauschild 2013, 60) Karriere eines sozialen Dramas Georg Büchner, um 1835, Skizze von Alexis Muston Abb. 5.4 <?page no="194"?> 181 g eorg b üchner : W oyzeck (1879) Für Büchner stand fest: »Der Weg zu Freiheit und Gleichheit führte über eine Revolution, sie sollte dem Volk seine Nutznießung sichern, die es bei Einführung der Republik ›von oben‹ nicht erwarten durfte« (Hauschild 2013, 61). Neben den Flugschriften sollten auch die literarischen Texte zur Entwicklung eines entsprechenden Bewusstseins dienen: Woyzeck ist nicht die erste deutsche Sozialtragödie, aber der Füsilier Franz Woyzeck ist die erste subbürgerliche Hauptfigur in der Geschichte des deutschen Dramas, seine Biographie, die Büchner aus zwei Prozessgutachten kannte, ein Musterbeispiel für die ökonomische Deklassierung eines Handwerksgesellen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Lediglich die Mordkatastrophe machte Woyzeck zur spektakulären Variante eines kollektiven sozialen Schicksals. (Hauschild 2013, 138) In der exemplarischen, modellhaften Darstellung sozialer Unfreiheit liegt eine der besonderen Leistungen des Stücks, darin war es der Literatur seiner Zeit weit voraus. Büchner verarbeitet einen realen Fall: »Im Sommer 1821 erstach in Leipzig der einundvierzigjährige stellungslose Perückenmachergeselle Johann Christian Woyzeck seine gelegentliche Geliebte, die sechsundvierzigjährige Witwe Johanna Christine Woost« (Hauschild 2013, 141). Büchner kannte die Gerichtsakten und die Gutachten (zu den Quellen vgl. BW, 390-415). Der Täter wurde, trotz seiner sozialen und psychischen Notlage, 1824 hingerichtet (Hauschild 2013, 142 f.). Es gibt allerdings noch andere, ähnlich gelagerte Mordfälle, die als mögliche Quellen gedient haben können (Hauschild 2013, 145). Weitere bemerkenswerte Leistungen sind zu nennen. Das Stück will nicht nur eine Revolution mit vorbereiten, es ist auch ausgesprochen revolutionär in seiner literarischen Konzeption, inhaltlich wie formal. Büchner radikalisiert das bereits in Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil zu beobachtende Prinzip einer Aneinanderreihung von Szenen, die hier zu einem hohen Maß austauschbar werden; ein Formprinzip, das im deutschsprachigen Drama des 20. Jahrhunderts besondere Bedeutung bekommt. Dazu kommen der rasche Schauplatzwechsel, die vielen Figuren, die Verwendung von Liedtexten, von Dialekt und Soziolekt. Konsequent ist die Verwendung von Bibelzitaten, gegen die hier eine radikale Notsituation gesetzt wird, so dass bereits, mit einem berühmten Zitat von Karl Marx, die Religion als ›Opium für das Volk‹ entlarvt wird. Die Quellen Ein neues Formprinzip <?page no="195"?> 182 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS Kohärenz wird durch Vorausdeutungen, Metaphern und Motive erzeugt. Schon in der ersten Szene, die Woyzeck und seinen Freund Andres vorstellt, heißt es: »Woyzeck. Still. Alles still, als wär die Welt tot.« In der zweiten Szene wird bereits der Tambourmajor vorgestellt, den Marie, die das gemeinsame Kind von ihr und Woyzeck auf dem Arm hält, sofort anziehend findet (BW, 160). Der Ausrufer auf einem Jahrmarkt stellt fest: »Der Aff ist schon ein Soldat, ’s ist noch nit viel, unterst Stuf von menschliche Geschlecht! « Unmittelbar darauf wird deutlich, dass auch der Tambourmajor Marie begehrt (BW, 162). Und die Worte eines Marktschreiers, der ein Pferd anpreist, können ebenfalls auf die sich gerade anbahnende Liebeshandlung bezogen werden: »Das ist Viehsionomik. Ja das ist kei viehdummes Individuum, das ist eine Person. Ei Mensch, ei tierisch Mensch und doch ei Vieh […]« (BW, 163). Kurz darauf wird mit den neuen Ohrringen Maries deutlich, dass sie ein Verhältnis hat, obwohl Woyzeck sie mit seinem Lohn versorgt: »Marie allein, nach einer Pause. Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt’ mich erstechen. - Ach! Was Welt? Geht doch Alles zum Teufel, Mann und Weib« (BW, 164). Das Verhältnis Woyzecks zu seinem Hauptmann entspricht dem von Knecht und Herr (BW, 164 ff.). Der Doktor, der Woyzeck zwingt, sich von Erbsen zu ernähren (BW, 175), führt große Reden. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Ideal und Verhalten könnte nicht größer sein: »Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit« (BW, 167). In dieser Maxime klingen die Ideen der Aufklärung und der Klassik mit, doch werden sie durch den Kontext als Maske für größte Grausamkeit desavouiert. Die Experimente des Doktors führen bei Woyzeck zu physischem Unwohlsein, Halluzinationen und Depressionen (BW, 170). In der Figur des Doktors kommt die Aufklärung an ein frühes Ende und die Figur des Hauptmanns zeigt sogar, dass auch die Aufklärung nicht viel mehr als eine schöne Idee gewesen ist. Franz tötet Marie (BW, 177), offenbar ohne zu wissen, was er tut, denn er geht darauf ins Wirthaus, tanzt und ist verwundert über das Blut an seiner Hand: »Bin ich Mörder? Was gafft ihr! Guckt euch selbst an! « (BW, 178). Das erinnert an das biblische Wort von dem, der den ersten Stein werfen soll, der ohne Sünde ist. Der Gerichtsdiener verhält sich jedenfalls gegenteilig: »Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord, so schön als Herr und Knecht <?page no="196"?> 183 g erhart h auPtm ann : D Ie W eber (1892) man ihn nur verlangen tun kann, wir haben schon lange so kein gehabt.« Dennoch endet das Stück in dieser Fassung offen, Woyzeck »hält das Kind vor sich auf dem Schoß« und übergibt es schließlich, weil es sich von ihm abwendet, dem ›Idioten‹ Karl (BW, 179). Das Stück entlässt die Leser in eine bis dahin ungewohnte Freiheit, sie müssen sich ihr eigenes Ende denken, eigene Schlüsse aus dem Gelesenen oder Gesehenen ziehen. Das unerhört Moderne des Stücks kann aber natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Handlung und Figuren sehr genau motiviert sind und Lesedirektiven enthalten, die eine bestimmte Deutung provozieren: Der sozial benachteiligte, unterdrückte, gefolterte (wenn man die Behandlung durch den Arzt bedenkt) und betrogene Woyzeck begeht eine Tat, für die nicht er verantwortlich ist, sondern seine Umwelt, die ihn dazu gemacht hat. Die Figur ist in ihrer Rolle im gesellschaftlichen Gefüge scheinbar frei und könnte doch unfreier nicht sein. Die Repräsentanten der Gesellschaft stehen für ein repressives System, das hier mit den Mitteln der Literatur, also mit der ihr eigenen Freiheit vorgeführt und transparent gemacht wird, damit es verändert werden kann. Gerhart Hauptmann: Die Weber (1892) Mit seinen Dramen löste Gerhart Hauptmann (1862-1946) nicht nur Skandale aus, sie trugen auch zum Ende der Literatur des bürgerlichen Realismus bei und bereiteten, gemeinsam mit anderen Texten des Naturalismus, die Literatur der literarischen Moderne vor. Gegen den Fokus auf das Bürgertum und die weitgehende Verklärung der sozialen Wirklichkeit setzen die Naturalisten auf möglichst naturgetreue Schilderungen der sozialen Probleme der unteren Schichten. Neben Armut geht es auch um Sexualität und um Krankheit, also um Themen, die bisher in der Literatur nicht explizit behandelt werden konnten. ›Kunst = Natur - x‹ lautet das Kunstgesetz von Arno Holz, wobei x möglichst klein sein soll (Rin- Die benachteiligte Existenz 5.6. Gerhart Hauptmann, um 1900, Karikatur von Arpad Schmidhammer Abb. 5.5 <?page no="197"?> 184 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS sum 2000, 334). Allerdings erreichen die Texte ihre oftmals spektakuläre Wirkung nicht zuletzt durch ihre drastischen Symbole und Metaphern. Das Stück Vor Sonnenaufgang (1889) und die Erzählung Bahnwärter Thiel (1888) gehören auch heute noch zu den kanonischen Schul- und Universitätslektüren. Um »Revolution« (WE, 51) und damit um Freiheit geht es allerdings vor allem in einem anderen, heute (wenn man nach den verfügbaren Ausgaben Anfang 2017 geht) weniger gelesenen, aber für die Literaturgeschichte wichtigeren Stück, weil es soziale, politische und sprachliche Innovationen auf noch radikalere Weise miteinander verbindet als andere Texte der Epoche. Möglicherweise ist es die, selbst in der mehr am Hochdeutschen orientierten Fassung starke, dialektale Färbung, die es in der Popularität gegenüber anderen Werken Hauptmanns zurückstehen lässt. Das auch im schlesischen Dialekt verfasste Stück De Waber (Die Weber) wird vom Polizeipräsidenten verboten, die Uraufführung kann, und das auch nur vor geschlossener Gesellschaft, erst ein Jahr später auf der »Freien Bühne« (! ) in Berlin stattfinden (WE, 262). Die weiteren Inszenierungen anderer Bühnen sind noch so kontrovers, dass es im Oktober 1894 zu einem bemerkenswerten Protest kommt: »Kaiser Wilhelm II. kündigt auf Antrag des Hausministeriums seine Loge im ›Deutschen Theater‹ wegen der ›demoralisierenden Tendenz‹ der ›Weber‹« (WE, 263 f.). Bis 1901 gibt es Prozesse um die Aufführung des Stücks auf deutschen Bühnen (WE, 264). Bekannte Theaterkritiker besprechen das Stück bei seiner öffentlichen Aufführung 1894 positiv, darunter Theodor Fontane und Paul Schlenther (1854-1916), der den Webern eine »eigne Aesthetik« attestiert und das Stück »ein Werk sui generis« nennt (WE, 220). Das bedeutet viel, bezieht sich das Stück doch auf einen realen Aufstand aus dem Jahr 1844, als schlesische Weber gegen die unmenschliche Ausbeutung ihrer Arbeitskraft gewaltsam protestierten, ein Aufstand, der vom preußischen Staat ebenso gewaltsam niedergeschlagen wurde (WE, 81 f.). Die Konfliktlinie verläuft zwischen dem ›Parchentfabrikanten‹ Dreißiger (Barchent ist ein Baumwoll-Mischgewebe) und seinem von ihm abhängigen Umfeld (der Fabrikant, gegen den sich der reale Aufstand richtete, hieß Zwanziger; WE, 80) auf der einen, den für ihn arbeitenden Webern auf der anderen Seite. Der erste Hauptmanns Werke Der Kaiser protestiert <?page no="198"?> 185 g erhart h auPtm ann : D Ie W eber (1892) Akt spielt »in Dreißigers Haus zu Peterswaldau«. Die Regieanweisungen Hauptmanns sind extrem genau und sagen viel über die mit dem Stück verbundene Intention aus: Es ist ein schwüler Tag gegen Ende Mai. Die Uhr zeigt zwölf. Die meisten der harrenden Webersleute gleichen Menschen, die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind, wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entscheidung über Tod und Leben zu erwarten haben. Hinwiederum haftet allen etwas Gedrücktes, dem Almosenempfänger Eigentümliches an, der, von Demütigung zu Demütigung schreitend, im Bewußtsein, nur geduldet zu sein, sich so klein als möglich zu machen gewohnt ist. (WE, 7) Die Schwüle der Luft und die Uhrzeit können als unheilverkündende Symbole gelesen werden. Zu der gespannten Atmosphäre kommt das kranke und körperlich verbrauchte Aussehen der Weberfiguren. Allerdings hat eine die Seite wechseln können und sich entsprechend angepasst: »Expedient Pfeifer, ehemaliger Weber. Das Typische an ihm ist unverkennbar; nur ist er wohlgenährt, gepflegt gekleidet, glatt rasiert, auch ein starker Schnupfer« (WE, 8). Pfeifer nimmt keine Rücksicht auf die Nöte der Weber. Den Weber Heiber, dessen Frau krank ist, macht er herunter, so dass dieser »gedemütigt und hilflos« vor ihm steht (WE, 9). Der alte Baumert hat sogar aus Not seinen Hund schlachten lassen, um ihn seiner Familie zum Essen zu bringen (WE, 11). Dem Fabrikanten hingegen sieht man seinen Wohlstand und seine Einstellung an: »Junger Vierziger. Fettleibig, asthmatisch. Mit strenger Miene«, außerdem ist er jähzornig (WE, 12). Ein achtjähriger Junge bricht vor Hunger zusammen und der Weber Bäcker wird, weil er sich mit Worten gegen die Zumutungen wehrt, der Stube verwiesen (WE, 14). Dreißiger sieht die Situation allerdings ganz anders, wenn er hier über sich selbst spricht: Daß so’n Mann auch Sorgen hat und schlaflose Nächte, daß er sein großes Risiko läuft, wovon der Arbeiter sich nichts träumen läßt, daß er manchmal vor lauter Dividieren, Addieren und Multiplizieren, Berechnen und wieder Berechnen nicht weiß, wo ihm der Kopf steht, daß er hunderterlei bedenken und überlegen muß und immerfort sozusagen auf Leben und Tod kämpft und konkurriert, daß kein Tag vergeht ohne Ärger und Verlust: darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. (WE, 15 f.) Diese Rede wird durch sein Verhalten und durch die vom Stück entworfene Realität als scheinheilig entlarvt. Schon der nächste Genaue Regieanweisungen Unheilverkündende Symbolik <?page no="199"?> 186 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS Akt spielt in einem armseligen Weberhaus mit seinen halb verhungerten und extreme Not leidenden Bewohnern (WE, 17 ff.). Mutter Baumert fasst zusammen: »Fer unsereens, Heinrichen, wärsch am besten, d’r liebe Gott tät a Einsehn hab’n und nähm uns gar von d’r Welt« (WE, 20). Als Moritz Jäger, wohlgenährt und sauber gekleidet, nach vier Jahren von den Soldaten zurückkehrt (WE, 21 f.), soll er den Webern helfen (WE, 27). Jäger kennt das Lied vom Blutgericht, das die Not der Weber zusammenfasst und gegen die Schuldigen Stimmung macht; das Lied beschließt den zweiten Akt (WE, 28 f.). Der dritte Akt spielt in der »Schenkstube im Mittelkretschm zu Peterswaldau« (WE, 30), er entwirft ein Panorama des sozialen Umfeldes und zeigt, wie sich die Weber unter ihren Anführern organisieren, so dass es schließlich im vierten Akt zum Aufruhr kommt. Nicht zufällig ist gerade auch Pastor Kittelhaus, der Repräsentant der kirchlichen Macht, bei der Familie Dreißiger (WE, 44). Die Frau des Fabrikanten ist wesentlich jünger als er und wirkt neureich (WE, 45). Der Hauslehrer, Kandidat Weinhold, wird von dem Fabrikanten verbal »brutal« attackiert und aus dem Haus geworfen, nur weil er um Verständnis für die draußen protestierenden Weber bittet (WE, 46). Der Polizeiverwalter ordnet sich dem Fabrikanten unter: »Verfügen Sie über mich« (WE, 47). Frau Dreißiger bekommt während des Aufstandes Angst und Gewissensbisse: »Wenn das aso is … das is ja grade, als wie wenn’s Reichtum a Verbrechen wär. Sehn S’ ock, wenn mir das hätte jemand gesagt, ich weeß gar nich, Frau Pastern, am Ende wär ich lieber in mein kleenlichen Verhältnissen drinnegeblieben« (WE, 53). Jäger und Bäcker sind die Anführer des Aufstandes, in dessen Verlauf die Fabrikantenvilla gestürmt wird (WE, 54 ff.). Der fünfte Akt spielt im »Weberstübchen des alten Hilse« (WE, 56). Hornig berichtet: »Gedemoliert haben sie ’n Fabrikanten sei Haus, unten vom Keller uf bis oben ruf unter de Dachreiter« (WE, 58). Der alte Hilse ist entsetzt (WE, 59) und erbost, als seine Enkeltochter mit einem aus dem Fabrikantenhaus gestohlenen silbernen Löffel nach Hause kommt (WE, 60). Als die Aufständischen auftauchen und Pläne schmieden, wie sie weiter vorgehen, verurteilt er ihr Verhalten: »Das is Satansarbeit, was die machen« (WE, 62). Er sieht die Ungerechtigkeit ebenso, möchte sich aber nicht gegen die von ihm akzeptierte göttliche Ordnung wenden: »Gericht wird gehalten; aber nich mir sein Richter, sondern: mein is die Rache, Das Lied vom Blutgericht Das Ende des Aufstands <?page no="200"?> 187 t heoDor f ontane : e ffI b rIeSt (1895) spricht der Herr, unser Gott« (WE, 64). Der alte Baumert hält dagegen: »Ich sag: Bäcker hat recht, nimmt’s a Ende in Ketten und Stricken: im Zuchthause is immer noch besser wie derheeme. Da is mer versorgt; da braucht ma nich darben« (WE, 69). Allerdings wird der Aufstand vom Militär niedergeschlagen und eine Weberfrau kommt mit der Meldung: »A paar hab’n se kaltgemacht« (WE, 70). Durch das Fenster wird der alte Hilse erschossen, ohne dass die Familie bereits begreift, was geschehen ist. Die letzten Worte des Stücks spricht seine Frau: »Nu mach ock, Mann, und sprich a Wort, ’s kann een’n ja orntlich angst werd’n« (WE, 71). Die Bevölkerung ist christlich geprägt und mit den Herrschaftsverhältnissen grundsätzlich einverstanden. Es ist die soziale Not, die zum Aufstand führt. Die anarchistischen Szenen werden motiviert, aber nicht propagiert. Dennoch zeigt der Tod gerade des alten Hilse, der gegen den Aufstand war, dass die alte absolutistische Macht eine neue soziale Ordnung absichert, die für eine höchst ungerechte Mittelverteilung sorgt. Am Ende des 19. Jahrhunderts stellt Hauptmanns Stück die Frage nach der politischen Freiheit noch einmal neu. Dabei sind es jetzt die vergleichsweise neuen und ungelösten sozialen Fragen, die die Verwerfungen in der Gesellschaft potenzieren, weil die weiterhin herrschende feudale Ordnung keine Lösungen dafür hat - außer die Loge im Theater zu kündigen und so die Augen vor den virulenten Fragen der Zeit zu verschließen. Theodor Fontane: Effi Briest (1895) Theodor Fontane gilt als einer der bedeutendsten Erzähler der deutschsprachigen Literatur. Seine Lebensdaten umspannen einen großen Teil des 19. Jahrhunderts (1819-98) und er hat in seinen Werken Geschichte und Zeitgeschichte verarbeitet. Nach einer Apothekerausbildung, einer nicht ganz geklärten Beteiligung an den Unruhen in Berlin 1848 und nach dem Versuch, als bei der preußischen Regierung angestellter Journalist, darunter auch als Auslandskorrespondent in London, und als Angestellter einer ultrakonservativen regierungstreuen Zeitung im schreibenden Gewerbe Fuß zu fassen, macht Fontane sich spät als Schriftsteller selbständig. Es sind zunächst vor allem die Reiseberichte der Wanderungen durch die Mark Brandenburg und Bücher über die zur Reichsgründung führenden drei sogenannten Eini- Soziale Not und politische Ordnung 5.7. Auf Umwegen zur Literatur <?page no="201"?> 188 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS gungskriege 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich und 1870 / 71 gegen Frankreich, mit denen er sein Geld verdient. Als Romanautor debütiert der 59jährige mit Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 / 13, einem historischen Roman, der das Vorbild der Waverley-Romane Sir Walter Scotts nicht verleugnen kann. Fontanes Romane waren in seiner Zeit durchaus anerkannt, er war ein respektierter Autor, der seine Romane und Erzählungen einigermaßen lukrativ vorab in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichen und so ein zeitgemäßes bürgerliches Leben führen konnte. Anders als bei dem zu Fontanes Zeit angesehensten und erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller Gustav Freytag, der 1855 mit dem Roman Soll und Haben den bürgerlichen Realismus einläutet, sich aber traditioneller Erzählverfahren und zeitgenössischer Klischees bis hin zu Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus bedient, werden in den Romanen Fontanes bereits die Kontingenzerfahrungen der modernen Gesellschaft gestaltet. Bei Fontane tritt der Erzähler hinter die Figuren zurück. Die zahlreichen Dialoge perspektivieren Handlung und Standpunkte, oftmals ohne eine klare Wertung oder Präferenz erkennen zu lassen. Vor dem Sturm zeigt eine von der napoleonischen Besetzung geprägte, preußische Gesellschaft und schildert einen erfolglosen Aufstand gegen die sich aus Russland zurückziehenden französischen Truppen. Von der künftigen Glorie Preußens, das als großer Gewinner aus dem Wiener Kongress von 1815 hervorgehen und so den Grundstein für die spätere Führungsrolle im deutschsprachigen Raum legen wird, ist hier, wie auch in der historischen Erzählung Schach von Wuthenow (1883), wenig zu spüren. Unterm Birnbaum (1885) gilt als eine der bedeutendsten Kriminalerzählungen der deutschsprachigen Literatur, sie zählt zweifellos zu den abgründigsten: Der Protagonist mordet aus einer Mischung aus Verzweiflung und Habgier, er verursacht den Tod seiner Frau Ein moderner Erzähler Theodor Fontane, 1883, Gemälde von Carl Breitbach Abb. 5.6 <?page no="202"?> 189 t heoDor f ontane : e ffI b rIeSt (1895) und schließlich auch seinen eigenen, ohne dass sein Handeln vom Text moralisch verurteilt würde. Der einerseits symbolische und andererseits fast schon dokumentarische Stil, die Beschäftigung mit den ebenso alltäglichen wie verdrängten Leidenschaften der einfacheren Menschen weisen auf die Literatur des Naturalismus voraus. Auch auf die vielgelesene Erzählung Irrungen, Wirrungen (1888) über eine außereheliche, unstandesgemäße Liebe und ihre kurze Erfüllung oder auf den Roman Frau Jenny Treibel oder »Wo sich Herz zum Herzen find’t«. Roman aus der Berliner Gesellschaft (1892), eine satirische Zeichnung der preußischen Gesellschaft der Gründerzeit, oder auf den letzten, kurz vor seinem Tod abgeschlossenen Roman Der Stechlin (1898), dem von Fontane-Forschern der »Rang eines der wichtigsten Romane deutscher Sprache seit Goethes Die Wahlverwandtschaften« zuerkannt wird (Grawe / Nürnberger 2000, 663), kann hier nicht weiter eingegangen werden. Das Thema der Freiheit wird in allen Romanen verhandelt. Für eine Einführung in die Literaturgeschichte empfiehlt sich der heute vermutlich noch am meisten gelesene Text des Autors, einer der berühmtesten Romane deutscher Sprache überhaupt. »Effi Briest ist nicht nur der beliebteste, sondern auch der am meisten diskutierte Roman Fontanes« (Grawe 1991, 218). Er gehört zudem wohl zu den wenigen Romanen und Texten der deutschsprachigen Literaturgeschichte, die auch im 21. Jahrhundert besonders beachtet, häufig in der Schule gelesen und an den Universitäten behandelt werden. Ein Grund dürfte sein, dass Fontanes Roman die Frage nach dem selbstbestimmten Leben des Individuums in einer Gesellschaft stellt, in der restriktive Regeln gelten. Effi ist 17, als ihr Baron Geert von Innstetten einen Heiratsantrag macht. Der Baron ist bereits 38 (EB, 12) und könnte nicht nur vom Alter her ihr Vater sein, hat er doch vor fast zwei Jahrzehnten um ihre Mutter geworben, die aber den vermögenden Herrn von Briest dem jungen, nicht so erfolgreichen Mitbewerber vorzog (EB, 12 f.). Jetzt aber ist Innstetten das, was man eine gute Partie nennt. Er wird Landrat in Kessin und später, als enger Mitarbeiter des Reichskanzlers Bismarck (EB, 70 u. a.), als hoher Ministerialbeamter nach Berlin berufen (EB, 209). Die unerfahrene Effi entscheidet sich unter Zuraten der Mutter für die Konventionsehe: »›Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen‹« (EB, 20). Dass die blutjunge Effi Die Frage nach der Möglichkeit, selbstbestimmt zu leben. <?page no="203"?> 190 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS ihre Affekte noch nicht kontrollieren kann, zeigt ihre Reaktion auf den Brautwerber: »Effi, als sie seiner ansichtig wurde, kam in ein nervöses Zittern […]« (EB, 18; Wertheimer 1996). Allerdings hätte sie anders wählen können, da ihr die Eltern prinzipiell die Wahl freistellen. Dies ist ein wichtiger Punkt, der in der Rezeption oft keine Rolle spielt. Die Jahreszeitensymbolik des Romans ist (wie etwa auch beim Werther) eindeutig, sie zeigt das Scheitern der Ehe bereits an deren Anfang: »Der Tag nach der Hochzeit war ein heller Oktobertag. Die Morgensonne blinkte; trotzdem war es schon herbstlich frisch […]« (EB, 37). Wie seinerzeit die Mutter hat auch Effi einen Mitbewerber. Der Text macht dies auf humorvoll-symbolische Weise deutlich und zeigt zugleich, dass es ihr nicht bewusst ist. Effi geht in Berlin mit ihrer Mutter und ihrem Vetter »[…] in die Nationalgalerie, weil Vetter Dagobert seiner Cousine die ›Insel der Seligen‹ zeigen wollte. Fräulein Cousine stehe zwar auf dem Punkte, sich zu verheiraten, es sei aber doch vielleicht gut, die ›Insel der Seligen‹ schon vorher kennengelernt zu haben« (EB, 23). Das Bild von Arnold Böcklin dient als Verweis auf die fehlende erotische Erfahrung Effis und die auch an anderer Stelle thematisierte (EB, 35) Möglichkeit, dass sie auf den gesellschaftlichen Aufstieg ihres Vetters hätte warten können: »Es waren himmlische Tage für alle drei, nicht zum wenigsten für den Vetter, der so wundervoll zu chaperonnieren und kleine Differenzen immer rasch auszugleichen verstand« (EB, 23). Später wird Innstetten von einem Treffen mit Dagobert berichten, den er wie folgt zitiert: »›Lassen wir Effi leben‹«, sagte er, ›meine schöne Cousine … Wissen Sie, Innstetten, daß ich sie am liebsten fordern und totschießen möchte? Denn Effi ist ein Engel, und Sie haben mich um diesen Engel gebracht‹« (EB, 183 f.). Hier wird auf das Ende vorausgedeutet, auf das Duell Innstettens mit Effis Liebhaber Crampas. Effi bekommt von Innstetten keinen Sohn, sondern eine Tochter, auch das wird vom Roman bereits bei der Geburt des Kindes als Defizit herausgestellt. Doktor Hannemann drückt es so aus: »›Wir haben heute den Tag von Königgrätz; 2 schade, daß es ein 2 Am 3. Juli 1866 besiegten die Truppen Preußens bei Königgrätz eine Armee aus österreichischen und sächsischen Soldaten und gewannen so den Kampf um die Vorherrschaft im Deutschen Bund, eine entscheidende Voraussetzung für die, nach dem gewonnenen deutsch-französischen Krieg 1870 / 71, erfolgte Gründung des Deutschen Kaiserreichs unter Ausschluss Österreichs. Die Ge- Die „Insel der Seligen“ <?page no="204"?> 191 t heoDor f ontane : e ffI b rIeSt (1895) Mädchen ist. Aber das kann ja noch nachkommen, und die Preußen haben viele Siegestage‹« (EB, 118). Darin wird er sich irren. Beide Familien werden aussterben, da die Tochter weder den Namen der Innstettens noch den der Briests weitergeben kann, wenn sie heiratet und Kinder bekommt. Auf der symbolischen Ebene wird damit vor dem möglichen Untergang einer preußischen Gesellschaft gewarnt, die derart rigoros biopolitische Steuerungsmechanismen anwendet und damit ihre eigenen Ziele konterkariert, indem sie sich selbst die Existenzgrundlage entzieht. Dabei ist, auch das macht der Roman in zahlreichen Binnengeschichten deutlich, Effi beileibe kein Einzelfall (Neuhaus 1997). Bereits nach ihrem Aufenthalt in Berlin ist die Rede von einem Zwischenfall auf dem Gut der Familie von Briest, mit einer aufschlussreichen Überleitung des Gutsherrn: »Ihr habt mir da vorhin von der Nationalgalerie gesprochen und von der ›Insel der Seligen‹ - nun, wir haben hier, während ihr fort wart, auch so was gehabt: unser Inspektor Pink und die Gärtnersfrau. Natürlich habe ich Pink entlassen müssen, übrigens ungern. Es ist sehr fatal, daß solche Geschichten fast immer in die Erntezeit fallen. Und Pink war sonst ein ungewöhnlich tüchtiger Mann, hier leider am unrechten Fleck.« (EB, 25) Die wichtigste der zahlreichen Spiegel- und Komplementärfiguren ist zweifellos Roswitha, die zu Effis Bediensteter und Vertrauter wird. Roswitha ist als junge Frau verführt worden und hat ein uneheliches Kind erwartet. Deshalb hat ihr Vater, ein Dorfschmied, sie beinahe umgebracht und ihr das Kind weggenommen. Die zum Zeitpunkt der Erzählung bereits ehebrüchige Effi reagiert mit überheblichen Worten, obwohl es ihr, auf anderer Standesebene, nicht anders ergehen wird: »›Es ist ja mit euch, das weiß ich noch von Hause her, immer dieselbe Geschichte …‹« (EB, 180), und: »›Mit einem Ehemanne … das tut nie gut‹« (EB, 181). Roswithas frommen Wunsch kann sie daher nur als Anspielung missverstehen: »›Ach, gnädigste Frau, die heil’ge Mutter Gottes bewahre Sie vor solchem Elend‹. Effi fuhr auf und sah Roswitha burt einer Tochter an diesem symbolischen Tag lässt sich als ironischer Hinweis auf das mögliche Ende der preußischen Erfolgsgeschichte lesen. Warnung vor dem Untergang Ehebrüche und die Folgen <?page no="205"?> 192 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS mit großen Augen an. Aber sie war doch mehr erschrocken als empört« (EB, 180 f.). Effi fühlt sich in dem Ostseeort Kessin nahe der polnischen Grenze fremd, der Ort wird auch entsprechend durch die Symbolik der Kälte markiert: »Sie gefiel sich nämlich darin, Kessin als einen halbsibirischen Ort aufzufassen, wo Eis und Schnee nie recht aufhörten« (EB, 28). Allerdings wird auch der Ehemann mit Kälte und Fremdheit assoziiert: »›Auf dem ganzen weiten Weg nicht gerührt, frostig wie ein Schneemann. Und immer nur die Zigarre‹« (EB, 69). Effis jugendlicher »Sehnsucht« und »Angst« kann der häufig in Geschäften abwesende Innstetten nicht abhelfen (EB, 75). Auch sonst ist er nicht der ideale Ehemann, der Erzähler fasst zusammen: »Innstetten war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht« (EB, 105). Effi freundet sich zunächst mit dem verwachsenen Apotheker Gieshübler an (EB, 63), über den sie sagt: »›er ist wirklich der einzige, mit dem sich ein Wort reden läßt, der einzige richtige Mensch hier‹« (EB, 70), und dann mit dem Familienvater Major von Crampas, der mit 44 Jahren sogar älter ist als Innstetten. Crampas gilt aber als »Mann vieler Verhältnisse«, als ein »Damenmann«. Zugleich ist er: »Vollkommener Kavalier, ungewöhnlich gewandt« (EB, 107). Auch hier gibt der Erzähler genauere Auskunft: […] so rücksichtslos er im Punkte chevaleresker Liebesabenteuer war, so sehr war er auch wieder guter Kamerad. Natürlich alles ganz oberflächlich. Einem Freunde helfen und fünf Minuten später ihn betrügen, waren Dinge, die sich mit seinem Ehrbegriffe sehr wohl vertrugen. Er tat das eine und das andere mit unglaublicher Bonhomie. (EB, 138) Crampas verführt Effi, nachdem er symbolischerweise für eine Inszenierung des Lustspiels Ein Schritt vom Wege (1871) von dem heute vergessenen Ernst Wichert (1831-1902) verantwortlich gezeichnet hat (EB, 146 ff.), mit Effi in der Hauptrolle. Die Verführungsszene lässt zwar offen, ob es sich um eine von Effi gewollte Liebschaft handelt, doch trifft sie Crampas immer wieder in den Dünen und hat ein Verhältnis mit ihm. Wie aus den später gefundenen Briefen hervorgeht, hat Effi sogar mit ihm durchbrennen wollen, Crampas hat dies abgelehnt: »›Fort, so schreibst Du, Flucht. Unmöglich. Ich kann meine Frau nicht im Stich lassen, zu Der Schritt vom Wege <?page no="206"?> 193 t heoDor f ontane : e ffI b rIeSt (1895) allem andern auch noch in Not‹« (EB, 237). Die äußeren Umstände lassen es nicht zu, die privaten Verhältnisse zu verändern. Effi entscheidet sich schließlich dafür, das Verhältnis zu beenden und wieder eine treue Ehefrau und Mutter zu sein (EB, 192 ff.). Den äußeren Anlass bietet der Umzug nach Berlin, er ist aber auch Ursache für Effis beginnende Krankheit. Die auf Effis Betreiben schnell angemietete Wohnung ist gerade erbaut worden und hat noch feuchte Wände. Es ist kein Zufall, dass der Beginn der Atemwegs- und Lungenkrankheit mit dem letztendlichen Sichfügen in das konventionelle Leben einhergeht. Wie die Wohnung ist Effis Leben ein »Neubau«, »feucht und noch unfertig« (EB, 199). Es liegt nahe, hier die Ursache für die späteren »katarrhalischen Affektionen« (EB, 227) Effis zu sehen. Durch einen Zufall entdeckt Innstetten die Liebesbriefe von Crampas an Effi (EB, 232 ff.), die Affäre liegt nun etwa sechseinhalb Jahre zurück (EB, 238). Auch hier verwendet Fontane gängige Symbolik: Sieben wäre eine positiv konnotierte Zahl, sie wird um ein halbes Jahr verfehlt, sie wäre nur mit einem positiven Ausgang zu kombinieren gewesen. Innstetten berät sich mit seinem Freund von Wüllersdorf, der ihm rät, die Angelegenheit zu vergessen. Innstetten möchte dies auch tun, da er seine Frau liebt, er ist aber überzeugt, dass er handeln muss, da es schon genügt, dass von Wüllersdorf, der wie jeder andere die Gesellschaft und ihre Regeln repräsentiert, um das Vergangene weiß (EB, 239 ff.). Innstetten fordert Crampas zum Duell auf und tötet ihn (EB, 246 f.), er trennt sich von Effi und behält die gemeinsame Tochter Annie. Auf Betreiben der Mutter distanzieren sich die Eltern von ihrer Tochter, sie solidarisieren sich mit den Regeln ihrer Gesellschaft: »›Die Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein‹« (EB, 260). Dass Innstetten im Sinn der moralischen Normen der Gesellschaft gehandelt hat, wird von höchster Stelle sanktioniert, es kommt nur zu einer wenig mehr als symbolischen Strafe: »›der alte Kaiser habe gesagt, sechs Wochen [Abwesenheit] in solchen Fällen sei gerade genug‹« (EB, 267). Das Geschehene verhindert nicht, dass Innstetten die Karriereleiter weiter hinauf klettert (EB, 290). Selbst die Frau des Ministers, des Vorgesetzten Innstettens, stellt Effi gegenüber fest, sie werde ihr zwar helfen, sie müsse aber zugleich »›das Tun Ihres Herrn Gemahls […] rechtfertigen‹« (EB, 276). Selbst Effis Tochter Annie gibt sich bei dem von der Ministerin vermittelten Wiedersehen so spröde, dass Effi nach dem Die entdeckten Liebesbriefe Duell und Karriere <?page no="207"?> 194 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS Treffen zusammenbricht: »Als Roswitha wiederkam, lag Effi am Boden, das Gesicht abgewandt, wie leblos« (EB, 280). Als Effis Gesundheitszustand angesichts der Umstände, in und unter denen sie lebt, immer prekärer wird, erlauben ihre Eltern ihr die Rückkehr in das heimatliche Herrenhaus in Hohen-Cremmen (EB, 283). Als Effi dort stirbt, wird sie im Garten des Hauses begraben - auch dies kann als intertextueller Verweis auf den Werther gelesen werden, der zwar auf dem Friedhof, aber ohne Beistand eines Geistlichen beerdigt wird. Beide Figuren, Werther und Effi, stellen sich durch ihr Handeln, durch Selbstmord und Ehebruch, außerhalb der weltlichen und religiösen Ordnung. Bemerkenswert ist, dass Fontane einer Frau diese Rebellion gegen gesellschaftliche Regeln zubilligt und dass die Regeln selbst als etwas von Menschen Gemachtes erscheinen, also auch anders sein könnten. Die Beschreibung des Gartens des Herrenhauses bildet den Rahmen der Handlung. Zu Beginn wird Effi dort im Kreis ihrer Freundinnen gezeigt, zum Schluss ist sie an der Stelle begraben, an der vorher die Sonnenuhr war. Bereits die Beschreibung des Gartens am Romananfang kann als Vorausdeutung auf das weitere Geschehen und als Interpretationshinweis gelesen werden. Das Herrnhaus hat nur einen Flügel, ist also nicht symmetrisch und damit unvollkommen, ebenso wie die Familie, die nur eine Tochter als letzten Nachkommen und keinen Sohn hat. Die andere Seite des Gartens wird, auf den Tod Effis vorausdeutend, durch eine »Kirchhofsmauer« begrenzt (EB, 7) und der Garten wird an der Stirnseite durch einen Teich abgeschlossen, in dem von den spielenden Kindern Stachelbeerschalen beigesetzt werden. Effi zieht eine bezeichnende Parallele: »[…] so vom Boot aus sollen früher auch arme unglückliche Frauen versenkt worden sein, natürlich wegen Untreue« (EB, 14). Effi selbst wird als schöne junge Frau beschrieben, die sich, weil sie noch Kind ist, ihrer erotischen Anziehungskraft nicht bewusst ist: »In allem, was sie tat, paarte sich Übermut und Grazie, während ihre lachend braunen Augen eine große, natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte verrieten.« Ihre Mutter, die sie kalkulierend Innstetten als verführerische Kindfrau präsentiert (EB, 17 f.), nennt sie, weil sie gern die Schaukel im Garten benutzt, eine mögliche »›Kunstreiterin‹«: »›Immer am Trapez, immer Tochter der Luft‹« (EB, 8). Dass der Balken der Schaukel durch den häufigen Gebrauch bereits Symbolik der Bildbeschreibung <?page no="208"?> 195 t heoDor f ontane : e ffI b rIeSt (1895) »etwas schief« steht (EB, 7), kann ebenfalls als symbolischer Verweis auf die Gefährdung durch ›natürliches‹, die ›künstlichen‹ gesellschaftlichen Regeln ignorierendes Verhalten gelesen werden. Deshalb sagt die Mutter auch: »›Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich berunruhige mich immer, wenn ich dich so sehe …‹« (EB, 9). Innstetten wird gegenteilig charakterisiert, hier von Effis Vater am Tag nach der Hochzeit: »›Innstetten ist ein vorzüglicher Kerl, aber er hat so was von einem Kunstfex, und Effi, Gott, unsere arme Effi, ist ein Naturkind‹« (EB, 38). Das Motiv des Wassers durchzieht buchstäblich und untergründig den Roman. Kessin liegt am Meer und Effi wird von Crampas verführt, als ihr Schlitten gerade versucht, den Schloon, eine morastige Strömung, zu umfahren (EB, 161-165). Die weiteren Begegnungen des heimlichen Liebespaars finden in den Dünen am Meer statt (EB, 173 ff.) und auch der Chinese, von dem im Roman immer wieder die Rede ist und der wohl wegen einer unglücklichen Liebe gestorben ist (EB, 46 u. a., v. a. 84 ff.), liegt in den Dünen begraben. Die offen konzipierte und vielfach interpretierte Binnenerzählung über den Chinesen dient, wie viele andere Geschichten um zahlreiche Nebenfiguren, die hier nicht erwähnt werden können, der Spiegelung der Haupthandlung und ihrer Einbettung in einen größeren gesellschaftlichen Kontext. Fontane konzipiert keine einfache Dichotomie (freiheitsliebendes) Individuum und (einschränkende) Gesellschaft. Hier wird der Roman oft, weil eine solche Frontstellung zu jeder Zeit große Popularität genießt (obwohl die Verhältnisse stets komplexer sind), fehlinterpretiert und missverstanden. Effi ist keineswegs nur Opfer ihrer Umwelt, sie wird zur ›Gefangenen‹ ihrer eigenen Bedürfnisse: »Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht über sie« (EB, 172). Effi ist nicht nur in den Regeln der Gesellschaft unfrei, sondern sie wird auf andere Weise ebenso unfrei, indem sie sich von diesen Regeln befreit. Die Abwesenheit gesellschaftlicher Zwänge führt sie in neue Zwänge - beide bedingen sich gegenseitig. Deshalb sieht Effi in dem Umzug nach Berlin die Chance, wieder ein selbstbestimmtes Leben führen zu können: »›ich werde wieder frei sein‹« (EB, 186). Indem sie Ihr Verhältnis zu Crampas als selbst gewählt annimmt, kann sie es auch ändern und ihr Leben von nun an aktiv gestalten (EB, 193). Allerdings wird die Vergangenheit Effi einholen. Ihre Tragik besteht darin, dass sie zu spät das nach den geltenden Regeln Der Chinese als Chiffre <?page no="209"?> 196 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS Richtige tut. Ihre Hoffnung auf ›Gnade‹ ist es, die in der zweiten Romanhälfte einen kritischen Diskurs über die gesellschaftlichen Regeln und somit über das Verhältnis von individueller Freiheit und der Notwendigkeit ihrer Einschränkung zugunsten der Gesellschaft ermöglicht. Effi macht einen Neuanfang, kann aber die Vergangenheit nicht vergessen: »›Ich kann es nicht loswerden‹« (EB, 222), bezeichnenderweise jedoch nicht aus einem Gefühl von »Reue«, sondern von »Scham« (EB, 223). Während Reue eine Akzeptanz äußerer moralischer Vorstellungen bedeuten würde, ist Scham ein weniger auf Moral als auf Körperlichkeit bezogener Begriff und viel stärker von individuellen Vorstellungen abhängig. Immer wieder wird thematisiert, dass es sich bei den Regeln, die angewendet werden, um Konzepte menschlichen Zusammenlebens handelt, die auch anders sein könnten. Als Innstetten die Liebesbriefe findet, werden sie mit einem »Spiel Karten« verglichen (EB, 235). Ein Kartenspiel folgt eigenen Regeln, ob man verliert oder gewinnt, ist kontingent. Innstetten möchte Effi eigentlich verzeihen: »›Es steht so, daß ich unendlich unglücklich bin; ich bin gekränkt, schändlich hintergangen, aber trotzdem, ich bin ohne jedes Gefühl von Haß oder gar von Durst nach Rache‹« und daher »›in meinem letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt‹«. Wenn er nach einem Abgleich seiner individuellen Maßstäbe mit den von ihm angenommenen Normen der Gesellschaft sucht, dann stellt sich ihm die Frage der »Verjährungstheorie« (EB, 239), der Bedeutung des Faktors Zeit. Innstetten entscheidet sich letztlich gegen das Verzeihen, weil er die Maßstäbe seiner Umwelt absolut setzt: »›Weil es trotzdem sein muß. […] Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wird sind durchaus abhängig von ihm. Ginge es, in Einsamkeit zu leben, so könnt ich es gehen lassen […]‹« (EB, 240). Und weiter: »›[…] jenes, wenn Sie wollen, uns tyrannisierende Gesellschafts- Etwas, das fragt nicht nach Verjährung. Ich habe keine Wahl. Ich muß‹« (EB, 240). Das Verhalten seines Freundes und seiner Vorgesetzten wird ihm Recht geben. Auch wenn Geheimrat Wüllersdorf niemandem davon erzählen würde, so hätte Innstetten in ihm einen »Mitwisser« (EB, 241), anders gesagt: Jedes Mitglied der Gesellschaft ist zugleich ihr Repräsentant, somit ist das Wissen des Einen zugleich das potentielle Wissen aller und das Vergehen gegen die Reue und Scham Die Gesellschaft als Tyrann <?page no="210"?> 197 t heoDor f ontane : e ffI b rIeSt (1895) moralischen Regeln stets als ein öffentliches zu bewerten. Auch wenn von Wüllersdorf Innstetten letztlich zustimmt, so zeigt doch seine Wortwahl, dass es sich um sehr problematische Regeln handelt, die hier positiv sanktioniert werden: »›Die Welt ist einmal, wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht, wie wir wollen, sondern wie die andern wollen. Das mit dem ›Gottesgericht‹, wie manche hochtrabend versichern, ist freilich ein Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt‹« (EB, 242). Der Roman relativiert die Schuld der Figuren, indem er sogar Crampas dieser Schlussfolgerung zustimmen lässt: »Aber als ich ihm alles gesagt hatte, sagte er geradeso wie wir: ›Sie haben recht, es muß sein! ‹« (EB, 244). Dennoch hat Innstetten, nach dem Duell, dessen Folgen nicht mehr rückgängig gemacht werden können, erneut Zweifel. Er fragt sich, über die Zahl der Jahre nachdenkend, die hätten vergehen können, bis er die Briefe gefunden hätte: »Wo liegt die Grenze? « (EB, 247). Vielleicht war sein Handeln »Prinzipienreiterei« (EB, 248). Doch auch diese Zweifel führen nicht dazu, dass er die weiteren Schritte unterlässt, der einmal eingeleitete Automatismus führt zur Verstoßung Effis und zur Verschlimmerung ihrer todesursächlichen Krankheit. Roswithas Vorhaltungen gegenüber Johanna, sie sei »nicht für totschießen« und »das ist ja nun schon eine halbe Ewigkeit her« (EB, 251), nähren die Zweifel beim Leser, ob Innstetten nicht anders hätte handeln sollen. Die Geheimrätin Zwicker wird später betonen, dass es leicht gewesen wäre, den Skandal zu vermeiden: »›Wozu gibt es Öfen und Kamine? ‹« Außerdem stellt sie fest, dass »einem kommenden Geschlechte« solche Briefe »gefahrlos« werden könnten: »›Aber so weit sind wir noch lange nicht‹« (EB, 263). Innstetten selbst stellt fest, drei Jahre nach dem Briefefund und anlässlich seiner Beförderung: »Alles, was uns Freude machen soll, ist an Zeit und Umstände gebunden, und was uns heute noch beglückt, ist morgen wertlos« (EB, 290). Als Roswitha ihm einen Brief schreibt, in dem sie darum bittet, dass Rollo, der Hund der Familie, zu Effi wechselt, heißt es darin: »›Das ist der Vorteil, daß sich die Tiere nicht so drum kümmern.‹« Wüllesdorf befindet: »›Die ist uns über‹.« Innstetten stimmt ihm zu und ergänzt: »›Es quält mich seit Jahr und Tag schon, und ich möchte aus dieser ganzen Geschichte heraus; nichts gefällt mir mehr; je mehr man mich auszeichnet, je mehr fühle ich, daß dies alles nichts Ehrenkultus und Götzendienst „So weit sind wir noch nicht“ <?page no="211"?> 198 v orm ärz , r e alI SmuS unD n aturalI SmuS ist. Mein Leben ist verpfuscht […]‹« (EB, 292). Innstetten schmiedet Auswanderungspläne nach Afrika zu denen, »›[…] die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen! Denn gerade das, dieser ganze Krimskrams ist doch an allem schuld. Aus Passion, was am Ende gehen möchte, tut man dergleichen nicht. Also bloßen Vorstellungen zuliebe …‹« (EB, 293). Wüllersdorf hält dagegen, es bleibe Innstetten nur eine Wahl: »›Einfach hierbleiben und Resignation üben. Wer ist denn unbedrückt? […] Sie wissen, ich habe auch mein Päckchen zu tragen, nicht gerade das Ihrige, aber nicht viel leichter‹« (EB, 293 f.). Ein Baumeister habe ihm einmal gesagt: »›Glauben Sie mir, Wüllersdorf, es geht überhaupt nicht ohne ›Hilfskonstruktionen‹« (EB, 294). Bei aller Tragik der Handlung sind solche Stellen nicht ohne Komik. Die Schuldfrage wird zum Schluss stellvertretend von dem Hund Rollo verneint, auf die entsprechende Frage von Frau von Briest hin schüttelt er den Kopf (EB, 301). Ein ironischer Schluss für einen Roman, der zeigt, dass individuelle Freiheit in einer solchen Gesellschaft nicht zu erlangen ist. Die starren Werte und Normen der Gesellschaft bestimmen den Diskurs und durchdringen das Denken und Handeln ihrer Mitglieder. Der Roman macht diesen gesellschaftlichen Diskurs transparent und setzt so seine LeserInnen in den Stand, die Werte und Normen der eigenen Gesellschaft zu hinterfragen. Welche Lösungen für eine größere Freiheit des Einzelnen in der Gesellschaft kann es geben, wie lassen sich individuelle und kollektive Bedürfnisse miteinander sinnvoll in Beziehung setzen? Die „Hilfskonstruktionen“ <?page no="212"?> 199 t heoDor f ontane : e ffI b rIeSt (1895) Literarische Moderne (Jahrhundertwende, Expressionismus, Weimarer Republik) und Exil 6.1. Einleitung 200 6.2. Thomas Mann: Buddenbrooks (1901) / Der Tod in Venedig (1912) 209 6.3. Franz Kafka: Das Urteil (1913) 221 6.4. Franz Kafka: Die Verwandlung (1916) 227 6.5. Kurt Pinthus: Menschheitsdämmerung (1919) 232 6.6. Bertolt Brecht: Hauspostille (1927) 238 6.7. Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928) 247 6.8. Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz (1929) 252 6.9. Erich Kästner: Emil und die Detektive (1929) 260 6.10. Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen (1932) 268 Um 1900 verdichtet sich der Eindruck, dass die bisherige Ordnung eine veraltete ist, auch wenn die politische und wirtschaftliche Macht der Eliten gefestigt scheint. Die Gegensätze in der Gesellschaft werden immer größer, zwischen arm und reich, mächtig und machtlos, und damit wächst auch die Unfreiheit und die Zahl derer, die sie empfinden. Der Glaube an das Schöpfertum des Menschen scheint gebrochen, die Vorherrschaft der epigonalen Literatur, die sich vor allem an Klassik und Romantik orientiert, kommt an ihr Ende. Dafür beginnt eine neue Frei- 6. Inhalt Zusammenfassung <?page no="213"?> 200 l IterarI Sche m oDerne heit des Umgangs mit Formen: Lyriker verzichten auf Reim und Metrum, Dramenautoren hängen lose Szenenfolgen aneinander, Prosaschriftsteller arbeiten mit Montage- und Collagetechniken. Der Erste Weltkrieg, zunächst als Weg in die Freiheit begrüßt, zeigt sich schon bald als größtmögliche Katastrophe, so dass viele Autoren zu Pazifisten werden und mit ihren Texten versuchen, Demokratisierungsprozesse zu fördern. Die Probleme der politisch und sozial zerrissenen Gesellschaft der Weimarer Republik werden offen in der Literatur verhandelt, bis der Nationalsozialismus jeden Versuch beendet, Freiheit zu gestalten. Viele Autoren gehen ins Exil, das aber nur wenigen die ökonomische Freiheit gibt, mit ihren Texten gegen die in Deutschland herrschende Unfreiheit anzuschreiben. Einleitung Um die Jahrhundertwende werden die Risse in der tradierten Ordnung immer sichtbarer, dabei zeigen sich die Auswirkungen neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sigmund Freud führt 1917 in seiner Abhandlung Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse die Veränderungen auf drei fundamentale »Kränkungen der Menschheit« zurück und spricht von der »Zerstörung dieser narzißtischen Illusion« (Freud 1999b, 7). Mit der Kopernikanischen Wende (der Mensch ist nicht mehr Mittelpunkt des Universums), Darwins Anthropologie (der Mensch »ist selbst aus der Tierreihe hervorgegangen«) (Freud 1999b, 8) sowie der Psychoanalyse ist das vormals so mächtige Subjekt dezentriert worden. Die Psychoanalyse selbst habe gezeigt, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus« (Freud 1999b, 11). Die konservative Gesellschaft ist vielfach gespalten, in Monarchisten und Sozialdemokraten, Protestanten und Katholiken, in Vertreter der etablierten Ordnung und ihre Gegner, in die Älteren und die Jüngeren, die sich Veränderungen wünschen und unter der Besitzstandswahrung der Gewinner der wirtschaftlichen Prosperität seit der Gründerzeit leiden. Die Kriegsrhetorik in Europa, geschürt durch den ebenso ungeschickt agierenden wie arroganten Kaiser Wilhelm II., sorgt für große politische Unsicherheit, das Wort vom Fin de Siècle, vom Ende des Jahrhunderts, verdeutlicht die Untergangs- und Wechselstimmung. Der Dekadenz-Begriff macht die Runde, der Dandy protestiert mit seiner provokanten 6.1. Die drei „Kränkungen der Menschheit“ Eine konservative Gesellschaft <?page no="214"?> 201 e InleItung Pose und mit gepflegtem Nichtstun gegen die herrschenden konservativen Verhältnisse, die einem preußisch-protestantischen Arbeitsethos verpflichtet sind. Die Mischung von Epigonentum und Erfolg spiegelt sich noch im Werk Paul Heyses (1830-1914), der vor allem für seine zahlreichen Novellen berühmt war und 1910 den Literaturnobelpreis erhielt, im selben Jahr wurde er geadelt. Es ist gut möglich, dass Heyse, neben dem für die Moderne stehenden Komponisten Gustav Mahler (1860-1911), eines der Vorbilder für die Figur Gustav von Aschenbach in Thomas Manns (1875-1955) Der Tod in Venedig (1912) war. Auch Aschenbach ist ein geadelter, überaus erfolgreicher, von allen geschätzter Autor und nicht zufällig Verfasser einer »klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von Preußen« (Mann 1990c, 450); als solcher verfällt er der Ironie. Seine Wandlung vom klassischen zum modernen Dekadenz-Autor wird allerdings ebenfalls ironisiert, denn kurz nachdem er im Angesicht des von ihm angebeteten jungen Tadzio »jene anderthalb Seiten erlesener Prosa« ›geformt‹ hat, »deren Lauterkeit, Adel [! ] und schwingende Gefühlsspannung binnen kurzem die Bewunderung vieler errregen sollte« (Mann 1990c, 493), stirbt er nicht nur an der Cholera, sondern auch an geistiger Erschöpfung. Der konservative, epigonale Heyse wird 1910 hoch geehrt, der moderne, aber unglückliche Mahler stirbt 1911. 1912 erscheint die Novelle - wohl kein zufälliges Zusammentreffen und bezeichnend für die Entwicklung nicht nur der Literatur. Der Erste Weltkrieg scheint eine Möglichkeit zu bieten, die Gegensätze zu überwinden und einen (so die Hoffnung der jungen expressionistischen Generation) ›neuen Menschen‹ hervorzubringen, wie dies beispielsweise Georg Kaiser (1878-1945) in seinem Drama Die Bürger von Calais (1912 / 13) beispielhaft vorzuführen versucht. Kaiser wird, wie viele seiner Generation, im Laufe des Krieges zu einem Pazifisten und seine Dramentrilogie Die Koralle (1917), Gas (1918) und Gas II (1920) gehört zu den wichtigsten literarischen Warnungen vor den Folgen eines möglichen weiteren, die Menschheit potentiell zerstörenden Krieges. Die von Freud konstatierte Krise ist umfassend und sie betrifft auch die Sprache. Bezeichnend hierfür ist der fiktive Brief des Lord Chandos (1902) von Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), in dem das schreibende Ich eine Sprachkrise festhält, mit der berühmten Formulierung: »[…] die abstrakten Worte, deren sich doch die Epigonentum und Erfolg Expressionismus und Erster Weltkrieg <?page no="215"?> 202 l IterarI Sche m oDerne Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze« (Hofmannsthal 1981, 146). Die Bewegung des Dadaismus wird gegen Kriegsende eine radikale Konsequenz aus der Sprachkrise ziehen. Im Dadaistischen Manifest (1918) erteilen die Unterzeichner, neben Schriftstellern wie Richard Huelsenbeck (1892-1974) und Hugo Ball (1886-1927) auch Künstler wie George Grosz (1893-1959), nicht nur der etablierten, sondern auch der bisher avantgardistischen Literatur und Kunst eine Absage: Haben die Expressionisten unsere Erwartungen auf eine Kunst erfüllt, die uns die Essenz des Lebens ins Fleisch brennt? NEIN! NEIN! NEIN! Unter dem Vorwand der Verinnerlichung haben sich die Expressionisten in der Literatur und in der Malerei zu einer Generation zusammengeschlossen, die heute schon sehnsüchtig ihre literatur- und kunsthistorische Würdigung erwartet und für eine ehrenvolle Bürger-Anerkennung kandidiert. (Dadaistisches Manifest 1986, 293) Der »Streitruf DADA! ! ! ! « und der »Dadaismus« sollen »das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit« bezeichnen. »Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen […]« (Dadaistisches Manifest 1986, 294). Auf die größtmögliche Unfreiheit und nationale Beschränktheit durch den Ersten Weltkrieg reagiert die Künstlergruppe mit einer Befreiung und Entgrenzung in der und durch die Kunst. Das Programm soll dem Individuum die größtmögliche Freiheit bieten: »Hier ist jeder Vorsitzender […]« (Dadaistisches Manifest 1986, 295). Die Lautgedichte des Dadaismus sind daher Nonsens- Gedichte nur in dem Sinn, dass sie, nach jahrelanger Kriegspropaganda, den Sinn der Sprache und des Sprachgebrauchs hinterfragen. Ein Beispiel ist das bekannte Gedicht Karawane (1917) von Hugo Ball, das zudem eine besondere graphische Darstellung aufweist. In der Weimarer Republik gibt es viele Autoren, die sich gegen die immer noch herrschenden monarchistisch gesinnten, konservativen Eliten vor allem in Militär und Justiz wie auch gegen die neuen nationalistischen und auch nationalsozialistischen Bewegungen für Demokratisierungsprozesse einsetzen. Der einstmals überzeugte Monarchist Thomas Mann ändert seine Meinung und wird zum überzeugten Demokraten. Der als junger „DADA! ! ! ! “ Literatur in der Weimarer Republik <?page no="216"?> 203 e InleItung Mann voller Begeisterung in den Krieg gezogene und zum Pazifisten gewordene Ernst Toller (1893-1939) wird 1919 für kurze Zeit Anführer der Bayerischen Räterepublik, die allerdings scheitert und einer rechtskonservativen, wenn auch demokratisch verfassten Republik Bayern weichen muss. Die Bezeichnung Freistaat stammt noch aus der Zeit Kurt Eisners (1867-1919), des Initiators der Räterepublik und Mentors Ernst Tollers. Eisner wird von einem rechtsradikalen Attentäter ermordet, einem jungen Adeligen mit deutsch-völkischer Überzeugung. Toller wird als Hochverräter zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, die Aufführungen seiner ersten und sehr erfolgreichen Dramen, beginnend mit Die Wandlung (1919), kann er nur aus dem Gefängnis verfolgen, wenn die Zensur es zulässt. Hinkemann (1923) oder Hoppla, wir leben! (1927) zählen zu den erfolgreichsten Stücken der Weimarer Republik. Toller wird auch international ein Star. Nach seiner Emigration findet es der politisch weiterhin sehr aktive Autor aber unmöglich, an seinen früheren Ruhm anzuknüpfen, von der außerordentlich wichtigen Autobiographie Eine Jugend in Deutschland (1933) einmal abgesehen, in der Toller schonungslos von den Erfahrungen im Kaiserreich und im Krieg erzählt. Er begeht, desillusioniert durch die politischen Entwicklungen, 1939 in einem Hotel in New York Selbstmord. Auch Kurt Tucholsky (1890-1935), der bekannteste Autor der berühmten Zeitschrift Die Weltbühne, stirbt im schwedischen Exil vermutlich einen Freitod aus Verzweiflung. Tucholsky, Erich Kästner (1899-1974) und Bertolt Brecht (1898-1956) gelten, obwohl sie diese Bezeichnung für sich immer zurückgewiesen haben, als Autoren der Neuen Sachlichkeit. Der Begriff geht auf eine Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim 1925 zurück und bezeichnet die Beschäftigung mit Themen des Alltags und einen Stil, der sich der Alltagssprache annähert. Des- Die Neue Sachlichkeit Das Lautgedicht Karawane von Hugo Ball, 1917 Abb. 6.1 <?page no="217"?> 204 l IterarI Sche m oDerne halb sind die Texte nicht weniger kunstvoll, sie bemühen sich allerdings, durch die Verwendung gängiger Formen, ein breiteres Publikum zu erreichen. Der Übergang zum Journalismus ist fließend, wie der bedeutendste deutschsprachige Journalist des 20. Jahrhunderts zeigt, Egon Erwin Kisch (1885-1948), dessen Artikelsammlung Der rasende Reporter (1925) sprichwörtlich wird. Alfred Döblin (1878-1957) montiert in seinen wegweisend experimentellen Roman Berlin Alexanderplatz (1929) Auszüge aus Zeitungsartikeln ein, ohne dass es erkennbare Markierungen dafür gäbe. Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (DLA) lässt sich das Manuskript einsehen, in das die Ausschnitte eingeklebt sind. Der Druck verwischt die Grenzen. Die genannten Autoren lehnen die konservativen Eliten ab, wie das von Tucholsky mit Fotomontagen von John Heartfield (1891-1968) ausgestattete »Bilderbuch« mit dem ironisch gemeinten Titel Deutschland, Deutschland über alles (1929) zeigt. Auch die Übergänge zu Kunst und Musik, zu den neuen Medien Fotografie und Film sind fließend. Bertolt Brecht schreibt am Drehbuch Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? (1932) mit, Erich Kästner am Drehbuch seines Kinderromans Emil und die Detektive (1929), das der später so berühmte Billy Wilder (1906-2002) noch einmal überarbeitet; der Film kommt 1931 in die Kinos und wird ein Kassenschlager. Der nicht emigrierte, aber seit 1936 als Schriftsteller kaltgestellte Erich Kästner liefert später auch, dank ausgezeichneter Verbindungen zur Kulturindustrie, das Drehbuch für den 1943 gezeigten Ufa-Jubiläumsfilm Münchhausen, der ein gutes Beispiel für den Versuch der im Land gebliebenen kritischen Intellektuellen ist, das NS-Regime zu überleben und sich trotzdem nicht kritiklos anzupassen. Kästners Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931) gilt als, wie es der Kritiker Monty Jacobs formuliert, Ausdruck der »Stimmung […] einer ganzen Generation« (Kästner 1998c 3, 387). Als Titel ist ursprünglich Sodom und Gomorrha geplant, doch dieser Vorschlag des Autors wird, wie andere Vorschläge (etwa Der Gang vor die Hunde), vom Cheflektor des Verlags zurückgewiesen, so dass es zu dem heute gebräuchlichen, vergleichsweise harmlosen und als verharmlosend geltenden Titel kommt (Kästner 1998c 3, 385 f.). »Die zeitkritisch wie politisch entschärfte Erstausgabe des Romans erschien Ende Oktober 1931. Fabian wurde überraschend zum Publikumserfolg. Binnen vier Wochen waren drei Auflagen (15 000 Exemplare) verkauft […].« Arbeit für den Film <?page no="218"?> 205 e InleItung Beate Pinkerneil befindet: »Kästners Fabian ist eine zeitgeschichtliche und sozialpathologische Fallstudie, die Nationalsozialismus und Faschismus blitzlichtartig vorausbeleuchtet. Das Panorama der zivilen Gesellschaft pervertiert hier zu einem gegenaufklärerischen Panoptikum. Fabian, alias Kästner, stellt seiner Zeit die Diagnose. Eine Therapie weiß er nicht« (Kästner 1998c 3, 381). Die Emanzipation der Frau, gefördert durch die neuen Arbeitsmöglichkeiten nach dem Tod so vieler Soldaten (Arbeit war Männersache, aber dem Arbeitsmarkt fehlen plötzlich die Männer), sorgt auch für bessere Möglichkeiten von Autorinnen. Thea von Harbou (1888-1954) ist nicht nur die Ehefrau des legendären Regisseurs Fritz Lang (1890-1976), sondern auch eine erfolgreiche Roman- und Drehbuchautorin. Obwohl der Film Metropolis (1927), eine Gemeinschaftsproduktion des Ehepaars, angesichts der gigantischen Kosten ein kommerzieller Misserfolg ist, so handelt es sich doch um den wichtigsten frühen Science-Fiction- Film, dessen Einfluss nicht nur auf das Genre, sondern auf die weitere Entwicklung des Films nicht überschätzt werden kann. Vicki Baum (1888-1960) gelingt mit Menschen im Hotel (1929, erstmals verfilmt 1932) ein vielschichtiges Panorama der Zeit. Marieluise Fleißer (1901-74) ist mit ihrer Komödie Pioniere in Ingolstadt (1928 / 29) und Irmgard Keun (1905-82) mit ihrem Roman Das kunstseidene Mädchen (1932) nicht nur in ihrer Zeit bereits sehr beachtet worden, sondern auch im Gedächtnis der Literaturgeschichte geblieben. Mascha Kaléko (1907-75) trägt mit Das lyrische Stenogrammheft. Verse vom Alltag (1933) zur literarischen Beschäftigung mit den Verhältnissen der weiblichen Angestellten bei. Alle die genannten Autoren und Texte und noch viele andere mehr spiegeln, was Siegfried Kracauer (1889-1966) in seiner hellsichtigen Studie Die Angestellten (1929) deutlich gemacht hat: »daß die für Angestellte produzierten Illusionen auf reichliche Nachfrage stoßen« (Kracauer 1971, 13). Der »alte Obrigkeitsstaat« (Kracauer 1971, 82) hat sich eine neue, glänzende Oberfläche geschaffen: »Das aber ist das Kennzeichen der neuen Sachlichkeit überhaupt, daß sie eine Fassade ist, die nichts verbirgt, daß sie sich nicht der Tiefe abringt, sondern sie vortäuscht« (Kracauer 1971, 96). Wobei hier zwischen ›neuer Sachlichkeit‹ als Lebensstil und neusachlicher Literatur zu unterscheiden ist, die sich keineswegs in der Darstellung erschöpft, sondern diese Lebensweise kritisch durchleuchtet und auf ihre Gefahren aufmerksam macht. Die Emanzipation der Frau Die Angestellten <?page no="219"?> 206 l IterarI Sche m oDerne Was hätte aus der Kultur der Weimarer Republik noch werden können, wenn es nicht die andere Seite gegeben hätte, die 1933 einen braunen Diktator an die Macht spülte! Die sogenannte Völkische Literatur versucht ganz andere Konsequenzen aus den skizzierten Entwicklungen zu ziehen und die Moderne rückgängig zu machen. Diese Literatur ist heute nicht mehr im Kanon der Literaturgeschichten, da sie nationalistisch, fremdenfeindlich und gewaltverherrlichend ist. Der zunächst als expressionistischer Dichter durchaus erfolgreiche Hanns Johst (1890-1978) ist ein Beispiel für die fatale Attraktivität des Führerkults um Adolf Hitler und der Versprechen der Nationalsozialisten. Johst macht Karriere und ist 1935-45 sogar Präsident der Reichsschrifttumskammer. Aus dem Jahr der Machtergreifung 1933 stammt sein Drama Schlageter, das er Hitler »in liebender Verehrung und unwandelbarer Treue« widmet (Neuhaus 2002a, 202): Der Geburtstag des ›Führers‹ am 20. April 1933 wurde Anlaß für die Uraufführung in Berlin. Allein im Jahre 1933 wurde Schlageter in mehr als tausend deutschen Städten zur Aufführung gebracht und öfters auch im Rundfunk ausgestrahlt. Somit wurde Johsts letztes veröffentlichtes Drama ein politisches Propagandamittel, das an der Machtausdehnung des Nationalsozialismus und an der psychischen Vorbereitung des deutschen Volkes auf den Zweiten Weltkrieg mitgewirkt hat. (Pfanner 1970, 191) Die Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 in zahlreichen deutschen Universitätsstädten, die bekannteste findet auf dem Berliner Opernplatz statt, führen zum Verbot zahlreicher Werke und zur Verfolgung ihrer 131 Autoren, die, sofern sie können, ins Exil gehen. Die Bücherverbrennungen sind von der »Deutschen Studentenschaft« initiiert worden (Weidermann 2009, 13): »Der undeutsche Geist wird aus öffentlichen Büchereien ausgemerzt« (Weidermann 2009, 15). Das NS-Regime ist bereits kurze Zeit nach seiner Regierungsübernahme so gefestigt, dass niemand dagegen protestiert. In den zwölf Jahren des 1000jährigen Reichs wird innerhalb Deutschlands keine nennenswerte Literatur publiziert. Die Auseinandersetzung gerade mit dieser Zeit und ihrer Literatur ist dennoch lehrreich, denn sie offenbart die größtmögliche Unfreiheit bis hin zu Folter und Mord, an der auch Schriftsteller und Germanisten, indem sie die Propaganda des Regimes unterstützten, ihren Anteil hatten. Völkische Literatur Die Bücherverbrennungen von 1933 <?page no="220"?> 207 e InleItung Vorreiter für zahlreiche das Regime und vor allem dessen Anführer glorifizierende Gedichte und Lieder ist das sogenannte Horst-Wessel-Lied. So wird in der Regel das von Horst Wessel (1907-30) verfasste Gedicht Die Fahne hoch (1929) genannt, das im Nationalsozialismus Teil der Nationalhymne war und wie folgt beginnt: »Die Fahne hoch! Die Reihen dicht geschlossen! / SA marschiert mit mutig-festem Schritt«. Weiter heißt es: Die Straße frei den braunen Bataillonen, Die Straße frei dem Sturmabteilungsmann! Es schaun aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen, Der Tag für Freiheit und für Brot bricht an! Es wird kein Zweifel daran gelassen, wer den Deutschen durch den »Kampfe« die ›Freiheit‹ bringen soll: »Bald flattern Hitlerfahnen über allen Straßen« (Grimm 2008, 58). Zu den in dieser Tradition stehenden, besonders populären Gedichten gehört auch Herbert Böhmes (1907-71) Der Führer (1936): Eine Trommel geht in Deutschland um, und der sie schlägt, der führt, und die ihm folgen, folgen stumm, sie sind von ihm gekürt. Sie schwören ihm den Fahnenschwur, Gefolgschaft und Gericht, er wirbelt ihres Schicksals Spur mit ehernem Gesicht. Er schreitet hart der Sonne zu mit angespannter Kraft. Seine Trommel, Deutschland, das bist du! Volk, werde Leidenschaft! (Grimm 2008, 64) Der in der NS-Zeit hohe Ämter bekleidende, populäre und angesehene Autor stellt auch nach 1945 seine rechtsradikalen Aktivitäten nicht ein, er gehört zu den Unbelehrbaren. Brecht hat die (erst viel später veröffentlichte) passende lyrische Antwort auf solche Gedichte gefunden, in einer Parodie auf das Horst-Wessel-Lied ohne eigenen Titel, in der Regel bezeichnet als (Der) Kälbermarsch (1933 / 36). Das Lied wird Teil des Stücks Schweyk im zweiten Weltkrieg (posthum erschienen 1957): NS-Literatur <?page no="221"?> 208 l IterarI Sche m oDerne Hinter der Trommel her Trotten die Kälber Das Fell für die Trommel Liefern sie selber. Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt. Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit. […] Sie tragen ein Kreuz voran Auf blutroten Flaggen Das hat für den armen Mann Einen großen Haken. […] (Brecht 1997a 2, 554) Im Exil entstehen zahlreiche weitere Werke, Thomas Mann beispielsweise veröffentlicht die Romane Lotte in Weimar (1939) und Doktor Faustus (geschrieben 1943, veröffentlicht 1947), mit denen er das Erbe der Weimarer Klassik und den herrschenden Ungeist kontrastiert. Von seinem Sohn Klaus Mann (1906-49) stammt der ebenfalls den Faust-Stoff verarbeitende Schlüsselroman Mephisto (1936), in dem kritisch und exemplarisch auf die NS-Karriere des berühmten (Faust-)Schauspielers Gustaf Gründgens (1899-1963) angespielt wird. Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2002 (Sammlung Metzler 329). Bormann, Alexander von u. Horst Albert Glaser (Hg.): Weimarer Republik - Drittes Reich: Avantgardismus, Parteilichkeit, Exil: 1918-1945. Reinbek: Rowohlt 1993 (Deutsche Literatur: Eine Sozialgeschichte 9). Kimmich, Dorothee u. Tobias Wilke: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. 2. Aufl. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2016 (WBG-Bibliothek / Einführungen Germanistik). Paucker, Henri R. (Hg.): Neue Sachlichkeit, Literatur im Dritten Reich und im Exil. Stuttgart: Reclam 1999 (Die deutsche Literatur in Text und Darstellung 15 / RUB 9657). Trommler, Frank (Hg.): Jahrhundertwende: vom Naturalismus zum Expressionismus: 1880-1918. Reinbek: Rowohlt 1993 (Deutsche Literatur: Eine Sozialgeschichte 8). Im Exil Lektürehinweise <?page no="222"?> 209 t homaS m ann : b uDDenbrookS (1901) / D er t oD In v eneDIg (1912) Thomas Mann: Buddenbrooks (1901) / Der Tod in Venedig (1912) In Thomas Manns (1875-1955) Geburtsort Lübeck befindet sich das Buddenbrook-Haus, es ist Museum und Veranstaltungsort in Trägerschaft der Kulturstiftung Hansestadt Lübeck. Das Haus der Familie Mann ist nicht zufällig mit dem Namen der fiktiven Kaufmannsfamilie Buddenbrook versehen worden. Die Parallelen von Thomas Manns Herkunft und Leben zu den Schilderungen in seinem ersten Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie sind offensichtlich und führen dennoch auf falsche Fährten. Den Namen beispielsweise hat der begeisterte Leser Thomas Mann Fontanes Effi Briest entliehen, dort trägt eine Nebenfigur diesen Namen (ein Sekundant des Duells von Crampas und Innstetten; EB 244). In dem Aufsatz Bilse und ich (1906) hat Thomas Mann bereits versucht, Position zu beziehen, indem er das Literarische des Texts betont: Es gibt einen »Wesensunterschied« zwischen der »Welt der Realität« und derjenigen »der Kunst« (Mann 1990a, 16). Das Problem ist, und hier formuliert der Autor ein Literaturwissenschaftlern mehr als geläufiges Problem, die zu große »Identifikation« von Figuren und Personen (Mann 1990a, 17). Mann bezeichnet das Verhältnis des Autors zu seinem Gegenstand mit dem Begriff der »Freiheit«: »Wenn ich aber von Freiheit rede, so meine ich jene innere Unabhängigkeit, Ungebundenheit und Einsamkeit, welche die Vorbedingung jeder neuen und ursprünglichen Leistung ist« (Mann 1990a, 22). Die Selbst-Verteidigung seines Romans ist notwendig geworden, denn Verwandte und Bekannte lesen ihn als Enthüllungsstory über ihr Leben und sind schlecht auf den nun in München lebenden Nachwuchsautor zu sprechen. Dennoch ist sein Hinweis nicht nur als Rechtfertigungsstrategie zu begreifen. Literatur bil- 6.2. Freiheit als „innere Unabhängigkeit“ Thomas Mann, 1937 Foto von Carl van Vechten Abb. 6.2 <?page no="223"?> 210 l IterarI Sche m oDerne det nicht die ohnehin wahrnehmungsabhängige Realität ab, sondern modelliert mögliche alternative Realitäten. Der Erfolg der Buddenbrooks gibt Thomas Mann recht, 28 Jahre nach dem Erscheinen seines umfangreichen Debütromans erhält er vor allem für das Erstlingswerk sogar den Literaturnobelpreis. Man kann den Roman als Verfallsgeschichte einer prototypischen großbürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts lesen, aber auch als Werk über gesellschaftliche Umbrüche - des Standes, der Ökonomie, der Sexualität, des Geschlechts … Insofern passt der Roman in die Zeit des Fin de Siècle und der Dekadenzliteratur, in der die Intellektuellen die alten Ordnungen und Muster der Gesellschaft als veraltet ansehen, dieses Veraltete in Erscheinungen des Verfalls gestalten und alternative Konzepte entwickeln. Aus späterer Sicht hat der Roman prognostische Qualität: Die Familie als Mikrokosmos verfällt ebenso wie der Makrokosmos des zweiten deutschen Kaiserreichs. Dazu kommt, dass vieles in diesem Roman eines Mittzwanzigers bereits vorgeprägt ist, das auch in Manns weiterem Werk eine Rolle spielen wird, etwa die ironische Sicht des Erzählers auf Figuren und Handlung sowie der Widerspruch von Künstlertum und Bürgertum. Die Liste von Thomas Manns weiteren Werken, insbesondere der Erzählungen und Romane, ist lang. Zu nennen sind der umfangreiche Zauberberg (1924), die vier Bände über Joseph und seine Brüder (1933-43), der Goethe-Roman Lotte in Weimar (1939), der intertextuelle und zugleich auf die NS-Zeit bezogene Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1947), außerdem die immer wieder überarbeiteten und zuletzt 1954 erschienenen Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Beliebte Schullektüren sind die Novellen Tonio Kröger (1903), Der Tod in Venedig und Mario und der Zauberer (1930). Auch in gesellschaftlichen Debatten hat sich der Autor immer wieder zu Wort gemeldet. Umstritten sind bis heute seine den Konservatismus und die Monarchie aus ästhetischen Gründen feiernden Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). Allerdings wird Thomas Mann sehr bald zum Demokraten, wie seine Rede Von deutscher Republik (1922) bezeugt. Aus dem Exil in Kalifornien kämpft Thomas Mann mit Worten gegen das NS-Regime: Deutsche Hörer! heißen seine von der BBC in den Jahren 1940-45 gesendeten Rundfunkbeiträge. Thomas Mann zieht 1952 wieder nach Europa, aber Erfolg von Debütroman und Autor <?page no="224"?> 211 t homaS m ann : b uDDenbrookS (1901) / D er t oD In v eneDIg (1912) nicht nach Deutschland, sondern in die Schweiz. Kurz vor seinem Tod in Zürich wird er noch von seiner Heimatstadt Lübeck zum Ehrenbürger ernannt. In der öffentlichen Wahrnehmung von Autoren wie Thomas Mann ist es üblich, Privates und Literarisches nicht so zu trennen, wie es durch die Fiktionalität und Literarizität des Texts selbst geboten wäre. Wenn es beispielsweise bei Franz Kafka die problematische Vater-Beziehung ist, die immer wieder im Werk aufgefunden werden soll, so sucht und findet man gern bei Thomas Mann homoerotische Bezüge. Der Autor hat sich, um ein bürgerliches Leben führen zu können, bewusst gegen seine homosexuellen Neigungen entschieden und 1905 die wohlhabende Katharina (Katia) Pringsheim (1883-1980) geheiratet. Das Paar hat sechs Kinder, darunter so berühmte wie Erika (1905-69), Klaus (1906-49) und Golo Mann (1909-94). Thomas Mann hat sich auch gegen ein Leben als Künstler entschieden. Er versucht diese Entscheidungen aber für seine literarische Arbeit produktiv zu machen und in jedem Werk in unterschiedlicher Konstellation die Frage zu stellen, welche Freiheiten es geben kann, bestimmte Lebensentwürfe zu wählen und andere nicht. Wenn es also, wie etwa in Der Tod in Venedig, um die Frage von Künstlertum und Bürgertum einerseits, bürgerlichem Leben und Homosexualität andererseits geht, dann sollte man dies weniger als Symptom eines unbefriedigten privaten Lebens und eher als beispielhafte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten individueller Freiheit innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen lesen. Homosexualität beispielsweise galt zu Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur als unerwünscht, sie stand sogar unter Strafe. Der Tod in Venedig handelt von dem über 50jährigen und für seine Verdienste als Schriftsteller geadelten Gustav von Aschenbach, der in München lebt und von dort zu einer Reise in das für südländische Kunst und südländisches Leben, aber auch für Verfall stehende Venedig aufbricht, von der er nicht zurückkehren wird. Neben dem Titel deutet schon der Anfang der Novelle auf das Ende voraus, die Natursymbolik (»ein falscher Hochsommer«; TV, 444) und der Spaziergang über einen Friedhof setzen überdeutliche Zeichen. Zugleich rekurriert die Novelle in mehrfacher Hinsicht auf die antike Mythologie, Kunst und Dichtung. Der Autor selbst wird als ein klassischer Dichter seiner Zeit dargestellt, dessen »Meisterschaft« allerdings nur durch Unterdrückung Autobiographische Bezüge Die Frage von Künstlertum und Bürgertum <?page no="225"?> 212 l IterarI Sche m oDerne seiner Triebhaftigkeit zu erreichen gewesen ist. Daraus resultiert ein innerer Zwiespalt, der nun handlungsauslösend wird: Aber er selbst, während die Nation sie [seine »Meisterschaft«] ehrte, er ward ihrer nicht froh, und es schien ihm, als ermangle sein Werk jener Merkmale feurig spielender Laune, die, ein Erzeugnis der Freude, mehr als irgendein innerer Gehalt, ein gewichtigerer Vorzug, die Freude der genießenden Welt bildeten. (TV, 449) Aschenbach steht für die etablierte, konservative Literatur des deutschen Kaiserreichs, deshalb zählt zu seinen geschätzten Arbeiten auch ein Werk über ›Friedrich von Preußen‹ (TV, 450), also über Friedrich den Großen als Ahnherrn dieses Reiches. Gustav ist innerlich unfrei, seine Reise nach Venedig wird ihn erst zum Künstler machen. Dafür benötigt er die Begegnung mit dem Jüngling Tadzio, zu dem er eine homoerotische, wenn auch notwendig platonische Liebe fasst - eine Anspielung ebenso auf die griechische Kunst mit ihren Statuen junger Männerkörper wie auf die in der Antike praktizierte Knabenliebe als kulturell am höchsten stehende Form von Liebe. Gustav wird am eigenen Leib erfahren, was der ihn ironisch begleitende Erzähler früh festhält: »Auch persönlich genommen ist ja die Kunst ein erhöhtes Leben. Sie beglückt tiefer, sie verzehrt rascher« (TV, 457). Den Schriftsteller begleiten auf seiner Reise Todes- (immer wieder wird die »böse Zutat der Lagune und ihres Fieberdunstes« betont; TV, 480) und Liebessymbole in wechselseitiger Verschränkung. Die Liebe gipfelt in dem Anblick Tadzios, dessen »wahrhaft gottähnliche Schönheit« (TV, 473) den Vergleich mit dem Gott der Liebe, mit »Eros« (TV, 474), fast schon zwangsläufig macht. Der Name des Jungen ist eine polnische Koseform von Tadeusz, stammt vom griechischen Thaddäus ab und bedeutet so viel wie ›Lobpreisung‹. Die ebenfalls als Liebessymbol zu lesenden »vollreife[n] Erdbeeren« (TV, 477), die Aschenbach auf der vergeblichen Suche nach Tadzio als »überreife und weiche Ware« (TV, 520) am Ort des Entwurfs seines »vereitelten Fluchtplan[s]« (TV, 521) zu sich nimmt, sind es schließlich, die den Schriftsteller an der gerade in Venedig umgehenden Cholera (TV, 512) erkranken und, in die Betrachtung des am Strand spielenden Tadzio versunken, sterben lassen. Dass er entgegen seines ursprünglichen Plans nicht abgereist ist und es ignoriert hat, »daß die Stadt ihn krank mache« (TV, 483), Die alte Ordnung macht unfrei Todesboten <?page no="226"?> 213 t homaS m ann : b uDDenbrookS (1901) / D er t oD In v eneDIg (1912) führt aber nicht nur zu Aschenbachs Tod, sondern auch zu seinem ewigen Leben in der Kunst. Dies ist nur möglich, weil der in Venedig gebliebene Aschenbach »in Tadzio’s Gegenwart zu arbeiten« vermag und »während der gefährlich köstlichen Stunden«, in denen er »seinen Stil den Linien dieses Körpers folgen« lässt, eine »kleine Abhandlung« fertigstellt: »Jene anderthalb Seiten erlesener Prosa […], deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühlsspannung binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte« (TV, 493). Zur ironischen Konzeption der Novelle gehört, dass es dieser kurze Text ist, der Aschenbachs Nachruhm sichert, und nicht sein umfangreiches patriotisches Werk, das ihm den Adelstitel eingebracht hat. Der letzte Satz der Novelle ist daher ironisch: »Und noch desselben Tags empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode« (TV, 525). Die Ironie transzendiert sowohl die bürgerlichen als auch die künstlerischen Ambitionen der Figur und verweist auf den Text selbst, der die letzten Wochen des Lebens und das Sterben dieses für seine Zeit exemplarischen Schriftstellers schildert. Aschenbach erlangt keine Freiheit in seiner Existenz als Bürger, aber der Preis für die Freiheit als Künstler ist zu hoch. Das Erlangen künstlerischer Freiheit im Seuchentod ist eine Paradoxie, die sich nur durch das Wahrnehmen der Ironie auflösen und erklären lässt. Freiheit gibt die Position des Betrachters dieses exemplarischen Lebenslaufs, der sich überlegen kann, ob 1912 nicht eine Gesellschaftsform an ein Ende gekommen ist. Eine Überlegung, die retrospektiv, angesichts der Folgen des Ersten Weltkriegs, große Plausibilität gewinnt. Es wäre falsch, in Aschenbach mehr als ein ironisches Alter ego Thomas Manns zu sehen. Tatsächlich hat für die Figur vor allem der Komponist Gustav Mahler Pate gestanden. Es ist daher in zweifacher Hinsicht ein genialer Kunstgriff von Luchino Visconti (1906-76) in seiner legendären Verfilmung der Novelle aus dem Jahr 1971, aus der Titelfigur einen Komponisten zu machen und den Film mit der Musik Mahlers zu unterlegen. Nicht nur ist diese Änderung durch die Entstehungsgeschichte der Novelle gerechtfertigt, ein Musiker lässt sich auch visuell viel besser in Szene setzen als ein Schriftsteller. In dem Romanerstling Buddenbrooks finden sich zwar zahlreiche Spuren von Thomas Manns eigener Familiengeschichte, doch auch hier steht das Proto- und Zeittypische der Figuren im Vor- Die Bedeutung der Ironie Die legendäre Verfilmung <?page no="227"?> 214 l IterarI Sche m oDerne dergrund: »Buddenbrooks sind in elf Teile mit insgesamt 97 kürzeren Kapiteln unterschiedlicher Länge gegliedert. Der erzählte Zeitraum umfasst 42 Jahre von Herbst 1835 bis Herbst 1877 und wird chronologisch erzählt.« Der Roman beginnt »auf dem Höhepunkt familiären Glücks, mit der Feier des Einzugs der ersten Generation in das Haus in der Mengstraße« (Blödorn / Marx 2015, 16). Konsul Johann Buddenbrook ist zu Anfang der Familienpatriarch, doch in seiner Familie steckt bereits der Keim des Untergangs. Seine erste Frau ist bei der Geburt des Sohnes Gotthold gestorben. Der Erzähler erläutert: »Ja, Johann Buddenbrook mußte diese erste Gattin […] in rührender Weise geliebt haben, und das eine, kurze Jahr, das er an ihrer Seite hatte verleben dürfen, schien sein schönstes gewesen zu sein« (BB, 56). Der Konsul gibt seinem Sohn die Schuld, den er als »Zerstörer seines Glückes« sieht (BB, 57), und als Gotthold sich unstandesgemäß verheiratet, enterbt er ihn bis auf einen Pflichtteil und bestimmt den Sohn aus zweiter Ehe, Johann (genannt Jean), zu seinem Nachfolger. Als Gotthold um finanzielle Unterstützung bittet, mahnt Jean im Gespräch mit dem Vater, hier wird bereits auf die Symbolik des Hauses angespielt: »Es sollte kein heimlicher Riß durch das Gebäude laufen, das wir mit Gottholds gnädiger Hilfe errichtet haben …« (BB, 49 f.). Dennoch ist auch er schließlich dafür, Gottholds Forderungen nicht anzuerkennen. Jean hat mit seiner Frau Elisabeth (Bethsy) vier Kinder: Thomas, Christian, Antonie (Tony) und Clara. Der Nachfolger von Jean wird Thomas, der mit Gerda einen Sohn, Hanno, zeugt. Hanno ist allerdings, wie seine Mutter, eher der Musik und anderen Künsten zugeneigt. Das kaufmännische Geschick nimmt in der Generationenfolge immer stärker ab, das künstlerische Interesse hingegen nimmt zu. Dazu kommt, dass die Eheschließungen als wichtiger Teil des Geschäfts gesehen werden, sie gehen in die Bilanz des (nicht zwischen Geschäft und Familie trennenden) ›Hauses Buddenbrook‹ als Gewinn oder Verlust ein. Gerade die aufgeweckte und am Geschäft interessierte Tony darf nicht kaufmännisch tätig sein, sie darf nur am Familiengeschäft teilhaben, indem sie sich möglichst vorteilhaft verheiratet. Unglücklicherweise sind ihre beiden Ehen Verlustgeschäfte. Bendix Grünlich hat ihren Vater Jean mit falschen Geschäftszahlen geblendet (BB, 208 ff.), er hat Tony lediglich geheiratet, um sich selbst zu sanieren. Auch dies gelingt ihm nicht dauerhaft und so kommt es schließlich zur Scheidung. Der Eine Familien- und Untergangsgeschichte Kaufmann und Künstler als Gegensätze <?page no="228"?> 215 t homaS m ann : b uDDenbrookS (1901) / D er t oD In v eneDIg (1912) zweite Gatte, der Münchner Hopfenhändler Alois Permaneder (BB, 356), nutzt die Mitgift Tonys vor allem dafür, sich als Geschäftsmann zur Ruhe zu setzen und vergnügt sich mit einer weiblichen Hausangestellten (BB, 375 f.), so dass Tony auch ihn verlässt, zumal er sie auch noch im tiefsten bayerischen Dialekt beleidigt (BB, 394). Tonys geliebter Schwiegersohn, der Gatte ihrer Tochter Erika, der den sprechenden Namen Hugo Weinschenk trägt, kommt sogar ins Gefängnis (Bb, 553). Tony überredet Thomas zu einer Spekulation, die scheinbar Sicherheit verspricht, aber durch eine Naturkatastrophe zu einem großen Verlustgeschäft wird (BB, 453 ff.). Zwar vermag es Thomas, auf eine nicht standesgemäße Liebe und auch auf eigene künstlerische Neigungen zu verzichten (BB, 321) und das Familienunternehmen zunächst zu neuen Erfolgen zu führen. Er wird sogar, seinen ewigen Konkurrenten Hermann Hagenström besiegend, Senator der Stadt (BB, 409-418) und baut für seine eigene Familie »ein großes, neues Haus«. Der Erzähler kommentiert diesen Entschluss aber bereits mit einem Hinweis auf die innere Verzweiflung der Figur. Auch dass sich das neue Haus »in der unteren Fischergrube« befindet, ist keine gute Vorbedeutung (BB, 420). Thomas selbst, der stets Rastlose und mit sich selbst Unzufriedene, gibt sich angesichts der geschäftlichen und familiären Krisen Tony gegenüber pessimistisch: »›Ich habe in den letzten Tagen oft an ein türkisches Sprichwort gedacht, das ich irgendwo las: ›Wenn das Haus fertig ist, so kommt der Tod‹. Nun, es braucht noch nicht gerade der Tod zu sein. Aber der Rückgang … der Abstieg … der Anfang vom Ende …‹« (BB, 430 f.). Es häufen sich die Anzeichen, dass Thomas recht behalten wird. Trotz einiger Rückschläge ist der Verfall des ›Hauses Buddenbrook‹ aber eher ein gefühlter als ein tatsächlicher, denn Thomas »[…] war ein reicher Mann, und keiner der Verluste, die er erlitten, auch den schweren des Jahres 66 nicht ausgenommen, hatte die Existenz der Firma ernstlich in Frage stellen können« (BB, 467). Das gilt auch für das spätere Spekulationsgeschäft, obwohl es Thomas als eindrucksvolle Bestätigung dient, dass ihn sein kaufmännisches Glück verlassen hat. Symbolischerweise wird Thomas die Nachricht vom Verlust der »Pöppenrader Ernte« (BB, 453) bei der glanzvollen Feier zum »hundertjährige[n] Jubiläum der Firma ›Johann Buddenbrook‹« überbracht (BB, 493), eine Feier, zu der ebenfalls Tony ihn überredet (BB, 477). Während der Jahre der Die Metapher des Hauses <?page no="229"?> 216 l IterarI Sche m oDerne Gründerzeit stagniert das immer noch sehr wohlhabende Familienunternehmen, weil Thomas keinen Mut zu neuen Geschäften hat wie seine Konkurrenten, die »kleine Krämergeschäfte […] binnen weniger Jahre zu angesehenen Großhandlungen« ausbauen konnten (BB, 610). Thomas entfremdet sich von seiner Frau und seinem Sohn, weil er auf dem Vorrang des Kaufmännischen in der Familie beharrt (BB, 508 ff.), und stirbt einen frühen, unschönen, auch ironisch zu lesenden Tod (BB, 678-685). Der innere Gram, der an Thomas nagt, liegt in der für ihn selbstverständlichen, aber falschen Entscheidung begründet, Kaufmann zu werden und das Familienunternehmen zu übernehmen. Das wird ihm allerdings erst sehr spät bewusst, als er bereits Senator ist (BB, 611). Thomas scheint seine Disposition auf seinen Sohn Hanno übertragen zu haben. Hanno hat Alpträume, weil er immer an das Gedicht über das bucklige Männlein aus Des Knaben Wunderhorn denken und darüber nachdenken muss, weshalb das Männlein Dinge stiehlt und zerstört: »›Es tut es aus Traurigkeit und ist dann noch trauriger darüber …‹« (BB, 463 f.). Es ist die künstlerische Disposition, zu der seit der Romantik insbesondere die Melancholie gezählt wird, die auf reduzierte Weise in Thomas und deutlich in Hanno gestaltet wird. Thomas’ Bruder Christian ist eher die Karikatur einer Künstlerfigur. Er leidet beständig unter Krankheiten, echten und eingebildeten, und er interessiert sich seit seiner Jugend mehr für leichte Vergnügungen, vor allem für das Theater (BB, z. B. 82 ff., 262 f.). Thomas versucht vergeblich, Christian produktiv in das Geschäft einzubinden. Es kommt zum Eklat zwischen den Brüdern, als Christian in einem Klub vor einer »Gesellschaft, die sowohl aus Kaufleuten als aus Gelehrten besteht«, folgende Bemerkung fallen lässt: »›Eigentlich und bei Lichte besehen sei doch jeder Geschäftsmann ein Gauner …‹« (BB, 318). Er hat eine Affäre mit der Schauspielerin Aline Puvogel, deren drittes Kind von ihm ist und die er schließlich, gegen den Willen seines Bruders, heiratet. Sie aber führt »ihr früheres unabhängiges Leben ohne Rücksicht und Behinderung« fort, als er in eine Anstalt eingewiesen wird (BB, 580, 695 u. 700). Der letzte männliche Erbe ist Hanno, er stirbt an Typhus (BB, 751 ff.). Seine Mutter Gerda, die sich der Familie Buddenbrook nie zugehörig gefühlt hat, kehrt in ihre Heimatstadt Amsterdam zurück. Das Haus in der Mengstraße, das als Symbol für die Ein- Verschiedene Arten des Künstlertums <?page no="230"?> 217 t homaS m ann : b uDDenbrookS (1901) / D er t oD In v eneDIg (1912) heit und den Zusammenhalt der Familie steht, ist bereits zu Lebzeiten und mit Zustimmung von Thomas von dem größten Konkurrenten der Familie gekauft worden. Hermann Hagenström steht für eine »Tradition«, für die er »Bewunderung« genießt und die sich durch eine »unbeschränkte, fortschrittliche, duldsame und vorurteilsfreie Denkungsart« (BB, 410) auszeichnet, die ihn auch als Kaufmann offen für neue Geschäftsmodelle und deshalb erfolgreich sein lässt. Sein Äußeres deutet allerdings an, dass die Sympathien der Erzählung nicht bei ihm liegen: Er »[…] war eine großstädtische Figur, ein imposanter Börsentypus. Er war so außerordentlich fett, daß nicht nur sein Kinn, sondern sein ganzes Untergesicht verdoppelt war […]«, und sein Verhalten entspricht seinem Aussehen (BB, 601). Schon von Anfang an macht der Roman die problematische Vermengung von Familie und Geschäft in der Mengstraße sehr deutlich. Konsul Johann Buddenbrook notiert in dem Hausbuch der Familie die Geburt seiner Tochter Clara, der Schwester von Jean. Familie, Gott und Geld gehen eine Symbiose ein: »Die Feder eilte weiter, glatt, behende und indem sie hie und da einen kaufmännischen Schnörkel ausführte, und redete Zeile für Zeile zu Gott. Zwei Seiten weiter hieß es: ›Ich habe meiner jüngsten Tochter eine Police von 150 Kuranttalern ausgeschrieben. Führe du sie, ach Herr! auf deinen Wegen, und schenke ihr ein reines Herz […]« (BB, 53 f.). Bezeichnend ist auch, dass der Konsul die Tinte mit »Goldsand« trocknet (BB, 54) und er in einem »dicken Goldschnittheft« schreibt (BB, 56). Wenn man daran denkt, dass der Konsul seinen überdies Gotthold genannten ersten Sohn unschuldigerweise des ›Mordes‹ (BB, 57) an seiner ersten Frau bezichtigt hat und wenn man nun sieht, wie er Gott und Geld miteinander ganz selbstverständlich in Beziehung setzt, dann lässt sich in solcher Bigotterie bereits eine deutliche Ironisierung der Figur und eine moralische Motivierung der Verfallsgeschichte erkennen. Dieses bürgerliche Selbstverständnis, das für die Führung des Familienunternehmens konstitutiv bleiben wird, hat abgedankt - zumindest in der Literatur. Der Roman trägt in der Zeichnung seiner Figuren immer wieder satirische Züge, die sich prägnant in der Namensgebung von Figuren zeigen, etwa im Fall des »Pastor Hirte«, der »genus-Regeln« wie »Genußregeln« ausspricht (BB, 68), oder der ungleich wichtigeren Pensionsvorsteherin von Tony und Gerda: »Therese Weich- Verschiedene Geschäftsmodelle Das Hausbuch der Familie Ironie und Satire <?page no="231"?> 218 l IterarI Sche m oDerne brodt war bucklig, sie war so bucklig, daß sie nicht viel höher war als ein Tisch« (BB, 85). Als Tony sich am Schluss des Romans ein Wiedersehen mit Hanno im Jenseits wünscht, aber daran zweifelt, tritt die Sesemi genannte, ehemalige Erzieherin auf und verkündet, dass es dieses Wiedersehen geben werde: »bebend vor Überzeugung, eine kleine, strafende, begeisterte Prophetin« (BB, 759). Dies ist der ironische Schluss einer ironischen Handlung, deren Verfallsgeschichte die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod eher als fatales Erbe veralteter Traditionen erscheinen lässt. Die Beschreibung von Tonys erstem Gatten Bendix Grünlich gleicht einer Karikatur, so dass es der Leser Tony nicht übelnehmen kann, dass sie ihn zunächst nicht mag und auf keinen Fall heiraten will (BB, 95 ff.). Ihre Eltern legen ihr die Heirat immer wieder nahe, mit allen Möglichkeiten der Manipulation, da sie es ihr nicht direkt befehlen können, ohne das Ansehen treusorgender Eltern zu verlieren. Tonys Mutter nennt als Grund, der für die Eltern den Ausschlag gibt, die scheinbar »gute Partie« (BB, 106). Und ihr Vater stellt ihrer Mutter gegenüber fest: »›Er ist kein Beau, nein, mein Gott, nein, er ist kein Beau … aber er ist immerhin im höchsten Grade präsentabel, und man kann am Ende nicht fünf Beine auf ein Schaf verlangen, wenn du mir die kaufmännische Phrase zugute halten willst! ‹« (BB, 113). Die 20jährige Tony wird in die Sommerfrische nach Travemünde geschickt, um sich an den Gedanken gewöhnen zu können, dort verliebt sie sich allerdings in den nicht standesgemäßen Sohn der Pensionsleute, Morten Schwarzkopf (BB, 130 ff.). Mit dem Göttinger Medizinstudenten Morten kommt nun eine Figur ins Spiel, die als Mitglied einer »Burschenschaftsverbindung« das Loblied der Freiheit singt: »Sind Sie alle gegen die Adligen verschworen? … Was wollen Sie? « »Wir wollen die Freiheit! « sagte Morten. »Die Freiheit? « fragte sie. »Nun ja, die Freiheit, wissen Sie, die Freiheit …! « wiederholte er, indem er eine vage, ein wenig linkische, aber begeisterte Armbewegung hinaus, hinunter, über die See hin vollführte […]. (BB, 141 f.) Der junge Morten weiß selbst nicht so genau, was die Freiheit ist und er wird auch Tony nicht für sich gewinnen, die sich als traditionsbewusste Tochter ihrer Familie gibt und stolz einen Eintrag im Familienbuch vornimmt, weil sie, ihren Eltern folgend, Tonys Männer <?page no="232"?> 219 t homaS m ann : b uDDenbrookS (1901) / D er t oD In v eneDIg (1912) in der Ehe mit Grünlich einen Gewinn für das Familienunternehmen sieht (BB, 161). Zur ironischen Konzeption des Romans gehört weiter, dass sich Grünlich später als Schwindler entpuppt und Jean sich den Vorwurf machen muss, nicht gründlich genug nachgeforscht zu haben, sogar »plump übers Ohr gehauen worden zu sein« (BB, 234). Der Diskurs über die politische Freiheit findet seine ironische Fortsetzung in der versuchten ›Revolution‹ der Hafenarbeiter des Stadtstaates, die vom Senat eine »Republike« verlangen und von Johann Buddenbrook aufgeklärt werden müssen, dass sie bereits in einer solchen leben (BB, 193). Kurz darauf stirbt Johanns Schwiegervater, der konservative Lebrecht Kröger, einen ironischen Tod, denn es trifft ihn zufällig ein von den revoltierenden Arbeitern ungezielt geworfener »Feldstein« (BB, 196). Thomas verzichtet zugunsten des Familiengeschäfts auf seine erste Liebe. Er hat eineinhalb Jahre lang ein Verhältnis mit einem Mädchen aus einem Blumenladen (BB, 167 ff.). Gerda Arnoldsen, Thomas’ spätere Frau, wird ebenso als Außenseiterin wie als Künstlerfigur gezeichnet: »Gerda war ein wenig apart und hatte etwas Fremdes und Ausländisches an sich; sie liebte es, ihr prachtvolles rotes Haar trotz Sesemi’s Einspruch etwas auffallend zu frisieren, und viele fanden es ›albern‹, daß sie die Geige spielte […]« (BB, 89). Als Thomas sie als seine Braut in sein Haus führt, erscheint sie »von einer eleganten, fremdartigen, fesselnden und rätselhaften Schönheit« (BB, 292). Und Thomas stellt Tony gegenüber fest: »›Kurz, es ist nicht der gewöhnliche Maßstab an sie zu legen. Sie ist eine Künstlernatur, ein eigenartiges, rätselhaftes, entzückendes Geschöpf‹« (BB, 304). Das Fremdartige führt aber auch dazu, dass sich Thomas und Gerda entfremden, vor allem, weil Thomas, wie Gerda feststellt, »von der Musik als Kunst […] niemals etwas verstehen«, sie ihm also »fremd« bleiben wird (BB, 509). Die Gerüchte lassen später verlauten, dass »die schöne Gerda ihren alternden Mann nun ein wenig betröge«, und zwar mit »René Maria von Throta« (BB, 644), »dessen ganzer Sinn der Musik zugewandt war« (BB, 645). Alle Handlungsstränge des Romans gipfeln in Todesfällen vor allem der männlichen Patriarchen und nicht nur bei Lebrecht [! ] Kröger lässt sich von einem ironischen Tod sprechen. Der Erzähler malt einige Fälle beinahe genussvoll aus: »Im Mai geschah es, daß Onkel Gotthold, Konsul Gotthold Buddenbrook, nun sechzig- Die Frage politischer Freiheit Todesfälle <?page no="233"?> 220 l IterarI Sche m oDerne jährig, in einer traurigen Nacht von Herzkrämpfen befallen ward und in den Armen seiner Gattin, der geborenen Stüwing, eines schweren Todes starb« (BB, 274). Thomas »kam nur zur rechten Zeit, um die letzten konvulsivischen Zuckungen des alten Herrn zu sehen« (BB, 276). Und der Erzähler kommentiert voller Ironie die bigotte Stimmung: »Todesfälle pflegen eine dem Himmlischen zugewandte Stimmung hervorzubringen […]« (BB, 277). Thomas wird nicht nur Nutznießer dieses Todesfalls, indem er »Amt und Titel des Königlich Niederländischen Konsulats« von dem ältesten Sohn seines Großvaters erbt (BB, 277), sondern auch eines anderen: »James Möllendorpf, der älteste kaufmännische Senator, starb auf groteske und schauerliche Weise« (BB, 407). Als Nachfolger im Amt des Senators wird Thomas gewählt (BB, 417 f.), der seinerseits eines grotesken und schauerlichen Todes stirbt - an den Folgen eines gezogenen Zahns durch einen Mann mit dem sprechenden Namen Brecht, bei dem auch Hanno in grausamer Behandlung ist (BB, 512 u. 678). Thomas bricht auf dem Heimweg zusammen: »Er war aufs Gesicht gefallen, unter dem sofort eine Blutlache sich auszubreiten begann« (BB, 680). Gerdas Kommentar macht die bitterböse Ironie der Konzeption noch deutlicher: »›Sein ganzes Leben lang hat man nicht ein Staubfäserchen an ihm sehen dürfen … Es ist ein Hohn und eine Niedertracht, daß das Letzte so kommen muß …! ‹« (BB, 681). Thomas’ Tod ist ein ironischer Kontrast zu den Erkenntnissen, die er aus seiner vorhergehenden Lektüre von Artur Schopenhauers (1788-1860) Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) gezogen hat (BB, 655 ff.): War nicht jeder Mensch ein Mißgriff und Fehltritt? Geriet er nicht in eine peinvolle Haft, sowie er geboren ward? Gefängnis! Gefängnis! Schranken und Bande überall! Durch die Gitterfenster seiner Individualität starrt der Mensch hoffnungslos auf die Ringmauern der äußeren Umstände, bis der Tod kommt und ihn zu Heimkehr und Freiheit ruft … (BB, 657) Hanno ist es, der bereits früh den symbolischen Schlusstrich unter die mehr als einhundertjährige Familiengeschichte zieht. Er findet auf dem Schreibtisch seines Vaters »die Mappe mit den Familienpapieren« (BB, 522), blättert darin, liest seinen eigenen Geburtseintrag und handelt wie folgt: »mit stiller Miene und gedankenloser Sorgfalt, mechanisch und verträumt, zog er mit Die Lektüre Schopenhauers <?page no="234"?> 221 f ranz k afk a : D a S u rteIl (1913) der Goldfeder einen schönen, sauberen Doppelstrich quer über das ganze Blatt hinüber«. Seinem Vater gegenüber rechtfertigt er sich: »›Ich glaubte … ich glaubte … es käme nichts mehr‹« (BB, 523). Hanno ist eine vom Familiengeschäft weit entfernte und innerlich weitgehend freie Künstlerfigur, deshalb muss er sterben. Diese Freiheit klingt auch im Motiv der homosexuellen Anziehung zwischen Hanno und Kai an (BB, 709). Das Potential dieser Freundschaft setzt am Schluss des Romans ein positives Zeichen, aber es kann den »Verfall einer Familie« nicht verhindern. Franz Kafka: Das Urteil (1913) Das Urteil und Die Verwandlung gehören zu den berühmtesten Texten der Weltliteratur: »Die großen literarischen Bilder des zwanzigsten Jahrhunderts stammen von Franz Kafka (1883-1924). Der Handlungsreisende Gregor Samsa, der eines Morgens als Ungeziefer erwacht. Der Sohn, der das Urteil des Vaters vollstreckt« (Wagenbach 2002, 7). Franz Kafkas Romane und Erzählungen werden in Schulen und an Universitäten viel gelesen, der Autor und sein Werk genießen die besondere Aufmerksamkeit literaturwissenschaftlicher Forschung (Binder 1979; Jagow / Jahraus 2008; Engel / Auerochs 2010). Der zur Zeit der österreichischen k.-u.-k.-Zeit in Prag geborene und aufgewachsene Kafka studiert Germanistik und Jura. Er arbeitet von 1908 an für die ›Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen‹, ebenfalls in Prag. Das Schreiben literarischer Texte ist nach eigenen Bekundungen Kafkas Lebensinhalt. Allerdings ist er ein geselliger Mensch, seine zahlreichen Freundschaften und auch seine Beziehungen zu Frauen zeugen davon, selbst wenn er sich nicht dauerhaft binden will. Beim Schreiben ist Kafka so skrupulös, dass er zu Lebzeiten nur wenig ver- Künstlertum und Tod 6.3. Schreiben als Lebensinhalt Franz Kafka, um 1906, Foto von Sigismund Jacobi Abb. 6.3 <?page no="235"?> 222 l IterarI Sche m oDerne öffentlicht und seinen Freund und Nachlassverwalter Max Brod (1884-1968) bittet, die ungedruckten Manuskripte zu vernichten - was dieser, zum Glück für die Mit- und Nachwelt, nicht getan, sondern fleißig möglichst viel davon herausgegeben hat, auch wenn er sie, wegen des Fragmentcharakters, teilweise nachbearbeitet hat. Ein weiteres Problem der Rezeption ist die von Kafka selbst, vor allem im Brief an den Vater (1919), herausgestellte Differenz mit seinem Vater, dem Kaufmann Hermann Kafka (1852-1931), dessen Erwartungen der Sohn nicht gerecht zu werden glaubt. Wer den Text liest, der stellt aber auch fest, dass Franz Kafka den Vater als prototypische (klein-)bürgerliche Figur benötigt, um sich selbst als Schriftsteller inszenieren und seine eigene Künstlerexistenz rechtfertigen zu können. Eine rein biographische Lesart des Werks, wie sie sich oft in der Kafka-Rezeption findet, führt nicht zu sinnvollen Erkenntnissen über die Bedeutung seiner literarischen Texte. Kafka hat einige längere und zahlreiche kurze bis sehr kurze Erzählungen verfasst. Einige besonders bekannte haben Parabelcharakter und sind in vielen (Schul-)Lesebüchern abgedruckt worden, etwa Vor dem Gesetz (1915) oder Eine kaiserliche Botschaft (1919). Auch unter den längeren Erzählungen finden sich viele stark rezipierte Texte, beispielsweise Ein Bericht für eine Akademie (1917) oder In der Strafkolonie (1919). Die drei Romane haben mehr oder weniger Fragmentcharakter und sind posthum 1925-27 erschienen: Der Prozeß, Das Schloß und Der Verschollene (zunächst unter dem Titel Amerika). Das Urteil ist nach Kafkas eigenem Bekunden seine Initiation als Autor. Die Erzählung beginnt wie eine Idylle, deren Brüchigkeit sich aber bei genauerem Lesen zeigt: Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindlichen Jugendfreund beendet […] und sah dann […] aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün. (DU, 43) Zwar ist es ein Sonntag »im schönsten Frühjahr«. Andererseits ist das Grün der Natur schwach, die Häuser sind niedrig und leicht Der Konflikt mit dem Vater Die Initiation als Autor <?page no="236"?> 223 f ranz k afk a : D a S u rteIl (1913) gebaut, sie sind kaum zu unterscheiden - möglicherweise ein Hinweis auf fehlende Individualität. Georg sieht auf den Fluß, in den er sich am Ende der Erzählung, das ›Urteil‹ des Vaters vollstreckend, stürzen wird. Der genannte Freund wird noch eine große Rolle spielen. Georg denkt daran, dass dieser, »mit seinem Fortkommen zu Hause unzufrieden, vor Jahren schon nach Rußland sich förmlich geflüchtet hatte«, jetzt aber dort nicht mehr glücklich zu sein scheint. Auch das auf eine »sich entwickelnde Krankheit« deutende Aussehen des Freundes ist kein gutes Zeichen. Hier scheint es noch der Freund zu sein, der Probleme hat, nicht Georg: »Wie wollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern dem man aber nicht helfen konnte.« Der Freund ist nicht nur »in der Fremde« (DU, 43), er wäre auch zuhause, weil er »die Verhältnisse in der Heimat nicht mehr verstünde«, seinen Freunden wohl »noch ein Stück mehr entfremdet« (DU, 44). Weil er nicht weiß, was er ihm schreiben soll, um zu seinem schlechten Zustand nicht auch noch beizutragen, schreibt Georg »dem Freund immer nur über bedeutungslose Vorfälle«. Er verschweigt ihm lange auch, »dass er selbst vor einem Monat mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld, einem Mädchen aus wohlhabender Familie, sich verlobt hatte« (DU, 45). Erst am Schluss des neuen Briefs erzählt Georg ihm von der Verlobung und lädt ihn zur Hochzeit ein (DU, 46). Angesichts der Betonung dieser scheinbar relativ belanglosen Tat ist es möglich, darin den Auslöser für die weitere Handlung zu sehen. Im Unterschied zu seinem Freund ist Georg offenbar in der »Heimat« ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Der Erzähler äußert aber auch hier nur Vermutungen über die Gründe: Vielleicht hatte ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, daß er im Geschäft nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen Tätigkeit gehindert, vielleicht war der Vater seit dem Tode der Mutter, trotzdem er noch immer im Geschäft arbeitete, zurückhaltender geworden […]. (DU, 44) Der Erfolg wäre demnach das Ergebnis einer Emanzipation des Sohnes vom Vater. Nun werden der Brief, der Freund und die Verlobung zu einem verbindenden Element von Vater und Sohn und kurz darauf zur Ursache des eskalierenden Konflikts: »Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus seinem Zimmer Der Freund in der Fremde Versuch einer Emanzipation <?page no="237"?> 224 l IterarI Sche m oDerne quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war« (DU, 46). Der Vater, der Georg »noch immer« wie »ein Riese« erscheint, reagiert auf die Mitteilung, »›daß ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe‹« (DU, 47), auf unerwartete Weise, doch auch Georgs Reaktion ist merkwürdig: »Es ist eine Kleinigkeit, es ist nicht des Atems wert, also täusche mich nicht. Hast du wirklich einen Freund in Petersburg? « Georg stand verlegen auf. »Lassen wir meine Freunde sein. Tausend Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater. Weißt du, was ich glaube? Du schonst dich nicht genug. Aber das Alter verlangt seine Rechte.« (DU, 48) Georg will sogar »den Arzt holen«. Während der Vater dem Sohn unterstellt, dass dieser lügt, geht der Sohn davon aus, dass der Vater offenbar nicht mehr ganz zurechnungsfähig ist. Auf die nun folgende Behauptung hin: »›Du hast keinen Freund in Petersburg‹«, erwidert Georg dem »nun doch recht schwach« aussehenden Vater: »›[…] jetzt wird es bald drei Jahre her sein, da war mein Freund bei uns zu Besuch. Ich erinnere mich noch, daß du ihn nicht besonders gern hattest. Wenigstens zweimal habe ich ihn vor dir verleugnet, trotzdem er gerade bei mir im Zimmer saß.‹« Der Text spielt hier auf die Verleugnung von Jesus durch Petrus im Neuen Testament an, die allerdings dreimal erfolgt. Nicht zufällig ist dann auch von einem russischen Geistlichen die Rede, der, wie der Freund einmal erzählt habe, sich während der »Russischen Revolution« ein »breites Blutkreuz in die flache Hand schnitt, diese Hand erhob und die Menge anrief« (DU, 49). Die christlichen Motive verweisen zugleich auf die Heilsgeschichte und ihre Pervertierung. Was dem folgt, ist eine Auferstehung nicht des Sohnes, sondern des Vaters. An die Stelle von heilbringender Familienfolge wird unheilbringende Rivalität gesetzt: »Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gefühl hatte er, als er während der paar Schritte zum Bett hin merkte, daß an der Brust der Vater mit seiner Uhrkette spielte.« Dem phallischen Spiel folgt die dritte Leugnung, aber nun leugnet der plötzlich »aufrecht im Bett« stehende Vater die Nichtexistenz des Freundes, nachdem er sie zweimal behauptet hatte: »Wohl kenne ich deinen Freund. Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen. Darum hast du ihn auch betrogen die ganzen Jahre lang« (DU, 50). Die Kräfteverhältnisse kehren sich sichtbar um: »Georg sah zum Schreckbild seines Auferstehung des Vaters <?page no="238"?> 225 f ranz k afk a : D a S u rteIl (1913) Vaters auf.« Der unterstellt seinem Sohn nun, aus geheimen erotischen Wünschen heraus zum Verräter an Vater, toter Mutter und Freund geworden zu sein: »Weil sie die Röcke gehoben hat«, fing der Vater zu flöten an, »weil sie die Röcke so gehoben hat, die widerliche Gans«, und er hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, daß man auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren sah, »weil sie die Röcke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du an ihr ohne Störung dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken geschändet, den Freund verraten und deinen Vater ins Bett gesteckt, damit er sich nicht rühren kann. Aber kann er sich rühren oder nicht? « Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht. Der Freund ist nun plötzlich sehr existent, der Vater bezeichnet sich sogar als »sein Vertreter hier am Ort« (DU, 51) und behauptet, dass der Freund bereits von allem unterrichtet sei. Georg schwankt zwischen Mitleid mit »dem alten verwitweten Vater« und Zorn: »Jetzt wird er sich vorbeugen, dachte Georg, wenn er fiele und zerschmetterte! « (DU, 52). Der Vater aber wird vom Rächer des Freundes zum Richter des Sohnes. Allerdings ist der Moment, auf den nicht nur die Erzählung, sondern offenbar auch das Leben des Vaters seit Jahren zusteuert, ein Kippmoment von Emanzipation und Tod: »Seit Jahren passe ich schon auf, daß du mit dieser Frage kämest! Glaubst du, mich kümmert etwas anderes? […] Wie lange hast du gezögert, ehe du reif geworden bist! Die Mutter mußte sterben, sie konnte den Freudentag nicht erleben, der Freund geht zugrunde in seinem Rußland, schon vor drei Jahren war er gelb zum Wegwerfen, und ich, du siehst ja, wie es mit mir steht. Dafür hast du doch Augen! « »Du hast mir also aufgelauert! « rief Georg. Mitleidig sagte der Vater nebenbei: »Das wolltest du wahrscheinlich früher sagen. Jetzt paßt es ja gar nicht mehr.« Und lauter: »Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! - Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens! « (DU, 53) Georg ist »reif geworden«, doch offenbar nur, um zu sterben. Der »Freudentag« ist sein Todestag. Wenn Georg nun endlich weiß, Der Freund und der Vater <?page no="239"?> 226 l IterarI Sche m oDerne was außerhalb von ihm selbst ist, dann ist er vom Zustand der Naivität in den der Reflektiertheit übergegangen. Naiv heißt einerseits, wie ein »unschuldiges Kind« zu sein, es bedeutet aber auch das Gegenteil - ein schuldloses Schuldigwerden wie in der griechischen Tragödie, das die heroische Selbstbestrafung fordert. Georg exekutiert das Urteil mit leisem Protest. Er hängt sich von außen an das Brückengeländer und »[…] rief leise: ›Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt‹, und ließ sich hinabfallen. In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr« (DU, 53). Ist dies nun ein Vater, der - wie im Neuen Testament - seinen Sohn für die Menschen opfert? Ist es ein Sohn, der sich opfern und wieder auferstehen wird? Wohl kaum. Die christlichen Konnotationen verstärken eher das Monströse der Handlung. Die Verurteilung zum Tode ist die am stärksten normierte und radikalste Form des Freiheitsentzugs. Dennoch gibt es offenbar auch andere Interpretationsmöglichkeiten, auf eine hat Kafka selbst hingewiesen. Mit folgender Bemerkung bezieht er sich auf den oben zitierten, letzten Satz der Erzählung: »Ich habe dabei an eine starke Ejakulation gedacht« (Brod 1966, 114). Peter von Matt hat folglich die Frage gestellt, ob es sich bei dem Schluss nicht auch um eine Initiation des Sohnes durch den Vater handeln könnte (Matt 1997, 279). In dem Fall wäre das Urteil nicht der radikale Entzug von Freiheit, sondern der schlussendliche Gewinn von Freiheit: Der Vater gibt den - nun auch sexuell potenten - Sohn frei. Kafkas Text ist voller Paradoxien. Aussagen widersprechen sich (gibt es den Freund nun oder gibt es ihn nicht? ), der Erzähler legt sich nicht fest (obwohl er allwissend ist), dichotome Strukturen kehren sich plötzlich um (der starke wird zum schwachen Sohn, der schwache zum starken Vater). Nichts ist, wie es scheint oder nichts scheint, wie es ist. Das Geschehen zu be-›urteilen‹ ist auf der Basis der vom Text gegebenen Informationen nicht möglich. Der Text provoziert den Leser zu einer Interpretation, zugleich verunmöglicht er sie. Kafkas Text ist nicht nur ein literarischer Text der literarischen Moderne, er ist ein Pars pro toto dieser Moderne, denn er setzt den Leser in Freiheit, ob dieser will oder nicht. Im Text selbst löst ein Brief einen Prozess voller Kontingenzen aus, der zu einem Urteil aus unklaren Motiven und mit ungewissen Folgen führt. Welches Urteil am Ende des Leseprozesses steht, bleibt allerdings nur Tod oder Befreiung? Die Provokation des Texts <?page no="240"?> 227 f ranz k afk a : D Ie v erWanDlung (1916) scheinbar ganz offen. Denn es gibt Konkretes, woran man sich orientieren kann: Die Form und die (symbolische) Sprache des Textes. Sie ermöglichen zwar eine Vielzahl von Deutungen, doch schließen sie andere aus und sie sorgen dafür, dass jede Deutung, so plausibel sie auch ist, nur eine Option sein kann. Franz Kafka: Die Verwandlung (1916) Der berühmte Anfang der Verwandlung lautet: Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor Augen. ›Was ist mit mir geschehen? ‹ dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Über dem Tisch, auf dem eine auseinandergepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war - Samsa war Reisender -, hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es ist nicht sein Zustand, es ist das Geräusch der »Regentropfen auf das Fensterblech«, weshalb Gregor »ganz melancholisch« wird. Die Verwandlung in ein Ungeziefer nimmt er erst einmal zur Kenntnis, ohne sie in der Weise ernstzunehmen, wie man es erwarten würde. Und dann wünscht er sich, er könnte »alle Narrheiten« vergessen und weiterschlafen (DV, 57). Der Erzähler meint 6.4. (K)ein Traum Titelblatt der Erstausgabe, 1916 Abb. 6.4 <?page no="241"?> 228 l IterarI Sche m oDerne zwar, hier vermutlich die Figurenperspektive einnehmend, es handele sich nicht um einen Traum. Dennoch hat Gregor geschlafen und es ist zu fragen, ob er nicht noch weiter schläft und es sich um einen Alptraum handelt. Es ist für Kafkas Texte typisch, dass sie mit größtmöglicher Selbstverständlichkeit eine Handlung schildern, die der Alltagslogik widerspricht, und dass sie zugleich zahlreiche Relais für Hypothesen öffnen, wie sich das Geschilderte erklären lassen könnte, sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf der Ebene des discours, etwa der symbolischen Verweisungsstruktur. Nicht nur auf den Traum, auch auf die Möglichkeit eines Wunschtraums wird hingewiesen. Gregors Metamorphose könnte der Unzufriedenheit mit seiner Situation geschuldet sein (DV, 58). Er muss früh aufstehen, ein mühseliges Leben als Handlungsreisender führen und seine Familie ernähren, bestehend aus Schwester und Eltern, die keine Arbeit haben und von ihm abhängig sind (DV, 74). Mehr noch - Gregor muss eine fremde Last aus der Vergangenheit tragen und träumt in wachem Zustand von einem anderen Leben: »›Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben; habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn [seinen Chef] abzuzahlen - es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern -, mache ich die Sache unbedingt [zu kündigen und dem Chef die Meinung zu sagen]. Dann wird der große Schnitt gemacht‹« (DV, 58). Die Familie ist zunächst für Gregors aufopferungsvolle Unterstützung dankbar, aber dieses Gefühl verschwindet angesichts der damit verbundenen Abhängigkeit: »Man hatte sich eben daran gewöhnt, sowohl die Familie als auch Gregor, man nahm das Geld dankbar an, er lieferte es gern ab, aber eine besondere Wärme wollte sich nicht mehr ergeben« (DV, 79). Wieso gerade die Verwandlung in ein Ungeziefer? Die Wahl des Insekts deutet auf ein geringes Selbstwertgefühl Gregors, der sich auch alles gefallen lässt, was mit ihm geschieht, und lediglich versucht, die Beziehungen zu seinen Familienmitgliedern wieder aufzunehmen, angesichts der fehlenden Möglichkeit zur Kommunikation und der radikalen Veränderung seines Körpers ohne Erfolg. Die Regression könnte selbst induziert sein, um einen Ausweg aus der Ausweglosigkeit zu finden, als Versuch der Wiedergewinnung von Freiheit durch Rückzug in sich selbst, durch Verpanzerung. Nicht vergessen sollte man aber, dass es sich bei vielen Stellen um Überzeichnungen und um Ironie handeln Abhängigkeiten <?page no="242"?> 229 f ranz k afk a : D Ie v erWanDlung (1916) könnte. Gregor findet sich nicht nur zu einem Ungeziefer, sondern sogar »zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt«. Für Ironie spricht auch die Melancholie wegen der Regentropfen oder Gregors Klage über sein Arbeitsleben, statt über den aktuellen Zustand zu erschrecken. Dann versucht Gregor auch noch, seine Verwandlung ignorierend, aufzustehen, um den nächsten Zug zu erreichen, und es heißt weiter - eine wunderbare Untertreibung: »[…] die Kollektion war noch nicht eingepackt, und er selbst fühlte sich durchaus nicht besonders frisch und beweglich« (DV, 59). Das Motiv der Wunscherfüllung im (Tag-)Traum verweist auf Freuds Konzept der Traumdeutung (1899) und zugleich auf den literarischen Schaffensprozess, wie Freud ihn in seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren (1908) näher ausgeführt hat. Man könnte noch weiter gehen und die These aufstellen, dass Die Verwandlung auf sprachlich virtuose Weise vorführt, dass es sich um Literatur handelt: Die Metamorphose Gregors ist die Metamorphose der Sprache in Literatur. Auch hier steht also der größtmöglichen Unfreiheit der Figur, die als Ungeziefer keine Artikulations- und Handlungsmöglichkeiten mehr hat, die größtmögliche Freiheit der Literatur gegenüber, die artikulieren kann, was geschieht und eine Handlung entwerfen kann, im Modus des Alsob oder Was-wäre-wenn, der für Literatur konstitutiv ist. Die weitere Handlung der Erzählung gestaltet Gregors Entdeckung und Ächtung durch die Familie, seine weitere Verwandlung in ein Tier, die schrittweise Emanzipation der Familienmitglieder. Einen Monat nach der Verwandlung ist die ihm ehemals so nahe stehende Schwester vollkommen abweisend, sogar feindselig geworden. Gleichzeitig wächst die Zufriedenheit der Eltern mit ihr (DV, 82). Später wird nicht nur der Vater, auch die Schwester Gregor »mit erhobener Faust und eindringlichen Blicken« drohen (DV, 87). Es wird untervermietet (DV, 96) und der Vater nimmt wieder eine Arbeit an, er trägt »eine straffe blaue Uniform mit Goldknöpfen […], wie sie Diener der Bankinstitute tragen« (DV, 89). Auch die Schwester geht »ins Geschäft« und trägt seither, als Symbol ihrer beginnenden Befreiung von dem früheren Zustand, ihren Hals »frei ohne Band oder Kragen« (DV, 99). Die Mutter heißt Anna, die Schwester Grete (DV, 66). Gregor und Grete alliterieren, zudem lässt sich das berühmte Geschwisterpaar aus dem Märchen Hänsel und Gretel assoziieren. Dass solche Analogiebildungen nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigen Über- Tod und Emanzipation <?page no="243"?> 230 l IterarI Sche m oDerne legungen von Kafka selbst, der auf die Ähnlichkeit seines Namens mit jenem Georg Bendemanns aus dem Urteil hingewiesen hat (Neuhaus 2003, 85). Die Zweisilbigkeit und der ähnliche Klang (ein Assonanzreim) verbinden Kafka und Samsa. Die Beziehung von Vater und Sohn ist schon vor Beginn der Handlung durch eine Rivalität geprägt, die auch die Konkurrenz um die Zuneigung der weiblichen Familienmitglieder mit einschließt. Die Reaktionen auf das Verschlafen Gregors sind typisch für die Figuren. Die Mutter fragt vorsichtig und leise durch »die Tür am Kopfende seines Bettes«, Gregor kommentiert: »›Die sanfte Stimme! ‹« (DV, 59). Der Vater »klopfte an der einen Seitentür«, und zwar »schwach, aber mit der Faust« (DV, 60). Die Brutalität seiner späteren Aktionen deutet sich hier an, ebenso konstrastiert die am Anfang noch vorhandene Schwäche mit der späteren Stärke. Wenig später heißt es schon: »Der Vater ballte mit feindseligem Ausdruck die Faust, als wolle er Gregor in sein Zimmer zurückstoßen […]« (DV, 68). Als Gregor aus Angst vor den Reaktionen seiner Familie in sein Zimmer zurückwill, »[…] gab ihm der Vater von hinten einen jetzt wahrhaftig erlösenden starken Stoß, und er flog, heftig blutend, weit in sein Zimmer hinein. Die Tür wurde mit dem Stock zugeschlagen, dann war es endlich still« (DV, 73). Die sexuellen Anspielungen, etwa das Phallische des Stocks, sind kaum zu überlesen. Die vom Vater exekutierte »größte Strenge« (DV, 89) gipfelt darin, dass er Gregor mit Äpfeln bewirft und ihm eine Verletzung zufügt, die letztlich tödlich sein wird: »Ein ihm sofort nachfliegender [Apfel] drang dagegen förmlich in Gregors Rücken ein […]« (DV, 90). Auch die anderen Familienmitglieder versuchen Gregor zu wecken: »An der anderen Seitentür aber klagte leise die Schwester« (DV, 60) - die Mutter hat also die zentrale Position inne, am Kopfende des Bettes, die Andeutung eines Inzest-Motivs. Dem entspricht die Anspielung auf Adam und Eva in der Genesis, wenn der Vater Gregor mit Äpfeln bewirft und ihn so trifft, dass er daran später sterben wird (DV, 90). Auffällig ist außerdem das Bild einer »Dame«, das der Erzähler gleich am Anfang beschreibt. Ihr dreifacher Pelz signalisiert, dass sie wohlhabend und älter ist, und verweist auf etwas Animalisches, das mit der Verwandlung in ein Insekt korrespondiert. Der demonstrativ dem »Beschauer« entgegen gehobene (DV, 57), im Pelzmuff verschwundene Unterarm kann als Symbol für den Geschlechtsakt gelesen werden, der hier Der Konflikt von Vater und Sohn Motive und Symbole <?page no="244"?> 231 f ranz k afk a : D Ie v erWanDlung (1916) gleichsam ausgestellt wird, und zwar doppelt: durch den Rahmen und die Geste des Zeigens. Später wird es zu einer symbolischen Vereinigung kommen. Gregor kriecht die Wand herauf auf das Bild »und preßte sich an das Glas, das ihn festhielt und seinem heißen Bauch wohltat« (DV, 86). Allerdings handelt es sich nur um ein Bild aus einer »illustrierten Zeitschrift« und einen »vergoldeten Rahmen« (DV, 57), also um ein minderwertiges Substitut für das, was dem einsamen und in der Folge vollkommen vereinsamenden Gregor eigentlich fehlt. Den Konkurrenzkampf um die Mutter gewinnt der Vater gerade durch die Ausübung von Gewalt, und zwar als er Gregor mit (biblischen) Äpfeln bewirft. Gregor sieht, wie die ›entkleidete‹ Mutter »stolpernd über die Röcke auf den Vater eindrang und ihn umarmend, in gänzlicher Vereinigung mit ihm« um die »Schonung von Gregors Leben bat« (DV, 90). Die neu gewonnene Freiheit der Schwester, die auch als Stellvertreterin der Mutter gesehen werden kann, macht sie für Gregor so begehrenswert, dass er ihren nun frei zur Schau gestellten Hals küssen möchte (DV, 99). Schließlich ist sogar sie es, die das Urteil über Gregor ausspricht: »›Wir müssen es loszuwerden versuchen‹, sagte die Schwester nun ausschließlich zum Vater, denn die Mutter hörte in ihrem Husten nichts […]« (DV, 101). Der Vater hat also nun die exklusive Aufmerksamkeit beider gewonnen, seinen angestammten Platz als Familienpatriarch zurückerobert und Gregor, ehemals im Zentrum der Familie, hat diesen Platz verloren. Dabei zeigt der Vater zum Schluss sogar so etwas wie Mitleid mit der fragenden Bemerkung: »›Wenn er uns verstünde‹« (DV, 101). Die Schwester verwendet das Personalpronomen ›es‹ und reduziert Gregor auf ein Tier oder eine Sache, der Vater sagt noch ›er‹. Die Verwandlung der ganzen Familie ist unumkehrbar, denn Gregor kann nicht kommunizieren und damit auch nicht signalisieren, dass er die anderen ›versteht‹. Das fehlende Verständnis verweist auf die Unmöglichkeit der Herstellung von Sinn in der ganzen Erzählung, auch bezogen auf die Zeichenhaftigkeit des Textes selbst. Der Verlust der engen Mutterbindung trifft Gregor hart, er vermag sich dies aber nicht einzugestehen, eher im Gegenteil: »Die Mutter übrigens wollte verhältnismäßig bald Gregor besuchen, aber der Vater und die Schwester hielten sie zuerst mit Vernunftgründen zurück, denen Gregor sehr aufmerksam zuhörte, und die er vollständig billigte« (DV, 82 f.). Gregor ist das vollkommen Die Verwandlung der Familie <?page no="245"?> 232 l IterarI Sche m oDerne selbstdisziplinierte Subjekt oder vielmehr eine ironische Variante, vielleicht sogar eine Parodie davon. Die Ausgrenzung durch die Umwelt wird von ihm aktiv mit vollzogen, möglicherweise vorauseilend durch die Verwandlung selbst. Zum Schluss heißt es sogar: »An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber, daß er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener als die seiner Schwester« (DV, 103). Dem entgegengesetzt sind die Gefühle der Familie, die es der Bedienerin überlassen, den toten Gregor zu entsorgen: »›[…] also darüber, wie das Zeug von nebenan weggeschafft werden soll, müssen Sie sich keine Sorgen machen‹« (DV, 106). Der Schluss der Erzählung legt den Schwerpunkt auf die neu gewonnene Freiheit der Familie - ohne Gregor. Das Frühjahr steht vor der Tür: »Dann verließen alle drei gemeinschaftlich die Wohnung, was sie schon seit Monaten nicht getan hatten, und fuhren mit der Elektrischen ins Freie vor der Stadt.« Die sich weiter ausdehnende Freiheit wird durch einen Wohnungswechsel und die körperliche Veränderung der Schwester gezeigt, die »zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war« und jetzt bereit für »einen braven Mann« wäre: »Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte« (DV, 107). Kurt Pinthus: Menschheitsdämmerung (1919) Lyrikanthologien sind ein eigenes Thema, in diesem Band kann nur eine vorgestellt werden. Bei dieser Anthologie handelt es sich um eine ebenso besondere wie berühmte. In seinem Vorwort »Nach 40 Jahren« aus dem Jahr 1959 rechtfertigt der Journalist, Theater- und Literaturwissenschaftler Kurt Pinthus (1886-1975) die Neuausgabe der seinerzeit von ihm zusammengestellten Antho- Neue Freiheiten 6.5. Kurt Pinthus, um 1920 Abb. 6.5 <?page no="246"?> 233 k urt P InthuS : m enSchheItSDä mmerung (1919) logie mit folgenden, keineswegs übertriebenen Worten: »Keine Gedichtsammlung unseres Jahrhunderts ist so oft zitiert worden wie ›Menschheitsdämmerung‹ […]. Viele der in diesem Buch enthaltenen Gedichte gelten heute als die besten oder wenigstens typischsten des Expressionismus und sind in unzählige spätere Anthologien und in Schulbücher eingegangen« (MD, 8). Aufschlussreich sind auch Pinthus’ Bemerkungen zur allgemeinen Bedeutung der Gattung: »Stets war die Lyrik das Barometer seelischer Zustände, der Bewegung und Bewegtheit der Menschheit« (MD, 22). Obwohl sich Lyrik durch ihre vergleichsweise strenge Formsprache auszeichnet und sie daher in besonderer Weise der Autonomieästhetik verpflichtet zu sein scheint, betont Pinthus für die vorliegenden Gedichte das Gegenteil: »Niemals war das Ästhetische und das L’art pour l’art-Prinzip so mißachtet wie in dieser Dichtung, die man die ›jüngste‹ oder ›expressionistische‹ nennt, weil sie ganz Eruption, Explosion, Intensität ist - sein muß, um jene feindliche Kruste zu sprengen.« Für Pinthus handelt es sich eindeutig um »[…] politische Dichtung, denn ihr Thema ist der Zustand der gleichzeitig lebenden Menschheit, den sie beklagt, verflucht, verhöhnt, vernichtet, während sie zugleich in furchtbarem Ausbruch die Möglichkeiten zukünftiger Änderung sucht.« Allerdings gilt auch: »Die politische Kunst unserer Zeit […] will der Menschheit helfen, die Idee ihrer selbst zur Vervollkommnung, zur Verwirklichung zu bringen« (MD, 29). Aus diesem Spannungsfeld von Inhalt und Form, Fremdbezug und Selbstbezug, Heteronomie und Autonomie resultiert ein Experimentieren mit Sprache, das, wie zu zeigen sein wird, einerseits - auf radikale Weise bei Gottfried Benn (1886-1956) - auf die tradierten Muster verzichtet, das sie andererseits - nicht weniger radikal bei Georg Trakl (1887-1914) - durch originelle Verwendung (Verfremdung, Chiffrierung …) produktiv verändert. Der Titel der Anthologie ist ambivalent: Die Dämmerung kann auf einen kommenden Untergang, aber auch auf einen (möglicherweise erst nach dem Untergang folgenden) Neuanfang hindeuten. Zugleich ist der Titel programmatisch auf die Erfahrungen der Zeit bezogen. Im Jahr des politischen Umbruchs erschienen (Ende des Ersten Weltkriegs, Ende der Monarchie, Suche nach einer neuen politischen Ordnung), versammelt der umfangreiche Band Gedichte von Autoren unterschiedlicher literaturgeschichtlicher Bedeutung. Einige der Autoren sind für das zweite Jahrzehnt, für Lyrik als „Barometer seelischer Zustände“ Untergang und Neuanfang <?page no="247"?> 234 l IterarI Sche m oDerne die Epoche des Expressionismus nicht unwichtig, andere sind für die Zeit und ihre Literatur grundlegend und wieder andere gehören auch heute noch zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikern, vor allem sind dies Gottfried Benn, Georg Heym (1887-1912), Jakob van Hoddis (1887-1942), Else Lasker-Schüler (1869-1945), Georg Trakl und Franz Werfel (1890-1945). Aber auch Namen wie Walter Hasenclever (1890-1940), Alfred Lichtenstein (1889-1914) und Ernst Stadler (1883-1914) sind keine Unbekannten. Johannes R. Becher (1891-1958) verdient eine eigene Nennung, da er später in der DDR Karriere macht. Er hilft am Aufbau des zweiten deutschen Staates mit und wird 1954 dessen erster Kulturminister. Die Todesdaten weisen bereits darauf hin, dass einige der Autoren im Ersten Weltkrieg gestorben sind: »Keine Schriftstellergeneration in diesem Jahrhundert hat unter der Geschichte so sehr gelitten wie die expressionistische. Von den Nationalsozialisten als ›entartet‹ diffamiert und verfolgt, gehen die meisten nach 1933 einen Weg, der in Todeslagern mit dem Freitod oder im lange währenden Exil endet« (Anz 2002, 2). Kurt Pinthus zieht eine schlimme Bilanz: Als ich vor vierzig Jahren diese Dichter einen »Zug von sehnsüchtigen Verdammten« nannte, wußte ich nicht, wie sehr diese damals mehr symbolische Charakterisierung zu grausiger Realität werden sollte. Der Leser, das Schicksal der Dreiundzwanzig überblickend, wird, erschüttert, zugleich bewundern, daß all diese Dichter auch an der Front des ersten Weltkriegs, wie in Verfolgtsein und Exil, in Heimatlosigkeit und Verzweiflung, in Krankheit, Unverstandensein und Elend, immer weiter schrieben und dichteten […]. Und man soll niemals vergessen: die hier dargestellten Dichter stehen für eine zehnfache, hundertfache Zahl. (MD, 21) Pinthus fasst die grundlegende Absicht der Anthologie so zusammen: »Die Humanitäts-Melodie kann als das messianische Hauptmotiv des Expressionismus bezeichnet werden« (MD, 14). Insofern geht es ganz zentral um das Thema der Freiheit, als erfahrene Unfreiheit erst in der Monarchie und dann im Krieg, als erhoffte Freiheit durch einen humanitär geprägten Neuanfang: »Man versuchte, das Menschliche im Menschen zu erkennen, zu retten und zu erwecken« (MD, 27). Die Hoffnung ruht für Pinthus auf der Jugend, die »in freierer Menschheit heranwachsen« werde und die er direkt adressiert: »[…] folgt nicht diesen nach, deren Schick- Tod im Ersten Weltkrieg Humanität und Freiheit <?page no="248"?> 235 k urt P InthuS : m enSchheItSDä mmerung (1919) sal es war, im furchtbaren Bewußtsein des Unterganges inmitten einer ahnungslosen, hoffnungslosen Menschheit zu leben, und zugleich die Aufgabe zu haben, den Glauben an das Gute, Zukünftige, Göttliche bewahren zu müssen, das aus den Tiefen des Menschlichen quillt! « (MD, 31). Es handelt sich um ein unmarkiertes Goethe-Zitat. Goethe hat dem zweiten Teil der überarbeiteten Ausgabe von Die Leiden des jungen Werther folgende Verse vorangestellt, um möglichen Nachahmungstaten des Selbstmords aus unglücklicher Liebe vorzubeugen: »Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele, / Rettest sein Gedächtnis von der Schmach; / Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner Höhle: / Sei ein Mann und folge mir nicht nach« (Goethe 1998f 1, 92). Freiheit wird eben gerade nicht im Freitod erzielt, sondern in der Reflexion über dessen Bedingungen, die zu ändern wären. Ähnlich verhält es sich mit den Erfahrungen der Expressionisten, die nicht zur Nachahmung dienen sollen, sondern zur Reflexion über die Probleme der Zeit in der Hoffnung auf eine durch diese Reflexion ermöglichte Veränderung. Die Literatur ist und bleibt also das Medium der Freiheit. Die Anthologie beginnt programmatisch-düster (so wie sie programmatisch-hoffnungsvoll mit Werfels Ein Lebens-Lied schließt; MD, 328) mit Jakob van Hoddis’ berühmtem Gedicht Weltende aus dem Jahr 1911, noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschrieben, das an dessen Ende prognostisch wirkt, obwohl es in seiner Entstehungszeit vor allem auf die mögliche Bedrohung der Erde durch den Halleyschen Komenten anspielt. Die Veränderung des Kontextes, in dem der Text publiziert wird, sorgt für eine Veränderung der Codierung: Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei, Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. (MD, 39) Die Verwendung der gängigen Formen (Jambus, Reim, Quartette …), die dennoch alltägliche Sprache und die Zusammenstellung von Gegensätzen, die eine komische Wirkung erzeu- „Weltende“ <?page no="249"?> 236 l IterarI Sche m oDerne gen, kontrastieren mit dem katastrophischen, apokalyptischen Geschehen. Mit dem ›spitzen Kopf‹ macht sich der Text über die Bürger lustig und den Dachdeckern, die wie Dachziegel zerbrechen, wird erst gar kein Subjektstatus zuerkannt. Die Natur hingegen wird personifiziert, die Meere können »hupfen«. Ob sich das Geschehen so zuträgt, wird, zumindest zum Teil, medial vermittelt: »liest man«. Der Auftakt der Anthologie ist somit programmatisch und ironisch zugleich, er verweist auf die katastrophische Realität und besteht auf der Freiheit der Kunst, sich über die Regeln dieser Realität hinwegzusetzen. Es gibt viele berühmte Gedichte in dieser Anthologie, von denen nur einige kurz Erwähnung finden können. Georg Heyms Der Gott der Stadt verwendet das Motiv des Gottes und Dämons Baal (dem Brecht wenig später ein Theaterstück widmet): Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik Der Millionen durch die Straßen laut. Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut. Korybanten sind Ritualtänzer der griechischen Göttin Kybele. Die Erfahrung der Masse in der Großstadt, die einer Entindividualisierung gleichkommt, wird durch Verweis auf die antike Mythologie transzendiert und mit Tanz und Rausch in Verbindung gebracht, zum Schluss auch mit Zerstörung und Wiederkehr: »Und der Glutqualm braust / Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt« (MD, 43). Auf jede Mythologisierung verzichten die Gedichte des praktizierenden Arztes Gottfried Benn, der - wie nach ihm Brecht - die Vergänglichkeit betont und jeden Glauben an eine Form von Transzendenz verabschiedet (den Glauben an die Fähigkeiten der Literatur immer ausgenommen). Kleine Aster stammt aus dem berühmten Gedichte-Zyklus Morgue von 1912: Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster zwischen die Zähne geklemmt. Als ich von der Brust aus unter der Haut mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt, „Der Gott der Stadt“ „Kleine Aster“ <?page no="250"?> 237 k urt P InthuS : m enSchheItSDä mmerung (1919) muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn. Ich packte sie ihm in die Brusthöhle zwischen die Holzwolle, als man zunähte. Trinke dich satt in deiner Vase! Ruhe sanft, kleine Aster! (MD, 52 f.) Die Entpersönlichung ist hier so weit fortgeschritten, dass der tote Mensch nicht einmal mehr als ertrunken, sondern als ›ersoffen‹ und nicht mit seinem Namen, sondern mit seinem (sehr einfachen) Beruf bezeichnet wird. Der Tote macht nur noch Sinn als »Vase« für eine Aster, der das Gedenken gilt. Ein solcher Text kann im Kontext der Zeit als Provokation gelesen werden, als Absage an die traditionellen Sinnangebote und als Aufruf gegen das Akzeptieren eines solchen Status als Ding. Auch die Form ist radikal, das Gedicht verzichtet auf Reime, auf gängige Metren, auf gleiche Verslänge. In der Form bestätigt sich gerade die Individualität. Auch Benn arbeitet also mit Paradoxien, die es durch den Leser aufzulösen gilt. Georg Trakls Stil wählt weder den Weg der Adaption und Veränderung bekannter Formen noch den des Bruchs mit diesen Formen. Trakl schließt an die antike Literatur und Mythologie an, aber er geht von den noch auflösbaren Metaphern und Symbolen zu einer Chiffrierung über, die neue Assoziationsräume eröffnet, etwa mit dem Beginn des Gedichts Helian, abgeleitet von einem aus dem Gotischen stammenden Wort für ›heilen‹: In den einsamen Stunden des Geistes Ist es schön, in der Sonne zu gehn An den gelben Mauern des Sommers hin. Leise klingen die Schritte im Gras; doch immer schläft Der Sohn des Pan im grauen Marmor. (MD, 110) Der Sohn des Hirtengottes Pan ist offenbar im Schlaf gefangen, in Marmor, aber dieser besondere Stein, der auch für Grabsteine Verwendung findet, ist grau. Die Idylle ist nur eine scheinbare, die Katastrophe ist ihr eingeschrieben: O ihr zerbrochenen Augen in schwarzen Mündern, Da der Enkel in sanfter Umnachtung „Helian“ <?page no="251"?> 238 l IterarI Sche m oDerne Einsam dem dunkleren Ende nachsinnt, Der stille Gott die blauen Lider über ihn senkt. Selbst der »stille Gott« kann nur noch dafür sorgen, dass der einsame, umnachtete, offenbar durch die früheren Ereignisse traumatisierte Enkel (es finden sich zahlreiche Metaphern, Symbole und Chiffren für den Tod) zur endgültigen Ruhe kommt. Von einer Heilung im herkömmlichen Sinn kann man nicht mehr sprechen. Ebenso kontrastierend ist der Titel von Trakls Abendlied, der auf eine Tradition von Abendliedern verweist, für das vor allem das berühmte von Matthias Claudius (1740-1815) aus dem Jahr 1779 steht. Der versöhnlichen, verheißungsvollen Stimmung solcher Abendlieder setzt Trakl die Erfahrung von Vergänglichkeit und Tod in einer »traurigen«, einsamen Welt entgegen, in der lediglich die Erinnerung noch etwas Trost zu bieten vermag (MD, 170). Freiheit realisieren diese Texte über den freien Umgang mit Themen, Motiven und Formen. Sie befreien sich von Konventionen und öffnen damit Freiräume für den Leser, nicht nur die Welt, wie sie war und ist, kritisch wahrzunehmen, sondern nach Möglichkeit auch so zu verändern, dass sich Krieg und Zerstörung nicht wiederholen, dass Menschen nicht unter Einsamkeit und Not leiden müssen. Das dürfte gemeint sein, wenn Pinthus die Lyrik als »das Barometer seelischer Zustände, der Bewegung und Bewegtheit der Menschheit« (MD, 22) bezeichnet. Bertolt Brecht: Hauspostille (1927) Bertolt Brecht (1898-1956) gilt als bedeutendster deutschsprachiger Dramatiker des 20. Jahrhunderts, doch auch als Erzähler und Lyriker fand und findet er Anerkennung. In studentischen Arbeiten wird sein Vorname regelmäßig ›Berthold‹ und somit falsch geschrieben, wobei es sich, was die Studierenden aber meist nicht wissen, um seinen Taufnamen handelt, dessen Schreibung er als zu bürgerlich empfunden hat. Einige seiner (zahlreichen) Gedichte sind im Kanon der Literaturgeschichte fest verankert, etwa An die Nachgeborenen (Erstdruck 1939), das über die Erfahrungen im Nationalsozialismus spricht, mit den berühmten Zeilen: »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! « (Brecht 1997a, 349). Ein Der freie Umgang mit der Form 6.6. „An die Neugeborenen“ <?page no="252"?> 239 b ertolt b recht : h auS PoStIlle (1927) weiteres bekanntes Beispiel ist die 1950 entstandene Kinderhymne, ein alternativer Text zur deutschen Nationalhymne, die durch den Ge- oder Missbrauch im Zweiten Kaiserreich und im Nationalsozialismus so belastet ist, dass bei offiziellen Anlässen nur noch die dritte Strophe gesungen werden darf (Neuhaus 2002a, 288 ff.). Brecht ersetzt das Diktum »Deutschland, Deutschland über alles« aus dem Lied der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben durch die Forderung nach einer gleichberechtigten Partnerschaft der Nationen, ohne den Wunsch nach Patriotismus zu leugnen: »Und nicht über und nicht unter / Andern Völkern wolln wir sein / […] Und weil wir dieses Land verbessern / Lieben und beschirmen wir’s / Und das Liebste mag’s uns scheinen / So wie andern Völkern ihrs« (Brecht 1997a 3, 396 f.). Schon früh hat der in Augsburg geborene Brecht, der zunächst in München Medizin studiert und zugleich in verschiedenen literarischen Cafés und Kabaretts mitarbeitet, als Dramatiker Erfolg. 1922 erhält er für Trommeln in der Nacht, auf Betreiben des bekannten Kritikers Herbert Ihering, den renommierten Kleist-Preis. Iherings Lob wird sich als vorausschauend erweisen: »Der vierunzwanzigjährige Dichter Bert Brecht hat über Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands verändert. Mit Bert Brecht ist ein neuer Ton, eine neue Melodie, eine neue Vision in der Zeit« (Kesting 1993, 161). „Kinderhymne“ Lob für den jungen Brecht Das Geburtshaus Brechts in Augsburg, nunmehr eine Gedenkstätte Abb. 6.6 <?page no="253"?> 240 l IterarI Sche m oDerne Brecht arbeitet oft im Kollektiv mit anderen. Er integriert Lieder und Musik und er verwendet Verfremdungseffekte, um das Reflexionspotential der Zuschauer zu aktivieren. Das Konzept des ›Epischen Theaters‹ macht Schule, die Techniken der Distanzierung (Erzähler auf der Bühne, dissonante Musik, Spruchbänder, Einsatz von Ton und Film etc.) gehören bald zum Repertoire eines gegen die bisherigen, ›bürgerlichen‹ Traditionen rebellierenden Theaters. Neben der Dreigroschenoper (1928) ist beispielsweise noch Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930) für die Zeit vor dem Exil zu nennen. Am Tag nach dem Reichstagsbrand flieht Brecht aus Deutschland. Nach Aufenthalten in der Schweiz und in Frankreich bleibt er zunächst in Dänemark, zieht 1939 für ein Jahr nach Schweden, anschließend für ein halbes Jahr nach Finnland und reist über Moskau schließlich in die USA. Zu den bekanntesten im Exil entstandenen Stücken zählen Mutter Courage und ihre Kinder (1941), Leben des Galilei (1943), Der gute Mensch von Sezuan (1943), Furcht und Elend des Dritten Reiches (1944), Herr Puntila und sein Knecht Matti (1948). Von 1948 bis zu seinem vergleichsweise frühen Tod lebt und arbeitet Brecht in Ostberlin. 1949 gründet er das Berliner Ensemble und zieht mit ihm 1954 in das Theater am Schiffbauerdamm. Im selben Jahr wird dort Der kaukasische Kreidekreis uraufgeführt, fast ein Jahrzehnt nach der Entstehung des Stücks. Noch heute, zuletzt unter langjähriger Leitung des berühmten Theatermachers Claus Peymann (geb. 1937), gehört die sogenannte Brecht- Bühne zu den bedeutendsten deutschsprachigen Theatern. Brecht bezog im Exil klar Stellung gegen Hitler, aus der geographischen Distanz war dies auch ohne Zensur oder Selbstzensur möglich. Als problematisch wurde später seine grundsätzlich bejahende Haltung gegenüber der DDR-Führung begriffen, insbesondere nach dem Aufstand des 17. Juni 1953. Brecht zog allerdings in seiner Sammlung Buckower Elegien eine kritische Bilanz des Aufstands: Die Lösung Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, daß das Volk Flucht ins Exil <?page no="254"?> 241 b ertolt b recht : h auS PoStIlle (1927) Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes? (Brecht 1997a 3, 404) Brecht schreibt gegen die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit, deshalb setzt er sich auch mit den Schriften von Karl Marx auseinander und liebäugelt mit dem Kommunismus. Er stellt sich gern quer und hat damit Erfolg. Als er nach dem Erscheinen der Hauspostille zum Lyrikrichter der Zeitschrift Die literarische Welt ernannt wird, entscheidet er, keinem der eingereichten Gedichte den Preis zuzuerkennen, die er als epigonal und ohne Gebrauchswert ablehnt (Brecht 1997d). Stattdessen sucht er ein Gedicht von Hannes Küpper aus, »[…] das er in einem Radsportblatt gefunden hatte. Es war ein Song über den ›Eisernen Mac‹, den Sechs-Tage- Champion Reggie Mac Namara« (Völker 1988, 105). Mit solchen Aktionen gewinnt Brecht die Sympathien eines linken intellektuellen Publikums. Im Titel bezieht sich die 1927 erschienene Sammlung von Gedichten, deren Entstehung teilweise bis in Brechts Jugend zurückreicht, auf »Martin Luthers Hauspostille, die in einer Bearbeitung von Veit Dietrich seit 1544 nachweisbar ist«. Der Titel des Abschnitts Bittgänge verweist allerdings nicht auf die protestantische, sondern die katholische Tradition. Während es sich bei den früheren Luther-Texten »um Predigten und dabei wiederum vor allem um Texte zur moralisch-religiösen Erziehung« handelt (Brecht 1997a, Bd. 3, 420), sind Brechts Gedichte dezidiert antireligiös. Viele sind Balladen oder Lieder und »[…] dem aufsässigen Ton der plebejischen Tradition verpflichtet: dem Bänkelsang, dem Kneipenlied, dem Gassenhauer, dem Küchenlied und in ironischer Brechung auch der Schnulze« (Brecht 1997a, Bd. 3, 421). Auch das Parodistische und Ironische der Lieder ist dem Kabarett und dem großen Vorbild Frank Wedekind (1864-1918) verpflichtet. Weitere Autoren, die für Brecht wie für das Kabarett wegbereitend waren, sind die französischen Lyriker einer Tradition der ›Ästhetik des Hässlichen‹, François Villon (1431-63) (vgl. das Gedicht Vom François Villon; HP, 55 f.) Arthur Rimbaud (1854-91) und Charles Baudelaire (1821-67). Auch die jüngere US-amerikani- Der Bezug zu Luther <?page no="255"?> 242 l IterarI Sche m oDerne sche Kultur spielt eine Rolle, etwa über die Motive der Mahagonnygesänge (HP, 100 ff.). Manche der Texte der Hauspostille haben reale Anlässe, einigen liegen Zeitungsmeldungen zugrunde. Die Sammlung wird gerahmt durch eine Anleitung zum Gebrauch der einzelnen Lektionen (HP, 39) und durch ein Schlusskapitel, das aus dem Gedicht Gegen Verführung besteht (HP, 116). Ihm folgt noch der »Anhang: Vom armen B. B.« (HP, 117), bestehend aus drei Gedichten. Die Anleitung zeugt von dem postulierten »Gebrauchswert« der Sammlung als Anleitung zum Durchsetzen der Ansprüche individueller Freiheit. Schon der erste Satz ist programmatisch: »Diese Hauspostille ist für den Gebrauch der Leser bestimmt. Sie soll nicht sinnlos hineingefressen werden« (HP, 39). Anschließend werden die Lektionen kurz vorgestellt und es wird erklärt, wie sie wirken und welchen Gebrauch man von ihnen machen soll. Besonderen Stellenwert bekommt das letzte Gedicht zugewiesen: »Überhaupt empfiehlt es sich, jede Lektüre in der Taschenpostille mit dem Schlußkapitel zu beschließen« (HP, 40; Kursivierungen im Original). Jeder Vertröstung auf Belohnung religiösen Handelns im Jenseits wird darin eine klare Absage erteilt: 1 Laßt euch nicht verführen! Es gibt keine Wiederkehr. Der Tag steht in den Türen; ihr könnt schon Nachtwind spüren: Es kommt kein Morgen mehr. 2 Laßt euch nicht betrügen! Das Leben wenig ist. Schlürft es in vollen Zügen! Es wird euch nicht genügen wenn ihr es lassen müßt! 3 Laßt euch nicht vertrösten! Ihr habt nicht zu viel Zeit! Laßt Moder den Erlösten! Das Leben ist am größten: Es steht nicht mehr bereit. Gedichte mit „Gebrauchswert“ <?page no="256"?> 243 b ertolt b recht : h auS PoStIlle (1927) 4 Laßt euch nicht verführen! Zu Fron und Ausgezehr! Was kann euch Angst noch rühren? Ihr sterbt mit allen Tieren und es kommt nichts nachher. (HP, 116) Aus den Kontingenzerfahrungen der Moderne zieht das Gedicht einen positiven Schluss, ohne »Angst« das »Leben« zu nutzen und sich nicht »verführen« zu lassen, auf etwas zu verzichten. Das Fehlen jeder Transzendenz wird nicht als negativ, sondern als positiv begriffen. Mit der Endgültigkeit des Todes ist zugleich eine Entlastung verbunden, deshalb hält der Große Dankchoral abschließend fest: Lobet die Kälte, die Finsternis und das Verderben! Schauet hinan: Es kommt nicht auf euch an Und ihr könnt unbesorgt sterben. (HP, 77) Dafür ist es notwendig, sich schonungslos und ohne Tabus über die Bedingungen der menschlichen Existenz zu vergewissern, das geht nicht ohne Distanz zur Umwelt und zu sich selbst. Zur Distanzerzeugung wird nicht zuletzt Ironie eingesetzt. Als erste Lektion des Bandes richten sich die Bittgänge »direkt an das Gefühl des Lesers«, deshalb sollten »nur ganz gesunde Leute« davon »Gebrauch machen«. Die zweite Lektion der Exerzitien »wendet sich mehr an den Verstand, man soll sie daher »ohne Einfalt« lesen: »Die dritte Lektion (Chroniken) durchblättere man in Zeiten der rohen Naturgewalten […]. Bei einem Vortrag der Chroniken empfiehlt sich das Rauchen« (HP, 39). »Die vierte Lektion (Mahagonnygesänge) ist das Richtige für die Stunden des Reichtums, das Bewußtsein des Fleisches und die Anmaßung. (Sie kommt also nur für sehr wenige Leser in Betracht.)« Die fünfte und letzte Lektion Die kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen hingegen ist »für das Andenken und die frühen Geschehnisse. Das zweite Kapitel von den verführten Mädchen ist zu singen unter Anschlag harter Mißlaute auf einem Saiteninstrument« (HP, 40). Hier wird deutlich, dass es sich um eine Parodie der durch Luther begründeten Gattung handelt, zugleich aber auch um eine kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Realität. Betont wird außerdem die beabsichtigte oder mögliche Wirkung, mithin das Reflexive der Rezep- Gegen Tabus der Zeit <?page no="257"?> 244 l IterarI Sche m oDerne tion von Literatur, die nicht ›nur‹ gelesen, sondern während der Lektüre als Auslöser für Gefühle und Gedanken wahrgenommen werden soll. Auch wird immer wieder das Selbstreflexive und das Ironische der Sammlung betont, indem das Dichten als etwas sehr Alltägliches dargestellt wird: Man raucht. Man befleckt sich. Man trinkt sich hinüber Man schläft. Man grinst in ein nacktes Gesicht. Der Zahn der Zeit nagt zu langsam, mein Lieber! Man raucht. Man geht k … Man macht ein Gedicht (HP, 70). Schon das erste Gedicht des Bandes, Vom Brot und den Kindlein, führt im Ton naiver religiöser Dichtung die übliche Vertröstungsrhetorik ad absurdum (HP, 41 f.). Das berühmte zweite Gedicht, die Ballade Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde, geht auf eine Zeitungsmeldung zurück und schildert den Mord eines jungen Mannes an seinen Eltern: »In mildem Lichte Jakob Apfelböck / Erschlug den Vater und die Mutter sein« (HP, 42). Das ›milde Licht‹ kontrastiert mit der sachlichen Schilderung der brutalen Handlung. Dieser Kontrast von Stil und Inhalt wird bestimmend für das Gedicht. Jakob hat die Leichen im Wäscheschrank verborgen (HP, 43). Gegenüber dem »Zeitungsmann« und der »Milchfrau«, die den Geruch wahrnehmen, erfindet Jakob Ausreden: Und als sie einstens in den Schrank ihm sahn Stand Jakob Apfelböck in mildem Licht Und als sie fragten, warum er’s getan Sprach Jakob Apfelböck: Ich weiß es nicht. Das Gedicht endet damit, dass die Milchfrau sich später fragt, ob Jakob »wohl einmal noch / Zum Grabe seiner armen Eltern geht? « (HP, 43). Milch ist lebensspendendes Element und die Bezeichnung Milchfrau könnte auch für Amme stehen. Mit der Frage dieser Figur, die das Leben repräsentiert, wird das Gedicht nur scheinbar harmonisch geschlossen. Bereits das Fragezeichen am Schluss fordert den Leser auf, sich darüber hinausgehend zu fragen, weshalb eine solche grausame Tat so ›milde‹ beschienen und beurteilt werden, ja weshalb eine solche Tat überhaupt geschehen kann. Der Mord an den Eltern ist die radikale Absage an die Herkunft. Die wichtigste Leerstelle der Ballade ist das fehlende Motiv. Jakob scheint überhaupt nicht gewalttätig und eher empfindsam „Apfelböck“ <?page no="258"?> 245 b ertolt b recht : h auS PoStIlle (1927) zu sein. Sein Vorname verweist auf den Jakob der Bibel, der mit seinem erstgeborenen Bruder Esau um die Nachfolge konkurriert und später mit einem himmlischen Boten kämpft, den er besiegt (Gen, 25-28). Es handelt sich bei Brecht um eine bewusste Namensänderung, wohl zur Erzeugung eines Kontrasts zwischen dem Jakob der Bibel und dem des Gedichts. Das reale Vorbild für die Tat hieß Joseph Apfelböck (1903-85). Er erschoss 1919 in einem Münchner Ortsteil ohne ersichtlichen Grund seine Eltern und blieb eine Zeitlang mit den Toten in der Wohnung. Auch der zweite Teil des Gedichttitels verweist auf die Bibel: »Anspielung auf Matthäus 6,28: ›Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen‹ (Symbol für unschuldiges Gottvertrauen, Unschuld allgemein)« (Brecht 1997a 3, 421 f.). Brecht macht aus dem besonderen Fall eine Parabel auf die Kontingenz des Lebens und die problematischen Versuche der Sinngebung durch Staat und Religion. Am Beispiel der Milchfrau wird vorgeführt, wie vergeblich es ist, den Fall in den christlichen kulturellen Kontext einzupassen. Welchen Trost bietet es, wenn Jakob das Grab seiner von ihm ermordeten Eltern besucht? Mit der nächsten Ballade Von der Kindsmörderin Marie Farrar aktualisiert Brecht ein in der Literatur bekanntes Motiv, wie es sich beispielsweise als sogenannte Gretchentragödie in Goethes Faust I findet. Vermittelt durch eine Erzählerfigur wird Marie Farrar einerseits charakterisiert, als: »Unmündig, merkmallos, rachitisch, Waise« (HP, 44), und kommt andererseits selbst, im distanzierenden Konjunktiv, zu Wort. So kann der Erzähler die besonderen Umstände betonen: Marie muss als Dienstbotin hart arbeiten, dabei ist »ihre Kammer auch eiskalt« (HP, 45). In den »Gesindabort«, auf dem sie das Kind schließlich während der Arbeit zur Welt bringt und es aus Verzweiflung tötet, kann es »hereinschnein«. Dennoch wird Marie verurteilt und stirbt »im Gefängnishaus zu Meißen«. Der stets nur leicht variierte Refrain der neun Strophen macht die Lehre deutlich, die aus dem Fall gezogen werden soll: »Darum, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen / Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen« (HP, 46). Nicht nur auf die Bibel und auf bekannte Motive der Kulturgeschichte, auch auf bekannte literarische Texte greift die Sammlung zurück. In der Liturgie vom Hauch wird Goethes Ein Gleiches zitiert, aktualisiert und parodiert: Eine alte Frau muss verhungern, auch weil ihr »das Militär« die Nahrung nimmt (HP, 50). Der „Marie Farrar“ „Liturgie vom Hauch“ <?page no="259"?> 246 l IterarI Sche m oDerne einzige, der Mitleid mit ihr hat, wird von einem »Kommissar« mit einem »Gummiknüppel« getötet (HP, 51). Am Schluss kommt »ein großer roter Bär«, möglicherweise eine Anspielung auf das kommunistisch gewordene Russland (Brecht 1997a 3, 422), und sorgt für eine revolutionäre und somit dem Goethe-Gedicht entgegengesetzte Stimmung: Da schwiegen die Vögelein nicht mehr Über allen Wipfeln ist Unruh In allen Gipfeln spürest du Jetzt einen Hauch. (HP, 53) Besonders zeitkritisch ist die bekannte Legende vom toten Soldaten, die Ballade ist offenbar in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs entstanden (Brecht 1997a 3, 428). Ein Soldat stirbt »den Heldentod« und wird anschließend, um weiterhin für den »Kaiser« nützlich zu sein (HP, 112), wieder ausgegraben und »k.v.« (›kriegsverwendungsfähig‹) geschrieben, weil »der Doktor fand«, »er drücke sich vor der Gefahr«. Der Tote wird nun in die Schlacht getragen, ein »Pfaffe« mit »Weihrauchfaß« überdeckt den Verwesungsgeruch (HP, 113): Sie malten auf sein Leichenhemd Die Farben schwarz-weiß-rot Und trugen’s vor ihm her; man sah Vor Farben nicht mehr den Kot. (HP, 114) Die Farben der Fahne des deutschen Kaiserreichs kaschieren den symbolisch zu verstehenden Kot, also die Schuld des Systems und seiner Vertreter am Krieg und an den Menschen. Brechts Hauspostille radikalisiert Kants kategorischen Imperativ, indem sie die Folgen kollektiver Beschränkungen individueller Freiheit zeigt und die für sie verantwortlichen Traditionen thematisiert (Religion, Kaiserreich). Brecht protestiert gegen die sozialen Verwerfungen in der Gesellschaft. Die Beschränkungen der individuellen Freiheit zu erkennen setzt ein Bewusstsein der Potentialität von Wahlmöglichkeiten voraus. Genau hier setzt die Hauspostille an. „Legende vom toten Soldaten“ Beschränkungen individueller Freiheit <?page no="260"?> 247 b ertolt b recht : D Ie D reIgroSchenoPer (1928) Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928) Bis heute ist der Name Brecht mit einem neuen Theaterkonzept verbunden. Es zeigt sich die Wirkung von theoretischen politischen Schriften, bis hin zu dem Satz: »Als ich ›Das Kapital‹ von Marx las, verstand ich meine Stücke« (Brecht 1997a, Bd. 6, 69). Dennoch sollte man diese politische Tendenz nicht überbewerten. Klaus Völker hat auf die Vorbilder des jungen Brecht verwiesen: »Wedekinds Balladenton und Vortragstechnik, Valentins Linksdenkerei und später noch die Slapstickkomik Chaplins wurden zur Basis von Brechts ›epischem Theater‹« (Völker 1988, 44). Der Kabarettist, Lyriker und Dramatiker Frank Wedekind gehört ebenso wie der bayerische Komiker Karl Valentin (1882-1948) oder der aus London stammende US-amerikanische Filmstar Charlie Chaplin (1889-1977) zu den publikumszugewandten Vertretern einer neuen Auffassung von Kunst, die zugleich die bisherigen Grenzen der einzelnen Künste überschreitet: »Gesucht wurde eine Art der Darstellung, durch die das Geläufige auffällig, das Gewohnte erstaunlich wurde. Das allgemein Anzutreffende sollte eigentümlich wirken können, und vieles, was natürlich schien, sollte als künstlich erkannt werden« (Brecht 1997a, Bd. 6, 243). Das Epische am Epischen Theater ist eine zusätzliche Ebene, die der des Erzählers in der Prosa gleicht. Eine solche Ebene ermöglicht es, Distanz zwischen der Handlung auf der Bühne und den Zuschauern zu schaffen, um die Zuschauer zur Reflexion über das Gezeigte anzuregen: »Das epische Theater bekämpft nicht die Emotionen, sondern untersucht sie und macht nicht halt bei ihrer Erzeugung. Der Trennung von Vernunft und Gefühl macht sich das durchschnittliche Theater schuldig, indem es die Vernunft praktisch ausmerzt« (Brecht 1997a, Bd. 6, 274). Zentral für die notwendige Distanzierung des Zuschauers ist der Verfrem- 6.7. Das Epische Theater Brecht-Denkmal von Fritz Cremer vor dem Berliner Ensemble Abb. 6.7 <?page no="261"?> 248 l IterarI Sche m oDerne dungseffekt: »Der V-Effekt wurde im deutschen epischen Theater nicht nur durch den Schauspieler, sondern auch durch die Musik (Chöre, Songs) und die Dekoration (Zeittafeln, Film usw.) erzeugt. Er bezweckt hauptsächlich die Historisierung der darzustellenden Vorgänge« (Brecht 1997a, Bd. 6, 240). Damit ist gemeint, dass - auch und gerade aus historischer Perspektive - die Konstruktionsprinzipien von gesellschaftlichen Prozessen offen gelegt werden, um diese Prozesse als kontingent wahrnehmen und nach Möglichkeit ändern zu können. Bertolt Brechts wohl auch heute noch berühmtestes Drama ist Die Dreigroschenoper (1928). Es handelt sich um keine Oper im herkömmlichen Sinn. Neben dem gesprochenen Text finden sich Songs, wobei Musik und Gesang mit Dissonanzen arbeiten. Gemeinsam mit dem Komponisten Kurt Weill (1900-50) hat sich Brecht ans Werk gemacht, mit durchschlagendem Erfolg: »Die Uraufführung der ›Dreigroschenoper‹ ging als größter Erfolg der Zwanziger Jahre in die Theatergeschichte ein. Das Stück lief fast ein Jahr in Berlin« (Völker 1988, 143). Wie üblich für Brecht haben andere, insbesondere Frauen (mit denen er sich umgab und deren erotisches wie intellektuelles Potential er für sich zu nutzen wusste), einen nicht unerheblichen Anteil daran: »1926 liest Elisabeth Hauptmann Presseberichte über den anhaltenden Theatererfolg der wiederentdeckten Beggar’s Opera (Die Bettleroper) von John Gay, die seit 1920 in London und in anderen britischen Städten gespielt wird. Daraufhin besorgt sie sich den Text des 1728 entstandenen Stückes und fertigt Anfang 1927 eine Rohübersetzung an. Brecht zeigt sich interessiert an dem Stoff, ist aber gerade mit anderen Projekten beschäftigt […]« (Brecht 1997a, Bd. 1, 648). Erst als Ernst Josef Aufricht (1898-1971) das Berliner Theater am Schiffbauerdamm übernimmt und nach einem Stück für die Eröffnung der Saison 1928 / 29 sucht, dabei von Brecht einige Szenenentwürfe gezeigt bekommt und sich für dieses Stück entscheidet, sind die Würfel für die Bearbeitung gefallen: Brecht interessieren an der Vorlage vor allem die vielfältigen Möglichkeiten zu einer unverhüllten Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Dazu allerdings bedarf es erheblicher Umarbeitung. […] Brecht will zeigen, daß eben jene Mißstände im Charakter der bürgerlichen Gesellschaft begründet sind. […] Die Handlung wird in das Viktorianische Dissonanzen und Verfremdung <?page no="262"?> 249 b ertolt b recht : D Ie D reIgroSchenoPer (1928) Zeitalter verlegt, in die Epoche des sich entwickelnden Kapitalismus im 19. Jahrhundert. (Brecht 1997a, Bd. 1, 650) Bereits die als »Vorspiel« bezeichnete Moritat von Mackie Messer ist hervorhebenswert, nicht nur, weil sie das Thema vorgibt, sondern auch, weil aus ihr einer der berühmtesten Songs des 20. Jahrhunderts wird, mit der eingängigen ersten Strophe: Und der Haifisch, der hat Zähne Und die trägt er im Gesicht Und Macheath, der hat ein Messer Doch das Messer sieht man nicht. (DG, 193) Der Räuber und Mörder Macheath, Mackie Messer genannt, ist die Hauptfigur des Stücks. Einerseits wird betont, dass es seine Natur ist, außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung zu stehen - die Liste seiner Verbrechen ist lang. Andererseits sollte man die Ironie der Zeilen und ihrer Präsentation nicht überlesen und überhören. Mackie Messer ist ein Robin Hood in eigener Sache. Seine Klugheit, sein Witz und, vor allem, die Arroganz und Dummheit seiner Kontrahenten machen ihn trotz seiner Haifisch-Natur zu einer nicht unsympathischen Figur. Es gehört zum »Versuch im epischen Theater« (HP, 192), wie der Zusatz im Paratext lautet, keine Identifikationsfiguren zu schaffen, um die Probleme der gezeigten Verhältnisse deutlicher herausarbeiten zu können. Schon die erste Regieanweisung weist mit Ironie auf das Verkehrte der Verhältnisse hin: »Um der zunehmenden Verhärtung der Menschen zu begegnen, hatte der Geschäftsmann J. Peachum einen Laden eröffnet, in dem die Elendsten der Elenden jenes Aussehen erhielten, das zu den immer verstockteren Herzen sprach« (DG, 195). Und der Schluss des ersten Aktes zieht, im gemeinsamen Lied der Peachums, ein vorläufiges Fazit: »Ein guter Mensch sein? / Ja, wer wär’s nicht gern? / Sein Gut den Armen geben, warum nicht? / […] Doch leider sind auf diesem Sterne eben / Die Mittel kärglich und die Menschen roh. / Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben? / Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so! « (DG, 224). Mackie Messer, »den man den größten Verbrecher Londons nennt« (DG, 223), ist ein Einzelgänger, ein Individualist, während Peachum als Chef einer Bettler-Bande das organisierte Verbrechen repräsentiert. Das Bettlertum ist Maskerade, Diebstahl und Hehle- Verkehrte Verhältnisse Maskeraden <?page no="263"?> 250 l IterarI Sche m oDerne rei gehören zu den weiteren Geschäftszweigen. Polly, die Tochter Peachums, verliebt sich in Mackie, ihr Vater hat sich aber einen anderen Schwiegersohn vorgestellt und versucht, die Verbindung zu verhindern. Für ihn ist seine Tochter Teil seines Kapitals, seiner Frau erklärt er: »Celia, du schmeißt mit deiner Tochter um dich, als ob ich Millionär wäre! « (DG, 199). Liebe wird als Ausdruck von zuviel »Sinnlichkeit« gesehen (DG, 200): »Das ist der verdammte ›Fühlst-du-mein-Herz-Schlagen‹-Text« (DG, 201). Nur der geschäftstüchtig klare Kopf kann einen vor dem Schlimmsten bewahren: »Wenn die Liebe aus ist und im Dreck du verreckst« (DG, 202). Polly weiß allerdings nicht, dass Mackie bereits mit Lucy verbunden ist (DG, 238 f.), der Tochter von Brown, die sogar von ihm ein Kind erwartet (DG, 243). Brown, der Polizeichef von London, ist ein Freund von Mackie und wird von ihm Tiger-Brown genannt. Die beiden sind alte Kameraden (DG, 213). Brown hält Mackie den Rücken frei: »In Scotland Yard liegt nicht das geringste gegen dich vor. […] Das habe ich doch alles erledigt« (DG, 215). Allerdings kann sich Brown nicht wehren, als Peachum, der die Hochzeit ungeschehen machen und Mackie verhaften lassen will, ihn unter Druck setzt. Polly warnt Mackie (DG, 226). Dabei steht eine Krönung bevor, eine einmalige Gelegenheit für Raubzüge, weshalb Matthias zu Mackie meint: »Die Krönung ohne Sie ist wie ein Brei ohne Löffel.« Während Mackies Abwesenheit soll Polly »die Leitung des Geschäfts« übernehmen (DG, 228). Mackie wird zum Verhängnis, dass er nicht abreisen kann, ohne das Hurenhaus und seine langjährige ›Geliebte‹ Spelunkenjenny aufzusuchen (DG, 230 ff.). Brown kommentiert sein Verhalten: »Aber er ist ja so leichtsinnig, wie alle großen Männer, wenn sie ihn jetzt da hereinführen und er mich anblickt mit seinen treuen Freundesaugen, ich halte das nicht aus« (DG, 236). Dennoch lässt sich Brown immer wieder von Peachum erpressen, seinen ›Freund‹ zu verfolgen (DG, 246; 254). Nicht nur Komik und Ironie werden zur Distanzerzeugung eingesetzt. Es gehört zur Strategie des Stücks, die Rezipienten nicht über das weitere Geschehen rätseln zu lassen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich auf das Gezeigte zu konzentrieren. Deshalb finden sich Regieanweisungen wie: »Verraten von den Huren, wird Macheath durch die Liebe eines weiteren Weibes aus dem Gefängnis befreit« (DG, 236; Hervorhebung im Original). Welche Konsequenz Hilfe von der Polizei <?page no="264"?> 251 b ertolt b recht : D Ie D reIgroSchenoPer (1928) dies für die Inszenierung hat, bleibt freilich der Regie überlassen. Das Stück handelt, auf ironische Weise, von der (Un-)Möglichkeit von Freiheit in einer von ökonomischen Kämpfen bestimmten Gesellschaft, etwa in der Rede, die Mackie vor seiner vermuteten Hinrichtung hält und in der sich unter anderem die berühmt gewordenen Worte finden: »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? « (DG, 267). Der Begriff der Freiheit wird auf eine zu dieser ökonomiekritischen Perspektive passende Weise verwendet, so in der Ballade vom angenehmen Leben: Da preist man uns das Leben großer Geister Das lebt mit einem Buch und nichts im Magen In einer Hütte, daran Ratten nagen. Mir bleibe man vom Leib mit solchem Kleister! […] Was hilft da Freiheit? Es ist nicht bequem Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm! (DG, 237) Mackie singt auch im 2. Dreigroschen-Finale am Ende des 2. Akts die folgende Strophe, in der die Analogie von Armut und Unfreiheit radikalisiert wird: Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben Und Sünd und Missetat vermeiden kann Zuerst müßt ihr uns was zu fressen geben Dann könnt ihr reden: Damit fängt es an. Ihr, die ihr euren Wanst und unsre Bravheit liebt Das eine wisset ein für allemal: Wie ihr es immer dreht, und wie ihr’s immer schiebt Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. (DG, 246) Der dritte und letzte Akt hat als Rahmen die Krönungsfeierlichkeiten. Peachum und seine Bettler rüsten auf und Mackie wird von seiner Freundin Spelunkenjenny verraten (DG, 249 ff.). Mackie soll gehenkt werden, wird aber nicht von seinen Frauen oder seinen Freunden, sondern vom (sprichwörtlichen) reitenden Boten der Königin gerettet, als ironischer deus ex machina im »3. Dreigroschen-Finale«: Anläßlich ihrer Krönung befiehlt die Königin, daß der Captn Macheath sofort freigelassen wird. Alle jubeln. Gleichzeitig wird er hiermit in den erblichen Adelsstand erhoben. Jubel und ihm das Schloß Marmarel Die ökonomischen Verhältnisse Der reitende Bote <?page no="265"?> 252 l IterarI Sche m oDerne sowie eine Rente von zehntausend Pfund bis zu seinem Lebensende überreicht. Den anwesenden Brautpaaren läßt die Königin ihre königlichen Glückwünsche übersenden. (DG, 269) Frau Peachum kommentiert: »So leicht und friedlich wäre unser Leben, wenn die reitenden Boten des Königs immer kämen« (DG, 270). Brechts ironische Gesellschafts-Parabel zeigt die Abhängigkeit individueller Freiheit von den ökonomischen Verhältnissen, die wiederum von Macht-Verhältnissen bedingt sind und sie gleichzeitig bedingen. Nur wer Macht und Geld hat, ist frei. Deshalb hat Brecht auch in einem Aufsatz, der vermutlich 1932 entstanden ist (Brecht 1997a 6, 711), festgehalten: »Der Wunsch nach Freiheit ist die Folge von Unterdrückung. Die Freiheit ist eine Folge der Befreiung« (Brecht 1997a 6, 151). Mackies Freiheit besteht aus seiner radikalen Rücksichtslosigkeit, sich das zu nehmen, was er möchte. Mit ihr übt er eine große Faszination auf seine Umwelt und auf das Publikum aus. Nicht zufällig ist es Mackie, der die wichtigsten Lehrsätze sagt. Doch kann seine Hinrichtung und damit der Verlust jeglicher Freiheit zum Schluss nur durch die oberste Instanz, die Königin selbst, verhindert werden. Sie transformiert seine Freiheit in eine systemkonforme und liefert zugleich, als oberste Chefin, eine Bankrotterklärung des Systems. Ob mit diesem Ausgang Mackies Individualität, im Rahmen der gezeigten ›verkehrten‹ Ordnung, Bestand haben kann, sei dahingestellt. Das ist auch nicht wichtig, denn das Stück hat seinen Zweck erfüllt, die Frage nach den Grundbedingungen von Freiheit zu stellen, und das auf originelle Weise. Trotz der ausgeprägten politischen Qualität des Texts wird mit literarischen Mitteln eine neue Wahrnehmung auf Realität ermöglicht, als Voraussetzung, vielleicht nicht frei, aber doch freier zu werden. Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz (1929) Alfred Döblin (1878-1957) gilt als einer der »Klassiker der Moderne« (Becker 2016, 2). Dabei ist er, wie andere Zeitgenossen (etwa Gottfried Benn oder Arthur Schnitzler), Arzt und Autor zugleich. 1911 lässt er sich als Psychiater in Berlin nieder, ein Jahr zuvor hat er mit Herwarth Walden (1879-1941) die wichtige expressionistische Zeitschrift Der Sturm gegründet. Während des Krieges ist er Mili- Eine ironische Gesellschafts-Parabel Die Frage nach den Grundbedingungen von Freiheit 6.8. <?page no="266"?> 253 a lfreD D öblIn : b erlIn a lex anDerPlatz (1929) tärarzt im Elsass und erhält 1915 den renommierten Fontane-Preis. 1924 wird er der erste Präsident des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. 1933 emigriert er über die Schweiz nach Paris, von dort flieht er 1940 in die USA. Zu den auch heute noch bekanntesten Werken gehören die Erzählung Die Ermordung einer Butterblume (1913), die Romane Die Drei Sprünge des Wang-lun (1915), Berge Meere und Giganten (1924) und vor allem Berlin Alexanderplatz, versehen mit dem Untertitel »Die Geschichte vom Franz Biberkopf«. International bekannter, wegen seiner radikalen Modernität berühmter und einflussreicher ist der Roman Ulysses (1922) von James Joyce (1882-1941), doch kann man Berlin Alexanderplatz eine ähnliche Bedeutung für die deutschsprachige Literatur attestieren. Für Herausgeber Walter Muschg ist es »der erste und einzige bedeutende Großstadtroman der deutschen Literatur« (BA, 415). Und Günter Grass (1927-2015) hat Döblin im Titel eines Aufsatzes von 1967 als seinen »Lehrer« bezeichnet (Schröter 1993, 144). Döblins Programm der »Dinglichkeit« und »Sachlichkeit«, einer möglichst großen Realitätsnähe (Schröter 1993, 61), wird ergänzt durch seine politische Gesinnung. So »[…] bleibt es für Döblin für die Jahre der Weimarer Republik bei der allgemeinen Forderung: Freunde der Republik und Freiheit. Herüber nach links. An die Seite der Arbeiterschaft« (Schröter 1993, 82). Den genannten Prinzipien ist auch Berlin Alexanderplatz verpflichtet, Döblins »einziger Publikumserfolg«, 1930 in ein Hörspiel und 1931 in einen Tonfilm transformiert (Schröter 1993, 93). Die Hauptrolle im Film spielt kein Geringerer als Heinrich George (1893-1946). Döblin montiert und collagiert, er geht vollkommen frei mit seinem Material um, einzig seinem Konstruktionsprinzip folgend, auf eine ganz besondere Weise Franz Biberkopfs Geschichte zu erzählen. Ausschnitte aus Zeitungsartikeln werden in das Manuskript eingeklebt, im Druck stehen diese Textauszüge unerkennbar Der bedeutendste Großstadtroman Montage und Collage Alfred Döblin, 1912, Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner Abb. 6.8 <?page no="267"?> 254 l IterarI Sche m oDerne und unterschiedslos neben selbst verfassten Passagen und anderen Zitaten aus der Bibel (Becker 2016, 115 f.), aus populären Liedern und anderen (teils modifizierten oder fingierten) Quellen. Dazu gehören nüchterne Informationen wie Zahlen und Fakten über den Schlachthof von Berlin (BA, 117 f.), kurze wissenschaftliche Abhandlungen, etwa wenn auf eine realistisch geschilderte Szene bei einer Prostituierten eine medizinische Erklärung über »sexuelle Potenz« folgt (BA, 27), politische Reden (BA, 54), physikalische Formeln (BA, 86) und grafische Symbole für verschiedene Institutionen der Stadt (BA, 38 f.). Auch werden Sprichwörter und Redewendungen einmontiert, ein Verfahren, das später bei Elfriede Jelinek wiederkehrt. Auch die Verbindung von kommentierend eingesetzten Redewendungen mit lyrischer Sprache weist auf Jelinek (geb. 1946) voraus: »Das Leben findet das auf die Dauer zu fein und stellt ihm hinterlistig ein Bein« (BA, 91). Das Spektrum der Stile reicht von dem angesprochenen neutralen Bericht bis zu Leser- (BA, 120) und sogar Figurenanreden (BA, 110), wobei Franz Biberkopf darauf nicht reagiert und die Herausgeberfunktion des Erzählers gewahrt bleibt. Auf allen Ebenen der Konzeption bricht der Roman gängige Konventionen, in der Anlage, in der Sprache und bei den Themen (vor allem in den Bereichen Sexualität, Gewalt und Politik). Der Roman ist in neun Bücher unterteilt, dem ein kurzes, nicht als solches betiteltes Vorwort vorangestellt ist, das wie folgt beginnt: Dies Buch berichtet von einem ehemaligen Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf in Berlin. Er ist aus dem Gefängnis, wo er wegen älterer Vorfälle saß, entlassen und steht nun wieder in Berlin und will anständig sein. Das gelingt ihm auch anfangs. Dann aber wird er, obwohl es ihm wirtschaftlich leidlich geht, in einen regelrechten Kampf verwickelt mit etwas, das von außen kommt, das unberechenbar ist und wie ein Schicksal aussieht. Dreimal fährt dies gegen den Mann und stört ihn in seinem Lebensplan. Nach dem dritten Mal aber werde ihm […] aufs deutlichste klargemacht, woran alles lag. Und zwar an ihm selbst, man sieht es schon, an seinem Lebensplan […]. Das furchtbare Ding, das sein Leben war, bekommt einen Sinn. Es ist eine Gewaltkur Zitate und Kommentare Einteilung in neun Bücher <?page no="268"?> 255 a lfreD D öblIn : b erlIn a lex anDerPlatz (1929) mit Franz Biberkopf vollzogen. Wir sehen am Schluß den Mann wieder am Alexanderplatz stehen, sehr verändert, ramponiert, aber doch zurechtgebogen. Dies zu betrachten und zu hören wird sich für viele lohnen, die wie Franz Biberkopf in einer Menschenhaut wohnen und denen es passiert wie diesem Franz Biberkopf, nämlich vom Leben mehr zu verlangen als ein Butterbrot. (BA, 7) Bemerkenswert ist, dass sowohl eine kurze Inhaltsangabe als auch eine Deutungsoption angeboten werden, bevor der Roman überhaupt anfängt. Man kann dies, wie bei Brecht, als Mittel zur Distanzierung verstehen, damit die Leser den weiteren Text nicht identifikatorisch, sondern analytisch lesen. Allerdings ist Franz Biberkopf aus Sicht des Erzählers mit den gleichen Bedürfnissen wie die Leser ausgestattet und daher, zumindest teilweise, als Identifikationsfigur konzipiert. Zu den distanzierenden Merkmalen gehört, dass immer wieder die Handlung reflektierend kommentiert wird, so meint der Erzähler zum Verhalten des verbrecherischen Reinhold: »Ein anderer Erzähler hätte dem Reinhold wahrscheinlich jetzt eine Strafe zugedacht, aber ich kann nichts dafür, die erfolgte nicht« (BA, 192). Die neun ›Bücher‹ setzen diese komplexe Strategie von Distanzierung und Sympathie fort, sie beginnen jeweils mit einer kurzen, kommentierenden Zusammenfassung. Der Anfang der Handlung ist berühmt und unverzichtbar, wenn es um das Thema Freiheit geht: Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Gestern hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den andern, in Sträflingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten hinten, er war frei. […] Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich? ), die vier Jahre waren um. […] Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle. Die Strafe beginnt. (BA, 8) Die neu gewonnene Freiheit wird hier zunächst emphatisch begrüßt: Franz Biberkopf muss nicht mehr den Zwang leiden, im Gefängnis eingesperrt zu sein und die ihm aufgetragenen Arbeiten zu verrichten. Dann aber kippt die Bewertung zu der paradoxen Formulierung, dass jetzt erst ›die Strafe beginnt‹, und zwar Distanz erzeugende Merkmale Das Problem der neu gewonnenen Freiheit <?page no="269"?> 256 l IterarI Sche m oDerne mit der Freiheit - ist die Figur doch der Gemeinschaft beraubt, an die sie gewöhnt ist. Freiheit bedeutet hier zugleich auch Abwesenheit von Sicherheit und wird deshalb als Strafe empfunden. Die Situation, in der sich Franz Biberkopf am Anfang des Romans befindet, ist die prototypische Situation des aus allen Bindungen ›freigesetzten‹ Menschen der Moderne, der Beginn einer »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck). Bemerkenswert ist auch, dass eine Figur mitten in die Großstadt gestellt wird und dass die Erfahrung der Großstadt mit literarischen Mitteln inszeniert wird. Zur Inszenierung gehören der Stream of consciousness (eine Mischung aus Innerem Monolog und indirekter Rede) sowie die Figurenrede (und Figurengedanken) aus einer Mischung von Sozio- und Dialekt. Zu der Erfahrung der Großstadt gehören die Technisierung und Geschwindigkeit (BA, 8), die Reizüberflutung, nicht zuletzt durch das massenmediale Angebot, und die Menge an Menschen: »Gewimmel, welch Gewimmel.« Aus all dem resultiert eine massive Überforderung: »Draußen bewegte sich alles, aber - dahinter - war nichts! Es - lebte - nicht! « (BA, 9). Franz ist »anfangs 30« (BA, 19), die Handlung beginnt 1927 (BA, 84). In den Stationen, die er durchläuft, wird ein Querschnitt der Gesellschaft modelliert. Der Grund für seine Haftstrafe ist eine Beziehungstat: »Wer schuld an allem ist? Immer Ida. Wer sonst. Dem Biest hab ich die Rippen zerschlagen damals, darum hab ich ins Loch gemußt. Jetzt hat sie, wat sie wollte, das Biest ist tot, jetzt steh ich da« (BA, 29). Der Erzähler sieht es etwas anders, für ihn ist Franz »[…] ein Mann, an den sich ein hübsches Mädchen aus einer Schlosserfamilie gehängt hatte, die er dann zur Hure machte und zuletzt bei einer Schlägerei tödlich verletzte« (BA, 36). An anderer Stelle formuliert es der Erzähler noch einmal mit Ironie: »Jedenfalls war der Brustkorb des niedlichen Mädchens auf die Berührung mit Sahneschlägern nicht eingerichtet« (BA, 85). Franz versucht zunächst auf ehrliche Weise sein Geld zu verdienen, wobei ehrlich - im Kontext der Zeit - relativ ist: »Franz handelt nun völkische Zeitungen. Er hat nichts gegen die Juden, aber er ist für Ordnung. Denn Ordnung muß im Paradiese sein, das sieht ja wohl ein jeder ein« (BA, 69). Der Roman ist mit Bibelanspielungen durchsetzt, so wird Franz auch als moderner »Hiob« angeredet (BA, 124). Die Figur aus dem Alten Testament hat bekanntlich mehrere schwere Schicksalsschläge erdulden müssen, bevor sie durch die göttliche Gnade gerettet wurde. Der ‚freigesetzte‘ Mensch in der Moderne Franz ist Täter und Opfer <?page no="270"?> 257 a lfreD D öblIn : b erlIn a lex anDerPlatz (1929) In der Figurenzeichnung findet sich immer wieder Kritik an den ökonomischen Verhältnissen, etwa in folgender Herr-und- Knecht-Szene aus dem Schlachthof: Der Mann, der hingekniet ist, steht auf. Die Knie tun ihm weh. Das Schwein muß gebrüht werden, ausgeweidet, zerhackt, das geht Zug um Zug. Der Chef, wohlgenährt, geht mit der Tabakspfeife hin und her durch den Dampf, blickt manchmal in einen offenen Bauch rein. An der Wand neben der schwingenden Tür hängt ein Plakat: Ballfest erster Viehexpedienten Saalbau, Friedrichshain, Kapelle Kermbach. (BA, 121 f.) Kurz darauf wird das Schlachten eines ›großen weißen Stiers‹ detailliert geschildert (BA, 123). Die collageartige Szene des Zitats ist so arrangiert, dass die Unterordnung von Tier und Mensch ebenso deutlich wird wie jene von Arbeiter und Chef. Das Plakat sorgt für einen Kontrast zwischen Natur und Kultur, zwischen der hier gezeigten, alltäglichen Gewaltausübung und den ebenso konventionalisierten Praktiken der Zivilisation. Die Farbe des Stiers signalisiert Unschuld, die im Kontrast zur Bezeichnung ›Henker‹ für den Arbeiter des Schlachthofs steht. Durch Reinhold wird Franz in »Geschäfte« hineingezogen, die Kapitelüberschrift lautet ironisch »Schwunghafter Mädchenhandel« (BA, 156). Reinhold spielt Frauen Liebe vor, um sie dann zu prostituieren und wieder loszuwerden und er überredet Franz, ihm dabei zu helfen. Franz bekommt jedoch Gewissensbisse: »[…] der ruiniert Menschen, das mache ich nicht mit« (BA, 165). Reinhold nimmt ihn dann zu einem Einbruch mit und Franz realisiert zu spät: »Ich muß Schmiere stehen« (BA, 187). Bei der Fahrt zurück werden sie verfolgt und Reinhold wirft Franz aus dem Wagen (BA, 189), dabei verliert Franz seinen rechten Arm (BA, 196). Dennoch versucht Franz sich mit Reinhold zu versöhnen, ohne zu ahnen, dass der auf die Vitalität des anderen neidisch ist: Und Reinhold denkt und kuckt den an, wie der so dick und stark dasitzt: Mit dem Jungen möchte ich spielen. Der setzt sich uff die Hinterbeene. Dem muß man die Knochen knacken. Der eene Arm genügt noch nicht bei dem. Und sie fangen von Weibern an und Franz erzählt von Mieze, die hieß früher Sonja, die verdient gut und ist ein braves Mädel. Da denkt Reinhold: Das ist schön, die nehme ich ihm weg und dann schmeiß ick ihn ganz und gar in den Dreck. (BA, 268) Natur und Kultur <?page no="271"?> 258 l IterarI Sche m oDerne Reinhold macht Franz so eifersüchtig, dass er seine »Mieze« schwer misshandelt (BA, 301 f.). Mieze lässt sich von Reinhold und dessen Kompagnon Pums prostituieren (BA, 304), bis Reinhold versucht, sie zu vergewaltigen und sie dabei tötet. In der Schilderung werden, wie in der Szene im Schlachthof, Tier und Mensch enggeführt: Darauf schlägt man mit der Holzkeule dem Tier in den Nacken und öffnet mit dem Messer an beiden Halsseiten die Schlagadern. Das Blut fängt man in Metallbecken auf. Es ist acht Uhr, der Wald ist mäßig dunkel. Die Bäume schaukeln, schwanken. War eine schwere Arbeit. Sagt die noch wat? Die japst nicht mehr, das Luder. Das hat man davon, wenn man mit son Aas ein Ausflug macht. (BA, 317) Franz erkennt, dass die Tat ihn treffen sollte (BA, 347), kurz darauf wird er verhaftet (BA, 369). Er soll auch »in die Mordsache mit der Prostituierten Emilie Parsunke in Freienwalde verwickelt«, also am Mord an seiner Geliebten mitschuldig sein (BA, 370). Doch wird Reinhold gefasst, während Franz in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wird (BA, 376 f.). Mit den Qualen seiner Erinnerung und seines Gewissens konfrontiert, erleidet er dort einen symbolischen Tod: Gestorben ist in dieser Abendstunde Franz Biberkopf, ehemals Transportarbeiter, Einbrecher, Ludewig, Totschläger. Ein anderer ist in dem Bett gelegen. Der andere hat dieselben Papiere wie Franz, sieht aus wie Franz, aber in einer anderen Welt trägt er einen neuen Namen. Das also ist der Untergang des Franz Biberkopf gewesen, den ich beschreiben wollte vom Auszug Franzens aus der Strafanstalt Tegel bis zu seinem Ende in der Irrenanstalt Buch im Winter 1928-29. (BA, 399) Zeugenaussagen beweisen seine Unschuld an dem Mord, außerdem gilt er in der Strafsache der Schießerei wegen eines ›psychischen Traumas‹ als unzurechnungsfähig (BA, 402). Daher wird er entlassen, nun zum zweiten Mal (BA, 403). Seine alte Freundin Eva nimmt ihn auf, aber sie will jetzt keine Beziehung mehr mit ihm und hat das Kind, das sie von ihm erwartet hat, abgetrieben (BA, 407). In der Verhandlung bleibt Franz sachlich: »Zehn Jahre Zuchthaus für Reinhold, Totschlag im Affekt, Alkohol, triebhafter Charakter, verwahrloste Jugend. Reinhold nimmt die Strafe an« (BA, 408). Eva bricht zusammen, weil sie sich an Miezes Tod Tier und Mensch <?page no="272"?> 259 a lfreD D öblIn : b erlIn a lex anDerPlatz (1929) erinnert, für den Franz verantwortlich ist. »Dem Biberkopf wird gleich nach dem Prozeß eine Stelle als Hilfsportier in einer mittleren Fabrik angeboten. Er nimmt an. Weiter ist hier von seinem Leben nichts zu berichten« (BA, 409). Doch ist der Roman noch nicht zu Ende. Der Erzähler kommentiert: »Viel Unglück kommt davon, wenn man allein geht«, es sei »schöner und besser, mit andern zu sein« (BA, 409). Der letzte Abschnitt ist kursiv gedruckt und setzt, wie schon am Anfang, den Begriff der Freiheit zentral: Es geht in die Freiheit, die Freiheit hinein, die alte Welt muß stürzen, wach auf, die Morgenluft. Und Schritt gefaßt und rechts und links und rechts und links, marschieren, marschieren, wir ziehen in den Krieg, es ziehen mit uns hundert Spielleute mit, sie trommeln und pfeifen, widebum widebum, dem einen gehts gerade, dem andern gehts krumm, der eine bleibt stehen, der andere fällt um, der eine rennt weiter, der andere liegt stumm, widebum widebum. (BA, 411) Die Metapher des Lebens als Krieg kommt im Roman immer wieder vor und hier ist sie, da sie affirmativ gebraucht wird, nicht unproblematisch. Vom Ersten Weltkrieg hatte sich 1914 eine junge Generation, zu der auch Döblin gehörte, das Ende der ›alten Welt‹ und einen Neuanfang erhofft und war enttäuscht worden. Ob Döblin diese alte Erwartung wieder aufleben lässt, kann hier nicht beantwortet werden, zumal die Weiterführung als Kinderlied das Spielerische des Texts betont und Distanz erzeugt. Insofern ist mit dem Motiv wohl eher die Perspektive der einfachen, exemplarischen Arbeiterfigur angesprochen, die es nicht besser weiß. Ihre Rebellion gegen die Zumutungen der Gesellschaft hat ihr nicht geholfen, im Gegenteil, sie ist dadurch selbst schuldig geworden, an anderen, die nicht weniger unter den gezeigten Verhältnissen zu leiden haben. Oder ist der Gebrauch des Begriffs der Freiheit ironisch zu verstehen? Auch das ist möglich, denn Franz Biberkopf ist zwar von seinen Leidenschaften befreit, aber er ist zugleich Teil einer anonymen Masse geworden, als solcher hat er lediglich zu funktionieren: »Biberkopf ist ein kleiner Arbeiter. Wir wissen, was wir wissen, wir habens teuer bezahlen müssen« (BA, 410). ›In die Freiheit hinein‹ deutet auf das offene Ende. „Es geht um die Freiheit“ <?page no="273"?> 260 l IterarI Sche m oDerne Erich Kästner: Emil und die Detektive (1929) Erich Kästners (1899-1974) Bedeutung für die deutschsprachige Literatur, und nicht nur für sie, wird meist deutlich unterschätzt. Kästner ist einer der weltweit bekanntesten Autoren deutscher Sprache und zugleich einer der meistübersetzten und meistgelesenen Kinderbuchautoren aller Zeiten und Literaturen. Er hat beispielsweise Astrid Lindgren (1907-2002) beeinflusst, die eine ihrer bekanntesten Figuren nach Emil aus Emil und die Detektive benannt hat. In der deutschen Übersetzung ist die Analogie verloren gegangen. Da der Name Emil so eindeutig mit Kästner verbunden ist, hat man Lindgrens Figur in Michel umbenannt. Kästners Kinderromane und Romane wurden verfilmt, teils mehrfach, und waren auch im Massenmedium Film sehr erfolgreich. Gerhard Lamprechts (1897-1974) Verfilmung von Emil und die Detektive aus dem Jahr 1931 gilt »als einer der bedeutendsten deutschen Filme der frühen Tonfilmzeit« (Tornow 1998, 34). Am Drehbuch hat Billy Wilder mitgeschrieben (Hanuschek 2004, 53), der kurz darauf nach Hollywood geht und der, mit Filmen wie Some Like it Hot von 1959, als der vielleicht bedeutendste Komödien-Regisseur der Filmgeschichte gilt. Mit der Disney-Verfilmung von Das doppelte Lottchen, 1961 als The Parent Trap in die Kinos 6.9. Kästner und Lindgren Verfilmungen Bronzeplastik auf der Mauer des Anwesens des Erich-Kästner- Museums am Albertplatz in Dresden Abb. 6.9 <?page no="274"?> 261 e rIch k ä Stner : e mIl unD DIe D etektIve (1929) gekommen, sind Generationen von US-Amerikanern aufgewachsen. Der in Dresden in kleinbürgerlichen Verhältnissen zur Welt gekommene Kästner will erst Lehrer werden und verdient dann, nach einem mit der Promotion abgeschlossenen Germanistik-Studium in Leipzig, zunächst als Journalist sein Brot. Durch in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte Gedichte und Geschichten macht er als Schriftsteller auf sich aufmerksam. Auch heute noch gehören die vier Gedichtbände, die 1928 bis 1932 erschienen, zu Kästners wichtigsten literarischen Veröffentlichungen. Der Emil brachte 1929 den Durchbruch als Kinderbuchautor. Nicht weniger erfolgreich ist sein erster Roman für Erwachsene: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten von 1931, der für viele als Roman jener Generation gilt, die die Erschütterung des Ersten Weltkriegs und die existentiellen Unsicherheiten der Zeit der Weimarer Republik erlebt haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielt Kästner eine wichtige Rolle beim intellektuellen Wiederaufbau. Zunächst als Feuilletonchef der Neuen Zeitung und später als langjähriger Präsident des westdeutschen PEN-Zentrums bemüht er sich um eine Reintegration der Autoren der Emigration, eine Förderung junger Talente und eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit. Auch seine Bedeutung für das politische Kabarett der Nachkriegszeit sollte nicht vergessen werden. Den geplanten großen, kritischen Roman über die NS-Zeit hat er zwar nie geschrieben, dafür aber das lesenswerte, auf Tagebuchnotizen beruhende Bändchen Notabene 45 (1961). Für Kinder wie für Erwachsene aufschlussreich ist Kästners Teil-Autobiographie Als ich ein kleiner Junge war (1955), die seine, als exemplarisch zu verstehende, Kindheit im autoritären deutschen Kaiserreich schildert und nicht zufällig mit der Zäsur des Ersten Weltkriegs endet. Aus heutiger Sicht sind es vor allem die erzählenden Werke für Kinder, mit denen Kästner zum Best- und Longseller geworden ist, darunter Pünktchen und Anton (1931), Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee (1931) und Das fliegende Klassenzimmer (1933), nach dem Zweiten Weltkrieg dann Die Konferenz der Tiere und Das doppelte Lottchen (beide 1949). Nachdem er für ein frühes Kinderdrama (Klaus im Schrank von 1927) (Neuhaus 2000, 22 f.) keinen Verlag gefunden hat, debütiert der Theaterliebhaber Kästner erst sehr spät, im Jahre 1957, mit Die Schule der Diktatoren. Das pazifistische Stück Journalist und Buchautor Feuilletonchef in der Nachkriegszeit Longseller <?page no="275"?> 262 l IterarI Sche m oDerne des sich für die Friedensbewegung einsetzenden, als prominenter Redner gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr auftretenden Autors wird jedoch nicht mehr als ein Achtungserfolg. Während des Nationalsozialismus bleibt Kästner in Deutschland und hält sich mit Gelegenheitsarbeiten, vor allem mit Theaterstücken und Filmdrehbüchern unter Pseudonym, finanziell über Wasser. Als trojanisches Pferd kann sein Drehbuch für den Film zum 25jährigen Jubiläum der Ufa gelten, mit dem NS-Propagandaminister Joseph Goebbels der US-amerikanischen Konkurrenz aus Hollywood Paroli bieten will. Erich Kästner wählt für die Arbeit am Münchhausen (1943) das vieldeutige Pseudonym Berthold Bürger. Von Gottfried August Bürger stammt die bekannteste Bearbeitung des Münchhausen-Stoffs, ›Bürger‹ ist allerdings auch eine in der Tradition der Aufklärung stehende, gegen die Vergesellschaftung der Nationalsozialisten gerichtete Bezeichnung. Berthold könnte auf Bertolt Brecht verweisen. In der Figur des radikalen Individualisten Baron von Münchhausen übt Kästner Kritik an der NS-Ideologie, im Film finden sich beispielsweise Sätze wie »Die Zeit ist kaputt« oder »Die Staatsinquisition hat zehntausend Augen und Arme, und sie hat die Macht, recht und unrecht zu tun, ganz wie es ihr beliebt«. Die Figur des Grafen Cagliostro wird zur »Hitler-Karikatur«, die Münchhausen für ihre Eroberungspläne gewinnen will: »Wenn wir erst Kurland haben, pflücken wir Polen.« Münchhausen hält dem entgegen: »Sie wollen herrschen. Ich will leben« (Hanuschek 2004, 89 f.). Kästner hat Emil und die Detektive mit dem programmatischen Untertitel »Ein Roman für Kinder« versehen (ED, 193), denn Romane sind bis dahin etwas für Erwachsene. Der Emil gilt als der erste moderne Kinderroman. Zum ersten Mal sind, in einem erfolgreichen Prosatext, die Kinder die autonom handelnden Subjekte, und das in einem modernen, großstädtischen Umfeld. Auch werden soziale Fragen mit verhandelt, die bis dahin für die Kinder- und Jugendliteratur tabu waren. Emils Mutter ist allein erziehend und muss den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn als Friseuse verdienen, außerdem spart sie von ihrem wenigen Geld noch für ihre bedürftige Mutter. Es heißt lakonisch: »Emil hatte keinen Vater mehr« (ED, 218). Die soziale Lage der Angestellten wird, noch vor der Weltwirtschaftskrise im Jahr des Erscheinens von Emil, für kindliche Verhältnisse sehr deutlich angesprochen, die Leser werden sogar direkt adressiert: »Und wer pro Woche Der erste moderne Kinderroman <?page no="276"?> 263 e rIch k ä Stner : e mIl unD DIe D etektIve (1929) fünfunddreißig Mark verdient, der muß, ob es euch gefällt oder nicht, hundertvierzig Mark, die er gespart hat, für sehr viel Geld halten« (ED, 218). Der Erzähler verwendet die Hochsprache, aber die Figurenrede der Kinder steht, und auch das ist innovativ, im Soziolekt der Berliner Großstadt- und Jugendsprache: »›Nicht die Bohne‹, meinte Pony Hütchen […]« (ED, 261). Anders als in der traditionellen Kinder- und Jugendliteratur wird eine abenteuerliche Geschichte aus dem Hier und Jetzt ohne deutlich herausgestellte erzieherische Botschaft erzählt. Über eine solche, bis dahin übliche Moral macht sich der Roman sogar im letzten, 18. Kapitel lustig, das den Titel trägt: »Läßt sich daraus was lernen? « (ED, 300). Die Geschichte könnte zu vielen moralischen Überlegungen Anlass bieten, hat sich Emil doch von dem Dieb Grundeis die für seine Großmutter bestimmten 120 Mark und die für seine weitere Reise vorgesehenen 20 Mark abknöpfen lassen, auch wenn er das Geld mit Hilfe seiner in Berlin neu gewonnenen Freunde zurückbekommt und sogar eine Belohnung von 1000 Mark für das Ergreifen des Diebes erhält, weil der ein gesuchter Bankräuber ist (ED, 292 f.). Emil selbst zieht den düsteren Schluss, er habe gelernt, dass man keinem Menschen trauen solle, und seine Mutter meint, man könne Kinder nicht allein verreisen lassen (ED, 301). Doch Emils Großmutter findet eine abschließende Antwort, die witzig gemeint ist, wie ihre Reaktion deutlich zeigt: »›Geld soll man immer nur per Postanweisung schicken‹, brummte die Großmutter und kicherte wie eine Spieldose« (ED, 302). Die unaufdringliche Moral des Romans steckt im Verhalten der kindlichen Figuren, die zwar Streiche machen und Kinder sein dürfen, aber den Erwachsenen in ihrem Gerechtigkeitsempfinden und in ihrer Empathie voraus sind. Allen voran Emil, der bei der Belohnung nur daran denkt, die Situation seiner Mutter zu verbessern: »›Mutter soll sich einen Trockenapparat kaufen und einen Mantel, der mit Pelz gefüttert ist‹« (ED, 300). Auch der Anfang des Romans ist konzeptionell von großem Interesse, das erste Kapitel heißt »Die Geschichte fängt noch gar nicht an« und beginnt wie folgt: Euch kann ich’s ja ruhig sagen: Die Sache mit Emil kam mir selber unerwartet. Eigentlich hatte ich ein ganz anderes Buch schreiben wollen. Ein Buch, in dem, vor lauter Angst, die Tiger mit den Zähnen und die Dattelpalmen mit den Kokosnüssen klappern sollten. Und das Bruch mit der pädagogischen Kinderliteratur Der programmatische Anfang <?page no="277"?> 264 l IterarI Sche m oDerne kleine schwarzweiß karierte Kannibalenmädchen, das quer durch den Stillen Ozean schwamm, um sich bei Drinkwater Co. in Frisco eine Zahnbürste zu holen, sollte Petersilie heißen. […] Einen richtigen Südseeroman hatte ich vor. (ED, 195) Weil er nicht mehr weiß, »wieviel Beine ein Walfisch hat« (ED, 195), kommt der Ich-Erzähler mit seiner Geschichte nicht weiter. Der Oberkellner Nietenführ rät ihm, »über Dinge« zu schreiben, »die man kennt und gesehen hat« (ED, 196). Dass die »meisten Schriftsteller« über etwas schreiben, das sie nicht aus eigener Anschauung kennen, lässt Nietenführ nicht gelten. Sein Argument lautet: Auch kochen könne man nur, wenn man wisse, wie ein Gericht zubereitet werde (ED, 196 f.). Als der Erzähler daheim auf dem Boden liegt, um besser nachdenken zu können, fällt ihm beim Ansehen des Tisches von unten der Name Emil Tischbein ein. Der Erzähler gibt sich als Herausgeber aus, der seine »Erinnerungen« für die Leser aufbereitet (ED, 200). Es wäre aber falsch anzunehmen, das Vorwort sei ein Plädoyer für das realistische Kinder- und Jugendbuch. Kästner hat zwei Jahre später den Märchenroman Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee veröffentlicht, der auch in der Südsee spielt und in dem Figuren wie Petersilie und der »Häuptling Rabenaas« vorkommen (ED, 195). Dennoch ist das, was Kästner in der Einleitung zum Emil schreibt, Programm: Ein stärkerer Gegenwartsbezug ist kaum denkbar. Bereits die im zweiten Kapitel folgenden »Zehn Bilder« (ED, 202), Zeichnungen von Walter Trier (1890-1951) mit kurzen Texten von Kästner, machen dies deutlich. Gezeigt werden nicht nur Emil, seine Familie und Freunde, sondern auch das »Eisenbahnabteil« (ED, 205), in dem er nach Berlin reist und das der Schauplatz des Diebstahls wird, »Das Hotel am Nollendorfplatz« (DE, 208), in dem der Dieb absteigt, oder »Die Setzerei der großen Zeitung« (ED, 212), die von der erfolgreichen Jagd auf den Dieb berichtet. Nicht nur die Großstadt, auch die Massenmedien werden zu Protagonisten des Romans erklärt. Die Selbstreflexivität des Romans, die bereits mit seinem Anfang beginnt, wird auf innovative Weise fortgesetzt: Der Journalist, der Emil in der Straßenbahn das Geld für einen Fahrschein gibt und später über seine Taten in der Zeitung berichtet, heißt Kästner (ED, 240 u. 286). Emil ist, und das meint der Erzähler entschuldigend, ein »Musterknabe« (ED, 219) aus sozialer Not. Doch hat auch das Muster- Ein vielseitiger Autor <?page no="278"?> 265 e rIch k ä Stner : e mIl unD DIe D etektIve (1929) knabentum Grenzen. Emil hat ein schlechtes Gewissen, als er auf dem Weg zum Bahnhof Polizeiwachtmeister Jeschke sieht, denn er hat, mit Schulfreunden, das »Denkmal des Großherzogs, der Karl mit der schiefen Backe hieß«, etwas ›verschönert‹ (ED, 221) und fürchtet, von Wachtmeister Jeschke erkannt worden zu sein. Die Tat ist der Grund für Emils spätere Zurückhaltung, den Diebstahl der Polizei zu melden (ED, 235). Zugleich ist sie ein deutliches Zeichen für den antiautoritären Charakter des Kinderromans, in dem Repräsentanten der früheren (Großherzog) und jetzigen Ordnung (Polizei) entweder lächerlich gemacht oder als unfähig dargestellt werden. Schließlich sind es die Kinder, die den Dieb fangen. Das subversive Unterlaufen gesellschaftlicher Autoritäten betrifft auch andere Instanzen, Institutionen und deren Repräsentanten. Die Eltern des kleinen Dienstag oder des Professors haben angesehene Stellungen und sind wohlhabend, aber sie haben kaum Zeit für ihre Kinder (ED, 271 u. 266). Die Kinder sind die starken Figuren, ohne oder gegen die Erwachsenen, die mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt sind. Der Dieb und Bankräuber, der sich selbst Grundeis oder später Kießling nennt (ED, 281), ist schließlich auch ein Erwachsener. Er bietet Emil Schokolade an (ED, 224), danach wird Emil sehr müde, schläft ein und hat einen Traum, in dem er versucht, dem Polizeiwachtmeister zu entkommen, der ihn wegen des großherzoglichen Schnurrbarts verfolgt (ED, 228 ff.). Ohne dass dies explizit gesagt wird, liegt die Vermutung nahe, dass Grundeis Emil mit der Schokolade Drogen verabreicht hat. Der Erzähler markiert einen deutlichen Unterschied zwischen der Erfahrungswirklichkeit der Kinder und der defizitären Welt der Erwachsenen: Prachtvoll war das! Die Mutter hatte umsonst gespart. Die Großmutter bekam keinen Pfennig. In Berlin konnte er nicht bleiben. Nach Hause durfte er nicht fahren. Und alles das wegen eines Kerls, der den Kindern Schokolade schenkte und tat, als ob er schliefe. Und zu guter Letzt raubte er sie aus. Pfui Spinne, war das eine feine Welt! (ED, 234) Gut, dass Emil so klug war, das Geld ›sozusagen festzunageln‹, indem er es mit einer Nadel in der Innentasche seines Jacketts fixierte (ED, 226). In der Bank schenkt man Emil später Glauben, weil das Geld entsprechende Einstiche aufweist (ED, 279 f.). Im Zentrum der Handlung steht die Verfolgung des Täters durch Emil und seine neu gewonnenen Freunde, auch seine Gegen traditionelle Autoritäten <?page no="279"?> 266 l IterarI Sche m oDerne Cousine Pony Hütchen wird helfen. Die Verfolgungsjagd durch die anonyme, moderne Großstadt, sogar mit Autos (ED, 257 ff.), schafft eine für die Kinder- und Jugendliteratur ungewöhnliche Dynamik: »So ein Krach! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen! Und von allen Seiten Straßenbahnen, Fuhrwerke, zweistöckige Autobusse! Zeitungsverkäufer an allen Ecken. Wunderbare Schaufenster mit Blumen, Früchten, Büchern, goldenen Uhren, Kleidern und seidener Wäsche. Und hohe, hohe Häuser. / Das war also Berlin« (ED, 238). Die erste Erfahrung ist eine ebenso überwältigende wie beängstigende: »Die Stadt war so groß. Und Emil war so klein. […] Emil schluckte schwer. Und er fühlte sich sehr, sehr allein« (ED, 241). Das Gefühl der ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹ (Lukács 1988, 32) der Moderne wird hier vorgeführt, aber zugleich auch gezeigt, dass Emil nicht allein ist oder bleiben muss. Ein freundlicher Herr (der sich als der Erzähler der Geschichte entpuppen wird) kauft ihm einen Fahrschein für die Straßenbahn, ein Portier leiht ihm etwas Geld (ED, 282) und er lernt Gustav mit der Hupe und die anderen Kinder kennen, die für ihn sammeln und ihm helfen, das gestohlene Geld zurückzubekommen (ED, 248). Dass die Erfahrung der Großstadt mit der Erfahrung der Massenmedien kombiniert wird und dass Kästners Roman Anleihen beim filmischen Erzählen nimmt, darauf verweist der selbstreflexive Ausruf von Gustav, als er Emils Geschichte gehört hat: »›Na Mensch, das ist ja großartig! ‹ rief der Junge, ›das ist ja wie im Kino! ‹« (ED, 246). Und Emil selbst stellt später fest: »›Berlin ist natürlich großartig. Man denkt, man sitzt im Kino‹« (ED, 264 f.). Allerdings ist es auch wichtig, den Unterschied von Kino und Realität zu kennen: »Petzold hatte schon zweiundzwanzig Kriminalfilme gesehen. Und das war ihm, wie man merkt, nicht gut bekommen« (ED, 252). Die Gruppe, die sich zusammenfindet, besteht aus Kindern mit individuellen Eigenschaften und Qualitäten, die ihre Fähigkeiten bündeln und auch bereit sind, für das gemeinsame Hilfsprojekt eigene Wünsche zurückzustellen, so wie der kleine Dienstag, der lieber bei der Verbrecherjagd dabei wäre, als zuhause Telefondienst zu übernehmen. Er wird dafür später von der Großmutter ausdrücklich gelobt (ED, 299). Wer aber, wie Petzold, die eigenen Interessen über die der Gruppe stellt und damit den Erfolg der Aktion gefährdet, kann ›verwarnt‹ werden, wenn er nicht, wie in diesem Fall, freiwillig geht. Emil möchte nicht der Auslö- Die Erfahrung der Großstadt Die Kinder organisieren sich selbst <?page no="280"?> 267 e rIch k ä Stner : e mIl unD DIe D etektIve (1929) ser für eigenwilliges (Petzold) oder autoritäres Verhalten (der Professor) sein und schlägt demokratische Maßnahmen vor, wenn bei der Selbstorganisation Probleme auftreten: »›Wir wollen wie im Reichstag abstimmen‹« (ED, 267). Dass es um das Entwickeln einer klugen Strategie geht, zeigt schon der Spitzname desjenigen, der die Federführung bei der Organisation übernimmt: »der Professor« (ED, 251). Er weiß auch, dass man den Dieb nicht einfach wieder bestehlen kann, weil dies illegal wäre. Ebenso wird der Wunsch nach einer Waffe, einem »Revolver« (ED, 253), von ihm zurückgewiesen. Die Selbstorganisation besticht durch Reflexivität, die sich nicht zuletzt in der Fähigkeit zeigt, zu sich selbst in Distanz zu treten: »›Ordnung! ‹ rief der Professor, »keilt euch morgen! Was sind das für Zustände? Ihr benehmt euch ja wahrhaftig wie … wie die Kinder! ‹ / ›Wir sind doch auch welche‹, sagte der kleine Dienstag. Und da mußten alle lachen« (ED, 254). Der Professor hat gelernt, eigenverantwortlich zu handeln, und diese Fähigkeit verdankt er nicht pädagogischen Anleitungen, sondern dem Vertrauen, das in ihn als autonomes Individuum gesetzt wird: »›Ich habe meinem alten Herrn versprochen, nichts zu tun, was unanständig oder gefährlich ist. Und solange ich das Versprechen halte, kann ich machen, was ich will. Ist ein glänzender Kerl, mein Vater. […] Er hat gesagt, ich solle mir immer ausmalen, ob ich genauso handeln würde, wenn er dabei wäre. Und das täte ich heute‹« (ED, 255 f.). Das ist Kants kategorischer Imperativ, in kindliche Worte und Taten umgemünzt. Doch auch die Eltern des Professors taugen nur bedingt als Vorbilder: »›Wenn ich wirklich zeitig nach Hause komme, kann ich wetten, sie sind im Theater oder eingeladen‹« (ED, 266). Der Vater des Professors gehört als »Justizrat« (ED, 251) zu den Repräsentanten gesellschaftlicher Ordnung. Die Kinder organisieren sich selbst, nicht als Mob, sondern als Gruppe, in der Zuständigkeiten ausgehandelt werden und die ihre Aufgabe, den Dieb zu stellen und der Polizei zu übergeben, gewaltfrei löst. Die Freiheit des Individuums wird durch eine demokratische Strukturen aufweisende Selbstorganisation wiederhergestellt, darin der Rütli-Vereinigung in Schillers Wilhelm Tell vergleichbar, der nicht zufällig im ersten Kapitel genannt wird (ED, 197). Allerdings vollzieht sich der Freiheitsgewinn nur auf der individuellen Ebene der Eineltern-Kleinfamilie. Die Anspie- Eigenverantwortliches Handeln Zuständigkeiten werden ausgehandelt <?page no="281"?> 268 l IterarI Sche m oDerne lung auf Schillers Drama kann auch so gedeutet werden, dass die Freiheit des Individuums in der gezeigten Gesellschaft eine sehr begrenzte und die gesellschaftliche Ordnung eine defizitäre ist. Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen (1932) Bereits mit Gilgi. Eine von uns (1931) erregte die junge Autorin Irmgard Keun (1905-82) Aufsehen, ein Jahr später erschien ihr erfolgreichster Roman Das kunstseidene Mädchen. Kunstseide machte Mode für Frauen erschwinglich, allerdings betont die Nennung im Titel auch das industriell Hervorgebrachte, so dass die Hauptfigur schon im Titel auf symbolisch-ambivalente Weise einerseits als modebewusst, andererseits als Teil einer Masse und als künstlich markiert wird. Mit Siegfried Kracauer könnte man sagen, dass der Titel einen Wandel in der modernen Industriegesellschaft andeutet: »die Qualität ist in die Quantität umgeschlagen« (Kracauer 1971, 12). Dies gilt nicht nur für Industrieware, sondern auch für Menschen, die Warencharakter erhalten. Wie keine andere Autorin der Zeit scheint Keun die Lebensweise der Kleinbürgerinnen der Weimarer Republik literarisch einzufangen, blickt man auf den ungewöhnlichen Erfolg des Romans, besonders für eine Autorin, die sich gegen die männliche Konkurrenz behaupten muss: »Dass Irmgard Keun eine 6.10. Menschen erhalten Warencharakter Gedenktafel für Irmgard Keun am Haus Meinekestraße 6 in Berlin-Charlottenburg Abb. 6.10 <?page no="282"?> 269 I rmgarD k eun : D a S kunStSeIDene m äDchen (1932) ›schreibende Frau‹ war, hat den Fokus der Forschung ebenso stark geprägt wie die Zuordnung ihrer Romane zur Populärkultur im Kontext der Neuen Sachlichkeit« (Lickhardt 2009, 25). Die Rezeption ist auf zeitgenössische Diskurse bezogen: »Der Erfolg der Romane der ›Neuen Frau‹ provozierte eine Kontroverse über zeitgenössische Frauenbilder und ››weibliche‹ Kultur‹ - nicht nur in der Literaturkritik, sondern auch unter den Leserinnen selbst, den Angestellten, Studentinnen, Frauenrechtlerinnen« (Ziegler 2010, 26). Daraus resultiert das Problem, dass die Protagonistinnen der Romane oft auf die Autorin selbst bezogen werden: »Dennoch sind die Gilgi, Doris, Sanna allesamt Kunstfiguren, immer die Geschöpfe der Autorin, nie sie selbst. Und so ist allergrößte Vorsicht geboten, wenn wir Rückschlüsse ziehen von den Romanfiguren auf die Person der Autorin« (Häntzschel 2001, 9). Die 18jährige Doris arbeitet als Sekretärin bei einem Rechtsanwalt und träumt davon, so ein »Glanz« zu werden wie die Stars, von denen sie in Illustrierten liest und die sie auf der Filmleinwand sieht (KM, 45). Bei ihr zeigt sich der zeittypische »Hunger […] nach Glanz und Zerstreuung« (Kracauer 1971, 95). Die Stelle bei dem Anwalt verliert sie, weil sie sich gegen seine Zudringlichkeiten wehrt (KM, 24 ff.). Der Versuch, ihre Autonomie zu behaupten, führt letztlich ins soziale Abseits. Sie hat zahlreiche Affären mit Männern, von denen sie sich, zumindest vorübergehend, einen sozialen Aufstieg erhofft. Der Roman ist in drei Teile gegliedert, der erste Teil heißt »Ende des Sommers und die mittlere Stadt«, der zweite »Später Herbst - und die große Stadt«, der dritte »Sehr viel Winter und ein Wartesaal«. Erkennbar ist die Jahreszeitenmetaphorik, schon am Anfang steht das Ende des Sommers und damit der Beginn des sozialen Abstiegs, der im Winter in einem Wartesaal endet. Die personale, homodiegetische Ich-Erzählerin notiert ihre Gedanken und Erlebnisse, als ob sie in ein Tagebuch schreiben würde. Mit der radikal individuellen Perspektive geht auch eine radikale Aufwertung des Anspruchs auf Selbstverwirklichung einher, der nicht durch die äußeren Möglichkeiten gedeckt ist. Der hochgetriebene Individualisierungsgrad führt zu einer Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität, die zugunsten eines Narzissmus gelöst wird, der als Begleiterscheinung der modernen wie auch der postmodernen Gesellschaft gesehen werden kann und der durch die modernen Massenmedien massiv gefördert Die „neue Frau“ Doris will ein „Glanz“ werden Ein sozialer Abstieg <?page no="283"?> 270 l IterarI Sche m oDerne wird. Doris hält fest: »Und ich denke, daß es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich […] will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein. […] Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino […]« (KM, 8). Das Problem dabei ist nur, um Kracauer zu zitieren: »Jedenfalls genügt es nicht, sich berufen zu fühlen, man muß auch erwählt sein« (Kracauer 1971, 17). Aus der subjektiven Perspektive entfaltet der Roman ein Panorama moderner Lebensformen in ihrer Vielfalt, Komplexität und Problematik. Kategorien wie Raum (Großstadt, Hotels, Wohnungen) und Körper(lichkeit) spielen, anders als früher, eine große Rolle. Im Stil der Romane der Zeit, man denke an Döblins Berlin Alexanderplatz und Kästners Fabian, wechseln die Schauplätze und Figuren. Die Ästhetik der Oberfläche, die nicht nur für den Roman, sondern für die Zeit immer wieder als Charakteristikum ausgegeben wird (Kracauer 1971, 96), führt zu einer entsprechenden Symbolik und sprechenden Namen wie Käsemann (KM, 11). Die Künstlichkeit der erzählten Welt und der Figuren wird in der Künstlichkeit des Romans gespiegelt. Zugleich ist der Roman metafiktional, bereits dadurch, dass er seinen Text als schriftliche Gelegenheits-Aufzeichnungen ausweist, aber auch durch seine Kommentare zur Funktion der Medien und auch der Literatur, die einer Elite angehört, zu der Doris eben nicht gehört (KM, 104). Doris nutzt die Medien, um sich abzulenken. Der Unterschied zwischen innerfiktionaler Realität und innerfiktionaler Fiktion wird immer wieder deutlich markiert: »Und wenn da immer Männer sind und sind keine - nur Automaten, man will was raushaben aus ihnen - nur was haben und kriegen und wirft sich selbst dafür rein - dann will man auch einen, der kein Automat ist, dem man was gibt. Ich lese jetzt auch wieder viel Romane« (KM, 125 f.). Doris verhält sich so, wie Kracauer es in seiner soziologischen Analyse für die Masse der Bevölkerung der Zeit festhält: »Man wird sehen, daß die für Angestellte produzierten Illusionen auf reichliche Nachfrage stoßen« (Kracauer 1971, 13). Der Roman etabliert eine Balance von Ernst und Ironie, etwa wenn sich Doris als Schauspielerin versucht: »Ich hatte schon vorher rumgesprochen, daß ich spiele, und außer Hubert waren alle Männer im Theater, mit denen mich einmal Beziehungen verbanden. […] Außer meinen Männern war kaum Publikum da« (KM, 52 f.). Zwar sind Frauen freier als vorher, aber frei sind sie Die Ästhetik der Oberfläche Die Nachfrage nach Illusionen <?page no="284"?> 271 I rmgarD k eun : D a S kunStSeIDene m äDchen (1932) noch lange nicht. Die Avancen eines Mannes, der dem tradierten und weiterhin populären Konzept der Frau als Heilige und Hure anhängt, kommentiert Doris wie folgt: »Männer dürfen und Frauen dürfen nicht. Nun frage ich mich nur, wie Männer ihr Dürfen ausüben können ohne Frauen? Idiot« (KM, 79). Dennoch fallen die Bewertungen nicht einseitig zuungunsten der Männer aus, Frauen sind aus der Perspektive von Doris keine besseren Menschen: »Ich kann doch sehr verstehen, daß Männer untreu sind, denn wenn Frauen was ganz gehört, sind sie manchmal gut auf eine Art, die glatt gemein ist« (KM, 96). Zwar gibt es eine Freiheit als Abwesenheit von direktem Zwang durch Eltern oder Lebenspartner, doch handelt es sich eher um eine Scheinfreiheit. Die Vorspiegelung von Freiheiten durch Konsum, die Versprechungen der Warenwelt und die Darstellung eines weiblichen Ideals in den Massenmedien, v. a. in Schlager und Film, führt zu Freiheitsversprechen, die nur durch Selbstausbeutung zu verfolgen, die aber nie zu erreichen sind. Erfolg erreichen Frauen vor allem durch den ökonomischen Einsatz des eigenen Körpers, und selbst dann handelt es sich nur um einen vorübergehenden, an den Versprechungen der massenmedialen Darstellung der Warenwelt orientierten, ›kunstseidenen‹ Erfolg. Doris schildert immer wieder ihre Erfahrungen mit dem Handel Körper gegen Waren: »Und nach dem Fuchs hab ich Schluß gemacht. Aber ich bin jetzt komplett in Garderobe - eine große Hauptsache für ein Mädchen, das weiter will und Ehrgeiz hat« (KM, 11). Was bereits seit dem Elternhaus fehlt, sind stabile soziale Beziehungen: Und mein Vater war eigentlich nicht mein Vater […]. Meine Mutter hatte ein Leben, aber war trotzdem solide, denn sie ist nicht dumm. Und wollte mich erst nicht und hat geklagt wegen Alimente, was alle in Frage kommenden Väter mir persönlich übelnahmen. Und Prozeß glatt verloren. Dabei muß es doch einer gewesen sein. Und sie haben mich nie gehauen, aber das war auch alles an Gütigkeit. Und dann in die Schule. […] Und ich habe sie mit Steinen geworfen damals und habe mir einen Schwur gemacht - nämlich, daß ich nicht eine sein will, die man auslacht, sondern die selber auslacht. (KM, 92) Auch die Erfahrungen in anderen Familien sind nicht besser. Da ist zum Beispiel die Erinnerung an ihren Vetter Paul Ruhrbein, Freiheit als Scheinfreiheit Es fehlen stabile soziale Beziehungen <?page no="285"?> 272 l IterarI Sche m oDerne der arbeitslos war, »[…] und trug Anzüge auf von seinem jüngeren Bruder […]. Und stützt auf den Tisch in der Küche seine Arme, da sagt meine Tante: ›Ich bitte dich, Paul, nicht die Arme zu stützen, um den Anzug zu schonen, denn du hast ihn ja nicht verdient.‹« (KM, 93) Als Paul einmal in geselliger Runde daheim um eine Flasche Wein bittet, reagiert seine Mutter noch unangenehmer: Da sieht sie ihn an und macht eine zischende Stimme ganz voll Böse: »Wenn du’s selber wieder mal verdienst, kannst du ja auch deinen Freunden Wein spendieren.« Da wurden wir alle rot, es wurde eine Stille im Zimmer. Und Paul ist fortgegangen und hat sich das Leben genommen im Wasser an demselben Abend. Und die Ruhrbeins weinten ganz furchtbar und waren ein Leid und sagten: »Er war doch der beste von unseren Kindern, und wie konnte er es uns antun, wo wir immer gut zu ihm waren.« (KM, 94) Der Roman führt die Verwerfungen der Moderne vor und kehrt vorsichtig, trotz der gezeigten Exzesse und vergleichbar mit Kästners Fabian, zu einem Konzept romantischer Liebe zurück. Der erste Mann im Leben von Doris war Hubert, er ist für Doris »der einzige […], den ich wirklich geliebt habe« (7). Hubert hat Doris verlassen, um Karriere zu machen: »Aber dann hatte er seinen Doktor und war fertig studiert - Physik und so was. Und ging nach München, wo seine Eltern wohnten, da wollte er heiraten - eine aus seinen Kreisen und Tochter von einem Professor […]« (KM, 19). Das Konzept der Konventionsehe wird von Hubert offenbar ganz selbstverständlich akzeptiert und Doris versucht, sich dem anzupassen: »Aber ich habe mich, wie gesagt, auf Huberts Ehrgeiz hin umgestellt« (KM, 20). Doris zieht aus ihren Erfahrungen für sich den Schluss: »[…] nur wenn man unglücklich ist, kommt man weiter, darum bin ich froh, daß ich unglücklich bin« (KM, 82). Die Erfahrung des Verlassenwerdens hinterlässt dennoch ihre Spuren: »Ich hatte ganz heiße Sehnsucht nach Hubert als nach einem Mann mit einer kleinen Kuhle in der Schulter, wohinein man den Kopf legt und den Mann weiter sein läßt als sich. Sowas zu wollen, rächt sich. Ich ahnte es im voraus, aber mein Gefühl hatte keine Lust, es zu wissen« (KM, 60 f.). Das Ideal der romantischen Liebe wird immer wieder aufgerufen und zugleich ebenso häufig durch Ironie unterlaufen: »Mit Verwerfungen der Moderne <?page no="286"?> 273 I rmgarD k eun : D a S kunStSeIDene m äDchen (1932) einem Fremden schlafen, der einen nichts angeht, ganz umsonst, macht eine Frau schlecht. Man muß wissen wofür. Um Geld oder aus Liebe« (KM, 63). Schließlich hat es die romantische Liebe in der Form auch nie gegeben (Neuhaus 2016b), sie markiert eine Leerstelle: »[…] was ist denn wohl nur kaputt auf der Welt? […] Wo ist denn nur Liebe und etwas, was nicht immer gleich entzwei geht? « (KM, 119). Die Männer kommen und gehen, aber die Sehnsucht bleibt: »Ich möchte gern furchtbar glücklich sein« (KM, 127). Oder: »Liebe ist noch so ungeheuer viel mehr, daß es sie wohl gar nicht, vielleicht kaum gibt« (KM, 87). Der Roman balanciert bis zum Schluss auf dem schmalen Grat zwischen Ernst und Scherz, etwa wenn die 18jährige feststellt: »Ich bin ganz kaputt von Erinnerung« (KM, 71). Allerdings vergeht sowohl ihr als auch dem Leser zunehmend der Sinn für Humor, wenn das junge Mädchen sozial immer weiter absteigt und sich schließlich prostituieren muss, um den Preis der inneren Selbstzerstörung (KM, 144). Schließlich heißt es: »In mir ist viel Kaputtes und es dreht sich. Ich kann gar nicht mehr« (KM, 212). Für kurze Zeit sieht es so aus, als könnte Doris glücklich werden. Ernst (KM, 183), ein 37 Jahre alter Reklamefachmann (KM, 161), der von seiner Frau verlassen wurde (KM, 165), nimmt Doris mit nach Hause (KM, 153), ohne von ihr sexuelle Gegenleistungen zu erwarten (KM, 159). Doris gewöhnt sich an das Leben mit ihm: »Dabei ist er noch nicht mal mein Typ« (KM, 194). Doris unterschlägt zunächst einen Brief seiner Frau Hanne (KM, 188-191). Ernst und sie kommen sich näher, doch als Ernst sie mit Hanne anredet, erkennt sie: »Er ist ein Gutes. Ich habe alles zerstört. So mit Liebe« (KM, 209). Sie geht zu Ernsts Frau: »›Ihr Mann schickt mich, Sie sollen wieder zu ihm kommen - gehen Sie gleich, gleich‹« (KM, 212). Das Romanende sieht Doris in einem Wartesaal und lässt offen, wie es mit ihr weitergeht. Für ein Ende des Abstiegs spricht, dass Doris sich selbst und ihre Möglichkeiten nun realistischer einschätzt, indem sie kein »Glanz« mehr werden will. Sie sieht sich selbst sogar kritischer als die Prostituierte Hulla, mit der sie befreundet war und die aus Verzweiflung Selbstmord begangen hat (KM, 131): »Aber ich kann ja dann auch eine Hulla werden - und wenn ich ein Glanz werde, dann bin ich vielleicht noch schlechter als eine Hulla, die ja gut war. Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so furchtbar an« (KM, 219). Ernst und Komik Das Leben als Wartesaal <?page no="287"?> 274 l IterarI Sche m oDerne Freiheit zeigt sich in einer Gesellschaft, in der die Figuren aus den sozialen Bindungen und Erwerbsverhältnissen freigesetzt sind, in der sie frei sind, sich zu amüsieren und ausbeuten zu lassen, als Scheinfreiheit. <?page no="288"?> 275 I rmgarD k eun : D a S kunStSeIDene m äDchen (1932) Nachkriegszeit, Studentenrevolution, Popliteratur und Gegenwart 7.1. Einleitung 276 7.2. Günter Grass: Die Blechtrommel (1959) 287 7.3. Hilde Domin: Nur eine Rose als Stütze (1959) 295 7.4. Michael Ende: Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer (1960) / Jim Knopf und die Wilde 13 (1962) 300 7.5. Christa Wolf: Der geteilte Himmel (1963) 309 7.6. Uwe Timm: Heißer Sommer (1974) 317 7.7. Martin Walser: Ein fliehendes Pferd (1978) 324 7.8. Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin (1983) 332 7.9. Ruth Klüger: Weiter leben (1992) 339 7.10. Christian Kracht: Faserland (1995) 344 7.11. Ulla Hahn: Das verborgene Wort (2001) 353 7.12. Felicitas Hoppe: Johanna (2006) 358 7.13. Thomas Bernhard: Meine Preise (2009) 365 7.14. Wolfgang Herrndorf: Tschick (2010) / Bilder deiner großen Liebe (2014) 372 7. Inhalt <?page no="289"?> 276 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Das aufklärerische Konzept von Freiheit hat nicht zu einem freien, selbstbestimmten Leben in einer Gesellschaft freier Individuen geführt, ganz im Gegenteil. Die Folgen des Nationalsozialismus beschäftigen die Gesellschaft und auch die Literatur bis heute. Zunächst bemüht sich die Literatur darum, an die Zeit vor 1933 und an die Literatur des Exils anzuknüpfen und das Geschehene, soweit möglich, zu verarbeiten. Die jüngere Generation setzt sich kritisch mit der Beteiligung der Älteren am Nationalsozialismus auseinander, die Literatur der Studentenbewegung der 1960er Jahre richtet sich gegen scheinbar selbstverständliche Autoritäten. Der Gewinn an Freiheit zeigt sich in einer größeren Nähe von Elite- und Massenkultur, doch erfüllen sich die Hoffnungen der 1968er- Generation nur teilweise. Die zunehmende Lösung alltäglicher Bindungen im Beruf, in der Familie und im Freundeskreis erzeugt ambivalente Freiheiten, die mit Wohlstand und Mobilität, wechselnden Sozialbeziehungen und Einsamkeit einhergehen. Die ›reflexive Moderne‹ erzeugt eine zunehmend reflexive Literatur, die ihre eigenen Voraussetzungen stets mitbedenkt. Die Figuren haben Wahlmöglichkeiten, die sie überfordern können. Sprache, Stil und Form werden zunehmend variabel eingesetzt und bei der Leserschaft auf ihre Tauglichkeit getestet. Einleitung Die von den Nationalsozialisten propagierte Regression in die Vormoderne entlarvt sich selbst als die schlimmstmögliche Alternative zu den Kontingenzerfahrungen der Moderne. Die vermeintliche Rückkehr zu ›ewigen‹ Werten wie Führer, Volk und Vaterland führt direkt in die Katastrophe. Viele Städte in Deutschland liegen 1945 in Schutt und Asche, der Ausdruck der ›Trümmerliteratur‹ wird geprägt. Kriegsheimkehrer wie Wolfgang Borchert (1921-47) schreiben über ihre Erfahrungen, am bekanntesten ist sein Stück Draußen vor der Tür (1947). Bereits im Titel wird der Ort bezeichnet, an dem sich die Heimkehrer sehen. Auch Erich Kästners Marschlied 1945, 1946 im Münchner Kabarett Die Schaubude von Ursula Herking (1912-74) gesungen, trifft den Nerv der Zeit und macht zugleich Mut für einen Neuanfang: In den letzten dreißig Wochen zog ich sehr durch Wald und Feld. Und mein Hemd ist so durchbrochen, Zusammenfassung 7.1. „Draußen vor der Tür“ <?page no="290"?> 277 e InleItung daß man’s kaum für möglich hält. Ich trag Schuhe ohne Sohlen, und der Rucksack ist mein Schrank. Meine Möbel hab’n die Polen Und mein Geld die Dresdner Bank. Ohne Heimat und Verwandte, und die Stiefel ohne Glanz, - ja, das wär nun der bekannte Untergang des Abendlands! Links, zwei, drei, vier, links zwei, drei - Hin ist hin! Was ich habe, ist allenfalls: links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei - ich habe den Kopf, ich hab ja den Kopf noch fest auf dem Hals. […] Tausend Jahre sind vergangen samt der Schnurrbart-Majestät. Und nun heißt’s: Von vorn anfangen! Vorwärts marsch! Sonst wird’s zu spät! (Kästner 1998c 2, 52 f.) Günter Eichs (1907-72) Gedicht Inventur (1947) ist weder anklagend-resignativ wie das Stück Borcherts noch mutmachend-positiv wie das Lied Kästners. Für mehrere Generationen gibt es wohl kein Schulbuch ohne dieses Gedicht. Die wenigen Habseligkeiten, die einem geblieben sind, werden zu Medien der Selbstvergewisserung: Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. (EM, 648) Aus einfachen Gegenständen lässt sich eine neue Identität gewinnen, sie können sogar zum Anlass für das Schreiben werden und zur Grundlage für eine neu entstehende Literatur: Die Bleistiftmine lieb ich am meisten: Tags schreibt sie mir Verse, die nachts ich erdacht. (EM, 649) „Inventur“ <?page no="291"?> 278 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Die 1950er Jahre zeigen sich einerseits von der Entwicklung der Literatur der früheren Jahrzehnte beeinflusst, sie stehen andererseits unter dem Eindruck der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, der Verbrechen des Nationalsozialismus und des Holocaust. Die von den Nationalsozialisten verordnete Freiheit zur Unfreiheit in einem neofeudalen, verbrecherischen, von Willkür und Gewalt beherrschten System hinterlässt ihre Spuren und führt zu einer Ablösung der Moderne durch die Postmoderne, verstanden als ›reflexive Modernisierung‹ (Beck 1996). An der Schwelle von NS-Zeit und Neuanfang steht ein philosophisches Werk, das wie kein anderes das neue Denken repräsentiert und bis in die späten 1960er Jahre zu einer Bibel der intellektuellen (Post-)Modernisierung werden wird: die Dialektik der Aufklärung. Theodor W. Adorno (1903-69) und Max Horkheimer (1895-1973) suchen nach Gründen für die Katastrophe und konstatieren, dass die »Entzauberung der Welt« (Horkheimer / Adorno 2004, 9) durch die Aufklärung zu entscheidenden Sinndefiziten geführt hat. Die Programmatik einer bedingungslosen »Berechenbarkeit und Nützlichkeit« (Horkheimer / Adorno 2004, 12) hat in der Konsequenz Entindividualisierung bedeutet und so den Faschismus mit vorbereitet. Nur ein dialektischer Prozess, der das Bestehende und im Prozess des Denkens selbst das soeben Gedachte hinterfragt, kann gegen den erneuten Rückfall in den Totalitarismus absichern. »Auf dem Weg von der Mythologie zur Logistik hat Denken das Element der Reflexion auf sich verloren« (Horkheimer / Adorno 2004, 44), deshalb muss gerade dieses Moment der Reflexion gestärkt werden, um zur Freiheit zu gelangen: »Kritisches Denken, das auch vor dem Fortschritt nicht innehält, verlangt heute Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges ohnmächtig erscheinen« (Horkheimer / Adorno 2004, IX). Kunst und Literatur stehen für einen Freiraum, der das reflexive Denken fördern kann: »Das Kunstwerk hat es noch mit der Zauberei gemeinsam, einen eigenen, in sich abgeschlossenen Bereich zu setzen, der dem Zusammenhang profanen Denkens entrückt ist. In ihm herrschen besondere Gesetze« (Horkheimer / Adorno 2004, 25). Doch resultiert daraus auch eine Ambivalenz. Triviale Kunst und Literatur kann in die Affirmation führen und einen distanzierten, kritischen Blick auf die Gesellschaft verhindern. Als eine Bedrohung der weiteren „Dialektik der Aufklärung“ Reflexives Denken als Grundlage der Freiheit <?page no="292"?> 279 e InleItung gesellschaftlichen Entwicklung sehen Adorno und Horkheimer die Kommerzialisierung auch von Kunst und Literatur: »Die reinen Kunstwerke, die den Warencharakter der Gesellschaft allein dadurch schon verneinen, daß sie ihrem eigenen Gesetz folgen, waren immer zugleich auch Waren […]« (Horkheimer / Adorno 2004, 166). Die Literatur vor 1933 hat bereits, man denke an Kästners Fabian oder an Keuns Das kunstseidene Mädchen, vor den Entwicklungen gewarnt, die mit Foucault als »Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kontrolle der Bevölkerungen« bezeichnet werden können und mit denen »eine Ära einer ›Bio-Macht‹« eröffnet worden ist (Foucault 1983, 167). Die Literatur der Weimarer Republik und des Exils wirken nach, in Werken und Personen. Neu hinzu kommt der Einfluss der (französischen) Literatur des Existentialismus, deren Galeonsfiguren in den 1950er Jahren Jean- Paul Sartre (1905-80) und Albert Camus (1913-60) werden. Allein Camus’ schmale Erzählung Der Fremde (1942, dt. 1948) wird die nächsten Schriftsteller-Generationen prägen und begleiten. Auch und gerade in diesem Text geht es ganz elementar um die Frage, wie frei das Individuum in einer immer noch machtvoll durch Kirche und Staat geprägten Gesellschaft sein kann. In seinem Essay Der Mythos des Sisyphos (1942, dt. 1956) beschreibt Camus die menschliche Existenz als notwendige Sinnstiftung in einer von sich aus sinnlosen Welt. Das Konzept des Existentialismus gibt der Nachkriegsgeneration wieder Mut, weil es nicht versucht, die eben vergangenen Katastrophen zu leugnen oder zu erklären, und stattdessen auf die Möglichkeit hinweist, dem eigenen, vielfach beschränkten, unfreien Leben das jeweils Mögliche abzugewinnen. Das Paradebeispiel des Absurden Theaters ist Samuel Becketts (1906-89) Warten auf Godot (1948), der Einfluss des Stücks auf das deutschsprachige Theater ist kaum zu überschätzen. Auf Godot (Gott? ) wird gewartet, aber er kommt nicht. Auch Becketts Stück stellt die Frage der Sinngebung in einer scheinbar sinnlos gewordenen Welt. Es verwundert nicht, dass sich die Literatur in den deutschsprachigen Ländern eingehend mit der Frage befasst, wie das Individuum in einer solchen undurchschaubaren, teils absurden Realität noch frei sein kann. In dem bekanntesten Roman von Max Frisch (1911-91), Homo faber. Ein Bericht (1957), scheitert der Ingenieur Walter Faber, weil er an die Berechenbarkeit der „Bio-Macht“ Existenzialismus und Absurdes Theater „Homo faber“ <?page no="293"?> 280 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Welt glaubt. Zufall und erotisches Begehren lassen ihn ungewollt Inzest mit seiner Tochter begehen und ebenso ungewollt ihren Tod verursachen. Auch in Frischs anderen Werken geht es vor allem um Fragen der Identität oder Identitätslosigkeit in einer unübersichtlich gewordenen Welt, beispielsweise in Mein Name sei Gantenbein (1964). Der Protagonist des Romans denkt sich nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Lebensgeschichte aus. Im Westen Deutschlands bildet sich relativ bald um den Autor und literarischen Publizisten Hans Werner Richter (1908-93) ein Zusammenschluss von Autoren heraus, der gerade wegen seiner losen Organisationsform zur wichtigsten Institution im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit wird - die Gruppe 47, deren Einfluss etwa zwei Jahrzehnte andauert. Ihr gehören Autoren wie Günter Grass (1927-2015), Martin Walser (geb. 1927), Ingeborg Bachmann (1926-73) und Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) an, aber auch viele der die ersten Nachkriegsjahrzehnte prägenden Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker wie Hans Mayer (1907-2001), Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) und Joachim Kaiser (geb. 1928). Mit der sogenannten Studentenrevolution um das symbolische Jahr 1968 ist allerdings der Mythos der Gruppe gebrochen, gehören die Autoren doch für die Jüngeren nun zu der Elterngeneration, die den Nationalsozialismus und den Holocaust mit erlebt und vielleicht auch mit zu verantworten hat. So scheinen die inszenierten und ritualisierten Treffen der Gruppe plötzlich etwas sehr Altmodisches und Konservatives zu sein. Der junge Peter Handke (geb. 1942) sorgt 1966 durch seinen Auftritt bei einer Tagung der Gruppe 47 in Princeton mit dafür, dass sich die Gruppe auflöst, indem er seinen etablierten Kollegen »Beschreibungsimpotenz« vorwirft (Arnold 2004, 124), und Elfriede Jelinek nennt die Gruppe 47 eine »Sadistenvereinigung, an der ich nicht einmal unter Todesdrohung teilgenommen hätte« (Arnold 2004, 10). Dennoch ist und bleibt es die Leistung der Gruppe, wichtigen Autoren und Texten mehr Öffentlichkeit verschafft zu haben, etwa Günter Grass und seinem Debütroman Die Blechtrommel (1959). Die jüngere Generation der 1960er Jahre, die das Fortdauern des Einflusses der konservativen Eliten in Universität, Schule, Justiz und anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung ebenso kritisch sieht wie die aktuellen globalen Entwicklungen, allen voran den Vietnamkrieg (Bentz 1998, 11), protestierte zunehmend, wenn auch zunächst friedlich in Demonstrationen. Als Die Gruppe 47 Die Protestbewegung der 1960er Jahre <?page no="294"?> 281 e InleItung während einer solchen Demonstration 1967 der Student Benno Ohnesorg (1940-67) ohne erkennbaren Grund von einem Polizisten erschossen wird, ist dies einer der Auslöser größerer, nun auch gewaltsamer Proteste. Die Protestbewegung der Zeit, zu der noch viel zu sagen wäre, wird auch durch literarische Texte und deren Inszenierung in der Öffentlichkeit gefördert, vom Theater über Zeitschriften und Zeitungen bis zu Kundgebungen, und sie wirkt wieder auf die Literatur zurück (Bentz 1998, 617 ff.). So veröffentlicht Uwe Timm (geb. 1940), der Benno Ohnesorg gut gekannt hat, 2005 die Erzählung Der Freund und der Fremde über diese Freundschaft, in der auch, wie in anderen Werken Timms, eine Bilanz der Studentenbewegung gezogen wird. Timms Heißer Sommer (1974), der die Ereignisse insbesondere der Jahre 1967 / 68 zur Grundlage hat und autobiographisch gefärbt ist, gilt noch heute als einer der wichtigsten Romane über diese Zeit (Bentz 1998, 594). Timm hat 1971 mit einer Arbeit über Das Problem der Absurdität bei Albert Camus promoviert. Die Entwicklungen der Zeit bieten mit der zunehmenden Emanzipation der Frau neue Freiheiten, bedeuten aber auch, mit der Freisetzung aus früheren engen Bindungen (Familie, Arbeit), zwiespältige Freiheitserfahrungen (Beck 2003, 115). Die neue Epoche wird gern mit dem Schlagwort der Postmoderne bedacht, ein Begriff, der ebenfalls auf das Jahr 1968 zurückgeht, und zwar auf einen Vortrag des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Leslie A. Fiedler an der Universität Freiburg unter dem Titel The Case for Post-Modernism. Der Vortrag Fiedlers bekommt für den Druck den Titel Cross the Border, Close the Gap. Fiedler geht es vor allem darum zu zeigen, dass die Trennung von »Elite- und Massenkultur« nicht mehr zeitgemäß ist (Fiedler 1994, 21). Für ihn dient eine solche Trennung »dem verschleierten Klassenvorurteil« (Fiedler 1994, 32). Ein weiterer zentraler Baustein des Postmoderne-Diskurses ist Jean-François Lyotards Das postmoderne Wissen, im französischen Original 1979 unter dem zu einem Schlagwort avancierten Titel La condition postmoderne erschienen. Lyotard hat die neue Situation bündig so zusammengefasst: »Jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen. Und jeder weiß, daß dieses Selbst wenig ist« (Lyotard 2005, 54). Weiter heißt es: »Das Selbst ist wenig, aber es ist nicht isoliert, es ist in einem Gefüge von Relationen gefangen, das noch nie so komplex und beweglich war« (Lyotard 2005, 55). Die Studentenbewegung Postmoderne <?page no="295"?> 282 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Die Erfahrungen der Moderne waren die einer »transzendentalen Obdachlosigkeit« (Lukács 1988, 32), sie werden in der Postmoderne noch einmal radikalisiert. Niklas Luhmann hat festgestellt: Die allgemeine Lebenslage des Menschen ist gekennzeichnet durch eine übermäßig komplexe und kontingente Welt. Die Welt ist komplex insofern, als sie mehr Möglichkeiten des Erlebens und Handelns birgt, als je aktualisiert werden können. Sie ist kontingent insofern, als diese Möglichkeiten sich in ihr abzeichnen als etwas, das auch anders sein oder anders werden könnte. (Luhmann 2008, 12) Identität ist nicht mehr etwas, das als ›fest‹ angesehen wird. Sie bildet sich in einem subjektiven Konstruktionsprozess, in dem das Individuum versucht, eine Übereinstimmung von »äußerer und innerer Welt« zu erreichen (Keupp 2002, 7). Es handelt sich um einen vom Individuum selbst nur begrenzt beeinflussbaren und von vielen Faktoren beeinflussten Prozess, dessen positivstes Ergebnis nicht mehr als eine momentane Balance sein kann (Keupp 2002, 274). Identität wird in der Postmoderne zu einem unabschließbaren »Projekt« (Keupp 2002, 65). Im Zuge von »Identitätsarbeit« (Keupp 2002, 60) werden »Identitätsstrategien« entworfen und »Identitätsbausteine« (Keupp 2002, 7) zusammengefügt. Das Ergebnis von Identitätsarbeit heute ist auch mit den Schlagworten »Bastelexistenz« und »Patchwork-Identität« bezeichnet worden (Keupp 2002, 74). Die Literatur der DDR kann an einer reflexiv gewordenen Modernisierung nur wenig teilhaben. Im zweiten deutschen Staat, dem Arbeiter- und Bauernstaat, wird eine Literaturauffassung verordnet, mit der die Literatur, im Sinne eines Sozialistischen Realismus, auf die Unterstützung der gesellschaftlichen Entwicklung hin zum Kommunismus verpflichtet wird. Der Glaube an die Möglichkeit, eine klassenlose Gesellschaft zu entwickeln, in der niemand bevorzugt oder benachteiligt wird, in der alle die gleichen Chancen, Rechte und Pflichten haben, wird immer wieder durch die Praktiken der herrschenden Elite erschüttert, die ein autoritäres Regime etabliert, in dem Kritiker mundtot gemacht oder eingesperrt werden. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), euphemistisch liebevoll Stasi genannt, überzieht das ganze Land mit einem Netz aus Spitzeln, den sogenannten Informellen Mitarbeitern (IM). Den Anfang vom Ende der DDR markiert 1976 die Ausbürgerung von Wolf Biermann (geb. 1936), eines bekannten Frage der Identität Literatur der DDR Die Biermann- Ausbürgerung <?page no="296"?> 283 e InleItung Liedermachers, der gerade in Köln auf der Bühne steht, als die DDR-Führung mitteilt, dass sie ihm die Wiedereinreise verweigern wird. Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Wiedervereinigung, dem Beitritt der DDR zum Staatsgebiet der BRD im Jahr 1990 kommt die Geschichte der DDR an ein Ende, sie wird aber immer wieder literarisch verarbeitet und kontrovers diskutiert, beginnend mit dem ›deutsch-deutschen Literaturstreit‹ um Christa Wolfs (1929-2011) Erzählung Was bleibt (1990) bis zu den beiden großen sogenannten Wenderomanen des Jahres 1995, Günter Grass’ Ein weites Feld und Thomas Brussigs (geb. 1964) Helden wie wir. 1995 erscheint auch Christian Krachts (geb. 1966) Roman Faserland, mit ihm ist ein Zeitenwechsel verbunden. Dieses schmale Werk steht am Beginn der sogenannten Popliteratur, genauer: einer zweiten Phase der Popliteratur nach den 1960er und 1970er Jahren, für die als bekanntes Beispiel Rolf Dieter Brinkmann (1940-75) gelten kann, etwa mit dem Roman Keiner weiß mehr (1968) und der Anthologie Acid. Neue amerikanische Szene (1969, mit Ralf-Rainer Rygulla). Vorbild ist die sogenannte Beat Generation der US-amerikanischen Literatur seit den 1940er Jahren, die mit einem provokativen, dezidiert jungen Lebensstil gegen die herrschenden alten Autoritäten protestiert. Auch die Popliteratur der 1990er orientiert sich an englischsprachigen Vorbildern. Für Benjamin von Stuckrad-Barres (geb. 1975) Roman Soloalbum (1998) hat Nick Hornbys (geb. 1957) Roman High Fidelity (1995) Pate gestanden. Zur Popliteratur der jüngeren Generation gehören beispielsweise auch die seinerzeit viel gelesenden Bände mit Erzählungen von Judith Hermann (geb. 1970), Sommerhaus, später (1998) und Nichts als Gespenster (2003), oder die Romane Alexa Hennig von Langes (geb. 1973), etwa Relax (1997) und Ich habe einfach Glück (2001). In den meisten Romanen und Erzählungen der Zeit stehen Figuren im Mittelpunkt, die keine materiellen Probleme haben und orientierungslos sind, beruflich und privat. Sie sind entweder nicht in der Lage, soziale Kontakte herzustellen und aufrecht zu erhalten, oder sie probieren immer wieder neue Beziehungen, an deren Vorläufigkeit kein Zweifel besteht. Sie verharren im Stand einer ewigen Post-Adoleszenz und wünschen sich doch das Gegenteil - stabile (Liebes-)Beziehungen und familiären Halt. In der Postmoderne gibt es dafür aber keine Garantien mehr. Die Popliteratur der 1990er <?page no="297"?> 284 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart In der Zeit finden sich aber auch andere Autoren und Texte, die weniger über Orientierungslosigkeit klagen als damit spielen und das Komische, Absurde und teilweise auch Groteske der heutigen Freiheiten, die vielfach nicht mehr als solche empfunden werden, sprachlich und formal in äußerst freier Weise durchspielen. Dies gilt für die 2012 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Autorin Felicitas Hoppe (geb. 1960), aber auch der bereits erwähnte Christian Kracht etabliert eine immer deutlicher hervortretende ironisch-distanzierte Haltung zur Zeitgeschichte, historisch angelegt in seinem Roman Imperium (2012), dystopisch in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008), auf die Gegenwart bezogen in 1979 (2001). Ein Autor, der intertextuell, ironisch und metafiktional mit Versatzstücken der Realität umgeht und der zu den unzeitgemäßen Autoren der Gegenwartsliteratur gehört, ist Ernst Augustin (geb. 1927), etwa mit seinen Romanen Der amerikanische Traum (1989), Gutes Geld (1996) oder Robinsons blaues Haus (2012). Die Robinsonfigur ist nicht nur geographisch frei, weil sie um die ganze Welt reisen kann und überall eine Unterkunft hat. Man kann den Roman auch als einen ebenso phantasiereichen wie humorvollen Text über den Tod lesen und damit als einen ganz besonderen Text über die Freiheit der Existenz. »Gegenwartsliteratur ist ein relationaler Begriff« (Braun 2010, 16). Die prägenden historischen Einschnitte sind das Kriegsende 1945, die Studentenrevolution 1968, der Fall der Mauer 1989 und die Wiedervereinigung 1990. Michael Braun plädiert dafür, den Begriff der Gegenwartsliteratur, angesichts der nun schon wieder vergangenen Jahrzehnte, für die Zeit nach der letzten politischgesellschaftlichen Zäsur zu reservieren (Braun 2010, 26). Die erste Hälfte der 1990er Jahre prägt allerdings noch die Auseinandersetzung um die deutsche Einheit, bevor sich mit der Popliteratur verstärkt die jüngere Generation zu Wort meldet. Daher kann der Beginn der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auch mit 1995 angesetzt werden, allerdings nicht, ohne wahrzunehmen, dass die nun ins Zentrum gerückten Themen und Verfahrensweisen schon vorher vorkommen. So kann man Patrick Süskinds Weltbestseller Das Parfum Merkmale attestieren, die charakteristisch für die sogenannte ›Neue Lesbarkeit‹ der 1990er werden (Wittstock 1995; Hielscher 2001). Krachts Faserland geht auf Einflüsse vor 1995 zurück, etwa auf Bret Easton Ellis’ (geb. 1964) Romane Unter Null (1985) und American Psycho (2000). Auch Uwe Timm hat Neuere Entwicklungen Die Bedeutung historischer Einschnitte Die ‚Neue Lesbarkeit‘ <?page no="298"?> 285 e InleItung mit Romanen wie Kopfjäger. Bericht aus dem Innern des Landes (1991) bereits Tendenzen später wichtig werdender Themen und Stile vorweggenommen, in dem mit Montage- und Collagetechniken arbeitenden Roman wird beispielsweise aus der Popmusik zitiert und hellsichtig auf die Probleme des globalen Finanzkapitals hingewiesen. Viele Themen der Gegenwartsliteratur haben ganz direkt mit Fragen der Freiheit zu tun. Die denkbar größte Unfreiheit ist physischer Zwang bis zur Auslöschung von Leben. Es wundert daher nicht, dass ein durchgängiges Thema der Literatur seit Kriegsende der Holocaust ist, die Shoah, der millionenfache Mord an den Juden. Es finden sich zahlreiche Texte von Juden und Menschen anderer Glaubensrichtungen, von Betroffenen und deren Nachkommen, von Zeitgenossen und solchen, die nicht direkt betroffen waren oder sind, die auch die Nachfolgestaaten des NS-Staates und ihre späteren Bürger mit in der Pflicht sehen, das Andenken an die Opfer zu bewahren und sicherzustellen, dass es nicht wieder zu rassistisch oder fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten kommt. Zu den frühen und besonders berühmt gewordenen Texten gehört Paul Celans (1920-70) Todesfuge (1948): Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts wir trinken und trinken wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng. (EM, 660) Die Chiffre der ›schwarzen Milch‹ bringt die lebensspendende Milch und die Schwärze des Todes zusammen, das »Grab in den Lüften« weist auf die Verbrennungsöfen der Konzentrationslager hin. Jurek Beckers (1937-97) Debütroman Jakob der Lügner (1969) spielt in einem namenlosen Ghetto, Becker selbst war als kleiner Junge mit seinen Eltern erst im Ghetto von Lodz, dann in Konzentrationslagern interniert, seine Mutter starb an den Folgen. Edgar Hilsenrath (geb. 1926), Sohn eines jüdischen Kaufmanns und ebenfalls dem Ghetto entkommen, gestaltet in seinem provokativen Roman Der Nazi & der Friseur (engl. 1971, dt. 1977) die Figur eines Nazis, der seinen besten Freund, einen Juden, umbringt und dessen Identität annimmt. Der Roman setzt sich am Beispiel einer Figur mit der Frage auseinander, wie eine scheinbar unvorstellbare Grausamkeit entstehen und wohin sie führen kann. Holocaust und Literatur „Todesfuge“ <?page no="299"?> 286 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Komik und Ironie ermöglichen Distanzierungen, die das Geschehen nicht relativieren, sondern die Möglichkeit bieten, über die Ursachen der Verbrechen nachzudenken - um künftige Verbrechen vielleicht zu verhindern. Auch ist der Roman konzeptionell und sprachlich sehr innovativ. Das lässt sich genauso über W. G. Sebalds (1944-2001) Roman Austerlitz (2001) sagen, auch wenn Sebald, als erst kurz vor Kriegsende geborener Deutscher, immer wieder dafür kritisiert worden ist, eine Opferperspektive zu schildern. Dennoch gilt der Roman des Jahrzehnte in England lebenden und dort als Literaturdozent lehrenden Sebald schon bei seinem Erscheinen als so wichtig, dass der Autor, der leider im Erscheinungsjahr stirbt, für den Literaturnobelpreis gehandelt wird. In der Titelfigur Austerlitz, die in der Nazizeit mit einem der Kindertransporte nach England gekommen ist, und in der Figur des mit Austerlitz befreundeten Ich-Erzählers werden die individuellen Folgen der Entwurzelung gezeigt, zugleich wird die gesamte neuere europäische Kulturgeschichte einer fundamentalen Kritik unterzogen. In der europäischen Infrastruktur (der Eisenbahn) und Architektur ist, so der provokative Kerngedanke des Romans, die von der Industrialisierung geprägte, imperiale Geschichte konserviert, deren menschenverachtender Verlauf überhaupt erst den Holocaust ermöglicht hat. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte einerseits und mit den Lebensverhältnissen der Gegenwart andererseits hat die Lite- Eine kulturkritische Bilanz Deutsches Literaturarchiv Marbach, das bedeutendste Archiv für die deutschsprachige Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts Abb. 7.1 <?page no="300"?> 287 g ünter g ra SS : D Ie b lechtrommel (1959) ratur zu jeder Zeit beschäftigt, zumindest daran hat sich nichts geändert, auch wenn die Zeiten und damit die Themen, Stile und Perspektiven sich gewandelt haben. Die größte Veränderung ist wohl in den Rezeptionsbedingungen zu sehen, in dem medialen Wandel, der zunehmend die Frage stellen lässt, was wohl aus welchen Gründen von der Literatur bleiben wird (Neuhaus / Schaffers 2016). Braun, Michael: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln u. a.: Böhlau 2010 (UTB 3352). Herrmann, Leonhard u. Silke Horstkotte: Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2016 (Lehrbuch Metzler). Kaiser, Gerhard R. (Hg.): Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2012 (Die deutsche Literatur in Text und Darstellung 16 / RUB 18 067). Schnell, Ralf: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. 2., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2003. Günter Grass: Die Blechtrommel (1959) Vier Jahrzehnte nach seinem Erscheinen steht der Roman, der erste von Günter Grass (1927-2015), erneut im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. 1999 erhält Grass den Literaturnobelpreis, das schwedische Auswahlkomitee weist auf die außerordentliche Bedeutung der Blechtrommel hin 1 und stellt außerdem fest: »Günter Grass hat sich als Spätaufklärer bekannt in einer Zeit, die der Vernunft müde geworden ist« (Vormweg 2002, 172). Volker Neuhaus gibt sich überzeugt: Wenn heute Kritiker weltweit abstimmten, welches denn wohl der bedeutendste Roman der Weltliteratur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei, hätte Grass’ Blechtrommel eine mehr als nur faire 1 »When Günter Grass published The Tin Drum in 1959 it was as if German literature had been granted a new beginning after decades of linguistic and moral destruction.« URL: http: / / www.nobelprize.org/ nobel_prizes/ literature/ laureates/ 1999/ press.html (abgerufen am 3. 3. 2017). Lektürehinweise 7.2. Günter Grass, 2004, Buchmesse, Frankfurt am Main Abb. 7.2 <?page no="301"?> 288 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Chance, gewählt zu werden, so wie wohl Joyce’ Ulysses zum Roman der ersten Jahrhunderthälfte würde. (Neuhaus V. 2010, 5) Bereits 1958 hat Grass vor der Gruppe 47 aus dem Manuskript gelesen und dafür den Preis der Gruppe erhalten. Gleich nach seinem Erscheinen sorgt der zahlreiche Tabus der Zeit brechende Roman für einen Skandal: Der Bremer Senat weigert sich, die Entscheidung der Jury des Bremer Literaturpreises zu akzeptieren und Grass für seinen Roman auszuzeichnen. Das kann den Siegeszug des Romans aber nicht aufhalten, eher im Gegenteil, sorgt die versuchte Skandalisierung doch für verstärktes Interesse. Grass wird in den 1960er Jahren zu einem der angesehensten Schriftsteller der Bundesrepublik, auch sein prominentes Eintreten für die SPD und ihren Vorsitzenden, den späteren Kanzler Willy Brandt (1913-92), rückt ihn stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Seine zahlreichen Romane und Erzählungen werden viel beachtet, zunächst - als Fortsetzung der sogenannten Danziger Trilogie - Katz und Maus (1961) und Hundejahre (1963), später u. a. Der Butt (1977), Das Treffen in Telgte (1979) und Die Rättin (1986). Die Verfilmung der Blechtrommel durch Volker Schlöndorff (geb. 1939) im Jahr 1979 erhält den ersten Oscar (! ) für einen deutschsprachigen Film (Neuhaus V. 2000, 181). Grass schreibt auch Gedichte und Dramen, so wird beispielsweise 1966 sein Stück Die Plebejer proben den Aufstand uraufgeführt. Der sogenannte Wenderoman Ein weites Feld (1995) löst einen der größten Literaturskandale der jüngeren Zeit aus, Grass hat bereits nach dem Fall der Mauer und im Prozess des Beitritts der DDR zum Staatsgebiet der BRD für eine Zwei-Staaten-Lösung votiert und spiegelt in dem Roman kritisch die damaligen Ereignisse. 1999 erscheint Mein Jahrhundert, ein Panorama des 20. Jahrhunderts in Erzählungen. 2002 folgt der Roman Im Krebsgang über den Untergang des als Kriegs- und Lazarettschiff eingesetzten Kreuzfahrtschiffs Wilhelm Gustloff bei Kriegsende 1945. Das Schiff war während des Transports von Flüchtlingen von der sowjetischen Marine versenkt worden, es starben rund 9000 Menschen. Mit der Thematisierung von Kriegsschuld auch der Gegner Deutschlands rührt der bekennende Linke Grass einmal mehr an ein Tabu. 2006 löst das Erscheinen von Grass’ Teil-Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel den nächsten Skandal aus, weil sich Grass erstmals dazu bekennt, in den letzten Kriegsmonaten als junger Soldat bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Skandal um den Debütroman Der „Wenderoman“ Grass’ Autobiographie <?page no="302"?> 289 g ünter g ra SS : D Ie b lechtrommel (1959) Die Blechtrommel gilt als frühe und innovative Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, vor allem mit der NS-Vergangenheit. Die Tabubrüche, die vor allem durch die groteske Schilderung von Sexualität und Tod entstehen, weisen auf die Brüchigkeit früherer Gewissheiten hin und beziehen sich auf politische und soziale Ordnungen, auf Familien- und Paarbeziehungen ebenso wie auf den gesellschaftlichen Ordnungsrahmen. Diese Brüche werden auf der formalen Ebene gespiegelt. Das personale, unzuverlässige Erzählen korrespondiert mit dem Collage- und Bricolage-Charakter. In seiner reflexiven, ironischen und metafiktionalen Schreibweise knüpft der Roman an Entwicklungen der Moderne an und zeigt bereits zentrale Merkmale der Postmoderne. Mit dem Thema Krieg geht es ganz elementar um die Frage der Freiheit, um die Rolle des Individuums in der Gesellschaft. Die originelle Konstruktion einer sehr individuellen Figur wird gegen kollektive Zwänge gesetzt. Erzählt wird retrospektiv, der erste Satz des Romans gehört zu den berühmtesten Sätzen der Weltliteratur: »Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann« (DB, 6). Das unzuverlässige Erzählen entsteht aus der radikal individuellen Perspektive einer Figur, die kaum Glaubhaftes über sich selbst mitteilt und offenbar als geisteskrank eingestuft wird. Damit durchkreuzt der Roman von Anfang an Strategien der Biomacht (Foucault 1983, 166), die im Nationalsozialismus zu Ausgrenzung und Mord geführt haben. Jemanden als ›wahnsinnig‹ und damit als »anders« (Foucault 1973, 176) zu deklarieren ist eine seit dem 18. Jahrhundert entwickelte Praxis, um ein (aufklärerisches) Konzept von Vernunft zu etablieren, das blind für alles ist, das nicht zu ihm passt (Foucault 1973, 177). Die Figur Oskar zeigt einerseits, dass der Wahnsinn »das Moment reinster Subjektivität ist« (Foucault 1973, 324), und sie lädt andererseits durch ihre Ich-Perspektive die Leser dazu ein, selbst mit ihr ›wahnsinnig‹ zu werden und die Verhältnisse umzukehren. Allerdings: ›Wahnsinnig‹ wird vielleicht weniger die Figur, die sich (und ihre Leser) von Anfang an durch Distanz imprägniert, sondern eher die sich im Nationalsozialismus kollektiv verändernde Umwelt. Die (nach Tabubrüche Individualität und kollektiver Zwang <?page no="303"?> 290 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Horkheimer / Adorno) pervertierte Aufklärung gipfelt in radikaler Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen bis hin zum massenhaften Mord. Der Nationalsozialismus bedient sich bei dem, was die Ausgrenzungsmechanismen einer durch bürgerliche Moral motivierten Vernunft geschaffen haben: »eine gewaltige Reserve an Phantastischem, eine schlafende Welt von Monstren« (Foucault 1973, 367). Die Geschichte zeigt: »Der Wahnsinn wird also zur anderen Seite des Fortschritts« (Foucault 1973, 383). Und doch hat, wie bereits die (vergleichsweise harmlose) Internierung von Oskar zeigt, die Gesellschaft wenig dazugelernt. Der Romananfang ist zugleich ein Spiel mit Wahrnehmung, darauf deutet die Symbolik des Gucklochs und des Auges. Die Augenfarbe kann als ironisches Spiel mit der üblichen Symbolik gelesen werden. Blauäugig heißt eigentlich naiv, allerdings sind blau und braun durch die NS-Zeit kompromittierte Farben. Blond und blauäugig waren die Prototypen einer angestrebten arischen Rasse, braun die Uniformen der NS-Truppen. Grass hat selbst darauf hingewiesen, dass das personale, unzuverlässige Erzählen und die zahlreichen Brüche zum schriftstellerischen Programm gehören und auch politisch zu verstehen sind, so hat er erklärt: »Oft reicht der literarische Nachweis, daß die Wahrheit nur im Plural existiert - wie es ja auch nicht nur eine Wirklichkeit, sondern eine Vielzahl von Wirklichkeiten gibt -, um einen solch erzählerischen Befund als Gefahr zu werten, als eine tödliche für den jeweiligen Hüter der einen und einzigen Wahrheit« (Grass 1999, 27). Die gezeigten Mechanismen der Ausgrenzung wirken auf alle, die auf ihrer eigenen Wahrheit bestehen und sich nicht einer durch Kollektive (auch die gibt es im Plural) verordneten ›Wahrheit‹ anschließen wollen. Um Distanz zu erzeugen, die dem Leser die Freiheit des eigenen Urteils ermöglicht, ist der Roman an vielen Stellen metafiktional. In der Rahmenhandlung schreibt Oskar Matzerath, der Ich-Erzähler, seine Geschichte auf, wir lesen also seinen in der Nervenheilanstalt geschriebenen Lebensbericht. Er schildert die dabei auftretenden Schwierigkeiten: […] wie fange ich an? Man kann eine Geschichte in der Mitte beginnen und vorwärts wie rückwärts kühn ausschreitend Verwirrung anstiften. Man kann sich modern geben, alle Zeiten, Entfernungen wegstreichen und hinterher verkünden oder verkünden lassen, man Ein Spiel mit Wahrnehmung und Fiktionalität Distanzerzeugende Merkmale <?page no="304"?> 291 g ünter g ra SS : D Ie b lechtrommel (1959) habe endlich und in letzter Stunde das Raum-Zeit-Problem gelöst. Man kann auch ganz zu Anfang behaupten, es sei heutzutage unmöglich einen Roman zu schreiben, dann aber, sozusagen hinter dem eigenen Rücken, einen kräftigen Knüller hinzulegen, um schließlich als letztmöglicher Romanschreiber dazustehn. Auch ich habe mir sagen lassen, daß es sich gut und bescheiden ausnimmt, wenn man anfangs beteuert: Es gibt keine Romanhelden mehr, weil es keine Individualisten mehr gibt, weil die Individualität verlorengegangen, weil der Mensch einsam, jeder Mensch gleich einsam, ohne Recht auf individuelle Einsamkeit ist und eine namen- und heldenlose einsame Masse bildet. Für mich, Oskar, und meinen Pfleger Bruno möchte ich jedoch feststellen: Wir beide sind Helden, ganz verschiedene Helden, er hinter dem Guckloch, ich vor dem Guckloch; und wenn er die Tür aufmacht, sind wir beide, bei aller Freundschaft und Einsamkeit, noch immer keine namen- und heldenlose Masse. (DB, 8 f.) Erzählt wird die Handlung aus der Perspektive des 30 Jahre alten Oskar, das ist die Perspektive des Jahres 1954. Eingeteilt ist der Roman in 3 Bücher (Vorkriegszeit, Kriegszeit und Flucht, Nachkriegszeit). Entfaltet wird ein Panorama des 20. Jahrhunderts bis zur Erzählgegenwart. Die Handlung beginnt im Jahr 1899 (DB, 19) mit der Zeugung von Oskars Mutter Agnes auf einem Kartoffelacker (DB, 9 ff.). Brandstifter Joseph Koljaiczek, auf der Flucht vor der Polizei, versteckt sich unter den Röcken von Anna Bronski. Der herrschende Nationalismus wird von Anfang an mit der individuellen Geschichte verknüpft, wenn der Erzähler darauf hinweist, dass seine Großmutter »im Herzen der Kaschubei« bei einem »Kartoffelkrautfeuer« sitzt (DB, 9 f.), »während in Südafrika Ohm Krüger seine buschig englandfeindlichen Augenbrauen bürstete« (DB, 19). Die Anspielung auf die Kolonialgeschichte des Kaiserreichs mit ihren Genoziden weist auf die NS-Zeit mit ihren noch größeren Genoziden voraus. Der Großvater ist ein polnischer Patriot und, im Kampf gegen die deutsche Herrschaft, »mehrfacher Brandstifter« (DB, 22). Allerdings verschwindet er auf der Flucht vor der Polizei und es bleibt offen, ob er ertrinkt oder sich nach Amerika retten kann (DB, 32 ff.). Der Roman spielt sogar mit seiner Metafiktionalität, wenn er Hinweise auf den Autor gibt. Joseph Koljaiczek ist einer, der »sich über schwarzem Schnauz wild umsah« (DB, 13), er ist »der Mann mit dem Schnauz« (DB, 429). Der dichte Schnurrbart des dunkel- Ein Panorama der Zeit <?page no="305"?> 292 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart haarigen Günter Grass war Aushängeschild und Markenzeichen seines Trägers. So wie Joseph Koljaiczek der Ahnherr der Familie ist, so ist Günter Grass, der selbst aus Danzig-Langfuhr stammt, der Erzeuger der Figuren der Erzählung. Oskar weiß nicht, wer sein Vater ist (DB, 155), der Cousin und Liebhaber seiner Mutter, der Pole Jan Bronski, oder der ›Reichsdeutsche‹ (DB, 43) Alfred Matzerath, den sie geheiratet hat (DB, 40 ff.). Insofern ist Oskar gleich doppelt erblich vorbelastet. Als Enkel eines patriotischen Brandstifters und Sohn entweder eines überzeugten Polen oder eines überzeugten Deutschen steht er von Anfang an zwischen den - sich verschärfenden - Fronten. Oskar beschließt im Alter von drei Jahren, nicht mehr zu wachsen (DB, 63 f.). Ein Auslöser neben der mehrfach prekären familiären Situation ist das Verhalten der Erwachsenen, das er von Geburt an kritisch registriert: »Ein Junge«, sagte jener Herr Matzerath, der in sich meinen Vater vermutete. »Er wird später einmal das Geschäft übernehmen. Jetzt wissen wir endlich, wofür wir uns so abarbeiten.« Mama dachte weniger ans Geschäft, mehr an die Ausstattung ihres Sohnes: »Na, wußt’ ich doch, daß es ein Jungchen ist, auch wenn ich manchmal jesagt hab’, es wird ne Marjell.« So machte ich verfrühte Bekanntschaft mit weiblicher Logik und hörte mir hinterher an: »Wenn der kleine Oskar drei Jahre alt ist, soll er eine Blechtrommel bekommen.« (DB, 46 f.) Die Ironie erstreckt sich nicht nur auf das scheinheilige und klischeehafte Verhalten der Familie, sondern auch auf die Ordnungsrahmen von Wirtschaft und Politik: »Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen. Noch heute kommt mir deshalb der Bibeltext ›Es werde Licht und es ward Licht‹ wie der gelungenste Werbeslogan der Firma Osram vor« (DB, 46). Der sich »hellwache Skepsis« attestierende Oskar (DB, 78) entscheidet sich gegen die Verführungen durch Kollektivierungsangebote und für radikale Individualität. Seine Krach machende Blechtrommel steht akustisch-symbolisch für diese Abgrenzung, denn sie verleiht ihm »die Fähigkeit« […], zwischen mir und den Erwachsenen eine notwendige Distanz ertrommeln zu können« (DB, 68). Auch gibt ihm seine Stimme die Möglichkeit, Glas zerspringen zu lassen, um gegen seine Umwelt zu protestieren (DB, 71). Auf einem Foto, das ihn als kleines Kind mit der Blechtrommel zeigt, »spiegelt sich in jedem meiner blauen Augen der Wille Mit Ironie gegen Klischees <?page no="306"?> 293 g ünter g ra SS : D Ie b lechtrommel (1959) zu einer Macht, die ohne Gefolgschaft auskommen sollte« (DB, 63). Angespielt wird hier auf Friedrich Nietzsches (1844-1900) Der Wille zur Macht (1901) und Nietzsches Rolle als Ideengeber des Nationalsozialismus. Seine Doppelnatur erklärt Oskar ebenfalls mit Verweisen auf Literatur, so entnimmt er dem Angebot eines Büchergestells »[…] zuerst den Rasputin und dann den Goethe. Dieser Doppelgriff sollte mein Leben, zumindest jenes Leben, welches abseits meiner Trommel zu führen ich mir anmaßte, festlegen und beeinflussen« (DB, 102). Grigori Rasputin (1869-1916) war ein russischer Wanderprediger und selbsternannter Heiler, der erst Vertrauter der Zarenfamilie war und schließlich von Mitgliedern dieser Familie ermordet wurde. Rasputin kann als enfant terrible verständlicherweise eine Identifikationsfigur für Oskar abgeben, während Goethe als verehrter Nationaldichter den arrivierten Gegenpol bildet. Oskar zitiert ironisch: »Ich hätte also, wäre ich anwesend gewesen, an Kurtchens zweitem Geburtstag meinem Sohn ins Ohr flüstern können: ›Warte nur, balde trommelst auch du‹« (DB, 391). Der Schluss von Goethes Wandrers Nachtlied (1780) lautet: »Warte nur! Balde / Ruhest du auch« (EM, 227). Die Ironie des Romans richtet sich gegen die arrivierte, von der bürgerlichen Gesellschaft für ihre (nationalen) Zwecke instrumentalisierte Kultur: »Indem ich die Foyerfenster unseres Stadttheaters zersang, suchte und fand ich zum erstenmal Kontakt mit der Bühnenkunst« (DB, 125). Die Blechtrommel spielt mit Traditionen des Schelmen-, Bildungs- und Künstlerromans, sie steht besonders in der Tradition von Grimmelshausens Der abenteuerliche Simplicissimus. Die umfangreiche Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte, insbesondere mit der NS-Geschichte, wird nicht affirmativ inszeniert, sondern mit distanzerzeugenden Mitteln, wie sie beispielsweise für die Dramen Brechts oder das Absurde Theater typisch sind. Weitere Einflüsse stammen von Döblin oder Celan, mit dem Grass in Paris bekannt wurde, sowie von den Existentialisten Camus und Sartre, die Grass selbst als für sich »prägend« bezeichnet hat, »mit einer Parteinahme für Camus« (Vormweg 2002, 44). Es finden sich zahlreiche weitere Anspielungen auf Literatur. Ironisch-kritisch sind Bezugnahmen auf früher sehr bekannte und beliebte, bürgerlich-konservative Werke wie Gustav Freytags Soll und Haben (DB, 102) oder Felix Dahns Ein Kampf um Rom (DB, 102, 472). Interkulturelle Verweise Spiel mit Traditionen <?page no="307"?> 294 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Oskars fröhliche Anarchie, etwa wenn er eine öffentliche Versammlung der Nazis stört (DB, 141), kontrastiert mit der Brutalität der Nazis und der Unmenschlichkeit des Krieges, wie sie sich in der Hinrichtung Jan Bronskis und der anderen Mitarbeiter der polnischen Post zeigt (DB, 297 ff.). Ironisch ist dagegen der Tod von Oskars ›Vater‹ Alfred, der erschossen wird, als er sein NS-Parteiabzeichen verschluckt, um es vor den russischen Besatzungssoldaten zu verstecken. Oskar hat es vom Boden aufgehoben (DB, 481) und ihm wiedergegeben, er scheint also den Tod seines (möglichen) Vaters verursacht zu haben. Ursächlich sind aber die eigene Schuld und der Versuch, diese Schuld zu verbergen (B, 485). Auch das Verhältnis der erwachsenen Figuren gegenüber der Religion wird als scheinheilig entlarvt. Die Bibel ist eine wichtige Folie für den Roman, der stellenweise als Kontrafaktur gelesen werden kann. Oskar, der sich selbst zeitweise für Jesus hält (DB, 441), hat seine sexuelle Initiation mit einer jungen Frau namens Maria (DB, 340 f.), die dann die Geliebte des ›Vaters‹ wird. Dabei hält Oskar sich für den Vater von Marias Sohn Kurt (DB, 390). Diese scheinbar blasphemische Handlung kontrastiert mit dem naiven Kirchenglauben der Figuren, die außerhalb der Kirche jedes christlich-moralische Handeln vermissen lassen. Literarisch innovativ sind auch andere Tabubrüche, etwa die berühmte Geschichte von den Aalen im Kapitel »Karfreitagskost«, in der nicht nur Ekel erzeugt, sondern auch davon berichtet wird, dass eine Frau versucht haben soll, sich mit einem lebenden Aal selbst zu befriedigen (DB, 178 ff.). Während Alfred Matzerath sie für die Familie kauft, haben Agnes und Jan Bronski sexuellen Kontakt (DB, 181). Die Aale dienen als groteskes Phallus-Symbol. Der Tod von Oskars Mutter Agnes (DB, 190 ff.) wird durch die Geschichte von den Aalen motiviert - ihre sexuelle Gier geht in eine Fressgier über. Beides steht exemplarisch für die verantwortungslose Triebhaftigkeit der Erwachsenen. Der Roman ist nicht zufällig ein Triptychon, dessen Mittelteil die NS-Zeit darstellt, die in Nebengeschichten, in scheinbar alltäglichen, oft grotesk-ironischen Episoden gespiegelt wird. Der erste Teil weist auf die Entwicklungen hin, die zum Nationalsozialismus geführt haben, und der letzte Teil zeigt, dass die Geschichte durchaus nicht vorüber ist. Oskar sieht »die Nachkriegszeit« als »unser heute in Blüte stehendes Biedermeier« (DB, 422, ähnl. 566). Der letzte Teil des Romans entlarvt die Scheinheiligkeit der Zeit Die Rolle der Religion Eine kritische Bilanz der Geschichte <?page no="308"?> 295 h IlDe D omIn : n ur eIne r oSe alS S tütze (1959) des sogenannten Wiederaufbaus. So macht Oskar als Musiker Karriere: »Es galt, die Erfahrungen des dreijährigen Blechtrommlers Oskar während der Vorkriegs- und Kriegszeit mittels der Blechtrommel in das pure, klingende Gold der Nachkriegszeit zu verwandeln« (DB, 681). Oskar wird schließlich für einen Mord, den er (sofern man seinen Erzählungen glauben kann) nicht begangen hat, verfolgt und eingesperrt (DB, 720 ff.). Der Roman entwirft eine Figur, die sich gegenläufig zur fiktionalen, aber auf biographische Erlebnisse und Zeitgeschichte bezogenen Realität stellt. Oskar kann sich seine Freiheit in der NS-Zeit bewahren, indem er beschließt, nicht erwachsen zu werden und sich von den Erwachsenen zu distanzieren. In der Nachkriegszeit wird er in einer (scheinbar) befreiten Gesellschaft selbst unfrei und schreibt seine Geschichte auf. Ob als glaubwürdiger Rechenschaftsbericht, als Versuch, seine eigene Beteiligung herunterzuspielen, oder als Ansammlung von Fantasien eines ›Wahnsinnigen‹, lässt der Roman offen. Entscheidend ist aber, dass der Roman mit der Figur eine betont distanzierte und dadurch kritische Perspektive auf die ersten sechs Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ermöglicht und so dem Leser die Freiheit gibt, sich selbst gedanklich mit den Machtverhältnissen, Mechanismen und Zwängen der Zeit, und eigentlich jeder Zeit, auseinanderzusetzen. Hilde Domin: Nur eine Rose als Stütze (1959) Das Gedicht als Augenblick von Freiheit betitelte Hilde Domin (1909-2006) ihre Frankfurter Poetik-Vorlesungen von 1987 / 88. Das meint sie als »[…] Erreichen dieses Zustands, und wenn er da ist, dann hört alles andere auf. Vor allem die Zeit. Aber auch das Rollenmenschendasein« (Domin 1988, 8). Einem solchen Dasein entkommt man, wenn man »Subjekt und nicht Objekt« ist (Domin 1988, 9), im Moment der Selbstbestimmung. Lyrik ist auf selbstverständliche Weise Die Offenheit des Romans 7.3. Lyrik und Freiheit Stolperstein für Hildegard Dina Löwenstein (Hilde Domin) in Köln Abb. 7.3 <?page no="309"?> 296 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart »Selbstzweck« (Domin 1975, 11). Doch ist sie ebenso selbstverständlich auf die »Wirklichkeit« bezogen: Sobald aber nach Lyrik als Übung im Gebrauch von Freiheit gefragt wird, ist die Frage schon ganz nah an der andern, der nach der Umgestaltung der Wirklichkeit. Denn, im Gegensatz zu Kunst, ist die Veränderung der Gesellschaft keineswegs Zweck in sich, sie dient der möglichen Freiheit des Menschen, seinem Menschsein. Oder sie ist gleichgültig. Insofern drehen sich beide Fragen um eine gemeinsame Achse. (Domin 1975, 12) Schreiben bedeutet Selbstbestimmung, Literatur ist ein Ausdruck der Selbstbestimmung und sie ist damit ein Weg zur und ein Werkzeug der Freiheit. Das Verhältnis von »Dichtung und Wirklichkeit« (ebd.) ist ein dialektisches, das beides aufeinander bezieht. Der Weg dorthin ist, auch in der poetischen Sprache, »Sachlichkeit«, die deshalb von Hilde Domin »als eine ›Vokabel der Freiheit‹ definiert« wird (Pulver / Braun 2017, unpag.). Sachlichkeit bezeichnet ein Verhältnis zur Welt, das die beobachtbare Realität anerkennt und die Möglichkeiten der Selbstbestimmung mit den Mitteln der Literatur nutzt, mit der literarischen Sprache und dem Gedicht als »Stütze« (ebd.). Wegen ihrer jüdischen Herkunft lebt die in Köln geborene Autorin in der NS-Zeit zunächst in Italien, dann geht sie nach England und 1940, mit ihrem Mann, ins weiter entfernte Exil, in die Dominikanische Republik. Ihr Mann erhält 1960 eine Professur in Heidelberg, dort lebt Hilde Domin bis zu ihrem Tod. 2004 wird sie sogar Ehrenbürgerin der Stadt. 1959 erscheint ihr erster Gedichtband Nur eine Rose als Stütze, der sie bereits innerhalb des literaturinteressierten Publikums bekannt, wenn nicht berühmt macht. Ihre Gedichte sind oft privat und ebenso oft auch politisch: »›Freiheit / ich will dich / aufrauhen mit Schmirgelpapier / du geleckte‹, sagt sie, fast aggressiv, im Titelgedicht von ›Ich will dich‹ (entstanden unmittelbar nach dem Einmarsch der Russen in Prag): eine sprachliche wie eine politische Herausforderung, gezielter Widerstand durch das Wort, gegen die Abschleifung der Worte wie die Verlogenheit in deren Gebrauch« (ebd.). Domin schreibt auch Prosa, mit der sie aber nicht den gleichen Erfolg erzielt, abgesehen von ihren autobiographischen Schriften, in denen sie sich vor allem mit den Erfahrungen des Exils und des Neubeginns im Nachkriegsdeutschland auseinandersetzt. In Domins Werdegang <?page no="310"?> 297 h IlDe D omIn : n ur eIne r oSe alS S tütze (1959) Abständen erscheinen immer wieder neue Gedichtbände und auch theoretisch setzt sich Domin mit den Möglichkeiten lyrischer Sprache auseinander. An Schulen und Universitäten sehr beliebt sind ihre 1966 erstmals erschienenen Doppelinterpretationen mit dem Untertitel »Das zeitgenössische Gedicht zwischen Autor und Leser«. In dem Band erklärt ein Autor das poetologische Verfahren eines eigenen Gedichts und ein Literaturkritiker oder Literaturwissenschaftler deutet es. Im symbolischen Jahr 1968 erscheint Domins berühmt gewordener Essay Wozu Lyrik heute. Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft, der sich mit den Möglichkeiten auseinandersetzt, als Autorin in der Gesellschaft zu leben, zu arbeiten und zu versuchen, mit der Literatur Veränderungen zu bewirken. Nur eine Rose als Stütze zeigt weniger Einflüsse der deutschsprachigen als vielmehr der fremdsprachigen Literaturen, mit denen Domin während ihres Exils und ihrer längeren Auslandsaufenthalte in Berührung kommt. Die einzelnen Abschnitte sind mit Orts- und Zeitangaben dieser Aufenthalte versehen. Der Band ist in zwei Teile gegliedert, die bereits die autobiographische Erfahrung der Zweiteilung des eigenen Lebens in Exil und (so eine von Domin andernorts häufig verwendete Metapher) ›zweites Paradies‹ (ebd.) nach der Rückkehr nach Deutschland sichtbar machen: »Aufbruch ohne Gewicht« und »Nur eine Rose als Stütze«. Der erste Teil wiederum ist in drei Abschnitte ohne eigene Überschriften gegliedert, mit der Zahl drei wird eine gewisse Abgeschlossenheit signalisiert. Bereits das erste Gedicht macht programmatisch deutlich, worum es in dem Band geht. Ziehende Landschaft ist es betitelt, und es beginnt mit: Man muß weggehen können und doch sein wie ein Baum: als bliebe die Wurzel im Boden, als zöge die Landschaft und wir ständen fest […]. (RS, 9) Das Reisen und der Aufenthalt in der Fremde wird zum Zuhause, so wie die Heimat immer Teil des Fremden ist. Allerdings wird die Bedingtheit des Unterwegsseins stets mit reflektiert, wie schon im zweiten Text, der in den titelgebenden Gewächsen und Früchten das Eigene und das Fremde symbolisch miteinander verbindet - Apfelbaum und Olive: „Wozu Lyrik heute“ Das Zuhause in der Fremde <?page no="311"?> 298 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Ein Trost ist, zu wissen wo die Tassen stehn und die Teller in dem Haus, in dem du zu Gast bist, und einen Anteil zu haben an der Zärtlichkeit von Katze und Hund deines Freunds […]. (RS, 10) Die Verlusterfahrung wird deutlich markiert, man ist »Gast« und das Aufgenommensein ist ein »Trost«. Dennoch ist die Stimmung positiv und bejahend, das Gedicht ist offen und man kann »hier ein wenig mehr / als an andern Stätten / zuhaus« sein (RS, 12). Die Grunderfahrung ist die eines ungewollten Verlusts, so lautet der Anfang des nächsten Gedichts: »Für uns, denen der Pfosten der Tür verbrannt ist, / an dem die Jahre der Kindheit / Zentimeter für Zentimeter / eingetragen waren« (RS, 13). Das kollektive »uns« verweist auf die Erfahrungen des Exils, auch wenn die Texte ganz allgemein von Aufbruch und Veränderung handeln, die als unvermeidbar im Leben gesehen werden. Heimat ist nur im Konjunktiv zu haben: »Ich habe Heimweh nach einem Land / in dem ich niemals war, / wo alle Bäume und Blumen / mich kennen, in das ich niemals geh […]« (RS, 67). Die existentiellen Erfahrungen werden als unabänderlich angesehen: »Es lohnt nicht Angst zu haben / vor Verlassenheit, / wenn schon der Wind steigt / der die Wolke / verweht« (RS, 72). Man könnte die Rezeption Brechts und der Hauspostille vermuten, wenn man folgenden Gedichtanfang liest: »Es kommen keine nach uns, / die es erzählen werden, / keine, die was wir / ungetan ließen / in die Hand nehmen und zu Ende tun« (RS, 76). Das lyrische Ich hat eine positive Energie, die aus der eigenen, vor allem auch sprachlichen Identität hervorgebracht wird, mit der »Rose als Stütze«. Das titelgebende Gedicht beginnt wie folgt: »Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft« (RS, 55). Die Erfahrung des Alleinseins ist auszuhalten, sie ist als Voraussetzung des Daseins anzuerkennen: »Die schwersten Wege / werden alleine gegangen, / die Enttäuschung, der Verlust, / das Opfer, / sind einsam« (RS, 60). Zugleich ist aber auch der Andere wichtig, um das Eigene abzusichern, unabhängig vom Ort: »Gleichgewicht / / Wir gehen / jeder für sich / den schmalen Weg / über den Köpfen der Toten / - fast ohne Angst - / im Takt unseres Herzens, als seien wir beschützt, solange die Liebe / nicht aussetzt« (RS, 14). Die Zweisamkeit ist sogar in der Lage, die Erfahrung der Fremde als Fremde Die Erfahrung des Exils Sprache und Identität <?page no="312"?> 299 h IlDe D omIn : n ur eIne r oSe alS S tütze (1959) auszusetzen: »Ich liege in deinen Armen / wie in einem Schiff, / ohne Route noch Hafen, / aber mit Delphinen am Bug« (RS, 19). Das ändert nichts daran, dass der Zweisamkeit die Endlichkeit unmittelbar eingeschrieben ist: »Nichts ist so flüchtig / wie die Begegnung« (RS, 58). Der Verlust eines geliebten Menschen durch Veränderung ist stets so präsent wie der Tod: »Der Tote ist unser sichrer Verlaß. / Er sitzt in uns, / in sich gerollt / wie ein geschmeidiges Knäuel / oder ein Embryo […]« (RS, 40). Tod und Geburt werden hier eng miteinander assoziiert. Der Tod steht im positiven Sinn für Ewigkeit, obwohl er jeder Transzendenz entkleidet ist: »Und die verlierbaren Lebenden / und die unverlierbaren Toten« (RS, 61). Die Toten leben in der Erinnerung weiter, geronnene Erinnerung bietet die poetische Sprache. Das Unterwegssein macht die Vergänglichkeit umso bewusster: »Halte mich fest, / halte / meinen Körper aus Sand« (RS, 22), oder: »Ich war hier. / Ich gehe vorüber / ohne Spur.« Und doch gibt es den Trost, Spuren zu hinterlassen, Spuren wie die vorliegenden Gedichte. Folgende Stelle kann man als metafiktional lesen: »Und im Vorübergehn, / ganz absichtslos, / zünde ich die ein oder andere / Laterne an / in den Herzen am Wegrand« (RS, 23). In solchen Bildern steckt auch Humor oder sanfte Ironie, die etwa am Schluss von Ich lade dich ein noch deutlicher wird. Das lyrische Ich kehrt die Einladung in das selbst gebaute »Haus unsrer Wünsche« (RS, 32) um in die Forderung, nun endlich »auf ein Wohnungsbüro« zu gehen, andernfalls »[…] stürz ich mich noch aus dem Fenster / dieses Hauses, das es nicht gibt. / / Und das Fenster, glaub mir, ist hoch« (RS, 34). Freiheit wird in diesen Gedichten nicht explizit thematisiert und ist doch mit Händen zu greifen. Freiheit setzt zunächst die Anerkennung der eigenen Bedingtheiten voraus (Alleinsein, Trennung, Tod, Erfahrungen der Fremde …). Es findet sich ein origineller, häufig auch paradoxer Gebrauch von Symbolen der Freiheit und des Freiseins. Vögel sind dafür typisch, doch hier wird Freiheit gerade durch den Verzicht auf die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften ermöglicht: »Wenn ich ein Vogel wär, / ich flöge zu niemand. / Ich sehe die blassen Blumen an, / die Blätter vom vorigen Herbst, / und die Winterbienen« (RS, 83). Der Mensch steht in einem reflexiven Verhältnis zur Natur und ist doch Teil von ihr. Die daraus resultierenden Bedingtheiten begründen das, was an Verlusterfahrungen Anerkennung eigener Bedingtheiten <?page no="313"?> 300 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Freiheit im Leben möglich ist. Und das ist nicht zuletzt das Schreiben und Lesen von Literatur. Michael Ende: Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer / Jim Knopf und die Wilde 13 (1960 / 1962) Michael Ende (1929-95) hat einige der weltweit bekanntesten Kinder- und Jugendromane geschrieben. Dabei beginnt Ende zunächst als Schauspieler und Theaterkritiker im Nachkriegs-München, bevor er einen Roman für Kinder, zunächst erfolglos, verschiedenen Verlagen anbietet. Verhandlungen mit einem Berliner Verlag ziehen sich hin, weil der Verlag zu viele Änderungen und Kürzungen verlangt. Der Stuttgarter Thienemann-Verlag stimmt schließlich zu, das umfangreiche Manuskript zu drucken, aber in zwei Teilen. Ende schreibt einen Schluss für den ersten Teil und einen Anfang für den zweiten, 1960 und 1962 erscheint Jim Knopf in zwei Bänden. Der erste Band ist sofort erfolgreich, er wird 1961 mit dem renommierten Deutschen Jugendbuchpreis (später umbenannt in Deutscher Jugendliteraturpreis) ausgezeichnet. Der Erfolg rettet Ende vor dem finanziellen Ruin und legt den Grundstein für seine weitere Arbeit als Kinder- und Jugendbuchautor (Boccarius 1995, 275). Endes Ruhm gründet außerdem auf den Kinderromanen Momo (1973) und Die unendliche Geschichte (1979). Momo heißt ein Mädchen ungewisser Herkunft, das in ein verlassenes Amphitheater in einer italienischen Großstadt zieht und dort schnell Freunde findet. Das Leben Momos in einer Wahlfamilie voller Geborgenheit wird jedoch durch die ›grauen Herren‹ gefährdet. Die ›grauen Herren‹ sind Zeitdiebe, sie stehlen den Menschen die Zeit, um sie für sich selbst zu verbrauchen. Mit Hilfe von Meister Hora, der über 7.4. Ein Roman in zwei Teilen „Momo“ Buchcover von Michael Endes erstem Roman Abb. 7.4 <?page no="314"?> 301 m Ichael e nDe : J Im k noPf (1960/ 1962) die Zeit gebietet, rettet Momo die Menschen vor der Sklaverei des Zeitsparens. Typisch für Endes Werk ist, dass auch die ›grauen Herren‹ von der Einschränkung der Freiheit der anderen mehr schlecht als recht leben. Ihr Egoismus und ihre daraus resultierende soziale Kälte machen sie unglücklich. Momo ist von Johannes Schaaf verfilmt worden, Michael Ende hat in dem Kinofilm von 1986 einen Gastauftritt, die Musik stammt von dem seinerzeit sehr bekannten italienischen Barden Angelo Branduardi. Zu der prominenten Besetzung gehören Armin Müller-Stahl, Mario Adorf und die US-amerikanische Regie-Legende John Huston. Auch Die unendliche Geschichte ist ein allegorischer Roman. Es geht um die Bedeutung der Phantasie, und damit der Literatur, für ein selbstbestimmtes Leben. Bastian Balthasar Bux stiehlt in Karl Konrad Koreanders Antiquariat ein besonderes Buch. Bastian ist unglücklich, er ist ein schlechter Schüler, er ist unsportlich und wird von seinen Mitschülern gehänselt und gequält. Seine Mutter ist gestorben und sein Vater hat den Verlust nicht verkraftet, er kümmert sich zu wenig um seinen Sohn. Nach dem Diebstahl flüchtet Bastian auf den Speicher seiner Schule, um das Buch zu lesen. Im ersten Teil des Buches lernt er die Kraft der Phantasie kennen. Hierfür steht das Land Phantásien, von dem das Buch mit dem Titel »Die unendliche Geschichte« handelt, das Bastian auf dem Speicher liest (Ende 1979, 16). Es handelt sich um das Motiv des Buchs im Buch und damit auch um Metafiktionalität. Phantásien ist mit Figuren aus Märchen und Sage bevölkert, die Ende fantasiereich varriiert. Bastian wechselt die Handlungsebene und wird zur Figur in dem Buch, das er gerade liest, als er der über Phantásien herrschenden Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen gibt: »Mondenkind« (Ende 1979, 190). Doch ist Bastian damit noch am Anfang seines Individuationsprozesses. Das Motto »Tu was Du willst« auf dem Medaillon Auryn gibt ihm die »Macht über alle Wesen und Dinge Phantásiens«. Das Medaillon zeigt zwei Schlangen, »die einander in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten«, es weist als Symbol der Medizin auf die Therapie, die Bastian durchläuft (Ende 1979, 199). Bastian geht zahlreiche Irrwege, die ihn in der »Alte Kaiser Stadt« beinahe in den Wahnsinn führen, bis er schließlich durch das Bergwerk der Bilder seine eigene Identität annimmt und in einem reinigenden Bad neu geboren wird (Ende 1979, 416). Er kehrt in seine Welt zurück und versöhnt sich mit „Die unendliche Geschichte“ <?page no="315"?> 302 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart seinem Vater. Auch Herr Koreander hat Verständnis für ihn, war er doch selbst einmal in einer ähnlichen Situation. Koreander formuliert abschließend eine Erkenntnis aus Handlung und Lektüre: »›Jede wirkliche Geschichte ist eine unendliche Geschichte‹« (Ende 1979, 426). Bücher sind, so verstanden, Medien der Selbsterkenntnis auf dem Weg zu einem freien, selbstbestimmten Leben. Es hängt allerdings von jedem selbst ab, ob er davon Gebrauch machen möchte, deshalb meint Koreander: »›Es gibt eine Menge Türen nach Phantásien, mein Junge. Es gibt noch mehr solche Zauberbücher. Viele Leute merken nichts davon. Es kommt eben darauf an, wer ein solches Buch in die Hand bekommt‹« (Ende 1979, 427). Das Motto von Auryn bedeutet daher auch keinen Freibrief für rücksichtsloses Handeln. Es verweist nicht nur auf mythologische Quellen, sondern auch und vor allem auf Kants kategorischen Imperativ: Bastians eigener Wille bewirkt für ihn nur dann Gutes, wenn er sozial denkt und handelt. Der Märchenroman steht auch in der Tradition der Romantik, etwa von Novalis, auf dessen Heinrich von Ofterdingen angespielt wird (etwa mit dem Bad in der Höhle), und von E. T. A. Hoffmann, dessen Konzept des Wirklichkeitsmärchens auf zeitgemäße Weise aktualisiert wird. Die von Bernd Eichinger (mit-)produzierte Verfilmung aus dem Jahr 1984, bei der Wolfgang Petersen Regie führte, weicht so stark von Michael Endes Vorstellungen ab, dass sich der Autor mit ihr nicht einverstanden erklärte und seinen Namen von dem Projekt zurückzog. Der Doppel-Roman um Jim Knopf ist revolutionärer und politischer, als es den Anschein hat. Jim kommt als Baby in einem Paket auf die Insel Lummerland, er ist von schwarzer Hautfarbe. Kulturelle Differenz bedeutet im Roman kein Stigma, ganz im Gegenteil. Auch Jims großer Freund Lukas, der Lokomotivführer, hat - berufsbedingt - eine schwarze Haut. Jims dunkle Hautfarbe zeigt sich als klarer Vorteil: »Jims größter Wunsch war nämlich, später auch Lokomotivführer zu werden, weil dieser Beruf so gut zu seiner Haut paßte« (JK, 18). Die winzige Insel wird von König Alfons dem Viertel-vor-Zwölften regiert, er ist die liebenswerte Karikatur eines Feudalherrschers des 19. Jahrhunderts: »Den König konnte man nur an Feiertagen sehen, weil er die meiste Zeit regieren mußte« (JK, 10). Seiner Aufgabe wird er dennoch nicht gerecht. Weil er Lukas’ Lokomotive Emma von Lummerland verbannen will, um genug Platz für den heranwachsenden Jim zu schaffen „Zauberbücher“ Anderssein als Thema <?page no="316"?> 303 m Ichael e nDe : J Im k noPf (1960/ 1962) (JK, 21), verlassen Lukas und Jim die Insel (JK, 30 f.). Auch die beiden anderen Bewohner sind typisiert: Herr Ärmel beschränkt sich darauf, Untertan zu sein. Frau Waas, die den Kaufladen führt und Jim bei sich aufnimmt, ist eine besorgte (Adoptiv-)Mutter (JK, 18) und als einzige auf der Insel, die einer Erwerbstätigkeit nachgeht, durchaus eine emanzipierte Frauenfigur. Jim, Lukas und Emma kommen nach Mandala, das in den frühen Ausgaben China heißt. In der humorvollen Zeichnung des Landes und seiner Bewohner wird die Hochachtung vor der kulturellen Leistung des fremden Landes deutlich (JK, 45 f.). Allerdings herrschen in dem von Kaiser Pung Ging geführten Land Machtmissbrauch und Korruption. Lukas und Jim werden vom Oberbonzen Pi Pa Po daran gehindert, den Kaiser aufzusuchen. Erst das mutige Eingreifen des kleinen Ping Pong, der den Kaiser informiert, kann die beiden befreien (JK, 76). So erfahren sie von der Entführung der Tochter des Kaisers mit Namen Li Si, zu deren Rettung sie aufbrechen (JK, 81 ff.). Li Si hat mit einer Flaschenpost einen Hilferuf geschickt. Als Lukas ihn liest, entdeckt er die Ähnlichkeit der Adresse, die Li Si nennt, mit der Adresse auf dem Paket, in dem Jim als Baby nach Lummerland kam. Der Postbote hatte damals aus der krakeligen Schrift »Lummerland« herausgelesen, obwohl dort vermutlich »Kummerland« stand - der Name der Drachenstadt, in die Li Si entführt worden ist (JK, 82 f.). Auf dem Weg nach Kummerland müssen die beiden Freunde auch die Wüste »Das Ende der Welt« durchqueren. Dort treffen sie auf den Scheinriesen Herrn Tur Tur, der nur in der Entfernung groß und furchterregend aussieht. Im Gegensatz dazu ist er ein freundlicher und liebenswerter Mensch (JK, 128). Doch wegen seiner scheinbaren Riesenhaftigkeit ist er seit dem Tod seiner Eltern auf der Suche nach einen Ort, »wo die Leute keine Angst vor mir hätten« (JK, 130). Deshalb hat er sich schließlich in die Wüste zurückgezogen (JK, 131). Nicht nur in dieser Figur des Romans wird paradigmatisch das Negative der Ausgrenzung und das Positive des Andersseins gestaltet: »Eine Menge Menschen haben doch irgendwelche besonderen Eigenschaften. Herr Knopf zum Beispiel hat eine schwarze Haut. So ist er von Natur aus, und dabei ist weiter nichts Seltsames, nicht wahr? Warum soll man nicht schwarz sein? Aber so denken leider die meisten Leute nicht. Wenn sie zum Beispiel weiß sind, dann sind sie über- Eine Rettungsaktion Mechanismen der Ausgrenzung <?page no="317"?> 304 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart zeugt, nur ihre Farbe wäre richtig, und haben etwas dagegen, wenn jemand schwarz ist. So unvernünftig sind die Menschen bedauerlicherweise oft«. (JK, 129) Die Eigenschaft, die Herrn Tur Tur bisher aus der Gesellschaft ausgeschlossen hat, wird später zur Grundlage seiner Integration. Weil in einem Unwetter ein Postschiff gegen die Küste Lummerlands gestoßen ist, sieht der König sein Inselreich als gefährdet an. Jim hat die rettende Idee: »[…] könnt’ man nicht vielleicht Herrn Tur Tur nach Lummerland holen und als Leuchtturm benutzen? Er nimmt nur ganz wenig Platz weg, aber von weitem sieht er aus wie der größte Turm« (JW, 25). Weil Lummerland so klein ist, ist er nie so weit entfernt, dass jemand Angst vor ihm bekommen könnte. Wenig später lernen die beiden Freunde dann noch den Halbdrachen Nepomuk kennen. Nepomuk muss in einem Krater vor der Drachenstadt leben: »›Die reinrassigen Drachen lassen mich nicht in die Drachenstadt hinein. Sie behaupten, ich wäre bloß ein Halbdrache. Nur weil meine Mutter ein Nilpferd war! Aber mein Vater war ein richtiger Drache‹« (JK, 145). Der Rassendiskurs wird mit dem Diskurs über kulturelle Differenz verschmolzen, wenn es um unterschiedliche Auffassungen von Sauberkeit geht: »Bei Drachen ist es nämlich umgekehrt wie bei Menschen. Menschen waschen sich morgens und abends, damit sie immer schön sauber sind, und Drachen schmieren sich morgens und abends voll, damit sie immer hübsch schmutzig sind. Das gehört sich nun mal bei Drachen so« (JK, 146). Lukas und Jim helfen Nepomuk, seinen Vulkan wieder in Gang zu bringen, dafür verrät er ihnen den Weg in die Drachenstadt. Um hineinzugelangen, wird die Lokomotive Emma als Drache verkleidet (JK, 152). Auch der Außenseiter Nepomuk wird in Jim Knopf und die Wilde 13 integriert, als Wärter der Magnetischen Klippen kann er den für die Meeresbewohner wichtigen Magneten in Betrieb nehmen und bei Bedarf ausschalten, etwa wenn Schiffe der Insel gefährlich nahe kommen (DW, 121). Die neue Arbeit bedeutet Freundschaft mit den Wasserleuten. Auch hier wird Anderssein zur Grundlage von Integration, es schließen »zum ersten Mal seit hunderttausend Jahren ein Feuerwesen und ein Wasserwesen Freundschaft« (JW, 125). Über der Einfahrt zur Drachenstadt ist auf einer großen Steinplatte zu lesen: »! Achtung! Der Eintritt ist nicht reinrassigen Dra- Das Thema Rassismus <?page no="318"?> 305 m Ichael e nDe : J Im k noPf (1960/ 1962) chen bei Todesstrafe verboten« (JK, 155). Eine solche Warnung wird durch Komik als lächerlich entlarvt: Ein Drache hält die verkleidete »Emma für ein Drachenfräulein« und flirtet mit ihr (JK, 156). Der Kampf in der Drachenschule wird durch die als Drache verkleidete Emma gewonnen (JK, 172), aber Frau Mahlzahn (so heißt der Drache) wird dadurch nicht gedemütigt, sondern geläutert. Sie wird, weil Jim und Lukas sie nicht umbringen und mit nach China nehmen, zum Goldenen Drachen der Weisheit und kann die weitere Handlung positiv beeinflussen. So verrät der Drache seinen neu gewonnenen Freunden, wo sie auf der Heimfahrt nach Lummerland eine schwimmende Insel ins Schlepptau nehmen können (JK, 214). Mit der Insel kann das Gebiet von Lummerland so weit vergrößert werden, dass Jim, seine Braut Li Si und auch Molly, das Kind der Lokomotive Emma, Platz finden. Am Ende von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer steht die Verlobung von Jim und Li Si, es handelt sich dabei um ein gleichberechtigtes Paar. Die selbstbewusste Li Si initiiert die Flucht der Kinder, indem sie die Flaschenpost in einen Fluss wirft (JK, 196), denn sie kann lesen und schreiben. Jims Ausrede: »Das Lernen hält einen nur von wichtigen Dingen ab. Ich bin bis jetzt ganz gut ohne Lesen und Schreiben ausgekommen« (JK, 198), lässt Li Si nicht gelten: »Aber was wäre aus euch und aus uns geworden, wenn Lukas ebensowenig hätte lesen können wie du? « (JK, 198). Jim Knopf und die Wilde 13 steht im Zeichen der Suche nach Jims Herkunft. Die Piratenbande ›Die Wilde 13‹, die Jim, Li Si und die anderen Kinder der Drachenschule geraubt und an den Drachen verkauft hat, wohnt auf einer Insel, die ›Land, das nicht sein darf‹ genannt wird (DW, 171). Wie sich herausstellt, konnte diese von Höhlen durchzogene Insel nur aus dem Meer aufsteigen, weil ein Kontinent mit Namen Jamballa dafür unterging. Es handelt sich dabei um das Land, das von den Vorfahren Jims regiert wurde. Jim stammt von Kaspar ab, von dem farbigen König der Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland (DW, 218 f.). Als Prinz Myrrhen ist er Kind königlicher Vorfahren. Er erfüllt eine alte Prophezeiung, dass er als 33. Nachfahre Kaspars das verlorene Land Jamballa wiederfinden werde (DW, 219). Da Frau Mahlzahn als Kaspars Gegner das Land versenkt hat und ihre Hilfe nötig ist, um die Veränderung rückgängig zu machen, ist es der Verzicht auf weitere Gewalt gegenüber dem Drachen, der überhaupt erst den positiven Ausgang ermöglicht. Verzicht auf Gewalt <?page no="319"?> 306 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart ›Die Wilde 13‹ muss erkennen, dass ihr Piratentum auf einem fundamentalen Irrtum beruht, der aus mangelnder Bildung resultiert. Es handelt sich um zwölf Brüder, aus deren Kreis ein Anführer bestimmt und als zusätzliches Mitglied gezählt wurde. Die 13 war eine passende Symbolzahl für eine Piratenbande, doch ist zwölf eine positive Zahl, die für Vollständigkeit steht. Als die Zwölf ihren Irrtum begreifen, sehen sie ein, dass ihr Piratendasein auf einer falschen Annahme beruht (DW, 236 f.). Mit ihrer Fähigkeit, die Brüder zu zählen, demonstriert Li Si einmal mehr die Bedeutung der Bildung, die auch Jim nicht länger verweigert (DW, 215). Wieder ist es der humane Umgang mit dem Gegner, der zum guten Ausgang beiträgt. Als Jim entscheiden muss, was mit den Piraten geschehen soll, schenkt er ihnen das Leben: »Das höhnische Grinsen auf den Gesichtern der Piraten erlosch. Betroffen blickten sie sich gegenseitig an, denn darauf waren sie ganz und gar nicht gefaßt gewesen« (DW, 221). Sie erwidern die großmütige Geste mit ebensolcher Großmut, denn nur sie, daran hatten ihre Gegner nicht gedacht, kennen den Weg »durch den großen Hurrikan« (DW, 222). Sie werden zu Jims Helfern und Beschützern (DW, 238 ff.) und versenken nach Anweisungen des Drachen ihre eigene, sturmumtoste Insel, so dass sich Jamballa wieder aus dem Meer erheben kann (DW, 242 ff.). Wie sich herausstellt, ist Lummerland ein Berggipfel des nun in Jimballa umgetauften Kontinents (DW, 256). Jim gibt den erwachsenen Piraten Namen, damit sie sich voneinander unterscheiden und er macht sie so zu Individuen, er setzt sie dadurch in Freiheit (DW, 249 f.). Die Kinder aus den verschiedensten Ländern, die in der Drachenstadt befreit worden sind, kommen nach Jimballa, sie stellen eine repräsentative Auswahl einer Weltgesellschaft dar und ihr Befreier und Anführer, der keinen Anspruch auf Anführerschaft erhebt, ist mit Jim Knopf ein junger Farbiger. Wie Julia Voss gezeigt hat, gibt es für die Figur Jim Knopf Vorbilder. In seinem Reisebericht Die Fahrt der Beagle berichtet Charles Darwin (1809-82) von einem Kind von der Insel Feuerland, das zunächst von Engländern entführt worden ist und nun an Bord der Beagle in seine Heimat zurückgebracht wird. Der Junge heißt Jemmy Button, der Name deutet, wie Darwin berichtet, auf »seinen Kaufpreis« von einem großen Perlmuttknopf (Voss 2009, 7, 17): Die Utopie einer multikulturellen Gesellschaft Ende und der Darwinismus <?page no="320"?> 307 m Ichael e nDe : J Im k noPf (1960/ 1962) Der Tag, an dem der historische Jemmy Button seinen Namen erhielt, lag 1960 hundertdreißig Jahre zurück. Wie Prinzessin Li Si, die am Meer spielend von der Seeräuberbande Wilde 13 entführt wird, waren zwischen Februar und Mai 1830 vier Feuerländer von einem englischen Marineschiff an der Küste ihrer Heimat gefangen genommen worden. Zuerst raubte man ein Mädchen von etwa acht Jahren […]. (Voss 2009, 65) Als wichtigste Quelle Endes sieht Voss einen Roman an, der die Geschichte von Darwin und Button auf der Basis der Quellenlage kritisch verarbeitet. Benjamin Subercaseaux (1902-73) nennt seinen Roman Jemmy Button und veröffentlicht ihn 1950, die englische Übersetzung erscheint 1954, die deutsche 1957 (Voss 2009, 71 f.). Ende steht dem Darwinismus kritisch gegenüber, denn er hat ihn als Junge im Nationalsozialismus als Sozialdarwinismus erlebt. In einem nachgelassenen Manuskript fragt Ende, ob »[…] die ganze darwinistische Theorie von der ›natürlichen Auslese der besser Angepaßten nichts anderes ist, als die naturwissenschaftliche Rechtfertigung einer Gesellschaftsordnung? ‹« (Voss 2009, 12). Und in einem Interview stellt er sogar fest: »Die Idee des Rassismus und der Rassendiskriminierung […] entstand durch Weiterdenken von Darwins Theorien. Die Auslöschung lebensunwerten Lebens und Konzentrationslager« (Voss 2009, 97). Im Nationalsozialismus sei »Biologie zum wichtigsten Schulfach erhoben« worden »mit dem Lernziel, dass ›kein Knabe und kein Mädchen die Schule verlässt, ohne zur letzten Erkenntnis über die Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit geführt worden zu sein‹« (Voss 2009, 81). Weitere Erfahrungen aus der NS-Zeit sind in Jim Knopf eingegangen. Zu den Vorbildern der Nationalsozialisten wird der Drachentöter Siegfried aus dem Nibelungenlied gezählt (Voss 2009, 106 f.). Eine wichtige Rolle spielt der Mythos des untergegangenen Kontinents Atlantis, »[…] den die Nationalsozialisten in Deutschland zuvor an sich gerissen und in unzähligen Kinderbüchern zu einer biologischen Rassenparabel umcodiert hatten. Atlantis war zur Urheimat der arischen Rasse erklärt worden« (Voss 2009, 119). Noch 1953 gibt es eine pseudowissenschaftliche Theorie, die Atlantis »in der Gegend der heutigen Insel Helgoland« sieht und »als politisches wie religiöses Zentrum der nordischen Bronzezeit« ausgiebt, als eine »›protogermanische‹ Kultur« (Voss 2009, 120). Der ehemalige Waldorfschüler Ende findet in den Schriften Rudolf Erfahrungen der NS-Zeit <?page no="321"?> 308 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Steiners (1861-1925), des Begründers der Anthroposophie, einen Gegenentwurf, »eine Gegenwissenschaft, die die lebenslange Hoffnung auf eine neue Gesellschaftsordnung speiste« (Voss 2009, 139). Ob die Drachenstadt »Kummerland« lediglich als »Chiffre für den Nationalsozialismus« verstanden werden kann (Voss 2009, 76), ist aber zu bezweifeln, da es dem Roman vor allem darum geht, ganz allgemein vor Eingriffen in die individuelle Freiheit zu warnen und zugleich deutlich zu machen, dass Unfreiheit für alle, auch für die Unterdrücker, eine Situation begründet, in der und mit der alle unglücklich sind, selbst diejenigen, die davon scheinbar profitieren. Jim Knopf lässt sich auch als literarisches Pendant eines Konzepts lesen, das Homi Bhabha später als das der Hybridität oder des dritten Raumes beschreiben wird: The move away from the singularities of ›class‹ or ›gender‹ as primary conceptual and organizational categories, has resulted in an awareness of the subject positions - of race, gender, generation, institutional location, geopolitical locale, sexual orientation - that inhabit any claim to identity in the modern world. What is theoretically innovative, and politically crucial, is the need to think beyond narratives and to focus on those moments or processes that are produced in the articulation of cultural differences. These ›in-between‹ spaces provide the terrain for elaborating strategies of selfhood - singular or communal - that initiate new signs of identity, and innovative sites of collaboration, and contestation, in the act of defining the idea of society itself. (Bhabha 2007, 2) Einfache Konzepte bedeuten scheinbar Sicherheit, aber sie ignorieren die kontingenten Entstehungsbedingungen aller kulturellen Prägungen ebenso wie die Berechtigung der und des Anderen, anders sein zu dürfen. Sie arretieren eine Position und negieren die Freiheit der Wahl. Freiheit der Gestaltung des eigenen Lebens entsteht dadurch, zunächst einmal nicht die Freiheit anderer einzuschränken, sondern ihr Recht auf ein selbstbestimmtes, freies Leben anzuerkennen. Es gilt wahrzunehmen, dass das scheinbar Andere, das scheinbar Fremde auch eine Bereicherung des eigenen Lebens sein kann. Jim Knopf endet mit einer allegorischen Darstellung einer multiethnischen, multikulturellen Weltgesellschaft, in der Hybridität und dritter Raum <?page no="322"?> 309 c hrI Sta W olf : D er geteIlte h Immel (1963) Verschiedenheit durch gegenseitige Akzeptanz möglich und lebbar wird. Christa Wolf: Der geteilte Himmel (1963) Die berühmteste und bedeutendste Autorin der Literatur der DDR ist Christa Wolf (1929-2011). Sie hat ein umfangreiches Werk vorgelegt und ist im In- und Ausland breit rezipiert worden. Neben Günter Grass und Martin Walser hat vielleicht niemand die deutschsprachige Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der öffentlichen Wahrnehmung so sehr geprägt wie sie. Nach dem Fall der Mauer und im Prozess der Wiedervereinigung gibt es im Feuilleton eine heftige Auseinandersetzung um ihre 1990 veröffentlichte, schmale Erzählung Was bleibt, in der sie einen Tag im Leben einer namenlosen Ich-Erzählerin beschreibt, die in einer deutschen Großstadt wohnt und bespitzelt wird. Die Figur wird damals in der Literaturkritik vielfach als Alter ego der Autorin verstanden und die Erzählung als Versuch einer Entschuldigung des eigenen Verhaltens in der DDR gelesen. Christa Wolf wird sogar mehrfach der Vorwurf gemacht, als Dichterin zugleich eine Staatsdienerin gewesen zu sein: Dass Christa Wolf während der »Wende« für das Amt der Staatspräsidentin der Nach-Honecker-DDR ins Gespräch gebracht und nur wenig später von Feuilleton-Redakteuren aus der ›alten‹ Bundesrepublik als »Staatsdichterin« geschmäht wurde, verweist auf die charakteristische Verbindung von Literatur und Politik im Werk wie in der Person, die sich unmittelbar aus ihrer Auffassung von der Aufgabe der Literatur ableitet. (Meyer-Gosau 2017, unpag.) 1993 flackert die Kontroverse erneut auf, als Wolf einer Veröffentlichung von Auszügen ihrer Stasi-Akten zustimmt und sich 7.5. Streit um Christa Wolf Christa Wolf 1989, Foto: Katja Rehfeld Abb. 7.5 <?page no="323"?> 310 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart herausstellt, dass sie in jungen Jahren als IM (Informelle Mitarbeiterin) der Stasi geführt worden ist. Allerdings hat sie sich der Stasi gegenüber immer vorsichtig gezeigt und auch bald von ihr wieder distanziert. Außerdem ist sie selbst später jahrzehntelang von der Stasi bespitzelt worden. Was bleibt ist zudem so angelegt, dass die namenlose (! ) Ich-Erzählerin in einem kritischen Licht gezeigt wird, als ängstlich und unzufrieden mit ihrer eigenen Unfähigkeit, sich gegen das repressive System zur Wehr zu setzen. Der regimekritische Liedermacher Wolf Biermann formuliert zutreffend: »Es geht um Christa Wolf, genauer: Es geht nicht um Christa Wolf« (Anz 1995, 139). Die Debatte wird von ihm und von anderen als Versuch konservativer westdeutscher Kritiker gesehen, den ökonomischen und politischen Sieg der Bundesrepublik über die DDR zu nutzen, um die politisch linke, wenn auch regimekritische Literatur am Beispiel der besonders bekannten Christa Wolf pauschal zu verurteilen. Die Autorin hat seinerzeit einen Offenen Brief mit formuliert und unterschrieben, in dem die Staatsführung aufgefordert wird, die Ausbürgerung von Wolf Biermann wieder rückgängig zu machen (Hilzinger 1986, 106). Die Stasi ist gegen die Unterzeichner der sogenannten Biermann- Petition mit unterschiedlicher Härte vorgegangen und hat das Gerücht gestreut, Wolf habe ihre Unterstützung für Biermann wieder zurückgezogen (Vinke 1993, 286 ff.). Während Christa Wolfs Ansehen im Westen Deutschlands nach 1990 beschädigt bleibt, gilt sie in den ostdeutschen Bundesländern als Identifikationsfigur und auch im Ausland erfreuen sich ihre Texte ungebrochener Beliebtheit. Christa Wolf ist vor allem für ihre Romane und Erzählungen bekannt. Ihr Erstling Moskauer Novelle (1961) ist bereits ein Erfolg, aber der internationale Durchbruch kommt mit Der geteilte Himmel (1963), einer romanlangen Erzählung, die zum Hintergrund den Bau der Mauer im Jahr 1961 hat, die Errichtung des (in der offiziellen Sprache der DDR) ›antifaschistischen Schutzwalls‹, der die DDR-Bevölkerung angeblich vor dem immer noch faschistischen und zugleich kapitalistischen Westen beschützen, aber eigentlich die eigene Bevölkerung davon abhalten soll, in die zunehmend wohlhabendere und weniger repressive Bundesrepublik zu ziehen. Die Mauer gilt als eines der zentralen Symbole der Unfreiheit in der Geschichte der modernen Zivilisation. Der Roman bekommt interessanterweise Lob von beiden Sei- Wolf Biermann bezieht Stellung Erste Erfolge <?page no="324"?> 311 c hrI Sta W olf : D er geteIlte h Immel (1963) ten der Mauer. In der DDR wird er als Kritik an der westlichen Lebensweise in der Bundesrepublik und somit als Bestätigung des eigenen politischen Weges, in der BRD als Kritik an eben diesem sozialistischen, das Individuum in seiner Freiheit existentiell bedrohenden Weg gesehen. Christa Wolf jedenfalls zeigt sich zunehmend dem System gegenüber kritisch eingestellt. Auf dem berüchtigten 11. Plenum des Zentralkomitees (ZK) der SED im Jahr 1965 wagt sie es, die Kunst- und Literaturpolitik zu kritisieren und unliebsame Kollegen in Schutz zu nehmen, weshalb sie »bis zum Ende des SED-Regimes vom Staatssicherheitsdienst überwacht« wurde (Meyer-Gosau 2017, unpag.). 1968 erscheint ihr Roman Nachdenken über Christa T., der das Leben und Sterben einer jungen Frau gestaltet, in solcher Weise, dass Marcel Reich-Ranicki in seiner Besprechung behauptet: »Christa T. stirbt an der Leukämie, aber sie leidet an der DDR« (Ankum 1992, 122). Der Roman wirkt gerade deshalb so provokativ, weil er neutral erzählt ist, ohne Emotionen und Bewertungen. Auf für das weitere Werk paradigmatische Weise wird eine weibliche Figur in den Mittelpunkt gerückt, die sich nicht nur Repressionen des politischen und sozialen Umfelds ausgesetzt sieht, sondern auch einer männlich geprägten Gesellschaft, in der weibliche Emanzipation ein kaum wahrgenommenes und umso dringenderes Projekt darstellt. Christa Wolf gilt daher auch als feministische Autorin, obwohl ihr eine solche Einordnung zu eng gewesen wäre, ging es ihr doch allgemein um Herrschaftsverhältnisse (Hilmes / Nagelschmidt 2016, 168; Hilzinger 2007, 143 ff.). Kindheitsmuster (1976) ist einer der bedeutendsten autobiographischen Romane der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Autorin setzt sich in ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst, indem sie sich als Kind einen anderen Namen gibt. Die hier (selbst-)kritisch gesichtete Vergangenheit im Nationalsozialismus kann nur Ergebnis einer Konstruktionsarbeit sein, weniger einer Rekonstruktionsarbeit, dafür liegt die Zeit zu weit zurück und ist die Erinnerung zu ungenau. Während dieser umfangreiche Text das eigene Erleben fiktionalisiert, sind die fiktionalen Texte autobiographisch unterlegt, gemäß dem von Christa Wolf so benannten Konzept der ›subjektiven Authentizität‹ (Hilzinger 2007, 59 ff.). Die weiteren Texte werden immer kritischer, nicht dem Konzept des Sozialismus, sondern seiner Umsetzung in der DDR gegenüber. Kein Ort. Nirgends (1979) handelt von einem fiktiven „Nachdenken über Christa T.“ „Kindheitsmuster“ „Kein Ort. Nirgends“ <?page no="325"?> 312 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Treffen von zwei realen Autoren der Zeit der Romantik, Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist, die beide keinen Platz in ihrer Gesellschaft finden. Die Übertragung auf die Verhältnisse in der DDR liegt nahe, angesichts der strikten Zensurbestimmungen des zweiten deutschen Staates ist aber nur eine metonymische Darstellung möglich. Die konkreten Auswirkungen aktueller Ereignisse zeigt Christa Wolf dann auf überraschend offene Weise in ihrem Roman Störfall. Nachrichten eines Tages (1987), der aus Sicht einer Ich-Erzählerin die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl diskutiert; die Ukraine ist damals Teil der UdSSR und steht somit unter der Oberhoheit Moskaus. Der Roman gestaltet eine existentielle Erschütterung, die viele Menschen der Zeit in Ost und West empfunden haben. Das Thema ist brisant, handelt es sich doch um ein Ereignis, das in den westlichen Ländern als Beispiel für das Versagen der sozialistisch-diktatorischen Strukturen im Ostblock gewertet wird. Weltberühmt wird Christa Wolf durch ihre Erzählung Kassandra (1983). Mit der titelgebenden Figur aus der antiken Literatur, die zwar in die Zukunft sehen kann, der aber niemand Glauben schenkt, wird das patriarchalische Verhältnis von Mann und Frau literarisch-historisch ebenso reflektiert wie, in der Entgegensetzung von Troja und Griechenland, das politische Verhältnis von Ost- und Westdeutschland. Das Fehlverhalten aller Figuren trägt zur Katastrophe bei und die politischen Ordnungsmuster, auf denen die beiden Staaten aufruhen, erscheinen als defizitär. Eine ähnliche Konstellation wählt die Autorin noch einmal. Wieder ist es in Medea. Stimmen (1996) eine Figur aus der antiken Mythologie, die zur Haupt- und Titelfigur wird. In den beiden griechischen Staaten Kolchis und Korinth werden die politischen Konzepte, die der DDR und der BRD unterlegt sind, ein weiteres Mal kritisch gesichtet und verworfen. Frei sein kann die Hauptfigur in keinem der gezeigten Systeme. Der Diskurs über die Freiheit als die (Un-)Möglichkeit, in der gezeigten Gesellschaft frei zu sein, durchzieht das Werk wie das Leben Christa Wolfs und ist bereits im Titel von Der geteilte Himmel präsent. Der Roman wird im Jahr nach seinem Erscheinen von Konrad Wolf (1925-82) für die DEFA verfilmt, Christa Wolf und ihr Mann Gerhard (geb. 1928) arbeiten am Drehbuch mit. Wegen seiner ästhetischen Qualität hoch gelobt, wird der Film in der DDR mehrfach verboten. Die Handlung von Der geteilte Himmel ist doppelt gerahmt. Die „Kassandra“ Der Rahmen <?page no="326"?> 313 c hrI Sta W olf : D er geteIlte h Immel (1963) Protagonistin Rita Seidel wacht in einem Krankenhaus auf, sie ist knapp dem Tod entronnen und es wird angedeutet, dass sie, aus einer Kurzschlusshandlung heraus, Selbstmord begehen wollte. Die Gründe sind privater und politischer Natur: Ihr Freund Manfred Herrfurth ist in den Westen gegangen und sie ist ihm nicht gefolgt. Zugleich hat sie als hospitierende Studentin in einem Waggonwerk die Erfahrung machen müssen, dass die Verhältnisse in der Produktion teilweise menschenunwürdig sind und Ungerechtigkeiten hervorrufen. Christa Wolf hat selbst »als Mitglied einer Brigade im VEB Waggonbau Ammendorf den Arbeitsalltag« kennen gelernt und »zusammen mit ihrem Mann einen Zirkel schreibender Arbeiter« geleitet (Hilzinger 2007, 78). Der Roman beginnt mit einer allgemein gehaltenen Situationsschilderung, die einen äußeren Rahmen bildet (WH, 7), und mit dem Einbruch der Zeitgeschichte in das Private, wenn bei dem etwa 21jährigen (WH, 14) »Mädchen Rita Seidel« die Erinnerung wiederkehrt: »Jener Punkt auf den Schienen, wo ich umkippte. Also hat irgendeiner der beiden Waggons noch angehalten, die da von rechts und links auf mich zukamen« (WH, 9). Hierbei handelt es sich wohl um eine intertextuelle Anspielung auf den Roman Mutmassungen über Jakob (1959) von Uwe Johnson (1934-84), der im Jahr des Erscheinens von der DDR in die Bundesrepublik emigriert ist. Sein Protagonist stirbt auf unerklärliche Weise beim Überqueren der Gleise und es liegt nahe, als symbolische Ursache seines Todes das repressive DDR-System zu vermuten. Wolfs assoziatives Erzählen scheint an Johnsons innovativer Form geschult zu sein. Rita hat bereits als Fünfjährige einen radikalen Wechsel erfahren. Mit Kriegsende muss sie mit ihrer Mutter »aus den böhmischen Wäldern« fliehen, zu einer Tante »in einem mitteldeutschen Dorf« (WH, 14). Der Vater gilt als vermisst, Mutter und Tochter haben kein leichtes Leben (WH, 15). »Tagsüber arbeitete Rita, abends las sie Romane, und ein Gefühl der Verlorenheit breitete sich in ihr aus. Da traf sie Manfred, und auf einmal sah sie Sachen, die sie nie gesehen hatte« (WH, 16). Manfred ist zehn Jahre älter, kommt aus einem großbürgerlichen Elternhaus (WH, 19) und ist mit seinem Vater zerstritten (WH, 27). So wird Trennendes markiert und bereits auf die Trennung vorausgedeutet, obwohl Rita das Gegenteil hofft und erwartet: »Alles war möglich, nur daß sie sich wieder verloren, war unmöglich« (WH, 21). Ein »Bevollmächtigter für Lehrerwerbung« namens Erwin Rita trifft Manfred <?page no="327"?> 314 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Schwarzenbach kommt in Ritas Dorf und sie beschließt, Lehrerin zu werden (WH, 21 ff.). Rita zieht zu Manfred, sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die ihren Sohn eifersüchtig bewacht. Manfred selbst fühlt sich in seinem Elternhaus auf extreme Weise unfrei: »An einem kühlen Aprilsonntag, als sie einzog, zeigte Manfred seiner künftigen Frau die Wohnung seiner Eltern. ›Mein Lebenssarg. Eingeteilt in Wohnsarg, Eßsarg, Schlafsarg, Kochsarg‹« (WH, 27). Ritas Leben entwickelt sich hingegen zu mehr Selbständigkeit und Freiheit, auch mit der Hilfe von Manfreds Vater, der »kaufmännischer Direktor im Waggonwerk« ist und ihr dort, neben dem Studium, eine »Arbeitsstelle besorgt« (WH, 34). Auf der anderen Seite steht die offene Feindschaft, die ihm sein Sohn und seine Frau entgegenbringen: »›Ulrich? Dein Parteiabzeichen hängt an der Garderobe.‹ Herr Herrfurth war Meister in der Kunst des Überhörens« (WH, 40). Herr Herrfurth ist dafür verantwortlich, dass Ritas guter Freund aus dem Waggonwerk, Rolf Meternagel, seine Stelle als Meister verloren hat und nun in einer Brigade arbeiten muss (WH, 48 f.). Manfreds Familiengeschichte weckt bei Rita und somit auch beim Leser Sympathie für ihn (WH, 49 ff.), dazu zählt auch die Erfahrung, aus politischer Motivierung durch einen besten Freund verraten worden zu sein. Als Manfred »Fehler im Studienbetrieb« zur Sprache brachte, wandte sich dieser linientreue Freund gegen ihn (WH, 159). Folglich wird für Manfreds Entschluss Verständnis geweckt, in den Westen zu gehen (WH, 190). Manfred gehört zudem zu jener Generation, die den Krieg und die Mitschuld der Eltern am eigenen Leib erfahren hat: »In irgendeiner der fünfundvierziger Aprilnächte hat meine Mutter das Führerbild verbrannt« (WH, 53). Gegenüber Rita stellt er fest: »Komisch: Irgendwo zwischen ihr und mir fängt die neue Generation an. Wie soll sie begreifen, daß man uns alle frühzeitig mit dieser tödlichen Gleichgültigkeit infiziert hat […]? « (WH, 52). Da sich die DDR als antifaschistischer Staat definiert, sind solche kritischen Töne gegen die fehlende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit mutig. Neben der privaten spitzt sich auch die politische Lage weiter zu. Der Werkleiter des Waggonbau-Betriebs geht nach Westberlin und spricht im westlichen Rundfunk, der »Wahres, Erlogenes, Halbwahres« über die Zustände im Betrieb verbreite. Der ehemalige Werkleiter grüße die Arbeiter, »deren freiheitliche Gesinnung er kenne, […] aus dem glücklicheren Teil Deutschlands und stelle Private, berufliche und politische Krisen <?page no="328"?> 315 c hrI Sta W olf : D er geteIlte h Immel (1963) ihnen anheim, das gleiche zu tun wie er selbst« (WH, 62). Als Manfred die DDR verlässt, läuft der Riss nicht nur durch die Beziehung, sondern auch durch die Familie: Frau Herrfurth konnte die Flucht ihres Sohnes nur als Signal für sich selbst deuten. Sie verlangte von ihrem Mann, sofort alle Brücken hinter sich abzubrechen. Ich hab alles vorbereitet, innerhalb von zwei Stunden können wir fliehen … »Fliehen? « sagte Herr Herrfurth. »Warum denn? Und wohin? « Mann Gottes - er weiß es nicht! In die Freiheit - endlich! Und wäre es nur, weil Eltern zu ihrem Kind gehörten. »Wer weiß, ob dieses Kind Wert auf seine Eltern legt«, sagte Herr Herrfurth. (WH, 191) Die Krise im Großen zeigt sich in der Krise im Kleinen, in der Beziehung einerseits, im Betrieb andererseits. Rolf Meternagel erläutert: »›Wenn keiner sich verantwortlich fühlt und jeder nur in seinem kleinen Eckchen kramt, und das bis hoch hinauf in die Leitung, dann muß aus vielen kleinen Schweinereien eines Tages die ganz große Schweinerei werden‹« (WH, 63). Meternagels eigene »Degradierung« ist Teil dieses Systemproblems, denn er ist von einer Stelle abgezogen worden, »die wie für ihn gemacht schien« (WH, 69). Die Hoffnung ruht auf dem neuen Werkleiter Ernst Wendland, der den Betrieb wieder wettbewerbsfähig macht (WH, 72). Unter seiner Leitung wird Manfreds Vater nicht entlassen, aber »als Hauptbuchhalter« eingesetzt (WH, 177). Meternagel wird wieder zum Meister befördert (WH, 231). Wendland ist die Vorbildfigur des Romans. Er ist nur zwei Jahre älter als Manfred (WH, 124) und es wird eine mögliche Beziehung zwischen ihm und Rita irgendwann in der Zukunft angedeutet (WH, 102, 179). Zunächst fällt Ritas Analyse der Gegenwart aber ernüchternd aus: »Hat er [Manfred] also recht behalten, fragte sie sich, wenn er immer sagte: Heutzutage ist Liebe nicht möglich. Keine Freundschaft, keine Hoffnung auf Erfüllung« (WH, 106). Auch die Erfahrungen mit Studium und Beruf werden im Romanverlauf erst immer negativer. Im Unterricht wird so weit auf Linientreue geachtet, dass selbst die Dozenten nicht sicher sind. Der ideologie- und machtbessene Mitschüler Mangold kontrolliert alle (WH, 116 f.) und droht auch Rita, weil sie weiß, dass der Vater einer Mitschülerin in den Westen gegangen ist und es für sich behalten hat (WH, 147). Allerdings widerspricht Erwin Schwarzenbach Mangold, als dieser eine anklagende Rede hält, und versucht, ihn Meternagels Degradierung Linientreue <?page no="329"?> 316 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart positiv zu beeinflussen: »Schwarzenbach warf sein ganzes Leben in die Waagschale, für sie, seine Schüler« (WH, 157). Schwarzenbach erkennt, dass auch Mangold nur »ein verletzbarer Mensch« ist (WH, 158). Der Lehrer-Ausbilder ist neben Wendland und Meternagel die positive männliche Identifikationsfigur des Romans (WH, 157). Auch sind auf der anderen Seite der noch zu bauenden Mauer die Verhältnisse nicht so golden, wie sie im Osten kolportiert werden. Rita besucht Manfred in Westberlin: »Sie unterdrückte eine Verwunderung darüber, daß dieses Haus - ein Dutzendmiethaus in einer einförmigen Großstadtstraße - das Ziel der Sehnsüchte und der Flucht eines Menschen sein konnte« (WH, 205). Auch Manfred kann nurmehr »spöttisch« feststellen: »›Die freie Welt liegt dir zu Füßen‹« (WH, 208). Nachdem Rita aus dem Krankenhaus entlassen wird, ist ihre Zukunft wieder offen: »Der Tag, der erste Tag ihrer neuen Freiheit, ist fast zu Ende« (WH, 241). Sie kann, hier schließt sich der Rahmen zum Anfang, ihr Leben weiter gestalten und aus den Erfahrungen auch Kraft für die Zukunft schöpfen: »Das wiegt alles auf: Daß wir uns gewöhnen, ruhig zu schlafen. Daß wir aus dem vollen leben, als gäbe es übergenug von diesem seltsamen Stoff Leben. Als könnte er nie zu Ende gehen« (WH, 241). Der geteilte Himmel ist nicht nur durch die vielen Brüche und Perspektivwechsel ein ungewöhnlicher Text, er ist auch metafiktional. Die Erzählung thematisiert sich selbst als Erzählung, schon ganz am Anfang, wenn Rita dafür plädiert: »›Wir lassen den Roman einfach ablaufen‹« (WH, 17). Dazu kommen Stellen wie aus dem Gespräch von Rolf Meternagel und Rita: »›Wir bauen jetzt zwölf Fenster pro Schicht.‹ Das sagt er so hin, aber beide wissen: Hinter so einem Satz steckt ein ganzer Roman. Leidenschaften, Heldentaten, Intrigen - was man sich nur wünscht« (WH, 43). Als Wendland mehr Leistung von Ritas Brigade verlangt, aber nur ein »Vielleicht« erwidert bekommt, sagt er: »›Vielleicht ist Romanstil‹« (WH, 237). Solche Anspielungen auf den Konstruktionscharakter der geschilderten Wirklichkeit geben dem Leser die Freiheit, über die Konzeption des Romans nachzudenken und sich zu überlegen, ob es nicht besser wäre, Menschen durch Freiwilligkeit, durch das Vermitteln von positiven Erfahrungen und Zukunftshoffnungen, wie unvollkommen sie auch immer sein mögen, zum Bleiben zu bewegen und nicht durch Zwang, durch den Bau einer Mauer und die Teilung des Himmels. Westberlin Merkmale der Foren <?page no="330"?> 317 u We t Imm : h eI SSer S ommer (1974) Uwe Timm: Heißer Sommer (1974) Für den Literaturkritiker Ulrich Greiner ist Uwe Timm (geb. 1940) der bedeutendste Autor, der den Georg-Büchner- Preis nicht bekommen hat: »Unter denen, die ihn gekriegt haben, sind nicht wenige, die Uwe Timm und seinem Werk nicht das Wasser reichen können« (Greiner 2001, 3). Timm schreibt vor allem Romane, die sich mit Zeitgeschichte auseinandersetzen, allerdings in einer Weise, die stets und vor allem nach der Möglichkeit individueller Freiheit in einem gegebenen gesellschaftlichen Rahmen fragt. Wie Heißer Sommer handelt auch Kerbels Flucht (1980) von den Folgen der Studentenrevolution, während Der Schlangenbaum (1986) - die Geschichte eines Ingenieurs, der mit seinen sehr deutschen Vorstellungen in einem südafrikanischen Land beruflich und privat scheitert - als früher Roman über die Globalisierung gelesen werden kann. Kopfjäger. Bericht aus dem Inneren des Landes (1991) ist ein Zeitroman, in dem sich die verschiedenen Diskurse kreuzen, die in Timms Romanen immer wiederkehren, darunter die Auswirkungen der Studentenrevolution und Fragen der globalen Ökonomisierung und ihrer Geschichte. Zugleich setzt Timm sein schon in Heißer Sommer auffallendes Verfahren fort, mit Zitaten nicht nur aus ganz unterschiedlichen Texten zu arbeiten, mit literarischen und philosophischen ebenso wie aus Songs der aktuellen Popmusik (SO, 225 ff.), ein Verfahren, das eigentlich erst mit der sogenannten Popliteratur ab 1995 zu einer gängigen Praxis in der Literatur wird und seine Vorläufer in der Moderne hat, wenn man an Döblins Berlin Alexanderplatz denkt. Viel beachtet worden ist die Novelle Die Entdeckung der Currywurst (1993), die im Hamburg der Gegenwart und zugleich der späten Kriegsjahre spielt und so einen zeitgeschichtlichen Bogen schlägt. Der Roman Johannisnacht (1996) legt den Schwerpunkt 7.6. Timms Romane und Erzählungen Gedichte und Gegenwart Uwe Timm, 2005 Abb. 7.6 <?page no="331"?> 318 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart auf die Folgen der Wiedervereinigung, auch wenn es, wie stets bei Timm, vor allem um die Auswirkungen der Ereignisse auf die individuelle Erfahrungswelt der Figuren geht. Der umfangreiche Roman Rot (2001) spielt im Berlin der Gegenwart und führt historische wie zeitgeschichtliche Prägungen zusammen. Die Geschichte des Kaiserreichs, des Nationalsozialismus und der Studentenbewegung haben ihre Spuren in der Stadt wie in dem Leben der Figuren hinterlassen. Der Beerdigungsredner Thomas Linde, ein Alt-68er, stirbt, doch seine deutlich jüngere Geliebte, die für die Generation nach 1968 steht, wird ein Kind von ihm bekommen. Die nächsten Werke sind wieder Blicke zurück, autobiographisch gefärbt in Am Beispiel meines Bruders (2003) über die Verstrickungen der eigenen Familie in die NS-Geschichte und in Der Freund und der Fremde (2005) über die Freundschaft mit dem 1967 von einem Polizisten bei einer Demonstration getöteten Studenten Benno Ohnesorg (ein Auslöser der Studentenrevolution), im Unterschied dazu an historischen Begebenheiten orientiert in Halbschatten (2008). In die Gegenwart kehrt Timm mit Vogelweide (2013) zurück; der Roman hat ein Goethes Wahlverwandtschaften ähnelndes Konzept. Timm hat auch Romane für Kinder geschrieben, der bekannteste dürfte Rennschwein Rudi Rüssel (1989) sein, 1995 auch als Kinofilm erfolgreich. Zu den besonders bedeutenden Romanen der Literatur der letzten Jahrzehnte gehört zweifellos Morenga (1978), ein mit zahlreichen einmontierten Zitaten und Dokumenten arbeitender Collage-Roman über die deutsche Kolonialgeschichte. Auch hier ist, in einem elementaren Sinn, Freiheit das Thema. Titelfigur ist ein Freiheitskämpfer namens Morenga, der den Genozid der deutschen Kolonialtruppen in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, zu verhindern versucht und diesem Versuch zum Opfer fällt. Timm hat in einem Sachbuch mit dem Titel Deutsche Kolonien die Bedeutung der Ökonomie für den Prozess der Kolonisierung betont: […] die Ideologie der Kolonisatoren […] entspringt dem ökonomischen Denken und wird von einem fraglosen Überlegenheitsgefühl bestimmt, das sich wiederum im technischen Fortschrittsglauben gründet. So wird für den Kolonisator jede andere Lebensform zum schlechthin Anderen, Fremden, Primitiven, ohne daß er überhaupt in der Lage wäre, diese andere Kultur in ihrer Eigenart als reich und kompliziert zu verstehen. (Timm 1981, 10) Autobiographische Erzählungen „Morenga“ <?page no="332"?> 319 u We t Imm : h eI SSer S ommer (1974) Auch in Morenga wird ein kritisch-distanzierter Diskurs über die Rolle der Ökonomie geführt. Eine Figur, die den Eingeborenen Branntwein verkauft, gibt sich als Schüler von Adam Smith aus (Timm 1998b, 172). Der Branntwein ist das Mittel, »die Afrikaner […] zu betäuben und gefügig zu machen« (Timm 1998b, 265). Er wird zum Motor der Kapitalisierung und er ist die Antwort auf die Frage: »Alles stehe bereit, aber wie bringe man die müden Glieder zum Tanzen? « (Timm 1998b, 173). Damit spielt der Roman ironisch auf ein berühmtes Zitat von Karl Marx an: »[…] man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen« (Marx / Engels 2000, 548). Heißer Sommer ist nicht nur Timms Romandebüt, sondern der wohl wichtigste Roman über die Studentenrevolution von 1968. Es geht um die Befreiung der Jüngeren von der konvervativen Herrschaft der Älteren. Im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG), das an dieser Stelle nachdrücklich für die Beschäftigung mit Autoren der Zeit nach 1945 empfohlen werden soll, findet sich eine instruktive Zusammenfassung: Am Anfang begegnen wir einem enttäuschten Germanistikstudenten, der lustlos an einem Referat über Hölderlin sitzt, Schwierigkeiten mit der Freundin hat und seine Lebensleere mit wechselnden Bettgenossinnen zu betäuben sucht. Der Tod von Benno Ohnesorg in Berlin anläßlich des Schah-Besuchs ist für Ullrich Krause die politische Initialzündung: Schon tags darauf kauft er sich Nirumands Persien- Buch, beteiligt sich bald auch an Demonstrationen und Vorlesungsstörungen, tritt dem SDS bei, zieht in eine Wohngemeinschaft, hilft in Hamburg das Denkmal eines deutschen Afrika-Imperialisten stürzen und nimmt schließlich, nach dem Attentat auf Dutschke, an den Anti-Springer-Demonstrationen teil. Die Arbeit über Hölderlin wird aufgegeben zugunsten einer Beschäftigung mit der Arbeiterliteratur der zwanziger Jahre. Krause folgt seiner Einsicht: ›Man muß nach der Arbeit ein anderer sein.‹ […] Doch Seminarmarxismus und der zunehmend rigide Dogmatismus der SDS-Gruppen führen zu neuen Frustrationen. Krause sucht einen anderen Weg, spielt Straßentheater vor Fabriken, arbeitet selber in einer Fabrik und lernt endlich wirkliche Arbeiter kennen, über die er zuvor nur abstrakte Kenntnisse besaß. Durch sie begreift er den Sinn reformerischer Arbeit, die Bedeutung Das Romandebüt über die Studentenbewegung <?page no="333"?> 320 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart der kleinen politischen Schritte, die Notwendigkeit des ›langen organisierten Weges in die Betriebe, in die Schulen, in die Universitäten, in die Wohngebiete‹. Am Ende des Buches kehrt Krause nach München zurück, ernüchtert zwar, aber gefestigt, Herbert Marcuses Verheißung - die auf der letzten Seite zitiert wird - vor Augen: ›Es gibt ein realisierbares Glück für alle: Eine befriedete Welt, eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung.‹ / ›Heißer Sommer‹ trägt in fast schon zu musterhafter Weise die Merkmale eines Entwicklungsromans. (Kesting / Ruckaberle 2017, unpag.) Der Roman entfaltet ein Panorama der Zeit und der Gesellschaft, deren Umbrüche in den Lebensläufen der Figuren gespiegelt werden. Es ist kein Zufall, dass Ullrich Germanistik studiert und Lehrer werden will, zunächst ohne sich seines Berufswunsches sicher zu sein (SO, 29). Er muss erst lernen, dass der Lehrerberuf eine Möglichkeit sein kann, die Gesellschaft zumindest im Kleinen zu verändern. Es sind die alten, patriarchalen Strukturen an der Universität und in der Familie, die Ullrich zu schaffen machen, deshalb hat er Schwierigkeiten, seine Ansprüche an individuelle Freiheit mit den Anforderungen seiner Außenwelt abzugleichen und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Die Vätergeneration ist auch die Täter- oder zumindest die Mitläufergeneration (SO, 15, 108, 172). Ullrichs Vater erzählt gern Kriegserlebnisse, die für ihn positiv sind (SO, 15). Die Professoren treten wie kleine Fürsten auf: »Vorn am Tisch geht sein Assistent schnell an ihm vorbei und zieht den Stuhl unter dem Tisch hervor, auf den er sich setzt, ohne dabei den Assistenten anzusehen« (SO, 36). Petersen, der als einziger der Anführer der Bewegung vom Roman als unabhängig und seriös dargestellt wird, stellt fest: »Der Kampf um den Abbau der irrationalen Herrschaftsansprüche der Ordinarien und die Aufhebung der autoritären Arbeitsweise in den Seminaren und bei Forschungsobjekten müsse vorangetrieben werden« (SO, 128 f.). Dabei stellt sich auch heraus, dass einige der Dozenten braunen Dreck am Stecken haben (SO, 134). Die Geschehnisse werden neutral oder aus der Perspektive der Figuren berichtet. Teilweise hat der Text Zitat- und Montagecharakter, etwa in den einmontierten Sprüchen eines Unbekannten: »Eiffe der Bär fordert Durchblick für alle« (SO, 129), oder in dem Telegramm über das Attentat auf Rudi Dutschke (SO, 203). Die Grenzen zwischen Zitat und fiktionaler Realität werden fließend, Ein Panorama der Zeit und Ereignisse Väter als Täter <?page no="334"?> 321 u We t Imm : h eI SSer S ommer (1974) wenn eine Beziehung zwischen den Sprüchen eines Unbekannten und einem der bekanntesten Dramen Goethes hergestellt wird: »Ein Eiffespruch liefert mehr als die ganze Iphigenie« (SO, 158). Ullrich Krauses Krise wirkt sich zunächst auf die Beziehung zu seiner Freundin Ingeborg aus, die schließlich sogar abtreibt: »Du mit deinen Gefühlslehrjahren, hatte sie gesagt« (SO, 42). Ullrich muss Geld für die Abtreibung beschaffen und wird so zum ersten Mal mit harter Arbeit konfrontiert (SO, 78). Ullrich lernt Christa kennen, hier findet sich ein Werther-Zitat: »Draußen hörte man wieder den Donner, schon entfernter und nicht mehr so laut. Lotte, flüsterte er. Sie sah ihn fragend mit ihren ruhigen blauen Augen an, lächelte dann und flüsterte: Klopstock« (SO, 67). Nachdem Ullrich von München nach Hamburg gewechselt hat, ist er bei den Protesten an vorderster Front mit dabei, aber als ein ›mittlerer Held‹, nicht als einer der Wort- oder Anführer, die ihre Motive klar benennen: Lassen wir beizeiten die Tabus auffliegen, mit denen sie, die Herrschenden in diesem Land, ihre Herrschaft in unserem Bewußtsein wie mit einem Minengürtel abgesichert haben. Sprechen wir über die Klassengegensätze in unserer formierten Gesellschaft, decken wir die Formen der Ausbeutung in unserem Land auf. Zerstören wir die künstlich erzeugte Selbstzufriedenheit der Bürger in diesem Staat und denunzieren wir die Nutznießer dieser Selbstzufriedenheit. Der Unmut an diesem System soll wachsen. […] Stellen wir bisher unbefragte Autorität in Frage. (SO, 121 f.) Die Kritik des Romans richtet sich allerdings genauso gegen die Auswüchse der Studentenbewegung und die Bigotterie ihrer Vertreter. Ullrich lebt vom Geld seines Vaters und Conny kann sich seine Radikalität nur leisten, weil sein Vater »Oberlandesgerichtsdirektor« ist (SO, 167). Nottkers Vater ist »Universitätsprofessor in Kiel« (SO, 229). Renate bekommt von ihren Eltern zum Abitur »einen Minicooper« geschenkt (SO, 248). Der Protest wird im Roman bereits in Zweifel gezogen, bevor er überhaupt richtig begonnen hat. So kritisch Ullrich seinen Dozenten gegenüber ist, so merkwürdig findet er die neue Situation im Hörsaal: »Wie ihm plötzlich auch diese hektische Aufregung hier albern vorkam. Wie eine Schulklasse ohne Lehrer, dachte er« (SO, 118). Später wird sich ein Teil der Gruppe radikalisieren - eine Vorausdeutung auf die RAF. So wird Conny, einer Auswüchse und Abhängigkeiten <?page no="335"?> 322 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart der Wortführer des Aufstandes und Freund Ullrichs, »einen Revolver aus der Jackentasche« ziehen (SO, 329), was Ullrich ebenso erschreckt wie das »nervös verkniffene Gesicht«, das Conny dabei macht (SO, 330). Dennoch werden viele Aktionen vom Roman nicht kritisch bewertet, etwa der Sturz des Wissmann-Denkmals (SO, 149), der zugleich eine Brücke zu Morenga schlägt. Das Wissmann-Denkmal sollte den 1905 verstorbenen Gouverneur der Kolonie Deutsch-Ostafrika ehren. Mit dem Sturz des Denkmals wird gegen die andauernden totalitären Tendenzen in der Gesellschaft protestiert. Allerdings wird sich Ullrichs Hoffnung nur teilweise bewahrheiten: »Er hatte das Gefühl, als müßte danach alles anders sein« (SO, 149). Der Roman setzt das von Horkheimer / Adorno in der Dialektik der Aufklärung, von Lyotard, Foucault und anderen beschriebene, von Ulrich Beck so benannte Konzept einer ›reflexiven Moderne‹ bereits auf formaler Ebene um, durch die Erzeugung von Distanz durch neutrales Erzählen und Montagecharakter. Der Roman reflektiert sich zugleich selbst, etwa wenn die Grenzen des mit den Mitteln der Literatur Sagbaren angesprochen werden: Ich hab versucht, mir vorzustellen, wie das wäre, eine Welt, in der niemand gequält würde. Ein ruhiges, anhaltendes Glück wie in einem heißen Sommer, wenn man in einer tiefen Wiese liegt und über sich die Wolken ziehen sieht. Als ich älter wurde, habe ich nicht mehr daran denken mögen. Da war dann dieses Wort Kitsch dazwischen. (SO, 338) Die Passage erinnert an die berühmte, später entstandene Stelle aus Ecos Nachschrift zum ›Namen der Rose‹ (1983, dt. 1984): Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: »Ich liebe dich inniglich«, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: »Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich«. (Eco 2007, 78) Timms Roman verfährt wie dieser kluge Mann. Er kann nicht einfach ein »ruhiges, anhaltendes Glück« als anzustrebendes Ideal entwerfen, aber er kann es andeuten, wenn der Entwurf durch Reflexion und Montage <?page no="336"?> 323 u We t Imm : h eI SSer S ommer (1974) einen Reflexionsprozess gegangen ist. Darin besteht das postmoderne Dilemma, aber auch die produktiv genutzte Möglichkeit, durch Reflexion über die eigenen Bedingtheiten zu einem bewusst freien Umgang mit den Möglichkeiten der Literatur und des Lebens zu gelangen. Deshalb kann Petersen sagen: »Es gibt eine konkrete Utopie und es gibt ein realisierbares Glück für alle: Eine befriedete Welt, eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung« (SO, 174). Dafür steht metonymisch der Umgang mit Literatur, den Ullrich erst lernen muss. Am Anfang zählen für ihn die Klassiker genauso zum Zwangssystem wie die Professoren und sein Vater (SO, 11). Später wird er seine Meinung ändern und weiter studieren (SO, 327 f.). Dadurch kommt Ullrich zu einem anderen Gebrauch von Literatur als seine Eltern, deren Bücherregal vor allem der Repräsentation dient, in dem aber auf verräterische Weise die wohl nicht gelesenen Klassiker neben der vermutlich gelesenen Trivialliteratur stehen: »Diesen klobigen Eichenschrank mit den Voluten an Ecken und Türen und den dreifach kanellierten Leisten. Hinter bräunlich bleigefaßtem Glas Bücher, Goethe und Schiller, Goldlettern in Leder geputzt. Daneben Simmel und Dwinger« (SO, 105). Ullrichs Vater sieht Freiheit als die Freiheit, Autoritäten zu folgen, und Ullrichs Mutter folgt seinem Vater. Ullrich selbst muss erst seinen Weg zur individuellen Freiheit finden, der ihn von München nach Hamburg und wieder zurück nach München führt. Nachdem er durch die Arbeit in der Fabrik gelernt hat, dass Bildung der Schlüssel zur Veränderung ist, will er Lehrer werden (SO, 327). Freiheit wird hier klar abgegrenzt von der Übernahme vorgefertigter Konzepte einerseits, die scheinbare Sicherheit vermitteln, und von einem orientierungslosen Dahinleben, einem keine Verantwortung übernehmenden Leben andererseits. Freiheit wird mit Bildung enggeführt, der Weg zur Freiheit kann durch die Vermittlung von Bildung eröffnet werden. Das ist eine nicht nur weit über die Konzepte der Studentenrevolution hinausgehende, ebenso einfache wie einleuchtende Diagnose aus dem literarischen Blick auf die Zeitgeschichte und auf den Weg, der zu ihr geführt hat. Ein Lernprozess Freiheit und Autorität Die Bedeutung der Bildung <?page no="337"?> 324 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Martin Walser: Ein fliehendes Pferd (1978) Martin Walser (Jahrgang 1927) ist einer der international bekanntesten und bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Wenn man die imposante Zahl der Werke und ihre großen Beachtung im Feuilleton sieht, dann lassen sich ihm für etwa vier Jahrzehnte, von der zweiten Hälfte der 1950er Jahre bis 1998, nur wenige Autorinnen und Autoren - wie Christa Wolf und Günter Grass - an die Seite stellen. Einen Karriereknick könnte man nennen, was in der Folge der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahr 1998 geschieht. Walsers Rede in der Paulskirche erregt großes Aufsehen, weil man in ihr eine Relativierung des Holocaust sieht, obwohl Walser eigentlich für eine lebendige Erinnerung an die NS-Zeit und die Judenvernichtung plädieren will: »Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung« (Walser 1999, 13). Jeder müsse sich vor dem eigenen Gewissen verantworten und könne nicht durch »öffentliche Gewissensakte« entlastet werden (Walser 1999, 14). Es gibt einige Formulierungen in der Rede, die missverstanden werden konnten, beispielsweise: »Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird.« Überhört und überlesen werden dagegen klare Positionsbestimmungen wie: »Ich habe es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen.« Und weiter: »[…] kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum« (Walser 1999, 11). Für Schlagzeilen sorgt der Vorwurf des damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis, Walser habe mit sich seiner Rede der »geistigen Brandstiftung« schuldig gemacht (Schirrmacher 1999, 34). Als Walser 2002 in dem Roman Tod eines Kritikers, wie in früheren Werken auch schon, den prominenten Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki parodiert, wird er von Frank Schirrmacher (1959-2014), einem der Zöglinge Reich-Ranickis (der als Jude nur knapp das Warschauer Ghetto überlebte) und durch dessen Vermittlung auch einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in eben dieser Zeitung des Antisemitismus bezichtigt (Neuhaus 2004). Der Vorwurf machte Schule, beispielsweise mit 7.7. Die Friedenspreisrede „Tod eines Kritikers“ <?page no="338"?> 325 m artIn W alSer : e In flIehenDeS P ferD (1978) der 2005 erschienenen Dissertation von Matthias N. Lorenz, der versucht, die antisemitische Schreibweise als durchgängiges Muster im Werk Walsers zu etablieren (Lorenz 2005). Die Arbeit ist in vielen Feuilletons besprochen worden, überwiegend allerdings kritisch bis ablehnend. Dennoch hat der Vorwurf deutliche Spuren in der Rezeption hinterlassen, wie beispielsweise der, angesichts der Bedeutung des Autors vergleichsweise kurze und dabei den genannten Aspekt besonders betonende, Artikel in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia zeigt. 2 Versuche von renommierten Fachkollegen, den Roman Tod eines Kritikers als keineswegs antisemitische und als ernstzunehmende literarische Leistung zu würdigen (Borchmeyer / Kiesel 2003), scheinen wenig gefruchtet zu haben. Dabei hat sich Walser sehr früh und als einer der ersten prominenten Autoren in Aufsätzen und anderen Publikationen für eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit eingesetzt, besonders prägnant in den Aufsätzen Unser Auschwitz von 1965 und Auschwitz und kein Ende von 1979 (Borchmeyer / Kiesel 2003, 46 f.). Vermutlich war er deshalb so überrascht von den Vorwürfen. Dass er, der als stur gilt, sich geweigert hat, sich für die missverstandenen Formulierungen zu entschuldigen oder den Vorwürfen mit Erklärungen zu begegnen, hat sicher nicht geholfen. Walser ist ein unangepasster Individualist aus Überzeugung: »Er will niemanden bevormunden und zu seiner Denkweise zwingen, wird aber behandelt, als wäre er ein Gefolgschaft gebietender Dogmatiker. Dabei rechnet er sich im Zweifelsfall lieber den ›Unrichtigen‹ zu, um nicht als Rechthaber aufzutreten« (Magenau 2005, 519). Walser hat über Franz Kafka promoviert und als junger Autor bereits den renommierten Preis der Gruppe 47 erhalten, mit einer Erzählung aus dem Band Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten (1955). Es folgen der viel beachtete Roman Ehen in Philippsburg (1957), ein kritischer Zeitroman aus der frühen Phase der Bundesrepublik, und der umfangreiche, in einem Panorama der Zeit auch die deutsche Geschichte verarbeitende Roman Halbzeit (1960), der wohl am ehesten Grass’ Blechtrommel an die Seite zu stellen ist. Auch auf die zahlreichen weiteren Romane - etwa den 2 Vgl. URL: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Martin_Walser (abgerufen am 18. 1. 2017). „Unser Auschwitz“ Anfänge <?page no="339"?> 326 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Campus-Roman Brandung von 1985, den die deutsche Teilung thematisierenden Roman Die Verteidigung der Kindheit von 1991 sowie den autobiographischen Roman Ein springender Brunnen von 1998 - und auf die seinerzeit sehr erfolgreichen Theaterstücke, etwa das Ehedrama Die Zimmerschlacht von 1967, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Die Frage individueller Freiheit steht im Zentrum des Walserschen Werks, das Figuren stark psychologisiert und sich für die Motive ihres Handelns interessiert, ein Handeln, das oft widersprüchlich und destruktiv ist. Die Hauptfiguren werden vor allem durch ihre erotischen Wünsche oder ihre Ängste angetrieben. Die individuelle Freiheit wird durch das Individuum selbst beschränkt, das keine Passung zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Erwartungen seiner Umwelt herzustellen vermag. Äußerlich angepasst, handelt es sich innerlich um Aussteiger, die versuchen, einen Freiraum im Rückzug von den anderen und von sich selbst zu finden. Nebenfiguren sind oftmals Kontrahenten, die von einer besonderen Kraft angetrieben werden, die aber destruktiv für sie selbst und für andere sein kann. ›Starke‹ Figuren sind die besonders negativen Figuren und viele werden als nur scheinbar stark entlarvt - dadurch wirken sie wieder sympathischer. Überhaupt liegt die Sympathie der Texte bei den Figuren, die schwach sind und mit ihrer Schwäche hadern, obwohl sie ihr nachgeben. Verkürzt Psychologisierung der Figuren Martin Walser und Günter Grass beim Literarischen Gipfeltreffen: Gruppe 47 - sechzig Jahre danach; Günter Grass, Joachim Kaiser und Martin Walser im Gespräch mit Wolfgang Herles 15. Juni 2007 auf dem Blauen Sofa im Berliner Ensemble Abb. 7.7 <?page no="340"?> 327 m artIn W alSer : e In flIehenDeS P ferD (1978) könnte man sagen, dass die Figuren an der Condition postmoderne (Lyotard) leiden, an einer Freiheit, die zum Verlust von Orientierung führt. Sie sind mit der Pluralität möglicher Lebensentwürfe überfordert, aber sie trauern auch nicht früheren Zeiten nach: Walser liefert Zustandsbeschreibungen der Mittelschichtindividualität in ihrer Alltäglichkeit. Ihn interessieren die Erfahrungen eines in gewohnten und gewöhnlichen Umständen Lebenden, der damit beschäftigt ist, sein familiäres Leben und seine Arbeit zu organisieren, und der mit vielen aus dem Mittelschichtmilieu die ehrgeizigen Aufstiegswünsche und das Gefühl von Ohnmacht teilt. (Siblewski / Töteberg 2014, unpag.) So zeichnen die Texte Walsers, vergleichbar etwa den Filmen des US-Regisseurs Woody Allen (geb. 1935), ein realistisches Bild zeitgenössischen sozialen Lebens, auch und gerade dann, wenn sie es überzeichnen. Der Grat zwischen Realität und Realsatire, Selbst und Selbstparodie zeigt sich als extrem schmal oder gar nicht vorhanden. Der wohl meistgelesene Text Walsers, der vielfach als Schullektüre eingesetzt wird, ist die Novelle Ein fliehendes Pferd. So bekannt ist der Text nicht nur wegen seiner Kürze, sondern auch wegen seiner (für den Unterricht geeigneten) novellentypischen Merkmale, zu denen eine relativ große Geschlossenheit gehört. Die Figurenzahl ist überschaubar, die Handlung linear und einsträngig, es wird mündliches Erzählen thematisiert und durch die Entsprechung des letzten Satzes mit dem ersten ein Rahmen geschaffen (FP, 9 u. 150). Die ›sich ereignete, unerhörte Begebenheit‹ (Goethe) ist novellentypisch eine eher alltägliche, sie verweist allerdings zugleich auf größere Zusammenhänge. Das dem Text vorangestellte Motto des Philosophen Sören Kierkegaard (1813-55), dessen Tagebücher die Hauptfigur liest (FP, 11), stellt die Frage, ob »die Anschauung für sich sprechen« kann (FP, 7). Dies kann man so deuten, dass es dem Leser ermöglicht werden soll, sich eine eigene Meinung über das nachfolgende Geschehen zu bilden. Im Mittelpunkt der Novelle stehen zwei Paare: Sabine und Helmut Halm (mit ihrem Hund Otto), Helene und Klaus Buch. Helene ist deutlich jünger als ihr Mann. Halms machen seit elf Jahren, Buchs seit drei Jahren Urlaub am Bodensee. Helmut und Klaus sind ehemalige Schulfreunde, sie treffen sich zufällig im Urlaub wieder und Klaus bemüht sich darum, etwas gemeinsam Suche nach Orientierung Walsers erfolgreichster Text ist eine Novelle Urlaub am Bodensee <?page no="341"?> 328 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart zu unternehmen, während Helmut lieber in Ruhe gelassen werden möchte. Allerdings gibt es eine wechselseitige sexuelle Anziehung zwischen Helmut und Helene, Klaus und Sabine, die nicht offen ausgesprochen oder gar ausgelebt wird. Hier klingt das Muster der ›Wahlverwandtschaften‹ (Goethe) an. Die beiden männlichen Hauptfiguren sind als Gegensatzpaar angelegt: Helmut ist Studienrat und liest viel, Klaus ist erfolgreicher Freiberufler und treibt viel Sport. Die unartikulierten Konflikte der beiden führen zunächst zum Einfangen des titelgebenden fliehenden Pferdes durch Klaus und schließlich, während einer Bootstour, zum Duell um die Pinne (das Ruder wird hier zum Phallus-Symbol). Während des Sturms auf dem Bodensee bekommt Helmut Angst, sein kurzer Kampf mit Klaus ist ein Akt der Panik und Selbstverteidigung. Klaus fällt aus dem Boot und wird für tot gehalten. Er taucht aber wieder auf. Der durch den Streit auf dem Boot herbeigeführte ›Unfall‹ lässt die Figuren ihre Gedanken und Gefühle artikulieren (FP, 138 ff.). Mit der Rückkehr von Klaus wird die Ausgangssituation zunächst wieder hergestellt, doch ist Zweifel angebracht, ob der Zwischenfall keine Auswirkungen hat. Beim Ehepaar Halm deutet sich ein Neuanfang an. Die Novelle arbeitet bereits in der Namensgebung mit Ironie. Klaus heißt Buch und schreibt Bücher, allerdings nur Sachbücher, während Helmut der Experte für Literatur und Philosophie ist. Helmut heißt Halm wie der Halm, der sich im Wind biegt, obwohl eher Klaus der Wandlungsfähige ist und Helmut jede Veränderung zu vermeiden sucht. Schon der erste (sich am Ende wiederholende) Satz der Novelle deutet, bereits im ersten Wort, auf Veränderung und es ist Helmuts Frau, die diese Veränderung auslöst: »Plötzlich drängte Sabine aus dem Strom der Promenierenden hinaus und ging auf ein Tischchen zu, an dem noch niemand saß« (FP, 9). Sabine schert aus der Masse aus und Helmut muss ihr folgen, obwohl er am liebsten entweder Teil der Masse bleiben oder allein sein würde: »Inkognito war seine Lieblingsvorstellung« (FP, 12). Sabine besetzt einen neuen Platz, von dem aus die Entdeckung durch Klaus Buch überhaupt erst möglich wird. Helmut fühlt sich als Betrachter der Passanten unwohl: »Man sah wenig. Von dem wenigen aber zuviel«, vor allem nackte Haut, die eine ungewollte erotische Wirkung auf Helmut hat (FP, 9 f.). Dass Helmut gehemmt ist, zeigt auch sein Spitzname »bei Kollegen und bei Schülern«: Duell der Freunde Sprechende Namen <?page no="342"?> 329 m artIn W alSer : e In flIehenDeS P ferD (1978) »Bodenspecht« (FP, 12). Schon früh wird Helmut so als ›fliehendes Pferd‹ markiert: Jedesmal, wenn ihm das Erkannt- und Durchschautsein in Schule oder Nachbarschaft demonstriert wurde, die Vertrautheit mit Eigenschaften, die er nie zugegeben hatte, dann wollte er fliehen. Einfach weg, weg, weg. Die benützten Kenntnisse über ihn, deren Richtigkeit er nicht bestätigt hatte. Sie benützten sie zu seiner Beurteilung. Zu seiner Unterwerfung. Zu seiner Dressur. (FP, 12 f.) Die symbolische Aneignung durch die anderen macht Helmut unfrei, frei fühlt er sich nur, wenn er keinen äußeren Zwängen oder Erwartungen ausgesetzt ist. »Flucht« ist für ihn der »Urlaub« (FP, 13), doch weiß er da noch nicht, was ihm bevorsteht. Der Anfang des zweiten Kapitels beginnt mit dem gleichen, Veränderung signalisierenden Wort und setzt die einmal begonnene Entwicklung fort: »Plötzlich stand ein zierlicher junger Mann vor ihrem Tisch« (FP, 19). Der junge Mann ist gar nicht mehr jung, er gibt sich nur so. Es handelt sich um Klaus Buch, »Schulkamerad und Jugendfreund und Kommilitone« von Helmut (FP, 20). Der Name von Klaus’ viel jüngerer Frau Helene, genannt Hel, spielt auf die schöne Helena an, deren Raub durch Paris den Trojanischen Krieg auslöste. Darauf deutet auch der folgende Satz: »Das war eine Frau wie eine Trophäe.« Helmut schätzt Hel auf 26, er selbst und Klaus sind 46 (FP, 21). Die Begegnung sorgt bei Helmut für Unterlegenheitsgefühle: »Helmut spürte einen brennenden Neid. Er hatte praktisch nicht gelebt« (FP, 28). Die offen zur Schau gestellte Potenz von Klaus führt mit dazu, dass Helmut sich »wie am Pranger« vorkommt: »Er fühlte sich schon seit Monaten nicht mehr aufgelegt, seiner Geschlechtlichkeit zu entsprechen« (FP, 67). Schon wieder hat Helmut Fluchtgedanken. Es wird auch auf das weitere Geschehen vorausgedeutet, wenn es heißt: »Ja, ich fliehe. Weiß ich. Wer sich mir in den Weg stellt, wird … Ich will mich nicht aussprechen« (FP, 37). Dabei ist Klaus Buch auf der Flucht - vor sich selbst. In den Gesprächen über die Vergangenheit der beiden Männer stellt sich heraus, dass Klaus als Kind »ein bißchen isoliert« war und gern dazu gehören wollte (FP, 53). Als Klaus vom Boot gefallen ist und vermisst wird, gesteht Hel: »Ihm ist alles, was er getan hat, furchtbar schwer gefallen.« Klaus habe »mühelos« erscheinen wollen und sich dabei immer so gefühlt, Fluchtgedanken <?page no="343"?> 330 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart »[…] daß alles, was er tue, Schwindel sei. Daß man ihm eines Tages draufkommen werde. Er hat oft aufgeschrien, nachts. Und immer öfter hat er Schweißausbrüche gehabt, mitten in der Nacht. Darum hat er immer gesagt: Wir hauen ab auf die Bahamas« (FP, 136 f.). Und weiter: »Er war eben fertig. Fix und fertig. Deshalb hat er sich doch so gefreut, daß wir euch getroffen haben« (FP, 139). Helmut muss so erfahren, dass Klaus nicht der Stärkere, sondern der Schwächere ist, dessen Fluchtgedanken noch viel ausgeprägter sind. Mitleid verdient Klaus dennoch nicht, denn es zeigt sich, dass vor allem Helene unter seinen Ängsten und Phobien leiden muss. Sie darf nicht mehr singen (FP, 143) und fühlt sich: »Wie unter einer Glasglocke.« Klaus’ Ziel sei die »Zerstörung« in der Hoffnung auf »eine Mitleidswoge« (FP, 144). Doch schließt sich dieses Fenster der Selbsterkenntnis und Erkenntnis sofort wieder, als Klaus zurückkommt (FP, 145). Wie es mit Klaus und Helene weitergeht, bleibt offen. Der Titel der Novelle deutet auf der Ebene der histoire auf das Einfangen eines Pferdes, dem die beiden Paare zufällig auf einer Wanderung begegnen, durch Klaus. Das Pferd ist: »In wilder Flucht« (FP, 88). Es handelt sich um ein novellentypisches Leitsymbol, denn Klaus’ folgende Feststellung wird sich noch auf andere Weise bewahrheiten: »Einem fliehenden Pferd kannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muß das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei. Und: ein fliehendes Pferd läßt nicht mit sich reden. […] Helmut stimmte Klaus überschwenglich zu« (FP, S. 90 f.). Auch Klaus und Helmut flüchten, beide auf ihre Weise, getrieben von der Angst, vor sich selbst und vor den anderen zu versagen. Die Flucht von Klaus geht nach außen, Helmuts nach innen - so kommt es zur Konfrontation auf dem Boot. Klaus ignoriert die Sturmwarnung, er will Helmut eine Lehre erteilen: »Klaus Buch sagte, es sei höchste Zeit, daß Helmut aufhöre, dem Leben auszuweichen. […] Klaus Buch benahm sich immer mehr wie ein Rodeoreiter. Er unterhielt sich mit dem Wind« (FP, 117). Neben der titelgebenden Episode ist die Bootsfahrt der zweite Höhepunkt und der Wendepunkt der Novelle. Klaus genießt es, dass er seine Stärke ausspielen kann und Helmut ihm ausgeliefert ist: »Klaus Buch brüllte: Feigling. Helmut ertrug die totale Schieflage nicht mehr« (FP, S. 118). Das Verhalten von Klaus wird zu einem Konkurrenzkampf mit sexuellen Konnotationen: »Klaus Buch rief: Los, an die Pinne! Nimm sie zwischen die Beine! Halt Zwei Höhepunkte <?page no="344"?> 331 m artIn W alSer : e In flIehenDeS P ferD (1978) das Boot genau im Wind! Nicht so zimperlich, Mensch! Nur hingelangt! Als wär’s ein Stück von dir! Er lachte und tanzte zum Mast« (FP, S. 119). Helmut sieht schließlich keine andere Möglichkeit mehr, als zu reagieren: »Als Helmut sah, daß die über Bord laufenden Wellen jetzt gleich ins Cockpit einschlagen würden, stieß er mit einem Fuß Klaus Buch die Pinne aus der Hand. Jetzt passierte alles gleichzeitig. Das Boot schoß wieder in den Wind. Klaus Buch stürzte rückwärts ins Wasser« (FP, S. 120). Das Geschehen wird an die Episode mit dem fliehenden Pferd rückgebunden: »Helmut dachte, es sei das Beste, er selber bleibe apathisch. Klaus hatte in Unterhomberg gesagt, ein fliehendes Pferd lasse nicht mit sich reden. Er hatte zugestimmt« (FP, S. 123). Ist der Schluss der Novelle für das Ehepaar Halm ein Neuanfang oder eine Fortsetzung des alten Lebens mit anderen Mitteln? Zunächst versucht Helmut aus der Katastrophe auf dem Bodensee eine positive Lehre zu ziehen, indem er plant, sportlicher zu werden - so kaufen Sabine und er sich neue Fahrräder (FP, 130). Doch als Hel ihnen von Klaus’ und ihren Problemen gebeichtet hat, gibt Helmut diesen Plan wieder auf (FP, 148). Zugleich entwickelt er einen neuen Fluchtgedanken, der vielleicht eine Flucht nach außen begründen könnte. Er bringt Sabine dazu, mit ihm abzureisen. Sie darf das Ziel wählen und Helmut löst zwei Zugfahrkarten erster Klasse, ohne Rückfahrt, nach Montpellier. Der Schluss entbehrt freilich nicht der Komik: »Helmut küßte Sabine vorsichtig auf die Stirn. Otto gab einen Laut, als habe er zu leiden« (FP, 149). Der Name des Hundes kann auch als Anspielung auf Ernst Jandls (1925-2000) Gedicht ottos mops (1970) und damit als weiterer Marker für Komik gelesen werden. Im Zug nach Montpellier fragt Sabine nach den vorherigen Ereignissen und Helmut beginnt mit dem ersten Satz der Novelle. Das Erzählen als Vergangenes ist keine Rückkehr an den Anfang, sondern eine Überwindung der vorherigen Situation, auch wenn der Ausgang der Reise ungewiss ist. Helmut ist jetzt dazu in der Lage, über seine eigene Situation zu reflektieren, was die Voraussetzung für Veränderung ist. Die Novelle wird zugleich selbstreflexiv, wenn es heißt: »Es tut mir leid, sagte er, aber es kann sein, ich erzähle dir alles von diesem Helmut, dieser Sabine. / Nur zu, sagte sie, ich glaube nicht, daß ich dir alles glaube. / Das wäre die Lösung, sagte er« (FP, 151). So erlangen Figuren und Leser zugleich die Freiheit der Deutung. Ein Neuanfang? Rahmen und Rahmenbruch <?page no="345"?> 332 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin (1983) Die 1946 geborene, 1998 mit dem Georg-Büchner-Preis und 2004 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete österreichische Schriftstellerin hat eine Reihe von Romanen und zahlreiche Theaterstücke veröffentlicht. Aus ihrem umfangreichen Werk soll nur ein Roman, der wohl bekannteste, vorgestellt werden. Jelineks Texte zeichnen sich durch Sprachspiele und sprachliche Verfremdungseffekte aus, vor allem sind es Redewendungen und Zitate aus der Medien- oder Alltagskommunikation ebenso wie aus literarischen Texten oder anderen Quellen, die montiert, miteinander verschränkt und auf ein bestimmtes Thema bezogen werden. Im Grunde geht es darum, durch Verfremdungen, besonders der Sprache, die Entfremdung der Individuen von sich selbst in einer entfremdeten Gesellschaft sichtbar werden zu lassen. Es geht um die Freiheit des Individuums in dieser Gesellschaft, aber auf eine differenzierte Weise. Die Texte sind erkennbar kritisch gegenüber der gesellschaftlichen Realität der Zeit. Sie setzen sich mit dem »Alltagsfaschismus« auseinander (Janz 2003, 120) und führen das asoziale Verhalten von Figuren vor, die nur so tun, als würden sie einer sozialen Gemeinschaft angehören. Sie nutzen aber ihre Machtvorteile als selbstverständliche Freiheiten auf Kosten anderer. Vor allem sind es die patriarchalen und die ökonomischen Machtverhältnisse, die in Jelineks Texten durchleuchtet werden. Jelinek zeichnet aber nicht einseitig eine Unterdrückung der Frau durch den Mann, vielmehr werden die Geschlechterrollen und ihre Stereotype als kulturelle Konstruktionen sichtbar. Das Subjekt oder Individuum ist Unterworfenes und Gestaltendes zugleich. Es wird von den Machtverhältnissen bestimmt und bestimmt sie selbst mit, indem es sie bestätigt oder versucht, die eigene Macht zu gebrauchen und auszubauen. Das Subjekt oder Individuum als Figur bei Jelinek ist ein von seinen Bedürfnissen getriebenes, allerdings immer wieder auch eines, das dieses 7.8. Verfremdungen Kritik an Machtverhältnissen Elfriede Jelinek, 2004, Foto von G. Huengsberg Abb. 7.8 <?page no="346"?> 333 e lfrIeDe J elInek : D Ie k lavIerS PIelerIn (1983) Getriebensein reflektiert. Es finden sich zahlreiche Zuspitzungen und Übertreibungen, Wortwitze und Kalauer. Die breit orchestrierte Ironie wird für die Kritik an den gezeigten Verhältnissen produktiv gemacht. Jelineks Texte sprechen ein breites Publikum an, gleichzeitig sind sie außergewöhnlich theorieaffin im doppelten Sinn - gespeist durch die Lektüren der Autorin und zutage gefördert durch die theoriegeleitete Rezeption von Literaturexperten. Besondere Aufmerksamkeit wird den Bezügen zu poststrukturalistischen Theorien (Dekonstrukion, Gender Studies, Intertextualität) gewidmet (Lücke 2008, 73). Allerdings sind die Texte Jelineks unverkennbar und die Wiederholungen sind nicht nur Wiederholungen, sie sind bedeutungstragende Variationen. Jelinek gehört außerdem zu den besonders medienaffinen GegenwartsautorInnen. Sie hat eine aufwändig gestaltete Homepage, auf der sie 2008 exklusiv den »Internetroman« Neid veröffentlicht hat. Abgesehen von einigen Lebensdaten ist über ihr Privatleben aber wenig bekannt, zumal sie öffentliche Auftritte meidet. Es ist ein von der Autorin stark mitgestaltetes Bild, das in der literaturinteressierten Öffentlichkeit verbreitet wird. Auch aus diesem Grund verbieten sich Rückschlüsse vom Werk auf die Autorin, wie es sie gerade bei der Klavierspielerin häufig gegeben hat. Wie Erika Kohut, die Hauptfigur des Romans, hat Jelinek am Wiener Konservatorium Musik studiert (allerdings nicht Klavier, sondern Orgel, Blockflöte und Komposition), auch ihr Vater ist in einer psychiatrischen Klinik gestorben (Haß 2014, unpag.) und auch sie hatte eine sehr enge Mutterbindung, um nur einige Beispiele zu nennen. Dennoch ist Erika deutlich von der Autorin zu unterscheiden. Es handelt sich um eine, auch als solche besonders herausgestellte, Kunstfigur. So trägt sie den Nachnamen »des Wiener Psychoanalytikers Heinz Kohut, der über den Narzissmus gearbeitet hat« (Lücke 2008, 74). Zweifellos hat Erika eine narzisstisch gestörte Persönlichkeit. Sie zeigt sich in ihren Handlungen als masochistisch und sadistisch veranlagt: »Im Unterricht bricht sie einen freien Willen nach dem anderen. Doch in sich fühlt sie den heftigen Wunsch zu gehorchen. Dafür hat sie dann ihre Mutter zuhause« (DK, 105). Extrem wird ihr Verhalten, als sie einer Schülerin, auf die sie eifersüchtig ist, »ein absichtlich zerbrochenes Wasserglas in die Manteltasche praktiziert« (DK, 170). Theorien und Medien narzisstische Figuren <?page no="347"?> 334 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Auch der Vorname kann symbolisch und ironisch zugleich verstanden werden: »Erika, die Heideblume. Von dieser Blume hat diese Frau den Namen« (DK, 27). Die Heideblume steht für Romantik und gilt als besonders widerstandsfähig. Erika unterrichtet romantische Musik, sie hat romantische Wünsche, doch sieht ihr Alltag ganz anders aus und auch ihre Widerstandsfähigkeit wird sehr strapaziert. Die Ironie der Erzählung arbeitet gegen jede Romantisierung, etwa wenn es über die kindliche Klavierschülerin Erika heißt: »Die Nachbarn […] hören gern zu, wenn das Mädchen übt. Es ist wie im Radio, nur kostet es keine Gebühren. Man braucht bloß die Fenster und eventuell die Türen zu öffnen, schon dringt Klang herein und verbreitet sich wie Giftgas in die letzten Ecken und Winkel« (DK, 29). Erika ist zum Zeitpunkt der Handlung »mindestens fünfunddreißig« (DK, 270) und lebt in einer gemeinsamen Wohnung mit ihrer Mutter in Wien. Die beiden verbindet eine Hassliebe. Die Mutter »allein bestimmt die Gebote« (DK, 10). Männerbekanntschaften der Tochter sieht sie nicht gern: »Die Mutter fügt Erika lieber persönlich ihre Verletzungen zu und überwacht sodann den Heilungsvorgang« (DK, 13). Sie möchte, dass Erika für eine neue gemeinsame Wohnung spart und entfernt die von ihrer Tochter heimlich gekauften Kleider. Erika rächt sich mit verbaler und körperlicher Gewalt: »Du Luder, du Luder, brüllt Erika wütend die ihr übergeordnete Instanz an und verkrallt sich in ihrer Mutter dunkelblond gefärbten Haaren […]« (DK, 11). Allerdings »tut ihr sehr schnell leid«, was sie getan hat (DK, 12). Erika ist Professorin am Wiener Konservatorium und unterrichtet Klavier. Die größeren Erwartungen der Mutter konnte sie nicht erfüllen: »Dann versagt Erika einmal bei einem wichtigen Abschlußkonzert der Musikakademie völlig […]. Nachher wird Erika von ihrer Mutter geohrfeigt […]« (DK, 30). Die Frustration über das eigene Versagen lässt sie als Lehrerin an ihren Schülern aus: »Die Grenze zwischen den Begabten und den Nichtbegabten zieht Erika besonders gern im Laufe ihrer Lehrertätigkeit, das Aussortieren entschädigt sie für vieles, ist sie doch selbst einmal als Bock von den Schafen geschieden worden« (DK, 31). Sie verliebt sich in ihren Schüler Walter Klemmer, der ein erotisches Interesse an ihr signalisiert (DK, 32 ff.). Zunächst entzieht sich Erika ihm, dann fordert sie ihn brieflich dazu auf, sich gewaltsam das zu nehmen, was er möchte, in der Hoffnung, dass Der Mutter- Tochter-Konflikt Kann das Liebe sein? <?page no="348"?> 335 e lfrIeDe J elInek : D Ie k lavIerS PIelerIn (1983) er das Gegenteil tut: »Bitte tu mir nicht weh, steht unleserlich zwischen den Zeilen. […] Sie erhofft jetzt, daß aus Liebe alles ungeschehen bleibt« (DK, 230). Die Erzählerin lässt keinen Zweifel an Erikas Motiven: »Sag mir etwas Liebes und setze dich über den Brief hinweg, erbittet sie unhörbar« (DK, 232). Der sich von Erika gedemütigt fühlende Klemmer nimmt den Brief aber als Freibrief und vergewaltigt sie in ihrer Wohnung (DK, 268 ff.). Sie geht zur Technischen Hochschule, an der er studiert (DK, 283), sieht ihn mit einer jungen Mitstudentin und sticht sich ein Messer in die Schulter, bevor sie nach Hause zurückgeht. Der Romanschluss variiert das Ende von Kafkas Roman Der Prozeß. Erika ersticht nicht Klemmer, wie wohl zunächst beabsichtigt, sondern versucht sich selbst zu erstechen und bringt auch dafür den Mut nicht auf: Das Messer soll ihr ins Herz fahren und sich dort drehen! Der Rest der dazu nötigen Kraft versagt, ihre Blicke fallen auf nichts, und ohne einen Aufschwung des Zorns, der Wut, der Leidenschaft sticht Erika Kohut sich in eine Stelle an ihrer Schulter, die sofort Blut hervorschießen läßt. Harmlos ist diese Wunde, nur Schmutz, Eiter dürften nicht hineingeraten. Die Welt steht, unverwundet, nicht still. (DK, 285) Dieser Schluss kann als Kritik an der Erzeugung weiblichen Unvermögens durch eine männlich geprägte Gesellschaft interpretiert werden: »Während bei Kafka der Mord als Ritual dargestellt ist, das zwei Herren im schwarzen Gehrock an K. ausführen, wird Erika K. nicht einmal die ›Ehre‹ einer solchen Opferung zuteil« (Janz 1995, 81 f.). Allerdings ist Erika nicht nur Opfer, sie ist auch Täterin und es ist sehr zu fragen, ob es ehrenvoller ist, von zwei Herren im schwarzen Gehrock wie ein Stück Vieh hingerichtet zu werden. Der Text unterläuft selbst Zuschreibungen, die ihn als Dokument gegen Machtmissbrauch vereindeutigen wollen. 2001 kommt die Verfilmung des bekannten österreichischen Regisseurs Michael Haneke (geb. 1942) in die Kinos. Der Film erhält bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2001 unter anderem den Großen Preis der Jury. Der Film ist eine konsequent eigenständige Leistung, er nutzt seine visuellen Möglichkeiten und verzichtet darauf, die literarischen Besonderheiten des Texts abzubilden. Auf der Ebene der filmischen Erzählung findet sich keine Ironie. Der Film wirkt somit viel tragischer, er stellt vor allem das Leiden der Hauptfigur unter den gezeigten Lebens- und Arbeitsverhältnissen in den Vordergrund. Eine männlich geprägte Gesellschaft Die Verfilmung <?page no="349"?> 336 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Der Roman hat eine auktoriale Erzählerin (hier ist die weibliche Form zwingend notwendig), die nicht Teil der Handlung ist, aber über alle Informationen verfügt. Ein solches Erzählkonzept ist seit Beginn der Klassischen Moderne um 1900 eigentlich veraltet, es wird hier aber durch die durchgängige Ironie relativiert, modernisiert und mit zahlreichen Verfremdungsmitteln zu einem eigenen Stil umgearbeitet. Die Besonderheiten der Sprache zeigen sich nicht nur in Neologismen wie »Brahmsabasieren« (DK, 41), einer Zusammenfügung aus dem Nachnamen des Komponisten Johannes Brahms und dem Verb ›bramarbasieren‹, das soviel wie ›prahlen‹ oder ›angeben‹ heißt, oder in Wortspielen wie »Klemmer soll sich von ihr abklemmen und abziehen« (DK, 120). Jede Formulierung ist präzise gearbeitet, etwa wenn es um die Unterdrückung der Tochter durch die Mutter geht. Erikas Mutter ist bestrebt, ihre Tochter als »ihr Besitztum möglichst unbeweglich an einem Ort zu fixieren, damit es nicht davonläuft. Diesem Zweck dient der Fernsehapparat« (DK, 9). Die Mutter-Tochter-Beziehung ist nur von scheinbarer Fürsorge geprägt: »Das Kind ist der Abgott seiner Mutter, welche dem Kind dafür nur geringe Gebühr abverlangt: sein Leben« (K, 30). Es handelt sich um einen »Einpersonen-Privatzoo« (K, 272), der die Mutter, angesichts des Freiheitsbedürfnisses der Tochter unzufrieden, und die Tochter, angesichts der diktatorischen Einschränkung ihrer Freiheit, unglücklich macht: »In der Nacht, wenn alles schläft und nur Erika einsam wacht, während der traute Teil dieses durch Leibesbande aneinandergeketteten Paares, die Frau Mama, in himmlischer Ruhe von neuen Foltermethoden träumt, öffnet sie manchmal, sehr selten, die Kastentür und streicht über die Zeugen ihrer geheimen Wünsche« (DK, 14). Hier wird das wohl berühmteste Weihnachtslied verfremdet zitiert, Stille Nacht, das ein weltweit erfolgreicher österreichischer Kulturexport ist. Überhaupt wird Österreich, das »Land der Alkoholiker« (DK, 23), zum Ziel des Spotts der Erzählerin: »Diese sattgegessenen Barbaren in einem Land, in dem kulturell überhaupt Barbarei herrscht« (K, 72). Mit dem Land verfällt auch seine Hauptstadt Wien der Ironie: »Stadt der Musik! Nur was sich bisher bewährt hat, wird sich in dieser Stadt auch hinkünftig bewähren. Die Knöpfe platzen ihr vom weißen fetten Bauch der Kultur, die, wie jede Wasserleiche, die man nicht herausfischt, jedes Jahr noch aufgeblähter wird« (K, 15 f.). Die Mutter hat es zu verantworten, dass Erika zu keiner part- Neologismen und die Arbeit mit Sprache <?page no="350"?> 337 e lfrIeDe J elInek : D Ie k lavIerS PIelerIn (1983) nerschaftlichen Beziehung mehr fähig wäre: »[…] nie könnte sie sich einem Mann unterordnen, nachdem sie sich so viele Jahre der Mutter untergeordnet hat« (DK, 17). Allerdings werden alle sozialen Beziehungen, gerade die primären, als Machtbeziehungen gezeichnet, so heißt es über eine zufällig in den Blick geratene Familie: »Leider denkt das Kind nur daran, was ihm vorenthalten wurde, und haßt seine Eltern« (DK, 133). Insbesondere die Sexualität wird im Roman als rücksichtslose Machtbeziehung dargestellt, allerdings nicht nur der Männer über die Frauen. So kommentiert die Erzählerin das Verhalten von »[…] vierzehnjährige[n] Mädchen mit ihren ersten Freunden, die noch mit dem Schrecken der Welt kätzchenartig herumspielen, bevor sie selbst ein Teil des Schreckens werden« (DK, 140), und sie stellt fest: »Beide Geschlechter wollen immer etwas grundsätzlich Gegensätzliches« (DK, 144). Sexualität ist Bestandteil der Ökonomie und Teil des Konsums, der Mensch ist eine Ware »an der Börse des Lebens« (DK, 89) und sein oder ihr Körper ist »Fleisch, das ein anderes Fleisch im Konsumwahn vereinnahmt« (DK, 258). Die Prinzipien der Ökonomie sind es, die das Leben der Figuren und ihre Sozialbeziehungen bestimmen: »Wir erwarten für unsere Leistungen immer Lohn. Wir glauben, daß die Leistungen anderer nicht belohnt zu werden brauchen, wir hoffen, daß wir sie billiger kriegen können« (K, 269). Dennoch ist Erikas Schüler Walter Klemmer, der sie verführen will und in den sie sich verliebt, anders als Erika keine Figur, mit der man als LeserIn Mitleid haben könnte. Die Erzählerin macht seine Motive sehr deutlich: Walter Klemmer legt vernünftig sein Herz in den Kopf und überdenkt gründlich jene Frauen, die er schon besessen und dann zu Billigpreisen wieder abgestoßen hat. Er hat ihnen dafür ausführliche Erklärungen gegeben. Daran wurde nicht gespart; die Frauen sollten es, wenn auch unter Schmerz, einsehen lernen. […] Walter Klemmer kann es sich nicht verhehlen, daß er seine Lehrerin in Betrieb nehmen möchte. Konsequent wünscht er sie zu erobern. (DK, 126) Klemmers Absichten sind wenig ehrenvoll, doch wird dies von der Erzählerin mit einer ironischen, rhetorischen Frage als typisch herausgestellt: »Lernen möchte er [Klemmer] im Umgang mit einer um vieles älteren Frau - mit der sorgsam umzugehen nicht mehr nötig ist -, wie man mit jungen Mädchen umspringt, die sich weniger gefallen lassen. Könnte das mit Zivilisation zu tun Ware Mensch Sexualität und / als Gewalt <?page no="351"?> 338 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart haben? « (K, 68). Zur Ironie des Romans gehört, dass Klemmer ausgerechnet den österreichischen Komponisten Franz Schubert (1797-1828) spielen lernt (DK, 122), der für seine romantischen Lieder berühmt ist, oft als Vertonungen kanonisch gewordener Gedichte der Klassik und Romantik. Mit Erika kann die Leserin oder der Leser durchaus Mitleid bekommen, denn angesichts ihres unbefriedigenden Lebens hat sie den Wunsch zu regredieren: »Erika will in ihre Mutter am liebsten wieder hineinkriechen, sanft in warmem Leibwasser schaukeln« (K, 78). Als weitere Kafka-Anspielung (auf Die Verwandlung) kann folgende Stelle gelesen werden: »Erika ist ein Insekt in Bernstein, zeitlos, alterslos. […] Die Fähigkeit zum Krabbeln und Kriechen hat dieses Insekt längst verloren« (DK, 17 f.). Erika hat durch ihre Familienbiographie eine gestörte Sexualität, sie geht als Vouyeurin in Peep-Shows (DK, 55 ff.), verspürt bei sexuellen Begegnungen keine Lust (DK, 79) und verletzt sich selbst an ihrem Körper und sogar an ihren Genitalien (DK, 90). Das fremd induzierte, individuelle Leid ist natürlich keines, das nur aus der privaten Situation erklärbar wäre. Kritisch wird die Rolle der Frau im gesellschaftlichen Prozess reflektiert, folgender Satz ist auch ein Hinweis auf die männerzentrierte Psychoanalyse von Freud und Lacan: »Der Mann schaut auf das Nichts, er schaut auf den reinen Mangel« (K, 56). Der Begriff der Freiheit findet sich an der zentralen Stelle des Romans, der Vergewaltigung Erikas: »Eine Mutter sieht auch ohne zu sehen. Sie achtete der Freiheit ihres Kindes nicht, und nun geht ein anderer mit dieser Freiheit unachtsam um« (DK, 272). Die Ironie und der Euphemismus verstärken das Ungeheuerliche der Tat, ebenso folgende Formulierung: »Walter Klemmer tritt über die Schwelle Erika in die Freiheit hinaus. Sie hat es persönlich herausgefordert, indem sie über ihn und seine Begierde zu herrschen wünschte« (DK, 274). In diesem zynischen Verständnis ist Freiheit die Freiheit des Einzelnen auf Kosten der Freiheit anderer, in ihrer radikal reinen Form lässt sie sich nur durch Gewalt realisieren. Einen solchen Gebrauch von individueller Freiheit zeigt der Roman, nicht zuletzt durch Ironie, als zugleich alltäglich und als monströse Folge der ›Zivilisation‹. Der Wunsch nach Regression Monströse Freiheit <?page no="352"?> 339 r uth k lüger : W eIter leben (1992) Ruth Klüger: Weiter leben (1992) Ruth Klüger (geb. 1931) ist eine Literaturwissenschaftlerin, die erst spät zur Schriftstellerin wird, dies hat autobiographische Hintergründe. Die gebürtige Wienerin wird als Zwölfjährige »mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Theresienstadt, ein Jahr später nach Auschwitz-Birkenau und dann in das Arbeitslager Christianstadt deportiert«, ihr »Vater, ein jüdischer Frauenarzt, wurde in Auschwitz ermordet« (Klüger 2017, unpag.). Gemeinsam mit ihrer Mutter emigriert Ruth Klüger 1947 in die USA, studiert dort Bibliothekswissenschaften und Germanistik, ihren Abschluss macht sie 1952 in Berkeley. Als Professorin für deutsche Literatur ist sie an verschiedenen Universitäten tätig, unter anderem in Princeton. »Weltweite Bekanntheit erlangte K. mit einem Erinnerungsbuch, mit dem sie sich aus dem Stand in der deutschsprachigen Literatur etablierte« (ebd.), und zwar mit Weiter leben. Eine Jugend: »An vielen deutschen Schulen ist es Pflichtlektüre. 2008 verschenkte die Stadt Wien im Rahmen einer Aktion 100 000 Gratis-Exemplare davon. Die Autorin wurde in der Folgezeit mit zahlreichen Preisen gewürdigt […]« (ebd.). Nicht die Schilderung aus der Perspektive einer Holocaust- Überlebenden ist das Neue, es ist der Stil des Buches, die Gestaltung der Perspektive, die sich auch als Literarisierung beschreiben lässt. Die Schilderung des Erlebens größtmöglicher Unfreiheit geschieht mit distanzierenden sprachlichen Mitteln, durch die größtmögliche Freiheit im Umgang mit dem Erlebten und Geschilderten erzielt wird. Es ist dieses Spannungsverhältnis von Unfreiheit und Freiheit, das auf dem Unterschied von Realität und Literarizität beruht. Ein Spannungsverhältnis, das immer auch, in der Wirkung auf den Leser, eine Fiktionalisierung im Sinne der Erzeugung einer eigenen, im Rezeptionsprozess adaptierbaren Welt mit einschließt. Nicht, um den Wahrheitsgehalt anzuzweifeln, sondern um das Verallgemeinerbare der individuellen Beobachtungen zu betonen, soll hier auch zwischen Autorin und Ich- Erzählerin unterschieden werden. Die autobiographische Erzählung ist in vier Teile gegliedert, nach den geographischen Stationen des erzählenden Ich. Am Anfang steht Wien, dann folgen »Die Lager« (Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Christianstadt / Groß-Rosen), Deutschland (unterteilt in »Flucht« und »Bayern«) sowie New York. Das Buch 7.9. Deportation und Auswanderung Ein neuer Stil <?page no="353"?> 340 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart wird durch einen »Epilog. Göttingen« abgeschlossen. Dieser äußeren Ordnung widerspricht das achronologische Erzählen, denn das erzählende Ich wechselt zwischen den Zeiten und reiht scheinbar assoziativ Gedanken aneinander. Dies entspricht der Funktionsweise von Erinnerung. Zugleich bricht die Erzählweise die Sinnhaftigkeit von Ordnungen auf. Schon der Anfang des Texts wirkt als Exposition. Die Differenz von Früher und Heute, die daraus entstehende Distanz wird durch eine Sprache produktiv, die nicht nur jedes Pathos vermeidet, sondern sogar das Geschehene als etwas damals Alltägliches zeigt und somit entmythologisiert. Dabei bleibt der Text nicht stehen, da er die gängige Praxis der Bewertung durchkreuzt: … Jetzt wußte ich sowieso viel und konnte drauflos fragen, wie und wann ich wollte, denn die, die es verboten hatten, waren weg, verstreut, vergast, gestorben in Betten oder sonstwo. Und noch immer dieses prickelnde Gefühl, sich auf die Suche nach Ungebührlichem zu begeben, da ich nichts wissen darf, was mit dem Sterben zu tun hat. (WL, 8) Die Toten werden nicht, weil sie zu Opfern geworden sind, als ›gut‹ erinnert, doch genau das sorgt auch für ein »schlechtes Gewissen« gegenüber ihren Hinterbliebenen. An einem Beispiel wird dies verdeutlicht. Hans, dem Cousin ihrer Mutter, kann die Ich-Erzählerin nichts von ihrer Großtante sagen, die seine Mutter war. Hans’ Mutter hat »diesen jämmerlichsten Tod erlitten, den in der Gaskammer«. Das ändert aber nichts an der Erinnerung: »Was soll ich nun ihrem Sohn sagen, wenn er nach ihr fragt, er, der sie geliebt hat, mich, die sie gehaßt hat, mit schmalem, spitzem Kinderhaß? « (WL, 11). Auch die eigene Familie wird kritisch erinnert. Der ermordete Vater wird zunächst als Mensch beschrieben, der »sich die gute Laune nicht so leicht austreiben« lässt, im Unterschied zur Mutter, die ihren Kindern »manchmal« den Spaß verdirbt (WL, 22). Doch die Erinnerung an den Vater wäre geschönt, wenn angenommen würde, dass er einfach »vernarrt in mich gewesen« ist, denn »[…] ein solches Bild gehört auch zur Konvention. Ich weiß es besser« (WL, 25). Es gibt ebenso den Vater, der »gefürchtet« werden kann (WL, 26). Die letzte Erinnerung an den Vater ist eine Bestrafung, das Kind ist »noch ganz unter dem Eindruck des vorhergegangenen Strafgerichts« (WL, 31). Auch die Vorstellung vom Tod Vermeidung von Pathos Schwierige Erinnerung <?page no="354"?> 341 r uth k lüger : W eIter leben (1992) des Vaters im Konzentrationslager ist quälend: »In der letzten Agonie sind die Starken auf die Schwachen getreten, und so waren die Leichen der Männer stets oben, die der Kinder ganz unten. Ist mein Vater auf Kinder getreten, auf Kinder wie mich, als ihm der Atem ausging? « Sich diese Frage zu stellen wird dennoch als viel ehrlicher gesehen als sich »ein halbes Leben« lang vorzumachen, der Vater habe, weil er Arzt war, sein Leiden verkürzen können (WL, 33). Eine lebendige Erinnerung bedeutet, sich von der Konvention zu befreien. Klare Einordnungen und Bewertungen sind, angesichts des persönlichen Erlebens, oft unmöglich. So stellt die Ich-Erzählerin fest: »Ich habe Theresienstadt irgendwie geliebt, und die neunzehn oder zwanzig Monate, die ich dort verbrachte, haben ein soziales Wesen aus mir gemacht […]« (WL, 102). Doch genauso gilt: »Ich hab Theresienstadt gehaßt, ein Sumpf, eine Jauche, wo man die Arme nicht ausstrecken konnte, ohne auf andere Menschen zu stoßen. Ein Ameisenhaufen, der zertreten wurde« (WL, 103). Selbstkritisch wird festgehalten, dass auch »die genauesten Erinnerungen zur Unwahrheit« verführen, zumal sie auf »ein später entwickeltes Urteil« treffen, mit dem sie sich nicht vermitteln lassen. Was bleibt, ist die Möglichkeit, das daraus resultierende »unlösbare Dilemma am Beispiel meiner eigenen Unzulänglichkeit zu demonstrieren« (WL, 28). Der kritische Blick auf die Opfer und auf sich selbst entschuldigt dabei in keiner Weise, was die Täter getan haben. Es geht vielmehr um den notwendig kritischen Umgang mit Erinnerung, der für die verantwortlichen Nationen erledigt zu sein scheint: »Ja, aber die Toten stellen uns Aufgaben, oder? Wollen gefeiert und bewältigt sein. Gerade die Deutschen wissen das, denn sie sind doch ein Volk von Bewältigern geworden, denen sogar ein Wort für diese Sache einfiel, das von der Vergangenheitsbewältigung« (WL, 23 f.). Die Ich-Erzählerin sieht darin ein Muster: »Alle Kriegserlebnisse sollten auf einen einzigen Nenner, nämlich den eines akzeptablen deutschen Gewissens, zu bringen sein, mit dem sich schlafen läßt« (WL, 85). Die ungewöhnliche Erzählweise von Weiter leben verflüssigt jede Ritualisierung von Erinnerung, indem sie auch das Nichtgesagte mit einbezieht: »Man sieht schon, diese Aufzeichnungen handeln fast gar nicht von den Nazis, über die ich wenig aussagen kann, sondern von den schwierigen, neurotischen Menschen, auf die Befreiung von der Konvention Ein kritischer Umgang mit Erinnerung <?page no="355"?> 342 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart sie stießen, Familien, die ebensowenig wie ihre christlichen Nachbarn ein ideales Leben geführt hatten« (WL, 54). Es gilt, die Menschen als Individuen in Erinnerung zu behalten, mit allen ihren Eigenschaften. Zum kritischen Blick zurück gehört dabei auch, immer wieder auf »die geschlechtsspezifische Rollenverteilung« (WL, 43) hinzuweisen, die Überordnung der Männer und Jungen über die Frauen und Mädchen ebenso im Judentum und die ›männliche‹ Prägung der Gesellschaft: »Die Kriege gehören den Männern, daher auch die Kriegserinnerungen. Und der Faschismus schon gar, ob man nun für oder gegen ihn gewesen ist: reine Männersache. Außerdem: Frauen haben keine Vergangenheit. Oder haben keine zu haben« (WL, 10). Damit wird aber nicht das Verhalten von Frauen pauschal entschuldigt. Ebenso ironisch wie beispielhaft ist die folgende spätere Erfahrung: »Theresienstadt sei ja nicht so schlimm gewesen, informierte mich die deutsche Frau eines Kollegen in Princeton, die sich der Gnade der späten Geburt erfreute« (WL, 84). Es sind die »Perversitäten der Geschlechterrollen« (WL, 214), die das Gerechtigkeitsgefühl der Ich-Erzählerin stören, gegen die sie aufbegehrt. Das Motiv der Flucht wird vorgegeben und als prägend für den weiteren Lebensweg ausgewiesen (WL, 7): »Wenn man lang genug wartet, dann kommt der Tod. Man muß fliehen lernen« (WL, 21). Die Flucht vor den Nazis führt das junge Mädchen schließlich auch das erste Mal nach Deutschland, das entsprechende Kapitel endet mit einem unmarkierten, aber berühmten Zitat aus Friedrich Hölderlins Roman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797 / 99): »So kam ich unter die Deutschen« (WL, 180). Dass die Ich-Erzählerin dennoch, anders als ihre Mutter, immer wieder bereit ist, nach Deutschland zurückzukehren, dürfte auch mit ihren Erfahrungen in den USA zu tun haben. Sogar im »neuen Land« möchte man nicht an das Vergangene erinnert werden: »Hierher gehört auch, daß man die KZ-Nummer nicht gerne sah« (WL, 235). Von Kriegsverbrechen der Amerikaner erfährt sie nebenbei, etwa als sie mit einem Studenten ausgeht, der arglos davon erzählt, dass »er und seine Kameraden […] deutsche Kriegsgefangene erschossen« hätten, »wenn es zu umständlich war, sie mitzunehmen« (WL, 246). Die Erfahrungen des Leides im Nationalsozialismus sind unhintergehbar: »Denn die Folter verläßt den Gefolterten nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht« (WL, 9). Was die Ich-Erzähle- Flucht als Lebensmotiv Unhintergehbares Leid <?page no="356"?> 343 r uth k lüger : W eIter leben (1992) rin stets tröstet und begleitet, ist die Literatur (WL, 54). Auch für die späteren Jahre in den USA gilt: »Lernen war Therapie, Lesen Rettung« (WL, 245). Schon als kleines Kind hat die Ich-Erzählerin sich angewöhnt, leise für sich selbst Gedichte aufzusagen (WL, 11). Damit ist sie nicht allein: »Ich erzähle nichts Ungewöhnliches, wenn ich sage, ich hätte überall, wo ich war, Gedichte aufgesagt und verfaßt. Viele KZ-Insassen haben Trost in den Versen gefunden, die sie auswendig wußten« (WL, 122). Um zu zeigen, welche Rolle Literatur bei der Erinnerung an den Holocaust spielen kann, wird an ein berühmtes und in der Regel falsch zitiertes Diktum Adornos erinnert. Die Stelle am Ende des Aufsatzes Kulturkritik und Gesellschaft von 1951 lautet: »Kulturkritik findet sich in der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben« (Adorno 1995, 49). Der letzte Satz ist dialektisch zu verstehen, der These im ersten Teil - die Behauptung, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch - wird im zweiten Teil widersprochen, indem genau diese »Erkenntnis« in Zweifel gezogen wird. In Weiter leben geht es nur um die verkürzte Version, dort heißt es: »Ich meine nicht, daß man ›keine Gedichte nach Auschwitz‹ schreiben dürfe.« Die selbst geschriebenen Gedichte der Kindheit können, auch wenn sie formal und sprachlich nicht überzeugen, Trostfunktion haben (WL, 36). Immer wieder werden eigene Gedichte einmontiert, aber sie werden dabei kritisch reflektiert (z. B. WL, 167). Dem Philosophen wird um der persönlichen Bedeutung der Literatur willen widersprochen, ohne sich ihm gegenüber, angesichts der Schwierigkeiten des Beurteilens, deswegen als überlegen anzusehen: »So gut reden hab ich wie die anderen. Adorno vorweg, ich meine die Experten in Sachen Ethik, Literatur und Wirklichkeit, die fordern, man möge über, von und nach Auschwitz keine Gedichte schreiben« (WL, 126). Weiter leben ist weder ein Buch des Eskapismus noch der Klage, im Gegenteil, es ist eine dezidiert unkonventionelle und offene, kritische (Selbst-)Befragung. Im Vergleich zu dem, was die Mutter durchmachen musste, kann die Tochter ein anderes Leben führen: »Als ich mich in ihrem damaligen Alter von meinen Kindern trennte, gingen sie ins College, nicht ins KZ, und ich hatte Beruf und Freunde, ein weites Land und ein freies Leben« (WL, 62). Zur Ein Satz Adornos Die (Selbst-)Befragung <?page no="357"?> 344 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Freiheit gehört eben auch, die eigene Meinung sagen und streitbar sein zu dürfen. Dazu möchte die Ich-Erzählerin die Leser aufrufen: »Ihr müßt euch nicht mit mir identifizieren, es ist mir sogar lieber, wenn ihr es nicht tut […].« Und weiter: »Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung« (WL, 141). Der Schluss berichtet von einem Unfall Ende 1988, die Ich- Erzählerin wird von Radfahrern angefahren. Sie ist auf dem Weg, »um eine Studentin abzuholen, mit der ich ins Deutsche Theater zum ›Don Carlos‹ wollte« (WL, 269). Unmittelbar vor dem Unfall denkt sie noch nach »über dieses Schillersche und der deutschen Aufklärung entsprungene Phantom der Menschenfeindlichkeit« in der Figur des Großinquisitors und über »die Ironie des letzten Aktes« (WL, 270), wenn der König seinen Sohn eben diesem Anführer der Inquisition überantwortet. Ob die Autorin wie die Ich-Erzählerin tatsächlich dieses Stück Schillers sehen wollte und sich das Ereignis so zugetragen hat wie hier beschrieben, sei dahingestellt, es passt jedenfalls hervorragend zum Thema der (Un-)Freiheit. Obwohl Adorno widersprochen wird, handelt es sich um ein Buch über Erinnerung, das ein dialektisches Denken zeigt, wie es Adornos Konzept des Kulturkritikers fordert. Zugespitzt formuliert: Nach Auschwitz über Auschwitz zu schreiben ist unmöglich und gerade deshalb unbedingt notwendig. Christian Kracht: Faserland (1995) Christian Kracht (geb. 1966) ist einer der vom Feuilleton und von der Literaturwissenschaft, aber auch vom interessierten Lesepublikum am meisten beachteten Erzähler der letzten zwei Jahrzehnte (Birgfeld / Conter 2009). Faserland ist sein Debütroman, mit dem er gleich Aufsehen erregt. Der Roman gilt als Auftakt der neueren Popliteratur, wobei man zwischen einer ersten Welle der Popliteratur der Zeit der Studentenbewegung um und nach 1968, für die Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann stehen, und der Popliteratur der zweiten Hälfte der 1990er und der sogenannten Nullerjahre unterscheiden muss. Ein Unfall mit symbolischer Bedeutung 7.10. Christian Kracht, 2007, Foto von Anthony Shouan-Shwan Abb. 7.9 <?page no="358"?> 345 c hrI StIan k racht : f a SerlanD (1995) Die erste Welle der Popliteratur wendet sich gegen eine vorgeblich elitäre Auffassung von Literatur der Generation der Kriegsteilnehmer. Dieser Generation wurde unterstellt, dass sie die Gräuel der Zeit vor 1945 verharmloste und die Bedürfnisse der Zeit verfehlte. Leslie Fiedlers Plädoyer (so der Titel seines gleichnamigen Vortrags von 1968, der auch im Playboy veröffentlicht wurde) Cross the Border, Close the Gap möchte eine Schließung des Grabens zwischen elitärer Kultur und Literatur auf der einen und Massenkultur und -literatur auf der anderen Seite bewirken und zeigt sich stark von der marxistischen Literaturtheorie beeinflusst (Fiedler 1994). Hier wird Freiheit neu verhandelt, vorrangig auch als Frage der Bildung: ›Gute‹ Literatur sollte möglichst vielen Lesern zugutekommen. Allerdings nicht zuletzt aus einer politischen Sichtweise der Zeit heraus, die zwischen den beiden Extremen pendelt, dem Individuum die Verantwortung über sich selbst zu überlassen oder es in ein Kollektiv von Individuen gleicher Rechte und Pflichten einspannen zu wollen. Die marxistische Vorstellung einer größtmöglichen Gleichheit durch staatliche Steuerung hat sich, vorerst oder für immer, mit dem Ende des Kalten Krieges als so nicht realisierbar erwiesen. Die deutschsprachige Popliteratur der zweiten Welle ist in Europa stark von der Condition postmoderne geprägt (Lytoard 2005). Es gibt kein »Wissen in seiner Selbstlegitimation« mehr, »[…] sondern die Freiheit in ihrer Selbstbegründung, oder, wenn man dies vorzieht, in ihrer Selbstverwaltung« (Lyotard 2005, 106 f.). Das Individuum selbst ist für die Entscheidung verantwortlich, welchen seiner möglichen Lebensentwürfe es realisieren möchte; eine Notwendigkeit des, je nach Herkunft mehr oder weniger, selbstbestimmten Auswählens, die viele Angehörige westlicher Gesellschaften angesichts der scheinbar unendlichen Möglichkeiten überfordert. Die zweite Welle der Popliteratur hat ihre Vorläufer in der englischsprachigen Literatur. Der seinerzeit ebenfalls vielbeachtete Roman Soloalbum von Benjamin von Stuckrad-Barre aus dem Jahr 1998 zeigt starke Parallelen nicht nur zu Faserland, sondern vor allem zu High Fidelity des englischen Schriftstellers Nick Hornby aus dem Jahr 1995. In beiden Romanen geht es um einsame junge Männer auf der Suche nach einer eigenen Identität, die sich sehr stark über das Hören von Popmusik definieren. Die Figuren der Popliteratur, das gilt auch für die Erzählungen und Romane von „Cross the Border, Close the Gap“ Andere Popliteratur der 1990er <?page no="359"?> 346 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Judith Hermann oder Alexa Hennig von Lange, sind in der Regel jung, wohlhabend und ziellos. Sie wissen mit den vielen Freiheiten, die sie haben, nichts anzufangen, weil ihnen die für eine Entscheidung notwendige Orientierung fehlt. Für Krachts Debüt ist vor allem auf den Einfluss von Bret Easton Ellis hinzuweisen, dessen erster Roman Unter Null (Less Than Zero) von 1985 für Faserland Vorbildcharakter gehabt haben dürfte. Die spätadoleszenten Protagonisten haben, wie die sie umgebenden Figuren aus der gleichen wohlhabenden Schicht, extreme Bindungsschwierigkeiten, die nicht zuletzt aus Problemen mit dem Elternhaus resultieren, man könnte von Wohlstandsverwahrlosung sprechen. Die Figuren sind in ihren 20ern und definieren sich über Kleidung und Markenprodukte. Sie versuchen sich mit wechselnden Beziehungen, Partys und Drogen über die innere Leere hinwegzutäuschen. Ellis hat sein Konzept vor allem in American Psycho von 1991 radikalisiert (der Roman war in Deutschland sogar von 1995-2001 als jugendgefährdend indiziert). Der junge Patrick Bateman, ein Banker an der Wall Street, begeht möglicherweise zahlreiche, sinnlos erscheinende und extrem grausame Morde. Die Ich-Perspektive und die entsprechenden Hinweise im Roman lassen aber keine Entscheidung darüber zu, ob Bateman die Taten in seiner Vorstellung begangen hat oder in der (fiktiven) Realität. In Unter Null werden bereits Morde und sexueller Missbrauch aus Langeweile geschildert. Protagonist Clay ist allerdings kein Täter, sondern ein Mitläufer, der seiner Umwelt gegenüber gleichgültig zu sein scheint. Welche Rolle Musik für die Identität der Figuren spielt, zeigen nicht nur die zahlreichen Verweise auf und Zitate aus Popsongs in den Romanen. Auch der Titel von Ellis’ Debütroman ist bereits ein Zitat, und zwar aus dem gleichnamigen Song von Elvis Costello (geb. 1954) aus dem Jahr 1977 (aus dem Album My Aim Is True): Turn up the TV, no one listening will suspect Even your mother won’t detect it so your father won’t know They think that I’ve got no respect, but Everything means less than zero 3 3 URL https: / / play.google.com/ music/ preview/ Ta2w6flxdb2e5ydjqvcexzmqk yy? lyrics=1&utm_source=google&utm_medium=search&utm_campaign= lyrics&pcampaignid=kp-songlyrics (abgerufen am 12. 1. 2017). Der Einfluss von Bret Easton Ellis Musik-Zitate <?page no="360"?> 347 c hrI StIan k racht : f a SerlanD (1995) Kracht setzt in Faserland etwas andere Akzente, doch kann auch hier der Titel als unmarkiertes Zitat gelesen werden. Fatherland heißt ein Roman von Richard Harris aus dem Jahr 1992, in dem die Nationalsozialisten, die den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben, noch im Jahr der Handlung 1964 Deutschland regieren und Europa dominieren, wir haben es also mit einer Dystopie zu tun, die eine extremen Form der Unfreiheit zeigt. Der Titel Faserland ist außerdem eine Anspielung auf den Markenfetischismus der Figuren; eine prominente Rolle im Roman spielen Barbour- Jacken. Krachts Figuren sind, wie jene bei Ellis, narzisstisch und empathielos. Die in Faserland stationenhaft porträtierte junge Gesellschaft ist auf der Ebene der Sozialbeziehungen von Egoismus, Oberflächlichkeit und Materialismus geprägt und dadurch auf eine andere Weise unfrei als die vorhergehenden Generationen. Der Roman schildert in acht Kapiteln die Reise eines namenlosen Ich- Erzählers von der Insel Sylt bis zum Zürichsee, von Nord nach Süd durch Deutschland und über seine Grenzen hinaus in die Schweiz. Der letzte besuchte Ort ist der Friedhof, auf dem sich das Grab von Thomas Mann befindet. Über den Namen des berühmten Schriftstellers, der wegen der faschistischen Vergangenheit nicht nach Deutschland zurückkehren wollte, wird die letzte Station der Reise auch mit Deutschland (und einer kritischen Perspektive auf das Land) verbunden. Wie in Thomas Manns Werk, der in Krachts Romanen immer wieder zitiert wird und der in Imperium (2012) auch als Figur vorkommt, etabliert der Erzähler von Krachts Romanen, besonders stark in Imperium und Die Toten (2016), eine ironische Haltung gegenüber den Figuren und der Handlung. Die Ironie unterläuft den Ernst der Handlung, aber nicht, um sie zu relativieren, sondern um ein reflexives Verhältnis des Lesers zum Geschilderten zu etablieren. Das Ende ist offen, wie bereits die Zahl der acht Kapitel andeutet (neun würde für Abgeschlossenheit stehen). Der Roman wirkt wie mündlich erzählt, der Ich-Erzähler beginnt mit: »Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke« (FL, 9). Er trifft Karin: »Wir kennen uns aus Salem, obwohl wir damals nicht miteinander geredet haben, und ich hab sie ein paar Mal im Traxx in Hamburg gesehen und im P1 in München.« Die Nennung des berühmtesten deutschen Internats und der beiden größ- Reise von Nord nach Süd Ironie und Reflexion <?page no="361"?> 348 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart ten Städte im Norden und im Süden weist auf Schicht und Herkunft der Figuren, dazu passt das Studienfach: »Karin studiert BWL in München. Das erzählt sie wenigstens« (FL, 9). Der zweite Satz deutet auf die scheinbare Beschäftigungslosigkeit der Figuren, so erfährt man auch nicht, ob der Ich-Erzähler studiert oder womit er, abgesehen von Reisen und Parties, seine Zeit verbringt. Die Herkunft der Figuren deutet an, dass sie vom Reichtum ihrer Familien leben (FL, 10). Wenn die Figuren überhaupt miteinander reden, so wie am Anfang der Ich-Erzähler mit Karin, dann geht es um oberflächliche Themen wie die Frage, welche Farbe eine Barbour-Jacke haben sollte, welches Auto mit welcher Ausstattung zu bevorzugen ist und wie das Wetter wird (FL, 9 f.). Auf der symbolischen Ebene wird gezeigt, dass die Figuren eine schicke Oberfläche bieten und man nicht sehen kann, was sich oder ob sich überhaupt etwas darunter verbirgt: »Karin hat ziemlich blaue Augen. Ob das gefärbte Kontaktlinsen sind? « (FL, 10). Die Beziehungslosigkeit der Figuren zeigt sich nicht nur in ihrer Unfähigkeit zu echter Kommunikation, sondern auch in ihrem Verhalten. Der Ich-Erzähler bricht sofort auf, wenn er merkt, dass er sich zu jemandem hingezogen fühlt, wie bereits am Anfang zu Karin, die ein »verdammt schönes Lächeln« hat (FL, 15), ihn küsst und ihn am nächsten Abend wiedersehen will (FL, 19). Dabei hat sie wohl »vergessen«, dass er ihr gesagt hatte, er wolle am nächsten Tag abreisen. Der Ich-Erzähler bricht auf, auch wenn es keinen zeitlichen Grund dafür zu geben scheint, und stellt fest: »Ich glaube, ich werde nicht mehr nach Sylt fahren« (FL, 19). Die weitere Reise erscheint unmotiviert und ziellos. Der Flucht-Reflex des Ich-Erzählers scheint die weitere Handlung zu bestimmen. Als er seinen Freund Nigel in Hamburg besucht, erwischt er ihn, wie er nach einer Drogenparty mit einer Frau und einem anderen Mann im Badezimmer Sex hat, und verlässt sofort die Wohnung: »Auf dem Weg aus der Stadt, kurz vor dem Flughafen, fange ich an zu heulen« (FL, 46). Die Enttäuschung ist deshalb so groß, weil er vorher noch dachte, dass Nigel anders ist als die anderen: »Er kann gut zuhören, und er schaut einen dann ganz genau an, wenn er zuhört, meine ich, und man hat das Gefühl, als ob das, was man sagt, ihn wirklich und ernsthaft interessiert. Nicht viele Menschen können einem dieses Gefühl geben« (FL, 30). Als der Ich-Erzähler Alexander in Frankfurt besuchen will und ihn zufällig im Café trifft, erkennt der ihn nicht (FL, Beziehungsunfähigkeit der Figuren Flucht aus Angst und Enttäuschung <?page no="362"?> 349 c hrI StIan k racht : f a SerlanD (1995) 76). Wohl um sich zu rächen nimmt der Ich-Erzähler, als Ersatz für seine eigene, Alexanders Barbour-Jacke mit (FL, 77). Das, was man als Wohlstandsverwahrlosung bezeichnen könnte, zeigt sich an den wenigen Informationen, die man über die Herkunft des Ich-Erzählers erhält. Als er sich auf Sylt erinnert, dass er als »kleines Kind immer hierher gekommen« ist (FL, 12), wird er traurig. In das Haus, das sie in Italien besaßen, haben ihn seine Eltern als Kind immer »mit einem Plastikschild um den Hals« allein fliegen lassen (FL, 47). Als er als Elfjähriger mit seinem Vater Urlaub auf Madeira gemacht hat, hat sich dieser offenbar nicht um sein Kind, sondern um »Geschäfte« gekümmert (FL, 85). Eine weitaus intensivere Beziehung scheint er mit einem Haus- oder Kindermädchen namens »Bina« gehabt zu haben (FL, 117 u. 121). Auch andere Figuren haben eine gestörte Beziehung zu den Eltern oder sie haben keine Eltern, im Verhalten macht dies keinen Unterschied. Rollo, den der Ich-Erzähler in Heidelberg trifft, der ihn zunächst nach München mitnimmt und dann nach Meersburg zu seiner »Geburtstagsparty« (FL, 114), ist auch »ein alter Freund von mir« (FL, 103): »Rollo kommt vom Bodensee, und ich habe ihn damals kennengelernt, kurz, bevor ich aus Salem rausgeschmissen wurde« (FL, 104). Rollos […] Eltern sind ziemliche Hippies. Das passiert oft bei ganz reichen Leuten, daß sie so ins Hippietum abdriften. Vielleicht, weil sie alles andere schon gesehen und erlebt haben und sich alles kaufen können und dann irgendwann in sich so eine furchterregende Leere entdecken, die sie dann nur durch eine innere Abkehr vom Geldausgeben ausfüllen können, obwohl sie natürlich weiterhin massiv viel Geld ausgeben. (FL, 117) Reichtum sollte Wahlfreiheit schaffen, doch ist hier das Gegenteil der Fall. Die Figuren sind mit den durch ihr Geld geschaffenen Möglichkeiten überfordert: »Die Selbstbehauptungsfähigkeiten individualisierter Menschen reichen in aller Regel nicht hin, um das zu erreichen, was man gemeinhin als Selbstkonstitution bezeichnet.« Somit ist die »Bedeutungslosigkeit der Wahlentscheidung die Rückseite der uneingeschränkten Freiheit«. Mit anderen Worten: »Die Freiheit kommt, wenn sie irrelevant geworden ist« (Bauman 2003, 46). Statt Pluralität dominiert »Pluralismus« als Gestörte Eltern- Kind-Beziehungen <?page no="363"?> 350 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart »Uniformierung in den diversen Erscheinungsformen der Gleichgültigkeit, Indifferenz und Beliebigkeit« (Welsch 2002, 6). Diese Indifferenz lässt sich auch beim Ich-Erzähler erkennen, obwohl er Rollo beobachtet und ›komische Vorahnungen‹ hat, dabei hängt er »deprimierenden Gedanken über Rollo und seine Familie« nach und darüber, »was für eine traurige Gestalt Rollo doch eigentlich ist« (FL, 126 f.), was man angesichts seines Lebenswandels wohl mit mindestens gleichem Recht über den Ich-Erzähler sagen könnte. Zu den Gästen von Rollos Geburtstagsparty stellt er fest: »Aber das sind doch nicht seine Freunde. Seine Freunde würden ihm doch sagen, daß er aussieht wie ein Alkoholiker und tablettensüchtig ist. Sie würden sagen, komm Rollo, du mußt jetzt ins Bett, und dann würden sie ihn ins Schlafzimmer bringen und bei ihm sitzen, bis er einschläft« (FL, 134 f.). Der Ich-Erzähler ist nach dieser Definition selbst kein Freund, denn er lässt Rollo im Stich, obwohl er ahnt, dass Rollo Selbstmord begehen wird. Selbstmord ist, als selbstbestimmter Verzicht auf das Leben unter innerem Zwang, der höchste Ausdruck von Freiheit und Unfreiheit zugleich und das Nicht-Helfen zwar eine freie Wahl, aber auch der Verzicht auf das Übernehmen von Verantwortung. Als Rollo, den er »todtraurig« am See findet (FL, 140), zittert und »heult«, vermag der Ich-Erzähler ihn nicht zu trösten und ergreift wieder einmal die Flucht: »Ich drücke seinen Arm noch einmal und sage ihm, ich will mir ein Getränk holen, und dann lasse ich ihn da stehen, auf dem Bootssteg. Ich weiß genau, daß ich mir kein Getränk holen werde, und noch viel genauer weiß ich, daß ich Rollo nicht wiedersehen werde« (FL, 141). Rollos Porsche würde er vermutlich nicht ›ausleihen‹, wenn er davon ausgehen würde, dass Rollo den Abend überlebt (FL, 141 f.), und er ist auch nicht überrascht (wenn auch betroffen), vom Tod Rollos in der Zeitung zu lesen: »Rollo, der junge Millionärserbe, dessen Vater in Indien ist und dessen Mutter in einer Anstalt in der Nähe von Stuttgart« (FL, 146). Die gestörten Beziehungen zu den Eltern dürften der Grund für die späteren Beziehungsprobleme der Figuren zu Gleichaltrigen sein. Der Ich-Erzähler erinnert sich an seine »erste große Liebe« Sarah und an seinen Besuch bei ihr, die Eltern laden ihn ein, im Gästezimmer zu übernachten. Er wacht nachts auf und sieht, dass er nicht nur einen ›feuchten Traum‹ gehabt, sondern auch noch »ins Bett gekotzt« und »ins Bett geschissen« hat. »Ich Indifferenz Rollos Selbstmord <?page no="364"?> 351 c hrI StIan k racht : f a SerlanD (1995) habe mich angezogen und bin rausgerannt«, er habe »geheult vor Scham« und habe Sarah »nie wieder gesehen«. Noch in der Erzählgegenwart wird er »rot«, wenn er daran denkt (FL, 29). Die Episode wirkt allerdings auch übertrieben und kann als Teil des ironischen Erzählkonzepts gelesen werden. Ein deutliches Beispiel: »[…] sie redet mit Jürgen Fischer, der ist Chefredakteur von Tempo oder Wieder oder sowas. Ich habe gehört, daß er Gelbsucht hat« (FL, 35). Kracht hat selbst für die Zeitschrift Tempo gearbeitet. Auch die zeitgeschichtlichen Anspielungen wirken ironisch, etwa wenn der Ich-Erzähler schildert, wie er Wim Wenders gefragt hat, ob sein Film (gemeint ist Der Himmel über Berlin) Anleihen bei Leni Riefenstahls Dokumentation Triumph des Willens genommen hat und wenn er sich an den kontrastierenden Vergleich von Riefenstahls Film mit Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin in der Schule erinnert, den er, entgegen der Meinung des Lehrers, nicht weniger manipulativ gefunden hat (FL, 57). Dennoch ist meist nicht zu bestimmen, ob die Erzählhaltung ernst oder ironisch ist, denn die Erzählung ist auf dem schmalen Grat dazwischen angesiedelt. Ironisch gestaltet sich die Suche nach dem Grab von Thomas Mann am Romanende, wenn den Ich-Erzähler die Dunkelheit überrascht: »Ich finde das blöde Grab von Thomas Mann nicht«, und wenn »ein großer, schwarzer Hund« auf ein Grab »kackt« (FL, 152). Weil es »vielleicht« das Grab von Thomas Mann sein könnte, fühlt der Ich-Erzähler über die Inschrift, »[…] aber es fühlt sich wirklich nicht so an wie der Name von Thomas Mann. Schade« (FL, 153). Der elliptische Nachsatz wirkt ironisch, weil er bedeuten kann, dass es schade ist, dass der Hund nicht auf das Grab von Thomas Mann ›gekackt‹ hat. Neben dem schwarzen Hund ein weiterer Todesbote (solche finden sich häufig im Werk von Thomas Mann, besonders prominent in Der Tod in Venedig) ist der »Mann in einem Ruderboot«, den der Ich-Erzähler am Rand des Sees antrifft (FL, 153) und den er für 200 Franken bittet, ihn über den See zu rudern. Der Schluss des Romans lautet: »Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald« (FL, 154). Angespielt wird auf den Fährmann aus der antiken Mythologie (in der griechischen ist es Charon, der den Styx überquert), der die Verstorbenen ins Totenreich bringt. Dazu passt die symbolische Qualität des Namens »Mythenquai«, der dem Ich- Erzähler vorher aufgefallen ist (FL, 150). Die Motivik des Todes deutet auf einen möglichen Selbstmord. Andererseits steht nicht nur Intertextuelle Verweise Todesboten <?page no="365"?> 352 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart die Ironie dagegen. Der Ich-Erzähler hat keinerlei Anzeichen von Lebensmüdigkeit gezeigt, im Gegenteil, er hat seine Umwelt kritisch betrachtet und ist stets vor Problemen geflohen. Es gibt keinen Grund, weshalb die Flucht in einem Selbstmord enden sollte. Vielmehr wird dem Leser überlassen, sich zu überlegen, wie die Geschichte weitergehen könnte. Trotz der scheinbaren Voraussetzungslosigkeit von Figuren und Handlung wird immer wieder auf die nationalsozialistische Vergangenheit angespielt, also auf eine Zeit größtmöglicher Unfreiheit. Der Ich-Erzähler erinnert sich auf Sylt an eine Geschichte »über den dicken Döring«, über die man sich »totgelacht« habe (FL, 13), und an die Rolle der Insel als nördlichster Verteidigungsposten im Krieg, überhaupt sei Sylt »so ein Mittelding zwischen Deutschland und England« (FL, 14). Mit Zürich und Thomas Mann als südlichstem Punkt der Reise wird dem Roman ein historischer Rahmen gegeben, die Exilsituation ist auch in der Gegenwart noch präsent: »Zürich ist schön. Hier gab es nie einen Krieg, das sieht man der Stadt sofort an« (FL, 143). Immer wieder ist die NS-Vergangenheit Thema von zufälligen Erinnerungen, etwa wenn der Ich-Erzähler am Beispiel der Marke Hanuta erklärt, weshalb der »Abkürzungswahn« eine Erfindung der »Nazis« ist (FL, 31). Der Umgang der Figuren mit der NS-Geschichte ist hingegen ahistorisch. So meint der Ich-Erzähler zu Karin, dass der Rentner, der ihnen beinahe vor das Auto läuft und hinter dem Auto herschimpft, »sicher ein Nazi ist, und Karin lacht« (FL, 16). Über einen Taxifahrer heißt es: »Der Fahrer ist natürlich ein ziemlicher Faschist, aber irgendwie ist das ganz lässig, so durch die Nacht zu fahren« (FL, 34). Einen Mann im Flugzeug, in dem er einen ›Betriebsratsvorsitzenden‹ vermutet und der ihn wegen seines Verhaltens »richtig erbost« ansieht, tituliert er sogar als »SPD-Nazi« (FL, 49), ein paradoxer Begriff, wurden doch SPD-Mitglieder von den Nazis verfolgt. Beim Landeanflug auf Frankfurt erinnert sich der Ich-Erzähler »an die großartige Anfangsszene aus Triumph des Willens«, »wo der blöde Führer in Nürnberg oder sonstwo landet« (FL, 56). Summarisch stellt er fest: »Ab einem bestimmten Alter sehen alle Deutschen aus wie komplette Nazis« (FL, 89). Und er meint, als er an seine ›Freunde‹ denkt und plötzlich das Gefühl hat, als ob ihm ›alles entgleite‹: »Ich weiß, daß es mit Deutschland zu tun hat und auch mit diesem grauenhaften Nazi-Leben hier Geschichte und Geschichtslosigkeit <?page no="366"?> 353 u lla h ahn : D a S verborgene W ort (2001) und damit, daß die Menschen, die ich kenne und gern habe, so eine bestimmte Kampfhaltung entwickelt haben […]« (FL, 66). Er selbst wird auch entsprechend eingeordnet, etwa von der früheren Freundin seines Freundes Alexander: »Varna hat dann immer gesagt, ich wäre ja ein Nazi und vollkommen unpolitisch, und ich wollte sie dann eigentlich immer fragen, wie das denn gehen soll, gleichzeitig Nazi und vollkommen unpolitisch zu sein […]« (FL, 70). In einer Zeit fehlender Orientierung kann auch ein Begriff wie Nazi flexibel eingesetzt werden. Der Ich-Erzähler ist unfrei, weil er vor jeder Verantwortung nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst flüchtet, er ist ein Getriebener seiner selbst. Mitten auf dem Zürichsee ist er frei, sich zu entscheiden, wie er sein Leben weiter leben möchte. Doch ist angesichts der bisherigen Ereignisse die Wahrscheinlichkeit gering, dass er die Flucht beendet und versucht, ein selbstbestimmtes, aber damit auch verantwortliches, mithin ein freies Leben zu führen. Der Roman lässt den Ich-Erzähler und damit auch den Leser allein mit der Frage, wie denn ein solches freies, von äußeren und inneren Zwängen befreites Leben aussehen könnte. Ulla Hahn: Das verborgene Wort (2001) Zu den beim Publikum wie auch in Literaturkritik und Literaturwissenschaft besonders beachteten Autorinnen der letzten Jahrzehnte gehört Ulla Hahn (geb. 1946). Zunächst ist sie als Lyrikerin sehr erfolgreich, ihre Gedichtbände werden ebenso hymnisch begrüßt wie kritisch beurteilt. Vielen gilt die Autorin weniger als Erneuerin der Lyrik denn als »Musterschülerin des poetischen Kanons« (Braun 2017, unpag.). Allerdings ist die Lyrik in der Postmoderne ohnehin sehr heterogen, wenn man an einen populären Autor wie Robert Gernhardt (1837-2006) denkt, der viel deutlicher und direkter an lyrische Traditionen anschließt. Dem Lyrik-Debüt Herz über Kopf von 1981 folgt 1983 Spielende, ein doppeldeutiger Titel: spielende Menschen oder Spiel-Ende. 1985 erscheint Freudenfeuer und es folgen, in unregelmäßigen Zeit fehlender Orientierung 7.11. Die Lyrikerin Ulla Hahn auf dem Blauen Sofa 2004 Abb. 7.10 <?page no="367"?> 354 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Abständen, weitere Gedichtbände. Herz über Kopf zitiert im Titel Erich Kästner, dessen erster Gedichtband Herz auf Taille (1928) in der Zeit der Weimarer Republik auf ähnlich programmatische Weise als überholt geltende lyrische Formen kunstfertig variiert und dabei Neues geschaffen hat. Acht Jahre nach dem ersten Gedichtband erscheint der erste Roman, Ein Mann im Haus (1991). Eine Frau lässt sich nicht mehr von ihrem Geliebten nach dessen Willen benutzen, sondern kehrt den Spieß auf radikale Weise um: Sie sperrt ihn ein, degradiert ihn zum Kind und Liebesobjekt. Am Schluss tötet sie ihn wider Erwarten nicht, sondern setzt ihn aus. Hier wird die Frage der Freiheit mit der Frage nach den fortdauernden patriarchalischen Verhältnissen und nach weiblicher Selbstbestimmung verknüpft. Allerdings verbietet sich eine feministische Lesart, will man nicht in das andere Extrem verfallen und sich mit einer Täterin identifizieren. Das verborgene Wort (2001) ist der Anfang einer autobiographisch grundierten Trilogie, die Fortsetzungen Aufbruch und Spiel der Zeit erschienen 2009 und 2014. Der erste Band ist am meisten beachtet worden und kann als der bislang erfolgreichste Roman der Autorin gelten: Ulla Hahn ist ein Roman gelungen, dessen literarische Authentizität gewiss von seinem autobiografischen Hintergrund herrührt, wie er mit unbestechlicher Milieugenauigkeit beschworen wird. Mit seiner visionären Kraft, seiner überquellenden Sprachfantasie wirft er freilich auf die naturalistisch erfasste Wirklichkeit ein bedeutendes Licht, in dem sie poetisch transparent wird, durchscheinend für eine Theologie des Worts, die diesen Roman als geheimer Leitfaden durchzieht. (Borchmeyer 2001) Die chronologische Ordnung und die ungebrochene Emphase der Erzählung machen den Roman von Anfang an für ein breiteres Lesepublikum attrativ. Es handelt sich um eine kindliche Emanzipationsgeschichte und zugleich um eine Selbstbefreiung durch Literatur: Auf den fast 600 Seiten dieses monumentalen Familienepos wird die Geschichte der kleinen Hildegard (später ›Hilla‹) Palm erzählt, die als Kind eines Hilfsarbeiters in das Milieu eines herzensverhärteten Katholizismus hineingeboren wird und mühevoll den Weg aus der „Ein Mann im Haus“ Beginn einer Trilogie Eine kindliche Emanzipationsgeschichte <?page no="368"?> 355 u lla h ahn : D a S verborgene W ort (2001) proletarischanalphabetischen Sphäre heraus zu den Verheißungen von Literatur und Poesie findet. (Braun 2017, unpag.) Das Lesen kanonischer Autoren, unter denen nicht zufällig Schiller einen besonderen Rang einnimmt, befähigt die Hauptfigur dazu, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen und der kleinbürgerlichen Existenz eines Dorfes im Rheinland zu entkommen. Der Bildungsroman lässt nicht die Reflexion über den Weg der Bildung vermissen, sie wird nur anders in den Text eingearbeitet, nicht durch formale Strategien, sondern vor allem durch intertextuelle Verweise und figurenbezogene Schilderungen. Im Mittelpunkt steht die Ich-Erzählerin, die ungefiltert ihre Erlebnisse und Empfindungen seit der frühesten Kindheit schildert, beginnend mit dem Großvater, der ihr bei den Spaziergängen am Rhein Geschichten erzählt, die zwischen Märchen und Heiligenlegenden schwanken, und der mit ihr nach »Buchsteinen« sucht (DW, 15), nach Steinen, die man nur ansehen muss, um sich die merkwürdigsten Geschichten ausdenken zu können. Schon am Anfang markiert der Roman eine doppelte (moralische und geographische) Grenze zwischen emanzipatorischer Phantasie und restriktiver Realität: Die Macht des Großvaters endete am Gartentor. Im Anfang erschuf Gott Hölle, Teufel und Kinder, und er sah, daß es schlecht war. Meine Großmutter auch. Kinder kamen schlecht auf die Welt. Erwachsen werden hieß besser werden. Dafür sorgten die Erwachsenen, die alles besser wußten, besser konnten, besser machten, eben weil sie erwachsen waren. Kind sein hieß schuldig sein. (DW, 15) Dagegen steht das bigotte Handeln der Figuren, das fortdauerndes faschistisches Denken offenbart, etwa wenn der »Hautlappen« von seinen Fingern kauende Kaplan in der Schule von den Juden spricht und den Holocaust mit der rhetorischen Frage verharmlost: »Warum haben die sich dann nicht gewehrt? « (DW, 103). Oder wenn Lehrer Mohren ungerechtfertigt Kinder ohrfeigt, brutal mit dem Stock schlägt (DW, 128 ff.) und dabei »keuchte wie ein Tier« (DW, 129). Die für die Erwachsenen zugleich als Richtschnur eigenen Handelns gebrauchte und zur Rechtfertigung dieses Handelns missbrauchte Religion wird von dem nach Freiheit dürstenden „Buchsteine“ Bigotte Figuren <?page no="369"?> 356 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Kind ersetzt durch die Literatur: »Sprache war allmächtig. Allmächtiger als der liebe Gott« (DW, 62). Und weiter: »Es gab Menschen. Sie waren Tatsachen, und man mußte so tun, als lebte man mit ihnen. Meine Seele aber lebte in den Wörtern« (DW, 85). Es ist ein »Märchenbuch« (DW, 66), eine zu Weihnachten bescherte Ausgabe der Märchen der Brüder Grimm (DW, 67), die das erste Erlebnis geistiger Freiheit ermöglicht. Als Hilla durch die Schule Schiller entdeckt, wird er ihr »Heiliger«. Ausschlaggebend ist das Identifikationspotential, das Schillers Leben und Werk dem jungen Mädchen bieten: »Wort für Wort hatte ich mitgeschrieben, traurige Geschichten von harter Kindheit, tyrannischen Fürsten, von Krankheit und Luise, der Freundschaft zu Goethe, dem frühen Tod. […] Mein Wissensdurst und meine Liebe galten nur noch Schiller allein« (DW, 234). Hillas Vater wird zu einem den bösen Figuren bei Schiller vergleichbaren und exemplarischen, das System repräsentierenden »Tyrannen« (DW, 238), der, weil er hart arbeitet, auch von anderen und selbst von seiner kleinen Tochter harte Arbeit verlangt und dabei zu weit geht: Um hinterm Hühnerstall zu sitzen, war es zu verregnet, ich hatte es mir im Wohnzimmer bequem gemacht, las mit erhobener Stimme aus Schillers ›Räubern‹, als die Tür aufging. Der Vater. Viel zu früh. Zu spät, mich aus dem Staube zu machen. Der Vater sah grau und trocken aus, brüchig, versteinert. Nur weg hier. Ich rutschte vom Sofa, wollte mich an ihm vorbeidrücken, als er den Gürtel schon aus der Hose gezogen hatte und auf meine Hand mit dem Reclamheftchen pfeifen ließ. (DW, 237) Es wäre eine lohnende Aufgabe, allen Lektüren des Mädchens nachzugehen und sie mit ihrer Entwicklung in Beziehung zu setzen. Ein Beispiel ist die Veränderung, die in Hilla vorgeht, nachdem sie Kleists Novelle Michael Kohlhaas (1808) gelesen hat, in der es um Gerechtigkeit geht, ohne dass die Novelle die Frage, wie Gerechtigkeit zu erlangen ist oder ob Recht und Gerechtigkeit zusammenhängen, beantworten würde. Daher sorgt der Text bei Hilla und ihren Freundinnen für große Irritationen: Wir verfolgten Kohlhaas, und er verfolgte uns. Nie zuvor, selbst nicht, als es um Schiller gegen Goethe ging, hatte ich ein Stück Literatur so sehr zu meiner eigenen Sache gemacht. Schiller, das war ich selbst: Erste Leseerlebnisse Der Vater-Tochter- Konflikt <?page no="370"?> 357 u lla h ahn : D a S verborgene W ort (2001) ›Der Mensch ist frei und würd’ er in Ketten geboren‹, ›Alle Menschen werden Brüder‹, das war meine eigene Sehnsucht. Die Verachtung des Wirklichen, den Aufschwung in Ideen und Ideale, die Freiheit im Reich der Träume lebte ich, bevor ich Schiller las. (DW, 314) Der Widerspruch zwischen Ideal und Realität ist irgendwann nicht mehr durch »Träume« zu überbrücken, dagegen stehen die harte Ferienarbeit in der Fabrik, der erste Liebeskummer, Krankheits- und Todesfälle in der Familie, die Lehre und der als notwendig angesehene Verzicht auf weitere Bildung, die daraus resultierende innere Leere, der Versuch, das eigene Unglücklichsein mit Alkohol zu bekämpfen. Das junge Leben als »Industriekaufmannsgehilfenlehrling op dr Papp, der Pappenfabrik« (DW, 497) kann Hilla nicht zufriedenstellen, von der Behandlung als Hilfssklavin einmal abgesehen: »In der Kantine. Kaffee. Mit Milch und Zucker. Dalli. Ich ließ mir Zeit. Genoß meine Freiheit. Sklavenfreiheit« (DW, 505). Die Literatur hilft zunächst, das Martyrium der Lehre zu überstehen, und das im Wortsinn: Hilla faltet Gedichte zu Zetteln und legt sie in die Schuhe, sie steht »auf meiner Freiheit im Schuh« (DW, 547). Gegen die Quälereien ihrer Vorgesetzten hilft das aber nicht dauerhaft. Es ist ihr ehemaliger Lehrer Rosenbaum, der mit Lehrer Mohren und Pastor Kreuzkamp ein Stipendium erwirkt und die Eltern überzeugt, dass ihr Kind weiter zur Schule gehen muss. Hilla springt wie der DDR-Soldat vor dem Mauerbau (ein berümtes Foto, über das Hilla ein Gedicht geschrieben hat) »über den Stacheldraht in die Freiheit« (DW, 606 f.), aber nicht durch Flucht, sondern begleitet von ihren Förderern. Programmatisch ist auch, dass Rosenbaum ihr »ein Reclamheftchen« (DW, 619) mit einer Auswahl der »schönsten Gedichte« Heinrich Heines schenkt, denn kein anderer Autor verbindet in gleicher Weise romantische Motivik und emanzipatorisches Potential. Die Gedichte bieten die Möglichkeit individueller Sinnstiftung in einer scheinbar aus den Fugen geratenen Welt: »Aus den ›Heine-Gedichten‹ zog ich Pastor Kreuzkamps Zettel. Ich hatte den Vers gleich gesucht und aufgeschrieben: ›Dem Sieger will ich das verborgene Brot geben; auch einen weißen Stein will ich ihm geben und, auf dem Stein geschrieben, einen neuen Namen, den niemand kennt als der, der ihn empfängt.‹ Lommer Jonn« (DW, 620). Sehnsucht und Bildung Heines Gedichte <?page no="371"?> 358 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Wie in anderen Erinnerungsromanen der jüngeren Zeit, etwa in Christa Wolfs Kindheitsmuster oder in Martin Walsers Ein springender Brunnen, wird es durch Distanzierung und Re-Konstruktion erst möglich, sich der eigenen Lebensgeschichte zu nähern und sie so zu verallgemeinern, dass sie anschlussfähig für die Leser wird. Exemplarisch wird Kritik an Provinzialität und Regionalität geübt. Die Individualgeschichte zeigt sich dabei als unverzichtbarer, repräsentativer Bestandteil des kollektiven kulturellen Gedächtnisses. Der Roman mündet in eine Apologie der Literatur, die dem Individuum erst Trost durch Identifikation bietet, es dann in ein reflexives Verhältnis zu seiner Umwelt setzt und schließlich zur Freiheit befähigt. Die sozio- und vor allem dialektal geprägte Sprache, verbunden mit erzählerischer Lakonie und einem trockenen Humor, sorgen für die notwendige Erdung dieses Sprungs in die Freiheit. Felicitas Hoppe: Johanna (2006) Felicitas Hoppe (geb. 1960) gehört zu den von Literaturkritik und Literaturwissenschaft am meisten beachteten Autorinnen der Gegenwartsliteratur, neben zahlreichen anderen Preisen erhielt sie 2012 auch den renommiertesten deutschsprachigen Literaturpreis, den Georg-Büchner-Preis. Bereits ihre erste Veröffentlichung in einem bekannten Verlag, der Erzählungen-Band Picknick der Friseure (1996), erhielt den angesehenen Aspekte-Literaturpreis des ZDF. Ihr erster Roman Pigafetta (1999) handelt von einer Weltumrundung auf einem Containerfrachtschiff, dem die Erinnerungen an die Weltumsegelung Ferdinand Magellans (1480-1521) und seines Begleiters Antonio Pigafetta (1480-1534) unterlegt sind. Eine vergleichbare doppelte Perspektive weist auch Johanna auf. Es folgen unter anderem die Romane Paradiese, Übersee (2003) und Hoppe (2012), eine vielbeachtete fiktive Autobiographie, sowie der Band mit Erzählungen Verbrecher und Versager. Fünf Porträts (2004) und die Adaption des Artus-Romans Iwein Hartmanns von Aue (Lebensdaten unbekannt) in Iwein Löwenritter (2008). Eine Apologie der Literatur 7.12. Felicitas Hoppe, 2012, Literaturfest München, forum: autoren Abb. 7.11 Erzählungen und Romane <?page no="372"?> 359 f elIcIta S h oP Pe : J ohanna (2006) Für eine Literaturgeschichte der Freiheit ist Hoppes Werk nicht zuletzt deshalb so interessant, weil immer wieder konstatiert wird, dass es sich jeder Kategorisierung entzieht. Das Werk ist einerseits hochgradig intertextuell aufgeladen, mit Verweisen auf unterschiedlichste Texte der Weltliteratur, und es zeichnet sich andererseits durch eine kritische Distanz gerade zu den Größen dieser Weltliteratur aus (Frank / Ilgner 2017). Das gilt auch für die Auseinandersetzung mit Geschichte: »›Wahrheit’ ist für Hoppe, selbst in der Historiografie, nur im Plural möglich« (Neuhaus 2017, unpag.). Wenn Freiheit auch immer die Freiheit der Form ist, dann scheint es sich hier um eine Autorin zu handeln, die sich der Form, selbst an den Standards der Literatur als Kunst gemessen, auf eine besonders freie Weise bedient: Die Alltagslogik wird durch eine neue Logik ersetzt, die jeder herkömmlichen Wahrscheinlichkeit entbehrende Figurencharakteristiken und Handlungen als vollkommen selbstverständlich miteinander verknüpft. Entscheidend ist der veränderte Blick auf die Welt, es geht nicht zuletzt ›um die unterschiedlichen Weisen‹ und Möglichkeiten ›der Wahrnehmung‹ (Martin Todtenhaupt). […] Der Verlust an Transzendenz macht bei ihr einem großen Staunen über die Welt Platz; die Verfremdung des Alltäglichen konstituiert einen neuen Blick, der dem des Märchens vergleichbar ist. (Neuhaus 2017, unpag.) Der Roman Johanna verweist im Titel auf die bekannteste Freiheitskämpferin der Geschichte, auf Johanna von Orléans, die französische Nationalheldin Jeanne d’Arc (1412-31). Mit der Transformation dieser historischen Person in eine literarische Figur stellt sich der Roman in eine lange Reihe von Literarisierungen (Nette 2002, 129-132), zu den bekanntesten deutschsprachigen Bearbeitungen gehören zwei Dramen: Schillers Die Jungfrau von Orleans (1801) und Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe (entstanden 1929 / 30 nach der Weltwirtschaftskrise). Auch diese beiden Texte beschäftigen sich mit der Frage der Freiheit des Individuums in der Gesellschaft und besonders mit der Mission Johannas, eine Gesellschaft von Fremdherrschaft befreien zu wollen, ohne dadurch Freiheit für sich selbst zu erlangen. Hoppes Roman geht auf die historische Johanna selbst nur in einem sehr kurzen, berichtartigen Vorspann ein. Die eigentliche Handlung des Romans spielt, so lässt sich vermuten, in der Gegenwart, auch wenn es keine Zeit- und Ortsangaben gibt. Eine Intertextuell und originell Quellen Geschichte und Gegenwart <?page no="373"?> 360 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Ich-Erzählerin, die über Johanna promovieren möchte (JO, 36), schildert ihre Erfahrungen dieser Promotionszeit bis hin zu einer Reise, die sie mit Kollegen nach Rouen unternimmt, an den Ort und am Jahrestag der Hinrichtung (JO, 140 ff.). Die wenigsten Figuren des Romans werden mit einem Namen oder einer mehr als typenhaften Bezeichnung ausgestattet, von den historischen Personennamen einmal abgesehen. Immer wieder werden die historischen Personen und die literarischen Figuren der Erzählgegenwart überblendet. Der zeitgeschichtliche Hintergrund der Johanna des Romans ist ein ganz anderer geworden. Der Diskurs über politische (Schiller) und ökonomische Freiheit (Brecht) ist in der Postmoderne einem Diskurs über die Probleme gewichen, mit den heute selbstverständlich gewordenen Freiheiten umzugehen. Auffällig an den Texten Hoppes und untypisch für die Literatur der Gegenwart ist, dass keine problematische Orientierungslosigkeit und vergebliche Sinnsuche des postmodernen, befreiten Individuums gestaltet wird. Obwohl sich die Figuren bei Hoppe scheinbar in einem Übergangsstadium und in einer Lebenskrise befinden, sind sie nicht unglücklich oder gar verzweifelt, eher im Gegenteil. Der undurchschaubaren Wirklichkeit begegnen sie ohne Resignation und mit großer Selbstverständlichkeit. Sie zeigen eine weitgehend ungebrochene Vitalität, die durch die mal ironische, mal humorvolle Erzählweise unterstützt wird. Nach dem »Prolog« folgen sieben Kapitel, die kurze und allgemeine, in dieser Zusammenstellung einen breiten Assoziationsraum eröffnende Titel tragen, auch wenn die Begriffe durchaus mit einer Figur wie der historischen Johanna in Verbindung gebracht werden können: »Mützen«, »Stimmen«, »Wunder«, »Prüfungen«, »Zeugen«, »Leitern« und »Himmel«. Der Prolog stellt einen Zusammenhang mit der Heilsgeschichte her, der historische Hintergrund ist die von Johanna behauptete göttliche Sendung: »Johanna wurde in der Dreikönigsnacht geboren. Die Tiere begannen zu sprechen, die Brüder hielten den Stern in die Höhe, nur die Könige konnten sich nicht einigen.« Das Leben der historischen Johanna bleibt eine Leerstelle: »Neunzehn Jahre später, als der Bischof endlich begann, das Todesurteil zu verlesen, und der Scharfrichter sich mit dem Karren näherte, verließen Johanna die Kräfte.« Das erst religiös motivierte und dann grausame Geschehen erscheint auf komische Weise verfremdet. Die uneinigen Spielerische Sinnsuche Assoziationsräume <?page no="374"?> 361 f elIcIta S h oP Pe : J ohanna (2006) Könige und die Formulierung »endlich«, die suggeriert, die ganzen 19 Jahre sei nur auf das Verlesen des Todesurteils gewartet worden, passen nicht zu den üblichen Lesererwartungen. Ebenso merkwürdig ist die Formulierung, bei ihrem Gang zum Scheiterhaufen sei Johanna von »achtzig oder achthundert englische[n] Soldaten« begleitet worden (JO, 9). Die zentralen Motive der folgenden Kapitel werden angesprochen, etwa wenn es heißt: »Bevor man sie auf den Scheiterhaufen führte, setzte man ihr eine Papiermütze auf […].« Der Schluss des gerade eineinhalbseitigen Prologs öffnet einen offenen symbolischen Deutungsraum: »Johannas Reste, Asche und das Herz, das den Feuertod manchmal übersteht, wurden vom Gerichtsdiener Jean Massieu in die Seine geworfen« (JO, 10). Dabei werden weniger romantische Motive aufgerufen als historische Tatsachen berichtet: »Ihre Asche wurde auf Befehl des Bischofs von Winchester in die Seine geworfen. Das Herz war - bei dieser Art der Verbrennung keine Seltenheit - unversehrt« (Nette 2002, 107). Bemerkenswert ist dennoch, dass gerade dieser Punkt betont und das Spiel mit dem Motiv des Herzens fortgeführt wird. Zugleich werden das Spiel mit den Lesererwartungen einerseits und die konstitutive Deutungsoffenheit des Texts andererseits bereits mit dem Anfang des ersten Kapitels programmatisch deutlich: Damen und Herren, was bleibt, ist ein Rätsel. Was ist das? Schwimmt wie ein Fisch, heult wie ein Hund, fällt auf die Knie wie ein Bettelbruder und feiert sich wie ein französischer König. Das menschliche Herz, ruft Peitsche, der alles verträgt, nur keinen Rauch. Er weiß, dass mir Rätsel zuwider sind, also löst er sie rasch. Er verbringt seine Zeit nicht mit Innenfutter, sondern mit Stoff, mit der Nachbildung von Papiermützen, die er abends faltet, nachts beschriftet und morgens im Hörsaal prüfend ins Licht hält. (JO, 11) Auch die »Nachbildung von Papiermützen« hat einen historischen Hintergrund: »Bevor sie auf den Scheiterhaufen geführt wurde, setzten ihr die Knechte eine Papiermütze auf, auf der die Worte standen: Ketzerin, Abtrünnige, Götzendienerin« (Nette 2002, 106). Allerdings wird im Roman die Beschriftung nicht genannt, sondern der kontrastierend spielerische und wissenschaftlich-analytische Umgang mit den Mützen betont. Der Figurenname »Peitsche« deutet bereits auf eine Gelehrtensatire, die sich durch den Das Motiv des Herzens <?page no="375"?> 362 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Roman zieht und am Beginn des Kapitels »Stimmen« auf witzige Weise variiert wird: »Am Morgen danach große Stille im Hörsaal. Hitze und hektisches Kronensuchen« (JO, 31). Auch die Figur des Professors passt ins Bild: »Was den Professor mit Karl dem Siebten verbindet? Krumme Beine, kleine Augen, schmales Kinn. […] Kaum Lust auf Krieg. Was für ein König! Immer in Pleite, immer in Schuld, immer in Angst« (JO, 41). Das bedeutet aber für seine Studenten ein Problem: »Denn der Professor ist unberechenbar, genau wie der Bischof« (JO, 88 f.). Peitsche ist berechenbar und führt daher bei Prüfungen »immer den Vorsitz« (JO, 88). Er ist »der schönste und beste Schüler von allen« (JO, 11) und er ist für die Ich-Erzählerin die entscheidende Bezugsperson: Doktor Peitsche, mein Vorbild. Schnelle Zunge, helle Stimme, schlagende Rede, biegsamer Gang. Ich bin längst verliebt, zwar ohne Titel, aber Spitznamen darf ich trotzdem vergeben, und er trägt seinen Namen mit Stolz, vielleicht auch aus Trotz, wie ein unerwünschtes Geschenk, mit dem der Träger den Schenker bestraft. (JO, 12) Deutlich wird hier die das Werk Felicitas Hoppes kennzeichnende lyrische Sprache, die nicht nur mit offenen Symbolen und Metaphern, sondern auch mit alternierenden Metren, mit Alliterationen, Assonanzen und Binnenreimen arbeitet. Durch Sprachspiele wird auch Komik erzeugt, die den Ernst der Erzählung unterläuft, etwa wenn es heißt: »Vom Schaf zum Schafott, das ist ja nur eine Silbe […]« (JO, 162), eine Formulierung, die an vergleichbare Metalepsen in der Literatur erinnert, etwa an die berühmte Stelle in Kleists Penthesilea: »Küsse, Bisse, / Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das eine für das andre greifen« (PE, 425). Anders als Kleists Drama endet Hoppes Roman mit einem angedeuteten, freilich auch ironischen Happy-End. Peitsche und die Ich-Erzählerin gehen in der Seine schwimmen, in die seinerzeit die Überreste Johannas geworfen wurden: Ein Kuss in die Luft, ein Pfiff durch die Zähne, wir sind wieder da. Peitsche wickelt mich fest in die Decke. Er trocknet mich ab, und ich lache. Peitsche lacht, und ich trockne ihn ab. Ich nehme zwei Blüten aus seiner Frisur, die seinen Kopf wie zwei farbige Scherben bedecken. Und morgen, falls es das Wetter erlaubt, werden wir uns duzen. (JO, 171) Das Wort »Rätsel« durchzieht den Text und wird kontrastiert mit Eine Gelehrtensatire Sprachspiele und Komik <?page no="376"?> 363 f elIcIta S h oP Pe : J ohanna (2006) dem Begriff der »Wahrheit«: »Nacht für Nacht pocht Peitsche auf Aufmerksamkeit. Dabei weiß er genau, wie schlecht ich Wahrheit vertrage. Stecken und Dreck, immer aufs Auge und Zahn gegen Zahn. Hundert Jahre Krieg! Was soll ich in der Vergangenheit? Wo liegt übrigens Frankreich? « (JO, 13). Man könnte darin auch eine Fortführung der Gelehrtensatire sehen, die den positivistischen Umgang mit Geschichte kritisiert und für eine literarische Sicht auf die Geschichte votiert. Doch zugleich wird eine solche Perspektive wieder ironisch unterlaufen, schließlich promoviert die Ich-Erzählerin über Johanna: »Ich bin Spezialisten für Karrenritter, aber ich war nie in Rouen.« Dem wird die Reise abhelfen, auf der sich die Ich-Erzählerin und Peitsche näher kommen, obwohl sie für ihn zunächst ambivalente Gefühle hegt, weil er sich im Unterschied zur ihr im Griff hat: »Geliebter Gegner, dreh mir den Strick« (JO, 15). Zuvor muss die Ich-Erzählerin eine Prüfung absolvieren, die auf seltsame Weise ohne Ergebnis endet, weil der Professor aus dem Raum gerufen wird (JO, 125). Ein Schlüsselbegriff des Werks ist »Angst«, auf diese Spur führt auch die titellose Nachschrift und Danksagung am Ende des Buches: Meiner Familie und meinen Freunden danke ich für ihre Geduld und dem Dichter Ossip Mandelstam für die Angst, die mich jederzeit bei der Hand nimmt und führt. Wenn die Angst bei mir ist, habe ich keine Angst. Dartmouth College, New Hampshire, im Mai 2006 Felicitas Hoppe (JO, 173) Im ersten Kapitel des Romans heißt es: Auch ich beginne jetzt leise zu beten, damit ich endlich die Mütze des Bruders finde, der Johanna bis heute das Kreuz vorhält. Die Mütze von Bruder Ladvenu, 4 die mehrfach gefaltete Feuerleiter mit der großen und praktischen Aufschrift DIE ANGST. Die Angst nimmt mich bei der Hand und führt mich. Wenn die Angst bei mir ist, habe ich keine Angst. (JO, 21) Die historische Figur, die Ich-Erzählerin und die in der Nachschrift präsente Autorin werden in ihrem Gefühl der Angst über- 4 »Bruder Ladvenu nahm ihr mit Erlaubnis des Bischofs Cauchon die Beichte ab und reichte ihr den Leib des Herrn […]« (Nette 2002, 104). Schlüsselbegriff Angst <?page no="377"?> 364 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart einandergelegt, das sich heute aber nicht mehr durch rituellen Gebrauch der Religion vertreiben lässt und auch damals nicht vertreiben ließ, da Johanna schließlich alles gestand, was man von ihr hören wollte (JO, 9). Insofern eröffnet der Roman durch seinen Verzicht auf klare Konzepte der Wahrnehmung, ja durch sein Misstrauen gegenüber solchen Konzepten eine konstruktivistische Sicht auf die Welt: »In der Ferne sieht man sogar schon das Meer, oder jedenfalls das, was wir dafür halten. Auf die Kraft der Einbildung kommt es an« (JO, 69). Diese konstruktivistische Sicht wird auch immer wieder durch den Gebrauch der Anredeformel und die Frage nach der möglichen Wahrheit betont: »Damen und Herren, die Wahrheit, was ist das? « (JO, 23). Aus einer solchen Frage leiten sich zahlreiche andere Fragen ab, die angesichts ihrer ungewöhnlichen Offenheit mehr Chiffre als Symbol und erkennbar nicht ohne Ironie sind: »Wie krönt man richtig? « (JO, 32). Das bedeutet aber keine Relativierung von Geschichte. Die historischen Begebenheiten könnten klarer nicht sein und doch ist der Kontrast zur Erzählgegenwart deutlich markiert: »Johanna brennt, und ich sitze im Hörsaal« (JO, 34). Daraus resultieren, bei aller Symbolik und Ironie, ernst und keineswegs relativierend klingende Sätze wie: »Nicht die Nacht ist schrecklich, sondern wir sind schrecklich« (JO, 35). Oder: »Wir bleiben zurück und schwimmen im Tümpel der Angst vor uns selbst« (JO, 37). Es geht vielmehr darum, Strategien zu finden, mit denen dieses Gefühl ausgehalten werden kann. Der Roman votiert für eine grundsätzliche Skepsis, nicht nur gegenüber dem Wissenschaftsbetrieb, der hier als Laboratorium für den Erfahrungsraum gegenwärtigen Lebens gelesen werden kann. Die Skepsis gilt auch den Mützen, die benutzt werden, um kollektive ›Wahrheiten‹ mit Gewalt gegenüber Individuen durchzusetzen: »Die Wahrheit ist anders und einfach, für jeden Kopf eine eigene Mütze, eine eigene Faltung, eine eigene Aufschrift« (JO, 70). Metafiktional wird der Text, indem er das Schreiben und sich selbst thematisiert, etwa wenn es heißt: »Was für ein Text! rief Peitsche. Viel besser als der Text des Professors, Sie sprechen im Schlaf ja wie abgeschrieben. Ganz wunderbar und ohne zu stottern […]. Sie lieben das Einfache, kann das sein? Aber das macht nichts, ich möchte es trotzdem hören« (JO, 42). Der Text unterläuft so seine eigene Kontruktionsarbeit, dazu passt auch der ironische Verweis auf die allgemeine Verwendung von Sprache: »Und wie viel Fleiß Eine grundsätzliche Skepsis <?page no="378"?> 365 t hom a S b ernharD : m eIne P reI Se (2009) und Erwartung liegt zwischen zwei Spielen! Und obenauf, in die braune Decke gewickelt, unser verlässlicher Aberglaube, das altbewährte Zeichensystem« (JO, 65). Und weiter: »Wir sind ja umzingelt von falschen Zeichen, von falschen Prognosen […]« (JO, 66). Der Roman provoziert den Leser zur eigenen Deutung. Und das wiederum kann gelesen werden als ein Aufruf zur Freiheit, gegen die Angst vor der (Be-)Deutungslosigkeit den Mut zur eigenen Sinnstiftung zu setzen. Thomas Bernhard: Meine Preise (2009) Wenn man nach den bedeutendsten österreichischen Autorinnen und Autoren der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts fragt, fallen auf jeden Fall drei Namen: Elfriede Jelinek, Peter Handke und Thomas Bernhard (1931-89). Nicht nur für die österreichische Literatur der 1960er bis 1980er Jahre ist Bernhard die prägende Persönlichkeit: »Kein Autor hat nach dem Zweiten Weltkrieg die österreichische Öffentlichkeit so sehr polarisiert, und kein Schriftsteller ist in diesem Land auch bei Menschen, die sich für Literatur nur wenig interessieren, so bekannt geworden wie Thomas Bernhard« (Mittermayer 2006, 8). Bernhard hat sich in seinen zahlreichen Dramen und Romanen immer wieder mit der Schwierigkeit beschäftigt, als Individuum in der Gesellschaft, insbesondere in der österreichischen Gesellschaft der Nachkiegszeit, ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen: Teil des falschen Ganzen bleiben alle Figuren, und dies in durchaus konkreter Form: Ihre persönliche Katastrophe, deren Genese selten auch nur angedeutet wird, ist stets verbunden der des Heimatlandes Österreich (alle Prosatexte und die meisten Theaterstücke spielen 7.13. Ein Klassiker und Kritiker Österreichs Thomas Bernhard, 1987 Abb. 7.12 <?page no="379"?> 366 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart dort), das für Bernhards (und seiner Helden) Haßliebe ein politisch verkommenes, kulturell totes und landschaftlich verwüstetes Nichts ist, und der universalen Katastrophe einer sich immer rascher und gründlicher vernichtenden Welt. (Sorg / Töteberg 2014, unpag.) Eine Auswahl aus dem umfangreichen Werk zu treffen ist schwer. Zu den bekannten Werken gehören die Romane Frost (1963), Verstörung (1967), Das Kalkwerk (1970), Beton (1982), Holzfällen. Eine Erregung (1984), Alte Meister. Komödie (1985) und Auslöschung. Ein Zerfall (1986); ebenso die Stücke Der Ignorant und der Wahnsinnige (1972), Der Theatermacher (1984) und Heldenplatz (1988). Bernhard arbeitete als Dramatiker intensiv mit Claus Peymann zusammen, schon lange vor dessen Zeit als Direktor des Wiener Burgtheaters. Ein ironisch-literarisches Dokument dieser Zusammenarbeit sind die ›drei Dramolette‹ mit dem Titel Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen (posthum 1990 erschienen). Im kollektiven Gedächtnis besonders präsent ist das von Peymann bei Bernhard in Auftrag gegebene Stück Heldenplatz, dessen Uraufführung 1988 zu den größten Theaterskandalen der deutschsprachigen Literaturgeschichte zählt. Es ist ein Stück zu zwei hochsymbolischen Jubiläen: 50 Jahre Anschluss Österreichs an Nazideutschland und 100 Jahre Wiener Burgtheater im neuen Haus. Bereits der Titel des Stücks und damit der Schauplatz der Handlung tragen dem symbolischen Datum Rechnung: Der Heldenplatz war und ist zugleich das Zentrum der politischen Macht. Im Leopoldinischen Trakt der Burg lebten Maria Theresia und Joseph II.; heute ist er der Amtssitz des österreichischen Bundespräsidenten. […] Die Bezeichnung ›Heldenplatz‹ ist auf die beiden Reiterdenkmäler zurückzuführen, die die Erinnerung an die historischen Siege wach halten sollen […]. Die optische Vergegenwärtigung dessen, was in Jahrhunderten Österreichs Bedeutung ausgemacht hatte, wurde kurz nach der Fertigstellung der Neuen Burg, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in nationalpolitischem Sinn wirkungsvoll instrumentalisiert […]. Die Nationalsozialisten konnten hier anknüpfen. Das hat auch Adolf Hitler in seiner Rede auf dem Heldenplatz am 15. März 1938 genutzt, als er […] die ›Eingliederung‹ der ›Ostmark‹ in das Deutsche Reich verkündete […]. (Ingen 2001, 5 f.) Die österreichische Öffentlichkeit wollte sich bis zu der Zeit nicht „Heldenplatz“ <?page no="380"?> 367 t hom a S b ernharD : m eIne P reI Se (2009) mit der Frage einer Mitschuld am Nationalsozialismus auseinandersetzen: Trotz der Bemühungen österreichischer Historiker, die komplexen Verhältnisse herauszuarbeiten und die Verzahnung von Austrofaschismus und Nationalsozialismus in kritischer Distanz zu analysieren, herrschte in der Bevölkerung nach wie vor das Bedürfnis, die Geschichte ruhen zu lassen, die Frage einer Mitschuld zu bagatellisieren und sich lieber auf die politische Bedeutungslosigkeit der kleinen Alpenrepublik zurückzuziehen. (Ingen 2001, 18) Nun wird sie durch einen Schriftsteller, den kritischsten und bekanntesten der Alpenrepublik, dazu gezwungen. Ein weiterer wichtiger zeitgeschichtlicher Hintergrund ist die sogenannte Waldheim-Affäre. Kurt Waldheim (1918-2007) war 1968-70 Außenminister in Wien, 1972-81 Generalsekretär der Vereinten Nationen und von 1986-92 österreichischer Bundespräsident. Seine Verstrickungen in Kriegsverbrechen in der NS-Zeit führten zeitweise zur internationalen Isolierung Österreichs. Die Bezüge von Bernhards Stück könnten daher nicht aktueller sein. Der jüdisch-österreichische Mathematikprofessor Josef Schuster, der Züge des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951) trägt, hat mit einem Sturz aus dem Fenster seiner Wohnung Selbstmord begangen. Während der NS-Zeit hat er als Emigrant in Oxford gelebt und gelehrt, ist aber 1955 nach Wien zurückgekehrt. Nun will er wieder nach Oxford zurück, doch nimmt er sich, weil er diesen erneuten Wechsel nicht mehr als Ausweg sehen kann, kurz vor der Abreise das Leben. Vor seinem Begräbnis treffen die Familienmitglieder und Freunde zusammen, sie reden über den Verstorbenen und über die Gesellschaft, in der sie leben. Typisch für Bernhard sind die Wiederholungsstruktur und der Überbietungsgestus. Es handelt sich hierbei nicht um Beleidigungen, sondern um eine kunstvolle, die Figuren zugleich selbst ironisierende Schimpfrede: »Professor Liebig Darum geht es ja nicht / das ist ja vollkommen gleichgültig was das für eine Regierung ist / es ist ja eine wie die andere / es sind ja immer dieselben Leute / es sind ja immer dieselben Geschäfte / die diese Leute machen / es sind immer dieselben Interessen / das sind ja immer diese ganz und gar verkommenen Leute / die mit jedem Tag den Staat mehr zu grunde richten Die Waldheim-Affäre Am Anfang steht ein Selbstmord Kunstvolle Schimpfrede <?page no="381"?> 368 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Professor Robert Allein die Sprache dieser Leute / ist so widerwärtig / hören Sie sich doch einmal den Bundeskanzler an / der kann ja nicht einmal einen Satz korrekt zu Ende führen / und die andern auch nicht / aus allen diesen Leuten kommt immer nur Unrat heraus / […] […] was sie denken ist Unrat / und wie sie es aussprechen ist auch Unrat Professor Liebig Und die Zeitungen schreiben Unrat / in den Zeitungen wird auch eine Sprache geschrieben / die einem den Magen umdreht […]. (Bernhard 1995, 120 f.) Und weiter: Professor Robert In diesem fürchterlichsten aller Staaten haben Sie ja nur die Wahl / zwischen schwarzen und roten Schweinen / ein unerträglicher Gestank breitet sich aus / von der Hofburg und vom Ballhausplatz / und vom Parlament / über dieses ganze verluderte und verkommene Land ruft aus Dieser kleine Staat ist ein großer Misthaufen. (Bernhard 1995, 164) Die Frau des Verstorbenen bildet sich ein, Hitlers Rede von 1938 und das Geschrei der Menge auf dem Heldenplatz zu hören, doch am Ende des Stücks wird dies auch für die Zuschauer hörbar und es kommt zu einem dramatischen Effekt: Professor Robert während das Massengeschrei vom Heldenplatz herauf bis an die Grenze des Erträglichen anschwillt, laut Das Ganze war ja eine absurde Idee / nach Wien zurückzugehen / noch lauter Aber die Welt besteht ja nur aus absurden Ideen Die Frau Professor Schuster fällt mit dem Gesicht voraus auf die Tischplatte / Alle reagieren erschrocken Ende. (Bernhard 1995, 165) Das Stück ist, wie alle Texte Bernhards, von einer grotesken Tragikomik, die in einer langen Tradition steht - man denke an die Dramen von Bertolt Brecht und Ödön von Horváth, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch, auch an das Absurde Theater. So regen drastische Sätze wie die zitierten und wie der folgende durchaus auch zum Lachen an, das einem allerdings im Hals stecken bleibt: »Professor Robert Das Tragische ist ja nicht / daß mein Bruder tot ist / daß wir zurückgeblieben sind ist das Fürchterliche« (Bernhard 1995, 162). Thomas Bernhard beweist Konsequenz und bewahrt seine kritische Einstellung zum Staat Österreich sogar über seinen Tod hinaus: Tragikomik und Tradition <?page no="382"?> 369 t hom a S b ernharD : m eIne P reI Se (2009) In seinem Testament, soweit es an die Öffentlichkeit gelangt ist, werden, sein Werk betreffend, zwei Verfügungen getroffen: 1. Innerhalb der Dauer des gesetzlichen Urheberrechts (d. h. innerhalb der nächsten 70 Jahre) darf in Österreich nichts von ihm aufgeführt, verlegt oder vorgetragen werden; 2. darf, wo auch immer, nichts aus seinem Nachlass veröffentlicht werden […]. Der Zweck ist klar: Bernhard entzieht postum sein Werk dem Staat Österreich (seine Bücher sollen allerdings nach wie vor dort verkauft werden dürfen), und er insistiert darauf, dass nur das von ihm zu Lebzeiten Publizierte weiter gedruckt und aufgeführt werden soll, in allen Ländern mit Ausnahme Österreichs. Schon wenige Jahre nach Bernhards Tod begann eine gleichsam schleichende, offensichtlich von den Erben, dem Halbbruder Dr. Fabjan und dem Suhrkamp Verlag, geduldete Aufweichung dieser Bestimmungen. (Sorg / Töteberg 2014, unpag.) Welche wache kritische Haltung der auf seiner Individualität bestehende Bernhard gegenüber kollektiven Zwängen gehabt hat, zeigt auch die 2009 posthum erschienene Sammlung von Aufsätzen und Reden unter dem Titel Meine Preise, 1980 entstanden und wohl 1989 für eine Veröffentlichung vorgesehen; der Tod kommt dazwischen (TP, 131 f.). Der erste Text handelt von der Verleihung des renommierten österreichischen Grillparzer-Preises 1972 in Wien und zeichnet sich bereits durch die für Bernhard typische groteske Komik aus. Den Rahmen bildet der Kauf eines Anzugs zum gegebenen Anlass, den der Ich-Erzähler 5 nach der missglückten Verleihungszeremonie im Geschäft umtauscht, da er ihm »um mindestens eine ganze Nummer zu klein« sei (TP, 18). Schließlich überlegt er, wer den Anzug, in dem er den renommierten Preis erhalten hat, wohl gekauft habe. Seine Dankbarkeit gilt nicht den Verantwortlichen der Preisverleihung, sondern den Mitarbeitern des Herrenbekleidungsgeschäfts (TP, 19). Die Verleihungszeremonie selbst wird als »Kuriosität und Geschmacklosigkeit und Gedankenlosigkeit« beschrieben (TP, 17). Als sich der Ich-Erzähler rechtzeitig zum Termin in Begleitung seiner Tante einfindet, sucht er längere Zeit in der Eingangshalle der Akademie der Wissenschaften nach jemandem, der ihn empfangen würde: »Vergeblich« (TP, 12). Deshalb setzen sich die bei- 5 Auch wenn es sich um einen autobiographischen Text handelt, so ist er doch mit literarischen Mitteln auf eine bestimmte Wirkung hin gestaltet worden, daher wird diese Bezeichnung verwendet. Der Grillparzer-Preis <?page no="383"?> 370 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart den auf noch freie Plätze und beobachten das weitere Geschehen: »Auf dem Podium vorne liefen in immer kürzeren Abständen aufgeregte Herren hin und her, so, als suchten sie etwas. Und tatsächlich suchten sie etwas, nämlich mich« (TP, 13). Schließlich wird der Ich-Erzähler gefunden und er muss sich in die erste Reihe neben die Ministerin für Wissenschaft setzen, die während des Programms »eingeschlafen war« (TP, 15). Bernhard und seine Tante amüsieren sich auch über die Reden an den Stellen, die »zu dumm oder auch nur zu komisch gewesen« sind. Schließlich ergreift Akademie-Präsident Hunger das Wort: Er verlas ein paar lobende Worte über meine Arbeit, nicht ohne ein paar Titel von Schauspielen zu nennen, die von mir sein sollten, die ich aber gar nicht geschrieben hatte und zählte eine Reihe von Berühmtheiten Europas auf, die vor mir mit dem Grillparzer-Preis ausgezeichnet worden sind. (TP, 16) Als der Festakt vorüber und die Ministerin aufgewacht ist, wird der Preisträger wieder ignoriert, alle scharen sich um den hohen politischen Gast, bis dieser plötzlich Interesse am Preisträger zeigt: Nach einiger Zeit blickte die Ministerin in die Runde und fragte mit unnachahmlicher Arroganz und Dummheit in der Stimme: ja, wo ist denn der Dichterling? Ich war unmittelbar neben ihr gestanden, aber ich wagte nicht, mich zu erkennen zu geben. Ich nahm meine Tante und wir verließen den Saal. (TP, 17) Dieser Text bildet, gegen die Chronologie der Preisverleihungen, den Auftakt. Er nimmt das zentrale Motiv der weiteren Texte vorweg: das Unangemessene der Zeremonie. Die Juroren, Laudatoren und Vertreter öffentlicher Institutionen werden im Wortsinn vorgeführt. Sie sind weder dazu in der Lage, Literatur angemessen zu beurteilen, noch entspricht ihr Verhalten den elementaren Höflichkeitsregeln. Schon der nächste Text vertieft den Kontrast, indem er am Beispiel der schweren Krankheit des Ich-Erzählers die Abhängigkeit von Preisgeldern zeigt (TP, 20 ff.), eine Abhängigkeit, die der Routine der Verleihungen und der Ignoranz gegenüber den Preisträgern entgegensteht: »Der Präsident von Bohlen und Halbach betrat das Podium und las von einem Zettel Folgendes ab: … und hiermit überreicht der Bundesverband der Deutschen Industrie die Ehren- Die Ministerin schläft Abhängigkeit von Preisgeldern <?page no="384"?> 371 t hom a S b ernharD : m eIne P reI Se (2009) gaben neunzehnhundertsiebenundsechzig an Frau Bernhard und Herrn Borchers! « Der Ich-Erzähler tröstet Elisabeth Borchers: »Ich drückte ihre Hand und sagte, sie solle nur an den Scheck denken […]« (TP, 30). So erhält das Preisgeld den Charakter von Schmerzensgeld. Im dritten Text geht Bernhard noch weiter zurück, die soziale Situation von Schriftstellern wird noch deutlicher thematisiert: »Nachdem ich fünf Jahre überhaupt nichts und dann in einem Jahr (1962) in Wien Frost geschrieben hatte, war meine Zukunft trostloser denn je gewesen« (TP, 32). Die Rezensionen zum Roman reichen »vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß«: »Ich glaubte an dem Irrtum, Literatur sei meine Hoffnung, ersticken zu müssen« (TP, 33). In der Situation rettet ihn der Bremer Literaturpreis, aber vor allem die Aussicht auf die »Preissumme von zehntausend Mark«, um »mein Leben abzufangen, ihm eine radikale Wendung zu geben, es wieder möglich zu machen« (TP, 36). Doch macht er als »Jurymitglied für den nächsten Preisträger« eine desillusionierende Erfahrung: Ich war dafür, Canetti den Preis zu geben für seine Blendung, das geniale Jugendwerk, das ein Jahr vor dieser Jurysitzung wieder neu gedruckt worden war. Mehrere Male sagte ich das Wort Canetti und jedesmal hatten sich die Gesichter an dem langen Tisch wehleidig verzogen. Viele an dem Tisch wußten gar nicht, wer Canetti war, aber unter den wenigen, die von Canetti wußten, war einer, der plötzlich, nachdem ich wieder Canetti gesagt hatte, sagte: aber der ist ja auch Jude. Dann hatte es nur noch ein Gemurmel gegeben und Canetti war unter den Tisch gefallen. (TP, 47 f.) Dass die Jury dann aus Unkenntnis über dessen Judentum Wolfgang Hildesheimer den Preis verleiht, ist für den Ich-Erzähler »die Pointe des Preises« (TP, 49). Nicht nur das immer noch vorhandene faschistische Denken wird so vorgeführt, sondern auch seine vollkommene Haltlosigkeit. Ähnlich verhält es sich mit einem österreichischen Bundesminister mit Namen Piffl-Per č evi ć , für den der Ich-Erzähler »ein in Holland geborener Ausländer« ist (TP, 80; Thomas Bernhard ist, als Sohn österreichischer Eltern, in Holland zur Welt gekommen). Als der Ich-Erzähler in seiner Dankesrede »von der Lächerlichkeit alles Menschlichen« und »der Nichtigkeit aller Staaten« spricht, wird dieser offenkundig nationalistische Minister sehr wütend: »In höchster Erregung stand er vor mir und bedrohte mich, ja, er ging mit vor Wut erhobener Hand auf mich zu« (TP, 82). Der Bremer Literaturpreis Unkenntnis der Jury Der Minister wird wütend <?page no="385"?> 372 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Eine Stelle anlässlich dieser Verleihung des (kleinen! ) Österreichischen Staatspreises für Literatur gilt letztlich für alle Erfahrungen: »Aber Preise sind überhaupt keine Ehre, sagte ich dann, die Ehre ist eine Perversität, auf der ganzen Welt gibt es keine Ehre« (TP, 73). Die gleichfalls verstörende Verleihung des Georg-Büchner-Preises von 1970 beschließt den Reigen, wohl nicht zuletzt, weil es sich um den renommiertesten deutschsprachigen Literaturpreis handelt und die Fallhöhe besonders hoch ist, aber auch, weil der Ich-Erzähler die Ignoranz, der er begegnet, mit dem Austritt aus der Jury der Akademie für Sprache und Dichtung quittiert und so erstmals ein Zeichen des Widerstands gegen die geschilderten Praktiken setzt. Die Preise bedeuten ein Stück weit ökonomische Freiheit, aber sie bringen soziale Zwänge mit sich, die den Gewinn an Freiheit für den Ich-Erzähler wieder stark einschränken. Dabei zeigen sich die Repräsentanten einer vorgeblich freien westlichen Gesellschaft als Exekutoren von Vorurteilen, die lediglich an sich selbst und an der Demonstration ihrer machtvollen Position interessiert sind. Literatur wird so, als (selbst-)kritische Bestandsaufnahme von Preisverleihungen, zum Korrektiv repräsentativer Zwänge - wenn auch nur durch ihre Artikulation. Literatur kann auf Unfreiheiten hinweisen, sie kann sie nicht ändern. Ihre große Hoffnung ruht darauf, dass die Leser dies tun. Wolfgang Herrndorf: Tschick (2010) / Bilder deiner großen Liebe (2014) Wolfgang Herrndorfs (1965- 2013) Roman Tschick von 2010 ist außergewöhnlich erfolgreich. Die allgemeine Wertschätzung durch eine breite, internationale Öffentlichkeit deutet darauf hin, dass er bestimmte Bedürfnisse des Lesepublikums trifft, auch der professionellen Leserschaft (Langemeyer 2017, unpag.). Zur Tragik der Lebensgeschichte von Herrn- Der Büchner-Preis Soziale Zwänge 7.14. Wolfgang Herrndorf 2013, Foto von Genista Abb. 7.13 <?page no="386"?> 373 W olfgang h errnDorf : t SchIck (2010) / b IlDer … (2014) dorf gehört, dass bei ihm ein Gehirntumor diagnostiziert wurde, so musste er sich mit dem absehbaren frühen Tod auseinandersetzen. Die Grenzen der Freiheit werden uns immer noch und zuallererst von der Natur vorgegeben, darin ist auch das moderne Subjekt unfrei. Das, was uns als Lebewesen geschieht, ist zwar von äußeren Faktoren abhängig, aber von uns selbst (von einer gesunden Lebensweise abgesehen) wenig beeinflussbar und daher kontingent. Freiheit bedeutet nach der Diagnose für Herrndorf, an seinem Werk weiter zu schreiben. Er nennt die Aufzeichnungen während der Zeit, die ihm noch bis zu seinem vorhersehbaren Tod bleibt, programmatisch Arbeit und Struktur (2013). Einen Teil dieser Arbeit verwendet er auf einen Roman, den er nicht mehr fertigstellen kann und der eine Figur aus Tschick ins Zentrum rückt. Der unvollendete Roman mit dem Titel Bilder deiner großen Liebe wird 2014 posthum herausgegeben. Das Mädchen Isa kommt in beiden Romanen vor, in Tschick ist sie eine wichtige Nebenfigur. Der 14-jährige Ich-Erzähler aus Tschick heißt Maik Klingenberg. Maik ist in seine Mitschülerin Tatjana verliebt (TS, 23), aber nicht auf Tatjanas Party eingeladen und sein Mitschüler Andrej Tschichatschow (TS, 43), genannt Tschick, bringt ihn dazu, zumindest kurz zur Party zu gehen und Tatjana eine Zeichnung zu geben, die er als Geschenk für sie angefertigt hat (TS, 93). Maik ist in den Ferien allein zuhause, Tschick hat außer einem Bruder keine Familie. Die beiden minderjährigen Jungen unternehmen eine Fahrt mit einem gestohlenen Lada durch Ostdeutschland, eine Reise, die hier, wie nicht selten in Literatur und Film, als Metapher für das Erwachsenwerden gelesen werden kann. Während der abenteuerlichen Fahrt treffen Tschick, der schwul ist (TS, 214), und Maik auf Isa Schmidt (TS, 168), die Maik anbietet, mit ihr zu schlafen, doch ist er zu schüchtern (TS, 171). Kurze Zeit danach verschwindet sie wieder: Sie umarmte Tschick, dann sah sie mich einen Moment lang an und umarmte mich auch und küsste mich auf den Mund. […] »Ich meld mich! «, rief sie. »Kriegst du wieder! « Und ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen würde. Oder frühestens in fünfzig Jahren. »Du hast dich nicht schon wieder verliebt? «, fragte Tschick, als er mich vom Asphalt aufsammelte. »Im Ernst, du hast ja echt ein glückliches Händchen mit Frauen, oder wie sagt man so? «. (TS, 175) „Arbeit und Struktur“ Zwei Jungen auf großer Fahrt <?page no="387"?> 374 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart Am Ende des Romans schreibt Isa Maik allerdings einen Brief und bietet ihm ein Treffen in Berlin an: »Sonntag den 29. um 17 Uhr unter der Weltzeituhr, wenn du nicht noch fünfzig Jahre warten willst. Kuss - Isa« (TS, 250). In dem Roadmovie-Roman Tschick begegnen dem Leser zahlreiche Figuren, die das Thema der Freiheit auf verschiedenste Weise perspektivieren. Eine ältere Figur zieht eine ernüchternde Bilanz. Maik und Tschick treffen in einem verlassenen Dorf in einer vom Bergbau zerstörten Gegend auf Horst Fricke, der über seine Zeit im Dritten Reich spricht und nicht nur davon erzählt, dass er als NS-Soldat den feindlichen russischen Soldaten »auf 400 Meter ein Auge ausschießen« (TS, 187) konnte, sondern auch von seiner »großen Liebe« (TS, 186): »Ich war Kommunist«, sagte er. »Die Else und ich, wir waren Kommunisten. Und zwar Ultrakommunisten. […] Die Else war das einzige Mädel da [in der »Widerstandsgruppe Ernst Röhm«], eine ganz Feine, aus bestem Haus, und hat ausgesehen wie ein Junge. Die hat die ganzen verbotenen Schriftsteller übersetzt. Die hat den Juden Shakespeare übersetzt. […] Liebe meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Im KZ haben sie Else dann sofort vergast, und ich bin im Strafbataillon mit meiner Flinte durch den Kursker Bogen gekrochen.« (TS, 187) Den beiden Jungen gibt er mit auf den Weg: »›Und eines müsst ihr euch merken, meine Täubchen‹, sagte er zum Schluss. ›Alles sinnlos. Auch die Liebe. Carpe diem‹« (TS, 188). Der Verlauf der Ehe von Maiks Eltern scheint diesen Befund zu bestätigen. Maiks Vater betrügt seine Frau mit seiner »Assistentin« (TS, 71), Maiks Mutter ist durch die verpfuschte Ehe zur Alkoholikerin geworden (TS, 17 ff.) und trennt sich gegen Ende des Romans offenbar von ihrem Mann, zumindest verwüstet sie das gemeinsame, mondäne Haus und zerstört die teure Einrichtung. Maik hat nicht nur Verständnis dafür, er macht mit: »Sie zeigte einmal rundum. ›Das ist alles egal. Was nicht egal ist: Bist du glücklich damit? Das. Und nur das.‹ Kurze Pause: ›Bist du eigentlich verliebt? ‹« (TS, 251) Maiks Reaktion: »Ich schüttelte den Kopf (für Tatjana) und zuckte die Schultern (für Isa)« (TS, 252). Der Schluss lässt sich als doppelter Gewinn von Freiheit lesen. Die Mutter befreit sich von ihrem Mann, indem sie in einem symbolischen Akt die Gegenstände zerstört, die ihre Ehe repräsentieren. Maik hat sich durch die Fahrt mit Tschick von seinen Die Trennung der Eltern <?page no="388"?> 375 W olfgang h errnDorf : t SchIck (2010) / b IlDer … (2014) Ängsten befreit. Die Figur Maik hat gelernt, sich gegen Autoritäten zu stellen, wenn sie ihren Entwicklungsprozess behindern. Maik wird verhaftet und muss vor Gericht, dass für ihn die üblichen Maßstäbe gelten, akzeptiert er. Als sein Vater ihn sogar mit körperlicher Gewalt dazu zwingen will, Tschick als den einzigen Übeltäter anzuschwärzen und sich auf Kosten seines Freundes reinzuwaschen (TS, 227 ff.), weigert sich Maik und übernimmt vor Gericht Verantwortung für sein Handeln (TS, 235). Auch kann Maik durch seine unbeabsichtigte kleinkriminelle Vergangenheit vor den Mitschülern aus der neunten Klasse und vor seinem arroganten Lehrer einen Distinktionsgewinn erzielen, als zwei Polizisten kommen, um ihn während des Unterrichts zu verhören: »Ich stand so lässig wie möglich auf […] und warf einen letzten Blick auf [den Lehrer] Wagenbach. Das dämliche Grinsen war weg. […] Ich fühlte mich großartig, trotz zitternder Knie. Das hörte allerdings gleich auf, als ich auf dem Gang den Polizisten gegenüberstand« (TS, 244). Der Roman rehabilitiert die beiden Jungen moralisch, indem er ihr Fehlverhalten durch ihre Kindheit motiviert: Nämlich der Typ vom Jugendheim erklärte ausführlich, aus was für Verhältnissen Tschick kommen würde, und er redete über Tschick, als wäre der gar nicht anwesend, und sagte, dass seine Familie so eine Art asoziale Scheiße wäre, auch wenn er andere Worte dafür gebrauchte. Und dann erklärte der Typ von der Jugendgerichtshilfe, der mich und meine Eltern zu Hause besucht hatte, aus was für einem stinkreichen Elternhaus ich kommen würde und dass ich dort vernachlässigt würde und verwahrlost sei und meine Familie letztlich auch so eine Art asozialer Scheiße […]. (TS, 235 f.) Wie in vielen anderen Texten der Gegenwartsliteratur werden die Eltern für das Verhalten der Kinder verantwortlich gemacht. Das nicht erklärte Fehlen der Eltern bei Isa und Tschick begründet eine problematische Ausgangssituation, die Abwesenheit der Eltern bedeutet Freiheit und Unfreiheit zugleich. Die Ungebundenheit ermöglicht den Figuren ihr buntes Nomadentum, das aber einzig für Maik produktiv wird. Die Emanzipation der Mutter von der Autorität des Vaters kann für ihn den Bann brechen: »Ich dachte, dass es Schlimmeres gab als eine Alkoholikerin als Mutter. Ich dachte daran, dass es jetzt nicht mehr lange dauern würde, bis ich Tschick in seinem Heim besuchen konnte, und ich Distinktionsgewinne Problematische Freiheit <?page no="389"?> 376 n achkrIegSzeIt , S tuDentenrevolutIon , P oPlIteratur , g egenWart dachte an Isas Brief. Auch an Horst Fricke und sein Carpe diem musste ich denken« (TS, 253). Die Begegnung von Isa und Maik wird auch in Bilder deiner großen Liebe erzählt, ein unvollendeter und episodischer Roman, der von zufälligen und flüchtigen Begegnungen des Mädchens Isa handelt, das »aus einem Heim ausgebrochen« ist (BD, 121). Hier ändert sich die Motivierung der Figuren, ihr Verhalten lässt sich nicht biographisch erklären und es wird keine Emanzipationsgeschichte erzählt. Allerdings kann dies auch mit dem fragmentarischen Charakter des Romans zu tun haben. Am Anfang flüchtet die Ich-Erzählerin Isa aus dem Heim, in dem sie untergebracht ist, weil sie, wie sie selber über sich sagt, »verrückt« sei (BD, 7). Der anfänglichen Befreiung folgt ein Vagabundenleben. Das Treffen von Isa mit den beiden Jungen bleibt Episode. Isa fällt dabei sofort auf, dass Tschick schwul ist (BD, 121). Beide, Tschick und Isa, sind Außenseiterfiguren und werden als solche mehrfach markiert, auch durch ihr Aussehen. Ihre Aussichten sind grundlegend andere als die von Maik, auch wenn beide Romane das weitere Schicksal der drei Figuren nicht zu Ende erzählen. In Bilder deiner großen Liebe bleibt das Wiedersehen von Isa und Maik eher unwahrscheinlich: »Wir verabreden, uns in fünfzig Jahren wiederzutreffen. Ich bin einverstanden. Ich find’s gut, aber ich glaube nicht dran. Entweder man sieht sich vorher oder nie. Also wahrscheinlich nie« (BD, 124). Das Ende des unvollendeten Romans ist einerseits offen, deutet andererseits mit der Schießübung Isas und der verfremdeten Wahrnehmung einer Kugel, die zurück in den Pistolenlauf fällt, aber eher auf einen schlechten Ausgang (BD, 129). Isas Weg führt offenbar nicht zur Emanzipation von Autoritäten, die sie unterdrücken, wobei auch gar nicht mehr deutlich wird, welche Autoritäten dies sein könnten. Ein unvollendeter Roman Ein offenes Ende <?page no="390"?> 377 J ohann n eStroy : f reIheIt In k rähWInkel (1849) Epilog: Johann Nestroy: Freiheit in Krähwinkel (1849) Der Blick auf Nestroys Stück zeigt noch einmal die Freiheit der Literatur, sich über die in der Gesellschaft herrschende Unfreiheit hinwegzusetzen, etwa durch eine offene Formsprache und eine ironische Figurenzeichnung. Weder die gezeigte Gesellschaft, in der die Revolution scheitert und die Zensur über den freien Gedanken siegt, noch die Figuren des Stücks sind, von Ausnahmen abgesehen, reif für die Freiheit. Hat sich daran bis heute viel geändert? Zu den Erfindern des modernen Volksstücks gehört der Wiener Autor Johann Nestroy (1801-62). Weshalb steht nun ausgerechnet seine Posse Freiheit in Krähwinkel am Ende dieser Literaturgeschichte - nur, weil sie den Begriff der Freiheit im Titel trägt? Das Stück hat, wie zu zeigen sein wird, viel über die Weise zu sagen, wie man im deutschsprachigen Raum mit Freiheit umgegangen ist und auch immer noch umgeht. Nestroys Werk gehört zu den in der älteren Bedeutung des Wortes besonders witzigen, geistreichen Texten der Literaturgeschichte. Der regionale Einschlag, der allerdings auch typisch ist für das kleinstaatlich organisierte Heilige römische Reich deutscher Nation (das sich bei Nestroys Geburt bereits in Auflösung befindet) oder den Deutschen Bund (dessen offizielles Ende Nestroy nicht mehr erlebt hat), dürfte eine größere Wirkung verhindert haben, auch wenn ›deutsche‹ Literaturgeschichten, zumindest die umfangreicheren, Nestroy zumindest als bedeutendsten Vertreter des sogenannten Wiener Volkstheaters nennen. Titel wie Der gefühlvolle Kerkermeister oder Der konfuse Zauberer (beide 1832) lassen bereits erahnen, dass Nestroys großer Erfolg im Wien seiner Zeit nicht zuletzt dem Wortwitz und der Originalität seiner Sprache zugeschrieben werden kann, abgesehen von seiner schauspielerischen Leistung (er spielte meist selbst die Hauptrolle). Nes- 8. Zusammenfassung Vom Umgang mit Freiheit Wortwitz und Originalität <?page no="391"?> 378 e PIlog troys Stücke setzen sich kritisch mit der sozialen und der politischen Situation auseinander, deshalb bekommt er immer wieder Schwierigkeiten mit der Zensur und der Justiz. Zu ebener Erde und erster Stock (1835) nennt die Zweiteilung der Gesellschaft in (viele) Arme und (wenige) Reiche, gegen den sich die Kritik hier vor allem richtet, schon im Titel. Die kurze Zeit der Zensurfreiheit während der Revolution nutzt Nestroy für die am 1. Juli 1848, mit ihm selbst in der Hauptrolle als Eberhard Ultra, uraufgeführte Posse mit Gesang unter dem paradox klingenden Titel Freiheit in Krähwinkel. Bereits am 11. November wird die Zensur wieder eingeführt, die Revolution ist gescheitert, Kaiser Franz Joseph übernimmt die Regierung: »Die von Nestroy an die Wand gemalte Reaktion hatte auf der ganzen Linie gesiegt, und die Wiener, opportunistisch wie eh und je, huldigten dem achtzehnjährigen Kaiser, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als das alte absolutistische Regime mit seinem starken Wiener Zentralismus wieder auf das ganze Reich auszudehnen« (Basil 1990, 126). Die Ausgabe des Stücks enthält den Hinweis: »Erstaufführung am 1. Juli 1848, bis 4. Oktober 1848 (Einnahme der Stadt durch die Regierungstruppen) sechsunddreißigmal gespielt« (FK, 4). Die kurze Zeit der Zensurfreiheit Szenenbild (Die Revolution, 2. Akt) mit Johann Nestroy als Eberhard Ultra (in Verkleidung als russischer Fürst) Abb. 8.1 <?page no="392"?> 379 J ohann n eStroy : f reIheIt In k rähWInkel (1849) Krähwinkel ist die Bezeichnung für einen prototypischen Ort, »der als Musterbild beschränkter Kleinstädterei gilt«, vergleichbar dem möglicherweise bekannteren Schilda mit seinen Schildbürgern. Die Ortsbezeichnung Krähwinkel tauchte schon 1814 zum ersten Mal und dann zunehmend in Titeln von Theaterstücken auf, Nestroy kann also auf einen eingeführten Topos zurückgreifen: »Sie dient ihm als satirisches Modell, um am Kleinen das Große und Allgemeine zu zeigen« (FK, 81 u. 84). Nicht nur der Titel, auch die Figurennamen verweisen deutlich auf die satirische Absicht. Der Bürgermeister heißt Sperling Edler von Spatz, der Kommandant der Stadtsoldaten heißt Rummelpuff, zwei »subalterne Beamte« tragen die Namen Sigmund Sigl und Willibald Wachs, während die einzige positive männliche Figur, die zunächst als Mitarbeiter des Redakteurs der örtlichen Zeitung, Pfiffspitz, auftritt, durch eine ambivalente Benennung auffällt: Eberhard Ultra (FK, 3). Der Vorname ist ebenso konservativ wie der Nachname modern. Besonders bemerkenswert ist, dass das auf der Höhe der Revolution entstandene Stück in zwei Abteilungen gegliedert ist, in »Die Revolution« (FK, 5), die den ersten und zweiten Akt umfasst, und in »Die Reaktion« (FK, 50) im dritten Akt, auch wenn an dessen Ende - noch - die Revolution zu obsiegen scheint. Freilich weisen bereits der Titel und die Figurenbezeichnungen darauf hin, dass das Stück ein mögliches Scheitern prognostiziert. Die Revolution verfällt der Satire, das Stück hält die Freiheitsbewegung für nicht ausreichend unterfüttert. Aus welchen Gründen, wird schnell deutlich. Das Stück beginnt in einem »Wirtshaus in Krähwinkel« und mit dem Gesang eines Chores zu einer Szene trinkender »Krähwinkler Bürger«: »D’ ganze Welt tut an Freiheit sich lab’n, / Nur wir Krähwinkler soll’n keine hab’n.« In Krähwinkel hat sich die Aufklärung noch nicht durchgesetzt, weshalb Pemperl zum Nachtwächter meint: »Wenn die Finsternis abkommt, können d’ Nachtwächter alle verhungern« (FK, 5). Ratsdiener Klaus stellt fest: »Ich bin vom Amt, und wir lieben das nicht, daß der Mensch frei is« (FK, 6). Die herrschende Unfreiheit wird in den Meinungen und in dem Verhalten der Figuren gespiegelt, die die unterschiedlichen Schichten der Bevölkerung repräsentieren. So hat Klaus seine Tochter nicht dem in sie verliebten Sigmund, sondern der Kirche zugedacht, als »Himmelsbraut«: »Sie ist von Kindheit auf dazu bestimmt; sie war damals acht Jahr’, und da hat meine Alte so an Revolution und Reaktion Herrschende Unfreiheit <?page no="393"?> 380 e PIlog die Krämpf’ g’litten; da haben wir’s kleine Madl ins Kloster verlobt, und von der Stund’ an waren meiner Alten ihre Krämpf’ wie weg’-blasen.« Willibald kommentiert ironisch: »Na, wenn man nur weiß, was hilft« (FK, 11). Kurz darauf stellt sich die Figur Ultra mit einem Lied vor, in dem es heißt: »Muß i denn a Sklav’ sein? / Der Herrsch’r is zwar Herr, / Ab’r i bin Mensch wie er«, und dem Ultra hinzufügt: »Aus dem glorreichen, freiheitsstrahlenden Österreich führt mich mein finsteres Schicksal nach Krähwinkel her« (FK, 13). Er bilanziert die alte Zeit des Absolutismus: Was für eine Menge Rechte haben wir g’habt, diese Rechte der Geburt, die Rechte und Vorrechte des Standes […]. Und trotz all diesen unschätzbaren Rechten haben wir doch kein Recht g’habt, weil wir Sklaven waren. Was haben wir ferner alles für Freiheiten g’habt! Überall auf ’n Land und in den Städten zu gewissen Zeiten Marktfreiheit. […] Wir haben sogar Gedankenfreiheit g’habt, insofern wir die Gedanken bei uns behalten haben. Es war nämlich für die Gedanken eine Art Hundsverordnung. Man hat s’ haben dürfen, aber am Schnürl führen! - Wie man s’ losgelassen hat, haben s’ einem s’ erschlagen. Mit einem Wort, wir haben eine Menge Freiheiten gehabt, aber von Freiheit keine Spur. Na, das ist anders geworden und wird auch in Krähwinkel anders werden. (FK, 14) Wobei er vorhersieht, dass die Krähwinkler nach der Revolution möglicherweise sagen werden: »O mein Gott, früher is es halt doch besser gewesen« (FK, 15). Auch für die Literatur sieht Ultra Konsequenzen: »[…] die Dichter haben ihre beliebteste Ausred’ eingebüßt. Es war halt eine schöne Sach’, wenn einem nichts eing’fallen is und man hat zu die Leut’ sagen können: ›Ach Gott! Es is schrecklich, sie verbieten einem ja alles.‹ Das fallt jetzt weg […]« (FK, 15). Als prototypische opportunistische Autorenfigur wird Sperling Edler von Spatz (satirisch) gezeichnet (FK, 38 f.), als prototypische Journalistenfigur Ultras Redakteur Pfiffspitz, auf dessen Weinkonsum Ultra hier anspielt: »Die scheußliche Zensur, die Ihnen jeden vernünftigen Aufsatz streicht, hat Ihnen - da Sie einmal die Verpflichtung haben, kein weißes Papier zu verkaufen - keine andere Ressource gelassen […]« (FK, 15 f.), als sich in Gastwirtschaften die Welt schön zu trinken. Und weiter: »Das verdammte weiße Papier! Dieser Druck in Rücksicht des Drucks ist etwas Drückendes für einen Menschen, der da lebt vom Druck« (FK, 16). Die Vorteile der Zensur <?page no="394"?> 381 J ohann n eStroy : f reIheIt In k rähWInkel (1849) Zur Zensur stellt Ultra fest: »Die Zensur is die jüngste von zwei schändlichen Schwestern, die ältere heißt Inquisition. Die Zensur is das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können« (FK, 23). Ultra ist die einzige Figur, der dies ändern kann, ist er doch, wie er selbst sagt, so alt wie der Beginn der Revolution (FK, 25). Innerhalb des Stücks tritt Ultra in verschiedenen Verkleidungen auf, darunter als »europäischer Freiheits- und Gleichheitskommissär« (FK, 49). Eine zweite Ausnahmefigur neben Ultra ist die zugereiste »Frau von Frankenfrey«, eine Witwe und »die einzige interessante Frau von Krähwinkel« (FK, 21), die durch den Bürgermeister und den Prior des Klosters um ihr Vermögen gebracht werden soll (FK, 22), was Ultra verhindert (FK, 54 f.). Schon in den typischen Krähwinkler Figuren zeigt sich, dass die Idee der Freiheit von außen kommt und wohl nicht dauerhaft sein wird. Klaus, der prototypische Bürger und Beamte, stellt fest: »Freiheit is ja was Schreckliches. Seine Herrlichkeit [der Bürgermeister] sagt immer: Der Regent is der Vater, der Untertan is a kleins Kind, und die Freiheit is a scharfs Messer« (FK, 29). Der dritte Traum des Bürgermeisters am Ende des ersten Aktes nimmt bereits das Scheitern der Revolution vorweg, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat (FK, 36). Und in einem weiteren Lied am Ende des Stücks stellt Ultra fest: »Es woll’n d’ Republiken / In Europa nicht glücken« (FK, 70). Dennoch endet das Stück mit der Hoffnung, dass es diesmal anders sein könnte. Sogar die Frauen gehen auf die selbst errichteten Barrikaden, um die neue Republik zu verteidigen, und Ultra stellt, wieder als Sprachrohr der Bewegung, abschließend fest: Also, wie’s im großen war, so haben wir’s hier im kleinen g’habt, die Reaktion ist ein Gespenst, aber G’spenster gibt es bekanntlich nur für den Furchtsamen; drum sich nicht fürchten davor, dann gibt’s gar keine Reaktion! (Alles singt die erste Strophe der Volkshymne: »Was ist des Deutschen Vaterland? «, Marsch von Strauß jun., während welchem ein Fackelzug über die Bühne geht, unter Jubelgeschrei fällt der Vorhang.) (FK, 74) 1 1 Ernst Moritz Arndts Lied Was ist des Deutschen Vaterland? (1813) war seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon über Jahrzehnte das wohl populärste Gedicht der gegen den Absolutismus gerichteten, liberalen und zugleich nationalen Bewegungen, allerdings ist es wegen seiner territorialen Ansprüche aus späterer Sicht alles andere als unproblematisch (Neuhaus 2002a, S. 137 ff.). Die Bürger und die Freiheit <?page no="395"?> 382 e PIlog Erst nach 1945 konnten sich dauerhafte Republiken in Österreich und Deutschland etablieren, die allerdings, wie nationalistische und antiliberale Bewegungen zeigen, auch weiterhin nicht ungefährdet sind. Literatur archiviert diesen Diskurs über Freiheit und spiegelt ihn kritisch. Zugleich ist Literatur, frei nach Schiller, eine ›Tochter der Freiheit‹, weil sie sich nicht an die Naturgesetze halten muss, nur an die Gesetze der Sprache, deren Referenzrahmen sie aber erweitern kann. Dass es allerdings auch heute noch Fälle von Zensur literarischer Texte gibt, aus dem Glauben, Jugendliche vor schädlichen Einflüssen schützen zu müssen (man denke an das Verbot von Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho von 1995 bis 2001), während sie über das Internet ungehinderten Zugang zu viel schädlicheren Inhalten ohne künstlerischen Anspruch haben, oder um das Recht auf Schutz der Persönlichkeit von Privatpersonen sicherzustellen, wie bei Maxim Billers bis heute indiziertem Roman Esra von 2003 (Hielscher 2009), obwohl über Facebook und Co. viel mehr Privates in die Öffentlichkeit gelangt, das ist eine andere Geschichte und kann hier nicht erzählt werden. Zensur heute <?page no="396"?> 383 e In vorläufIgeS f azIt Literatur und Freiheit gestern und heute. Ein vorläufiges Fazit Die Literatur als Tochter der Freiheit. Und das unvollendete Projekt der Freiheit. Wo anfangen, wo aufhören? So unvollendet wie das Projekt der Freiheit ist diese Literaturgeschichte. Auch die Freiheit, eine solche Einführung schreiben zu dürfen, bringt notwendigerweise Beschränkungen mit sich. Bei der Auswahl für eine Einführung ist darauf zu achten, dass Texte vorgestellt werden, die als besonders grundlegend für die deutschsprachige Literatur angesehen werden können. Dazu kommt die Absicht des Buches, den thematischen Schwerpunkt auf Freiheit zu legen. Beides macht die Auswahl aber nicht gerade leichter. Viel zu viele Texte können als grundlegend angesehen werden und alle haben mit Freiheit zu tun. Es fehlen wichtige Autoren und Texte aller Epochen. Es fehlt die fremdsprachige Literatur. Und es fehlen viele Lieblingstexte. Aber die Leser haben die Freiheit zu lesen, was sie möchten, sie müssen sich nicht an diese enge Auswahl halten. Auch das ist Freiheit - solche Einführungen als vorläufige Karte, als ersten Kompass zu nehmen und sich selbst einen Weg, den eigenen Weg zu suchen. Immerhin hat sich gezeigt, dass die Entstehung des modernen Subjekts und seine Entwicklung nicht nur einhergehen mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft, sondern auch mit dem Verhandeln der Möglichkeiten individueller Freiheit auf dem Schauplatz des Textes, sei es in der Lyrik, im Drama oder in der Prosa. Als besonders öffentlichkeitswirksam zeigt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch das Drama. In Götz von Berlichingen oder Don Carlos ist das historische Jahrhundert, in dem die Handlung spielt, noch nicht reif genug für die Freiheit der Individuen, unabhängig von Religion oder Absolutismus. Allerdings 9. Zusammenfassung Die Freiheit der Leser <?page no="397"?> 384 l Iteratur unD f reIheIt geStern unD heute wird sich auch später noch die politische Befreiung des (bürgerlichen) Individuums vor allem auf das Land der Literatur erstrecken. Heinrich Heine zeichnet in Deutschland. Ein Wintermärchen das satirische Bild einer erstarrten politischen Ordnung. Der Revolution wenige Jahre später folgt, fast möchte man sagen: konsequenterweise, die Restauration. Die drei Einigungskriege 1860, 1866 und 1870 / 71 führen zu einer Fortsetzung der Monarchie mit anderen Mitteln, getrennt nach zwei Reichen. Das Kaiserreich und die Donaumonarchie gehen schließlich beide im Ersten Weltkrieg unter. Wenn man Literatur als Laboratorium, als Simulationsraum begreift, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass sie der politischen Wirklichkeit immer voraus ist, in totalitären Systemen sogar so weit, dass sie als Bedrohung gesehen und der Zensur unterworfen wird. Insofern ist Schiller zuzustimmen: Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit. Literatur und Kunst können sich ihre eigenen Regeln geben und sind somit weitgehend frei von Zwängen, daher können Sie Freiheit literarisch-künstlerisch gestalten. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass dies bisher weder der Realität noch der Literatur viel geholfen hat. Literatur wurde und wird instrumentalisiert, ihre Bedeutungsspielräume wurden und werden ignoriert oder relativiert, wenn denn die Texte überhaupt von einer breiteren Schicht der Bevölkerung wahrgenommen werden. Aus der Perspektive der Rezeption könnte man entweder die Literatur in ihrem Anspruch, Leser auf Freiheitsspielräume aufmerksam zu machen, zu mehr individueller, aber verantwortlicher und damit auch zu mehr kollektiver Freiheit beizutragen, für gescheitert erklären oder die Leser, die dieses Potential der Literatur nicht genutzt haben. Die Botschaft der Ringparabel in Lessings Nathan der Weise, dass jeder Glaube zu achten ist und nicht gegen einen anderen ausgespielt werden sollte, scheint sich bis heute noch nicht herumgesprochen zu haben. Aber zugleich ist Literatur immer auch schöne Literatur und erschöpft sich nicht in einer politischen oder sonstigen, außerhalb ihrer selbst liegenden Funktion. Freier als alles andere ist, seit der Genieästhetik, die formale Gestaltung der Texte. Die Verwendung von Sprache, die intertextuellen Verweise, das Spiel mit lyrischen, dramatischen oder erzählerischen Traditionen und andere literarische Strategien bieten offenbar fast unendliche Freiheiten. Exemplarisch sei auf Literatur als Laboratorium Die Freiheiten der Literatur <?page no="398"?> 385 e In vorläufIgeS f azIt E. T. A. Hoffmann oder Michael Ende verwiesen, deren Märchen eine Apologie der Phantasie sind und damit die Freiheit feiern, das Unmögliche zu denken. Dass man damit aber auch vorsichtig sein sollte, zeigen beide ebenfalls, E. T. A. Hoffmann mit seinem Einsiedler Serapion in Die Serapions-Brüder und Michael Ende in der Symbolik der Alte-Kaiser-Stadt, jenem Ort in Die unendliche Geschichte, dem niemand entkommt, der seine eigentliche Herkunft vergisst. Jeder literarische Text und jede Literaturgeschichte ist nur so gut wie das, was ihre Leser daraus machen. Ob sie ein Buch als »Axt […] für das gefrorene Meer in uns« gebrauchen (wie Franz Kafka in einem Brief an Oskar Pollak vom 27. Januar 1904 empfiehlt) (Kafka 1995c 5, 27) oder sich von ihm unterhalten lassen und geistige Anregungen eher woanders suchen, kann nicht zum Gegenstand eines moralischen Diskurses werden, ein solcher Diskurs würde die Freiheit des Lesers zu sehr einschränken. Allerdings haben Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten die Aufgabe, ihre Schüler und Studenten zur Freiheit zu erziehen, wobei Freiheit immer nur eine reflektierte Freiheit des Selberdenkens sein kann. Welches Mittel wäre, auch heute noch, dafür geeigneter als die Literatur? Wenn das vorliegende Buch einen auch nur ganz kleinen Beitrag dazu leistet, das eigene Potential an Freiheit zu entdecken und, mit dem Respekt und der Rücksichtnahme vor der Freiheit der anderen, besser zu nutzen, dann hat es seinen Zweck erfüllt. <?page no="399"?> Literaturverzeichnis Primärliteratur 387 Forschungsliteratur 393 Primärliteratur Bernhard 1995: Bernhard, Thomas: Heldenplatz. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1995 (suhrkamp taschenbuch 2474). Bernhard 2010: Bernhard, Thomas: Meine Preise. Frankfurt / Main: Suhrkamp 2010 (suhrkamp taschenbuch 4186). Brecht 1997a: Brecht, Bertolt: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1997. Brecht 1997b: Brecht, Bertolt: Bertolt Brechts Hauspostille. In: Ders.: Gedichte I. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1997 (Ausgewählte Werke in sechs Bänden 3), S. 37-120. Brecht 1997c: Brecht, Bertolt: Die Dreigroschenoper. In: Ders.: Stücke I. 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Basel: Francke 2000 (UTB 2176). <?page no="418"?> 405 a bbIlDungSverzeIchnI S Abbildungsverzeichnis Abb. 1.1 »Titelseite der Breslauischen Sammlungen, 1718, der seinerzeit führenden deutschen naturwissenschaftlichen Zeitschrift; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Literaturgeschichte#/ media/ File: Breslauische-sammlung-1718.jpg Abb. 2.1 Freiheitsstatue, New York City; Wikimedia Commons / Lechhansl aus der deutschsprachigen Wikipedia / CC BY-SA 3.0; https: / / commons. wikimedia.org/ wiki/ File: NYC_Freiheitsstatue.JPG? uselang=de Abb. 2.2 Jeanne d’Arc bei der Krönung Karls VII. in der Kathedrale von Reims, 1854. Gemälde von Jean-Auguste Dominique Ingres https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Jeanne_d%27Arc? uselang=de#/ media/ File: Ingres_coronation_charles_vii.jpg Abb. 2.3 The House of Commons at Westminster; Gravur veröffentlicht als Tafel 21 in Microcosm of London (1808); https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ British_House_of_Commons? uselang=de#/ media/ File: House_of_Commons_Microcosm.jpg Abb. 3.1 Aufklärung. Kupferstich von Daniel Chodowiecki (1726-1801); https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Aufklärung.jpg? uselang=de Abb. 3.2 Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus (1641); Gemälde von Marcus Bloß; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Hans_Jakob_Christoffel_von_ Grimmelshausen#/ media/ File: Hans_Jakob_Christoffel_von_ Grimmelshausen.jpeg Abb. 3.3 Gotthold Ephraim Lessing, Gemälde von Anton Graff, 1771; Kunstsammlung der Universität Leipzig. https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Gotthold_Ephraim_Lessing? uselang=de#/ media/ File: Gotthold_Ephraim_Lessing_Kunstsammlung_ Uni_Leipzig.jpg Abb. 3.4 Johann Wolfgang von Goethe im 80. Lebensjahr, Gemälde von Joseph Karl Stieler, 1828, Neue Pinakothek München; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Johann_Wolfgang_von_Goethe#/ media/ File: Goethe_(Stieler_1828).jpg Abb. 3.5 Einzig erhaltenes Blatt der Handschrift Goethes zu »Werthers Leiden« in der ersten Fassung aus dem Nachlass von Charlotte von Stein im Goethe- und Schillerarchiv in Weimar; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: HandschriftGoetheZuWerther. jpg? uselang=de Abb. 3.6 Denkmal Nathan der Weise in Wolfenbüttel; Werk von Erich Schmidtbochum, Wikimedia Commons / Holbein 66 / CC BY-SA 3.0; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Wolfenbüttel_-_Nathan_der_ Weise.jpg? uselang=de <?page no="419"?> 406 a bbIlDungSverzeIchnI S Abb. 3.7 Friedrich Schiller, Gemälde von Anton Graff, zwischen 1786 und 1791, Städtische Galerie Dresden; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Friedrich_Schiller#/ media/ File: Anton_Graff_Schiller_(1).jpg Abb. 3.8 Titelblatt und Frontispiz (anonymes Porträt) des Erstdruckes von Don Carlos, 1787; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Don_Karlos_(Schiller)#/ media/ File: Dom_ Carlos_1787.jpg Abb. 4.1 Das Goethe-und-Schiller-Denkmal vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar, 2006, Wikimedia Commons / MjFe (Link to Wikipedia Germany)/ CC BY 3.0; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Goethe-Schiller-Denkmal#/ media/ File: Goethe_Schiller_Weimar_3.jpg Abb. 4.2 zeitgenössisches Gemälde von Novalis; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Novalis? uselang=de#/ media/ File: Novalis-1.jpg Abb. 4.3 Wilhelm Tell, gestochen von Johann Leonhard Raab; aus: Friedrich Pecht: Schiller-Galerie. Charaktere aus Schiller’s Werken, gezeichnet von Friedrich Pecht und Arthur von Ramberg. Funfzig Blätter in Stahlstich mit erläuterndem Text von Friedrich Pecht. F. A. Brockhaus, Leipzig, 1859; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wilhelm_Tell#/ media/ File: Schiller-Galerie_ komplett_Bild_40.jpg Abb. 4.4 Heinrich von Kleist, Reproduktion einer Illustration von Peter Friedel, die der Dichter 1801 für seine Verlobte Wilhelmine von Zenge anfertigen ließ; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Heinrich_von_Kleist? uselang=de#/ media/ File: DBPB_1961_211_Heinrich_von_Kleist.jpg Abb. 4.5 Faust-Szene (Mephisto verzaubert die Studenten) vor Auerbachs Keller (Leipzig), Plastik von Mathieu Molitor; Wikimedia Commons / Elinore aus der deutschsprachigen Wikipedia / CC BY-SA 3.0; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Faust._Eine_Tragödie.#/ media/ File: Auerbachs_Keller.JPG Abb. 4.6 E.T. A. Hoffmann: Selbstporträt, um 1800; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ E._T._A._Hoffmann#/ media/ File: ETA_Hoffmann.jpg Abb. 4.7 Zeichnung von E.T. A. Hoffmann zu seinem Buch Der Sandmann; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Der_Sandmann_(Hoffmann)#/ media/ File: Hoffmann_sandmann.png Abb. 4.8 Die erste Ausgabe von Hoffmann’s Die Serapionsbrüder; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Die_Serapionsbrüder#/ media/ File: Serapionsbrüder.jpg Abb. 5.1 Erhard Joseph Brenzinger, Der Zug zum Hambacher Schloss am 27. Mai 1832. Kolorierte Federlithographie, um 1832; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Hambacher_Fest_1832_001.JPG? uselang=de Abb. 5.2 Heinrich Heine, 1831, Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Heinrich_Heine#/ media/ File: Heinrich-heine_1.jpg <?page no="420"?> 407 a bbIlDungSverzeIchnI S Abb. 5.3 Porträt der Annette von Droste-Hülshoff, 1838, Gemälde von Johann Joseph Sprick https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Annette_von_Droste-Hülshoff? uselang=de#/ media/ File: Droste-Hülshoff_2.jpg Abb. 5.4 Georg Büchner, um 1835, Skizze von Alexis Muston; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Georg_Büchner#/ media/ File: Muston_Büchner_1835.jpg Abb. 5.5 Gerhart Hauptmann, um 1900, Karikatur von Arpad Schmidhammer; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Gerhart_Hauptmann#/ media/ File: Gerhart_Hauptmann_by_Arpad_Schmidhammer.jpg Abb. 5.6 Theodor Fontane, 1883, Gemälde von Carl Breitbach; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Theodor_Fontane#/ media/ File: Theodor_Fontane.png Abb. 6.1 Das Lautgedicht Karawane von Hugo Ball, 1917; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Gadji_beri_bimba#/ media/ File: Hugo_ball_ karawane.png Abb. 6.2 Thomas Mann, 1937 Foto von Carl van Vechten; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Thomas_Mann#/ media/ File: Thomas_ Mann_1937.jpg Abb. 6.3 Franz Kafka,um 1906, Foto von Sigismund Jacobi; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Franz_Kafka#/ media/ File: Kafka_portrait.jpg Abb. 6.4 Titelblatt der Erstausgabe von Die Verwandlung, 1916; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Kafka_Verwandlung_016.jpg? uselang=de Abb. 6.5 Kurt Pinthus um 1920; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Kurt_Pinthus_um_1920.jpg? uselang=de Abb. 6.6 Das Geburtshaus Brechts in Augsburg, nunmehr eine Gedenkstätte, Wikimedia Commons / Wolpertinger at the German language Wikipedia / CC BY-SA 3.0; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Bertolt_Brecht#/ media/ File: Augsburg_Brechthaus_2004.jpeg Abb. 6.7 Brecht-Denkmal von Fritz Cremer vor dem Berliner Ensemble; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Bertolt_Brecht#/ media/ File: Cremer_Brecht_2006.jpg Abb. 6.8 Alfred Döblin, 1912, Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Alfred_Döblin#/ media/ File: Kirchner_-_ Bildnis_Dr_Alfred_Döblin.jpg Abb. 6.9 Bronzeplastik auf der Mauer des Anwesens des Erich-Kästner-Museums am Albertplatz in Berlin, Wikimedia Commons / Wolpertinger in der Wikipedia auf Deutsch / CC BY-SA 3.0; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Erich_Kästner#/ media/ File: 180804_ dresden-kaestnerhaus-plastik-auf-mauer_2-640x480.jpg Abb. 6.10 Gedenktafel für Irmgard Keun am Haus Meinekestraße 6 in Berlin-Charlottenburg, Wikimedia Commons / OTFW, Berlin / CC BY-SA 3.0; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Irmgard_Keun#/ media/ File: Gedenktafel_ Meinekestr_6_Irmgard_Keun.JPG Abb. 7.1 Deutsches Literaturarchiv Marbach, Wikimedia Commons / Bgabel auf wikivoyage shared <?page no="421"?> 408 a bbIlDungSverzeIchnI S / CC BY-SA 3.0, https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: BW-marbach-literaturarchiv.jpg? uselang=de Abb. 7.2 Günter Grass, 2004, Buchmesse, Frankfurt am Main, Wikimedia Commons / Florian K / CC BY-SA 3.0; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Günter_Grass? uselang=de#/ media/ File: Günter_Grass,_2004.jpg Abb. 7.3 Stolperstein für Hildegard Dina Löwenstein (Hilde Domin) in Köln, Wikimedia Commons / Geolina 163 / CC-BY-SA 4.0, https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Stolpersteine_Köln_Löwenstein_ Riehler_Straße_23_18.jpg? uselang=de Abb. 7.4 Buchcover von Michael Ende, Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer; http: / / www.michaelende.de/ buch/ jim-knopf-und-lukas-derlokomotivfuehrer Abb. 7.5 Porträt von Christa Wolf 1989, Wikimedia Commons, Bundesarchiv, Bild 183-1989-1027-300 / Rehfeld, Katja / CC-BY-SA 3.0; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Christa_Wolf#/ media/ File: Bundesarchiv_ Bild_183-1989-1027-300,_Christa_Wolf.jpg Abb. 7.6 Uwe Timm, November 2005, Rheinisches Landesmuseum, Bonn, Wikimedia Commons / Liberal Freemason / CC-BY-SA-2.0; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Uwe_Timm-portrait.jpg? uselang=de Abb. 7.7 Martin Walser und Günter Grass beim Literarischen Gipfeltreffen: Gruppe 47 - sechzig Jahre danach; Günter Grass, Joachim Kaiser und Martin Walser im Gespräch mit Wolfgang Herles 15. Juni 2007, 20 Uhr auf dem Blauen Sofa im Berliner Ensemble; Wikimedia Commons / Blaues Sofa from Berlin, Deutschland / CC BY 2.0 https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Category: Martin_Walser#/ media/ File: Gruppe_47_-_Sechzig_Jahre_danach_6.jpg Abb. 7.8 Elfriede Jelinek, 2004, Foto von G. Huengsberg, Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Elfriede_jelinek_2004_ small.jpg? uselang=de Abb. 7.9 Christian Kracht, 2007, Foto von Anthony Shouan-Shwan, Wikimedia Commons/ >Anthony Shouan-Shaw>n / CC BY-SA 3.0; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Christian_Kracht.JPG? uselang=de Abb. 7.10 Ulla Hahn auf dem Blauen Sofa 2004, Wikimedia Commons / CC BY 2.0; Copyright: Das blaue Sofa / Club Bertelsmann; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Ulla_Hahn_2004_3.jpg? uselang=de Abb. 7.11 Felicitas Hoppe, 2012, Literaturfest München, forum: autoren 2012, Wikimedia Commons CC0; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Felicitas_Hoppe_1.jpg? uselang=de Abb. 7.12 Foto von Thomas Bernhard. Aufgenommen in Sintra, Portugal <?page no="422"?> 409 a bbIlDungSverzeIchnI S 1987, Wikimedia Commons / Thomas.Bernhard.jpg: Thomas Bernhard Nachlaßverwaltung / CC BY-SA 3.0 de; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Thomas_Bernhard#/ media/ File: Thomas_ Bernhard.jpg Abb. 7.13 Wolfgang Herrndorf 2013, Foto von Genista, Wikimedia Commons / Genista / CC BY-SA 3.0; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wolfgang_Herrndorf#/ media/ File: Wolfgang_Herrndorf_(Closeup).png Abb. 8.1 Szenenbild von Freiheit in Krähwinkel (Die Revolution, 2. Act) mit Johann Nestroy als Eberhard Ultra (in Verkleidung als russischer Fürst), Heinrich Moritz als Rummelpuff, Johann Baptist Lang als Nachtwächter, Wenzel Scholz u. a. Aquarell, monogr. u. dat. »S. 1848«; angefertigt von >Johann Christian Schoeller, Historisches Museum der Stadt Wien: »Theatralische Bilder-Gallerie«, 1980; > https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Category: Freiheit_in_Krähwinkel? uselang=de#/ media/ File: Freiheit_in_Krähwinkel-Revolution.jpeg <?page no="424"?> 411 a bbIlDungSverzeIchnI S Personenregister Adorno, Theodor W. (1903-69) 278 f., 290, 322, 343 f. Allen, Woody (geb. 1935) 327 Apfelböck, Joseph (1903-85) 245 Arendt, Hannah (1906-75) 12 Ariost 151 Aristoteles 12, 25, 35 Arminius 178 Arnim, Achim von (1781-1831) 92 Aufricht, Ernst Josef (1898-1971) 248 Augustin, Ernst (geb. 1927) 284 Bachmann, Ingeborg (1926-73) 280 Bachtin, Michail (1895-1975) 4 Ball, Hugo (1886-1927) 202 Baudelaire, Charles (1821-67) 241 Bauman, Zygmunt (1925-2017) 10, 41 Baum, Vicki (1888-1960) 205 Becher, Johannes R. (1891-1958) 234 Becker, Jurek (1937-97) 285 Becker, Nikolaus (1809-45) 178 Beckett, Samuel (1906-89) 279 Beck, Ulrich (1944-2015) 15, 41, 256, 322 Benn, Gottfried (1886-1956) 233 f., 236, 252 Bernhard, Thomas (1931-89) 365-371 Bhabha, Homi (geb. 1949) 308 Bieri, Peter (geb. 1944) 9 Biermann, Wolf (geb. 1936) 282, 310 Biller, Maxim (geb. 1960) 382 Bismarck, Otto von (1815-98) 159 f. Bloch, Ernst (1885-1977) 6 Boccacio, Giovanni (1313-75) 1, 56, 146 Böcklin, Arnold (1827-1901) 190 Böhme, Herbert (1907-71) 207 Böll, Heinrich (1917-85) 3 Borchert, Wolfgang (1921-47) 276 Bourdieu, Pierre (1930-2002) 3, 12 Brahms, Johannes (1833-97) 336 Brandt, Willy (1913-92) 288 Branduardi, Angelo (geb. 1950) 301 Braun, Michael 284 Brecht, Bertolt (1898-1956) 25, 203 f., 207, 220, 236, 238-241, 245-248, 252, 255, 262, 293, 298, 359 f., 368 Brentano, Clemens (1778-1842) 92, 166 Brinkmann, Dieter (1940-75) 283, 344 Brod, Max (1884-1968) 222 Brüder Grimm 134 Brussig, Thomas (geb. 1964) 283 Bubis, Ignaz (1927-99) 324 Büchner, Georg (1813-37) 68, 156, 160, 179 ff., 358 Buff, Charlotte (1753-1828) 50 Bürger, Gottfried August (1747-94) 26, 262 Busch, Wilhelm (183-1908) 163 Butler, Judith (geb. 1956) 3, 10 f., 14 Button, Jemmy (1815-64) 307 Campe, Julius (1792-1867) 157, 175 Camus, Albert (1913-60) 279, 293 Canetti, Elias (1905-94) 371 Celan, Paul (1920-70) 285, 293 Cervantes, Miguel de (1547-1616) 1 Chaplin, Charlie (1889-1977) 247 Claudius, Matthias (1740-1815) 238 Costello, Elvis (1954) 346 Dahn, Felix (1832-1912) 161, 293 Dante, Alighieri (1265-1321) 151 Darwin, Charles (1809-82) 10, 200, 306 f. Derrida, Jacques (1930-2004) 95 Dickens, Charles (1812-70) 161 Dietrich, Veit 241 Döblin, Alfred (1878-1957) 204, 252 f., 259, 270, 293, 317 Domin, Hilde (1909-2006) 295 ff. Don Carlos (1545-68) 75 Droste-Hülshoff, Annette von (1797-1848) 160, 169 Dürer, Albrecht (1471-1529) 89 <?page no="425"?> 412 P erSonenregI Ster Dürrenmatt, Friedrich (1921-90) 368 Dutschke, Rudi (1940-79) 320 Eco, Umberto (1932-2016) 322 Eich, Günter (1907-72) 277 Eichinger, Bernd (1949-2011) 302 Eisenstein, Sergej (1898-1948) 351 Eisner, Kurt (1867-1919) 203 Ellis, Bret Easton (geb. 1964) 284, 346 f., 382 Ende, Michael (1929-95) 135, 300 f., 307, 385 Enzensberger, Hans Magnus (geb. 1929) 280 Fallersleben, August Heinrich Hoffmann von (1798-1874) 159, 239 Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814) 90 Fiedler, Leslie A. (1917-2003) 281, 345 Fleißer, Marieluise (1901-74 205 Fontane, Theodor (1819-98) 1, 29, 156, 162, 164, 168, 184, 187 ff., 193 ff., 209 Foucault, Michel (1926-84) 11, 15 f., 118 f., 279, 322 Franzos, Karl Emil (1848-1904) 180 Freiligrath, Ferdinand (1810-76) 178 Freud, Sigmund (1856-1939) 10, 140 f., 146, 200 f., 229, 338 Freytag, Gustav (1816-95) 161, 188, 293 Friedrich I., genannt Barbarossa (1122-90) 178 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1795-1861) 157 Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-88) 28, 179 Frisch, Max (1911-91) 106, 279, 368 Gay, John (1685-1732) 248 Geibel, Emanuel (1815-84) 161 Gellert, Christian Fürchtegott (1715-69) 24, 48 George, Heinrich (1893-1946) 253 Giddens, Anthony (geb. 1938) 14 f. Goebbels, Joseph (1897-1945) 262 Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832) 1, 3, 12, 21, 24 ff., 28, 35, 40-43, 46, 48, 50, 56, 62, 80, 83 f., 86 ff., 90, 94, 100, 104, 121 f., 130, 132, 146, 181, 189, 210, 235, 245 f., 293, 318, 321, 323, 327 f., 356 Gottsched, Johann Christoph (1700-66) 23, 42 Gottsched, Luise Adelgunde (1713-62) 23 Grass, Günter (1927-2015) 32, 253, 280, 283, 287 f., 290, 292 f., 309, 324 f. Greiner, Ulrich (geb. 1945) 317 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von (1622-76) 21, 28, 30, 293 Grimm, Jakob (1785-1863) 92 Grimm, Wilhelm (1786-1859) 92, 200 Grosz, George (1893-1959) 202 Gründgens, Gustav (1899-1963) 208 Gryphius, Andreas (1616-64) 22 Günderrode, Karoline von (1780-1806) 312 Hahn, Ulla (geb. 1946) 353 f. Handke, Peter (geb. 1942) 280, 365 Haneke, Michael (geb. 1942) 335 Harbou, Thea von (1888-1954) 205 Harris, Richard (1930-2002) 347 Hartmann von Aue 358 Hasenclever, Walter (1890-1940) 234 Hauff, Wilhelm (1802-27) 1, 73 Hauptmann, Elisabeth (1897-1973) 248 Hauptmann, Gerhart (1862-1946) 46 f., 162 f., 183, 187 Heartfield, John (1891-1968) 204 Heine, Heinrich (1797-1856) 12, 93, 155, 157 f., 164 ff., 168 f., 175 ff., 179, 357, 384 Hennig von Lange, Alexa (geb. 1973) 283, 346 Herder, Johann Gottfried (1744-1803) 26, 165 Herking, Ursula (1912-74) 276 Hermann, Judith (geb. 1970) 283, 346 Herrndorf, Wolfgang (1965-2013) 372 f. Herwegh, Georg (1817-75) 158 f. Heym, Georg (1887-1912) 234, 236 Heyse, Paul (1830-1914) 201 Hildesheimer, Wolfgang (1916-91) 371 Hilsenrath, Edgar (geb. 1926) 285 Hindemith, Paul (1895-1963) 148 Hitler, Adolf (1889-1945) 206, 366, 368 Hobbes, Thomas (1588-1679) 13, 70, 95 Hoffmann, E.T. A. (1776-1822) 9, 29, 92 f., 105, 134, 137, 139 f., 146 f., 149 f., 173, 302, 385 Hofmannsthal, Hugo von (1874-1929) 95, 201 Hölderlin, Friedrich (1770-1843) 319, 342 Holz, Arno (1863-1929) 163, 183 Homer 1, 115, 122, 167 Hoppe, Felicitas (geb. 1960) 284, 358 ff., 362 Horkheimer, Max (1895-1973) 278 f., 290, 322 Hornby, Nick (geb. 1957) 283, 345 Horváth, Ödön von (1901-38) 368 <?page no="426"?> 413 P erSonenregI Ster Huelsenbeck, Richard (1892-1974) 202 Humboldt, Wilhelm von (1767-1835) 98 Huston, John (1906-87) 301 Ihering, Herbert (1888-1977) 239 Jacobs, Monty (1875-1945) 204 Jandl, Ernst (1925-2000) 331 Jelinek, Elfriede (geb. 1946) 254, 280, 332 f., 365 Johnson, Uwe (1934-84) 313 Johst, Hanns (1890-1978) 206 Joyce, James (1882-1941) 253, 288 Kafka, Franz (1883-1924) 211, 221 f., 226 f., 230, 325, 335, 338, 385 Kafka, Hermann (1852-1931) 222 Kaiser, Georg (1878-1945) 201 Kaiser, Joachim (geb. 1928) 280 Kaléko, Mascha (1907-75) 205 Kant, Immanuel (1724-1804) 6-9, 16, 41, 78, 94, 96, 124, 146, 246, 267, 302 Karl der Große (747/ 748-814) 177 Kästner, Erich (1899-1974) 147, 203 ff., 260 ff., 264, 266, 270, 272, 276 f., 279, 354 Keller, Gottfried (1819-90), 162 Kestner, Christian (1741-1800) 50 Keun, Irmgard (1905-82) 205, 268 Kierkegaard, Sören (1813-55) 327 Kisch, Egon Erwin (1885-1948) 204 Kleist, Heinrich von (1777-1811) 90 f., 114, 312, 356, 362 Klinger, Friedrich Maximilian (1752-1831) 26 Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724-1803) 53 f. Klüger, Ruth (geb. 1931) 339 Körner, Theodor (1791-1813) 91, 159, 178 Kracauer, Siegfried (1889-1966) 205, 268, 270 Kracht, Christian (geb. 1966) 283 f., 344, 346 f., 351 Kühn, Sophie von (1782-97) 105 Küpper, Hannes (1897-1955) 241 Lacan, Jacques (1901-81) 338 Lamprecht, Gerhard (1897-1974) 260 Lang, Fritz (1890-1976) 205 Lasker-Schüler, Else (1869-1945) 234 Laube, Heinrich (1806-84) 157 Lessing, Gotthold Ephraim (1729-81) 19, 24 f., 34 ff., 39 f., 55 f., 60, 88, 97, 103, 384 Lewis, C. S. (1898-1963) 147 Lichtenstein, Alfred (1889-1914) 234 Lindgren, Astrid (1907-2002) 260 Livius, Titus (59 v. Chr.-17 n. Chr.) 36 Lord Byron (1788-1824) 175 Lorenz, Matthias N. 325 Luhmann, Niklas 282 Luther, Martin (1483-1546) 21, 28 f., 241, 243 Lyotard, Jean-François (1924-98) 281, 322, 327, 345 Macpherson, James (1736-96) 40, 54 Magellan, Ferdinand (1480-1521) 358 Mahler, Gustav (1860-1911) 201, 213 Mann, Erika (1905-69) 211 Mann, Golo (1909-94) 211 Mann, Klaus (1906-49) 208, 211 Mann, Thomas (1875-1955) 201 f., 208-211, 213, 347, 351 f. Marx, Karl (1818-83) 159, 181, 214, 241, 247, 319 Mayer, Hans (1907-2001) 280 Michael Ende (1929-95) 302 Mill, John Stuart (1806-73) 13 f. Montesquieu (1689-1755) 6 Müller-Stahl, Arnim (geb. 1930) 301 Muschg, Walter (1898-1965) 253 Napoleon (1769-1821) 13, 84, 90, 115, 155, 177 f., 381 Nestroy, Johann (1801-62) 377 ff. Nietzsche, Friedrich (1844-1900) 8, 293 Novalis / Friedrich von Hardenberg (1772-1801) 89, 91, 99 f., 104, 135, 302 Ohnesorg, Benno (1940-67) 281, 318 f. Opitz, Martin (1597-1639) 23, 35, 42 Petersen, Wolfgang (geb. 1941) 302 Petrarca (1304-74) 151 Peymann, Claus (geb. 1937) 240, 366 Philipp II. (1527-98) 75 Pigafetta, Antonio (1480-1534) 358 Pinthus, Kurt (1886-1975) 232 ff., 238 Plautus, Titus Maccius (255-185 v. Chr.) 70 Plessner, Helmuth (1892-1985) 159 Pringsheim, Katharina (Katia) (1883-1980) 211 Pückler-Muskau, Hermann Fürst von (1785-1871) 157 <?page no="427"?> 414 P erSonenregI Ster Raabe, Wilhelm (1831-1910), 162 Raffael (1483-1520) 89 Rasputin, Grigori (1869-1916) 293 Reich-Ranicki, Marcel (1920-2013) 280, 311, 324 Reinmar von Hagenau 100 Richardson, Samuel (1689-1761) 24 Richter, Hans Werner (1908-93) 280 Riefenstahl, Leni (1902-2003) 351 Rimbaud, Arthur (1854-91) 241 Rousseau, Jean-Jacques (1712-1778) 13 Rowling, Joanne K. (geb. 1965) 135 Rygulla, Ralf-Rainer (geb. 1943) 283 Saint-Réal, Abbé (1639-92) 75 Sartre, Jean-Paul (1905-80) 279, 293 Saussure, Ferdinand de (1857-1913) 95 Schaaf, Johannes (geb. 1933) 301 Schiller, Friedrich (1759-1805) IX, 12, 15 f., 25 f., 35, 47, 56, 62 f., 68-72, 74 ff., 81, 83 f., 86, 88, 91, 94-99, 105 f., 108 ff., 112 ff., 164, 169, 267 f., 323, 344, 355 ff., 359 f., 382, 384 Schirrmacher, Frank (1959-2014) 324 Schlaf, Johannes (1862-1941) 163 Schlegel, Friedrich (1772-1829) 90, 99 Schlenther, Paul (1854-1916) 184 Schnitzler, Arthur (1862-1931) 252 Schopenhauer, Arthur (1788-1860) 8, 220 Schubart, Christian Friedrich Daniel (1739-91) 63 Schubert, Franz (1797-1828) 338 Schumann, Robert (1810-56) 164 Scott, Sir Walter (1771-1832) 1, 48, 188 Sebald, W. G. (1944-2001) 286 Shakespeare, William (1564-1616) 1, 25, 27, 42, 62, 75, 129, 162, 175 f. Smith, Adam (1723-90) 13, 319 Stadler, Ernst (1883-1914) 234 Steiner, Rudolf (1861-1925) 308 Stifter, Adalbert (1805-68), 162 Storm, Theodor (1817-88) 162 f. Strenger, Carlo (geb. 1958) 16 Stuckrad-Barre, Benjamin von (geb. 1975) 283, 345 Subercaseaux, Benjamin (1902-73) 307 Süskind, Patrick (geb. 1949) 148, 284 Tieck, Ludwig (1773-1853) 88, 146 f., 171 Timm, Uwe (geb. 1940) 281, 284, 317 ff., 322 Toller, Ernst (1893-1939) 203 Trakl, Georg (1887-1914) 233 f., 237 f. Trier, Walter (1890-1951) 264 Tschaikowsky, Peter (1840-93) 147 Tucholsky, Kurt (1890-1935) 203 f. Uerlings, Herbert 99 Valentin, Karl (1882-1948) 247 Valois, Elisabeth von (1545-68) 75 van Hoddis, Jakob (1887-1942) 234 f. Varus 178 Villon, François (1431-63) 241 Visconti, Luchino (1906-76) 213 Völker, Klaus 247 Voss, Julia 306 f. Wackenroder, Wilhelm Heinrich (1773-98) 88 Walden, Herwarth (1879-1941) 252 Waldheim, Kurt (1918-2007) 367 Walser, Martin (geb. 1927) 280, 309, 324 f., 327, 358 Walther von der Vogelweide 100 Wedekind, Frank (1864-1918) 241, 247 Weerth, Georg (1822-56), 159 Weill, Kurt (1900-50) 248 Welsch, Wolfgang (geb. 1946) 14 Wenders, Wim (geb. 1945) 351 Werfel, Franz (1890-1945) 234 f. Wessel, Horst (1907-30) 207 Wichert, Ernst (1831-1902) 192 Wieland, Christoph Martin (1733-1813) 88 Wienbarg, Ludolf (1802-1872 157 Wilder, Billy (1906-2002) 204, 260 Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen / Wilhelm I. (1797-1888) 160 Wilhelm II. (1859-41) 161, 184 Winckelmann, Johann Joachim (1717-68) 87, 97 Wittgenstein, Ludwig (1889-1951) 367 Wolf, Christa (1929-2011) 283, 309-313, 324, 358 Wolf, Gerhard (geb. 1928) 312 Wolf, Konrad (1925-82) 312 Wolfram von Eschenbach 100 Zaimoglu, Feridun (geb. 1964) 3 Zola, Émile (1840-1902) 12 <?page no="428"?> 415 S achregI Ster Abendlied (Trakl) 238 Acid. Neue amerikanische Szene (1969) 283 Als ich ein kleiner Junge war (1955) 261 Alte Meister. Komödie (1985) 366 Am Beispiel meines Bruders (2003) 318 American Psycho (1991/ 2000) 284, 346, 382 Amphitryon (1807) 114 An die Nachgeborenen (1939) 238 Apfelbaum und Olive (1959) 297 Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde (1927) 244 Arbeit und Struktur (2013). 373 Atta Troll. Ein Sommernachtstraum (1847) 176, 178 Aufbruch (2009) 354 Aufruf (1813) 159 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930) 240 Auschwitz und kein Ende (1979) 325 Auslöschung. Ein Zerfall (1986) 366 Austerlitz (2001) 286 A Winter’s Tale (1611) 175 B Bahnwärter Thiel (1888) 184 Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783) 6, 16, 41 Beggar’s Opera (Die Bettleroper) (1728) 248 Beim Häuten der Zwiebel (2006) 288 Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954) 210 Belsatzar (1827) 168 Berge Meere und Giganten (1924) 253 Berlin Alexanderplatz (1929) 204, 252 f., 270, 317 Beton (1982) 366 Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) 210 Bilder deiner großen Liebe (2014) 372 f., 376 Bilse und ich (1906) 209 Boccaccio 146 Brandung (1985) 326 Brief an den Vater (1919), 222 Brief des Lord Chandos (1902) 201 Briefe eines Verstorbenen (1830 / 31). 157 Buch der Lieder (1827) 93, 156 f., 164 ff. Buch von der deutschen Poeterey (1624) 23, 35 Buckower Elegien (1964) 240 Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) 209 f., 213 f. C Cardillac (1926) 148 Chronicles of Narnia (1950-56) 147 Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen (1990) 366 Condition postmoderne (2005) 345 Cross the Border, Close the Gap 281, 345 D Dadaistisches Manifest (1918) 202 Dantons Tod (1835) 180 Das doppelte Lottchen (1949) 260 f. Das Erdbeben in Chili (1810) 114 Das fliegende Klassenzimmer (1933) 261 Das Fräulein von Scuderi (1820) 148 Das Gedicht als Augenblick von Freiheit (1987 / 88) 295 Das Kalkwerk (1970) 366 Das kunstseidene Mädchen (1932) 205, 268, 279 Das Lied der Deutschen (1841) 159, 239 Das lyrische Stenogrammheft. Verse vom Alltag (1933) 205 Das Märchen (1795) 83 Das Parfum (1985) 148, 284 Das postmoderne Wissen (1979) 281 Das Prinzip Hoffnung (1954-59) 6 Das Problem der Absurdität bei Albert Camus (1971) 281 Das Schloß (1926) 222 Das Treffen in Telgte (1979) 288 Sachregister <?page no="429"?> 416 S achregI Ster Das Unheimliche (1919) 140 Das Urteil (1913) 221 Das verborgene Wort (2001) 353 f. Dekameron / Decamerone (ca. 1350; Druck 1470) 1, 56, 146 Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee (1931) 147, 261, 264 Der abenteuerliche Simplicissimus (1668) 21, 28, 32, 293 Der amerikanische Traum (1989) 284 Der blonde Eckbert (1797) 171 Der Butt (1977) 288 Der Dichter und das Phantasieren (1908) 229 Der Einsiedler Serapion (1819) 146 Der Fremde (1942, dt. 1948) 279 Der Freund und der Fremde (2005) 281, 318 Der Führer (1936) 207 Der gefühlvolle Kerkermeister (1832) 377 Der geteilte Himmel (1963) 309 f., 312, 316 Der goldne Topf (1814) 93, 134 Der Gott der Stadt (1919) 236 Der gute Mensch von Sezuan (1943) 240 Der Handschuh (1797) 84 f. Der Hessische Landbote (1834) 160, 180 Der Himmel über Berlin (1987) 351 Der Ignorant und der Wahnsinnige (1972) 366 (Der) Kälbermarsch (1933 / 36) 207 Der kaukasische Kreidekreis (1954) 240 Der Knabe im Moor (1842) 169 Der konfuse Zauberer (1832) 377 Der Mythos des Sisyphos (1942, dt. 1956) 279 Der Nachsommer (1857) 162 Der Nazi & der Friseur (1977) 285 Der Nußknacker (1892) 147 Der Prozeß (1925) 222, 335 Der rasende Reporter (1925) 204 Der Sandmann (1816) 9, 140 f. Der Schimmelreiter (1888) 163 Der Schlangenbaum (1986) 317 Der Stechlin (1898) 189 Der Sturm (1611) 129, 252 Der Taucher (1797) 84 Der Theatermacher (1984) 366 Der Tod in Venedig (1912) 201, 209 ff., 351 Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) 63, 69 Der Verschollene (1925) 222 Der Wille zur Macht (1901) 293 Der Wohlstand der Nationen (1776) 13 Der Zauberberg (1924) 210 Des Knaben Wunderhorn (1806 / 08) 92, 216 Deutsche Hörer! (1940-45) 210 Deutsche Kolonien (1981) 318 Deutscher Novellenschatz (1871-76) 169 Deutschland, Deutschland über alles (1929) 204 Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) 157, 175, 177 f., 384 Deutschlands Beruf (1861) 161 De Waber (1892) 184 Dialektik der Aufklärung (1944) 278, 322 Die Ahnen (1872-80) 161 Die Angestellten (1929) 205 Die Blechtrommel (1959) 32, 280, 287, 289, 293, 325 Die Blendung (1936) 371 Die Braut von Messina (1803) 83 Die Bürger von Calais (1912 / 13) 201 Die Dreigroschenoper (1928) 240, 247 f. Die Drei Sprünge des Wang-lun (1915) 253 Die Elixiere des Teufels (1815 / 16) 93 Die Entdeckung der Currywurst (1993) 317 Die Ermordung einer Butterblume (1913) 253 Die Fahne hoch (1929) 207 Die Fahrt der Beagle (1838-43) 306 Die Familie Selicke (1890) 163 Die fromme Helene (1872) 163 Die Götter Griechenlands (Heine) (1827) 168 Die Götter Griechenlands (Schiller) (1788) 86 Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1929 / 30) 359 Die Heimkehr (1823-24) 164, 166 Die Hermannsschlacht (1809) 91, 115 Die Judenbuche (1842) 160, 169 Die Jungfrau von Orleans (1801) 359 Die Karawane (1825) 73 Die Klavierspielerin (1983) 332 f. Die Konferenz der Tiere (1949) 261 Die Koralle (1917), 201 Die Leiden des jungen Werther (1774 / 87) 20, 24 ff., 40, 48, 50, 54, 128, 190, 194, 235, 321 Die Leute von Seldwyla (1856-1875) 163 Die literarische Welt (1925-33) 241 <?page no="430"?> 417 S achregI Ster Die männliche Herrschaft (1998; dt. 2005) 3 Die Marquise von O. (1810) 114 Die Nordsee (1826) 168 Die Pietisterey im Fischbein-Rocke Oder die Doctormäßige Frau. In einem Lust-Spiele vorgestellet (1736) 23 Die Plebejer proben den Aufstand (1966) 288 Die Rättin (1986) 288 Die Räuber (1781) 26, 62, 356 Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet (1784) 94 Die Schule der Diktatoren (1957) 261 Die Serapions-Brüder (1819-21) 146, 148, 385 Die Toten (2016) 347 Die unendliche Geschichte (1979) 135, 300 f. Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann (1974) 3 Die Verteidigung der Kindheit (1991) 326 Die Verwandlung (1916) 221, 227, 229, 338 Die Wahlverwandtschaften (1809) 189, 318, 328 Die Wandlung (1919) 203 Die Weber (1892) 163, 183 f. Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) 220 Die Zimmerschlacht (1967) 326 Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1947) 208, 210 Don Carlos. Infant von Spanien (1787) 20, 26, 74, 106, 344, 383 Don Quijote (1605 / 15) 1 Doppelinterpretationen. Das zeitgenössische Gedicht zwischen Autor und Leser (1966) 297 Draußen vor der Tür (1947) 276 E Effi Briest (1895) 162, 168, 187, 189, 209 Ehen in Philippsburg (1957) 325 Ein Bericht für eine Akademie (1917) 222 Eine Jugend in Deutschland (1933) 203 Eine kaiserliche Botschaft (1919). 222 Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917) 10, 200 Ein fliehendes Pferd (1978) 324, 327 Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten (1955) 325 Ein Gleiches (1801) 87, 245 Ein Kampf um Rom (1876) 161, 293 Ein Mann im Haus (1991) 354 Ein Schritt vom Wege (1871) 192 Ein springender Brunnen (1998) 326, 358 Ein weites Feld (1995) 283, 288 Emilia Galotti (1772) 25, 34 ff. Emil und die Detektive (1929) 204, 260 ff. Erlkönig (1782) 26 f. Erzählungen aus tausendundeiner Nacht (8.-10.Jhd.) 1 Es ist alles eitel (1637) 22 Esra (2003) 382 F Fabeln und Erzählungen (1746) 24, 48 Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931) 204 f., 261, 270, 272, 279 Fantasiestücke in Callot’s Manier (1814) 134 Faserland (1995) 283 f., 344-347 Fatherland (1992) 347 Faust I / Faust. Der Tragödie erster Teil (1808) 83, 88, 121, 181, 245 Faust II (1833) 121, 128 Fliegende Blätter 156 Frankfurter Allgemeine Zeitung 324 Freiheit in Krähwinkel (1849) 377 f. Freudenfeuer (1985) 353 Frost (1963) 366 Furcht und Elend des Dritten Reiches (1944) 240 G Gas (1918) 201 Gas II (1920) 201 Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst (1755) 87 Gedichte eines Lebendigen (1841 / 43) 158 Gegen Verführung (1927) 242 Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung (1788) 75 Gilgi. Eine von uns (1931) 268 Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773) 20, 26, 40-43, 48, 62, 80, 121, 383 Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794 / 95) 90 Gutes Geld (1996) 284 H <?page no="431"?> 418 S achregI Ster Halbschatten (2008) 318 Halbzeit (1960) 325 Hamburgische Dramaturgie (1767 / 69) 25 Hamlet (1604) 27 Harry Potter (1997 ff.) 135 Hauspostille (1927) 238, 241 f., 246, 298 Heidebilder (1844) 170 Heinrich von Ofterdingen (1802) 91, 99 f., 104, 135, 302 Heißer Sommer (1974) 281, 317, 319 f. Heldenplatz (1988) 366 Helden wie wir (1995) 283 Helian (1919) 237 Herr Puntila und sein Knecht Matti (1948) 240 Herz auf Taille (1928) 354 Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796) 88 Herz über Kopf (1981) 353 High Fidelity (1995) 283, 345 Hinkemann (1923) 203 Holzfällen. Eine Erregung (1984) 366 Homo faber. Ein Bericht (1957) 279 Hoppe (2012) 358 Hoppla, wir leben! (1927) 203 Horst-Wessel-Lied (1929) 207 Hundejahre (1963) 288 Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797 / 99) 342 I Ich habe einfach Glück (2001) 283 Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) 284 Ilias 115, 122 Im Krebsgang (2002) 288 Imperium (2012) 284, 347 In der Strafkolonie (1919) 222 Inventur (1947) 277 Iphigenie auf Tauris (1787) 83, 86 Irrungen, Wirrungen (1888) 189 Iwein 358 Iwein Löwenritter (2008) 358 J Jakob der Lügner (1969) 285 Jeanne d’Arc (1412-31) 359 Jemmy Button (1950) 307 Jenny Treibel oder »Wo sich Herz zum Herzen find’t«. Roman aus der Berliner Gesellschaft (1892) 189 Jim Knopf und die Wilde 13 (1962) 300, 304 f. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960) 300, 305 Johanna (2006) 358 f. Johannisnacht (1996) 317 Joseph und seine Brüder (1933-43) 210 K Kabale und Liebe (1784) 26, 77 Kanak Sprak (1995) 3 Karawane (1917) 202 Kassandra (1983) 312 Käthchen von Heilbronn (1810) 114 Katz und Maus (1961) 288 Keiner weiß mehr (1968) 283 Kein Ort. Nirgends (1979) 311 Kerbels Flucht (1980) 317 Kinderhymne (1950) 239 Kinder- und Hausmärchen (1812 / 15) 92, 134 Kindheitsmuster (1976) 311, 358 Kleine Aster (1912) 236 Kopfjäger. Bericht aus dem Inneren des Landes (1991) 285, 317 Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? (1932) 204 Kulturkritik und Gesellschaft (1951) 343 L La condition postmoderne (1979) 281 Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) 88 Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1755) 24 Leben des Galilei (1943) 240 Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern (1819 / 21) 139 Legende vom toten Soldaten (1927) 246 Lenore (1773) 26 Lenz (1839) 180 Leonce und Lena (1838) 180 Leviathan (1651) 13, 95 Leyer und Schwerdt (1814) 91, 178 Liturgie vom Hauch (1927) 245 Lotte in Weimar (1939) 208, 210 M Mahagonnygesänge (1927) 242 Maria Stuart (1801) 96, 106 Mario und der Zauberer (1930) 210 Marschlied 1945 (1946) 276 <?page no="432"?> 419 S achregI Ster Max und Moritz (1865) 163 Medea. Stimmen (1996) 312 Meine Preise (2009) 365, 369 Mein Jahrhundert (1999) 288 Mein Name sei Gantenbein (1964) 280 Menschen im Hotel (1929) 205 Menschheitsdämmerung (1919) 233 Mephisto (1936) 208 Mergelgrube (1844) 170 Metropolis (1927) 205 Michael Kohlhaas (1808) 115, 356 Minna von Barnhelm (1767) 25, 34 Miß Sara Sampson (1755) 25, 34 Momo (1973) 300 f. Morenga (1978) 318 f., 322 Morgue (1912) 236 Moskauer Novelle (1961) 310 Münchhausen (1943) 204, 262 Mutmassungen über Jakob (1959) 313 Mutter Courage und ihre Kinder (1941) 240 My Aim Is True (1977) 346 N Nachdenken über Christa T. (1968) 311 Nachschrift zum ›Namen der Rose‹ (1983, dt. 1984) 322 Nachtstücke (1816 / 17) 92, 140 f. Nathan der Weise (1779) 25, 55 f., 103, 384 Neid (2008) 333 Neue Gedichte (1844) 176 Neuen Zeitung 261 Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung 162 Nibelungenlied 307 Nichts als Gespenster (2003) 283 Notabene 45 (1961) 261 Novelle (1828) 83 Nur eine Rose als Stütze (1959) 295 ff. Nußknacker und Mausekönig (1816) 147 O Odyssee 167 Ossian (1760-63) 40, 54 Othello (1604) 62 ottos mops (1970) 331 P Pamela, or Virtue Rewarded (1740) 24 Panzerkreuzer Potemkin (1925) 351 Paradiese, Übersee (2003) 358 Parzival (1200-10) 100 Penthesilea (1808) 114 ff., 362 Phantasus (1812-16) 146 f. Picknick der Friseure (1996) 358 Pigafetta (1999) 358 Pioniere in Ingolstadt (1928 / 29) 205 Prometheus (1774) 26 Pünktchen und Anton (1931) 261 R Rat Krespel (1818) 152 Reisebilder (1826-31) 156 f. Relax (1997) 283 Rennschwein Rudi Rüssel (1989) 318 Rheinlied (1840) 178 Robinsons blaues Haus (2012) 284 Rot (2001) 318 S Schach von Wuthenow (1883) 188 Schlageter (1933) 206 Schweyk im zweiten Weltkrieg (1957) 207 Seegespenst (1827) 168 Soll und Haben (1855) 161, 188, 293 Soloalbum (1998) 283, 345 Some Like it Hot (1959) 260 Sommerhaus, später (1998) 283 Spiel der Zeit (2014) 354 Spielende (1983) 353 Sterbender Cato (1732) 23 Stille Nacht (1818) 336 Störfall. Nachrichten eines Tages (1987) 312 T The Case for Post-Modernism (1968) 281 The Lion, the Witch and the Wardrobe (1950) 147 The Parent Trap (1961) 260 Tod eines Kritikers (2002) 324 f. Todesfuge (1948) 285 Tonio Kröger (1903) 210 Traumdeutung (1899) 229 Triumph des Willens (1935) 351 Trommeln in der Nacht (1922) 239 Tschick (2010) 372-375 U Über Anmut und Würde (1793) 94 Über das Marionettentheater (1810) 115 Über den Bürger (1642) 70 Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792) 94 Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) 94 Über die Freiheit (1859) 13 <?page no="433"?> 420 S achregI Ster Über naive und sentimentalische Dichtung (1795 / 96) 15, 94 Ulysses (1922) 253, 288 Unser Auschwitz (1965) 325 Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853) 162 Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) 104, 146 Unterm Birnbaum (1885) 188 Unter Null (Less Than Zero) (1985) 284, 346 Urfaust (1775) 121 V Verbrecher und Versager. Fünf Porträts (2004) 358 Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) 23 Vogelweide (2013) 318 Vom Brot und den Kindlein (1927) 244 Vom François Villon (1927) 241 Vom Geist der Gesetze (1748) 6 Von der Kindsmörderin Marie Farrar (1927) 245 Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter (1773) 26 Von deutscher Republik (1922) 210 Vor dem Gesetz (1915) 222 Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 / 13 (1878) 162, 188 Vor Sonnenaufgang (1889) 162 f., 184 Vossische Zeitung 162 W Wallenstein (1800) 83, 91 Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862) 162, 187 Wandrers Nachtlied (1780) 87, 293 Warten auf Godot (1948) 279 Was bleibt (1990) 283, 309 f. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789) 94 Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich bewirken? / Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet (1784 / 85) 94 Waverley (1814) 188 Weiter leben (1992) 339, 341, 343 Weltende (1911) 235 Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren (1802) 89 West-östlicher Divan (1819) 88 Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) 3, 21, 90, 100 Wilhelm Tell (1804) 69, 81, 91, 105 f., 267 Wilhelm Tell für die Schule (1971) 106 Woyzeck (1879) 68, 160, 179, 181 Wozu Lyrik heute. Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft (1968) 297 Z Ziehende Landschaft (1959) 297 Zu Bacharach am Rheine (1801) 166 Zu ebener Erde und erster Stock (1835) 378 Zum Schäkespears Tag (1771) 42 Zur Geschichte des menschlichen Herzens (1775) 63 <?page no="434"?> ,! 7ID8C5-ceicbf! ISBN 978-3-8252-4821-5 Stefan Neuhaus Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte Diese Einführung gibt einen Überblick über die Neuere deutschsprachige Literaturgeschichte und verknüpft damit die Frage: Wie frei kann ein Individuum in einer Gesellschaft sein? Zugleich ist Freiheit Grundlage schöpferischer Produktion und damit der Entwicklung von Literatur. An eindrucksvollen Beispielen wird eine Geschichte der Literatur erzählt, die von der (Un-)Möglichkeit handelt, frei zu sein. Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte Neuhaus Lehrbücher mit einem klaren Konzept: ▶ Definitionen, Beispiele und Zusammenfassungen erleichtern den Überblick ▶ Testfragen fördern das Verständnis ▶ ideal für die Prüfungsvorbereitung basics basics Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Germanistik | Literaturwissenschaft 48215 Neuhaus_M-4821.indd 1 10.08.17 15: 16
