Deutsche Sprachgeschichte
Grundzüge und Methoden
0305
2018
978-3-8385-4823-4
978-3-8252-4823-9
UTB
Stefan Hartmann
<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-ceicdj! ISBN 978-3-8252-4823-9 Stefan Hartmann Deutsche Sprachgeschichte Grundzüge und Methoden Sprache ist nichts Statisches, sondern in stetem Wandel begriffen. Um zu verstehen, wie die deutsche Sprache wurde, was sie ist, muss man sich daher mit ihrer Geschichte auseinandersetzen. Diese Einführung bietet einen umfassenden, verständlichen und zeitgemäßen Überblick über die Geschichte der deutschen Sprache. Zugleich gibt sie Studierenden und Lehrenden zahlreiche Methoden an die Hand, selbst historische Sprachwissenschaft zu betreiben. Von der klassischen komparativen Methode über Korpuslinguistik bis hin zu quantitativen Methoden der Datenanalyse wird das Methodenrepertoire der aktuellen germanistischen Sprachgeschichtsforschung kompakt und verständlich dargestellt. Zahlreiche Beispiele und Übungsaufgaben sowie umfangreiches digitales Begleitmaterial machen das Buch zu einem idealen Begleiter in Studium und Lehre. Sprachwissenschaft Deutsche Sprachgeschichte Hartmann Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 48239 Hartmann_M-4823+.indd 1 23.01.18 09: 48 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage W. Bertelsmann Verlag · Bielefeld Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York utb 0000 UTB (M) Impressum_18.indd 1 23.10.17 10: 03 u t b 4 8 2 3 <?page no="2"?> Dr. Stefan Hartmann ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für deutsche Sprachwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. <?page no="3"?> Stefan Hartmann Deutsche Sprachgeschichte Grundzüge und Methoden A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: © Universitätsbibliothek Heidelberg / Cod. Pal. germ. 848 Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) / fol. 125r. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Printed in Germany utb-Nr. 4823 ISBN 978-3-8385-4823-4 <?page no="5"?> 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.1 Sprachwandel verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.1.1 Untersuchungsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.1.2 Wie verändern wir Sprache? Zur Theorie des Sprachwandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.2 Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2.1 Sprachvergleich und Rekonstruktion: Die komparative Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2.2 Authentische Sprachdaten: Korpuslinguistik . . . . . . . . . . . 46 2.2.3 Reflexe des Sprachwandels im Gegenwartsdeutschen: Fragebogenstudien und Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.1 Vorgeschichte der deutschen Sprache: Vom Indoeuropäischen zum Westgermanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.1.1 Das Indoeuropäische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.1.2 Vom Indoeuropäischen zum Germanischen . . . . . . . . . . . 89 3.1.3 Vom Germanischen zum Westgermanischen . . . . . . . . . . 91 3.2 Althochdeutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.2.1 Phonologie des Althochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.2.2 Morphologie des Althochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.2.3 Syntax des Althochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.3 Mittelhochdeutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.3.1 Phonologie des Mittelhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.3.2 Morphologie des Mittelhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.3.3 Syntax des Mhd. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.4 Frühneuhochdeutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.4.1 Phonologie des Frühneuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . 105 3.4.2 Morphologie des Fnhd. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 <?page no="6"?> 6 Inhalt 3.4.3 Syntax des Frühneuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.5 „Und was mache ich jetzt damit? “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4. Phonologischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.1 Phonologischen Wandel verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.1.1 Die Lautverschiebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.1.2 Ablaut und Umlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4.2 Phonologischen Wandel untersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.2.1 Graphie und Phonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.2.2 Phonologischer Wandel in „real-time“ und „apparenttime“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5. Morphologischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.1 Morphologischen Wandel verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.1.1 Flexionsmorphologischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.1.2 Wortbildungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 5.2 Morphologischen Wandel untersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5.2.1 Morphologische Produktivität messen . . . . . . . . . . . . . . . . 167 5.2.2 Diachrone Anwendung von Produktivitätsmaßen . . . . . . 175 6. Syntaktischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.1 Syntaktischen Wandel verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.1.1 „Genitivschwund“ und Wandel der Genitivstellung . . . . . 185 6.1.2 Der Ausbau der Klammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 6.1.3 Der am-Progressiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6.2 Syntaktischer Wandel untersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 6.2.1 Zur Arbeit mit annotierten Korpora . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 6.2.2 Zwischen Syntax und Lexik: Alles hat seinen Preis . . . . . . 216 6.2.3 Eine Methode kommt selten allein: Die Familie der Kollostruktionsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 6.2.4 Noch einmal am-Progressiv: Ein experimenteller Ansatz 230 7. Lexikalischer und semantischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 7.1 Lexikalischen und semantischen Wandel verstehen . . . . . . . . . . . 237 7.1.1 Erweiterung des Wortschatzes durch Entlehnung . . . . . . . 242 7.1.2 Wie geil ist das denn: Bedeutungswandel . . . . . . . . . . . . . . 245 7.2 Lexikalischen und semantischen Wandel untersuchen . . . . . . . . 254 <?page no="7"?> 7 Inhalt 7.2.1 Zwei Perspektiven auf Bedeutung: Semasiologie und Onomasiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 7.2.2 Wortfrequenzen im schnellen Überblick: Der Google Ngram Viewer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 7.2.3 „Zeige mir deine Nachbarn und ich sage dir, wer du bist“: Was Kollokationen über Semantik verraten. . . . . . . . . . . . 259 8. Pragmatischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 8.1.1 Fluchen und Schimpfen diachron und kontrastiv . . . . . . . 266 8.1.2 Haben Dieselben schon gespeist? Anredewandel im Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 8.1.3 Pragmatik und Grammatikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 8.2 Pragmatischen Wandel untersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 8.2.1 Sprache im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 8.2.2 n-Gramme und Sprachgebrauchsmuster . . . . . . . . . . . . . . 289 9. Graphematischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 9.1 Graphematischen Wandel verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 9.1.1 Die Entwicklung der Substantivgroßschreibung . . . . . . . . 303 9.1.2 Von der Graphie zur Orthographie: Die Geschichte der deutschen Rechtschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 9.2 Graphematischen Wandel untersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 9.2.1 Gedruckte vs. handschriftliche Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 9.2.2 Levenshtein-Distanz und graphische Variation . . . . . . . . . 316 10. Fortsetzung folgt: Sprachwandel gestern, heute und morgen . . . . . . . . 323 Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-)Arbeit schreibt . . . 327 Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Häufige Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Wie zitiere ich richtig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 „Vorbilder“ finden-- Konventionen erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 <?page no="8"?> 8 Inhalt Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Vorstufen des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Sprachstufen des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Weitere indoeuropäische Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Korpora und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Software . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 R-Pakete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Korpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 <?page no="9"?> 9 Vorwort Wissenschaft kann man nicht alleine betreiben. Sie lebt vom gegenseitigen Austausch, von der Weitergabe von Wissen auf allen nur denkbaren Wegen. Wenn ich in diesem Buch versuche, einen kondensierten Einstieg in die deutsche Sprachgeschichte und die Methoden ihrer Erforschung zu bieten, dann ist das Ergebnis in jeder Hinsicht stark beeinflusst von all denjenigen, die meinen eigenen Blick auf Sprache und Sprachwissenschaft geprägt haben. Hier kann ich nur einige wenige von ihnen nennen und ihnen stellvertretend danken. Meine sprachgeschichtliche Prägung habe ich an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz bei Damaris Nübling erfahren, die auch den Kontakt zum Narr-Verlag hergestellt und damit den Anstoß für das vorliegende Buch gegeben hat. Ähnlich prägend für meine sprachhistorische Ausbildung waren Kerstin Riedel und Sabine Obermaier. Einen großen Teil der korpuslinguistischen Expertise, die ich in den vergangenen Jahren erwerben konnte, verdanke ich meiner anglistischen Kollegin Susanne Flach (Neuchâtel). Einige sehr wertvolle Hinweise hat mir auch Andreas Klein (Mainz) gegeben. Während meiner Promotion in Mainz hatte ich das Glück, mit großartigen Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten zu können-- stellvertretend seien Kristin Kopf und Luise Kempf genannt. Nicht minder großartig sind meine derzeitigen Kolleginnen und Kollegen in Hamburg bzw. (ab Oktober 2017) Bamberg, durch die ich zu vielen der im Folgenden diskutierten Themen auch neue Perspektiven entwickeln konnte. Hier danke ich besonders Renata Szczepaniak, die meine Arbeit an diesem Buch stets voll unterstützt hat. Darüber hinaus danke ich Lisa Dücker, Melitta Gillmann, Eleonore Schmitt, Daniela Schröder und Annika Vieregge für hilfreiche Anmerkungen zu einzelnen Kapiteln. Auch bin ich der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg zu Dank verpflichtet, deren Dienste ich beim Schreiben dieses Buches in teilweise doch recht exzessivem Maße in Anspruch genommen habe. Was meine Kenntnisse in der Programmiersprache R angeht, auf die sich auch große Teile des digitalen Begleitmaterials zu diesem Buch stützen, verdanke ich Fabian Barteld (Hamburg), Ash Chapman (Newcastle) und Peeter Tinits (Tallinn) vieles. Meinen Studierenden in Mainz und Hamburg danke ich dafür, dass sie meinen Blick auf Sprachgeschichte und ihre didaktische Vermittlung immer wieder mit engagierten Rückfragen und guten Ideen geschärft haben. Auf Seiten des Narr-Verlags gilt mein besonderer Dank Tillmann Bub, der von der ersten <?page no="10"?> 10 Vorwort Idee bis zur Publikation immer ein guter und verlässlicher Ansprechpartner gewesen ist, und Elena Gastring, dank deren gründlicher Durchsicht des Manuskripts ich noch zahlreiche Fehler und Unklarheiten tilgen konnte-- wenn auch sicherlich nicht alle; die verbleibenden liegen selbstverständlich allein in meiner Verantwortung. Einige Kollegen und gute Freunde haben dieses Buch besonders geprägt: Auch wenn die Grafiken, die ich erstellt habe, wohl keinen Designpreis gewinnen, wären sie ohne die Hilfe von Jonas Nölle (Edinburgh) sicherlich deutlich weniger ansehnlich geworden. Andreas Hölzl (Zürich) hat dankenswerterweise fast das gesamte Manuskript gelesen und sehr viele hilfreiche Vorschläge eingebracht. Michael und Monika Pleyer (Koblenz) haben nicht nur nützliche Rückmeldungen zur vorliegenden Einführung gegeben, sondern mir hin und wieder auch wertvolle Ablenkung von dem Buchprojekt verschafft. Mein größter Dank gilt jedoch meiner Familie, ohne deren Unterstützung ich es sicherlich nicht geschafft hätte, zusätzlich zu einer Reihe anderer Projekte noch ein Einführungswerk zu schreiben. Hamburg, September 2017 Stefan Hartmann <?page no="11"?> Wenn wir nicht wissen, wie etwas geworden ist, so kennen wir es nicht. August Schleicher 1. Einführung An Einführungen in die deutsche Sprachgeschichte besteht kein Mangel-- warum also noch eine weitere? Die Antwort darauf ist ebenso einfach wie folgenreich für die Konzeption dieses Buches: Bücher zur deutschen Sprachgeschichte gibt es viele, aber die deutsche Sprachgeschichte muss erst noch geschrieben werden. Das heißt jedoch keineswegs, dass ich mir anmaßen würde, die deutsche Sprachgeschichte, also das beste und umfassendste Referenzwerk über die Geschichte der deutschen Sprache zu schreiben. Ganz im Gegenteil: Einen wirklich umfassenden Überblick zu geben über die Entwicklungen, die die deutsche Sprache in den letzten knapp 1.500 Jahren durchgemacht hat, ginge weit über das hinaus, was diese Einführung leisten kann und will. Der Punkt ist ein anderer: Wissenschaft ist ein Prozess, der davon lebt, dass bestehendes Wissen hinterfragt und überprüft wird, dass Forschungslücken gefüllt werden, dass unterschiedliche Methoden und Herangehensweisen erprobt und diskutiert werden. Diese Einführung will daher zwar auch einen Überblick über die deutsche Sprachgeschichte bieten, Ihnen aber vor allem Methoden an die Hand geben, selbst Sprachgeschichtsforschung zu betreiben. Trotz dieser recht anspruchsvollen Zielsetzung sollte sich das Buch weitgehend ohne Vorkenntnisse lesen lassen. Bis auf Grundbegriffe, die aus dem schulischen Grammatikunterricht bekannt sein sollten, werden alle wichtigen Fachtermini erklärt. Wenn doch ein Begriff unklar sein sollte, ist es heute einfacher denn je, ihn nachzuschlagen, sei es im Internet oder, noch besser, in einem Fachlexikon wie Bußmann (2008) oder Glück & Rödel (2016). Diese Einführung reagiert mit ihrer dezidiert methodischen Ausrichtung auf Entwicklungen in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung, die sich auch in der Lehre niederschlagen. Die historische Sprachwissenschaft <?page no="12"?> 12 1. Einführung des Deutschen hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten einen ausgeprägten Methodenpluralismus entwickelt. An die Seite qualitativer, philologisch orientierter Arbeit an historischen Texten sind mehr und mehr quantitative und empirische Methoden getreten. Viele Dozierende erwarten mittlerweile von ihren Studierenden empirisches Arbeiten auch in Seminar- und Abschlussarbeiten. In den meisten Einführungen werden aber methodische Aspekte, auch aus Platzgründen, zumeist nur am Rande erwähnt. Zum Einstieg in empirische Methoden musste man bisher auf andere Einführungswerke zurückgreifen, die aber zumeist nicht auf sprachgeschichtliche Fragestellungen zugeschnitten sind, sondern entweder synchron orientiert sind (also die Gegenwartssprache behandeln) oder aus anderen Disziplinen wie der Psychologie oder der Sozialwissenschaft stammen. Wenn man von germanistischer Sprachgeschichtsforschung spricht, dann ist damit in aller Regel-- so auch in diesem Buch-- die Untersuchung der deutschen Sprachgeschichte gemeint. Allerdings würde uns vieles entgehen, wenn wir die Perspektive ausschließlich auf das Deutsche einengen: Der Sprachvergleich gehört seit jeher zum Methodenrepertoire der historischen Sprachforschung. Deshalb ist ein Kapitel in diesem Buch auch der komparativen Methode gewidmet, ohne die wir viele der Sprachwandelprozesse, die quasi zum „Kanon“ des sprachgeschichtlichen Wissens gehören, nicht kennen würden. Die Methode, die sich im Zuge der Digitalisierung wohl am eindrucksvollsten durchgesetzt hat, ist sicherlich die Korpuslinguistik, d. h. die Arbeit mit großen Sammlungen authentischer Sprachdaten. Auf Grundlage von Korpora lassen sich wissenschaftliche Hypothesen überprüfen, Sprachwandelprozesse nachvollziehen, regionale und textsortenspezifische Unterschiede dingfest machen. Germanistische Sprachgeschichtsforschung ohne Korpora-- das ist heutzutage fast undenkbar. Schon in studentischen Seminararbeiten erfreut sich Korpuslinguistik erfahrungsgemäß wachsender Beliebtheit. Im methodischen Teil dieses Buches bilden korpuslinguistische Ansätze daher einen Schwerpunkt. Neben einem allgemein gehaltenen Einstieg in korpuslinguistische Methoden in Kapitel 2.2.2 werden mehrere korpusbasierte Fallstudien vorgestellt und diskutiert, und im digitalen Begleitmaterial zu diesem Buch finden sich mehrere praktisch orientierte Anleitungen zu Korpusrecherchen über einschlägige Korpusabfragesysteme. Zum wachsenden Methodenpluralismus trägt aber auch die Verzahnung der germanistischen Sprachwissenschaft mit der Dialektologie bei. „Das“ Deutsche im Sinne einer überregionalen Standardsprache ist eine recht junge Entwick- <?page no="13"?> 13 1. Einführung lung, und bis heute ist die deutsche Sprache in nicht zu unterschätzendem Maße dialektal geprägt. Regionale Unterschiede zu vernachlässigen, würde daher bedeuten, eine wichtige Dimension sprachlicher Variation außer Acht zu lassen. Zum Methodenrepertoire der Dialektologie gehören zum Beispiel Informantenbefragungen, die genutzt werden können, um Sprachraumgrenzen abzustecken: Wo im deutschsprachigen Raum sagt man Appel und wo Apfel? Wo benutzt man gell? als Rückversicherungssignal und wo eher ne? oder oder? Wie wir noch sehen werden, sind regionale Variation und diachroner Wandel bisweilen aufs engste verzahnt. Nicht nur das Methodenrepertoire der historischen Sprachwissenschaft ist deutlich gewachsen, sondern auch das Spektrum der Fragestellungen ist breiter geworden. So haben beispielsweise Wortbildungswandel, historische Syntax und auch Wandelphänomene im Bereich der Pragmatik in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit erfahren. Damit gehen ebenfalls methodische Herausforderungen einher: Welche Textsorten spiegeln den authentischen Sprachgebrauch früherer Jahrhunderte am besten wider, sodass sich damit pragmatische Phänomene, also Aspekte des Sprachgebrauchs im Kontext, untersuchen lassen? Und welche Textsorten sind dezidiert schriftsprachlich und weisen deshalb verschachteltere Satzstrukturen und komplexere Wortbildungsprodukte auf als es im alltäglichen mündlichen Sprachgebrauch zu erwarten ist? Diesen und vielen weiteren methodischen Herausforderungen wollen wir uns in den nächsten Kapiteln stellen. Dabei ist jedes Kapitel in zwei Teile untergliedert. Der erste Teil gibt einen Überblick über den jeweiligen Forschungsstand zu den einzelnen Themen, der zweite Teil widmet sich methodischen Aspekten und will Sie mit dem Rüstzeug ausstatten, selbst weiterzuforschen. In den einzelnen Kapiteln-- angefangen mit dieser Einleitung-- finden sich darüber hinaus immer wieder Infoboxen, die ergänzende Informationen zu den einzelnen Themen oder teilweise auch ganz allgemeiner Art liefern. In den methodischen Kapiteln finden sich hier oft Tipps und Tricks oder Warnungen vor häufigen Fehlern, in den Theoriekapiteln vertiefende Informationen zu einzelnen Aspekten des jeweiligen Kapitels oder terminologische Hinweise. Dieses Buch will somit nicht nur eine Einführung in die deutsche Sprachgeschichte und die historische Sprachwissenschaft sein, sondern auch und gerade eine Einladung zum wissenschaftlichen Denken. Gerade wenn es um Themen wie Sprache und Sprachwandel geht, kommt die wissenschaftliche Perspektive im öffentlichen Diskurs oft zu kurz. Das ist wenig verwunderlich, denn wir alle benutzen Sprache(n), und folgerichtig hat jeder und jede bestimmte Mei- <?page no="14"?> 14 1. Einführung nungen und Einstellungen zu Sprache. Doch selbst Studierende in höheren Semestern, die längst nicht mehr an Sprachverfallsmythen glauben (vgl. z. B. Plewina & Witt 2014 für eine Reihe von Aufsätzen, die die populäre Idee eines vermeintlichen Verfalls der deutschen Sprache wissenschaftlich dekonstruieren), haben bisweilen erfahrungsgemäß Probleme, wissenschaftliche Prinzipien zu verstehen, insbesondere wenn es um das Verhältnis von Theorie und Daten, von Explanans (also der Erklärung) und Explanandum (dem zu Erklärenden) geht. Daher ist dieser Einführung besonders daran gelegen, Sprachwissenschaft explizit als Wissenschaft zu präsentieren. Wenn Sie durch die Kombination aus Überblicksdarstellung und praktisch orientierter Anleitung zum eigenständigen Weiterfragen, Weiterdenken und Weiterforschen Spaß an scheinbar trockenen Themen wie syntaktischem oder morphologischem Wandel, Lautverschiebungen und Ablautreihen gewinnen, hat dieses Buch sein vielleicht wichtigstes Ziel erreicht. Die deutsche Sprachgeschichte muss erst noch geschrieben werden-- schreiben Sie daran mit! Was dieses Buch ist - und was nicht … Wie Sie an dieser Stelle schon gemerkt haben dürften, ist dieses Buch eine Chimäre: einerseits eine Einführung in die deutsche Sprachgeschichte, andererseits eine Hinführung zum methodischen Repertoire der historischen Sprachwissenschaft. Daher kann es keinen vollständigen Überblick über die deutsche Sprachgeschichte geben (sofern das überhaupt im Rahmen eines einzigen Werks möglich ist). Auch was die methodischen Ansätze angeht, auf denen der Fokus des Buches liegt, war zwingend eine Auswahl notwendig. Von Polenz (1991: 17-23) weist zu Recht darauf hin, dass das Erkenntnisinteresse der Sprachgeschichtsschreibung über die rein linguistische Perspektive hinausgeht und beispielsweise auch (kultur-)historische Fragestellungen umfasst. Diese Perspektive werde ich in den Überblicksdarstellungen in den folgenden Kapiteln aufgreifen, aber die Vorstellung der Arbeitstechniken beschränkt sich weitgehend auf das ohnehin schon umfangreiche linguistische Methodeninventar. Da die Arbeit mit Korpora in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung die wohl mit Abstand wichtigste Methode des Erkenntnisgewinns darstellt, liegt der Schwerpunkt in dieser Einführung klar auf korpuslinguistischen Zugängen. Stärker als andere Einführungswerke, die dezidiert der Korpuslinguistik gewidmet sind (z. B. Scherer 2006, Perkuhn et al. 2012, Lemnitzer & Zinsmeister <?page no="15"?> 15 1. Einführung 2015), werde ich auf die speziellen Herausforderungen eingehen, die historische Korpuslinguistik mit sich bringt. Dennoch ersetzt dieses Buch natürlich keine Einführung in die Korpuslinguistik. Vielmehr will es quasi ein Sprungbrett für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit sprachgeschichtlichen Fragestellungen sein. Wie man dieses Buch benutzt Weil diese Einführung einen Spagat versucht zwischen der Vermittlung von „Grundzügen“ einerseits und „Methoden“ andererseits, ist jedes der folgenden Kapitel in zwei Teile gegliedert. Der jeweils erste Teil fasst unter dem Motto „Sprachwandel verstehen“ den derzeitigen Forschungsstand zu Kernthemen der germanistischen Sprachgeschichtsforschung zusammen, im zweiten Teil werden methodische Ansätze und Probleme oft anhand von Fallstudien illustriert. Die Kapitel bauen teilweise aufeinander auf, können aber prinzipiell auch unabhängig voneinander gelesen werden, auch wenn Leserinnen und Leser, die keine linguistischen Vorkenntnisse mitbringen, dann eventuell öfter einen Blick ins Wörterbuch werfen (oder im Internet nachsehen) müssen. Aus Platzgründen kann nur bedingt eine praktisch orientierte Einführung in die jeweiligen Methoden gegeben werden. Allerdings stehen im digitalen Begleitmaterial eine Vielzahl an Tutorials insbesondere aus dem Bereich der Korpuslinguistik zur Verfügung (https: / / utb-shop.de/ 9783825248239). Das hat auch den Vorteil, dass ich zeitnah auf Änderungen etwa bei web-basierten Korpusschnittstellen reagieren kann, was in einem gedruckten Buch nur bei einer neuen Auflage möglich wäre. Darüber hinaus finden sich die meisten Daten und Skripts, die den Analysen in diesem Buch zugrundeliegen, in einem Github-Repository (github.com / hartmast / sprachgeschichte). Dort sind auch die besagten Tutorials zusammen mit den dazugehörigen Beispiel-Datensätzen hinterlegt. Ein Teil der Materialien findet sich zudem auf meiner Homepage www.stefanhartmann.eu-- etwas Redundanz kann ja angesichts der notorischen Flüchtigkeit von Webinhalten nicht schaden, auch wenn ich natürlich versuchen werde, die Daten auf allen genannten Kanälen dauerhaft verfügbar zu halten. Ein paar Warnungen (und Ermutigungen) vorab Wissenschaft kann viel Spaß machen, ist aber nicht immer einfach. Das gilt auch für dieses Buch: Auch wenn es für AnfängerInnen ebenso geschrieben ist wie für LeserInnen, die schon Vorkenntnisse in der Linguistik mitbringen, sind <?page no="16"?> 16 1. Einführung einige Abschnitte sehr anspruchsvoll. Kapitel 3 zum Beispiel fasst auf wenigen Seiten einige Eckpfeiler der deutschen Sprachgeschichte zusammen, wofür man eigentlich ein ganzes Buch oder gar mehrbändige Überblicksdarstellungen benötigen würde. Dadurch lässt dieses Kapitel eine Lawine an Informationen auf Sie los, während es zugleich andere wichtige Entwicklungen in der Geschichte des Deutschen sträflich vernachlässigt. Lassen Sie sich davon bitte nicht abschrecken: Sie sollen die dargestellten Prozesse nicht auswendig lernen, sondern lediglich einen komprimierten Überblick bekommen, der zum Verständnis vieler der Entwicklungen erforderlich ist, die in den darauffolgenden Kapiteln genauer skizziert werden. Im Methodenteil indes gilt: Keine Angst vor Zahlen und keine Angst vor Statistik! Erfahrungsgemäß finden viele Studierende den Gedanken, statistische Analysen durchzuführen, eher abschreckend (oder haben ein Germanistikstudium gewählt, um genau so etwas nie wieder machen zu müssen). Dreierlei zur Beruhigung und Ermutigung. Erstens: Statistik ist keine Zauberkunst, sondern basiert auf relativ einfachen und intuitiv nachvollziehbaren Prinzipien. (Die Mathematik dahinter mag teilweise komplex sein, aber mit ihr müssen wir uns nur im Ansatz auseinandersetzen.) Zweitens: Die statistischen Tests, die ich in diesem Buch und im Begleitmaterial dazu vorstelle, sind-- mit wenigen Ausnahmen-- wirklich sehr grundlegend und können auch von Anfängerinnen und Anfängern gut verstanden werden. Und drittens: Statistik ist keine Wissenschaft für den Elfenbeinturm. Statistik-Kenntnisse können im Alltag außerordentlich vorteilhaft sein. Das gilt auch für angehende Lehrerinnen und Lehrer. Wie oben erwähnt, will dieses Buch auch eine Einladung zum wissenschaftlichen Denken sein. Dazu gehört, die wissenschaftliche Methode zu verstehen, die in Kap. 2 vorgestellt wird. Die wissenschaftliche Methode indes ist ohne Statistik kaum denkbar-- wir brauchen Statistik, um unterschiedliche Erklärungsmodelle miteinander vergleichen und entscheiden zu können, welches das überzeugendste ist. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen in Teilen von Politik und Gesellschaft offene Wissenschaftsfeindlichkeit (auch gegenüber der Linguistik) salonfähig geworden ist, ist es wichtiger denn je, zu verstehen, wie Wissenschaft funktioniert, und auch Schülerinnen und Schüler ans wissenschaftliche Denken heranzuführen. <?page no="17"?> 17 1. Einführung Infobox 1: Linguistische Auszeichnungen und Konventionen In der Linguistik gibt es einige Notationskonventionen, mit denen man sich vertraut machen muss, um sprachwissenschaftliche Texte zu verstehen und selbst Sprachwissenschaft zu betreiben. Kursivierung Metasprachliches wird kursiv gesetzt. Der Unterschied zwischen Metasprache einerseits und Objektsprache andererseits lässt sich an einem einfachen Beispiel illustrieren: In dem Satz „Der Hund hat vier Beine“ wird das Wort Hund objektsprachlich gebraucht, bezieht sich also auf das Tier. In dem Satz „Das Wort Hund beginnt mit dem Laut / h / “ wird Hund metasprachlich gebraucht: es geht um das Wort, um die sprachliche Einheit. ‚…‘ In einfachen Anführungszeichen werden Bedeutungen angegeben, z. B.: das englische Wort dog ‚Hund‘; das deutsche Wort Hund ‚Säugetier mit vier Beinen‘ / hʊnt / In / …/ stehen Phoneme. Unter Phonemen versteht man die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit: Im sog. Minimalpaar Haus vs. Maus kommt der Bedeutungsunterschied nur durch ein einziges variierendes Phonem-- / h / vs. / m / -- zustande. [ hʊnt ] In-[…] stehen Phone. Unter Phonen versteht man die konkrete lautliche Realisierung eines Phonems. So kann das Phonem / ʁ / in Rat (in Lautschrift: [ ʁa: t ] bzw. [ ra: t ]) als Gaumenzäpfchen-r gesprochen werden ([ ʁ ]), was die in Deutschland verbreitetste Variante ist. Gerade in Bayern, Österreich und der Schweiz findet man aber auch das „rollende“ Zungenspitzen-r ([ r ]) (vgl. Meibauer et al. 2015: 87; Becker 2014: 27 f.). <?page no="18"?> 18 1. Einführung <Hund> In <…> werden Grapheme notiert, also Schriftzeichen. Zu den großen „Aha-Erlebnissen“ angehender Studierender der Sprachwissenschaft gehört oft die Erkenntnis, dass Sprache und deren Verschriftung zwei unterschiedliche Dinge sind. Dies wird schon im mehrfach erwähnten Beispiel <Hund> deutlich: Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht-- wir sprechen Hund nicht mit einem / d / , also einem stimmhaften Plosiv, aus, sondern mit / t / , einem stimmlosen Laut (s. u. 3.3.1). Noch deutlicher wird der Unterschied zwischen Sprache und Schrift, wenn wir uns vor Augen führen, dass in einigen Fällen ein Laut (z. B. / ʃ / ) durch drei Grapheme wiedergegeben wird (<sch>) oder dass das gleiche graphische Zeichen (z. B. der Digraph <ch>) für ganz unterschiedliche Laute stehen kann (/ ç / in ich vs. / χ / in ach). > und < > ist zu lesen als ‚wandelt sich zu‘, z. B. gebollen > gebellt ‚gebollen wandelt sich zu gebellt‘. < ist umgekehrt zu lesen als ‚geht hervor aus‘, z. B. entsprechend gebellt < gebollen ‚gebellt geht hervor aus gebollen‘. * Der Asterisk kennzeichnet in der Regel ungrammatische Formen, die als Beispiele angeführt werden, z. B. *die Computers. Außerdem werden damit nicht belegte und rekonstruierte Formen ausgezeichnet, etwa in einem Satz wie „Das deutsche Wort Bruder geht auf indoeuropäisch *bhrāterzurück“. Da uns aus dem Indoeuropäischen keine Quellen überliefert sind, ist die genannte Form natürlich nicht belegt. Vielmehr wurde sie auf Grundlage vergleichender Studien zwischen vielen indoeuropäischen Einzelsprachen rekonstruiert (s. u. 2.2.1) ? Während einige Formen eindeutig ungrammatisch sind (z. B. *ich kief statt ich kaufte), schwankt bei anderen die grammatische Akzeptabilität. Solche Fälle sind statt mit Asterisk mit Fragezeichen gekennzeichnet ( ? Globusse, ? Atlasse statt Globen, Atlanten). <?page no="19"?> 19 1. Einführung Zur Darstellung von Phonen und Phonemen wird das Internationale Phonetische Alphabet verwendet, kurz IPA . Die jeweils aktuelle Version des IPA findet sich auf der Seite der International Phonetics Association unter https: / / www. internationalphoneticassociation.org/ content/ full-ipa-chart (zuletzt abgerufen am 10. 09. 2016). <?page no="21"?> 21 2.1 Sprachwandel verstehen 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Dieses Kapitel stellt zunächst zentrale Begriffe und Konzepte der Linguistik vor, um anschließend drei wichtige methodische Herangehensweisen der (historischen) Sprachwissenschaft einzuführen: die komparative Methode, Korpuslinguistik sowie Fragebogenstudien und Experimente. Wer bereits über solides linguistisches Grundwissen verfügt, kann Kapitel 2.1.1 getrost überspringen. 2.1 Sprachwandel verstehen 2.1.1 Untersuchungsebenen In der Beschäftigung mit Sprache unterscheidet man traditionell verschiedene Betrachtungsebenen, die sich mit Nübling et al. (2013) auch als „Schichten“ interpretieren lassen: Phonologie, Morphologie und Syntax bilden in diesem Modell gleichsam den Kern der Sprache. In den äußeren Schichten sind Semantik, Lexik und Pragmatik angesiedelt. All diese Begriffe können sowohl eine Teildisziplin der Linguistik als auch ihren Forschungsgegenstand bezeichnen: So kann man von der Semantik, also der Bedeutung, eines Wortes sprechen, aber auch von Semantik als linguistischer Disziplin, die sich mit der Untersuchung von Bedeutung befasst. Ähnlich kann man von der Phonologie einer Sprache, etwa des Deutschen, sprechen oder auch von Phonologie als linguistischer Teildisziplin. Fig. 1: Überblick über die verschiedenen Untersuchungsebenen. <?page no="22"?> 22 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Gegenstand der Phonologie (Kap. 4) sind Phoneme, also die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten in einer Sprache (s. auch Infobox 1). Die Phonologie ist nicht zu verwechseln mit der Phonetik, die sich mit den konkreten lautlichen Realisierungen von Phonemen, den sogenannten Phonen (Singular: Phon), befasst. Die Morphologie (Kap. 5) befasst sich mit den kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache, den sogenannten Morphemen. Der Unterschied zwischen Phonem und Morphem lässt sich an den Beispielen Haus und Maus aufzeigen: Beide unterscheiden sich in nur einem Phonem, / h/ vs. / m/ . / h/ und / m/ sind daher bedeutungsunterscheidend, ohne jedoch selbst Bedeutung zu tragen. Die Wörter Haus und Maus hingegen tragen Bedeutung. So lässt sich die Frage: „Was bedeutet Maus? “ beantworten mit: „Das Wort Maus bezeichnet ein Nagetier.“, während die Frage „Was bedeutet / h/ ? “ keinen Sinn ergibt. Haus und Maus sind also Morpheme. Doch nicht jedes Morphem ist ein eigenständiges Wort. Beispielsweise ist auch das- -en in Frauen eine bedeutungstragende Einheit: Es bringt die grammatische Information ‚Plural‘ zum Ausdruck. Dieses Beispiel zeigt auch, dass Wörter oft aus mehr als einem Morphem bestehen. Frauen besteht aus zweien, dem Stamm Frau und dem Pluralmarker--en. Während Haus frei vorkommen kann, ist dies beim Pluralmarker nicht der Fall: *Heute habe ich viele -en gesammelt. Den Bereich der Morphologie kann man unterteilen in Wortbildung und Flexion. Mit Flexionsmustern, die grammatische Informationen wie Tempus (Zeit) oder Numerus (Anzahl) kodieren, werden unterschiedliche Formen desselben Wortes gebildet, z. B. ich lache (Präsens)-- ich lachte (Präteritum), die Frau (Singular)-- die Frauen (Plural). Durch Wortbildung indes entstehen neue Wörter, etwa durch Komposition (Donau + Dampf + Schiff → Donaudampfschiff) oder durch Derivation, z. B. mit Suffixen wie -ung: befragen-- Befragung. Die Syntax (Kap. 6) schließlich befasst sich mit der Frage, nach welchen Prinzipien Wörter zu Phrasen und Sätzen kombiniert werden. Die Wortstellung ist dabei keineswegs willkürlich. 1 Vielmehr erfüllt auch sie oft genug eine ganz konkrete Funktion. So unterscheidet sich die Wortstellung im Deutschen zwischen Aussage- und Fragesatz: 1 Selbst die Syntax von Yoda aus den „Star Wars“-Filmen, der gerne als Paradebeispiel für idiosynkratische Syntax herangezogen wird, folgt zumindest teilweise einem spezifischen System; vgl. Pullum (2005). <?page no="23"?> 23 2.1 Sprachwandel verstehen (1) Ich SUBJ treffe meine Tante OBJ . (2) Triffst V du SUBJ auch deinen Onkel OBJ ? Damit kommen wir zu jenen Untersuchungsebenen, die zwar oft nicht der „Kernlinguistik“ zugerechnet werden, aber nicht minder bedeutsam sind: Lexik, Semantik und Pragmatik. Die Lexik (Kap. 7) bezeichnet den Wortschatz einer Sprache, der ebenfalls einer diachronen Dynamik unterliegt-- so kann er etwa durch Entlehnung erweitert werden, während andere Wörter außer Gebrauch kommen. Beispielsweise gehört saelde, im Mittelhochdeutschen noch ein geläufiger Begriff, dessen Bedeutung sich mit ‚Güte, Segen, Glück‘ umschreiben lässt, nicht mehr zum neuhochdeutschen Wortschatz, während wir im Mittelhochdeutschen ein Wort wie W- LAN -Router vergeblich suchen. Semantik (ebenfalls Kap. 7) befasst sich mit der Bedeutung von Wörtern und Konstruktionen. Dabei ist, wie Kap. 7.1 zeigen wird, sehr umstritten, was genau unter Bedeutung zu verstehen ist und wie weit der Bedeutungsbegriff gefasst werden kann: Können wir beispielsweise sagen, dass ein Suffix wie- -heit in Freiheit eine Bedeutung hat? Manche neueren Ansätze gerade in der Konstruktionsgrammatik (vgl. z. B. Kap. 6.2.3 und 8.2.2) vertreten dabei einen sehr weiten Bedeutungsbegriff, nach dem beispielsweise auch syntaktische Muster Bedeutung tragen können. Die Pragmatik (Kap. 8) schließlich befasst sich mit sprachlichem Handeln. Dazu gehören z. B. Aspekte, die über die wörtliche Bedeutung einer Äußerung hinausgehen. Beispielsweise kann mit einer Aussage wie Es zieht eine indirekte Aufforderung vermittelt werden: ‚Bitte schließe das Fenster! ‘ Es handelt sich um einen sog. indirekten Sprechakt. Auch andere Aspekte der konkreten Sprachverwendung, etwa die Verknüpfung von Äußerungen mit positiven oder negativen Einstellungen (vgl. das Zeitliche segnen vs. abnippeln) oder auch mit Kontextfaktoren (vgl. Sehr geehrte Frau Prof. Meier vs. Yo bro! ), gehören in den Bereich der Pragmatik. Die Grenzen zwischen Semantik und Pragmatik sind dabei oft fließend. So lässt sich darüber streiten, ob das Wort Pferd und sein pejoratives (abwertendes) Pendant Gaul die gleiche Bedeutung haben, weil sie beide auf ein Tier der biologisch Equus genannten Gattung referieren und sich nur pragmatisch unterscheiden, oder ob der pejorative Gehalt als Teil der Semantik des Wortes gesehen werden muss. Die Graphematik (Kap. 9) befasst sich mit der Verschriftung von Sprache. Dabei gilt es im Blick zu behalten, dass Schrift gegenüber der Sprache sekundär ist-- Sprache(n) gibt es schon viel länger als Schrift, und bis heute können viele Menschen nicht lesen und schreiben, aber alle normal entwickelten Menschen <?page no="24"?> 24 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen beherrschen eine Sprache. Das hat dazu geführt, dass die Graphematik in der Linguistik lange Zeit ein Schattendasein geführt hat und teilweise immer noch führt. In der germanistischen Linguistik hat sich jedoch ein ausgeprägtes Interesse am Verhältnis von Sprache und Schrift entwickelt. Die Graphematik ist auch insofern ein sehr vielversprechender Forschungszweig, als man davon ausgehen kann, dass in einer alphabetisierten Gesellschaft, in der zudem Schrift quasi omnipräsent ist, unser sprachliches Wissen auch sehr stark durch die Verschriftung von Sprache geprägt ist. 2.1.2 Wie verändern wir Sprache? Zur Theorie des Sprachwandels Holistische und modularistische Ansätze Dass Sprache sich wandelt, ist eine Tatsache, die kaum ernsthaft in Frage gestellt werden kann. Wie Sprache sich wandelt und warum, ist jedoch umstritten. An dieser Stelle kann nur ein sehr knapper Überblick über verschiedene Ansätze gegeben werden, auch weil sich dieses Buch nur indirekt mit Sprachwandeltheorie beschäftigt-- im Mittelpunkt stehen vielmehr Methoden, mit deren Hilfe sich Sprachwandel empirisch untersuchen lässt. Die empirischen Ergebnisse können dann wiederum theoretische Erklärungsansätze untermauern oder in Frage stellen. Die Antwort auf die Frage, wie und warum Sprachen sich verändern, hängt stark von der Konzeption ab, die man von Sprache hat. Stark vereinfachend kann man zwei sehr unterschiedliche Auffassungen von Sprache unterscheiden, auch wenn es in beiden „Lagern“ sehr viel Variation gibt und die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Richtungen sehr viel unschärfer sind, als ich sie hier darstelle. Eine modularistische Sprachauffassung, wie sie insbesondere die generative Grammatik vertritt 2 , sieht Sprache als eigenständige Komponente der Kognition. Sie nimmt an, dass es bestimmte Gehirnareale gibt, die spezifisch für Sprachverarbeitung zuständig sind. Das „Sprachmodul“ ist dabei zwar in einigen Varianten der Theorie über Schnittstellen mit anderen kognitiven Modulen verbunden, aber prinzipiell von diesen unabhängig. Die Sprachfähigkeit gilt in diesem Ansatz als angeborene Fähigkeit: Eine Sprache muss zwar erworben werden, doch die kognitiven Voraussetzungen dafür sind biologisch verankert. Ein (umstrittenes) Hauptargument dafür lautet, dass Kinder eigentlich gar nicht 2 Zur Einführung in die generative Grammatik vgl. z. B. Philippi (2008). <?page no="25"?> 25 2.1 Sprachwandel verstehen genug Input bekämen, um eine Sprache vollständig erwerben zu können (poverty of stimulus). Insbesondere erhielten sie kaum negatives Feedback z. B. durch Fehlerkorrektur. Daher müsse es angeborene Grundlagen der Sprachfähigkeit geben. Zu diesen kognitiven Grundlagen zählt eine Universalgrammatik, also ein Regelinventar, das allen Sprachen zugrundeliegt. Folgerichtig ist das eigentliche Erkenntnisinteresse der Sprachwissenschaft aus generativer Sicht auch nicht die Beschreibung sprachlicher Oberflächenstrukturen, sondern vielmehr eben dieser Universalgrammatik. Das heißt aber nicht, dass die generative Linguistik per se nicht an sprachlicher Diversität und Variation interessiert wäre (auch wenn man ihr das manchmal vorwirft). Im Fokus steht jedoch die Frage, wie sich die Heterogenität menschlicher Sprachen aus einem als homogen angenommenen Regelinventar ergibt. Der Fokus auf die angeborene Sprachfähigkeit im allgemeinen und auf die Universalgrammatik im besonderen bringt für die generative Linguistik Herausforderungen mit sich, wenn es um die Erklärung von Sprachwandel geht, da die Universalgrammatik ja eine relativ statische Größe sein muss. Aus diesem Grund wird in solchen Ansätzen gerade dem Spracherwerb eine zentrale Rolle zugeschrieben. Im Principles-and-Parameters-Ansatz der generativen Grammatik geht man davon aus, dass die Universalgrammatik aus invariablen Prinzipien besteht, die allerdings unterschiedlich realisiert werden können. Diese unterschiedliche Realisierung geschieht über Parametersetzung. Im Spracherwerb setzt das Kind die Parameter entsprechend seiner Muttersprache, wobei jedoch die Möglichkeit (meist geringfügiger) Abweichungen besteht (vgl. z. B. Boeckx 2006, Roberts & Roussou 2003). Im diametralen Gegensatz dazu steht die holistische Sprachauffassung, die beispielsweise in der sog. Kognitiven Linguistik, in funktionalistischen Ansätzen und in den meisten Spielarten der Konstruktionsgrammatik vertreten wird. 3 Ziem (2008: 103) weist darauf hin, dass sich der Begriff Holismus nur in der deutschsprachigen Literatur findet, in der internationalen Literatur spricht 3 Zwischen den genannten Paradigmen gibt es sehr viele Überschneidungen und teilweise auch Potential für terminologische Verwirrung (so stimmt z. B. die „kognitive Linguistik“, die Schwarz-Friesel 2008 behandelt, in einigen Kernpunkten nicht mit dem „Mainstream“ der Kognitiven Linguistik überein, der z. B. von Croft & Cruse 2004 oder Ungerer & Schmid 2006 vertreten wird). Einen guten Überblick bietet Helbig (2002). Eine empfehlenswerte Einführung in die funktionale Grammatik ist Smirnova & Mortelmans (2010), gute Einführungen in die Konstruktionsgrammatik sind Ziem & Lasch (2013) und Hilpert (2014). <?page no="26"?> 26 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen man meist von einem integralen (integral) oder einheitlichen (unitary, uniform) Modell. Spivey (2007) nutzt Kontinuität (continuity) als Gegenbegriff zu Modularität. 4 Gemeint ist jeweils, dass es keine strenge Aufteilung der „Zuständigkeiten“ in der menschlichen Kognition gibt. Somit bildet auch Sprache nach dieser Auffassung kein eigenständiges kognitives Modul, sondern ist vielmehr eng mit anderen Bereichen der Kognition verwoben. In einer etwas überzeichneten Metapher könnte man sagen, dass die „Arbeitsteilung“ im menschlichen Geist hier einer Fußballmannschaft entspricht, die kein Spiel gewinnen könnte, wenn nicht die Stürmer auch ab und zu Abwehr spielen würden und umgekehrt. Im modularistischen Modell funktioniert Kogniton hingegen eher wie eine Behörde, in der jede Abteilung ihre eigenen Zuständigkeiten hat und es tunlichst vermeidet, sich in die Geschäfte der anderen Abteilungen einzumischen. Die holistische Sprachauffassung lehnt die Annahme einer angeborenen Sprachfähigkeit ab und hält das poverty of stimulus-Argument für nicht überzeugend. Sie geht davon aus, dass Sprache „statistisch“ erworben wird- - unbewusst führen wir quasi Buch über die Wörter und Konstruktionen, die uns begegnen, und wissen daher sehr genau, was in welchem Kontext die richtige Wahl ist. Zum Beispiel merken wir mit der Zeit, dass Sprecherinnen und Sprecher immer ging sagen, wo man sonst vielleicht *gehte erwarten würde, wenn man die regelmäßige Vergangenheitsform des Deutschen kennt. Das poverty of stimulus-Argument, so die holistische Sicht, unterschätzt diese Fähigkeiten drastisch (vgl. z. B. Tomasello 2003, Goldberg 2011). Weil holistische Ansätze Sprache als hochgradig dynamisch betrachten, ist der Spracherwerb aus dieser Sicht nicht der vorrangige Ort des Sprachwandels. Das ist vielmehr der Sprachgebrauch: Jede einzelne Äußerung, die getätigt wird, kann prinzipiell zu einer Rekonfiguration unseres sprachlichen Wissens führen. Die gerade in letzter Zeit wieder äußerst polemisch geführten Debatten zwischen Anhängern der beiden hier vorgestellten Richtungen zeigen, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist (vgl. z. B. Evans 2014, Adger 2015). Das vorliegende Buch verortet sich im holistischen Ansatz, wenngleich die meisten Beobachtungen und Fallstudien, die in den folgenden Kapiteln dargelegt werden, „theorieneutral“ sind und sich durchaus auch für unterschiedliche Interpretationen aus diversen theoretischen Perspektiven anbieten. 4 Der Titel von Spivey (2007), „The Continuity of Mind“, ist eine Anspielung auf Fodors (1983) „Modularity of Mind“. <?page no="27"?> 27 2.1 Sprachwandel verstehen Individuum und Population Obwohl die beiden Auffassungen von Sprache und Kognition unterschiedlicher kaum sein könnten, haben sie doch eines gemeinsam, nämlich den Fokus auf das individuelle sprachliche Wissen. Die generative Linguistik stellt die sprachliche Kompetenz oder auch I(nterne)-Sprache in den Vordergrund und sieht die Performanz oder auch E(xternalisierte)-Sprache als sekundär. Unter den holistischen Ansätzen verfolgt gerade die Konstruktionsgrammatik explizit das Ziel, sprachliches Wissen zu modellieren. In der generativen Linguistik geht man von einem „idealen Sprecher-Hörer“ aus, der quasi stellvertretend für die „durchschnittliche“ Sprachbenutzerin steht. In holistischen Ansätzen tut man das in gewisser Weise auch, wenngleich man sich bewusst ist, dass es zwischen dem sprachlichen Wissen unterschiedlicher Personen recht drastische Unterschiede geben kann: „Different speakers, different grammars.“ (Dąbrowska 2012). In jüngerer Zeit ist jedoch die Frage nach dem Verhältnis zwischen individuellem und kollektivem Sprachwissen wieder stärker in den Vordergrund gerückt. So unterscheiden z. B. Traugott & Trousdale (2013) zwischen dem sprachlichen Wissen eines Individuums und dem sprachlichen Wissen einer Population von Sprecherinnen und Sprechern. Beide Aspekte sind eng miteinander verwoben: Überindividuelles sprachliches Wissen kann nur als Abstraktion über individuelles sprachliches Wissen existieren, quasi als Schnittmenge des Wissens vieler Einzelpersonen. Deshalb kann es auch so etwas wie „die (deutsche) Sprache“ oder „die Grammatik“ nur bedingt geben. Aus dieser Perspektive ist Sprache ein komplexes adaptives System (vgl. z. B. Steels 2000, Beckner et al. 2009, Kirby 2012). Damit ist ein System gemeint, das a) aus verschiedenen „Akteuren“ besteht, die miteinander interagieren. Das ist bei Sprache trivialerweise der Fall-- ich kann zwar auch mit mir selbst reden, aber eine Sprache lernen könnte ich alleine nicht; b) adaptiv ist, d. h. Sprecherinnen und Sprecher passen ihr sprachliches Verhalten immer wieder auf Grundlage ihrer Erfahrungen an. Wenn ich zum Beispiel merke, dass alle in meinem Umfeld Kirche wie „Kürche“ und Gehirn wie „Gehürn“ aussprechen, passe ich meine eigene Aussprache früher oder später möglicherweise auch an. Und wenn ich merke, dass mich in Norddeutschland niemand versteht, wenn ich nachdem kausal, also begründend, verwende (Nachdem wir nächste Woche essen gehen wollen, müssen wir bald einen Tisch reservieren), weiche ich vielleicht in Zukunft auf eine dort üblichere Form wie weil oder da aus; <?page no="28"?> 28 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen c) sich aus sprachlichen Verhaltensmustern ergibt, die ihrerseits Resultat eines komplexen Zusammenwirkens unterschiedlichster Faktoren sind: So spielen die biologischen Voraussetzungen sprachlicher Artikulation ebenso eine Rolle für die Entwicklung des Systems wie kognitive und kulturelle Faktoren. Sprachwandel ist in aller Regel ein unbeabsichtigtes „Nebenprodukt“ sprachlichen Handelns. Keller ([1990] 2014) hat zur Veranschaulichung dieses Phänomens die Metapher der „unsichtbaren Hand“ aus den Wirtschaftswissenschaften entlehnt, die er mit dem berühmt gewordenen Beispiel des Trampelpfads erklärt: Dieser entsteht nicht absichtlich, sondern als unabsichtliches Nebenprodukt des Handelns vieler Individuen, die ein ähnliches Ziel verfolgen-- nämlich eine Abkürzung zu nehmen. Wie durch eine unsichtbare Hand entsteht so mit der Zeit ein Pfad, der womöglich gar den Eindruck erweckt, bewusst und planvoll angelegt zu sein- - „design without a designer“ quasi (Cornish 2010). Kellers Invisible-hand-Theorie hat viel mit der Charakterisierung von Sprache als komplexes adaptives System gemeinsam, die zusätzlich den Fokus auf die Heterogenität der Faktoren legt, die dabei involviert sein können. Sprachwandel vollzieht sich immer an der Schnittstelle von Gesellschaft, Kultur und Kognition (vgl. auch Bybee 2010). Wenn wir in der Sprachgeschichtsschreibung über die rein beschreibende Perspektive hinausgehen und Sprachwandelprozesse zu erklären versuchen, gilt es dieses Geflecht im Blick zu behalten. Und gerade weil die einzelnen Faktoren und ihre Interaktion so komplex sind, ist die Sprachgeschichte, sei es des Deutschen oder auch anderer Sprachen, noch lange nicht „ausgeforscht“. Für die zukünftige Forschung tun sich hier spannende Fragen auf, die bisher erst im Ansatz behandelt wurden, zum Beispiel: Wer verändert eigentlich Sprache? Einerseits kann die Antwort darauf nur lauten: Wir alle, denn Sprache ist hochdemokratisch-- andererseits hängt die Akzeptanz einer Innovation, die ich als Sprecherin in die Welt setze, von vielen verschiedenen Faktoren ab, nicht zuletzt auch von der Größe des Personenkreises, den ich damit erreiche, und von meiner eigenen Stellung im Kreis der Adressaten. Eine weitere interessante Frage könnte lauten: Wie wahrnehmbar sind Sprachwandelprozesse, und welche Faktoren steuern ihre Wahrnehmbarkeit? Einige Wandelprozesse, etwa der vermeintliche „Tod“ des Genitivs oder der angeblich übermäßige Gebrauch von Anglizismen, werden von Laien lautstark kommentiert (und beklagt), andere, wie etwa das Aufkommen des oben erwähnten <?page no="29"?> 29 2.2 Untersuchungsmethoden kausalen nachdem, scheinen eher unbemerkt vonstatten zu gehen. Der Katalog offener Fragen ließe sich mühelos fortsetzen. Um solche Fragestellungen wissenschaftlich fundiert angehen zu können, benötigen wir, sozusagen als Werkzeugkasten, ein Repertoire an Methoden, das selbstverständlich auch keine abgeschlossene Menge bildet, sondern immer wieder mit neuen Ansätzen erweitert werden kann. In den nächsten Abschnitten werden wir einige der wichtigsten Methoden, mit denen in der Sprachgeschichtsforschung gearbeitet wird, näher kennenlernen. 2.2 Untersuchungsmethoden Dieses Buch will zum einen einen Überblick über die deutsche Sprachgeschichte geben, zum anderen Zugänge zu ihrer empirischen Untersuchung eröffnen. Es will Sie ermutigen, Sprachgeschichtsforschung wissenschaftlich zu betreiben. Ehe wir uns drei der wichtigsten Methodenfelder der historischen Sprachwissenschaft zuwenden, lohnt es sich daher, zunächst auf die wissenschaftliche Methode näher einzugehen. Wenn heute von der „wissenschaftlichen Methode“ die Rede ist, dann ist damit zumeist der in Fig. 2 dargestellte Zyklus des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns gemeint. Dieser wiederum ist eng mit dem Prinzip des Falsifikationismus verbunden, das auf den Philosophen Karl Popper zurückgeht (vgl. z. B. Popper 1963). Maxwell & Delaney (2004: 13 f.) illustrieren die Grundidee des Falsifikationismus, indem sie sie den Ideen des logischen Positivismus gegenüberstellen, der die Wissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte. Dieser folgt dem in (3) dargestellten Syllogismus der Bestätigung: (3) Syllogismus der Bestätigung: Annahme: Wenn meine Theorie wahr ist, folgen meine Daten dem vorausgesagten Muster. Beobachtung: Die Daten folgen dem vorausgesagten Muster. Schluss: Deshalb ist meine Theorie wahr. Die Idee hinter diesem recht abstrakten Syllogismus lässt sich an einem einfachen Alltagsbeispiel illustrieren. Angenommen, ich wohne in einer WG und frage mich, wer im Badezimmer das Licht angelassen hat. Ich tippe auf meinen Mitbewohner, den angehenden Lehrer, zumal der ohnehin oft etwas verplant ist. Nun weiß ich, dass dieser Mitbewohner, wenn er nach Hause kommt, immer Kreide an den Fingern hat und deshalb dazu neigt, Kreideflecken zu hinterlas- <?page no="30"?> 30 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen sen. Mir fällt auf, dass am Lichtschalter ein kleiner Kreidefleck ist, der vorher noch nicht da war, und ich denke mir: Wusste ich’s doch! Mein Schlussprozess folgt also dem Syllogismus der Bestätigung: Ich habe eine Theorie und überprüfe, ob die Daten mit meiner Theorie kompatibel sind. Dieses deduktive (ableitende) Verfahren ist sowohl für den logischen Positivismus als auch für den Falsifikationismus charakteristisch. Letzterer jedoch geht den dritten Schritt nicht mit- - den nämlich, dass ich meine Theorie deshalb als wahr annehme. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Der Kreidefleck mag verräterisch sein, aber er ist natürlich keine hinreichende Evidenz, dass der Lehrer tatsächlich der Schuldige ist. Erstens muss der Kreidefleck nicht von ihm stammen-- er könnte auch von meiner Mitbewohnerin stammen, die beim Klettern Unmengen an Magnesiumcarbonat verwendet. Zweitens kann auch nach ihm jemand im Bad gewesen sein, ohne eine Spur am Lichtschalter zu hinterlassen. Theoretisch ist sogar denkbar, dass es einen Einbruch gab, von dem niemand etwas bemerkt hat, weil der Einbrecher unverrichteter Dinge wieder gegangen ist, als er merkte, dass hier Geisteswissenschaftler leben, bei denen nichts zu holen ist-- nur das Licht im Bad hat er angelassen. Diese Theorie ist zwar etwas weit hergeholt, aber es kann doch nicht ganz ausgeschlossen werden, dass sie zutrifft. Das gleiche gilt für praktisch unendlich viele andere Theorien, die meine Beobachtungen erklären können. Deshalb geht Popper auch davon aus, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, eine Theorie zu bestätigen. Hingegen ist es durchaus möglich, eine Theorie zurückzuweisen-- mit dem Syllogismus der Falsifikation in (4). (4) Syllogismus der Falsifikation: Annahme: Wenn meine Theorie wahr ist, folgen meine Daten dem vorausgesagten Muster. Beobachtung: Die Daten folgen dem vorausgesagten Muster nicht. Schluss: Deshalb ist meine Theorie falsch. <?page no="31"?> 31 2.2 Untersuchungsmethoden Fig. 2: Der Zyklus des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, modifiziert nach Stefanowitsch (im Ersch.). Aus diesem Grund ist es in empirischen Studien heute üblich, Hypothesen nicht direkt zu überprüfen, sondern stattdessen Nullhypothesen (H 0 ) zu testen. Die Nullhypothese ist das logische Gegenteil zu meiner eigenen Hypothese, der sog. Alternativhypothese H 1 . Schauen wir uns ein sprachgeschichtliches Beispiel dazu an. Das Adverb bisschen geht auf das Substantiv Bissen zurück, wie in ein Bissen Brot. Es hat sich von einem Wort mit sehr konkreter Bedeutung zu einem Wort mit eher abstrakter, quantifizierender Bedeutung gewandelt. Heute kann ich nicht nur einen Bissen Lasagne essen oder mir im Sommer ein bisschen Eis gönnen, sondern auch ein bisschen müde sein oder ein bisschen spazieren gehen. Wenn es stimmt, dass bisschen graduell eine immer abstraktere Bedeutung angenommen hat, dann ist zu erwarten, dass es ursprünglich zunächst mit Substantiven auftritt, die etwas sehr Konkretes bezeichnen, womöglich sogar etwas Essbares, und dass es sich erst allmählich auf Adjektive und Verben ausdehnt. In diesem Fall wäre die H 1 also: bisschen tritt im Laufe der Zeit immer häufiger mit Wörtern auf, die nicht zur Wortart Substantiv gehören. Entsprechend lautet also die H 0 : bisschen tritt im Laufe der Zeit nicht häufiger mit Wörtern auf, die nicht zur Wortart Substantiv gehören. Wenn nun eine empirische Studie mit Texten aus verschiedenen Zeitstufen belegt, dass bisschen in späteren Zeitstufen tatsächlich häufiger mit Adjektiven und Verben auftritt-- und zwar so viel häufiger, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass eine solche Verteilung durch Zufall zustande kommt--, dann können wir zwar immer noch nicht völlig sicher sein, dass die Alternativhypothese zutrifft. Aber wir können mit großer Gewissheit die Nullhypothese zurückweisen-- und dadurch unsere Alternativhypothese bestärkt sehen. <?page no="32"?> 32 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Das führt uns zu der Frage, was eigentlich eine wissenschaftliche Hypothese ist und welchen Kriterien sie genügen sollte. Bortz & Döring (2006: 4) definieren eine wissenschaftliche Hypothese wie folgt: 1. Eine wissenschaftliche Hypothese bezieht sich auf reale Sachverhalte, die empirisch untersuchbar sind. 2. Eine wissenschaftliche Hypothese ist eine allgemeingültige, über den Einzelfall oder ein singuläres Ereignis hinausgehende Behauptung („All- Satz“). 3. Einer wissenschaftlichen Hypothese muss zumindest implizit die Formalstruktur eines sinnvollen Konditionalsatzes („Wenn-dann-Satz“ bzw. „Je-desto-Satz“) zugrunde liegen. 4. Der Konditionalsatz muss potenziell falsifizierbar sein, d. h., es müssen Ereignisse denkbar sein, die dem Konditionalsatz widersprechen. Denkpause Welche der folgenden Annahmen können als wissenschaftliche Hypothesen gelten, welche nicht? ▶ Bayern trinken häufig Bier. ▶ Bayern trinken häufiger Bier als Schwaben. ▶ Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, bei einem Haushaltsunfall zu sterben. ▶ Wenn ein Kind ohne Sprache aufwächst, spricht es am Ende Vogonisch. Eine Annahme wie Bayern trinken häufig Bier wäre nach den oben genannten Kriterien keine wissenschaftliche Hypothese, denn es wird nicht klar, was mit „häufig“ gemeint ist-- deshalb ist die Aussage nicht nach klaren Kriterien falsifizierbar: „Falsifizierbarkeit setzt begriffliche Invarianz voraus“ (Bortz & Döring 2006: 5). Anders wäre es, wenn wir „häufig“ klar definieren, z. B. als „mindestens einmal am Tag eine Maß Bier“. Dann könnten wir daraus den Wenn-dann- Satz formulieren: „Wenn jemand Bayer ist, trinkt er mindestens einmal am Tag eine Maß Bier“ und könnten folgerichtig Daten von bayerischen und nicht-bayerischen Probanden erheben und vergleichen. Bayern trinken häufiger Bier als Schwaben ist eine wissenschaftliche Hypothese, denn hier haben wir ein klares Vergleichskriterium. Gleiches gilt für die dritte Hypothese, Mit zunehmendem <?page no="33"?> 33 2.2 Untersuchungsmethoden Alter steigt das Risiko, bei einem Haushaltsunfall zu sterben. Diese Hypothese könnte man z. B. überprüfen, indem man Daten von tödlichen Haushaltsunfällen erhebt und die Altersverteilung der Todesopfer mit der Altersverteilung in der Gesamtbevölkerung vergleicht. Die vierte Hypothese ist ein schwierigerer Fall: Sie wäre potentiell falsifizierbar, allerdings müsste man dafür ein Kind ohne Sprache aufwachsen lassen. Aus offensichtlichen Gründen erachtet man ein solches Experiment heute als unethisch und überlässt es ägyptischen Pharaonen und mittelalterlichen Herrschern (vgl. Cohen 2013 für Beispiele). Ob es sich dennoch um eine wissenschaftliche Hypothese handelt, auch wenn sie nur in der Theorie falsifizierbar ist, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Da man solche Fragestellungen heute prinzipiell auch ohne Versuche an echten Menschen z. B. über sog. agentenbasierte computationale Modellierung (agent-based modelling) indirekt angehen kann, spricht im Grunde nichts dagegen, die Hypothese zumindest formal als wissenschaftliche Hypothese durchgehen zu lassen-- inhaltlich ist sie natürlich offensichtlich unsinnig. Das führt uns zu der Frage, was eigentlich eine gute wissenschaftliche Hypothese ausmacht. Eine Hypothese speist sich meist aus einer Theorie, also einem Netzwerk an erklärenden Annahmen (vgl. Bartz & Döring 2006: 15). Bisweilen werden die Begriffe Theorie und Hypothese nahezu austauschbar gebraucht, allerdings ist die Unterscheidung zwischen einem übergreifenden Netzwerk an erklärenden Annahmen und einer konkreten, falsifizierbaren Einzelannahme nicht ganz unwichtig; darauf werden wir in einem Exkurs in Kap. 4.1.2 zurückkommen. Eine gute Theorie wiederum ist nach Hussy & Jain (2002: 278 f.) ▶ logisch konsistent, also in sich widerspruchsfrei; ▶ gut überprüfbar bzw. falsifizierbar; ▶ einfach: sie sollte mit möglichst wenigen Annahmen möglichst viel erklären; ▶ allgemein: eine Theorie mit größerem Geltungsbereich ist einer Theorie mit geringerem Geltungsbereich vorzuziehen. Eng mit dem Kriterium der Einfachheit verbunden ist das Prinzip, das als Occam’s razor (deutsch auch manchmal: Ockhams Rasiermesser) bekannt ist und das häufig in der Formel zusammengefasst wird: Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem, also frei paraphrasiert: Die Zahl der Einheiten, die zur Erklärung eines Sachverhalts herangezogen werden, soll nicht ohne Not erhöht werden. Mit anderen Worten: Die einfachere Erklärung ist die bessere, wenn es nicht gute Gründe gibt, eine voraussetzungsreichere Erklärung zu wählen. <?page no="34"?> 34 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Um auf das Beispiel mit dem Kreidefleck zu Beginn des Kapitels zurückzukommen: Die Hypothese, dass Einbrecher im Haus waren und nichts gestohlen, aber einen Fleck hinterlassen haben, macht eine Annahme, die zur Erklärung der Beobachtung nicht notwendig und daher nur gerechtfertigt ist, wenn sich herausstellt, dass die einfacheren Hypothesen zur Erklärung des Phänomens nicht ausreichen. Ganz grob zusammengefasst besteht die wissenschaftliche Methode also darin, Theorien zur Erklärung beobachtbarer Phänomene zu formulieren. Als Prüfstein für die Validität einer Theorie dient die Überprüfung von Hypothesen durch Falsifikation der entsprechenden Nullhypothese. Kann die Nullhypothese nicht falsifiziert werden, muss die entsprechende Alternativhypothese (vorerst) verworfen und die Theorie entsprechend modifiziert werden. 2.2.1 Sprachvergleich und Rekonstruktion: Die komparative Methode Als 2015 in Südafrika die Überreste einer zuvor unbekannten Menschenart, des Homo naledi, entdeckt wurden (vgl. Berger et al. 2015), war dies eine kleine wissenschaftliche Sensation, die auch auf ein breites Presseecho stieß. Für die Paläoanthropologie, die sich mit der Entwicklungsgeschichte des Menschen befasst, sind solche Funde von zentraler Bedeutung, denn um zu verstehen, wie sich unsere Spezies evolutionär entwickelt hat, ist es wichtig, möglichst viele verwandte Spezies miteinander zu vergleichen. Dies nennt man die komparative Methode (vgl. Fitch 2010: 44-46). Derlei Vergleiche können unter anderem dazu beitragen, Rückschlüsse auf den hypothetischen letzten gemeinsamen Vorfahren, den last common ancestor, von Menschen und Schimpansen zu ziehen. Die komparative Methode in der Sprachwissenschaft verfolgt ähnliche Ziele mit ähnlichen Mitteln. Sie ermöglicht es, Sprachstufen zu rekonstruieren, aus denen uns keinerlei Zeugnisse überliefert sind. Die komparative Methode baut auf der Grundannahme auf, dass zwischen den Sprachen der Welt Verwandtschaftsverhältnisse bestehen: Sprachen, die zur gleichen Sprachfamilie gehören, lassen sich demnach auf eine gemeinsame Protosprache zurückführen. So gehören etwa das Deutsche, Englische und Niederländische zur westgermanischen Sprachfamilie, während etwa Isländisch, Norwegisch, Dänisch und Schwedisch zur nordgermanischen zählen. Aus den Gemeinsamkeiten der jeweiligen Einzelsprachen lassen sich Eigenschaften der Protosprache, also des Westbzw. Nordgermanischen, rekonstruieren. Damit ist gemeint, dass wir <?page no="35"?> 35 2.2 Untersuchungsmethoden eine wissenschaftlich fundierte Annahme darüber treffen, wie die jeweilige Protosprache ausgesehen haben könnte (vgl. Crowley & Bowern 2010: 79). Natürlich sind die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Sprachen weitaus komplexer, als dass man einfach nur für jede Sprachfamilie eine gemeinsame „Ursprache“ annehmen müsste. So gehören das West- und Nordgermanische ihrerseits zur germanischen Sprachfamilie, zusammen mit den ausgestorbenen ostgermanischen Sprachen, zu denen das Gotische gehört, das für die Rekonstruktion des Proto-Germanischen eine zentrale Rolle spielt (vgl. Lehmann 1994: 19). Die germanischen Sprachen indes gehören ebenso wie beispielsweise die romanischen und die slawischen Sprachen zur indoeuropäischen Sprachfamilie, die in der deutschsprachigen Literatur oft auch als „indogermanische“ Sprachfamilie bezeichnet wird. Um diese Verwandtschaftsverhältnisse zu entschlüsseln, bedarf es des Sprachvergleichs. Tab. 1 stellt die Kardinalzahlen von 1 bis 10 in sieben verschiedenen Sprachen gegenüber: drei westgermanischen, drei romanischen und einer sog. isolierten Sprache, d. h. einer Sprache, die mit keiner anderen bekannten Sprache verwandt ist. Schon ein oberflächlicher Vergleich zeigt deutliche Gemeinsamkeiten zwischen den Zahlwörtern in den eng miteinander verwandten Sprachen. Ebenso fällt auf den ersten Blick ins Auge, dass das Baskische sich ganz deutlich von den anderen Sprachen unterscheidet (außer im Falle von sei ‚sechs‘). germanisch romanisch isoliert Dt. Engl. Nl. Franz. Ital. Span. Bask. eins one één un uno uno bat zwei two twee deux due dos bi drei three drie trois tre tres hiru vier four vier quatre quattro cuatro lau fünf five vijf cinq cinque cinco bost sechs six zes six sei seis sei sieben seven zeven sept sette siete zazpi acht eight acht huit otto ocho zortzi neun nine negen neuf nove nueve bederatzi zehn ten tien dix dieci diez hamar Tab. 1: Die Zahlen von 1 bis 10 in drei westgermanischen und drei romanischen Sprachen sowie einer sog. isolierten Sprache, dem Baskischen, das mit keiner anderen bekannten Sprache verwandt ist. <?page no="36"?> 36 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Für die Ähnlichkeiten gibt es eine einfache und plausible Erklärung: Die einander ähnlichen, aber doch deutliche Unterschiede aufweisenden Sprachen haben sich aus einer gemeinsamen Vorstufe (Protosprache) entwickelt und sind im Laufe der Zeit gleichsam auseinandergedriftet. Die Frage, welche der (heutigen) Sprachen „älter“ oder „jünger“ ist, stellt sich daher zunächst nicht. Die komparative Methode geht von der-- natürlich stark idealisierenden-- Annahme aus, dass Aufspaltungen zwischen Sprachen plötzlich stattfinden und dass nach der Aufspaltung der Protosprache kein Kontakt mehr zwischen den daraus resultierenden Tochtersprachen besteht (vgl. Campbell 2013: 143). Zur Anwendung der komparativen Methode Campbell (2013: 111-134) schlägt folgende Schritte für die Durchführung einer Rekonstruktion mit Hilfe der komparativen Methode vor (ähnlich auch Crowley & Bowern 2010: 78-94; Trask 2015: 196): Schritt 1: Kognaten finden Unter Kognaten (von lat. cognatus ‚verwandt; ähnlich / übereinstimmend‘) versteht man Formen, die auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Am Anfang der komparativen Methode steht folgerichtig die Aufgabe, potentielle Kognaten in verwandten Sprachen ausfindig zu machen, bzw. in Sprachen, bei denen man gute Gründe hat, von einer Verwandtschaft auszugehen. Nicht alle potentiellen Kognaten müssen automatisch auch Kognaten sein. So haben wir bereits gesehen, dass Baskisch sei ‚sechs‘ zwar formal ein hohes Maß an Ähnlichkeit zu seinen Pendants in den romanischen Sprachen aufweist. Aber weil das Baskische nicht mit den romanischen Sprachen verwandt ist, kann es nicht mit Ital. sei oder Span. seis kognat sein. Allenfalls könnte es sich um ein Lehnwort handeln- - eine These, die durchaus in Erwägung gezogen wurde (vgl. Uhlenbek 1940-41). Lehnwörter gelten jedoch nicht als Kognaten (vgl. Campbell 2013: 352), da Entlehnung zunächst ein rein „horizontaler“ Prozess ist, wie Fig. 3 zeigt: Ein Wort wie Restaurant beispielsweise wird zu einem bestimmten Zeitpunkt t aus einer Sprache (S 1 ) in eine andere (S 2 ) entlehnt-- hier: aus dem Französischen ins Deutsche. Daher existiert es heute in beiden Sprachen, doch es lässt sich nicht auf eine gemeinsame Proto-Sprache zurückführen. Hingegen lässt sich für dt. Gast und engl. guest, zusammen mit weiteren Kognaten wie nl. gast, norw. gjest, isl. gestur oder dän. gæst eine gemeinsame Ursprungsform annehmen, nämlich germanisch *gasti-. Der Asterisk (*) zeigt hier an, dass <?page no="37"?> 37 2.2 Untersuchungsmethoden es sich um eine rekonstruierte Form handelt, die selbst nicht belegt ist: Es ist vielmehr jene Vorform, die angesichts der überlieferten Formen als die wahrscheinlichste angesehen wird. Fig. 3: Kognat vs. Lehnwort. Schritt 2: Lautliche Entsprechungen aufzeigen Mit Hilfe der (potentiellen) Kognaten werden anschließend systematische Lautentsprechungen herausgearbeitet. Diese müssen von solchen Entsprechungen unterschieden werden, die höchstwahrscheinlich dem Zufall geschuldet sind. So enden in Tab. 1 span. uno und cinco auf- -o, die baskischen Pendants bat und bost auf--t. Hier ein Muster erkennen zu wollen, wäre indes übereilt, wie auch der Blick auf die anderen auf -o endenden spanischen Zahlwörter in der Tabelle zeigt, die keine baskische Entsprechung auf--t haben. Auch wäre eine Stichprobe von nur zwei Wörtern natürlich viel zu klein, um überzeugend eine Lautkorrespondenz aufzuzeigen. Vergleichen wir hingegen zwei und zehn mit den Kognaten im Englischen und Niederländischen, so zeigt sich ein Muster, das wir auch in vielen anderen Wörtern wiederfinden, wie Tab. 2 verdeutlicht. Deutsch Englisch Niederländisch Zahn tooth tand zahm tame tam (er)zählen tell (ver)tellen zehren (früher auch: ‚reißen‘, vgl. mhd. zerzern ‚zerreißen‘) tear ‚(zer)reißen‘ teren ‚zehren‘ Zinn tin tin <?page no="38"?> 38 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Zuber tub tobbe Zwirn twine twijn Tab. 2: Beispiele für Kognaten mit / ts / im Deutschen und / t / in anderen westgermanischen Sprachen. Anhand dieser und weiterer Wörter lässt sich eine relativ klare Lautentsprechung nachweisen: Dem / ts / im Deutschen entspricht im Englischen und Niederländischen- - und auch in anderen westgermanischen Sprachen- - der stimmlose Plosiv / t / . Historisch ist dies, wie wir in Kap. 4.1.1 sehen werden, auf die 2. Lautverschiebung zurückzuführen, die das Deutsche von allen anderen germanischen Sprachen trennt. Um Wandelphänomene wie die 2. Lautverschiebung entdecken zu können, bedarf es jedoch zunächst des Sprachvergleichs-- genauer: der komparativen Methode. Schritt 3: Den Proto-Laut rekonstruieren Woher weiß man jedoch, dass bei den in Tab. 2 genannten Beispielen / ts / der jüngere Laut ist und / t / der ältere? Hierfür gibt es verschiedene Indizien. Erstens finden zahlreiche Lautwandelprozesse sprachübergreifend in eine bestimmte Richtung statt (Direktionalitätsprinzip): So gibt es viele Sprachen, in denen ein Wandel von / k / zu / f / belegt ist, während dieser Wandel in der umgekehrten Richtung praktisch nicht vorkommt (vgl. Campbell 2013: 113). Zweitens gilt das Mehrheitsprinzip: Wenn keine anderen Indizien dagegen sprechen, wird jener Laut als Proto-Laut angenommen, der in meisten Tochtersprachen der zu rekonstruierenden Proto-Sprache auftritt (vgl. Campbell 2013: 114). So werden wir in Kap. 4.1.1 sehen, dass sich das Deutsche durch die sog. 2. Lautverschiebung von allen anderen germanischen Sprachen unterscheidet. Das zeigt sich auch in Tab. 2, denn das Englische und Niederländische haben hier wie die überwältigende Mehrheit der westgermanischen Sprachen / t/ , wo das Deutsche / ts/ hat: isländisch tíu, Afrikaans tien, norwegisch und dänisch ti, schwedisch tio, färöisch tíggju-- deutsch zehn. Das lässt darauf schließen, dass / t / der ältere Laut ist. Drittens gilt es, die gemeinsamen phonologischen Eigenschaften der unterschiedlichen Laute in den Tochtersprachen einzubeziehen. So diskutiert Campbell (2013: 116) ein Beispiel aus den romanischen Sprachen. Hier entspricht spanisch und portugiesisch / b / im Französischen / v / und im Italienischen / p / . Alle drei Laute teilen das Merkmal [+labial]. / b / und / p / teilen <?page no="39"?> 39 2.2 Untersuchungsmethoden darüber hinaus das Merkmal [+plosiv], während / b / und / v / das Merkmal [+stimmhaft] gemeinsam haben. Nach dem Mehrheitsprinzip könnte man nun annehmen, dass */ b / als Proto-Laut zu rekonstruieren sei, doch spricht das Direktionalitätsprinzip dagegen, da sich stimmlose Plosive häufig zu stimmhaften Plosiven wandeln und Plosive zwischen Vokalen häufig zu Frikativen werden. Daher ist es plausibel anzunehmen, dass */ p / der gesuchte Proto-Laut ist, der in einigen der Tochtersprachen den häufig beschrittenen Wandelpfad p > b > v gegangen ist. Im Zweifelsfall kann es mithin sinnvoll sein, dem Direktionalitätsprinzip-- unter Einbezug der geteilten phonologischen Merkmale der jeweiligen Laute-- den Vorzug vor dem Mehrheitsprinzip zu geben. Schritt 4: Status der Lautentsprechungen bestimmen Bislang mag der Eindruck entstanden sein, dass einem Laut in der Protosprache immer genau ein Set an Korrespondenzen entspreche, etwa dem Proto-Laut */ p / die Korrespondenz / b / -- / p / -- / v / im Spanischen, Portugiesischen, Französischen und Italienischen. Das ist aber keineswegs immer der Fall, wie folgendes Beispiel aus den germ. Sprachen zeigt: Das stimmhafte / d / in Bruder und das stimmlose / t / in Vater gehen auf den gleichen Proto-Laut zurück; die rekonstruierten ie. Formen lauten *bhrāterbzw. *pə t ḗ r (vgl. Pfeifer 1993). Die Formen haben sich im Deutschen durch Lautwandel auseinanderentwickelt. Synchron haben wir es daher mit zwei verschiedenen, sich jedoch teilweise überlappenden Korrespondenzenbündeln zu tun: dt. / t / nl. / d / engl. / ð / Vater vader father dt. / d / nl. / d / engl. / ð / Bruder broeder brother Tab. 3: Beispiel für zwei verschiedene, einander überlappende Sets an Lautkorrespondenzen. Die Lautkorrespondenzen in Tab. 3 ließen sich natürlich noch um weitere Sprachen ergänzen. Doch schon in dieser kleinen Auswahl an Sprachen wird deutlich, dass die Faustregel „ein Laut in Sprache A entspricht einem Laut in Sprache B“ keineswegs immer aufgeht. Bei solchen einander überlappenden Korrespondenzenbündeln muss daher in jedem Einzelfall entschieden werden, ob es sich um zwei verschiedene Korrespondenzmuster handelt oder ob sich die <?page no="40"?> 40 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen beiden Korrespondenzmuster auf einen Proto-Laut zurückführen lassen-- was im Falle der Vater / Bruder-Kognaten sehr wahrscheinlich ist. Schritt 5: Plausibilität des rekonstruierten Lauts überprüfen Abschließend gilt es, die Plausibilität des rekonstruierten Lauts im Kontext des gesamten bisher rekonstruierten Phoneminventars vor dem Hintergrund typologischer Erwartungen zu überprüfen (vgl. Campbell 2013: 124-128)-- in anderen Worten: zu überprüfen, wie plausibel die Annahme ist, dass a) eine Sprache das rekonstruierte Phoneminventar aufweist und dass b) in einer Sprache, die dieses Phoneminventar hat, genau dieser Laut auftaucht. Gehen wir zunächst auf a) näher ein. In den Sprachen der Welt sind bestimmte Phoneminventare deutlich verbreiteter als andere, während einige hypothetisch denkbare Konfigurationen gar nicht auftreten. Zum Beispiel ist keine Sprache bekannt, in der es gar keine Vokale gibt. Ein rekonstruiertes Phoneminventar ganz ohne Vokale wäre folgerichtig eher unplausibel. Weiterhin gibt es eine Reihe sprachlicher Universalien. Unter Sprachuniversalien versteht man Aussagen, die für alle (oder zumindest tendenziell für alle) Sprachen gelten. Wie „universal“ die in der Forschung angenommenen Universalien sind, ist hochumstritten, zumal nur ein Teil der auf der Welt gesprochenen Sprachen dokumentiert ist, von den bereits ausgestorbenen Sprachen ganz zu schweigen. Evans & Levinson (2009) sehen die Existenz von Sprachuniversalien daher als „Mythos“, wobei sie sich jedoch nur auf Aussagen beziehen, die ausnahmslos für alle Sprachen gelten sollen. Dass es statistische Tendenzen gibt, erkennen sie jedoch ausdrücklich an. Auf genau solche Tendenzen bezieht sich Kriterium b). Über die komparative Methode hinaus: Weitere Möglichkeiten der Rekonstruktion Die komparative Methode hat sich als wichtigstes Instrument der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft erwiesen, doch hat sie auch ihre Grenzen. So kann sie beispielsweise in isolierten Sprachen wie dem Baskischen, also solchen Sprachen, für die bisher keine Verwandten gefunden wurden, nicht angewandt werden. Hier muss man auf eine andere Methode zurückgreifen, um mögliche Vorstufen der Sprache zu rekonstruieren, nämlich die interne Rekonstruktion, die sich in manchen Fällen auch in nicht-isolierten Sprachen als Ergänzung zur komparativen Methode eignet. Ausgangspunkt der internen Rekonstruktion <?page no="41"?> 41 2.2 Untersuchungsmethoden sind Allomorphe, also Formen, die im jeweiligen Flexionsparadigma oder auch in über Wortbildung abgeleiteten Wörtern unterschiedliche phonologische Formen haben. Im Deutschen finden wir Allomorphie z. B. in umgelauteten Formen, vgl. Maus - Mäus-e, Bub- - Büb-lein. In solchen Fällen kann davon ausgegangen werden, dass die beiden Formen auf eine einzige Form zurückgehen und sich durch Lautwandel auseinanderentwickelt haben (vgl. Trask 2015: 238). Auf Grundlage dessen, was man über sprachübergreifende Lautwandeltendenzen weiß, kann man dann Lautwandelprozesse postulieren, die zur gegenwärtigen Situation geführt haben. Auch hier gilt es dann, die postulierten Prozesse im Kontext des rekonstruierten Gesamtsystems zu überprüfen (vgl. Campbell 2013: 199). In den vergangenen Jahren haben sich zudem immer stärker computationale Methoden der Lexikostatistik und Glottochronologie etabliert. Bei diesen quantitativen Ansätzen, die allerdings in der historischen Linguistik teilweise noch mit Skepsis betrachtet werden (vgl. z. B. Campbell 2013), handelt es sich um sog. phylogenetische Methoden, die sich an der Evolutionsbiologie orientieren. Dass der Begriff „phylogenetische Methoden“ häufig ausschließlich mit diesen modernen Ansätzen in Verbindung gebracht wird, ist freilich etwas irreführend, denn letztlich sind auch die „klassischen“ Methoden, die zur Rekonstruktion von Sprachfamilienstammbäumen verwendet werden, phylogenetisch (von gr. φῦλον ‚Stamm‘ und γενετικός ‚Ursprung, Quelle‘). Auch die Verknüpfung zwischen Sprachwissenschaft und Evolutionsbiologie ist nicht neu: So wurde Darwin bei der Entwicklung der Evolutionsbiologie unter anderem von den Schriften August Schleichers inspiriert, der sich als einer der ersten an der Rekonstruktion der ie. Ursprache versuchte. Umgekehrt lehnen sich viele theoretische Ansätze jüngeren Datums an die Evolutionsbiologie an (z. B. Haspelmath 1999, Croft 2000). Die Glottochronologie geht davon aus, dass es so etwas wie ein Basisvokabular gibt, also ein Inventar an Konzepten, für das es in allen Sprachen und Kulturen Wörter gibt. Das können z. B. Verwandtschaftsbezeichnungen, Farbwörter, Naturphänomene wie Sonne und Mond oder grundlegende Erfahrungen wie leben und sterben sein (vgl. z. B. Trask 2015: 350 f.). Zwei häufig verwendete Listen, die sog. Swadesh-Listen, hat Morris Swadesh zusammengestellt, eine mit 100, eine mit 200 Wörtern. Diese Listen haben z. B. Gray & Atkinson (2003) und Bouckaert et al. (2012) verwendet, um die einzelnen Aufspaltungen des Ie. möglichst genau zu datieren und damit auch Hypothesen zum Ie. zu überprüfen. Dafür nutzten sie 2.449 Kognaten (allesamt aus der 200-Wörter-Swadesh-Liste) <?page no="42"?> 42 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen aus 87 Sprachen und kodierten jedes der Kognaten-Sets daraufhin, ob es in der jeweiligen Sprache vorhanden ist oder nicht (0 vs. 1). Wie das aussehen kann, zeigen beispielhaft Tab. 4 und Tab. 5 (aus Atkinson & Gray 2006: 94). In Tab. 4 sind vier Konzepte aus den Swadesh-Listen aufgeführt, zusammen mit den entsprechenden Wörtern aus sechs ie. Sprachen (darunter aus dem ausgestorbenen Hethitischen, die als älteste belegte ie. Sprache gilt). Das Wort für ‚hier‘ z. B. ist im Englischen und Deutschen kognat: here und hier. Das frz. Wort geht hingegen nicht auf die gleiche Wurzel zurück wie das engl. und dt., aber es teilt sich eine Wurzel mit dem italienischen Wort, auch wenn diese etymologische Verwandtschaft durch Lautwandel opak (undurchsichtig) geworden ist: ici und qui / qua. Mit dem Neugriechischen und Hethitischen kommen zwei weitere Wurzeln hinzu, denn die Wörter in diesen Sprachen gehören weder zum Kognatenset 1 (hier / here) noch zum Kognatenset 2 (ici / qui / qua). In Tab. 5 ist für jedes Swadesh-Konzept in jeder der in der Stichprobe in Tab. 4 vorhandenen Sprachen angegeben, ob das jeweilige Kognaten-Set in der Sprache vorhanden ist oder nicht. Im Falle von hier findet sich in jeder der sechs Sprachen genau eine der vier Varianten: Im Englischen und Deutschen das Kognatenset 1 (hier / here), im Frz. und Italienischen das Kognatenset 2 (ici / qui / qua), im Neugriechischen das Kognatenset 3 (edo), im Hethitischen das Kognatenset 4 (ka). So entsteht eine Matrix aus binären Werten, also aus Ja / Nein-Werten bzw. Einsen und Nullen. Englisch here 1 sea 5 water 9 when 12 Deutsch hier 1 See 5, Meer 6 Wasser 9 wann 12 Französisch ici 2 mer 6 eau 10 quand 12 Italienisch qui 2, qua 2 mare 6 acqua 10 quando 12 Neugriechisch edo 3 thalassa 7 nero 11 pote 12 Hethitisch ka 4 aruna- 8 watar 9 kuwapi 12 Tab. 4: Einige Sprachen und Swadesh-Wörter, die in den Daten von Gray & Atkinson (2003, 2005) verwendet wurden. Wörter mit der gleichen Zahl sind Kognaten. Bedeutung (Swadesh- Konzept) hier See Wasser wenn Kognatenset 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Englisch 1 0 0 0 1 0 0 1 1 0 0 1 <?page no="43"?> 43 2.2 Untersuchungsmethoden Deutsch 1 0 0 0 1 1 0 1 1 0 0 1 Französisch 0 1 0 0 0 1 0 0 0 1 0 1 Italienisch 0 1 0 0 0 1 0 0 0 1 0 1 Neugriechisch 0 0 1 0 0 0 1 0 0 0 1 1 Hethithisch 0 0 0 1 0 0 0 1 1 0 0 1 Tab. 5: Kognaten-Matrix für die vier Wörter in Tab. 4. Die Ziffern in der Zeile „Kognatenset“ geben die Zahlen wieder, mit denen in Tab. 4 die einzelnen Kognaten markiert sind. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der jeweiligen Kognatensets wird als Grundlage für Modelle der diachronen Sprachentwicklung verwendet. Genauer gesagt, wird die lexikalische Ersetzung modelliert: Angenommen z. B., die in unserer Stichprobe häufigeren Kognatensets 1 und 2 sind älter als die selteneren Kognatensets 3 und 4, dann muss ja zu einem bestimmten Zeitpunkt das alte Wort aus Kognatenset 1 oder 2 durch ein neues Wort ersetzt worden sein. In unterschiedlichen Sprachen hat diese Ersetzung für unterschiedliche Kognatensets und für unterschiedlich viele Kognatensets stattgefunden. Mit Hilfe der binären Kodierung in 1 und 0 ist also der entscheidende Prozess für die Modellierung der Zustandswechsel: von 0 zu 1 (Hinzukommen eines Kognatensets) oder von 1 zu 0 (Verlust eines Kognatensets). Für diese Modellierung nutzen Atkinson & Gray (2003, 2006) komplexe statistische Methoden, die hier nicht ausführlich diskutiert werden können. 5 Grob gesagt modelliert der Ansatz von Atkinson und Gray auf Grundlage einer Fülle von Daten unterschiedliche Sprachenstammbäume und vergleicht die so entstandenen Modelle hinsichtlich ihrer Plausibilität. Die Ergebnisse, zu denen sie auf diese Weise gelangen, interpretieren Gray & Atkinson (2003) als Evidenz für die Hypothese, dass sich das Ie. vor etwa 10.000 Jahren im anatolischen Raum auszubreiten begann. Diese Hypothese und auch die verwendeten Methoden wurden jedoch heftig kritisiert. So kommen Pereltsvaig & Lewis (2015: 53) zu dem Schluss: 5 Eine allgemeinverständliche populärwissenschaftliche Darstellung des Ansatzes von Gray und Atkinson findet sich jedoch auf http: / / language.cs.auckland.ac.nz/ (zuletzt abgerufen am 30. 05. 2017). An diesem Überblickstext orientieren sich auch die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel. <?page no="44"?> 44 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Wherever we look, we find that the model produces multiple chains of errors, consistently failing to accord with known facts about the diversification and spread of the Indo-European languages. Einige der gegen solche phylogenetische Methoden vorgebrachten Einwände laufen darauf hinaus, dass man auf eine Vielzahl an Daten setzt und darüber die Korrektheit der Analysen im Einzelfall vernachlässigt. So lautet eine zentrale Kritik, dass sich trotz aller Bemühungen, Lehnwörter aus den Daten auszuschließen, letztlich doch relativ viele Lehnwörter eingeschlichen haben, die somit eigentlich nicht als Kognaten gelten dürften (vgl. Pereltsvaig & Lewis 2015: 81). Einen solchen Balanceakt zwischen großen Datenmengen einerseits und sorgfältiger qualitativer Analyse der einzelnen Datenpunkte andererseits bringt freilich jede empirische Arbeit mit sich. Ein weiterer, möglicherweise schwerwiegenderer Kritikpunkt betrifft die Frage, wie repräsentativ die Swadesh-Listen tatsächlich sind, zumal Swadesh keine klaren Kriterien für die Auswahl genau dieser Wörter bzw. Konzepte formuliert hat (vgl. Pereltsvaig & Lewis 2015: 72). Aus wissenschaftstheoretischer und wissenschaftssoziologischer Perspektive ist die neu entfachte Debatte um den Ursprung des Ie. hochspannend, da hier in methodischen Fragen Welten aufeinanderprallen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: auf der einen Seite die Vertreter der klassischen komparativen Methode, die auf genauer, händischer Analyse durch Experten beruht; auf der anderen Seite die Vertreter quantitativer Methoden, die zwar größere Datenmengen einbeziehen können, dabei aber z.T. auch fehleranfälliger sind. Inwieweit Ungenauigkeiten auf Ebene der einzelnen Datenpunkte durch eine Vielzahl an Daten „aufgefangen“ werden können, ist eine Frage, die sich bei jeder quantitativen Studie stellt und immer wieder neu erörtert werden muss. Was die hier dargestellten phylogenetischen Methoden angeht, so bleibt abzuwarten, ob sie sich eines Tages als Teil des anerkannten Methodenrepertoires der historischen Linguistik werden durchsetzen können. Infobox 2: Die germanischen Sprachen Das Deutsche gehört zu den germanischen Sprachen, die sich in nord- und westgermanische Sprachen untergliedern lassen (die ostgermanischen Sprachen, zu denen das Gotische gehörte, sind ausgestorben). Die nordgermanische Sprachfamilie bilden Isländisch, Färöisch, Norwegisch, Schwedisch und Dänisch. Das Deutsche ist eine westgermanische Sprache. Weitere westgermanische <?page no="45"?> 45 2.2 Untersuchungsmethoden Fig. 4: Überblick über die germanischen Sprachen nach dem World Atlas of Language Structures ( WALS , Dryer & Haspelmath 2013). Erstellt mit ggmap (Kahle & Wickham 2013). Sprachen sind Englisch, Friesisch, Niederländisch, Afrikaans, Luxemburgisch und Jiddisch. Fig. 4 gibt einen Überblick über die germanischen Sprachen und die Regionen, in denen sie gesprochen werden. Auf der Karte ist jede Sprache einer bestimmten Koordinate zugewiesen. Diese Koordinaten wurden aus dem World Atlas of Language Structures ( WALS ) übernommen und stehen quasi stellvertretend für das Verbreitungsgebiet der jeweiligen Sprache. Das kann relativ groß sein - Deutsch zum Beispiel wird in Deutschland, Österreich und der Schweiz gesprochen, und es gibt Sprachinseln etwa in den USA und Südamerika (vgl. z. B. Glottolog, Hammarström et al. 2017). <?page no="46"?> 46 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Zum Weiterlesen Eine praxisorientierte Hinführung zur Anwendung der komparativen Methode bietet Kapitel 5 von Campbell (2013). Crowley & Bowern (2010) bieten neben einem praxisorientierten Kapitel auch einen Abschnitt zur Geschichte der komparativen Methode und zu ihren Herausforderungen. Zum Einstieg eignen sich auch Kapitel 10 von Bybee (2015) sowie die Handbuchartikel von Rankin (2003) und Weiss (2015). 2.2.2 Authentische Sprachdaten: Korpuslinguistik Was ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft? Natürlich: Sprache. Da jeder und jede von uns eine Sprache spricht, liegt es nahe, sich in der Auseinandersetzung mit Sprache, gerade mit der eigenen Muttersprache, auf die eigene Intuition zu verlassen. Tatsächlich war diese Art, Sprachwissenschaft zu betreiben, gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet: Weitreichende Theorien wurden anhand selbst erdachter Beispielsätze und ad hoc gefällter Grammatikalitätsurteile erarbeitet. In einigen wenigen Bereichen ist diese Vorgehensweise noch heute verbreitet. Im Allgemeinen aber hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die eigene Intuition nicht immer ein guter Ratgeber ist (vgl. Gibbs 2006). Wer heute ernsthaft Sprachwissenschaft betreiben will, muss die eigenen Thesen auf empirische Daten stützen. Für die historische Sprachwissenschaft war die eigene Intuition ohnehin nie eine wirkliche Option- - auch wenn manche versierten Kenner des Alt- oder Mittelhochdeutschen sicherlich eine bemerkenswerte Intuition für frühere Sprachstufen entwickelt haben. Die Kenntnis dieser Sprachstufen musste immer mit Hilfe zeitgenössischer Texte erarbeitet werden. Wenn authentische Texte nach wissenschaftlichen Prinzipien ausgewogen zusammengestellt werden, um ein möglichst repräsentatives Bild einer bestimmten Sprache oder Sprachvarietät zu ermöglichen, spricht man von einem Korpus (übrigens im Neutrum: das Korpus, nicht *der Korpus! ). Ein Korpus ist also zunächst eine Sammlung authentischer Sprachdaten (vgl. Lemnitzer & Zinsmeister 2015). Diese Daten können ganz unterschiedlicher Natur sein, ebenso wie die Prinzipien, nach denen sie zusammengestellt wurden, stark variieren. Korpora des 20. und 21. Jahrhunderts umfassen oftmals nicht nur geschriebenen Text, sondern auch gesprochene Sprache oder Videoaufzeichnungen, sodass auch Informationen etwa zu sprachbegleitender Gestik <?page no="47"?> 47 2.2 Untersuchungsmethoden oder zu Gebärdensprachen der wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich werden. Für die Forschung zu älteren Sprachstufen sind wir hingegen ganz auf geschriebene Texte angewiesen. Die sprachhistorischen Korpora, die für das Deutsche derzeit zur Verfügung stehen, sind gerade im Vergleich zu ihren englischen Pendants wenig umfangreich. Immerhin jedoch können wir im Vergleich zu den meisten Sprachen der Welt, die wenig bis gar nicht dokumentiert sind (vgl. z. B. Hammarström & Nordhoff 2011), auf erfreulich umfangreiche und stetig wachsende Ressourcen zurückgreifen. Eine Übersicht über derzeit verfügbare deutschsprachige Korpora findet sich in Infobox 3. Darüber hinaus ist mit „Deutsch Diachron Digital“ seit einiger Zeit eine ganze Reihe sprachhistorischer Korpora in Arbeit (http: / / www.deutschdiachrondigital.de/ ). Zur Zeit der Drucklegung dieses Buches war das Projekt jedoch noch nicht abgeschlossen. Infobox 3: Diachrone deutschsprachige Korpora Referenzkorpus Altdeutsch und Referenzkorpus Mittelhochdeutsch. Das Referenzkorpus Altdeutsch ( REA ) enthält alle überlieferten Textzeugnisse des Ahd. und Altsächischen in linguistisch aufbereiteter Form. Im Dezember 2015 wurde mit dem Referenzkorpus Mittelhochdeutsch ( REM ) eine weitere bedeutende Lücke in der deutschen Korpuslandschaft geschlossen. Das REM umfasst zum einen das Korpus, das der Mittelhochdeutschen Grammatik (Klein et al. 2009; weitere Bände folgen) zugrundeliegt (MiGraKo). Das MiGraKo wird ergänzt durch Zusatztexte, die unter dem etwas irreführenden Namen „Referenzkorpus Mittelhochdeutsch im engeren Sinn“ zusammengefasst sind (eReM). Wer mit einem ausgewogenen Korpus arbeiten möchte, sollte also MiGraKo nutzen, das 102 Texte mit etwa 1 Million Wortformen umfasst (vgl. Klein & Dipper 2016: 3); wer auf größere Datenmengen angewiesen ist und Abstriche bei der Ausgewogenheit machen kann, kann zusätzlich die Ergänzungstexte heranziehen. Link: https: / / korpling.german.hu-berlin.de/ annis3/ ddd ( REA ) https: / / www.linguistics.rub.de/ annis/ annis3/ REM/ ( REM ) Bonner Frühneuhochdeutschkorpus. Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus (kurz FnhdC) ist ein vergleichsweise kleines, aber dafür handannotiertes Korpus - die Probleme und Ungenauigkeiten, die mit maschineller Annotation einhergehen, finden sich hier also nicht. Es umfasst vier Zeitschnitte, die jeweils <?page no="48"?> 48 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen die zweite Hälfte des 14. bis 17. Jahrhunderts abdecken. Das FnhdC kann online über die Schnittstelle ANNIS durchsucht werden. Achtung: Nur ein Teil der Wörter ist lemmatisiert, also mit der Information zur Grundform des jeweiligen Wortes versehen (s. u. im Abschnitt „Anatomie eines Korpus“), daher sollte man sich nicht auf die Lemma-Annotation verlassen. Link: https: / / korpora.zim.uni-due.de/ Fnhd/ DWDS -Kernkorpus. Über das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache ( DWDS ) sind u. a. die DWDS -Kernkorpora des 20. und des 21. Jahrhunderts sowie ein Korpus mit Texten der Wochenzeitung DIE ZEIT verfügbar. Weiterhin gibt es als Spezialkorpora z.B. ein DDR-Korpus und ein Filmuntertitelkorpus. Tipp: Die Referenz- und Zeitungskorpora lassen sich auch gemeinsam durchsuchen, indem man in der Korpusauswahl die Option „Referenz- und Zeitungskorpora (aggregiert)“ auswählt. Link: www.dwds.de GerManC. Das GerManC-Korpus ist so konzipiert, dass es an das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus anknüpft, wobei der letzte Zeitschnitt des FnhdC bewusst mit dem ersten Zeitschnitt des GerManC überlappt: Wenn man beide Korpora heranzieht und in diesem Zeitschnitt deutliche Unterschiede zwischen beiden Korpora findet, kann man dann nämlich davon ausgehen, dass die beobachteten Differenzen nicht (nur) auf Sprachwandel zurückzuführen sind, sondern beispielsweise text- oder textsortenspezifisch oder gar idiosynkratisch sind. Das GerManC-Korpus umfasst etwa 600.000 Tokens aus drei Zeitschnitten von 1650 bis 1800. Das Korpus lässt sich über das Oxford Text Archive (http: / / ota.ox.ac.uk/ desc/ 2544) in verschiedenen Formaten (Rohtexte und annotierte Texte) herunterladen und mit Tools wie z. B. AntConc explorieren, zudem ist es auch über Cosmas II (s. u. „Deutsches Referenzkorpus“) verfügbar. Link: http: / / www.llc.manchester.ac.uk/ research/ projects/ germanc/ germancplus/ Deutsches Textarchiv. Das deutsche Textarchiv ist eine noch in Arbeit befindliche Sammlung deutschsprachiger Texte aus dem Zeitraum von 1600 bis 1900. Bei der Textauswahl wurde darauf geachtet, Texte auszuwählen, die überregional wirksam waren, um die „Entwicklung einer überregionalen Umgangssprache im hochdeutschen Sprachraum seit dem Ende der frühneuhochdeutschen Sprachperiode“ zu dokumentieren (vgl. http: / / deutschestextarchiv. de/ doku/ textauswahl). Die derzeit 2276 Texte sind vier verschiedenen Textsorten <?page no="49"?> 49 2.2 Untersuchungsmethoden Vom Korpus zur Konkordanz Empirische Forschung beginnt immer mit einer spezifischen Fragestellung. Dabei sind der wissenschaftlichen Neugier prinzipiell keine Grenzen gesetzt: Jede Fragestellung ist grundsätzlich denkbar. Jedoch muss eine wissenschaftliche Fragestellung bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Erstens sollte sie konkret genug sein, um anhand der vorliegenden Daten überprüft werden zu können. Zweitens sollte sie sich in eine falsifizierbare Hypothese umformulieren lassen. Eine Fragestellung wie „Essen Wissenschaftler viele Pralinen? “ ist beispielsweise sehr unspezifisch und lässt sich nur dann in eine falsifizierbare Hypothese umformulieren, wenn man sie konkreter fasst, indem man beispielsweise eine Vergleichsgruppe hinzuzieht. Die Hypothese könnte dann lauten: „Wissenschaftler essen im Durchschnitt mehr Pralinen als Romanautoren.“ Die Fragestellung bzw. die Hypothese entscheidet dann über die Wahl der Methode. Ob Wissenschaftler Pralinen essen, lässt sich mit korpuslinguistischen Methoden eher nicht klären. Die Hypothese, dass Süßwaren in wissenschaftlichen Texten häufiger erwähnt werden als in belletristischen, ließe sich hingegen durchaus mit Hilfe von Korpora überprüfen. Hierfür brauchen wir zugeordnet. Allerdings sind die Textsorten „Belletristik“ und „Gebrauchsliteratur“ derzeit noch deutlich überrepräsentiert; auch weisen die einzelnen Texte deutliche Unterschiede in ihrer Länge auf. Jedoch gibt es die Rohdaten auch zum Download, sodass sich prinzipiell aus der Textsammlung ein ausgewogenes Korpus zusammenstellen lässt. Link: http: / / deutschestextarchiv.de Deutsches Referenzkorpus (DeReKo). Das über Cosmas II zugängliche De- ReKo ist in unterschiedliche sogenannte „Archive“ untergliedert, wobei aus sprachgeschichtlicher Perspektive insbesondere das HIST -Archiv interessant ist. Dieses umfasst Texte von der Mitte des 17. bis zum 20. Jahrhundert, wobei es einige Überschneidungen mit dem Hauptarchiv W gibt. Jedes Archiv besteht aus mehreren Korpora, aus denen sich bei Bedarf auch eigene, benutzerdefinierte Korpora zusammenstellen lassen. Link: https: / / cosmas2.ids-mannheim.de/ <?page no="50"?> 50 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen zunächst ein Korpus, das belletristische und wissenschaftliche Texte enthält. Ein solches Korpus ist das DWDS -Kernkorpus des 20. Jahrhunderts, das unter www.dwds.de verfügbar ist. Wie jedes Korpus ist das DWDS -Kernkorpus zunächst eine Materialsammlung. Man kann es mit einer großen Bibliothek vergleichen: Ehe man sie benutzen kann, muss man sich zunächst mit ihrem Aufbau und ihrer Organisation vertraut machen sowie mit Möglichkeiten, unter den zahllosen Büchern diejenigen zu finden, nach denen man sucht. Beispielsweise wird man wenig Erfolg haben, wenn man das medizinische Nachschlagewerk „Psychrembel“ in der Bereichsbibliothek Theologie sucht. Und auch in einer medizinischen Fachbibliothek findet man es deutlich leichter, wenn man zuvor den Bibliothekskatalog zu Rate gezogen hat, als wenn man auf gut Glück drauflosstöbert. Auf die Korpuslinguistik übertragen bedeutet dies erstens: Ich muss ein Korpus wählen, das für meine Fragestellung geeignet ist. Diesen Schritt haben wir schon getan, denn wir haben gesehen, dass das DWDS -Kernkorpus, wie es unsere Fragestellung erfordert, nach Textsorten untergliedert ist und dass sich unter diesen Textsorten auch die beiden Typen von Texten, die uns interessieren, befinden, nämlich belletristische und wissenschaftliche Texte. Dies führt uns unmittelbar zum zweiten Aspekt: Um entscheiden zu können, ob ein Korpus für unsere Fragestellung geeignet ist, müssen wir uns mit seinem Aufbau und seiner Organisation vertraut machen. Zu jedem guten Korpus gibt es eine Dokumentation, der wir beispielsweise entnehmen können, nach welchen Prinzipien das Korpus zusammengestellt wurde, welche Textsorten vertreten sind, wie groß die Subkorpora für jede Textsorte oder jeden Zeitschnitt sind, und vieles mehr. Drittens schließlich muss man wissen, wie man ein Korpus durchsucht. Ebenso wie es im Falle der Bibliothek unerlässlich ist, sich in die Nutzung des (heutzutage meist digitalen) Bibliothekskatalogs einzuarbeiten, ist es in der Korpuslinguistik vonnöten, das jeweilige Abfragesystem kennenzulernen. Es gibt eine ganze Reihe von Abfragesystemen, deren Abfragesyntax sich teilweise unterscheidet. Ein Abfragesystem ist beispielsweise das Corpus Search, Management and Analysis System des Instituts für Deutsche Sprache, kurz COSMAS , das derzeit in der zweiten Generation vorliegt. Tatsächlich wird „ COSMAS II “ häufig synonym mit dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) verwendet, das über diese Schnittstelle zugänglich ist. Ein anderes Abfragesystem ist beispielsweise ANNIS , worüber die schon verfügbaren Texte von „Deutsch Diachron Digital“ zugänglich sind. <?page no="51"?> 51 2.2 Untersuchungsmethoden Auf die meisten Korpora kann man über web-basierte Schnittstellen zugreifen. Einige Korpusabfrageprogramme lassen sich jedoch auch herunterladen und lokal installieren. Zum Durchsuchen einfacher Textdateien eignet sich beispielsweise AntConc (http: / / www.laurenceanthony.net/ software/ antconc/ ). Dies setzt aber voraus, dass Sie die Textdateien auf Ihrem Rechner verfügbar haben. Viele Korpora gibt es jedoch aus urheberrechtlichen Gründen nicht zum Download, sie lassen sich nur online durchsuchen. Bei sprachhistorischen Korpora sind die urheberrechtlichen Hürden zum Glück oft geringer- - das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus, das GerManC-Korpus und das Deutsche Textarchiv beispielsweise lassen sich (fast) vollständig herunterladen, was in vielen Fällen flexiblere Suchen ermöglicht. Kommen wir zu unserem Beispiel zurück, den Begriffen für Süßwaren. Um unsere Fragestellung korpuslinguistisch zu operationalisieren, müssen wir zunächst Begriffe auswählen, nach denen wir suchen wollen. Für unser Beispiel benutzen wir fünf Begriffe aus dem Wortfeld „Süßwaren“; für eine echte Recherche wäre natürlich eine umfassendere Suche notwendig, und man könnte z. B. auf ein Synonymlexikon zurückgreifen, um möglichst viele Lexeme zu finden und das Wortfeld so umfassend wie möglich abzudecken. Die Lexeme, die wir für unser Beispiel verwenden, sind Süßwaren, Praline, Schokolade, Bonbon und Süßigkeit. Im Abfragefenster von DWDS geben wir ein: $l=Süßwaren || $l=Praline || $l=Bonbon || $l=Schokolade || $l=Süßigkeit Mit dem Operator $l geben wir an, dass wir nach dem Lemma unabhängig von der Flexionsform suchen, d. h. neben Bonbon auch nach Pluralformen (die Bonbons) oder Genitivformen (des Bonbons). Der horizontale Strich fungiert in fast allen Abfragesystemen als ODER -Operator; dass man ihn hier doppelt setzen muss, ist ein Spezifikum des DWDS -Abfragesystems. Eine alternative, etwas effizientere Suchabfrage wäre die folgende, in der die Slashes (/ ) anzeigen, dass sie von sog. regulären Ausdrücken Gebrauch macht, denen wir in den folgenden Kapiteln noch öfter begegnen werden: $l=/ Süßwaren|Praline|Bonbon|Schokolade|Süßigkeit/ Da hier nicht die DWDS -spezifische Syntax verwendet wird, sondern „normale“ reguläre Ausdrücke, muss man hier den ODER -Operator nur einmal setzen. <?page no="52"?> 52 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Als Ergebnis erhalten wir eine sog. Konkordanz im Key Word in Context-Format, kurz KW iC. Wie der Name schon sagt, wird dabei der gesuchte Begriff-- das Keyword-- im Kontext angezeigt: Belletristik an manchen Tagen nach Haufen verdorbener Pralinen , zuckrigem Fett . Belletristik » Vanille und Schokolade , wie du's immer mochtest Belletristik macht sie sich drei verschiedene Sorten Schokolade gleichzeitig : Belletristik und legten uns in die Badewanne , aßen Pralinen von Aldi , tranken Bananenmilch vom Pennymarkt Belletristik Elke läßt eine Praline in den Kaffee sinken Solche Konkordanzen kann man in einem Tabellenkalkulationsprogramm wie Excel oder dem kostenlosen Pendant Calc von LibreOffice bearbeiten; nähere Informationen hierzu finden sich in den digitalen Begleitmaterialien. Für unsere Fragestellung jedenfalls zeigt sich, dass Süßwaren in belletristischen Texten deutlich häufiger Erwähnung finden als in wissenschaftlichen (Fig. 5). Anatomie eines Korpus Die Fragestellungen, die wir mit Hilfe von Korpora untersuchen wollen, gehen jedoch häufig über den einfachen Vergleich von Wortfrequenzen hinaus. Wenn wir beispielsweise syntaktische Fragestellungen untersuchen, kann es hilfreich sein, gezielt nach einzelnen Wortarten zu suchen. Aus diesem Grund sind die meisten Korpora auf Wortarten hin getaggt (Part-of-Speech-Tagging, kurz POS -Tagging). Ebenso wie die Lemmatisierung, der wir in unserem Beispiel im vorigen Abschnitt schon begegnet sind, erfolgt dieses Tagging heutzutage meist automatisch. Wenn wir beispielsweise den ersten Satz dieses Kapitels mit Hilfe des Programms TreeTagger (Schmid 1994) annotieren, erhalten wir Folgendes: Was PWS was ist VAFIN sein der ART die Gegenstand NN Gegenstand <?page no="53"?> 53 2.2 Untersuchungsmethoden der ART die Sprachwissenschaft NN Sprachwissenschaft ? $. ? In der linken Spalte ist der ursprüngliche Text zu sehen, der anhand der Leerzeichen in einzelne Tokens, also einzelne Wörter, untergliedert wird. Satzzeichen werden dabei ebenfalls als eigene Tokens behandelt. In der mittleren Spalte Fig. 5: Relative Frequenz von fünf Lexemen aus dem Wortfeld „Süßwaren“ in belletristischen und wissenschaftlichen Texten des DWDS -Kernkorpus des 20. Jahrhunderts. <?page no="54"?> 54 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen sehen wir die Part-of-Speech-Tags, rechts die Lemmata, also die unflektierten Grundformen. Neben dem Part-of-Speech-Tagging und der Lemmatisierung sind natürlich noch viele weitere Annotationen möglich. Viele Korpora sind beispielsweise auch syntaktisch geparst und lassen sich somit zum Beispiel nach Nominalphrasen, Verbalphrasen und anderen Einheiten auf syntaktischer Ebene durchsuchen. Fig. 6 zeigt dies am Beispiel der Nominalphrase der Gegenstand der Sprachwissenschaft, wobei die Knotennamen NK und AG für noun kernel (also: Kernelement einer Nominalphrase) und Attribute, Genitive (also: Genitivattribut) stehen. Fig. 6: Beispiel für syntaktisches Parsing. Um die Möglichkeiten und Grenzen eines spezifischen Korpus kennenzulernen, ist es daher unerlässlich, sich zunächst in der Dokumentation zu informieren, auf welche Informationen hin es kodiert ist. Sind die einzelnen Korpusdateien öffentlich zugänglich, kann auch ein Blick auf die Rohdaten Aufschluss darüber geben, welche Möglichkeiten ein Korpus bietet. Über das Tagging der einzelnen Tokens hinaus bieten Korpora in aller Regel auch Metainformationen zu den einzelnen Texten, beispielsweise zu Textsorte, Entstehungsjahr, Autor / in etc. Die Informationen hierzu finden sich ebenfalls in der Dokumentation. Von der Konkordanz zur Analyse Die Konkordanz ist natürlich nur der erste Schritt zur Analyse der Daten. Wenn wir nur Wortfrequenzen vergleichen, ist der nächste Schritt die quantitative Auswertung. In aller Regel geht der Auswertung aber noch ein weiterer Schritt voran: die Annotation. In diesem Schritt werden die Belege in der Konkordanz mit zusätzlichen Informationen versehen. Angenommen beispielsweise, wir wollen herausfinden, ob Frauenbezeichnungen in der vom Bonner Früh- <?page no="55"?> 55 2.2 Untersuchungsmethoden neuhochdeutschkorpus abgedeckten Zeitspanne eine Pejorisierung, also eine Abwertung, erfahren. Dass Frauenbezeichnungen im Deutschen dafür sehr anfällig sind, ist bekannt: So bezog sich vrouwe im Mittelhochdeutschen auf eine Edeldame, während wîp die unmarkierte Frauenbezeichnung war; heute hingegen ist Weib eindeutig abwertend, und Frau ist die Standardbezeichnung für Menschen weiblichen Geschlechts. Doch lässt sich diese Entwicklung in den Texten des Bonner Frühneuhochdeutschkorpus nachvollziehen? Um dies zu überprüfen, suchen wir im Bonner Frühneuhochdeutschkorpus (FnhdC) nach Belegen, die dem Lemma Frau bzw. Weib zugeordnet sind. Weil im FnhdC aber auch Komposita wie Jungfrau dem Lemma Frau zugeordnet sind, entfernen wir diese anschließend manuell aus der Konkordanz. Daraufhin entscheiden wir für jeden Beleg anhand des Kontexts, ob der jeweilige Begriff positiv, neutral oder negativ verwendet wird. So geht aus dem Kontext recht eindeutig hervor, dass Weib in Beispiel (5) eher positiv verwendet wird, in (6) hingegen äußerst negativ, in (7) dagegen neutral. (5) Ist das du mir den apphel gebist ich wil dir zu kone geben das schonste unde edilste weip das alle Krichenlandt hat (Johannes Rothe: Chronik, 15. Jh.) ‚Wenn du mir den Apfel gibst, will ich dir die schönste und edelste Frau geben, die es in ganz Griechenland gibt‘ (6) Schl uͤ ßlich man wird vil narrischer als jennes alte hirnschellige Weib Acco das mit ihrer Bildnuß in dem Spiegel als mit einer Muhmen reden und conversiren wollen (Gotthard Heidegger: Mythoscopia, spätes 17. Jh.) (7) daß jederman sehen k oͤ nne daß kein ander Weib noch Kind darunter sey (Hiob Ludolf: Schaubühne, 17. Jh.) Bei der Annotation wird allerdings schnell klar, dass nur die wenigsten Fälle so eindeutig sind wie die drei genannten Beispiele. Umso wichtiger ist es, klare Annotationskriterien zu definieren, sich konsequent daran zu halten und sie in der Präsentation der Ergebnisse transparent zu machen. Einige Fragen, die sich im Blick auf die Daten zu Frau / Weib ergeben, sind beispielsweise: 1. Frau kommt häufig in der festen Fügung unsere Frau bzw. unsere liebe Frau vor, die sich auf die Jungfrau Maria bezieht. Werden diese mit einbezogen oder mit der Begründung, dass es sich dabei um stehende Wendungen handelt, die mit der freien Verwendung von Frau nichts zu tun haben, getilgt? Beides ist möglich, doch muss die Entscheidung transparent gemacht <?page no="56"?> 56 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen und begründet werden. Wenn die Belege berücksichtigt werden, stellt sich die Folgefrage, ob sie grundsätzlich als „positiv“ annotiert werden sollen oder nur dann, wenn ein positives Attribut wie lieb im unmittelbaren Kontext steht. 2. Eine ähnliche Frage stellt sich im Blick auf alle anderen Belege: Kann ein Beleg schon als „positiv“ annotiert werden, wenn über eine Frau gesagt wird, dass sie etwas Gutes, Richtiges, Lobenswertes tut- - oder muss im unmittelbaren Kontext eindeutig ein positives Attribut oder Prädikat stehen, z. B. die edle Frau oder diese Frau ist höchst lobenswert? Das gleiche gilt umgekehrt natürlich für die Annotation „negativer“ Verwendungsweisen. 3. Sowohl Frau als auch Weib werden in den Belegen synonym mit ‚Ehefrau‘ verwendet. Sollen diese Belege mit einbezogen, getilgt oder gesondert behandelt werden? Erneut gilt: Alles ist möglich, solange es konsequent umgesetzt, transparent gemacht und gut begründet wird. 4. Was tun mit Belegen, in denen eine eindeutige Interpretation nicht möglich ist- - etwa wenn man den Verdacht hat, dass in einem Beleg edles Weib ironisch gebraucht wird, sich aber nicht sicher ist und auch keine Möglichkeit hat, den größeren Kontext zu überprüfen? In solchen Fällen empfiehlt es sich, eine Kategorie „unklar“ einzuführen und ggf. in einer Kommentarspalte zu vermerken, worin die Unklarheit besteht. Sobald wir Korpusbelege auf semantische Aspekte annotieren, stellen sich solche Fragen immer. Weil hier stets die Gefahr besteht, allzu subjektive Entscheidungen zu treffen, empfiehlt es sich, die Daten nach Möglichkeit von zwei Personen kodieren zu lassen und anschließend die Fälle, in denen keine Übereinstimmung besteht, zu diskutieren (intercoder reliability). Bei Seminar- oder Abschlussarbeiten ist das meist keine Option und wird daher auch in aller Regel nicht erwartet, aber für größer angelegte Studien sollte man, wenn irgend möglich, von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Wenn man die Ergebnisse berichtet, kann man dann angeben, wie hoch die Übereinstimmung war, in wie vielen Fällen nach einer Diskussion der strittigen Punkte Übereinstimmung erzielt wurde und in wie vielen Fällen keine Übereinstimmung erzielt werden konnte; die letztgenannten Fälle sollten in der Analyse nicht berücksichtigt werden. <?page no="57"?> 57 2.2 Untersuchungsmethoden Zum Weiterlesen Scherer (2006) bietet eine gut lesbare, knappe Einführung in die Korpuslinguistik. Etwas ausführlicher ist die englischsprachige Einführung von McEnery & Wilson (2001). Lemnitzer & Zinsmeister (2015) gehen in ihrer Einführung auch auf die Geschichte der Korpuslinguistik und auf wissenschaftstheoretische Hintergründe ein. Wie man die Programmiersprache R in der quantitativen Korpuslinguistik fruchtbar einsetzen kann, zeigt Gries (2016). Wer ernsthaft quantitative Linguistik betreiben möchte, muss sich auch mit Statistik auseinandersetzen. Eine gute deutschsprachige Einführung bietet Meindl (2011). Mit Levshina (2015) liegt eine noch recht neue, gut lesbare Einführung in Grundlagen der Statistik sowie verschiedenste quantitative Methoden vor. Gries (2013) bietet ebenfalls einen guten Einstieg, zumal seine Beispiele zumeist der Korpuslinguistik entstammen; teilweise ist das Buch allerdings etwas unübersichtlich, es gibt keinen Index und die Kapitelüberschriften sind nicht immer aussagekräftig. Das-- allerdings recht anspruchsvolle-- Standardwerk ist jedoch noch immer Baayen (2008). Aufgaben 1. Im Begleitmaterial findet sich ein Spreadsheet mit Belegen zu „Weib“ und „Frau“ (weibfrau.csv). Öffnen Sie es mit Calc oder Excel. Achten Sie darauf, dass Sie in Excel unmittelbar nach dem Öffnen zunächst unter Daten > Text in Spalten angeben müssen, dass Tabs als Trennzeichen und einfache Anführungszeichen (’) als Textqualifizierer verwendet werden. In Calc sollte sich zunächst automatisch ein Fenster öffnen, das genau danach fragt. Hier können Sie auch angeben, dass die Datei in UTF -8 kodiert ist. Da Excel standardmäßig die Kodierung ASCII verwendet, kann es sein, dass einige Sonderzeichen nicht richtig angezeigt werden. a. Filtern Sie die Tabelle nun so, dass nur noch die Belege für die Lemmata „Weib“ und „Frau“ (ohne Komposita) angezeigt werden, und annotieren Sie diese in der ersten leeren Spalte nach der Verwendungsweise im Kontext: „positiv“ vs. „neutral“ vs. „negativ“. b. Überprüfen Sie, ob sich das Verhältnis zwischen positiven, negativen und neutralen Kontexten für beide Begriffe diachron verschiebt. Informationen dazu, wie Sie aus den Daten auf einfache Weise Tabellen <?page no="58"?> 58 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen und Grafiken generieren können, finden Sie im Tutorial „Korpuslinguistik mit Excel und Calc“ in den Begleitmaterialien. 2. Die Datei „suesswaren.csv“ im Begleitmaterial enthält die DWDS -Daten, die Fig. 5 zugrunde liegen. Öffnen Sie sie mit Excel oder Calc und erstellen Sie mit Hilfe des Tutorials „Tabellen mit Excel und Calc“ ein Histogramm ähnlich jenem in Fig. 5. Probieren Sie gerne auch weitere Visualisierungsvarianten aus! Tipps und Tricks: Was macht eine gute Konkordanz aus? Leider sind die meisten Konkordanzen, die man mit Hilfe der Online-Schnittstellen von Korpora wie dem Deutschen Referenzkorpus exportieren kann, für die Bearbeitung in Tabellenkalkulationsprogrammen nicht unmittelbar geeignet. Im digitalen Begleitmaterial finden sich daher einige Tutorials sowie interaktive Skripte, mit denen sich die Exportdateien in „gute“ Konkordanzen überführen lassen. Was eine „gute“ Konkordanz ausmacht, lässt sich in drei Schlagworten zusammenfassen: ▶ Eine Zeile-= ein Beleg. Jede Zeile enthält genau einen Korpustreffer. ▶ Eine Spalte-= eine Kategorie. Jede Spalte enthält eine spezifische Sorte Daten. So gibt es eine Spalte für den linken Kontext, für das Keyword, für den rechten Kontext, ebenso je eine Spalte für Metainformationen wie Textsorte und Jahr. ▶ Eine Zelle- = eine Beobachtung. Jede Zelle gibt die Information über die Kategorie, der die Spalte zugeordnet ist, zum Beleg, der in der Zeile erfasst ist, an. Fig. 7 zeigt ein Beispiel für eine weniger gelungene Konkordanz (die allerdings ungefähr den Exportdateien von COSMAS II entspricht). Textsorte und Jahr nehmen hier eine eigene Zeile in Anspruch, der Grundsatz „eine Zeile = ein Beleg“ wird also verletzt. Auch teilen sich Textsorte und Jahr mit der Nummerierung der Belege eine Spalte, der Grundsatz „eine Spalte = eine Kategorie“ wird also ebenfalls nicht eingehalten. Zudem ist in der zweiten Zeile von unten (leere Zeilen nicht mitgezählt) das Keyword in Spalte B aufgeführt, in allen anderen in Spalte C. <?page no="59"?> 59 2.2 Untersuchungsmethoden Fig. 7: Beispiel für eine für die quantitative Auswertung wenig geeignete Konkordanz. Diese Unzulänglichkeiten sind in der Tabelle in Fig. 8 beseitigt, die den oben genannten Faustregeln folgt und die problemlos um eine weitere Spalte etwa mit semantischer Annotation erweitert werden kann. Fig. 8: Beispiel für eine gute Konkordanz nach den oben genannten Faustregeln. COW boys im WaCkY Wide Web: Korpuslinguistik im Internet Durch das Internet haben wir heute Zugriff auf Sprachdaten in einem Ausmaß, das vor einigen Jahrzehnten wohl noch unvorstellbar war-- Kilgarriff & Grefenstette (2003: 345) bezeichnen es daher als „a fabulous linguists’ playground“. Insbesondere erlaubt uns die Nutzung von Internetquellen, konzeptionell nähesprachliche Register zu berücksichtigen und dadurch Phänomenen auf den Grund zu gehen, die in lektorierter Zeitungssprache selten bis gar nicht zu finden sind. So sind Kurzformen des Indefinitartikels wie n oder nen für ein(en) in Zeitungstexten eher selten anzutreffen. Beispielsweise untersucht Vogel (2006) <?page no="60"?> 60 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen das Vorkommen der „erweiterten Kurzform“ nen anstelle von n (in Kontexten wie ich hab da nen kleines Problem) auf Grundlage von Chatdaten, während Schäfer & Sayatz (2014) auf Grundlage eines mehrere Milliarden Wörter umfassenden Webkorpus unter anderem klitisierte Formen des Indefinitartikels wie auf ’m oder in’n näher betrachten. Um die Jahrtausendwende herum erschienen einige linguistische Aufsätze, die Trefferzahlen in kommerziellen Suchmaschinen wie Google als Datenquelle auswerten (vgl. Kilgarriff 2007: 147, der einige Beispiele nennt). Dieses Vorgehen ist jedoch nicht unproblematisch. Selbst wenn man nur an reinen Tokenfrequenzen interessiert ist-- viel mehr ist mangels Lemmatisierung und Tagging ohnehin nicht möglich-- gilt es unter anderem zu bedenken, dass die Trefferanzahlen in Google keine Tokenfrequenzen darstellen, sondern vielmehr die Anzahl an Seiten, auf denen das Gesuchte gefunden wurde. Das lässt sich an einem einfachen Beispiel illustrieren: Ein Artikel wie der, die, das oder ein Konnektor wie und wird in den allermeisten Texten sicherlich mehr als einmal anzutreffen sein. Hingegen wird man eine Formulierung wie die Terrormiliz „Islamischer Staat“ in vielen Texten nur einmal antreffen, während im weiteren Verlauf des Textes einfach mit der IS auf die islamistische Organisation Bezug genommen wird. Ein weiteres Problem stellen Duplikate dar: Viele Texte finden sich mehrfach im Netz und werden unter Umständen bei der Google-Anfrage auch mehrfach gefunden. So ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Trefferanzahl bei einer beliebigen Suchmaschine für das Kompositum Knabenmorgen-Blütenträume zwar durchaus beträchtlich ist, die meisten Treffer allerdings Seiten sind, die entweder Goethes Gedicht „Prometheus“ enthalten oder aber aus diesem zitieren. Da die Anbieter kommerzieller Suchmaschinen ihre Algorithmen in aller Regel nicht offenlegen, steht man weiterhin vor dem Problem, dass unklar ist, wie genau eigentlich die Ergebnisse zustande kommen. So werden bei Google häufig Ergebnisse, die der Suchanfrage ähnlich sind, mitgefunden und müssten daher mühsam manuell ausgeschlossen werden. Beispielsweise fördert die Suche nach dem fiktionalen Filmcharakter Hedley Lamarr auch den Wikipedia-Eintrag zur Schauspielerin Hedy Lamarr zutage. Das Ziel von Webkorpora ist es, das Potential, das allein schon die schiere Menge an Internettexten birgt, zu nutzen und die entsprechenden Daten linguistisch zu erschließen, ohne die Einschränkungen, die kommerzielle Suchplattformen mit sich bringen, in Kauf nehmen zu müssen. Fürs Deutsche gibt es derzeit zwei Korpora, die große Mengen an Textdaten aus dem Web in lingu- <?page no="61"?> 61 2.2 Untersuchungsmethoden istisch aufbereiteter Form zugänglich machen. Das derzeit größte Webkorpus ist DECOW (Schäfer & Bildhauer 2012), derzeit (Stand Ende 2016) verfügbar in der Version DECOW 16 AX . Aus urheberrechtlichen Gründen enthält es jedoch keine Texte, sondern lediglich Satzsammlungen. Diese sind jedoch linguistisch annotiert, d. h. lemmatisiert und mit Auszeichnungen für die jeweilige Wortart (sog. POS -Tags, für part of speech) versehen. Darüber hinaus gibt es zu jedem Satz den Link zu der Website, auf der er gefunden wurde 6 , und geographische Daten, die aus den jeweiligen IP s gewonnen wurden. Letztere sind natürlich insofern relativ unzuverlässig, als sie keine Auskunft darüber geben, ob die Person, die den jeweiligen Satz verfasst hat, tatsächlich dort wohnt; und selbst wenn dies der Fall sein sollte, bedeutet es nicht zwangsläufig, dass sie auch dort sozialisiert wurde. 7 Im populärwissenschaftlichen, aber sehr empfehlenswerten „Sprachlog“ hat jedoch Susanne Flach gezeigt, dass sich die Geo- IP - Daten durchaus-- in begrenztem Maße und mit der gebotenen Vorsicht-- für dialektologische Fragestellungen nutzen lassen. 8 Ein exemplarischer Vergleich zwischen COW -Daten und Daten aus dem „Atlas der Alltagssprache“, der die regionale Verteilung solcher Alternanzen auf Grundlage von Internetumfragen kartiert, legt nahe, dass sich die geographische Distribution der Korpusdaten zumindest in den beispielhaft untersuchten Fällen ungefähr mit jener, die im Rahmen des AdA-Projekts erhoben wurde, deckt. So zeigen die AdA-Daten, dass im Falle der Alternanz benutzen vs. benützen die umgelautete Form ein Phänomen ist, das sich weit überwiegend im oberdeutschen Sprachraum, also im Süden des deutschen Sprachgebiets, findet. Diese areale Verteilung wird auch in Fig. 9 (links) deutlich, die auf einer Stichprobe aus DECOW 14 AX beruht. Mit Hilfe des (mittlerweile überholten) Online-Tools Colibri 2 (Schäfer 2015) wurden Stichproben von jeweils 10.000 Tokens für benützen und benutzen genommen. Ungefähr ein Drittel der Daten konnte anhand der Geo- IP einem 6 Allerdings zeigen Lemnitzer & Zinsmeister (2015: 154) anhand einer Stichprobe, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Links inzwischen inaktiv ist, was Analysen, die den Einbezug des weiteren Kontexts erfordern, zusätzlich erschwert. Ungeachtet dessen spricht dieser Befund eher für ein solches Webkorpus als dagegen-- denn während das Netz immer im Fluss ist, bleibt die Zusammenstellung des Korpus stabil. 7 Dieselben Vorbehalte gelten natürlich auch für die diatopischer Auswertung anderer Korpora, bei denen keine expliziten Informationen über den Ort der sprachlichen Sozialisation der SprecherInnen / SchreiberInnen verfügbar sind. 8 http: / / www.sprachlog.de/ 2015/ 05/ 08/ um-und-bei-dialektologisch/ (zuletzt abgerufen am 01. 11. 2016). <?page no="62"?> 62 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Ort zugeordnet werden (3.514 für benützen, 3.591 für benutzen). Allerdings bildet die Grafik lediglich für jeden in den Daten identifizierbaren Ort den Anteil der umgelauteten Variante ab (dargestellt anhand der Farbintensität: je dunkler, desto mehr benützen), ohne dass die enormen Frequenzunterschiede zwischen den einzelnen Orten berücksichtigt werden. Die weitaus meisten Belege stammen-- wenig überraschend-- aus Ballungsgebieten wie Berlin (Platz 1 bei benutzen), der Region um Düsseldorf (Höst bei Düsseldorf belegt Rang 2), Nürnberg (Platz 3) oder Hamburg (Platz 4). Damit ist auch zu erklären, dass sich in der Region um Berlin sehr viel häufiger benützen findet als anderswo in der nördlichen Hälfte Deutschlands-- die Grundgesamtheit ist schlichtweg höher. Auch für die im Österreichischen verbreitete Variante Aufnahmsprüfung, deren Verteilung die rechte Hälfte von Fig. 9 auf Grundlage von DECOW 14 AX -Daten zeigt, finden sich in Berlin immerhin 2 Belege. Von den 5.060 Belegen für Aufnahmeprüfung und 77 Belegen für Aufnahmsprüfung, die mit Hilfe von Colibri 2 gefunden wurden, können 2.094 bzw. 30 einem Ort zugeordnet werden, wobei sich deutlich die areale Konzentration der Variante mit Fugen-s im österreichischen Raum zeigt. Diese Stichproben lassen den Schluss zu, dass die Daten des COW -Korpus für die Ermittlung der arealen Verteilung sprachlicher Varianten zumindest nicht ganz unbrauchbar sind. Ein zweites Webkorpus ist WaCkY, dessen deutsches Subkorpus de WAC 1,7 Milliarden Tokens umfasst. Ein wesentlicher Vorteil von WaCkY ist, dass es derzeit ohne vorherige Anmeldung genutzt werden kann 9 , während für DE- COW eine Freischaltung erforderlich ist. Bei der Erarbeitung von WaCkY wurde ähnlich vorgegangen wie bei der Zusammenstellung der COW -Korpora: Um sicherzustellen, dass das Korpus im Hinblick auf Genre und Register möglichst breit gefächert ist, wurden zufällig generierte Paare aus zufällig ausgewählten Wörtern (fürs Deutsche u. a. mittelfrequente Wörter aus der „Süddeutschen Zeitung“) als sog. „Seeds“ gewählt, nach denen dann mit Hilfe einer Suchmaschine gesucht wurde (vgl. Baroni et al. 2009). Nach dem sog. „Crawlen“ wurde dann der Boilerplate-Text, also standardisierte, immer wieder verwendete Textelemente, entfernt (z. B. die Navigationsleiste einer Homepage, vgl. Schäfer & Bildhauer 2013: 47 f.). Dadurch wird vermieden, dass bestimmte Wörter und Wortkombinationen wie etwa „Zur Startseite“ in den Daten überrepräsentiert sind. 9 Unter http: / / nl.ijs.si/ noske/ wacs.cgi/ first_form (zuletzt abgerufen am 01. 11. 2016). <?page no="63"?> 63 2.2 Untersuchungsmethoden Fig. 9: Links: benutzen vs. benützen in einer Stichprobe aus dem Webkorpus DECOW 14 AX . Rechts: Aufnahmeprüfung vs. Aufnahmsprüfung in einer Stichprobe aus DECOW 14 AX . <?page no="64"?> 64 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Zum Weiterlesen Passend zu den verwegenen Namen der Korpora, ist das Gebiet „Web als Korpus“ noch immer eines, auf dem viel Pioniergeist herrscht-- deshalb gibt es derzeit auch wenig Literatur, die „Best Practice“-Empfehlungen zum Umgang mit den Massen an Daten gebündelt präsentieren könnte. Lemnitzer & Zinsmeister (2015) gehen kurz und eher kritisch auf Webkorpora ein; ansonsten empfiehlt es sich, einige Aufsätze zu lesen, die von den Korpora Gebrauch machen-- auf corporafromtheweb.org gibt es eine Übersicht. Auf der Suche nach dem perfekten Korpus Welches Korpus ist das richtige? Lohnt es sich, ein eigenes Korpus zusammenzustellen, oder sollte man auf ein bestehendes Korpus zurückgreifen? Die Antwort auf diese Fragen hängt immer von der jeweiligen Fragestellung ab. Daher gilt stets das Prinzip: Zuerst die Fragestellung-- dann die Methode. Die Vielfalt der Abfragesysteme und die jeweiligen Einschränkungen bezüglich Abfrage- und Exportmöglichkeiten schaffen leider teilweise unnötige Hürden bei der Korpusnutzung. Das liegt zum Teil auch am derzeit noch sehr restriktiven deutschen Urheberrecht, das leider dazu führt, dass ernstzunehmende Korpuslinguistik in Deutschland teilweise nur in rechtlichen Grauzonen möglich ist. Zum Beispiel machen die Zugangsbeschränkungen des Abfragesystems COSMAS II das größte Korpus der deutschen Gegenwartssprache, das DeReKo, für viele quantitativ basierte korpuslinguistische Methoden faktisch unbrauchbar. Die folgenden Anmerkungen werden wahrscheinlich für die meisten Studierenden irrelevant sein, können sich aber ggf. für Promovierende als hilfreich erweisen, die in etwas größerem Rahmen ein eigenes Korpus erstellen. Wer in die Verlegenheit kommt, ein eigenes Korpus zu erstellen und zu publizieren, sollte aus Rücksicht auf spätere Benutzer idealerweise a) sofern es die urheberrechtliche Lage zulässt, die Daten vollständig in einem programm- und plattformunabhängigen Dateiformat (z. B. .txt-Dateien für einfache, unannotierte Texte; XML für Text und Annotationen; keine proprietären Formate wie z. B. .doc(x) oder .xls(x)! ) der Forschungsöffentlichkeit zugänglich machen. In vielen Fällen ist das nicht möglich, weil die Rechteinhaber nicht möchten, dass ihre Texte vollständig zugänglich sind. In diesem Fall ist der nächste Punkt umso wichtiger-- aber auch unabhän- <?page no="65"?> 65 2.2 Untersuchungsmethoden gig davon, ob man die Rohdaten zur Verfügung stellen kann oder nicht, sollte man idealerweise b) das Korpus über eine benutzerfreundliche Schnittstelle zugänglich machen, die reguläre Ausdrücke unterstützt und den Export möglichst vieler Belege im Key Word in Context-Format ( KWIC ) erlaubt. Ein gutes Vorbild sind hier die COW -Korpora: Sie machen von der quelloffenen NoSketchEngine Gebrauch, in der man die recht intuitive und einfach zu lernende CQP -Syntax verwenden kann. Auch lassen sich bis zu 100.000 Belege im KWIC -Format exportieren, was im Vergleich zu anderen Korpora eine erfreulich hohe Zahl ist. Erfreuliche Entwicklungen sind auch beim DWDS und bei den „Deutsch Diachron Digital“-Korpora zu verzeichnen. Das DWDS hat zwar eine m. E. etwas weniger intuitive, aber ähnlich mächtige Suchabfragesprache und verfügt seit kurzem über sehr nützliche und bedienerfreundliche Exportoptionen. Die Referenzkorpora Altdeutsch und Mittelhochdeutsch nutzen das Korpusabfragesystem ANNIS , das sich für Korpora mit komplexer Mehrebenenannotation anbietet. Erfreulicherweise steht hier neben einer Reihe anderer Exporter mit teils sehr simplem, teils sehr komplexem Output seit kurzem auch die Möglichkeit des KWIC -Exports zur Verfügung (mit dem TextColumnExporter ab Version 3.5; im Referenzkorpus Altdeutsch bereits implementiert, im Referenzkorpus Mittelhochdeutsch-- Stand September 2017-- noch nicht). <?page no="66"?> 66 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Infobox 4: Handwerkszeug - Software für korpuslinguistische Studien Wer Korpuslinguistik betreiben möchte, darf keine Angst davor haben, sich mit neuer Software und idealerweise mit Programmiersprachen vertraut zu machen. Für AnfängerInnen ist die Hemmschwelle oft hoch, aber die Tutorials im Begleitmaterial versuchen, Ihnen den Umgang mit Korpora und die Auswertung von Korpusdaten so einfach wie möglich zu machen. Ebenfalls sehr empfehlenswert zum Einstieg ins korpuslinguistische Arbeiten ist die Website von Noah Bubenhofer (http: / / www.bubenhofer.com/ korpuslinguistik/ kurs/ , zuletzt abgerufen am 20. 09. 2017). Folgende Programme sollten Sie auf jeden Fall installieren, wenn Sie korpuslinguistisch arbeiten möchten: ▶ einen guten Texteditor. Die bei Windows und Mac nativ vorhandenen Texteditoren sind für korpuslinguistische Zwecke suboptimal. Ich empfehle Notepad++ für Windows und TextWrangler für Mac, für Linux gibt es z. B. Notepadqq. Alle drei sind kostenlos erhältlich. ▶ ein Tabellenkalkulationsprogramm. Die meisten von Ihnen werden mit Microsoft Excel vertraut sein; eine gute freie Alternative ist LibreOffice Calc. Während Letzteres nicht alle Funktionen von Excel umfasst, hat es den Vorteil, dass es etwas besser mit Unicode-Sonderzeichen umgehen kann, denen wir bei der Arbeit mit historischen Textdaten häufig begegnen. ▶ Das Statistikprogramm R ist mittlerweile in der (quantitativen) Korpuslinguistik zum Standard geworden, wenn es um die Auswertung von Daten geht. Aber auch für die Aufbereitung von Daten eignet es sich hervorragend, auch wenn man relativ viel Zeit braucht, um sich einzuarbeiten, wenn man noch keine Programmiererfahrung hat. Als grafische Benutzeroberfläche empfehle ich RS tudio, ebenfalls kostenlos erhältlich. Die Skripte im digitalen Begleitmaterial lassen sich allesamt weitgehend ohne jegliche Vorkenntnisse benutzen. Wer sich tiefer einarbeiten möchte, kann z. B. zu Gries (2016) greifen. <?page no="67"?> 67 2.2 Untersuchungsmethoden Infobox 5: Best Practice - Wie berichte ich eine Korpusrecherche? Daten zu sammeln und auszuwerten, ist immer nur der erste Schritt im Forschungsprozess. Ebenso wichtig ist das Berichten der Ergebnisse. Dabei sollten die Ergebnisse so aufbereitet werden, dass die für die jeweilige Fragestellung relevanten Befunde (und nur diese) konzise, zugleich aber maximal informativ präsentiert werden. Folgende Prinzipien sollten dabei beachtet werden: 1. Ergebnisorientierung. Der Weg von der Hypothese zur Korpusrecherche und ihrer Analyse ist oft kein geradliniger: So kann es vorkommen, dass verschiedene Suchanfragen oder verschiedene Annotationsvarianten ausprobiert und wieder verworfen werden. Dieser Prozess ist in vielen Fällen zwar nicht uninteressant, für die Leserin aber in aller Regel nicht relevant. Stattdessen sollten konzise und an der Fragestellung orientiert die wichtigsten W-Fragen beantwortet werden: Was wurde untersucht? Warum wurde es untersucht (Motivation, Fragestellung)? Wie genau wurde dabei vorgegangen? Welche Ergebnisse wurden erzielt? Was sagen uns diese Ergebnisse? 2. Nachvollziehbarkeit. Die Durchführung und die Ergebnisse sollten so berichtet werden, dass der Leser sie nachvollziehen und ggf. auch selbst replizieren kann. Um die Replizierbarkeit zu gewährleisten, muss auf jeden Fall präzise angegeben werden, mit welchem Korpus gearbeitet wurde und wonach genau in dem Korpus gesucht wurde. Um sicherzustellen, dass der Leser die Ergebnisse auch nachvollziehen kann, ohne die Studie gleich selbst replizieren zu müssen, ist es unter anderem wichtig, stets Grundgesamtheiten zu nennen (wie groß ist mein Korpus / meine Stichprobe), anstatt nur mit relativen Frequenzen zu arbeiten. So ändert sich die Aussagekraft eines Befunds wie „Das Wort Weib wird im Korpus in 40 % der Fälle neutral gebraucht und in 60 % der Fälle mit negativer Konnotation“ drastisch, je nachdem, ob zehn Belege oder tausend Belege analysiert wurden. 3. Leserfreundlichkeit. Die Ergebnispräsentation sollte einerseits so vollständig wie möglich sein, andererseits jedoch sollte gleichsam die für die Fragestellung relevante „Essenz“ der Befunde leserfreundlich aufgezeigt werden. Dies gelingt am besten über die graphische Aufbereitung der Resultate. So zeigt das Balkendiagramm <?page no="68"?> 68 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen 2.2.3 Reflexe des Sprachwandels im Gegenwartsdeutschen: Fragebogenstudien und Experimente Die historische Linguistik ist auf Korpusuntersuchungen sowie auf die komparative Methode angewiesen, weil sich Sprecherinnen des Frühneuhochdeutschen oder gar des Germanischen oder Indoeuropäischen nicht mehr befragen lassen. Auch für die Gegenwartssprache gibt es gute Argumente, einen beobachtenden Zugang zu wählen, anstatt Sprecherinnen und Sprecher direkt nach ihrem Sprachverhalten zu befragen (oder gar das eigene Sprachverhalten als ausschlaggebend zu betrachten). In einem Diskussionspapier von Arppe et al. (2010) spricht sich beispielsweise Martin Hilpert dagegen aus, Grammatikalitätsbzw. Akzeptabilitätsurteile zu erfragen-- unter anderem deshalb, weil metasprachliche Einschätzungen nicht zwangsläufig das tatsächliche sprachliches Wissen repräsentieren müssen, zu dem wir als Sprecherinnen und Sprecher (und natürlich auch als Sprachwissenschaftler) keinen unmittelbaren Zugang haben. Man könnte noch hinzufügen, dass unterschiedliche Sprecher womöglich unterschiedliche Maßstäbe anlegen. Wenn ich verschiedene Personen befrage, wie in Fig. 5 auf einen Blick den Unterschied zwischen den beiden Textsorten hinsichtlich der Erwähnung von Begriffen aus dem Wortfeld „Süßwaren“ und ist somit sehr viel leserfreundlicher als beispielsweise eine Liste an Frequenzen oder Prozentwerten, die gerade bei zahlreichen Analysen auch sehr ermüdend sein kann. 4. Reproduzierbarkeit. Die Korpusrecherche sollte für den Leser oder die Leserin nicht nur nachvollziehbar sein, sondern er oder sie sollte auch in die Lage versetzt werden, sie selbst durchzuführen. Daher setzt sich immer mehr die Praxis durch, sämtliche Daten, die einer Studie zugrundeliegen, öffentlich zugänglich zu machen. Dadurch wird sichergestellt, dass zum einen die Richtigkeit einer Korpusanalyse überprüft werden kann und zum anderen neue Methoden und Analyseansätze auf bestehende Daten angewandt werden können. Für linguistische Datensätze gibt es mittlerweile auch spezialisierte Repositorien wie das Tromsø Repository for Language and Linguistics (https: / / opendata.uit.no/ dataverse/ trolling). Viele Linguistinnen und Linguisten nutzen auch nicht spezifisch sprachwissenschaftliche Repositorien wie Figshare oder GitHub. <?page no="69"?> 69 2.2 Untersuchungsmethoden akzeptabel für sie eine Form wie dem Vater sein Auto in der Alltagssprache ist, so werden womöglich einige, die diese Form selbst gebrauchen, sie als inakzeptabel kategorisieren, da sie wissen, dass sie als umgangssprachlich bzw. dialektal stigmatisiert ist. Dagegen führt jedoch Antti Arppe im gleichen Diskussionspapier das Argument ins Feld, dass das Fällen (meta)sprachlicher Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile genauso eine sprachliche Aktivität sei wie Sprachproduktion und -rezeption. Auch das kennen wir aus unserer Alltagserfahrung: Wenn jemand tiefstes Sächsisch oder Schwäbisch spricht, bringen wir diese Person schnell mit der jeweiligen Region in Verbindung-- und auch mit all den Stereotypen, die wir über Sachsen oder Schwaben haben. Und wenn jemand eine aus unserer Sicht „falsche“ grammatische Form gebraucht, können wir oft gar nicht anders, als den Fehler in Gedanken zu korrigieren. Folgerichtig gilt es bei Studien, die auf Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteilen fußen, zwar immer eine Reihe von möglichen Störfaktoren zu bedenken, doch können sie sich für viele Fragestellungen als äußerst aufschlussreich erweisen. Wie aber- - um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen- - können Fragebogenstudien und Experimente zur sprachgeschichtlichen Forschung beitragen? Hier müssen wir uns vor Augen führen, dass Sprachwandel (zumindest in aller Regel) kein sprunghafter, sondern ein kontinuierlicher Prozess ist. Daher hängen Sprachwandel und sprachliche Variation untrennbar zusammen. Einerseits bildet sprachliche Variation die Keimzelle des Sprachwandels, andererseits führt Sprachwandel seinerseits zu Variation. Wenn eine Sprecherin eine neue Form benutzt (Innovation), die sich dann allmählich in der Sprachgemeinschaft ausbreitet (Diffusion), so entsteht dadurch Variation, wobei zunächst alte und neue Form miteinander konkurrieren. Ein einfaches Beispiel: Noch bis ins 19. Jh. war die Form in Ansehung deutlich verbreiteter als ihr heutiges Äquivalent in Anbetracht. Eine einfache Suche im Google ngram Viewer 10 -- der zwar als Korpus problematisch ist, aber durch die Nutzung der umfangreichen GoogleBooks-Daten eine ungeheuer große Datenbasis hat- - zeigt, wie die neue Form um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die alte überholt (s. Fig. 10). Die Phase, in der eine neue Form sich durchsetzt und dabei ggf. eine alte verdrängt, nennt man Approbationsphase (vgl. Bechmann 2016: 74). Weil der Prozess graduell ist, existieren eine Zeitlang mehrere Formen nebeneinander. Bechmann (2016: 158) bringt es auf den Punkt: „Gegenwärtiges ist immer Gewordenes aus Gewesenem.“ 10 https: / / books.google.com/ ngrams/ (zuletzt abgerufen am 20. 05. 2017). <?page no="70"?> 70 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Dabei kann es zu Zweifelsfällen kommen, bei denen Sprecherinnen und Sprecher unsicher sind, welche von (mindestens) zwei möglichen Formen die standardsprachlich „richtige“ ist (vgl. Klein 2003, 2009). So schwanken Sprecher heute beispielsweise zwischen Pluralformen mit und ohne Umlaut: die Wagen vs. die Wägen. Möglicherweise fiel Sprecherinnen vor etwas über 100 Jahren auch die Wahl zwischen in Ansehung und in Anbetracht nicht leicht. Nübling (2012: 66) vergleicht solche Zweifelsfälle mit „Beben“, die auf tiefgreifende Veränderungen zurückgehen. Fragebogenstudien können somit gleichsam als „Seismograph“ für solche Veränderungen gesehen werden und können helfen, Fragen zu beantworten wie: ▶ Welche alternativen Formen gibt es? ▶ Wird eine der Formen häufiger gebraucht? ▶ Wird eine der Formen in bestimmten Kontexten häufiger gebraucht? (z. B. Registervariation: eine Form findet sich eher in formellen Kontexten, eine andere eher in mündlich bzw. umgangssprachlich geprägten) ▶ Wird eine der Formen in bestimmten Regionen oder Dialektgebieten häufiger gebraucht? Fig. 10: Frequenz von in Ansehung vs. in Anbetracht im Google Ngram Viewer. (Anteil der jeweiligen Form an allen Tokens im GoogleBooks-Korpus.) <?page no="71"?> 71 2.2 Untersuchungsmethoden Dieser letztgenannten diatopischen Variation widmen sich beispielsweise Sprachatlanten. Pionierarbeit auf diesem Gebiet hat Georg Wenker (1852-1911) mit seinem „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ geleistet, der über das Marburger Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas unter www.regionalsprache.de vollständig online abrufbar ist. Mit Hilfe einer Reihe von Sätzen, die er von Volksschullehrern aus dem gesamten damaligen Deutschen Reich ausfüllen ließ, konnte Wenker vor allem die Verteilung lautlicher Varianten kartieren. Aber auch lexikalische Variation zeigt sich in seinen Karten, etwa zwischen Dienstag, Aftermontag (im Ostschwäbischen) und Ertag (im Bairischen) oder zwischen Buddel im Niederdeutschen und Mecklenburgisch-Vorpommerschen einerseits und Flasch(e) in anderen Gebieten. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werfen wir zunächst einen näheren Blick auf die Methodik von Fragebogenstudien, ehe wir einen Schritt weitergehen und das Potential behavioraler Experimente, die über reine Befragungen hinausgehen, für linguistische Fragestellungen und insbesondere für die Zweifelsfallforschung erkunden. Fragebogenstudien Während der Beginn der modernen Umfragenforschung, der naturgemäß insbesondere in Disziplinen wie der Soziologie ein zentraler Stellenwert zukommt, laut Hippler & Schwarz (1996: 726) in die 30er-Jahre des 20. Jh. zu datieren ist, haben wir am Beispiel von Georg Wenkers Deutschem Sprachatlas bereits gesehen, dass die systematische Sammlung von Daten durch Befragung von Informanten bereits im 19. Jh. zum Methodenrepertoire der Sprachwissenschaft gehörte. Seither haben sich die Möglichkeiten der Befragung schon allein durch den technischen Fortschritt tiefgreifend verändert. Dadurch sind natürlich auch die methodischen Anforderungen, die heute an Fragebogenstudien gestellt werden, deutlich rigoroser als noch zu Beginn der Umfragenforschung oder gar zu Wenkers Zeiten. Daher wäre es verfehlt anzunehmen, dass man einen Fragebogen „samstagnachmittags beim Kaffeetrinken“ erstellen könne, wie Porst (2014: 13) die ironische Bemerkung eines Kollegen zitiert. Porst (1996: 738) definiert einen Fragebogen als eine mehr oder weniger standardisierte Zusammenstellung von Fragen, welche Personen zur Beantwortung vorgelegt werden mit dem Ziel, deren Antworten zur Überprüfung der den Fragen zugrunde liegenden theoretischen Konzepte und Zusammenhänge zu verwenden. <?page no="72"?> 72 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Es lohnt sich, auf die einzelnen Elemente dieser Definition genauer einzugehen. Fangen wir hinten an, mit dem Ziel des Fragebogens, nämlich der „Überprüfung der den Fragen zugrunde liegenden theoretischen Konzepte und Zusammenhänge“. Wie wir bereits in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, ist Empirie nie Selbstzweck. Empirische Daten helfen uns, Phänomene zu verstehen, die sich der unmittelbaren Beobachtung entziehen. Die Phänomene, mit denen wir uns in diesem Buch auseinandersetzen, lassen sich unter dem Überbegriff komplexe Systeme zusammenfassen-- Sprache, Kognition, Kultur. Sprache ist in Form von Artefakten, also bspw. sprachlichen Lauten, Gebärden und Schriftzeichen, beobachtbar, doch wie Sprache tatsächlich funktioniert, wie und warum sie sich wandelt und ob es Regeln und Prinzipien gibt, denen sprachliche Variation folgt, können wir daraus nicht direkt ersehen. Auch scheinbar Triviales wie die Existenz von Dialekten oder Dialektgrenzen sind keine „harten Fakten“, sondern Kategorisierungsleisungen unsererseits. Ein Beispiel: Wenn ich als Pfälzer nach Hamburg komme und mir dort auffällt, dass die Leute in der U-Bahn seltsame Wörter benutzen (moin, nech), andere Wörter merkwürdig aussprechen (wat, dat, Hamburch), dann ist das zunächst eine Einzelbeobachtung. Je öfter ich jedoch den gleichen Phänomenen begegne, desto sicherer kann ich mir sein, dass die Abweichungen von meiner eigenen Sprachvarietät systematischer Natur sind und dass es sich um für diesen Sprachraum charakteristische Phänomene handelt. Zunächst aber ist die Idee, dass es eine für diese Region spezifische Sprachvarietät gibt, eine reine Hypothese. Empirische Daten, die beispielsweise durch Fragebogenstudien à la Wenker erhoben werden können, können nun dazu beitragen, meine Kategorisierung zum einen zu überprüfen zum anderen zu verfeinern. Selbst die scheinbar rein deskriptive, also beschreibende, Erhebung von Dialektdaten dient also letztlich der Überprüfung theoretischer Konzepte und Zusammenhänge. Erst recht gilt das für Studien, die einen explanativen, also erklärenden, Anspruch erheben-- also beispielsweise der Frage nachgehen, warum eine bestimmte Form gegenüber einer anderen, prinzipiell möglichen Form bevorzugt wird. So wäre eine Fragebogenstudie vorstellbar, die Grammatikalitätsurteile zu Wörtern mit und ohne Fugen-s erfragt (Erbschaftsteuer vs. Erbschaftssteuer; Seminararbeit vs. Seminarsarbeit; Hauptseminararbeit vs. Hauptseminarsarbeit). Aufgrund der Antworten könnte dann erörtert werden, welche Faktoren dazu führen, dass eher die verfugte als die unverfugte Variante gewählt wird oder umgekehrt (z. B. Anzahl der Kompositionsglieder, phonologische Qualität des Erstglieds usw.). <?page no="73"?> 73 2.2 Untersuchungsmethoden Betrachten wir nun den ersten Bestandteil der Definition näher, „eine mehr oder weniger standardisierte Zusammenstellung von Fragen“. Damit wird unter anderem der Tatsache Rechnung getragen, dass es bei Befragungen-- ähnlich wie in der Korpuslinguistik (s. o. 2.2.2)- - sowohl qualitative als auch quantitative Ansätze gibt. Ein offenes Interview- - etwa zu den Spracheinstellungen der Befragten (z. B. ob sie einen Dialekt als schön oder weniger schön empfinden)-- ist naturgemäß weniger standardisiert als beispielsweise eine Umfrage mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten. Hippler & Schwarz (1996: 727 f.) unterteilen qualitative Befragungen in wenig strukturierte und teilstrukturierte Interviews, während sie stark strukturierte Befragungen als quantitative Interviews kategorisieren. Bei der wenig strukturierten Befragung verfügt der Interviewer „über einen hohen Freiheitsspielraum in der Formulierung und Abfolge der Fragen“, während er sich beim teilstrukturierten Interview an vorbereitete und vorformulierte Fragen hält, deren Reihenfolge jedoch variieren kann. Bei quantitativen Befragungen indes stehen sowohl die Fragen als auch die Antwortmöglichkeiten fest, und eine über die Vorgaben des Fragebogens hinausgehende Interaktion zwischen Interviewer und befragten Personen sollte nicht stattfinden. Damit soll auch verhindert werden, dass der Interviewer das Antwortverhalten der Befragten unbewusst steuert. Wenn ich mich beispielsweise als Interviewerin mit dem Teilnehmer vor Beginn der Studie ausgiebig über unsere jeweiligen Einstellungen zu Anglizismen unterhalte, werden seine Antworten in einem Fragebogen über dieses Thema womöglich anders ausfallen, als wenn dieses Gespräch nicht stattgefunden hätte. Doch auch wenn die Interaktion zwischen Interviewer und Interviewten auf ein Mindestmaß reduziert wird, besteht die Gefahr, dass die Befragten unbewusst und ungewollt manipuliert werden. Zu den Herausforderungen bei der Erstellung eines Fragebogens gehört unter anderem, dass wir mit Sprache arbeiten und Sprache nie ganz neutral sein kann. Ein Fragebogen will also so formuliert sein, dass wir die Probandinnen nicht unbewusst in eine bestimmte Richtung manipulieren. Bradburn et al. (2004: 6 f.) zeigen dies eindrücklich am Beispiel des US -amerikanischen General Social Survey, in dem die Antwort darauf, ob die Regierung zu wenig, zu viel oder genau den richtigen Betrag für einen bestimmten Haushaltsposten ausgebe, sehr unterschiedlich ausfielen abhängig davon, ob der Begriff welfare oder assistance to the poor gewählt wurde. Die Frage, wie genau Fragen formuliert werden sollten, ist folgerichtig für die Erstellung eines Fragebogens hochrelevant und wurde und wird in der Sozialforschung viel diskutiert und erforscht (vgl. z. B. Groves et al. 2004, Kap. 7 und passim). <?page no="74"?> 74 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen offene Frage geschlossene Frage Schätzfrage Alternativfrage direkte Frage indirekte Frage Fig. 11: Fragetypen nach Schlobinski (1996: 39). Mit den unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Methoden bei der Befragung gehen auch unterschiedliche Fragetypen einher (s. Fig. 11). Für qualitative Befragungen sind offene Fragen charakteristisch- - also beispielsweise: „Was assoziieren Sie mit dem sächsischen Dialekt? “ Im Bereich der geschlossenen Fragen, die in teilstrukturierten und strukturierten Befragungen eingesetzt werden, kann man mit Schlobinski (1996) grob unterscheiden nach Alternativfragen (z. B. Sollten Deutschlehrer im Unterricht Bairisch sprechen dürfen? -- Ja / Nein), direkten Fragen (z. B. Geben Sie bitte alle Dialektausdrücke für ‚Brötchen‘ an, die Sie kennen), indirekten Fragen (z. B. Viele Berliner sind der Meinung, das Bairische sei ein provinzieller Dialekt. Sind Sie auch dieser Meinung? ) und Schätzfragen (z. B. Wie viel Prozent der Bayern sprechen Ihrer Einschätzung nach Hochdeutsch? ). 11 Weiterhin unterscheidet Schlobinski (1996: 39) in Anlehnung an Holm (1986: 32) sechs Fragetypen nach ihrem jeweiligen Gegenstandsbereich (Tab. 6). Fragetyp Beispiel Faktfragen Besitzen Sie ein bairisches Wörterbuch? Wissensfragen Ist Bairisch ein niederdeutscher Dialekt? Einschätzungsfragen Spricht Ihrer Meinung nach Horst Seehofer mit seinen Kindern Dialekt? Bewertungsfragen Wie beurteilen Sie die Sprache der bayrischen Politiker? Einstellungsfragen Wie gefällt Ihnen der bairische Dialekt? Oder: Sollten Deutschlehrer im Unterricht Bairisch sprechen? Handlungsfragen Sprechen Sie im Biergarten so wie zu Hause? Tab. 6: Unterschiedliche Fragetypen nach Schlobinski (1996), dort nach Holm (1986). 11 Beispiele aus Schlobinski (1996: 39). <?page no="75"?> 75 2.2 Untersuchungsmethoden Befragungen lassen sich zum einen nach ihrem Typ klassifizieren (qualitativ vs. quantitativ; wenig strukturiert, teilstrukturiert, strukturiert), zum anderen nach dem Befragungsmodus. Hippler & Schwarz (1996: 728) nennen hier die persönlich-mündliche, die telefonische und die schriftliche Befragung. In den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden ist die web-basierte Befragung, die als Subtyp der schriftlichen Befragung gesehen werden kann. Über spezialisierte Dienstleister wie soscisurvey.de oder Google Forms lassen sich einfach und schnell Fragebögen erstellen und veröffentlichen. Dabei ist natürlich zu bedenken, dass man unter Umständen die Kontrolle darüber, wer an der Studie teilnimmt, aus der Hand gibt. So lässt sich bei einer Umfrage zum Deutschen etwa nicht kontrollieren, ob alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer deutsche Muttersprachler sind. Auch kann nicht wirksam verhindert werden, dass dieselbe Person mehrfach an der Umfrage teilnimmt. 12 Diese Bedenken dürften jedoch eher theoretischer Natur sein, solange es sich nicht um eine Umfrage zu einem emotional oder politisch aufgeladenen Thema handelt, bei der Einzelpersonen oder Gruppen Interesse daran haben könnten, das Ergebnis zu beeinflussen. Auch die Gefahr, dass Teilnehmende bei Online-Befragungen abgelenkt sein könnten, fällt bei Experimenten, die volle Konzentration erfordern, stärker ins Gewicht als bei der typischen Fragebogenstudie. Somit wiegen die Vorteile der web-basierten Befragung- - insbesondere die Möglichkeit, zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus verschiedensten Regionen zu erreichen-- die Nachteile insgesamt mehr als auf. 12 Einige Dienstleister bieten eine solche Option an, die jedoch i. d. R. auf Cookies basiert, die man einfach löschen kann. Bei manchen Dienstleistern wie Google Forms gibt es die Möglichkeit, nur Personen mit einem Account an der Umfrage teilnehmen zu lassen. Davon ist jedoch abzuraten, da es erstens die Hemmschwelle erhöht, an der Umfrage teilzunehmen. Zweitens werden Personen, die aus Datenschutzgründen keinen Account erstellen möchten, von der Umfrage ausgeschlossen, und drittens ist die Maßnahme nicht wirklich effektiv, weil dieselbe Person ohne weiteres mehrere Accounts erstellen kann. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, die E-Mail-Adresse des Teilnehmers oder der Teilnehmerin als Identifikator zu benutzen oder die Umfrage mit Passwörtern zu versehen, die unabhängig von der Umfrage selbst verteilt werden und nur einmal verwendbar sind. All diese Optionen setzen jedoch voraus, dass die Teilnehmenden sensible Kontaktdaten wie z. B. ihre E-Mail-Adresse preisgeben, was unter Umständen dazu führt, dass sie von einer Teilnahme absehen. <?page no="76"?> 76 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Praktische Aspekte bei der Gestaltung von Fragebogenstudien Die folgende Checkliste kann Ihnen bei der Gestaltung einfacher Multiple-Choice-Fragebogenstudien helfen. Idealerweise sollten Sie natürlich zusätzlich Fachliteratur zur Erstellung von Fragebögen insbesondere aus der quantitativen Sozialwissenschaft heranziehen (z. B. Bradburn et al. 2004, Porst 2014), um verbreitete Fehler zu vermeiden. ✓ Achten Sie darauf, dass die Fragen klar und verständlich formuliert sind. ✓ Versetzen Sie sich in die Lage der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und denken Sie daran, dass diese Ihre Fragen ohne das spezifische Vorwissen, über das Sie verfügen, verstehen sollten. Nicht jeder Laie weiß beispielsweise, was Termini wie Plusquamperfekt oder Linksversetzung bedeuten. Denken Sie auch daran, dass die Teilnehmer Ihre Fragen zwangsläufig interpretieren (vgl. Groves et al. 2004: 204). Um die Vergleichbarkeit der Antworten zu gewährleisten, versuchen Sie, den Interpretationsspielraum so gering wie möglich zu halten. ✓ Stellen Sie dem eigentlichen Fragebogen knappe, aber klare Instruktionen voran. Denken Sie daran, dass die Teilnehmenden eher geneigt sein werden, die Umfrage vor dem eigentlichen Beginn abzubrechen, wenn die Instruktionen allzu lang ausfallen. Daher gilt für die Instruktionen: So kurz wie möglich, so lang wie nötig. ✓ Die Reihenfolge der Fragen sollte randomisiert (zufallsgeneriert) sein. Gerade bei Grammatikalitätsurteilen haben viele Studien etwas gezeigt, was man salopp als „Abstumpfungseffekt“ bezeichnen könnte - wenn man viele Sätze bewertet, werden sie immer akzeptabler (vgl. Schütze 2016: 132 f.). Doch auch bei Studien, in denen es nicht um Grammatikalitätsurteile geht, können solche Sukzessionseffekte - also Effekte, die sich aus der Reihenfolge der Fragen ergeben - auftreten. Ein bekanntes Problem sind beispielsweise Ermüdungseffekte (vgl. Ben-Nun 2008). Durch die Randomisierung der Fragenreihenfolge erreicht man, dass dieselbe Frage von manchen Teilnehmern sehr früh, von anderen später beantwortet wird. <?page no="77"?> 77 2.2 Untersuchungsmethoden Das gilt natürlich nicht, wenn der Aufbau Ihres Fragebogens einer bestimmten inneren Logik oder „Dramaturgie“ (Porst 2014) folgt, etwa wenn die Fragen aufeinander aufbauen oder wenn Sie „heikle“ Fragen stellen möchten, die man eher am Ende des Fragebogens platzieren sollte (vgl. Porst 2014: 147). ✓ Versuchen Sie, Störvariablen soweit wie möglich auszuschalten. Grob gesagt, sind Störvariablen alle Faktoren, die das Ergebnis einer Untersuchung beeinflussen, ohne dass sie für Ihre Fragestellung relevant sind. Angenommen, Sie wollen erfragen, wie akzeptabel jemand weil mit Verbzweitstellung findet (weil das ist halt so statt weil das halt so ist). Wenn Sie als Stimulus nun einen Satz verwenden wie Die Amigos find ich knorke, weil die sind voll cool und sexy und so, dann ist es möglich, dass die Probanden den Satz nicht wegen seiner Syntax ablehnen, sondern wegen der darin enthaltenen umgangssprachlichen Formulierungen oder wegen seiner verstörenden Gesamtaussage. Ganz vermeiden lassen sich solche Inteferenzeffekte zwar nie, aber ein Satz wie Ich mag meinen Nachbarn, weil er ist immer nett zu mir würde hier den Zweck insgesamt besser erfüllen. ✓ Am Ende der Umfrage sollten Sie demographische Daten erheben. Auch das trägt dazu bei, Störvariablen zu kontrollieren: Wenn beispielsweise an einer Umfrage zum am-Progressiv (ich bin am lesen) überwiegend Menschen aus dem hauptsächlichen Verbreitungsgebiet dieser Form teilnehmen, dann ist die Aussagekraft dieser Studie eine andere, als wenn Sprecherinnen aus dem gesamten deutschen Sprachraum teilnehmen. Ebenso kann z. B. die Akzeptanz eines noch recht jungen Phänomens davon abhängen, wie alt die Personen sind, die an meiner Studie teilnehmen. Alter und Region (genauer: Ort der sprachlichen Sozialisation) sollte man daher stets erfragen. Häufig wird auch das Geschlecht erfragt, auch wenn hier bei Fragestellungen zur deutschen Gegenwartssprache nur in wenigen Fällen Unterschiede zu erwarten sind. Da es sich hier um recht persönliche Daten handelt, empfiehlt es sich, sie auf freiwilliger Basis zu erheben. Experimente Schlobinski (1996: 31 f.) weist darauf hin, dass Experimente im Vergleich zu anderen Methoden nur eine geringe Rolle in der Sprachwissenschaft spielen. Zieht man in Betracht, dass auch eine Korpusuntersuchung durchaus als Experiment gelten kann, also als „[s]ystematische Beobachtung von veränderlichen <?page no="78"?> 78 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Merkmalen unter kontrollierten oder künstlich geschaffenen Bedingungen“ (Meindl 2011: 33), so trifft diese Einschätzung mittlerweile nur noch bedingt zu. Auch Experimente im landläufigen Sinne, also behaviorale Studien, bei denen das Verhalten von Probandinnen und Probanden unter systematisch manipulierten Bedingungen untersucht wird, spielen eine immer größere Rolle in der Sprachwissenschaft. Für die Psycholinguistik gehört das Experiment von Anfang an zum unentbehrlichen Handwerkszeug (vgl. Knobloch 2008). Doch auch die historische Linguistik greift immer häufiger zu experimentellen Methoden, sodass sogar der Terminus „Historische Psycholinguistik“ kein Oxymoron mehr ist (vgl. z. B. Bergs & Pentrel 2014). Zwar kann es naturgemäß keine psycholinguistischen Experimente mit, sagen wir, Sprecherinnen und Sprechern des Frühneuhochdeutschen geben, doch kann zwischen historischer Sprachwissenschaft und Psycholinguistik insofern ein fruchtbarer Austausch stattfinden, als sie ähnlichen Fragen nachgehen und sich dabei oft auch auf die gleichen Grundannahmen stützen. Eine wichtige Grundannahme ist das uniformitariane Prinzip, also die Hypothese, dass sich die Funktionsweise der menschlichen Kognition in den letzten Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden nicht wesentlich verändert hat. 13 Daraus folgt, dass die gleichen Faktoren, die im synchronen Sprachgebrauch eine Rolle spielen, auch die diachrone Entwicklung von Sprache beeinflussen können. Das gilt insbesondere für kognitive Prinzipien, die in vielen Fällen synchrone und diachrone Phänomene gleichermaßen erklären können. So bringt Köpcke (1988) die Wahl von Pluralformen im Deutschen mit der Fähigkeit zur Prototypenabstraktion und Schemabildung in Verbindung: Im Deutschen gibt es bekanntlich verschiedene Möglichkeiten der Pluralkennzeichnung (sog. Pluralallomorphe), z. B.--en in Frauen,--er in Männer, Nullplural in Tunnel etc. Köpcke (1988) geht davon aus, dass Sprecherinnen und Sprecher aus den Pluralformen, denen sie begegnen, prototypisch organisierte Schemata ableiten. Mit „prototypisch organisiert“ ist dabei gemeint, dass es Kernmitglieder gibt, die dem Muster in besonderem Maße entsprechen, aber auch eher randständige Klassenmitglieder. An einem nicht-sprachlichen Beispiel: Wir können die Farbkategorie „rot“ als prototypisch organisiert verstehen. 13 Vgl. jedoch Levinson (2012), der die Annahme einer Uniformität der menschlichen Kognition als „Ursünde“ der Kognitionswissenschaften bezeichnet. Ein „uniformitarianer“ Ansatz darf aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass die kognitive Architektur aller Menschen genau gleich sei. Natürlich gibt es sehr viel Diversität; aber diese Diversität, so die Annahme, ist so eingeschränkt, dass allgemeingültige Aussagen zumindest prinzipiell möglich sind. <?page no="79"?> 79 2.2 Untersuchungsmethoden Das Rot, das der Umschlag dieses Buches hat, ist ein sehr prototypisches Rot. Hellrot oder Weinrot hingegen sind keine prototypischen Rottöne, gehören aber trotzdem noch zur Kategorie. Die prototypisch organisierten Schemata, so Köpckes Theorie, setzen Sprecherinnen und Sprecher ein, um den Plural von Wörtern zu bilden, die sie bisher nur im Singular kennen. Daraus lassen sich falsifizierbare Hypothesen ableiten: Je stärker ein Wort dem für die jeweilige Flexionsklasse angenommenen Prototypen entsprechen, desto eher wird der Plural nach dem entsprechenden Deklinationsmuster gebildet (s. u. Kap. 5.1.1). Zur Untermauerung seiner Hypothesen stützt sich Köpcke (1988) zum einen auf historische Evidenz, zum anderen auf eine experimentelle Studie. Im experimentellen Teil seiner Untersuchung nutzt er eine Elizitationsstudie, d. h. er „entlockt“ (elizitiert) seinen Teilnehmenden Pluralformen von Nonsenswörtern wie der Knumpe oder das Trilchel. Solche Materialien, auf die Probandinnen und Probanden reagieren sollen, nennt man Stimuli (Singular: Stimulus). Unter anderem konnte Köpcke zeigen, dass Formen, deren Auslaut als Pluralmarker interpretiert werden könnte (z. B. die Bachter: hier könnte- -er als Pluralmorphem gesehen werden), eher mit Nullplural versehen werden (also Singular: die Bachter-- Plural: die Bachter) als Formen, die einer prototypischen Singularform entsprechen, also einsilbig sind und auf einen Plosiv (/ p/ , / t/ , / k/ , / b/ , / d/ , / g/ ) auslauten. Dies bringt er mit der Beobachtung in Verbindung, dass historisch einige auf- -en auslautenden Singularformen das- -n verloren haben, z. B. die küchen > die Küche. Dadurch wird der Unterschied zwischen Singular- und Pluralform eindeutiger. Ein weiterer Bereich, in dem sich psycholinguistische Evidenz für die Erklärung diachroner Wandelprozesse als aufschlussreich erweisen kann, ist die Graphie. Das Deutsche weist hier eine Besonderheit auf, die es mit keiner anderen Sprache der Welt-- außer dem Luxemburgischen-- teilt, nämlich die satzinterne Großschreibung von Substantiven (vgl. z. B. Bredel et al. 2011: 27). Auch hier können psycholinguistische Studien helfen, die Frage nach dem Warum zu klären. So zeigen beispielsweise Gfroerer et al. (1989) mit Hilfe einer Eye-Tracking-Studie, bei der die Augenbewegungen der Teilnehmenden beim Lesen aufgezeichnet und anschließend analysiert werden, dass die Großschreibung offenbar als Dekodierungshilfe dient: Sie ließen niederländische Muttersprachler deutsche und niederländische Texte lesen, die den deutschen Großschreibungsregeln folgten. Dabei zeigte sich, dass die Teilnehmenden auch beim Lesen der niederländischen Texte nicht von der Großschreibung <?page no="80"?> 80 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen behindert wurden, obwohl die niederländische Orthographie die satzinterne Großschreibung nicht kennt (außer bei Eigennamen). Im Gegenteil schienen sie von der Hervorhebung der Substantive zu profitieren und lasen die Texte sogar insgesamt schneller. Diese Beobachtungen können helfen zu erklären, warum sich das Deutsche den „Luxus“ der satzinternen Großschreibung leistet-- auch wenn sie natürlich nicht erklären können, warum sich die satzinterne Großschreibung in anderen Schriftsystemen nicht durchsetzen konnte, etwa im Englischen, wo sie eine kurze Blütezeit im 17./ 18. Jh. erlebte (vgl. Gramley 2012: 147). Diese wenigen ausgewählten Beispiele zeigen, dass experimentelle Methoden auch in der germanistischen Linguistik und in der Sprachgeschichtsforschung durchaus Verwendung finden. Allerdings genügen nicht alle Studien den recht rigorosen methodischen Anforderungen, die in der Psychologie und in den Kognitionswissenschaften an experimentelle Untersuchungen gestellt werden. Das gilt sowohl für die Formulierung und Operationalisierung von Hypothesen als auch für die Datenanalyse. Einige wichtige Aspekte, auf die beim Design von Experimenten zu achten ist, fasst die Infobox 6 zusammen. Bei der Datenanalyse sind statistische Verfahren anzuwenden, um zu bestimmen, wie wahrscheinlich es ist, dass die beobachteten Ergebnisse durch Zufall zustandegekommen sind. 14 Praktische Aspekte bei der Gestaltung von Experimenten ✓ Formulieren Sie vor Durchführung des Experiments eine klare Hypothese, die Sie überprüfen möchten. Die Hypothese während oder gar nach Durchführung einer Studie zu ändern, gilt als schlechte wissenschaftliche Praxis. Mittlerweile gibt es mit https: / / cos.io/ prereg/ (zuletzt abgerufen am 20. 05. 2017) sogar eine Internetseite, auf der WissenschaftlerInnen Hypothesen im Voraus registrieren und damit ihre Forschung transparenter machen können. ✓ Wie bei Fragebogenstudien gilt es auch bei behavioralen Experimenten, Störvariablen soweit möglich auszuschalten. Das gilt sowohl für die Gestaltung der Stimuli als auch für die Zusammensetzung der Teilnehmenden. 14 Für studentische Hausarbeiten o. ä. wird natürlich in aller Regel keine statistische Analyse erwartet. Sie ist jedoch ein gern gesehener „Bonus“ und in den meisten Fällen sehr viel einfacher, als man zunächst vielleicht denken mag. <?page no="81"?> 81 2.2 Untersuchungsmethoden ✓ Störvariablen im Bereich der Stimuli können z. B. bei verbalen Stimuli deutliche Unterschiede in der Länge oder Komplexität sein. Angenommen, Sie untersuchen die Hypothese, dass hochfrequente Komposita schneller gelesen werden als niedrigfrequente: Wenn Sie im Bereich der hochfrequenten Komposita z. B. Türgriff und Rollstuhl haben, bei den niedrigfrequenten dagegen Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung und Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz, dann kann die höhere Lesezeit bei den niedrigfrequenten Stimuli auch schlicht auf deren Länge bzw. auf deren Komplexitiät (mehr Kompositionsglieder) zurückgeführt werden. ✓ Störvariablen im Bereich der Zusammensetzung der Teilnehmenden können z. B. durch Unausgewogenheiten in den demographischen Daten entstehen. Suboptimal wäre es z. B., wenn an Ihrem Experiment sehr viele junge Personen und zwei 80-Jährige teilnehmen, oder wenn die allermeisten Teilnehmenden einen Hochschulabschluss haben und nur wenige nicht. Natürlich ist es nicht möglich, solche Unausgewogenheiten komplett zu vermeiden. Es kann jedoch hilfreich sein, sich im Voraus zu fragen: Welche Faktoren könnten (außer denen, deren Einfluss ich mit meiner Untersuchung überprüfen will) das Verhalten der Versuchsperson beeinflussen? Wenn ich z. B. ein Lesezeitexperiment mache, muss ich damit rechnen, dass eine Person, die im Alltag wenig liest, langsamer liest als eine Germanistikstudentin. Der einfachste Weg, die demographischen Daten konstant zu halten, ist, nur eine einzige Gruppe (z. B. Studierende) als ProbandInnen zu wählen. Für eine Seminar- oder Abschlussarbeit ist das absolut ausreichend. Für größer angelegte Studien indes wäre mehr Diversität wünschenswert - schließlich wissen wir mittlerweile schon sehr viel aus behavioralen Experimenten über bestimmte Bevölkerungsgruppen (wie Studierende), über andere hingegen sehr wenig (vgl. z. B. Henrich et al. 2010). ✓ Viele experimentelle Setups setzen voraus, dass die ProbandInnen nicht genau wissen, worum es in der Studie geht, da wir ja daran interessiert sind, wie sie sich spontan verhalten, nicht, wie sie sich bewusst entscheiden. Deshalb ist es zumeist sinnvoll, Distraktoren einzubauen, also Stimuli, die vom eigentlichen Ziel des Experiments ablenken und nicht in die Auswertung mit eingehen. ✓ Genau wie bei Fragebogenstudien, ist auch bei Experimenten damit zu rechnen, dass Probandinnen und Probanden mit der Zeit Ermüdungserscheinungen zeigen und / oder in ihrem Umgang mit den jeweiligen Stimuli ein bestimmtes Muster entwickeln. Daher ist es auch hier wichtig, die Reihenfolge der Stimuli nach Möglichkeit zu randomisieren. <?page no="82"?> 82 2. Sprachwandel verstehen und untersuchen Zum Weiterlesen Einführungen in experimentelles Design und Datenanalyse gibt es enorm viele. Für die Linguistik bietet Meindl (2011) einen wertvollen Einstieg. Abdi et al. (2009) ist eine gut lesbare Einführung, die aus dem Bereich der experimentellen Psychologie stammt. Sehr anspruchsvoll ist dagegen Maxwell & Delaney (2004). Eine unterhaltsame, streckenweise etwas zu lang geratene Einführung in die Datenanalyse mit R bieten Field et al. (2012). Aufgabe 1. Diskutieren Sie das oben zusammengefasste Experiment von Köpcke (1988). Erkennen Sie Störvariablen, die man bei eventuellen Folgestudien beseitigen sollte? 2. Informieren Sie sich über Lesezeitexperimente und überlegen Sie, ob man ein Experiment zur Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Pluralallomorphen (wie des Bärs vs. des Bären) auch damit durchführen könnte-- und wenn ja, wie. <?page no="83"?> 83 2.2 Untersuchungsmethoden 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte Die deutsche Sprachgeschichte wird klassischerweise in vier Perioden unterteilt: das Althochdeutsche, das Mittelhochdeutsche, das Frühneuhochdeutsche und das Neuhochdeutsche. Diese Periodisierung geht bereits auf Scherer (1878) zurück und hat sich als heuristisch wertvolle Untergliederung der deutschen Sprachgeschichte erwiesen. Dabei darf natürlich nicht vergessen werden, dass jede Periodisierung zwangsläufig willkürlich ist. Sprachwandel ist immer ein gradueller Prozess, und wenn wir das Jahr 1649 noch zum Frühneuhochdeutschen zählen, das Jahr 1651 hingegen zum Neuhochdeutschen, so bedeutet das selbstverständlich nicht, dass sich die deutsche Sprache im Jahr 1650 ganz plötzlich radikal verändert hat. Gleichwohl gibt es natürlich Gründe, die Epochengrenzen so zu ziehen, wie Scherer es getan hat. Dabei lassen sich sprachinterne und sprachexterne Kriterien unterscheiden. Zu ersteren gehören beispielsweise „lautliche, morphologische und syntaktische Kriterien und Merkmale“ (Roelcke 2000: 370), zu letzteren unter anderem sozialgeschichtliche und kulturelle Faktoren. So fällt beispielsweise der Umbruch vom Altzum Mittelhochdeutschen mit der auch literaturgeschichtlich bedeutsamen Entwicklung der sogenannten höfischen Kultur zusammen. An der Schnittstelle von sprachinternen und sprachexternen Faktoren können die von Schmidt (2007: 17) zusätzlich angeführten soziolinguistischen Kriterien angesiedelt werden, zu denen beispielsweise das Verhältnis unterschiedlicher Varietäten zueinander gehört. Aufgrund der auch sprachlich höchst einflussreichen Entwicklungen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben, wird gelegentlich als weitere sprachgeschichtliche Epoche das Gegenwartsdeutsche angesetzt, dessen Beginn in der Regel in die Mitte des 20. Jahrhunderts datiert wird (vgl. Roelcke 1998b). Alle genannten Bezeichnungen für die einzelnen Sprachepochen haben gemeinsam, dass sie aus drei Teilen bestehen- - zum Beispiel: Alt, hoch und deutsch. Der erste Bestandteil bezieht sich auf die zeitliche Einordnung der jeweiligen Sprachstufe. Der zweite Bestandteil verortet sie geographisch. Mit dem Begriff hochdeutsch werden-- im Gegensatz zum allgemeinen Sprachgebrauch, der hierunter die normierte Standardsprache versteht-- die deutschen Dialekte südlich der sogenannten Benrather Linie bezeichnet, die von der 2. Lautverschiebung erfasst wurden (s. u. 4.1.1). Die Sprachbezeichnung deutsch <?page no="84"?> 84 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte schließlich geht zurück auf ahd. thiutisk, diutisk ‚das eigene Volk betreffend, volkssprachlich‘ (vgl. Sonderegger 1979: 40). Die Geschichte der deutschen Sprache im engeren Sinne setzt in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ein (vgl. Schmidt 2007: 23). Aber natürlich entsteht die Volkssprache nicht über Nacht: Ihre Wurzeln lassen sich dank der komparativen Methode bis ins Indoeuropäische zurückverfolgen. Dieser Vorgeschichte der deutschen Sprache wenden wir uns nun zu, ehe wir genauer auf die einzelnen Sprachstufen des Deutschen eingehen. Dabei geben die einzelnen Unterkapitel einen Abriss über die wichtigsten Entwicklungen bezüglich Phonologie, Morphologie und Syntax in der jeweiligen Periode, ohne dass dieser Überblick auch nur annähernd vollständig sein könnte. Einen ausführlicheren Überblick bieten Werke, die sich dezidiert der systematischen und chronologischen Beschreibung der deutschen Sprachgeschichte widmen, z. B. Schweikle (2002) oder Schmidt (2007). Einen schlagwortartigen Überblick über die genannten Sprachstufen sowie über die Sprachwandelprozesse, die in den nächsten Kapiteln vorgestellt werden, bietet Tab. 7. Sprachstufe Wandelprozesse im Überblick Indoeuropäisch (bis ca. 1. Jt. v. Chr.) ↓ Phonologie ▶ Lautverschiebung (4.1.1) ▶ Wandel von Akzenttyp und Akzentposition (3.1.2) ▶ Primärberührungseffekt (3.1.2) Morphologie ▶ Entstehung schwacher Verben (3.1.2) Germanisch (bis ca. 200 n. Chr.) ↓ Phonologie ▶ Hebung e > i vor Nasal + Konsonant (3.1.3, 4.1.2) ▶ wg. Hebung (i-Umlaut) und Senkung (a-Umlaut) (3.1.3, 4.1.2) ▶ Nasalschwund vor h und Ersatzdehnung des Vokals (3.1.3) ▶ wg. Konsonantengemination (3.1.3) ▶ wg. Rhotazismus (3.1.3) <?page no="85"?> 85 2.2 Untersuchungsmethoden Westgermanisch (ca. 200-500) ↓ Phonologie ▶ 2. Lautverschiebung (4.1.1) ▶ Primärumlaut (4.1.2) ▶ Sekundärumlaut (noch nicht verschriftet) (4.1.2) ▶ Monophthongierung, Diphthongierung, Diphthongwandel (3.4.1) Morphologie ▶ einsetzende Phonologisierung des Umlauts: Umlaut als morphologischer Marker (4.1.2) Syntax ▶ Kasussynkretismus: Wegfall des Instrumentalis (3.2.3) ▶ einsetzende Obligatorisierung des Subjektpronomens (3.2.3) ▶ einsetzende Fixierung der Wortstellung (3.2.3) Althochdeutsch (ca. 500-1050) ↓ Phonologie ▶ Sekundärumlaut (4.1.2) ▶ Auslautverhärtung (3.3.1) ▶ ahd. / sk/ > mhd. / ʃ / (3.3.1) ▶ fortschreitende Reduktion der vollen Nebensilbenvokale (3.3.1) ▶ Aufkommen des Glottisverschlusslauts (3.3.1) Morphologie ▶ Phonologisierung des Umlauts: Umlaut als morphologischer Marker (4.1.2) ▶ Formenzusammenfall durch Nebensilbenabschwächung (3.3.2) ▶ Erweiterung des Bestands an Wortbildungssuffixen (3.3.2) Syntax ▶ Entstehung neuer periphrastischer Verbformen (Perfekt, Passiv) (3.3.3) ▶ (weitere) Obligatorisierung des Artikels und des Subjektpronomens (3.2.3) <?page no="86"?> 86 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte Mittelhochdeutsch (ca. 1050-1350) ↓ Phonologie ▶ Monophthongierung, Diphthongierung, Diphthongwandel (3.4.1) ▶ Vokaldehnung und -kürzung (3.4.1) ▶ Palatalisierung / s/ > / ʃ / im Anlaut (3.4.1) ▶ Degemination langer Konsonanten (3.4.1) Morphologie ▶ Präteritaler Numerusausgleich im System der starken Verben (3.4.2, 5.1.1) ▶ Morphologisierung des Umlauts / analogischer Umlaut (4.1.2) ▶ Neue Lehnwortbildungsmuster (3.4.2) Syntax ▶ (Weiterer) Ausbau des klammernden Verfahrens (6.1.2) ▶ Stellungswechsel des adnominalen Genitivs (des Vaters Haus > das Haus des Vaters) (6.1.1) ▶ Herausbildung des werden-Futurs (8.1.3) ▶ Abbau der doppelten Negation (3.3.3) Frühneuhochdeutsch (ca. 1350-1650), Neuhochdeutsch (ab 1650) Tab. 7: Überblick über einige der wichtigsten Wandelprozesse, die in den folgenden Kapiteln vorgestellt werden. Die Angaben in Klammern verweisen auf das jeweilige Kapitel. <?page no="87"?> 87 3.1 Vorgeschichte der deutschen Sprache: Vom Indoeuropäischen zum Westgermanischen 3.1 Vorgeschichte der deutschen Sprache: Vom Indoeuropäischen zum Westgermanischen 3.1.1 Das Indoeuropäische Auch wenn die ältesten Zeugnisse der frühesten Sprachstufe, die wir als „deutsch“ bezeichnen, erst ins 8. Jahrhundert datieren, können wir mit Hilfe der komparativen Methode (s. o. 2.1) gleichsam die Sprachfamilienbande des Deutschen nachzeichnen und damit auch einen „Stammbaum“ der unterschiedlichen indoeuropäischen Sprachen rekonstruieren. Als Indoeuropäisch (Ie.) oder Indogermanisch bezeichnet man die Vorstufe des Deutschen, die wohl um etwa 4000 / 3000 v. Chr., historisch also im Übergang von der Jungsteinzeit zur Bronzezeit, gesprochen wurde (vgl. Schmid 2013: 3; Anthony & Ringe 2015)-- allerdings variiert die Datierung sehr stark, je nachdem, ob man als „Urheimat“ des Indoeuropäischen die sibirische Steppe oder Anatolien annimmt (vgl. z. B. Bouckaert et al. 2012). Da uns aus dem Ie. keine Quellen überliefert sind, sind wir auf die Rekonstruktion mittels der komparativen Methode angewiesen. Die ältesten Quellen in einer ie. Einzelsprache, nämlich dem Hethitischen, stammen aus dem 18. Jh. v. Chr. (vgl. Ernst 2012: 43). Selbstverständlich können wir daher nicht mit letzter Gewissheit sagen, wie das Ie. ausgesehen hat, aber manche Eigenschaften dieser Vorstufe der heutigen ie. Sprachen können wir doch mit einiger Sicherheit rekonstruieren. So ist relativ unumstritten, dass das Ie. mehr Kasusformen hatte-- neben den im heutigen Deutschen noch vorhandenen Kasus Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ nämlich auch Vokativ (Anrede), Instrumental (u. a. zum Ausdruck des Mittels, mit dem eine Handlung ausgeführt wird: ich fege den Boden mit einem Besen), Ablativ (Ausgangsort: ich komme aus der Bibliothek / aus dem Haus Targayen) und Lokativ (räumliche, aber auch zeitliche Einordnung; vgl. Meier-Brügger 2010: 400-412). Auch das Numerussystem war wohl komplexer als das des heutigen Deutschen und umfasste neben Singular (Einzahl) und Plural (Mehrzahl) auch einen Dual, also die Zweizahl. Sehr anders, als wir es aus dem heutigen Deutschen gewohnt sind, war auch der Akzent, also die Art und Weise der Betonung. Zum einen geschah die Betonung nicht (nur) über die Lautstärke, sondern über die Tonhöhe; zum anderen konnte die Position des Akzents variieren. Im nächsten Abschnitt (Kapitel 3.1.2) werden wir darauf noch näher eingehen. Äußerst umstritten ist die Frage nach der sog. Urheimat derjenigen, die diese Sprache gesprochen haben. Um sich der Frage anzunähern, wo das Ie. ge- <?page no="88"?> 88 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte sprochen wurde, kann die sog. linguistisch-kulturhistorische Methode, auch „linguistische Paläontologie“ genannt, herangezogen werden. Dabei schließt man anhand der Wörter, die sich bis ins Ie. zurückverfolgen lassen, auf die Kultur und Umgebung der Sprecherinnen und Sprecher (vgl. Seebold 1998: 966). Die Idee dahinter ist ganz einfach, dass wir das benennen, was in unserem Leben und unserer Kultur eine Rolle spielt. So haben wir ein Wort für ‚domestiziertes vierbeiniges Tier der Gattung Felidae, das sich in jede Schachtel zwängt‘ (Katze), aber benötigen kein Lexem für ein ‚in freier Wildbahn lebendes fünfeinhalbbeiniges Tier mit drei Augen, vier Ohren und einem Mund‘, auch wenn ein solches Tier vielleicht auf einem anderen Planeten existiert, von dem wir nichts wissen. Folgerichtig versucht man, aus dem Wortschatz, der sich aus dem Ie. rekonstruieren lässt, auf die Lebensumstände seiner Sprecherinnen und Sprecher zu schließen. Ein wichtiges Argument für die räumliche Einordnung des Ie. ist das sogenannte Buchen-Argument: Da sich das Wort für ‚Buche‘ im Ie. rekonstruieren lässt, ging man davon aus, dass die ie. „Urheimat“ in einem Gebiet liegen müsse, in dem Buchen verbreitet sind-- also westlich der „Buchen-Grenze“, die ungefähr von Königsberg bis Odessa verläuft (vgl. Seebold 1998: 966 f.). Ganz ähnlich funktioniert das Lachs-Argument, das sich darauf stützt, dass „die Bezeichnung für diesen Fisch nicht nur im Germanischen, Slawischen und Baltischen vorkommt, sondern in der Bedeutung ‚Fisch‘ auch im Tocharischen“ (Ernst 2012: 45)-- das Tocharische ist ein ausgestorbener Sprachzweig, der erst Ende des 19. Jh. entdeckt wurde (vgl. Bußmann 2008: 285). Man ging daher davon aus, dass das Ie. aus einem Gebiet stammt, in dem der Lachs heimisch ist. Ernst (2012: 45) gibt jedoch zu bedenken, dass die tocharische Bedeutung ‚Fisch‘ die ursprüngliche gewesen sein könnte und dass man auch für das Buchen-Argument nicht ausschließen kann, dass möglicherweise Bedeutungswandel involviert war-- das Wort für ‚Buche‘ könnte sich ursprünglich auf einen anderen Baum bezogen haben. Aus den Ergebnissen der linguistisch-kulturhistorischen Methode kann man mit Schmitt-Brandt (1998: 289) sehr vorsichtig schließen, dass die Sprecherinnen und Sprecher des Ie. von der Jagd (Rotwild, Wildschweine, Bären, Wölfe) und von Viehzucht lebten (Schafe, Schweine, Rinder), Pferde züchteten und Steinäxte besaßen, dass sie Kupfer kannten, es wohl aber nicht schmolzen, und dass sie in Sippengemeinschaften und Kriegerverbänden lebten. Einige Forscherinnen und Forscher weisen außerdem auf ein ausgeprägtes Vokabular rund um Wägen hin, was darauf hindeutet, dass man bereits Fahrzeuge mit Rädern benutzte (vgl. Trask 2015: 345); in Verbindung mit der <?page no="89"?> 89 3.1 Vorgeschichte der deutschen Sprache: Vom Indoeuropäischen zum Westgermanischen archäologischen Evidenz sehen z. B. Anthony & Ringe (2015) dies als Hinweis darauf, dass die Steppe als „Urheimat“ des Ie. gelten muss. Allerdings weist Trask (2015: 345) darauf hin, dass auch in diesem Bereich Bedeutungswandel stattgefunden haben könnte, und Vertreterinnen und Vertreter der Hypothese, dass der anatolische Raum als „Urheimat“ angenommen werden müsse (z. B. Atkinson & Gray 2005, 2006; Bouckaert et al. 2012), geben zu bedenken, dass es sich dabei auch um sehr frühe Lehnwörter handeln könnte, die nicht mehr als solche zu erkennen sind. Zum Weiterlesen Seebold (1998) bietet einen ausführlichen und lesenswerten Einstieg in die genealogisch-typologische Einordnung des Deutschen. Eine gut lesbare Einführung ins Ie. bietet Fortson (2010). Einschlägige deutschsprachige Einführungen ins Ie. sind Schmitt-Brandt (1998) und Meier-Brügger (2010). 3.1.2 Vom Indoeuropäischen zum Germanischen Der Sprachwandelprozess, der das Germ. von anderen ie. Sprachen trennt, ist die 1. Lautverschiebung, auf die wir in Kap. 4.1.1 näher eingehen und die daher hier nur schlagwortartig dargestellt wird. Im Zuge der 1. Lautverschiebung wandeln sich-- mit systematischen Ausnahmen-- a) p, t, k zu f, θ , x / h; b) b, d, g zu p, t, k, c) bh, dh, gh zu β , ð , ɣ (was die phonetischen Zeichen bedeuten, wird in Kap. 4.1.1 erklärt). Eine wichtige systematische Ausnahme zur 1. Lautverschiebung ist das Vernersche Gesetz: In bestimmten lautlichen Umgebungen wandeln sich p, t, k nicht zu f, θ , x / h, sondern vielmehr zu β , ð , ɣ . In den gleichen Kontexten wandelt sich stimmloses s, das nicht von der 1. Lautverschiebung betroffen ist, zu stimmhaftem z (wie in engl. magazine). Ein weiterer wichtiger Wandelprozess vom Ie. zum Germ. ist die Festlegung des ursprünglich freien Wortakzents auf die Stammsilbe. Wenn wir von einem „freien“ oder „frei beweglichen“ Akzent sprechen, heißt das allerdings nicht, dass Sprecherinnen ihn nach Belieben setzen konnten, sondern lediglich, dass seine Position von Wort zu Wort und auch von einer Flexionsform <?page no="90"?> 90 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte eines Wortes zur anderen, also zwischen verschiedenen Wortformen, variieren konnte (vgl. Laker 1997: 10). Schmid (2013: 57) illustriert den freien Wortakzent am Beispiel des altgriechischen paideúo ‚erziehen‘, bei dem die Position des Akzents-- graphisch markiert durch <´>-- je nach Flexionsform variiert: (8) a. παιδ εύ ω paideúo‚ ich erziehe‘ b. π αί δευ-ε paídeue! ‚ Erziehe! ‘ c. πε-παιδευ-κ έ ναι pepaideukénai‚ erzogen haben‘ Im Deutschen wie auch in den anderen germanischen Sprachen hingegen sind mehrsilbige native Wörter grundsätzlich erstsilbenbetont, vgl. Mútter, Wáre, Aúge und viele mehr. Eine Ausnahme bilden lediglich präfigierte Wörter, vgl. beréit, Gedéck etc. König (2011: 110) bezeichnet die Festlegung des Akzents als „umwälzende[s] Ereignis, das die Geschichte aller german[ischen] Sprachen zeichnet“. Neben der 1. Lautverschiebung gibt es im Germ. weitere Veränderungen im Konsonantismus. Eine davon ist der sog. Primärberührungseffekt, der mit der 1. Lautverschiebung zusammenhängt: Schon im Ie. wandeln sich / b / und / g / vor / t / zu / p / und / k / . Über die 1. Lautverschiebung entsteht aus den daraus resultierenden Konsonantenverbindungen / pt / und / kt / dann / f t/ bzw. / ht / . Unabhängig von der 1. Lautverschiebung werden darüber hinaus die Konsonantenverbindungen / dt / und / tt / zu / ss / verschoben: */ bt / , */ pt / > */ pt / > / ft / , vgl. lat. captus - dt. Haft */ gt / , */ kt / > */ kt / > / ht / , vgl. lat. noctem - dt. Nacht */ dt / , */ tt / > */ tt / > / ss / , vgl. germ. mōt-ta > ahd. muossa ‚musste‘ Die Bezeichnung „Primärberührungseffekt“ bezieht sich darauf, dass die Laute bereits im Ie., also „primär“, zusammengestoßen sein müssen und nicht erst infolge späterer Entwicklungen vor / t / stehen (vgl. Paul 2007: 125). In manchen Wortformen wie neigte z. B. berühren sich die beiden Laute zwar in späteren Sprachstufen, im Germ. war zwischen ihnen jedoch ein Bindevokal vorhanden, sodass der Primärberührungseffekt unterblieb (*neichte). Bei anderen Verben jedoch führt der Primärberührungseffekt zu Alternanzen im Flexionsparadigma, z. B. denken-- dachte. Während die bisher genannten Sprachwandelprozesse allesamt dem Bereich der Phonologie angehören, führt die Entstehung der schwachen Verben zu einer Veränderung des flexionsmorphologischen Systems. Anders als starke <?page no="91"?> 91 3.1 Vorgeschichte der deutschen Sprache: Vom Indoeuropäischen zum Westgermanischen Verben, die über den sog. Ablaut durch Veränderung des Stammvokals flektiert werden (reiten-- ritt), erfolgt bei den schwachen Verben die Bildung des Präteritums über ein Suffix, das sog. Dentalsuffix: lachen-- lach-te. Zur Entstehung der schwachen Verben gibt es mehrere Theorien; die wohl verbreitetste geht davon aus, dass das Dentalsuffix aus einer Form von tun hervorgegangen ist (vgl. Szczepaniak 2011: 111-117). 3.1.3 Vom Germanischen zum Westgermanischen Beim Germ. geht man davon aus, dass es zunächst als relativ homogene Sprache existierte; ob man dies auch fürs Wg. annehmen kann, ist unklar: Teilweise wird davon ausgegangen, dass man stattdessen drei Dialektgruppen unterscheiden müsse, die traditionell nach den von Tacitus in seiner Germania erwähnten Großstämmen als Ingwäonisch, Istwäonisch und Hermionisch bezeichnet werden, oder in modernerer Terminologie als Nordseegermanisch, Rhein-Weser-Germanisch und Elbegermanisch, wobei das Hochdeutsche aus den beiden letztgenannten Gruppen hervorgeht (vgl. Henriksen & van der Auwera 1994: 9). In diesem kurzen Abschnitt wollen wir jedoch ausschließlich auf „gemeinwestgermanische“ Lautwandelprozesse eingehen. Im vokalischen Bereich fanden vom Germ. zum Wg. mehrere Umlautprozesse statt, auf die wir in Kap. 4.1.2 noch näher eingehen werden: Dazu gehört die Hebung / e/ > / i/ vor Nasal + Konsonant, vgl. ie. *bhend- > wg. *bindan ‚binden‘, lat. ventus-- dt. Wind, daher gelegentlich auch Ventus-Wind-Gesetz genannt. Durch den wg. i-Umlaut (Hebung) wandelt sich e > i vor i, j und u in der Folgesilbe, und durch den wg. a-Umlaut (Senkung) entwickeln sich i > e und u > o vor a, e, o in der Folgesilbe (Kap. 4.1.2). Diese drei Lautwandelprozesse markieren den Beginn einer Reihe von Umlautprozessen, die sich quasi leitmotivisch durch die deutsche Sprachgeschichte ziehen (vgl. z. B. Sonderegger 1979). Im konsonantischen Bereich geht der stimmhafte Reibelaut *-z (Achtung: z bezeichnet hier ein / z/ wie in engl. magazine, kein / ts/ wie in Zug! ) im Auslaut zwei- oder mehrsilbiger Wörter verloren, z.B. ie. *da ǥ az > germ. *daga- ‚Tag‘. Wenn es hingegen nicht im Auslaut steht oder aber im Auslaut von Einsilbern, wandelt sich / z/ zu / r/ (vgl. Fortson 2010: 357), z. B. germ. *was / wēzum > wg. was / wārum (> nhd. war / waren). Dieser westgermanische Rhotazismus betrifft diejenigen / z/ -Laute, die über Verners Gesetz (s. u. Kap. 4.1.1) aus / s/ entstanden sind. Daher finden sich bis ins heutige Deutsche viele Wortpaare, in denen s mit r alterniert: frieren-- Frost, lehren-- List, verlieren (noch mhd. <?page no="92"?> 92 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte verliesen, aber z. B. Partizip: verloren)-- Verlust. Im engl. Flexionsparadigma von (to) be ‚sein‘ hat sich die s / r-Alternanz bis heute gehalten: was vs. were, während sie im Deutschen zugunsten von r ausgeglichen wurde (aber noch Mhd. ih was-- wir wâren). Ein weiterer Lautwandelprozess betrifft ebenfalls Produkte des Vernerschen Gesetzes, aber auch der 1. Lautverschiebung: Die Reibelaute β , ð , ɣ , die über die 1. Lautverschiebung aus bh, dh, gh oder über das Vernersche Gesetz aus p, t, k entstanden sind, werden zu b, d, g weiterverschoben. Im Konsonantismus ist weiterhin die wg. Konsonantengemination zu erwähnen. Folgt einem Konsonanten innerhalb des Wortes (also nicht im Anlaut oder Auslaut) ein j, seltener auch ein r, w oder l, so wird er verdoppelt, z. B. germ. *bidjan > ahd. bitten, germ. *waljan > ahd. wellen ‚wollen‘ (vgl. Schmidt 2007: 58). Gelegentlich werden zudem m und n neben j, r, w, l als Auslöser der Gemination erwähnt, was jedoch umstritten ist (vgl. Simmler 1976: 40). Hier gilt abermals, dass wir uns nicht durch das gegenwartsdeutsche Schriftsystem in die Irre führen lassen dürfen: Doppelkonsonanten markieren heute in der Schreibung die Kürze des vorangehenden Vokals. Wenn wir im Wg. und Ahd. von Geminaten sprechen, meinen wir aber tatsächlich Doppelbzw. Langkonsonanten, wie es sie im heutigen Deutschen nicht mehr gibt, aber z. B. im Italienischen, vgl. bello ‚schön‘, gesprochen [' bɛllo ] (zum Vergleich: der deutsche Hundename Bello wäre in phonetischer Transkription [ ˈbɛlo ], hier wird nur ein einfaches l gesprochen-- außer wenn wir, etwa im Schuluntrericht, die Silbenstruktur des Wortes hervorheben wollen und es daher für Silbe für Silbe Bel-lo [ ˈbɛlˈlo ] aussprechen, denn beim / l / in Bello handelt es sich um einen sog. ambisilbischen Konsonanten, den man sowohl zur ersten als auch zur zweiten Silbe rechnen kann-- aber in der alltäglichen Aussprache gibt es zwischen dem / l / in Bello und dem in lodern keinen Unterschied). In der Diskussion des Primärberührungseffekts (S.-90) ist Ihnen beim Beispiel denken- - dachte vielleicht aufgefallen, dass außer dem Wandel von / kt / zu / ht / und dem Umlaut / a / > / e / noch eine weitere Besonderheit vorliegt, die Präsens- und Präteritalform voneinander trennt, nämlich dass in Letzterer kein / n / vorkommt. Das ist zurückzuführen auf den Nasalschwund im Wg., bei dem / n / vor / h / schwand; quasi als Ausgleich wurde der nachfolgende Vokal gedehnt, hier spricht man von Ersatzdehnung. Daher hat die Präteritalform von denken auch bis ins Mhd. ein langes a: germ. *þanht- > ahd. thāhta > mhd. dâhte. <?page no="93"?> 93 3.2 Althochdeutsch 3.2 Althochdeutsch Als Althochdeutsch (Ahd.) wird die Volkssprache der hochdeutschen Dialekte ab dem Beginn ihrer schriftlichen Überlieferung bezeichnet (vgl. Sonderegger 2003: 1). Man beachte den Plural: Es gibt keine überregionale Ausgleichssprache (vgl. Geuenich 2000: 1144). Vielmehr fungiert „Althochdeutsch“ als Überbegriff für eine Reihe verschiedener Dialekte. Die frühesten Zeugnisse des Ahd. finden sich in vorchristlichen und christlichen Runeninschriften, in Glossen sowie in vereinzelt vorkommenden Erwähnungen volkssprachlicher Wörter in lateinischen Quellen (vgl. Wolff 2009: 54). Die eigentlichen Anfänge der Schriftlichkeit können im 8. Jh. verortet und mit dem Aufbau von Bibliotheken und Skriptorien in Klöstern und Domschulen in Verbindung gebracht werden (vgl. Geuenich 2000: 1146). Folgerichtig ist das althochdeutsche Schrifttum vor allem von Übersetzungsliteratur bestimmt, freie Dichtung dagegen ist äußerst selten (vgl. Sonderegger 2003: 59 f.). Die Übersetzungen kommen dabei in ganz verschiedener Gestalt daher-- teilweise handelt es sich um Interlinearübersetzungen, bei denen das lateinische Original entweder Wort für Wort oder Zeile für Zeile neben der ahd. Übertragung steht. Ein Beispiel hierfür ist (9) aus der ahd. Übersetzung von Isidors De fide catholica (zit. nach Schlosser 2004: 20 f.). In der linken und mittleren Spalte stehen, wie auch in der Handschrift, lat. und ahd. Text nebeneinander; in der letzten Spalte findet sich die nhd. Übersetzung von Schlosser (2004). (9) Qui dixit deus et fecit deus; in eo uero qui superferebatur aquis spiritus sanctus significatur. Got ist dher quhad endi got dher deta; in dhiu auh dhanne, dhazs ir oba dhem uuazsserum suueiboda, dhen heilegun gheist dhar bauhnida. Gott ist es, der sprach, und Gott (ist es), der erschuf; in „er schwebte über den Wassern“ hat er auch den Heiligen Geist bezeichnet. Zu den wichtigsten Zeugnissen des Ahd. zählen zwei Evangelienharmonien, also Texte, die den Inhalt der vier Evangelien nacherzählen: Zum einen der althochdeutsche Tatian, zum anderen die Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg. Sie unterscheiden sich jedoch in einem wichtigen Punkt: Dem ahd. Tatian (frühes 9. Jh.) lag bereits eine Evangelienharmonie zugrunde, nämlich das „Diatessaron“ des Tatian aus dem 2. Jh. Es handelt sich hier also um <?page no="94"?> 94 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte einen Übersetzungstext, während die Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg (spätes 9. Jh.) zweifelsohne als eigenständige Dichtung einzuordnen ist. Seine volkssprachliche Nacherzählung der Evangelien stellt „die erste große Endreimdichtung in deutscher Sprache“ dar (Bergmann et al. 2016: 42)-- ein großer Teil der vorherigen ahd. Textzeugnisse, insbesondere etwa Zauber- und Segenssprüche, ist durch Stabreime (Alliteration), also den Gleichklang von Anlauten, gekennzeichnet (vgl. Sonderegger 2003: 119). 3.2.1 Phonologie des Althochdeutschen Der wohl wichtigste Lautwandelprozess vom Germ. zum Ahd. ist die 2. Lautverschiebung, die das Hochdeutsche von allen anderen germanischen Sprachen unterscheidet und auf die unter 4.1.1 näher eingegangen wird. Die 2. Lautverschiebung erklärt etwa den Unterschied zwischen dt. zehn und engl. ten, zwischen dt. Pfahl und schwed. påle oder zwischen dt. wissen und nl. weten. Darüber hinaus ergeben sich jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Lautveränderungen- - nach Sonderegger (2003: 248) „weit mehr als in den späteren Sprachstufen des Deutschen“. Im vokalischen Bereich sind hier die ahd. Monophthongierung, die ahd. Diphthongierung und der ahd. Diphthongwandel zu nennen (vgl. z. B. Roelcke 1998a: 1003; Bergmann et al. 2016: 73 f.). Bei der Monophthongierung, die bereits im frühen Ahd., nämlich im 7./ 8. Jh., stattfindet (vgl. Wegera & Waldenberger 2012: 102), wandelt sich ein Diphthong zum einfachen Langvokal: Monophthongierung auslösender Kontext Beispiel wg. ai > ahd. ē vor / r/ , / h/ , / w/ got. saiws - ahd. s ē (o) wg. au > ahd. ō vor Dental (/ s/ , / z/ , / d/ , / t/ , / n/ , / l/ , / r/ ) oder vor / h/ got. rauþs - ahd. r ō t Tab. 8: Ahd. Monophthongierung (Beispiele aus Bergmann et al. 2016). Wo die in Tab. 8 genannten Kontexte nicht gegeben sind, entwickeln sich ai und au nicht zu Monophthongen, werden aber ebenfalls verändert. Dieser Diphthongwandel ist in Tab. 9 zusammengefasst. <?page no="95"?> 95 3.2 Althochdeutsch Diphthongwandel auslösender Kontext Beispiel wg. ai > ahd. ei alle außer denen in Tab. 8 got. gaits - ahd. geiz wg. au >ahd. ou got. aukan - ahd. ouhh ō n ‚mehren‘ wg. eu > ahd. eo (> io > ie) / a / , / e / , / o / in der Folgesilbe germ. *keus- > ahd. kiusu ‚ich küre‘ wg. eu > ahd. io alle anderen Kontexte germ. *keus- > ahd. keosan/ kiosan/ kiesan ‚küren‘ Tab. 9: Ahd. Diphthongwandel. Beispiele aus Vogel (2012). Im Zuge der Diphthongierung schließlich wandeln sich die aus dem Germ. ererbten-- also nicht durch die Monophthongierung (Tab. 8) entstandenen-- langen Monophthonge / ē/ und und / ō/ zu Diphtongen (Tab. 10). Diphthongierung Beispiel germ. * ē 2 > ahd. ea > ia > ie got. h ē r - ahd. hear/ hiar/ hier ‚hier‘ germ. ō > ahd. oa > ua > uo got. broþar - ahd. bruoder ‚Bruder‘ Tab. 10: Ahd. Diphthongierung. Beispiele aus Vogel (2012). Diese Lautwandelprozesse lassen sich in einen größeren Zusammenhang einordnen. So kann die Diphthongierung als phonologischer Schub gedeutet werden. Beispielsweise geht Moulton (1961: 235) davon aus, dass die sich vom Norden her ausbreitenden Monophthongierungen einen „strukturellen Druck“ auf die alten Phoneme / ē / und / ō / ausübten. Salopp könnte man sagen: Die Sprecherinnen und Sprecher verhindern eine „Inflation“ von / ē / und / ō / , die entstanden wäre, wenn die aus der Monophthongierung hervorgegangenen / ē / und / ō / mit den bereits existierenden zusammengefallen wären. Damit es nicht dazu kommt, weicht man bei den „alten“ Lauten einfach auf andere aus. Monophthongierung und Diphthongwandel sind zudem ein Paradebeispiel für eine Phonemspaltung (Fig. 12): Je nach Kontext spaltet sich / ai/ auf in / ē / oder / ei / , während / au/ je nach Kontext entweder zu / ō / wird oder zu / ou / . Dabei sind / ē / und / ei / bzw. / ō / und / ou / zunächst Allophone, denn ihre Verteilung ist über den phonologischen Kontext vorhersagbar, ähnlich wie die Verteilung zwischen ich-Laut und ach-Laut im Gegenwartsdeutschen vorhersagbar ist (auch in Nonsenswörtern wie mechod oder knuch wählen wir automatisch die „richtige“ Form; umgekehrt können wir in existierenden Wörtern die beiden Laute, zumindest in der Theorie, problemlos austauschen und werden trotzdem verstanden). Zunächst sind / ē / und / ei / bzw. / ō / und / ou / also noch <?page no="96"?> 96 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte keine Phoneme, d. h. noch keine bedeutungsunterscheidenden Einheiten, sondern lediglich Allophone. Erst wenn die Kontexte, die die Monophthongierung auslösen, verlorengehen, wird die Verteilung der Laute unvorhersagbar, und sie entwickeln sich zu eigenständigen Phonemen. 1 ē ō ai au ei ou vor r, h, w sonstige Kontexte vor r, h, w sonstige Kontexte Fig. 12: Phonemspaltung durch ahd. Monophthongierung und ahd. Diphthongwandel. 3.2.2 Morphologie des Althochdeutschen Die Substantivflexion des Ahd. zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Deklinationsklassen je nach Stamm in unterschiedliche Klassen gliedern. Daher hat das Ahd. ein sehr breit gefächertes Deklinationsklassensystem. So lautet der Genitiv Plural von zunga ‚Zunge‘, das zu den n-Stämmen gehört, dero zungōn-o, von kraft, das zu den i-Stämmen gehört, dero kreft-i-o. Zwischen dem Grundmorphem und dem Flexionssuffix steht dabei jeweils das sog. stammbildende Element (vgl. Bergmann et al. 2016: 105-108). Auch bei den Verben ist der Stammvokal für die Einteilung der Konjugationsklassen zentral. Durch die Abschwächung der unbetonten Nebensilben geht jedoch der Unterschied zwischen den einzelnen Klassen sowohl bei den Substantiven als auch bei den Verben allmählich verloren, worauf wir im Kapitel zur mhd. Morphologie zurückkommen werden (s. u. 3.3.2). Dies zeigt, dass die Entwicklung des (flexions)morphologischen Systems im Ahd. und darüber hinaus untrennbar mit den phonologischen Wandelprozessen verbunden ist, die in Kap. 3.2.1 erwähnt wurden. Nicht nur die Ne- 1 Eine kritische Diskussion des Phonemspaltungs-Szenarios findet sich bei Durrell (1977). Zu einer differenzierteren Darstellung der ahd. Monophthongierung vgl. ebd. sowie Morciniec (1981). <?page no="97"?> 97 3.2 Althochdeutsch bensilbenabschwächung wirkt sich hier aus: Auch der Umlaut führt zu einer Differenzierung des morphologischen Systems, da er z. B. zur Pluralmarkierung nutzbar gemacht wird, vgl. ahd. Sg. gast-- Pl. gasti > spätahd. Sg. gast > Pl. geste (vgl. Sonderegger 1998: 1172; Sonderegger 2003: 263; s. u. Kap. 4.1.2). 3.2.3 Syntax des Althochdeutschen Das Ahd. zeichnet sich insgesamt durch eine etwas freiere Wortstellung aus (vgl. Greule 1998: 1209). So steht das finite Verb im nhd. Aussagesatz grundsätzlich an zweiter Stelle, z. B. Ich bin Lehrerin, in Hamburg regnet es immer (die Präpositionalphrase in Hamburg zählt als eine Konstituente! ), was kurz auch als V2-Stellung bezeichnet wird. Im Ahd. kann es aber auch in V1 stehen wie in (10) oder in V3 wie in (11). (10) uuas thar ouh sum uuitua | in thero burgi war da auch eine gewisse Witwe in dieser Stadt ‚Es war auch eine gewisse Witwe in dieser Stadt‘ (Tatian 201, 2 f., zit. nach Fleischer & Schallert 2011: 152) (11) ih inan infahu ich ihn empfange ‚Ich empfange ihn‘ (Isidor 18, 17-18, zit. nach Fleischer & Schallert 2011: 150) Jedoch ist V2 bereits im Ahd. die häufigste Stellung und setzt sich im weiteren Verlauf der deutschen Sprachgeschichte immer mehr durch (vgl. Szczepaniak 2013). Darüber hinaus ist das Subjektpronomen noch nicht obligatorisch. Im Nhd. wäre ein Satz wie Ich lache ohne das Pronomen ich ungrammatisch: *lache. Nur umgangssprachlich ist die Weglassung des Pronomens möglich, wenn der Kontext eine eindeutige Interpretation erlaubt: Bin grad nicht zu Hause, sind noch unterwegs. Im Ahd. hingegen sind solche Formen zunächst üblich: Gilaubiu in got fater almahtigon ‚[Ich] glaube an Gott, den allmächtigen Vater‘ (Weißenberger Katechismus, 8. Jh., zitiert nach Schlosser 2004: 36). Dies auch deshalb, weil die Endung--u die grammatische Information ‚1. Person Sg. Präsens‘ deutlich zum Ausdruck bringt, sodass die Verwendung des Personalpronomens ih redundant wäre; es wird aber im Ahd. zur Verstärkung eingesetzt, <?page no="98"?> 98 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte vgl. Forsahhistu unholdun? - - ih fursahhu ‚Schwörst du dem Teufel ab? - - Ich schwöre ab.‘ (Fränkisches Taufgelöbnis, 9./ 10. Jh., zit. nach Schlosser 2004: 46). Der Gebrauch des Subjektpronomens nimmt jedoch im Laufe des Ahd. zu (vgl. Sonderegger 2003: 22). Im Kasussystem des Ahd. findet sich im 8. und 9. Jh. noch vereinzelt der Instrumentalis, z. B. joh ouh gíbit thir thia wîst / thu húngiru nistírbist ‚und er gibt dir die Nahrung, damit du nicht vor Hunger stirbst‘ (Otfrid von Weißenburg, zit. nach Sonderegger 2003: 348). Im Laufe des Ahd. fällt dieser Kasus jedoch weg, sodass sich das fünfgliedrige System zum heutigen viergliedrigen mit Nominativ, Genitiv, Akkusativ und Dativ reduziert. Die Aufgaben des Instrumentalis haben andere Kasus übernommen (z. B. mit dem Hammer Dat. ); man spricht hier von Kasussynkretismus (Kasuszusammenfall). Im Ahd. beginnt sich auch das sog. „klammernde Verfahren“ herauszubilden, das die gesamte deutsche Sprachgeschichte durchzieht und auf das wir in Kap. 6.1.2 noch etwas ausführlicher zurückkommen werden. Damit ist gemeint, „dass syntaktisch und / oder funktional zusammengehörige Elemente in Distanzstellung zueinander treten“ (Nübling et al. 2013: 96), z. B. dieser die Klammer illustrierende, mit viel Füllmaterial angereicherte und, als ob das noch nicht genug wäre, mit noch mehr unnötigen Attributen versehene Beispielsatz. (12) zeigt ein Beispiel aus dem althochdeutschen Tatian (zit. nach Greule 1998: 1211). lK steht dabei für ‚linke Klammer‘, rK für ‚rechte Klammer‘. (12) Vorfeld lK Mittelfeld rK Nachfeld nóh thanne ni was Iohannes gisentit in carcari Noch dann nicht war Johannes gesandt in Kerker ‚Zu diesem Zeitpunkt war Johannes noch nicht ins Gefängnis geworfen worden.‘ Die oben diskutierten Prozesse der allmählichen Fixierung der Wortstellung und der Durchsetzung bzw. graduellen Obligatorisierung des Subjektpronomens können mit der Herausbildung des klammernden Verfahrens in Zusammenhang gebracht werden, da beide zur Entstehung klammernder Strukturen beitragen, indem sie Aufgaben, die zuvor die Morphologie übernommen hat, gleichsam auf die Syntax übertragen: Was vorher im Wortinneren ausgedrückt wurde, wird nun in ein anderes Wort „ausgelagert“, und daraus ergibt sich die Möglichkeit, weiteres Material zwischen diese beiden Wörter einzufügen-- also die Möglichkeit zur Klammerung. <?page no="99"?> 99 3.3 Mittelhochdeutsch 3.3 Mittelhochdeutsch Ähnlich wie fürs Ahd., so gilt auch fürs Mhd., dass es „das Mittelhochdeutsche“ nicht gibt, auch wenn viele Textausgaben mhd. Werke einen anderen Eindruck vermitteln mögen. In der Editionspraxis mhd. Texte war es nämlich lange Zeit üblich, diese zu normalisieren, sie also einem vermeintlichen „Normalmhd.“ anzugleichen, das in der Realität allerdings nie existiert hat (vgl. König 2011: 78). Vielmehr gab es eine Vielzahl von Dialekten, sodass auch die Schriftlichkeit nach wie vor von lokalen und regionalen Besonderheiten geprägt ist (vgl. Bergmann et al. 2016: 42). Die Textsorten, die aus dem Mhd. überliefert sind, weisen im Vergleich zum Ahd. eine etwas größere Spannweite auf. Während die literarische Tätigkeit bis zum 12. Jh. in den Händen von geistlichen oder geistlich Gebildeten lag und es weltliche Dichtung folgerichtig nur in Ausnahmefällen gab, begann nun auch der Laienadel, als Gönner und Auftraggeber auf die literarische Produktion Einfluss zu nehmen (vgl. Bumke 1994: 595 f.). An die Seite geistlicher Texte tritt somit zunehmend weltliche Dichtung. So findet die Heldendichtung ihren Weg von der mündlichen Überlieferung zur schriftlichen Fixierung, und mit der höfischen Literatur entstanden, oft in Anlehnung an frz. Vorbilder, einige der wichtigsten Texte der älteren deutschen Literaturgeschichte. Für die deutsche Sprachgeschichte waren jedoch nach wie vor auch Übersetzungstexte von zentraler Bedeutung, insbesondere jene aus der Scholastik und Mystik (vgl. König 2011: 81). So lassen sich viele Nominalisierungen, die im Deutschen bis heute gängig sind, als Lehnübersetzungen insbesondere geistlicher Termini aus dem Griechischen und Lateinischen identifizieren, z.B. gr. συμπάθεια -- lat. compassio-- mhd. mitelîdunge, im Nhd. ab dem 17. Jh. dann Mitleid (vgl. von Heusinger & von Heusinger 1997: 70). 3.3.1 Phonologie des Mittelhochdeutschen Die wohl wichtigste phonologische Entwicklung, die im Ahd. einsetzt und sich durch das Mhd. zieht, ist die fortschreitende Reduktion der vollen Nebensilbenvokale infolge der Festlegung des Wortakzents auf die Stammsilbe. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass das Endungssystem des Ahd. immer mehr zerfällt (vgl. Brundin 2004: 56). Bergmann et al. (2016: 75) illustrieren dies mit dem Verb tugen ‚taugen‘. Im Ahd. macht hier die vokalische Endung den Unterschied zwischen Indikativ und Konjunktiv: tohta ‚es taugt‘-- tohti ‚es würde <?page no="100"?> 100 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte taugen‘. Durch die Nebensilbenabschwächung fallen aber die Endungen zu e zusammen, sodass der Unterschied nicht mehr zu erkennen ist. In diesem Fall übernimmt der Umlaut die Fuktion, Konjunktiv zu markieren: mhd. tohte ‚es taugt‘-- töhte ‚es würde taugen‘. In vielen anderen Fällen zeigen die unbetonten Nebensilben des Ahd. aber nicht Modus (also Indikativ vs. Konjunktiv) an, sondern Kasus. Diese Aufgabe wird immer stärker von einem dem Substantiv vorangestellten Artikel übernommen. Somit hat die Nebensilbenabschwächung auch Auswirkungen auf Morphologie und Syntax und führt indirekt zu Prozessen wie der Funktionalisierung des Umlauts als morphologischer Marker (s. u. Kap. 4.1.2) und der zunehmenden Obligatorisierung des Artikels, der im Ahd. noch nicht gesetzt werden musste (vgl. in carcari in (12) oben: Der ‚Kerker‘ hat keinen Artikel). Weiterhin wird angenommen, dass erst im Mhd. der Glottisverschlusslaut im Anlaut vor Vokalen aufkam. Der Glottisverschlusslaut, im Internationalen Phonetischen Alphabet als ʔ dargestellt (s. u. Kap. 4.1), ist ein Konsonant, der gebildet wird, indem der Luftstrom an der sog. Stimmritze, der Glottis, blockiert wird. Im Gegenwartsdeutschen sprechen wir den Glottisverschlusslaut am Wortanfang vor Vokal und im Wortinneren nach einem anderen Vokal, z. B. [ ʔ ]am [ ʔ ]Abend, Du[ ʔ ]ell. Die meisten Sprecherinnen sind sich nicht bewusst, dass sie diesen Laut produzieren, auch weil wir ihn nicht verschriftlichen (vgl. Meibauer et al. 2015: 75). Um sich dieses Lauts bewusst zu werden, lohnt es sich einen Blick auf ein Minimalpaar zu werfen, also ein Wortpaar, das sich nur in einem Laut voneinander unterscheidet, z. B. verreisen [ fɛɐ̯ ˈʀaɪ ̯ zn̩ ] ohne Glottisverschluss und vereisen [ fɛɐ̯ ˈʔaɪ ̯ zn̩ ] mit Glottisverschluss. (Indirekte) Evidenz dafür, dass es den Glottisverschlusslaut im Ahd. noch nicht gab, liefern u. a. Wortverschmelzungen, die im Ahd., aber nicht mehr im Mhd. zu beobachten sind, z. B. ahd. gibu ih > gibuh ‚gebe ich‘ (vgl. Szczepaniak 2007: 141 f.). Weiterhin ist die Auslautverhärtung zu erwähnen (auch „Neutralisation im Auslaut“ genannt), durch die stimmhafte Plosive (b, d, g) zu stimmlosen Plosiven (p, t, k) werden, und zwar im Wortauslaut und im Silbenauslaut vor stimmlosem Plosiv: Hund [ hʊn t], ich neigte [ ˈnaɪ ̯ k tə ], aber des Hundes [ ˈhʊn d əs ], neigen [ ˈnaɪ ̯ ɡn̩ ]. Die Auslautverhärtung wird im Mhd. auch verschriftet, man schreibt also z. B. kint ‚Kind‘, aber dem kinde. Ab dem Fnhd. wird die Auslautverhärtung nicht mehr verschriftet-- dadurch wird sichergestellt, dass die betroffenen Morpheme in allen Kontexten gleich geschrieben werden, also z. B. das Morphem kind immer mit <d>, auch dann, wenn [ t ] ausgesprochen wird (s. u. Kap. 9.1). <?page no="101"?> 101 3.3 Mittelhochdeutsch Mit dem Wandel von ahd. / sk/ > mhd. / ʃ / entsteht zudem ein neues Phonem aus zuvor zwei Phonemen, z. B. ahd. scuola (entlehnt von lat. schola) > mhd. schuol(e). Da im lat. Alphabet kein entsprechendes Zeichen vorhanden war, finden sich in mhd. Texten verschiedene Verschriftungsvarianten für das / ʃ / , z. B. <ss>, <sh> oder <sch>, das sich letztlich durchsetzen konnte; aber auch die alten Schreibungen <sk> und <sc> blieben teils noch erhalten (vgl. Bergmann et al. 2016: 69). 3.3.2 Morphologie des Mittelhochdeutschen Insbesondere aufgrund der Nebensilbenabschwächung unterscheidet sich die Flexionsmorphologie des Mhd. deutlich von der des Ahd. Wie sich die Reduktion unbetonter Vollvokale im Flexionssystem niederschlägt, zeigt Sonderegger (1979: 249) am Beispiel des Substantivs Tag (Tab. 11). Im Mhd. sind die unterschiedlichen Kasus noch relativ eindeutig an der jeweiligen Endung zu erkennen (Ausnahme: tag kann sowohl Nom. als auch Akk. Sg. sein). Im Mhd. finden wir im Sg. praktisch ein Drei-Kasus-System vor, im Pl. ein Zwei-Kasus-System. Im Nhd. ist inzwischen auch die e-Endung beim Dativ außer Gebrauch gekommen, sodass wir auch im Sg. synchron nur ein Zwei-Kasus-System haben. (Am Rande sei angemerkt, dass sich das Dativ-e noch relikthaft in festen Fügungen findet wie z. B. am Rande). Wie unter 3.3.1 bereits festgestellt, übernehmen Artikel und Artikelwörter immer stärker die Aufgabe der Kasusmarkierung. Ahd. Mhd. Singular Nominativ tag tac Genitiv tages tages Dativ tage tage Akkusativ tag tac Instrumentalis tagiu - Plural Nominativ taga tage Genitiv tago tagen Dativ tagum tagen Akkusativ taga tage Tab. 11: Flexionsparadigma von Tag im Ahd. und Mhd. <?page no="102"?> 102 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte Auch im Bereich der Verbflexion wirkt sich die Nebensilbenreduktion aus. So sind im Ahd. die germ. Suffixe, mit deren Hilfe neue schwache Verben gebildet wurden, noch recht deutlich in den Flexionsendungen erkennbar. Bei den schwachen Verben handelt es sich nämlich um sog. sekundäre oder abgeleitete Verben (vgl. Bergmann et al. 2016: 96), die von Nomina oder von anderen Verben abgeleitet sind, z.B. ie. *fall- + Suffix- -jan → *falljan > ahd. fallan > nhd. fällen. Die jan-Verben bilden die mit Abstand größte der drei Klassen der schwachen Verben, die anderen beiden sind die Klassen der ōn- und ēn-Verben. Den drei Suffixen lässt sich auch grob eine semantische Funktion zuordnen; jan-Verben sind oft kausativ, lassen sich also umschreiben mit ‚verursachen, dass etwas passiert‘ (tränken < *trink+jan = ‚trinken machen‘), ōn-Verben sind oft ornativ, d. h. sie können umschrieben werden mit ‚etw. mit etw. versehen‘ (salben < salbōn = ‚mit Salbe versehen‘), und ēn-Verben sind häufig inchoativ, können also mit ‚werden‘ umschrieben werden (faulen < fūlēn = ‚faul werden‘; vgl. Bergmann et al. 2016: 97). Wie Tab. 12 zeigt, lassen sich die Verben im Ahd. anhand des sog. Themavokals (auch: Bindevokal, in der Tabelle durch Fettdruck hervorgehoben) ihrer Flexionsklasse zuordnen. Der Themavokal tritt zwischen Verbstamm und Flexionsendung. Die Themavokale ē und ō gehen auf die Suffixe--ēn und -ōn zurück; bei den jan-Verben erscheint das einstige j des Suffixes zwischen Konsonanten als i und ist ansonsten ausgefallen, was in Tab. 12 durch das Null-Zeichen ( ∅ ) markiert ist (vgl. Bergmann et al. 2016: 95). Im Mhd. hingegen ist zumindest der Unterschied zwischen ōn- und ēn-Verben nicht mehr erkennbar; jan-Verben indes unterscheiden sich noch durch eine Reihe von Lautwandelerscheinungen von den übrigen schwachen Verben, etwa durch den Primärberührungseffekt (denken- - dâhte, würken- - worhte) und durch den sog. Rückumlaut: Damit ist gemeint, dass im Präteritum sog. langwurzeliger jan-Verben, also solcher jan-Verben, die in ihrer Wurzel einen Langvokal oder einen Diphthong aufweisen oder in deren Wurzel auf einen Kurzvokal mindestens zwei Konsonanten folgen (vgl. Hennings 2012: 35), der Umlaut unterbleibt, vgl. ahd. trenken ‚tränken‘, aber Präteritum trankta; mhd. denken, aber dâhte. Anders als die Bezeichnung „Rückumlaut“ suggeriert, wurde der Umlaut hier aber nicht rückgängig gemacht; vielmehr ist das umlautauslösende i in diesen Fällen bereits vor Eintreten des ahd. Primärumlauts ausgefallen (vgl. z. B. Bergmann et al. 2016: 98). <?page no="103"?> 103 3.3 Mittelhochdeutsch Verbklasse Ahd. Mhd. Nhd. jan-Verb gruaz- ∅ -ta frew-i-ta grüez-te fröuw-e-te grüßte freute ō n-Verb mahhō -ta mach-e-te machte ē n-Verb bi-sorgē -ta besorg-e-te besorgte Tab. 12: Zusammenfall der schwachen Verbklassen vom Ahd. zum Nhd. Das ∅ steht für ein „Nullmorphem“, d. h. hier ist kein Themavokal (mehr) vorhanden. Im Bereich der Wortbildung, die fürs Mhd. noch relativ wenig erforscht ist (vgl. aber Klein et al. 2009), erweitert sich der Suffixbestand gegenüber dem Ahd. So verlieren die ahd. Wörter heit ‚Person, Geschlecht, Wesen‘, schaft ‚Geschöpf, Beschaffenheit‘ und tuom ‚Urteil, Macht‘ ihren selbstständigen Status und fungieren nun als reihenbildende Suffixe, z. B. wîsheit ‚Weisheit‘, friuntschaft ‚Freundschaft‘, heilictuom ‚Heiligtum‘. Zudem entsteht aus der Verschmelzung des Adjektivsuffixes -ic/ -ec mit -heit das neue Suffix- -keit, z. B. frumicheit > Frömmigkeit (vgl. Zutt 1998: 1363). Suffixe wie das erwähnte--ic/ -ec tragen zudem dazu bei, Homonymien (Gleichlautungen 2 ) zwischen Adjektiv und Substantiv abzubauen. Im Ahd. konnten Wörter wie zorn, grim, leit oder auch kint als Substantiv oder als Adjektiv auftreten: sî sîn alt oder kint (Seifried Helbling, 13. Jh., zit. nach MWV ). Im Mhd. findet durch Suffixableitung eine Differenzierung statt, z. B. muot vs. muot-ec (vgl. Zutt 1998: 1363). Im verbalen Bereich wird das Suffix -ieren aus dem Französischen entlehnt; es tritt zunächst nur bei entlehnten Wortbildungsprodukten auf (tjostieren-- die Tjost ist ein ritterlicher Zweikampf), verbindet sich später aber auch mit deutschen Wörtern (halbieren; vgl. Zutt 1998: 1364). 3.3.3 Syntax des Mhd. Die syntaktischen Entwicklungen, die sich im Ahd. bereits angedeutet haben, setzen sich im Mhd. fort: Fixierung der Verbstellung, zunehmende Durchsetzung der Verwendung von Artikeln bzw. Determinierern und Personalprono- 2 Der Begriff Homonymie wird z.T. uneinheitlich gebraucht. In der Regel spricht man von Homonymen, wenn zwei Wörter gleich geschrieben und gleich ausgesprochen werden, z. B. Bank ‚Geldinstitut‘ und Bank ‚Sitzbank‘. Ist nur die Schreibung, aber nicht die Aussprache gleich, so spricht man von Homographie; wenn umgekehrt nur die Lautung, aber nicht die Schreibung gleich ist, von Homophonie, s. u. 4.2.1. <?page no="104"?> 104 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte mina, Ausbau der Klammer. Das klammernde Verfahren wird im Mhd. auch durch die Entstehung neuer periphrastischer Verbformen gestärkt, insbesondere des Perfekts (mit den Hilfsverben haben und sein) und des Passivs (mit sein und werden). Mit periphrastisch („umschreibend“) ist dabei gemeint, dass die grammatische Kategorie nicht am Wort selbst realisiert wird (wie etwa beim Präteritum: gehen-- ging, lachen-- lachte), sondern quasi unter Zuhilfenahme der Syntax mit einem semantisch „ausgebleichten“ Hilfsverb (haben in sie hat gelacht hat nichts mehr mit ‚besitzen‘ zu tun). Im Bereich der Negation „manifestiert sich das Mhd. als eine Epoche des Übergangs vom Ahd. zum Nhd.“ (Wolf 1998a: 1355). Im Ahd. nämlich wurde die Negation zumeist über die Partikel ni ausgedrückt, z. B. thaz fíant uns ni gáginit ‚dass der Feind uns nicht entkomme‘ (Otfrid, REA ). Immer häufiger wurde die Negation jedoch durch das Wort wiht ‚Ding, Wesen‘ verstärkt (das wir in veränderter Bedeutung noch als Wicht kennen), z. B. Ni mag thar mánahoubit helfan héreren wiht ‚Da kann der Leibeigene dem Herren nicht (im Geringsten) helfen‘ (Otfrid, zit. nach Szczepaniak 2011: 47). Aus ni und wiht entsteht mhd. nieht (< ahd. niowiht), das einen enormen Frequenzanstieg erlebt und sich selbst zum Negationsmarker entwickelt. Das Mhd. stellt nun insofern eine Übergangszeit dar, als die Negation hier klammernd durch en-/ ne- und niht ausgedrückt wird: ich en ſage iu niht mêre ‚Ich sage euch nicht mehr‘ (Balaam, 12. Jh., REM ). Diese Entwicklung ist mit dem Französischen vergleichbar, wo sich mit pas (urspr. ‚Schritt‘) ebenfalls ein zunächst negationsverstärkendes Element zum festen Bestandteil der Negation entwickelt hat: Je ne sais pas ‚Ich weiß nicht‘. Zum Fnhd. hin kam en-/ neaußer Gebrauch, und niht fungierte allein als Negationsmarker. Im umgangssprachlichen Französisch ist übrigens auch der Gebrauch von bloßem pas als Negationsmarker möglich (Je sais pas). Diese zyklische Erneuerung der Negationskennzeichnung ist in vielen Sprachen belegt und wird nach dem dänischen Linguisten Otto Jespersen, der dieses Muster aufgezeigt hat, als Jespersen-Zyklus bezeichnet (vgl. Jespersen 1917; Dahl 1979). 3.4 Frühneuhochdeutsch Das Frühneuhochdeutsche (Fnhd.) ist historisch an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit anzusiedeln, in einer Zeit also, die u. a. durch die Reformation, die Gründung des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“ und den Aufstieg des Bürgertums geprägt war (vgl. Solms 1998; Hartweg & Wegera 2005: 7-14). Auch in sprachlicher Hinsicht stellt das Fnhd. eine Umbruchperi- <?page no="105"?> 105 3.4 Frühneuhochdeutsch ode dar, ja man könnte geradezu sagen: eine „Experimentierphase“, in der viele Innovationen erprobt und teilweise auch wieder verworfen werden. 3.4.1 Phonologie des Frühneuhochdeutschen Auch fürs Fnhd. gilt, dass die einzelnen Dialekte des Deutschen gerade im Blick auf phonologische Aspekte stark voneinander abweichen (vgl. Wolf 1998b: 1533), sodass sich die folgenden Ausführungen auf ein idealisiertes „Normalfnhd.“ beziehen. Die wichtigsten Lautwandelprozesse zum Fnhd. hin finden im vokalischen Bereich statt (vgl. Vogel 2012: 39): Diphthongierung, Monophthongierung und Diphthongwandel sowie Vokaldehnung und -kürzung. Durch die fnhd. Diphthongierung werden einfache (Lang-)Vokale zu Vokalverbindungen, nämlich / i: / zu / ai / , geschrieben <ei>; / u / zu / au / sowie / y / (ein langes ü wie in Tüte, im Mhd. verschriftlicht als <iu>) zu / ɔɪ / , geschrieben <eu> oder <äu>. / i: / > / ai / mhd. mîn > fnhd. mein / u: / > / au / mhd. hûs > fnhd. haus / y: / > / ɔɪ / mhd. liute > fnhd. leute Im Zuge der Monophthongierung wandeln sich mhd. Diphthonge (zwei Vokale) zu einfachen Vokalen (Monophthongen): / iɘ / > / i: / , z. B. mhd. friede [ fr i ɘdɘ ] > fnhd. friede [ fr i: dɘ ] / ʊɔ / > / u: / , z. B. mhd. buoch [ bʊɔχ ] > fnhd. buch [ b u ːχ ] / ʏɘ / > / y: / , z. B. mhd. güete [ gʏɘtɘ ] > fnhd. güte [ g y : tɘ ] Hier ist zu beachten, dass im Falle von [ iɘ ] > [ i: ] der Diphthong in der Schreibung erhalten geblieben ist: Das <e> wird hier als Längenzeichen nutzbar gemacht. Auch beim Diphthongwandel finden sich in der Schreibung Relikte der alten Aussprache: So schreiben wir zwar <ei>, sprechen aber nicht mehr [ eɪ ], sondern [ aɪ ]. Bei den anderen Diphthongen, die sich im Zuge des Diphthongwandels ändern, hat sich hingegen auch die Schreibung geändert: / eɪ / > / aɪ / , z. B. mhd. bein [ b e ɪn ] > fnhd. bein [ b a ɪn ] / ɔʊ / > / aʊ / , z. B. mhd. boum > fnhd. baum / œʏ / > / ɔɪ / , z. B. mhd. öugelîn > fngd. äuglein Durch die Umstrukturierung des Vokalsystems via Diphthongierung, Monophthongierung und Diphthongwandel reduziert sich das Vokalsystem des Deut- <?page no="106"?> 106 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte schen etwas: Die drei Diphthonge, die sich im Zuge der Monophthongierung wandeln, gibt es im heutigen Deutschen ebenso wenig wie die drei, die über den Diphthongwandel zu anderen Diphthongen verschoben werden. Auf die gesamte Sprachgeschichte seit dem Ahd. gesehen also „erfährt das Vokalsystem des Deutschen als Ganzes in mittelalterlicher Zeit zunächst einen Zuwachs und in der Neuzeit dann wieder eine Abnahme“ (Roelcke 1998b: 1003). Weiterhin ändert sich in einigen Kontexten die Vokallänge durch Dehnung und Kürzung. Die Dehnung findet in betonten offenen Silben statt. Von offenen Silben spricht man dann, wenn die Silbe auf einen Vokal endet, z. B. tr[ a ]gen > tr[ a: ]gen, j[ ʊ ]gent > J[ u: ]gend. Die Kürzung indes findet in bestimmten Konsonantenkombinationen, v. a. vor / ht / , / st / und / r / +Konsonant statt, z. B. brâhte > brahte, ôsten > osten, lêrche > lerche. Die Dehnungen und Kürzungen sind allerdings in unterschiedlichen Dialekten höchst unterschiedlich und unregelmäßig durchgeführt, man kann hier also nur bedingt von regelmäßigen Lautwandelvorgängen oder gar Lautgesetzen sprechen (vgl. Solms 1998: 1535). In den unbetonten Nebensilben finden im Fnhd. Synkope- und Apokopeprozesse statt. Von Synkope spricht man, wenn ein Laut im Wortinneren schwindet, von Apokope, wenn ein Laut im Auslaut schwindet. In konsequenter Fortsetzung der Nebensilbenabschwächung sind es die e- und Schwa-Laute in unbetonter Nebensilbe, die von diesen Prozessen betroffen sind (das Schwa ist der Vokal, den wir etwa in Mutter aussprechen; er wird in phonetischer Transkription als ɘ dargestellt, s. u. Kap. 4.1), z. B. genade > gnade, nimet > nimt, unde > und. Szczepaniak (2007) deutet diesen Wandel dahingehend, dass dadurch die Wortränder noch stärker markiert werden, denn Konsonantencluster wie / gn / und / mt / sind im Nhd. für den Anlaut und den Auslaut charakteristisch und signalisieren so der Rezipientin quasi: „Achtung, Wortgrenze! “ Dazu passt auch eine andere Entwicklung, nämlich die Palatalisierung von [s] zu [ ʃ ], also zu dem am harten Gaumen (Palatum) gebildeten Laut, den wir z. B. in Schule [ ʃu: lɘ ] finden. Diese Palatalisierung findet nur im betonten Wortanlaut vor l, m, n, w, p und t statt, z. B. slange > Schlange. Allerdings ist nicht ganz klar, wie die Wörter, die uns im Mhd. in der Schrift mit <s> überliefert sind, tatsächlich ausgesprochen wurden (vgl. Solms 1998b: 1536). Ins Fnhd. fällt außerdem die Degemination langer Konsonanten, die sich z.T. auch in der Schrift niederschlägt: vatter > Vater. Nach Kurzvokal indes bleibt der Doppelkonsonant in der Graphie zur Kennzeichnung der Vokalkürze erhalten, z. B. Mitte. <?page no="107"?> 107 3.4 Frühneuhochdeutsch 3.4.2 Morphologie des Fnhd. Im Bereich der Flexionsmorphologie finden im Fnhd. eine ganze Reihe teils sehr komplexer Entwicklungen statt, zu denen u. a. die Umstrukturierung des Deklinationsklassensystems der Substantive gehört. Das ist zum Teil noch auf die „Langzeitwirkung“ der Nebensilbenabschwächung zurückzuführen, durch die die zuvor transparente Deklinationsklassenzugehörigkeit verdunkelt wurde (vgl. Köpcke 2000a: 107). Beispielhaft seien hier Entwicklungen im Bereich der Maskulina erwähnt: Einige schwache Maskulina wechseln direkt in die starke Flexion, z. B. der heiden-- des heiden(e)s-- die heidene > der Heide, des Heiden, die Heiden. Andere erhalten im Singular analog zu den obliquen Kasus (also allen Kasus, die nicht Nominativ sind) ein--n und zusätzlich ein--s im Genitiv, z. B. der galge-- des galgen > der Galgen-- des Galgens (vgl. Wegera & Solms 1998: 1543). Andere Maskulina wechseln aus der schwachen in die starke Flexion, z. B. der hane-- des hanen-- die hanen > der Hahn-- des Hahns-- die Hähne. Wieder andere wechseln ihr Genus, z. B. der fane > die Fahne, der luft > die Luft (vgl. Köpcke 2000a: 107 f.). Was auf den ersten Blick recht chaotisch aussieht, kann mit Köpcke (z. B. 2000a, b) als Neuorganisation auf Grundlage einer Reihe formaler und semantischer Kriterien gedeutet werden (s. u. Kap. 5.1.1). Insgesamt steht die Entwicklung der Substantivflexion im Fnhd. im Zeichen von Numerusprofilierung und Kasusnivellierung. Damit ist gemeint, dass die Kategorie „Numerus“ gestärkt wird, während der Unterschied zwischen den Kasus teilweise verwischt wird. Beide Entwicklungen haben bereits im Ahd. ihren Anfang genommen, finden jedoch im Fnhd. ihren Höhepunkt (vgl. Nübling et al. 2013: 47). So wird die „wort-Klasse“, bei der die Pluralmarkierung schon im Ahd. geschwunden ist (mhd. daz Wort-- diu Wort ‚die Worte / Wörter‘, daz dinc-- diu dinc ‚die Dinge‘) und die relativ viele Mitglieder hatte, im Fnhd. abgebaut, wobei die Mitglieder dieser Klasse z.T. das Pluralmuster Umlaut+er übernahmen (wie in Lämmer) und zum Teil den e-Plural (wie in Tage). Im Falle von wort haben sich sogar beide Pluralvarianten durchgesetzt, wurden jedoch semantisch differenziert, werden also für unterschiedliche Lesarten von Wort verwendet: Wörter bezeichnet einfach mehrere Einzelwörter (dieser Satz hat fünf Wörter), Worte hingegen zusammenhängende Reihungen von Wörtern (geflügelte Worte; viele Worte machen; seine Worte haben mich tief bewegt). Die Kasusnivellierung, die bereits im Mhd. weit fortgeschritten ist (vgl. Wegera & Waldenberger 2012: 146-151), setzt sich zum Nhd. hin fort, insbesondere durch den allmählichen Zusammenfall der Dativmit der Nominativ / Akku- <?page no="108"?> 108 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte sativ-Form, vgl. Dat./ Akk. der thüre > der Tür. Bei einer kleinen Gruppe von Lexemen konnte im Mhd. auch der Umlaut zur Kasusdistinktion eingesetzt werden, vgl. Nom. kraft- - Gen./ Dat. krefte; diese Funktion des Umlauts wird nun aufgegeben. Auch diese Entwicklung kann vor dem Hintergrund der Numerusprofilierung gesehen werden, da der Umlaut nun bei Substantiven noch stärker mit der grammatischen Information „Numerus“ verknüpft ist und nicht mehr mit der grammatischen Information „Kasus“. Im verbalen Bereich findet endgültig eine „Vereinheitlichung der schwachen Verben“ (Wegera & Solms 1998: 1545) statt, die sich ja mit dem Zusammenfall von ōn- und ēn-Verben im Mhd. bereits angedeutet hatte. Wir erinnern uns: Während die Suffixe--ōn und--ēn im Mhd. zu--en zusammengefallen waren, hoben sich die jan-Verben teilweise noch durch Phänomene wie den sog. Rückumlaut von den ōn- und ēn-Verben ab. Eben dieser, der „Rückumlaut“ also, wird jedoch im Fnhd. in den meisten Fällen ausgeglichen, und zum Teil schwinden auch die Auswirkungen des Primärberührungseffekts, z. B. würken-- worhte > wirken- - wirkte. Bei den starken Verben- - jenen Verben also, die mit Ablaut gebildet werden (reiten-- ritt)-- findet der sog. präteritale Numerusausgleich statt. Damit ist gemeint, dass im Präteritum Singular und im Präteritum Plural der gleiche Vokal steht, was zuvor nicht der Fall war: ih singe ‚ich singe‘ - ih sang ‚ich sang‘-- wir sungen ‚wir sangen‘-- gesungen ‚gesungen‘ > ich singe-- ich sang - wir sangen - gesungen (vgl. Wegera & Solms 1998: 1546). Der lange Zeit nur wenig erforschte Bereich der fnhd. Wortbildung war in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher korpusbasierter Fallstudien, von denen einige in Kap. 5.1.2 näher vorgestellt werden. Wegera & Prell (1998: 1594) identifizieren hier als Haupttendenz die zunehmende „Komprimierung“ syntaktischer Gruppen in Komposita und Derivaten. Die bestehenden Wortbildungsmöglichkeiten werden immer mehr ausgeschöpft, wobei insbesondere auch Lehnwortbildungsmuster aus dem Lateinischen und Französischen an Bedeutung gewinnen, z. B.--ist oder--ieren (vgl. Roelcke 2000: 386). Auch steigt die Häufigkeit von Komposita stark an, obwohl die Kompositionsfreudigkeit ihren Gipfel erst im 19. und 20. Jh. erreicht, sowohl im Blick auf die Quantität von Komposita als auch im Blick auf ihre Komplexität: Drei- und mehrgliedrige Komposita des Typs Donaudampfschiff(kapitän) sind im Fnhd. noch die absolute Ausnahme (vgl. Roelcke 2000: 386), die allermeisten Komposita sind zweigliedrig, z. B. Khirchenordnung, Tringkhgef aͤ ß (Heberstein, Moscouia, 1557, FnhdC). Im Bereich der Derivationsmorphologie kann man möglicherweise von einer stärkeren Ausdifferenzierung der einzelnen Wortbildungsmuster <?page no="109"?> 109 3.4 Frühneuhochdeutsch als Grundtendenz sprechen, die sich bei mehreren Mustern beobachten lässt: Beispielsweise findet im Bereich der Adjektivderivation z.T. eine Ausdifferenzierung statt, sodass wir heute z. B. kindlich und kindisch nicht mehr synonym gebrauchen können (s. u. Kap. 5.1.2), und auch im Bereich der verbalen Präfixe kommt es in einigen Fällen zu einer stärkeren „Arbeitsteilung“, sodass weniger Dubletten zwischen be-, er- und zer-Formen bestehen: fnhd. vernichten und zernichten, heute nur noch vernichten; fnhd. erhoffen und verhoffen, heute nur noch erhoffen (aber noch unverhofft); fnhd. verunruhigt und beunruhigt, heute nur noch beunruhigt (vgl. Hartweg & Wegera 2005: 202). 3.4.3 Syntax des Frühneuhochdeutschen Auf einige wichtige fnhd. Entwicklungen im Bereich der Syntax werden wir im weiteren Verlauf dieses Buches noch eingehen, u. a. auf den Wandel der Genitivstellung (des Vaters Haus > das Haus des Vaters) und auf die Herausbildung des werden-Futurs. Diese und andere Entwicklungen, die z. B. Hartweg & Wegera (2005: 173-179) für die Syntax des Fnhd. herausarbeiten, lassen sich mit dem bereits erwähnten klammernden Verfahren in Verbindung bringen. So breiten sich periphrastische Formen weiter aus, und zwar zum einen durch die Entstehung des werden-Futurs, zum anderen durch die Expansion des Perfekts. Besonders in den oberdeutschen Dialekten im Süden Deutschlands sinkt der Anteil der Präteritalformen deutlich; bis heute nutzt man hier weit überwiegend das Perfekt als Vergangenheitstempus (sie hat gewartet statt sie wartete), auch wenn sich in der Schriftlichkeit das Präteritum halten konnte (vgl. Hartweg & Wegera 2005: 177; zum Präteritumschwund vgl. auch Dentler 1998, Fischer 2015). Weiterhin wird die oben erwähnte doppelte Negation abgebaut, und im Bereich der Subjunktionen (also nebensatzeinleitenden Konjunktionen) lösen sich einige Konkurrenzen auf (vgl. Hartweg & Wegera 2005: 178); z. B. setzt sich als gegen da durch (vgl. Die zeit da Noah mit seinen in die Arch gieng, Bange, Chronik, 1599, FnhdC) und temporales während gegen indem (vgl. z. B. indem und aber der zug im oberland lag ‚während aber der Zug im Oberland lag‘, Edlibach, Chronik, 1485, FnhdC). Zum Weiterlesen Eine gute, wenn auch mittlerweile schon nicht mehr ganz aktuelle Einführung zum Fnhd. ist Hartweg & Wegera (2005). Die einschlägige Grammatik des <?page no="110"?> 110 3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte Fnhd. ist derzeit Ebert (1994). In den letzten Jahren ist eine Fülle an Forschungsliteratur zum Fnhd. erschienen, auf die wir teilweise in den nächsten Kapiteln auch noch eingehen werden. 3.5 „Und was mache ich jetzt damit? “ In diesem Kapitel haben wir gleichsam im Zeitraffer einige wichtige „Wegmarken“ in der Entwicklung vom Ie. zum Fnhd. (und in Seitenblicken auch zum Nhd.) kennengelernt. Die Auswahl der besprochenen Phänomene ist zwangsläufig unvollständig und sehr selektiv; für umfassendere Darstellungen sei auf die einschlägige Literatur verwiesen (z. B. Sonderegger 1979; Schweikle 2002). Für diese Einführung bildet der hier vorgenommene Überblick nur die Grundlage für eine Reihe von „Tiefenbohrungen“, die in den nächsten Kapiteln folgen. Denn: „Wo früher die sprachgeschichtliche Ausbildung geendet hat, bildet sie heute Ausgangspunkt für weiterführende, spannende Fragen“ (Nübling 2012: 64). Diesen weiterführenden Fragestellungen und insbesondere auch der Frage, wie man sie empirisch angehen kann, werden wir uns in den nächsten Kapiteln widmen. <?page no="111"?> 111 4.1 Phonologischen Wandel verstehen 4. Phonologischer Wandel 4.1 Phonologischen Wandel verstehen Phonologischer Wandel nimmt gegenüber anderen Sprachwandelprozessen insofern eine Sonderstellung ein, als er in vielen Fällen nicht etwa einzelne Wörter oder Konstruktionen erfasst, sondern (mehr oder weniger) flächendeckend erfolgt. Man spricht daher auch von Lautgesetzen, deren Ausnahmslosigkeit im 19. Jahrhundert von den sogenannten Junggrammatikern postuliert wurde: „Aller lautwandel, so weit er mechanisch vor sich geht, vollzieht sich nach ausnahmslosen gesetzen“ (Osthoff & Brugmann 1878: xiii). Bis heute ist diese Annahme gerade für die komparative Methode zentral (vgl. z. B. Campbell 2013: 17-19 und passim). Bloomfield (1928: 100) weist darauf hin, dass einerseits das Postulat des ausnahmslosen Lautwandels wohl immer eine reine Annahme bleiben wird. Zugleich jedoch, so Bloomfield, könne die Ausnahmslosigkeit des Lautwandels insofern als gut belegte Hypothese gelten, als sich die unter dieser Vorannahme getätigten Voraussagen durchweg als erfolgreich erwiesen haben. Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum phonologischer Wandel eine besondere Stellung einnimmt. Die Einheiten, die er betrifft, tragen selbst keine Bedeutung: Wie in Kap. 1 dargelegt, sind Phoneme als kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten definiert. Für das Phänomen, dass wir bedeutungslose Laute zu bedeutungsvollen Einheiten kombinieren, hat Hockett (1960) den Begriff duality of patterning geprägt. Beispielsweise bestehen die Wortformen Ehre [ ˈeːʀə ] und Rehe [ ˈʀeːə ] aus genau denselben drei Phonemen (zu Grundbegriffen der Phonologie und Phonetik und zum Internationalen Phonetischen Alphabet s. Infobox 7b). Nun begegnen wir Lauten aber in der Regel nicht isoliert, sondern im Kontext größerer, bedeutungstragender Einheiten. Damit ist zu erklären, dass phonologischer Wandel häufig auch andere Ebenen von Sprache erfasst. Am Beispiel des Umlauts werden wir sehen, dass ursprünglich rein lautlich bedingte Wandelprozesse funktionalisiert werden, etwa zur Tempusmarkierung (Ablaut: gehen- - ging) oder als Numerusmarker (Umlaut: Mutter- - Mütter). Bybee (2008: 114) sieht in diesem Übergang aus der Phonologie in die Morphologie einen universellen Sprachwandelpfad, den wir in Abschnitt 4.1.2 noch genauer nachzeichnen werden. Zuvor jedoch widmen wir uns einem Paradebeispiel für lautgesetzlichen Wandel, nämlich der ersten und der 2. Lautverschiebung. <?page no="112"?> 112 4. Phonologischer Wandel Infobox 7a: Grundbegriffe der Phonologie und Phonetik Den Unterschied zwischen Phon und Phonem haben wir bereits kennengelernt: Das Phonem ist die kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache - so unterscheiden sich Haus und Maus in genau einem Laut, / h / bzw. / m / . Ein Phon ist die konkrete lautliche Realisierung eines Phonems. Ein und dasselbe Phonem kann dabei recht unterschiedlich realisiert werden: So benutzen einige Sprecherinnen des Deutschen ein Zungenspitzen-r ([ ʀ ]), andere ein am Gaumenzäpfchen gebildetes [ r ]. Beide werden in den gleichen lautlichen Umgebungen verwendet, man spricht von freien Allophonen (vgl. König 2011: 17). Hingegen stellen der ich-Laut [ ç ] und der ach-Laut [ χ ] komplementär distribuierte Allophone dar: Je nach Lautumgebung wird die eine oder die andere Variante gewählt. Konkret steht [ χ ] nach Hinter- und Zentralvokalen, [ ç ] nach Vordervokalen, nach / n / , / r / , / l / sowie am Morphemanfang (vgl. Meibauer et al. 2015: 85; Bybee 2008: 112). König (2011: 17) weist darauf hin, dass eine solche komplementäre Distribution z. B. auch bei / ŋ / (ng in fangen oder springen) und / h / vorliegt, da nur Letzteres am Wortanfang vorkommen kann. Hier spricht man jedoch nicht von einem Phonem, da die Laute phonetisch zu unähnlich sind. Bei ich- und ach-Laut hingegen gibt es gute Gründe, sie zu einem Phonem zusammenzufassen. So können [ ç ] und [ χ ] in verschiedenen Flexionsformen desselben Wortes vorkommen, z. B. Buch - Bücher (vgl. Meibauer et al. 2015: 86). Bei der Beschreibung von Phonemen sind vor allem zwei Kriterien ausschlaggebend: Artikulationsart und Artikulationsort. Tab. 13 klassifiziert Konsonanten und Halbvokale (zu Letzteren zählt z. B. / j / ) nach diesen Kriterien. Die Zeilen geben Aufschluss über die Artikulationsart: Handelt es sich beispielsweise um einen Reibelaut (Frikativ), bei dem die Luft durch eine Engstelle gepresst wird (vgl. König 2011: 19) oder um einen Plosiv, bei dem „der Mundraum völlig blockiert und dann wieder geöffnet wird“ (Meibauer et al. 2015: 77)? Die Spalten zeigen den Artikulationsort, z. B. Gaumen (Palatum) oder Zäpfchen (Velum). Weiterhin lassen sich Laute nach Stimmhaftigkeit unterscheiden. An / b / und / p / lässt sich dieses Kriterium gut illustrieren: Ein / b / wird mit, ein / p / ohne Stimmbeteiligung gebildet. In der Tabelle stehen stimmlose Laute jeweils auf der linken Seite der Zelle, stimmhafte auf der rechten. <?page no="113"?> 113 4.1 Phonologischen Wandel verstehen Nicht alle der in Tab. 13 aufgeführten Laute kommen im Deutschen vor - einen lateralen Frikativ wie / ɬ / beispielsweise, bei dem Reibung zwischen den Zungenrändern und dem Gaumen erzeugt wird (z. B. Walisisch llan ‚Kirche, Gemeinde‘; vgl. MacMahon 1996: 826), sucht man hier vergeblich. Andere kommen nur regional vor, etwa das gerollte / r / (vgl. Vogel 2012: 15). Die grau markierten Merkmalskombinationen gelten als unmöglich. bilabial labiodental dental alveolar postalveolar retroflex palatal velar uvular pharyngal glottal Plosiv p b t d ʈ ɖ c ɟ k g q ɢ ʔ Nasal m ɱ n ɳ ɲ ŋ ɴ Vibrant ʙ r ʀ Tap / Flap ⱱ ɾ ɽ Frikativ ɸ β f v θ ð s z ʃ ʒ ʂ ʐ ç ʝ x ɣ χ ʁ ħ ʕ h ɦ Lateraler Frikativ ɬ ɮ Approximant ʋ ɹ ɻ j ɰ Lateraler Approximant l ɭ ʎ ʟ Tab. 13: Konsonantentabelle nach dem Internationalen Phonetischen Alphabet ( IPA ). Quelle: http: / / www.internationalphoneticassociation.org/ content/ ipa-chart (zuletzt abgerufen 20. 02. 2017) <?page no="114"?> 114 4. Phonologischer Wandel Infobox 7b: Grundbegriffe der Phonologie und Phonetik (Forts.) Vokale werden ohne Behinderung des Luftstroms produziert und bilden (in aller Regel) den Kern einer Silbe (vgl. Skandera & Burleigh 2005: 31). Sie können nach drei Kriterien unterschieden werden: Mundöffnungsgrad, Zungenstellung und Lippenrundung. Sie lassen sich in einem sog. Vokaltrapez anordnen. Darin sind die Vokale zum größten Teil in Paaren angeordnet. Bei jedem Paar ist der links stehende Vokal ungerundet, der rechts stehende gerundet (Lippenrundung). Die Anordnung auf der horizontalen und auf der vertikalen Achse spiegelt die Zungenstellung wider (vgl. International Phonetics Association 1999: 10), wobei niedrige Zungenhöhe mit hohem Mundöffnungsgrad einhergeht und umgekehrt: Man nennt geschlossene Vokale auch hohe Vokale, weil die Zunge dabei zum harten Gaumen (Palatum) hin angehoben wird. Bei offenen Vokalen mit hohem Kieferöffnungsgrad hingegen wird die Zunge nicht angehoben. Die Anordnung der Vokale auf der waagerechten Achse entspricht der Zungenlage (vgl. Meibauer et al. 2015: 79). Hier ist die Frage entscheidend, welcher Teil der Zunge am stärksten angehoben wird: Bei Vorderzungenvokalen - oder kurz Vordervokalen - ist das die Zungenspitze, bei Hintervokalen der hintere Teil der Zunge, auch Zungenwurzel genannt. Bei Hintervokalen wölbt sich der Zungenkörper nach hinten (vgl. Skandera & Burleigh 2005: 31). Zwischen diesen Extrempositionen gibt es noch Mittelvokale, etwa das sog. Schwa in Brise, Mutter, das im Deutschen in unbetonten Silben sehr häufig ist. Vordervokale Mittelvokale Hintervokale geschlossen halbgeschlossen halboffen offen Fig. 13: Vokaltrapez nach dem Internationalen Phonetischen Alphabet ( IPA ). Quelle: http: / / www.internationalphoneticassociation.org/ content/ ipa-chart (zuletzt abgerufen 20. 02. 2017) <?page no="115"?> 115 4.1 Phonologischen Wandel verstehen Infobox 8: Sonorität und konsonantische Stärke Laute lassen sich auf einer sog. Sonoritätsskala anordnen: Während Vokale in hohem Maße sonor sind, also eine relativ hohe Klangfülle aufweisen, zeichnen sich Plosive durch eine sehr hohe konsonantische Stärke aus, also durch eine starke Verengung des Vokaltrakts (vgl. Fuhrhop & Peters 2013: 91). Die anderen Laute lassen sich auf der Skala zwischen diesen beiden Extremen anordnen, wie Fig. 13 zeigt. Der Halbvokal / j / steht den Vokalen im Blick auf seine Sonorität am nächsten, ebenfalls zu den Halbvokalen gehört / w / , das aber im nativen Wortschatz des Deutschen nicht vorkommt, sondern allenfalls in Lehnwörtern wie wireless (deutsches < w > entspricht / v / , vgl. Welt [ vɛlt ]). Nasale und Liquide bilden quasi die Mitte der Stärkeskala, sie stehen also gewissermaßen zwischen Vokalen und „prototypischen“ Konsonanten. Frikative und Plosive stehen am stark „konsonantischen“ Ende der Skala. An der Skala kann man gut erkennen, dass auch phonologische Kategorien wie „Vokal“ und „Konsonant“ letztlich als prototypisch organisierte Kategorien gesehen werden können (vgl. Nathan 1989): Einige Konsonanten teilen sich Eigenschaften mit Vokalen, andere sind „typische“ Konsonanten. Auch bei Vokalen gibt es Sonoritätsunterschiede: hohe Vokale sind weniger sonor als nicht-hohe Vokale. Fig. 14: Hierarchie der Sonorität bzw. der konsonantischen Stärke (nach Wegera & Waldenberger 2012). <?page no="116"?> 116 4. Phonologischer Wandel Infobox 9: Typen des Lautwandels Bei phonologischen Wandelprozessen unterscheidet man zwischen bedingtem oder konditioniertem Lautwandel und sog. spontanem oder unkonditioniertem Lautwandel. Bei spontanem Lautwandel verändert sich ein Laut in allen Kontexten, in denen er auftritt. Bei konditioniertem oder kombinatorischem Lautwandel hingegen hängt das Auftreten oder Ausbleiben eines Lautwandels vom phonologischen Kontext ab. So wird im Falle des sog. Primärumlauts im Ahd. / a / immer dann zu / e / , wenn ein / i / , / j / oder / u / folgt: wg. *slag-il > ahd. sleg-il ‚Schlegel‘ - aber: germ. *sla-ha > ahd. slahan ‚schlagen‘ Die 1. Lautverschiebung hingegen ist ein Beispiel für spontanen Lautwandel: Von einigen systematischen Ausnahmen abgesehen, vollzieht sich der Wandel von z. B. / b / zu / p / in allen Kontexten. Infobox 10: Anlaut, Inlaut, Auslaut Für viele Lautwandelprozesse - darunter die 2. Lautverschiebung - ist die Position eines Lautes im Wort relevant. Die Position am Wortanfang nennt man Anlaut, die Position am Wortende Auslaut. Die Position im Wortinneren heißt Inlaut (nicht zu verwechseln mit Anlaut! ). Denken Sie daran, sich nicht von der Schrift verwirren zu lassen: In einem Wort wie schön ist der Anlaut / ʃ / , nicht / s / . Auch ist es wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass es nur um die Position im Wort geht, nicht in der Silbe. In einem Wort wie schade / ʃa: də / bspw. gehört das / d / zwar zur letzten Silbe, aber nicht zum Auslaut. Der Auslaut ist nur das Schwa (/ ə / ). <?page no="117"?> 117 4.1 Phonologischen Wandel verstehen 4.1.1 Die Lautverschiebungen Die erste Lautverschiebung Durch die 1. Lautverschiebung unterscheiden sich die germanischen Sprachen von allen anderen indoeuropäischen Sprachen. Nach ihrem Entdecker Jacob Grimm wird dieser Lautwandelprozess international auch Grimm’s Law genannt 1 . Er betrifft vor allem Plosive (siehe Infobox 7a), also Laute, die gebildet werden, „indem der Mundraum völlig blockiert und dann wieder geöffnet wird“ (Meibauer et al. 2015: 77). Die von der 1. Lautverschiebung betroffenen Plosive lassen sich in drei Gruppen einteilen. Erstens werden die stimmlosen Plosive (Tenues) / p / , / t / und / k / zu den Frikativen (Reibelauten) / f / , / θ / und / x / bzw. / h / verschoben. Dabei steht / θ / für einen stimmlosen dentalen Frikativ wie in engl. thin, / x / für einen stimmlosen velaren Frikativ wie in Buch. Infobox 11: Tenuesverschiebung - Wird / k/ zu / χ / , / x/ oder / h/ ? In der Literatur zur 1. Lautverschiebung sind die Angaben dahingehend, zu welchem Laut / k / verschoben wird, uneinheitlich - teils wird / χ / angegeben, teils / x / oder / h / . Fortson (2010: 340) weist darauf hin, dass in den älteren germanischen Sprachen der Laut fast durchweg mit <h> wiedergegeben wird, weshalb er auch / h / als überzeugendste phonologische Rekonstruktion annimmt. Er räumt jedoch ein, dass viele Forscherinnen und Forscher hier einen stimmlosen velaren Frikativ rekonstruieren, also ein / x / - Fortson selbst schreibt jedoch χ , was laut IPA ein stimmloser uvularer Frikativ ist. Jedoch ist der Unterschied zwischen / χ / und / x / minimal. Im Deutschen sprechen wir den ach-Laut nach a uvular aus, z. B. Dach [ daχ ] (vgl. Drügh et al. 2012: 38). In anderen Kontexten sprechen wir ihn velar, z. B. Buch [ buːx ]. Allerdings sind sich die Laute so ähnlich, dass in vielen Darstellungen gar kein Unterschied zwischen ihnen gemacht und nur eines der beiden Symbole für beide Laute verwendet wird (z. B. findet sich bei Altmann & Ziegenhain 2007 nur das Symbol x für den ach-Laut). Zweitens werden die stimmhaften Plosive (Medien) / b / , / d / und / g / zu / p / , / t / und / k / verschoben. Drittens erfasst die 1. Lautverschiebung die aspirierten 1 Um genau zu sein, hatte Rasmus Kristian Rask bereits 1818 und damit einige Jahre vor Grimm auf die 1. Lautverschiebung hingewiesen (vgl. Putschke 1998: 477). <?page no="118"?> 118 4. Phonologischer Wandel Medien / b h / , / d h / und / b h / , die zu den stimmhaften Frikativen / β / , / ð / , / ɣ / verschoben werden. 2 Später entwickeln sich diese Laute zu / b / , / d / , / g / , fallen also mit den Produkten der Tenuesverschiebung zusammen. Gerade wer noch wenig mit Phonologie zu tun hatte, hat oft Schwierigkeiten, sich die „Zwischenstufe“, also die Laute / β / , / ð / , / ɣ / , vorzustellen, weil es im heutigen Standarddeutschen z. B. keine stimmhaften bilabialen Frikative gibt. Die Nähe von Plosiven zu Frikativen erschließt sich aber gerade Dialektsprecherinnen intuitiv-- so kann im Alemannischen Leber zu lewwer [ lɛːvɐ ] werden (vgl. Hansen 2002: 51). [ v ] ist ein labiodentaler Frikativ, d. h. der Laut wird mit Lippen und Zähnen gebildet. Lassen wir nun den Luftstrom nicht durch Zähne und Lippen entweichen, sondern ausschließlich durch die nur minimalst geöffneten Lippen, können wir uns vorstellen, wie der stimmhafte bilabiale Frikativ [ β ] klingt. Das [ ð ] hingegen ist uns geläufiger, weil wir es als stimmhaftes <th> aus dem Englischen kennen (together). [ ɣ ] schließlich ist das stimmhafte Pendant des ach-Lauts und findet sich z. B. im Niederländischen: gaan ‚gehen‘ [ ɣaːn ]. Einige Beispiele für die einzelnen Teilverschiebungen innerhalb der 1. Lautverschiebung sind in (13) angeführt. 3 Fig. 15 gibt einen Überblick über die 1. Lautverschiebung. (13) Tenuesverschiebung Ie. *pélu vgl. Gr. poly - Got. filu ‚viel‘ Ie. *tu vgl. Lat. tu - Got. þu ‚du‘ Ie. *k m̥ tóm vgl. Lat. centum - Got. hund ‚hundert‘ Ie. *k u̯ od vgl. Lat. quod - Ahd. (h)waz Medienverschiebung Lat. cannabis - Nhd. Hanf Ie. *dwōu vgl. Lat. duo - Got. twai ‚zwei‘ 2 Oft werden die stimmhaften Frikative in der Literatur als / ƀ / , / đ / , / ǥ / dargestellt (z. B. Ernst 2012: 67; Schmid 2013: 78); ich verwende stattdessen, um Verwirrung zu vermeiden, die entsprechenden Zeichen aus dem Internationalen Phonetischen Alphabet (IPA, s. Infobox 7b). 3 Die Beispiele stammen aus König (2011: 45) und Fourquet & Buschinger (2000: 11-15), die rekonstruierten ie. Grundformen wurden z.T. aus Kluge (2012) ergänzt. Teilweise gibt es aktuellere und detailliertere Rekonstruktionen, in denen z. B. verschiedene k- und h-Laute unterschieden werden, die ich hier allerdings nicht berücksichtige, da die Beispiele nur der Illustration dienen. <?page no="119"?> 119 4.1 Phonologischen Wandel verstehen Ie. * ǵ enuvgl. Lat. genu - Nhd. Knie Ie. *g u̯ em- - Ahd. queman ‚kommen‘ Verschiebung der aspirierten Medien Ie. *bhrator - Ahd. bruoder ‚Bruder‘ Ie. *dhwervgl. Gr. thýra - Engl. door ‚Tür‘ Ie. *ghostvgl. Lat. hostis - Ahd. gast ‚Gast‘ Ie. *gh u̯ honos - Ags. guð ‚Kampf ‘ Fig. 15: Überblick über die erste Lautverschiebung. Zwischen den einzelnen Teilverschiebungen lassen sich sog. Kettenwirkungen annehmen. In der englischsprachigen Forschung sind hierfür die Begriffe push chain und pull chain verbreitet, im Deutschen spricht man gelegentlich von Schub- und Sogwirkungen (vgl. z. B. Wells 1990: 93). Ein mögliches Szenario ist folgendes: Durch die Verschiebung von / p / , / t / und / k / entstand quasi eine Lücke im phonologischen System, die durch die Verschiebung von / b / , / d / und / g / zu / p / , / t / und / k / geschlossen wurde. Das hatte wiederum eine Lücke zur Folge, die durch die Verschiebung der aspirierten Medien geschlossen wurde. Allerdings ist die Frage, ob diese Reihenfolge die richtige ist, durchaus nicht unumstritten (vgl. Trask 2015: 89). Weil die Evidenz, auf die wir uns stützen können, so begrenzt ist, ist eine endgültige Antwort wohl nicht möglich. Dies gilt auch für die eng mit der Frage nach der relativen Chronologie der einzelnen Teilverschiebungen verbundenen Frage nach den Ursachen der 1. Lautverschiebung. Eine mögliche Erklärung ist der Sprachkontakt germanischer Stämme mit nicht-ie. Sprachen (vgl. z. B. Schmidt 2007: 43; Graefen & Liedke 2012: 30). Andere Erklärungsversuche stützen sich auf systeminterne Entwicklungen, wo- <?page no="120"?> 120 4. Phonologischer Wandel bei die 1. Lautverschiebung gelegentlich auch mit dem Wandel des Akzenttyps vom Tonhöhenzum Druckakzent (s. o. Kap. 3) in Verbindung gebracht wird (vgl. Schmidt 2007: 43; vgl. u. a. von Raumer 1837, Birkhan 1979 und Davenport & Staun 1983 für systemintern orientierte Erklärungsansätze). Jedoch gibt es einige systematische Ausnahmen von der 1. Lautverschiebung. So bleiben Tenues nach / s / unverschoben, vgl. z. B. ahd. spehōn ‚spähen‘ (nicht *sfehōn). Weiterhin werden / b / , / d / und / g / teilweise nicht zu / p / , / t / und / k / verschoben, sondern zu / β / , / ð / , / ɣ / . Jacob Grimm nannte dieses Phänomen den grammatischen Wechsel. Erst Verner (1877) fand eine lautgesetzliche Erklärung für dieses „räthsel“ (Verner 1877: 117): / p / , / t / , / k / werden dann zu den stimmhaften Frikativen / β / , / ð / , / ɣ / verschoben, wenn erstens der Akzent-- also der freie ie. Akzent, der von heutigen Betonungsmustern abweichen kann! - - nicht direkt davor liegt und zweitens der Laut in stimmhafter Umgebung steht. Unter denselben Bedingungen wird zudem das stimmlose / s / zu einem stimmhaften / z / (wie in engl. magazine). Fig. 16 fasst die Prozesse der 1. Lautverschiebung zusammen und bezieht zudem das „Vernersche Gesetz“ mit ein. Fig. 16: Erste Lautverschiebung und Vernersches Gesetz (gestrichelte Linien) im Überblick. Der Lautwandel bleibt hier allerdings nicht stehen. Noch vor der 2. Lautverschiebung, der wir uns gleich zuwenden, wandeln sich die Lautverschiebungsprodukte der Verschiebung der aspirierten Medien (sowie der Medienverschiebung mit Vernerschem Gesetz), also die stimmhaften Frikative / β / , / ð / und / ɣ / , zu / b / , / d / und / g/ . Das stimmhafte / z / , das aus dem Vernerschen Gesetz resultiert, wird über den sog. westgermanischen Rhotazismus (s. o. 3.1.3) zu / r / . Ein Relikt dieser unterschiedlichen Entwicklungspfade sehen wir heute im Flexionsparadigma von engl. to be, wo die 1. und 3. Person Singular Präteritum was lautet, die 2. Person Singular Präteritum hingegen were. Im Deutschen lässt sich mit dem Vernerschen Gesetz z. B. der Unterschied zwischen ziehen und Zug oder zwischen frieren und Frost erklären. <?page no="121"?> 121 4.1 Phonologischen Wandel verstehen Die zweite Lautverschiebung Die 2. Lautverschiebung wird auch hochdeutsche Lautverschiebung genannt, denn sie trennt das Hochdeutsche-- wiederum im sprachgeographischen Sinne, nicht im Sinne von „Standardsprache“-- von allen anderen germanischen Sprachen und auch vom Niederdeutschen. Die Unterschiede zwischen Nieder- und Hochdeutsch werden schnell klar, wenn man einen Blick auf einen niederdeutschen Text wirft. Nehmen wir zum Beispiel diesen Ausschnitt aus dem Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“ 4 : (14) Do köhm se in de Booshait, de Hoor flögen eher so wild üm den Kopp, do reet se sik dat Lyfken up un geef em eens mit dem Foot un schreed ›ik holl dat nich uut, un holl dat nich länger uut, wult du hengaan? , Do slööpd he sik de Büxen an un leep wech as unsinnig. Denkpause Überlegen Sie, welche Wörter im Hochdeutschen Kopp, sik, up, Foot, uut, dat und leep entsprechen. Vokabel-Hinweise: opreeten = aufreißen, Lyfken = Leibchen, slööpd = schlüpfte. Können Sie ein Muster erkennen, wie sich die Tenues / p / , / t / , / k / und die Medien / b / und / d / im Hochdeutschen entwickelt haben? Wie bei der 1. Lautverschiebung unterschiedet man auch bei der 2. Lautverschiebung mehrere Teilverschiebungen, nämlich Tenuesverschiebung und Medienverschiebung. Unter (15) sind Beispiele für die 2. Lautverschiebung (nach Sonderegger 1979: 128 f. und Schmid 2013: 83 f.) aufgelistet, Fig. 17 bietet einen Überblick über die beiden Teilverschiebungen. In Anlehnung an Krahe & Meid (1961: 136) ist in Fig. 17 auch die sog. Spirantenschwächung des 9./ 10. Jh. mit einbezogen, die zwar i. d. R. nicht zur 2. Lautverschiebung gerechnet wird, die aber von Interesse ist, wenn man die 2. Lautverschiebung gleichsam als „Fortsetzung“ der ersten sieht und sich fragt, was eigentlich aus den Lautverschiebungsprodukten der Tenuesverschiebung in der 1. Lautverschiebung geworden ist. Denn Tenues- und Medienverschiebung erfassen ja die Produkte der Medienverschiebung sowie der Verschiebung der aspirierten Medien aus 4 Zit. nach http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ die-schonsten-kinder-und-hausmarchen-6248/ 48 (abgerufen am 17. 03. 2017). <?page no="122"?> 122 4. Phonologischer Wandel der 1. Lautverschiebung, auch wenn Letztere sich nach der 1. Lautverschiebung noch von Frikativen zu Plosiven gewandelt haben (/ β / , / ð / , / ɣ / > / b / , / d / , / g / ). (15) Tenuesverschiebung Spirantisierung: germ. *lētan > ahd. lā ʒ an (vgl. engl. let) germ. *opana > ahd. offan (vgl. engl. open) germ. *taikn- > ahd. zeihhan (vgl. engl. token) Affrizierung: germ. *holta > ahd. holz (vgl. engl. holt in Eigennamen wie Northolt) germ. *satjan > vorahd. *sattjan > ahd. sezzen (vgl. engl. set) germ *korna > ahd. frank. korn, obd. chorn Medienverschiebung germ. *weraldi- > ahd. welt (vgl. engl. world) germ. *beug-, *būg- > ahd. fränk. biogan, obd. piukan ‚biegen‘ Beispiele für die Spirantenschwächung sind in (16) angegeben. Im Falle der Verschiebung von f hat es sich wohl nur um ein temporäres Phänomen gehandelt, das wieder zurückgenommen wurde, aber sich bis heute in der Schrift niederschlägt: Heute sprechen wir in Vogel und schlafen das gleiche / f / . Die Verschriftung mit <v> legt allerdings nahe, dass hier früher ein deutlich hörbarer Unterschied bestand; man geht davon aus, dass der Laut dort stimmhaft geworden ist, ähnlich wie im heutigen Niederländischen mit stimmhaftem / v / in vliegen, vragen etc. (vgl. Nübling et al. 2013: 217). (16) Spirantenschwächung (früh)ahd. fugal > mhd. vogel germ. * θ urnu > ahd. dorn (vgl. engl. thorn) wg. * χ elpan > ahd. helpfan <?page no="123"?> 123 4.1 Phonologischen Wandel verstehen Fig. 17: Überblick über die 2. Lautverschiebung, in Anlehnung an Sonderegger (1979: 128) und Krahe & Meid (1961: 136). Zusätzlich zu den beiden Teilverschiebungen der 2. Lautverschiebung ist noch die Verschiebung der stimmlosen Spiranten dargestellt. Während die 1. Lautverschiebung im Deutschen und auch in den anderen germanischen Sprachen konsequent durchgeführt ist- - abgesehen von den genannten systematischen Ausnahmen wie dem Vernerschen Gesetz--, ist die 2. Lautverschiebung geographisch gestaffelt. Die daraus resultierende unterschiedliche Verteilung der einzelnen Laute ist eines der wesentlichen Merkmale für die Einteilung der deutschen Dialekträume. So ist zwar die Verschiebung von t im gesamten deutschen Sprachraum eingetreten, bei p hingegen gibt es Unterschiede: Im Mittelfränkischen zum Beispiel sagt man Appel, im Südrheinfränkischen Apfel. Die Affrizierung k > [ kχ ] ist sogar nur in einem sehr kleinen Teil des deutschen Sprachraums durchgeführt, nämlich im Oberdeutschen (vgl. Schweizerdeutsch Dan[ kχ ]e oder Tierpar[ kχ ]). Darüber hinaus ist im Ostmitteldeutschen p auch im Anlaut zu f verschoben, anderswo nur zu pf (vgl. Wolf 1983: 1117) 5 . Insgesamt ist die 2. Lautverschiebung im Süden des deutschen Sprachgebiets am stärksten durchgeführt, im Niederdeutschen im Norden dagegen gar nicht. Fig. 18 zeigt die für die Dialektgeographie besonders wichtige Auffächerung im rheinischen Raum, den sog. Rheinischen Fächer. Deutlich hervorgehoben ist in Fig. 18 die Benrather Linie, die das Niederdeutsche vom Hochdeutschen trennt. Eine solche Dialektgrenze nennt man Isoglosse. An den in der Karte genannten Beispielen wird deutlich, dass oberhalb der Benrather Linie die Tenuesverschiebung nicht durchgeführt ist: appel, maken, dat. Im Mitteldeutschen ist sie teilweise durchgeführt: machen, Dorf, das, aber: appel, pund (bzw. fund im Ostmitteldeutschen, wie oben erwähnt). Innerhalb des Mitteldeutschen verlaufen die Eifel-Schranke (dorp/ dorf), die das Niederfränkische vom Mittelfränki- 5 In omd. Dialekten heißt es daher auch: Das Pferd heißt Pferd, weil’s fährt. <?page no="124"?> 124 4. Phonologischer Wandel schen trennt, und die Hunsrück-Schranke oder Bacharacher Linie (dat/ das), die das Mittelfränkische vom Rheinfränkischen trennt. Eine weitere Isoglosse, die Germersheimer Linie, trennt das Mitteldeutsche vom Oberdeutschen. Südlich der Germersheimer Linie sind fast alle Teilverschiebungen durchgeführt, abgesehen von der Verschiebung von k im Anlaut und nach Konsonant (Kind, denken). Diese Verschiebung ist im Südalemannischen durchgeführt; die dazugehörigen Isoglossen gehören nicht mehr zum Rheinischen Fächer, nämlich zum einen die Sundgau-Bodensee-Schranke (Kind/ Chind) und zum anderen die Schweizerdeutsche nk-Schranke (denken/ denkchen). Oberdeutsch Hochdeutsch Mitteldeutsch Niederdeutsch Rheinischer Fächer ik ich maken machen dorp dorf dat das ik maken dorp dat appel pund ich machen dorf das appel pund ich machen dorf das apfel pfund Uerdinger Linie Benrather Linie Eifel- Schranke Hunsrück- Schranke Germersheimer Linie Fig. 18: „Rheinischer Fächer“ in Anlehnung an Niebaum & Macha (2014: 113). Laut Sonderegger (1979: 128) ist bei der Tenuesverschiebung zudem von einer zeitlichen Staffelung der einzelnen Verschiebungen auszugehen. Die Verschiebung von / t / datiert er ins 5./ 6. Jh., die von / p / ins 6./ 7. und die von / k / ins 7./ 8. Jh. Allerdings gibt es zum Alter der 2. Lautverschiebung und zur relativen Chronologie der einzelnen Teilverschiebungen unterschiedliche Auffassungen. Wolf (1981: 33) bezeichnet die 2. Lautverschiebung als „eines der am besten er- <?page no="125"?> 125 4.1 Phonologischen Wandel verstehen forschten und am heftigsten diskutierten Phänomene des frühmittelalterlichen Deutsch“. Zu den umstritteneren Punkten zählt die Frage nach dem Verhältnis von 1. und 2. Lautverschiebung. Sonderegger (1979: 138) kommt zu dem Schluss, daß die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung, welche das Deutsche seit vor- und frühalthochdeutscher Zeit so entscheidend von den übrigen germanischen Sprachen hat wegentwickeln lassen, nichts anderes ist als die Wiederholung des gleichen Veränderungsprinzips, wie es schon in der gegen tausend Jahre vorausgehenden ersten oder germanischen Lautverschiebung-[…] wirksam war, übrigens mit fast den gleichen Ausnahmen. Insbesondere betont Sonderegger (1979: 138) die „gleichgerichteten Veränderungsvorgänge“ Tenues > Spiranten und Medien > Tenues. Demgegenüber werden in anderen Ansätzen die Unterschiede zwischen 1. und 2. Lautverschiebung betont. Ohnehin handelt es sich aber bei den Termini 1. Lautverschiebung und 2. Lautverschiebung letztlich um Sammelbezeichnungen für unterschiedliche Lautwandelprozesse (vgl. Vogel 2012: 24), auch wenn zwischen diesen Prozessen teilweise Zusammenhänge etwa in Form von Schub- und Sogwirkungen angenommen werden können. Zum Weiterlesen Eine umfassende, aber auch anspruchsvolle und teils streitbare (vgl. Salmons 2007) Studie zu Lautverschiebungen in den germanischen Sprachen bietet Goblirsch (2005). Dort werden auch verschiedene Erklärungen der 1. und 2. Lautverschiebung diskutiert- - ein Aspekt, der hier nur angerissen werden konnte. Schwerdt (2000) befasst sich eingehend mit der 2. Lautverschiebung. Aufgaben 1. Welche der folgenden Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Lateinischen lassen sich nicht mit der 1. Lautverschiebung erklären? lat. piscis - dt. Fisch lat. edere - dt. essen lat. frater - dt. Bruder lat. frater - dt. Bruder <?page no="126"?> 126 4. Phonologischer Wandel 2. Welche der folgenden Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Englischen lassen sich nicht mit der 2. Lautverschiebung erklären? engl. tooth - dt. Zahn engl. pipe - dt. Pfeife engl. was - dt. war engl. tug - dt. ziehen 4.1.2 Ablaut und Umlaut Wer kein Sprachwissenschaftler ist, denkt bei dem Wort Umlaut vermutlich zunächst an die Grapheme <ä>, <ö> und <ü>. In der Linguistik versteht man unter Umlaut jedoch einen Lautwechsel. Umlautprozesse und ihre Auswirkungen ziehen sich durch die gesamte deutsche Sprachgeschichte, weshalb Sonderegger (1979) sie zu seinen „Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache“ zählt. Darunter versteht er eine in der Diachronie des Deutschen nicht nur über kürzere oder längere Zeit hin wirksame, sondern durch die gesamte deutsche Sprachgeschichte von Sprachstufe zu Sprachstufe immer wieder hervortretende Veränderungstendenz im Sinne einer-[…] im Sprachsystem unablässig wirksamen Entfaltung. (Sonderegger 1979: 218) Der Umlaut begegnet uns heute beispielsweise in Pluralformen wie Mütter oder in Komparativformen wie dümmer. Noch weitaus älter als der Umlaut ist jedoch der Ablaut, dessen Wurzeln bis ins Ie. reichen, wie eine Fülle von Übereinstimmungen zwischen den ie. Sprachen zeigt (vgl. Meier-Brügger 2010: 275 f.). In Einführungen werden Ablaut und Umlaut meist in chronologischer Reihenfolge behandelt. Hier wollen wir diese Reihenfolge jedoch umkehren, da der Umlaut, dessen diachrone Entwicklung wir empirisch nachvollziehen können, uns möglicherweise Aufschluss darüber geben kann, wie sich der Ablaut in jenen Sprachstufen entwickelt haben könnte, von denen uns keine Zeugnisse vorliegen. Umlaut: Wg. Hebung und Sekung, Primär- und Sekundärumlaut Umlautprozesse ziehen sich wie ein roter Faden durch die deutsche Sprachgeschichte. Bereits im Westgermanischen finden eine sogenannte Hebung und eine sog. Senkung statt. Im Zuge der wg. Hebung wird e zu i, und zwar vor i, j <?page no="127"?> 127 4.1 Phonologischen Wandel verstehen oder u in der Folgesilbe, z.B. ie. *esti > wg. *isti > ahd. ist. i, j und u fungieren, wie wir noch sehen werden, bei mehreren Umlautprozessen als Umlautauslöser. Wie ist das zu erklären? Ein Blick aufs Vokaltrapez (Fig. 14) zeigt, dass es sich um eine Angleichung handelt, eine sogenannte Assimilation-- die Laute werden einander ähnlicher. Beim / e / ist die Zunge niedriger als bei / i / , / j / und / u / . Durch die Hebung zu / i / wird der Vokal bezüglich des artikulatorischen Merkmals „hoch“ an den Vokal in der Folgesilbe angeglichen. Umgekehrt verhält es sich bei der wg. Senkung, bei der i > e und u > o gesenkt werden, und zwar vor a, e oder o in der Folgesilbe, z. B. germ *wulfaz > ahd. wolf. Auch hier handelt es sich um eine Assimilation. Weil der Umlautauslöser dem Umlautvokal folgt, spricht man von einer regressiven, also rückwärtsgerichteten, Assimilation. Weil der Umlautauslöser dem Umlautvokal nicht direkt folgt, sondern in der nächsten Silbe steht, spricht man von einer Fernassimilation. Schließlich unterscheidet man noch zwischen totaler und partieller Assimilation. Im Falle von e > i vor i und u > o vor o wird der Vokal vollständig an den Umlautauslöser angeglichen, es handelt sich also um eine totale regressive Fernassimilation. Im Falle von e > i vor j oder u und im Falle von u > o vor a oder e nähert sich der Umlautvokal dem umlautauslösenden Vokal zwar an, allerdings erfolgt keine vollständige Angleichung. Daher spricht man hier von einer partiellen regressiven Fernassimilation. Zwei weitere Umlautprozesse sind ins (Vor-)Ahd. zu datieren. Im Primärumlaut, auch ahd. i-Umlaut genannt, sieht Penzl (1949: 223) den wichtigsten vokalischen Lautwandel des Ahd. Auch hier handelt es sich um eine partielle regressive Fernassimilation, denn wg. (kurzes) a wird zu e verschoben, wenn i, j oder langes ī in der Folgesilbe stehen, z. B. vorahd. du fáris > ahd. du féris ‚du fährst‘ (vgl. Vogel 2012: 30). Allerdings gibt es einige Konsonantengruppen, vor denen der Primärumlaut ausbleibt, z. B. ht, hs, r+Konsonant, l+Konsonant (vgl. Vogel 2012: 31; Braune & Reiffenstein 2004: 29 f.). Erst später wird a im Zuge des sog. Restumlauts auch in diesen Positionen umgelautet, z. B. mahtig > mehtic. Der Restumlaut wird bisweilen als eigenständiger Prozess behandelt (z. B. bei Birkhan 1985: 89 f.; Hennings 2012: 60; Vogel 2012: 36), bisweilen als Teil des Sekundärumlauts (z. B. bei de Boor & Wisniewski 1998: 55). Im Zuge des Sekundärumlauts werden auch alle anderen umlautfähigen Vokale umgelautet, also langes ā zu [ æ: ], o zu ö [ ø ], langes ō zu [ ø: ], u zu ü [ ʏ ], langes ū zu [ y: ] und entsprechend bei den Diphthongen ou > öu und uo > üe. Beispiel: ahd. hōhir > mhd. höher. Die Begriffe Primär- und Sekundärumlaut deuten auf die angenommene Abfolge der Umlaute hin-- während sich Belege <?page no="128"?> 128 4. Phonologischer Wandel für den Primärumlaut in ahd. Textzeugnissen finden, ist der Sekundärumlaut erst in mhd. Textzeugnissen belegt. Allerdings geht man mittlerweile davon aus, dass der Sekundärumlaut schon im Ahd. gesprochen, aber noch nicht verschriftlicht wurde (vgl. z. B. Schmid 2013: 67 f.). Viele Forscherinnen und Forscher nehmen sogar an, „dass Primär- und Sekundärumlaut zur gleichen Zeit stattfanden.“ (Nübling 2013: 16) Mit anderen Worten: Es gibt nach dieser Hypothese keinen Unterschied zwischen Primär- und Sekundärumlaut, es handelt sich um das gleiche Phänomen (vgl. Schulze 2010: 39)-- der Unterschied besteht lediglich im Zeitpunkt der Verschriftung. Dass der Sekundärumlaut erst spät verschriftet wurde, lässt sich damit erklären, dass er im Ahd. noch nicht bedeutungsunterscheidend war: „Die Sprecher (und Schreiber) des Althochdeutschen empfanden die Umlaute noch als Varianten (Allophone) der entsprechenden nicht umgelauteten Vokale“ (Schmid 2013: 67 f.), grob vergleichbar etwa mit den verschiedenen r-Varianten im heutigen Deutschen (Zungenspitzen-r [ ʀ ] vs. „rollendes“ Gaumenzäpfchen-r [ r ]). Dass Laute wie [ ø ] und [ ʏ ] nicht bedeutungsunterscheidend waren, liegt schlichtweg daran, dass es sie vorher im Deutschen nicht gab: Der Umlaut hat nämlich zu einer beträchtlichen Erweiterung des deutschen Lautsystems geführt. Hingegen waren Laute wie / a / und / e / - unabhängig vom Primärumlaut-- bereits in einigen Kontexten bedeutungsunterscheidend, etwa in Minimalpaaren wie ahd. halm vs. helm (vgl.Voyles 1994: 251). Die maßgeblich auf Twaddell (1938) zurückgehende „Standardtheorie“ des ahd. i-Umlauts, wonach der Unterschied zwischen Primär- und Sekundärumlaut ein rein graphematischer ist, wird in der historischen Linguistik weithin akzeptiert, wurde allerdings auch kritisch hinterfragt. Auf ein Argument, das Voyles (1991) anführt, lohnt es sich näher einzugehen, da es unmittelbar mit den Prinzipien der wissenschaftlichen Methode zusammenhängt, die wir in Kap. 2.2 kennengelernt haben. Methodologischer Exkurs: Zur Falsifizierbarkeit der „Standardtheorie“ der Umlaut-Chronologie Voyles (1991) sieht ein Grundproblem der „Standardtheorie“, wonach der Sekundärumlaut bereits im Ahd. auftritt, aber erst im Mhd. verschriftlicht wird, in ihrer Nicht-Falsifizierbarkeit. Das Argument der „Standardtheorie“ geht folgendermaßen: <?page no="129"?> 129 4.1 Phonologischen Wandel verstehen 1. Beobachtung: Im Ahd. ist der Primärumlaut verschriftet, erst im Mhd. der Sekundärumlaut aller anderen umlautfähigen Vokale. 2. Problem: Die umlautauslösenden Kontexte sind im Mhd. zum großen Teil bereits geschwunden. 3. Lösung: Primärumlaut und Sekundärumlaut fanden zur gleichen Zeit statt, allerdings wurde nur der Primärumlaut verschriftet, weil einzig / a / vs. / e / keine komplementär distributierten Allophone sind (s. Infobox 7a), sondern Phonemstatus haben. Voyles kritisiert nun, dass gerade die Tatsache, dass es eben keine schriftlichen Zeugnisse für den Umlaut von anderen Vokalen als / a / gibt, als Evidenz für die Annahme herangezogen wird, dass ein Umlaut stattgefunden hat (vgl. Voyles 1991: 192). Allerdings verzerrt diese Darstellung das eigentliche Argument etwas, denn es ist ja nicht das Nichtvorhandensein verschrifteter Umlaute allein, das als Evidenz für das oben dargestellte Szenario gilt, sondern das Vorhandensein von Verschriftungen des Primärumlauts in Kombination mit dem Nichtvorhandensein von Verschriftungen des Sekundärumlauts in Kombination mit der Beobachtung, dass die umlautauslösenden Elemente im Mhd. bereits nicht mehr vorhanden waren. Dennoch ergibt sich aus diesen Überlegungen eine wichtige Grundsatzfrage: Genügt die „Standardtheorie“ wissenschaftlichen Prinzipien-- oder handelt es sich, überspitzt gesagt, um wilde Spekulation? Schulze (2010: 43) begegnet diesem Problem, indem er den falsifikationistischen Anspruch relativiert. Da es ohnehin keinen direkten Zugriff auf die Aussprache des Ahd. gebe, sei „die selbst auferlegte Restriktion des Falsifikationismus unnötig und verfehlt.“ Mir scheint, dass hier auf beiden Seiten ein Missverständnis des falsifikationistischen Ansatzes vorliegt. Auf der einen Seite ist es verfehlt, der „Standardtheorie“ die Wissenschaftlichkeit abzusprechen, weil es sich nicht um eine falsifizierbare Hypothese handelt. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, zu sagen, dass die Evolutionstheorie oder die Urknalltheorie keine wissenschaftlichen Theorien seien, auch wenn sich einige ihrer Annahmen nicht letztgültig widerlegen lassen. Der entscheidende Punkt ist, dass sie einen Theorierahmen bilden, innerhalb dessen sich falsfizierbare Hypothesen formulieren und überprüfen lassen. Dieses Theoriegebäude wird, um die Metapher fortzuführen, zwar nie vollendet sein, aber jede falsifizierbare Hypothese, die sich empirisch untermauern lässt, bildet einen wichtigen Baustein. Dabei lässt sich nicht ausschließen, dass irgendwann ein anderes Theoriegebäude errichtet wird, in das die Bausteine besser passen und in das auch mehr Bausteine <?page no="130"?> 130 4. Phonologischer Wandel passen. Gleichzeitig kann keine ernstzunehmende Theorie ohne diese „Bausteine“ existieren. Schulzes Argument, der falsifikationistische Anspruch sei „unnötig und verfehlt“, ist daher ebenso problematisch wie Voyles’ vorschneller Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit. Bezeichnenderweise untermauert Schulze (2010: 44 und passim) seine Verteidigung der „Standardtheorie“ auch mit Argumenten, die sich durchaus problemlos in falsifizierbare Hypothesen überführen lassen, zum Beispiel damit, dass auch „in den heutigen Schreibsystemen nicht alle allophonischen Variationen wiedergegeben werden.“ Somit ist die „Standardtheorie“ zwar nicht unmittelbar falsifizierbar, doch lassen sich daraus eine Reihe falsifizierbarer Hypothesen ableiten, die, wenn sie empirisch bestätigt werden können, die Theorie untermauern. Von der Phonologie in die Morphologie: Zur Funktionalisierung des Umlauts Unabhängig davon, ob Primär- und Sekundärumlaut nun gleichzeitig oder nacheinander stattfanden, ist unbestritten, dass der ahd. i-Umlaut letztlich das morphologische System des Deutschen tiefgreifend beeinflusste. Im heutigen Deutschen ist der Umlaut unabhängig vom phonologischen Kontext: Mutti wird nicht zu *Mütti, obwohl ein i folgt, und die Pluralform Mütter kann ich nicht mit nicht-umgelautetem [ u ] aussprechen, ohne die Bedeutung zu ändern. Der Umlaut hat sich also von einem ursprünglich phonologisch bedingten Phänomen zu einem morphologischen Marker entwickelt, der v. a. Plural anzeigt, aber auch in der Adjektivsteigerung sowie der Konjunktivbildung starker Verben zum Einsatz kommt (vgl. Nübling et al. 2013: 260). Die Alternation von nicht-umgelautetem und umgelautetem Vokal wird „systematisiert und funktionalisiert“ (Wegera & Waldenberger 2012: 102). Während andere Sprachen wie das Englische, Niederländische oder Schwedische den Umlaut eliminiert haben (engl. old- - elder > old- - older, vgl. Nübling 2013), wurde er im Deutschen zunächst phonologisiert und dann morphologisiert. Phonologisierung bedeutet, dass umgelautete und nicht-umgelautete Form keine Allophone mehr sind, sondern bedeutungsunterscheidende Funktion erlangen. Wenn wir davon ausgehen, dass der Sekundärumlaut tatsächlich schon im Ahd. gesprochen, aber noch nicht verschriftlicht wurde, haben wir dort z. B. die Alternation wurm (‚Wurm‘ Singular, mit [ u ]) und wurmi, gesprochen [ wyrmi ] ‚Würmer‘. Durch die Nebensilbenabschwächung wird das [ i ] anschließend reduziert, d. h. der Umlautauslöser fällt weg. Dass der Umlaut trotzdem erhalten bleibt, ist ein <?page no="131"?> 131 4.1 Phonologischen Wandel verstehen Zeichen dafür, dass er im Bewusstsein der Sprecherinnen und Sprecher schon nicht mehr als Allophon wahrgenommen wird (vgl. Ronneberger-Sibold 1990). Die Phonologisierung des Umlauts „findet in unterschiedlichem Maße und zu verschiedenen Zeiten statt“ (Wells 1990: 100). Daraus erklärt sich auch, dass der Umlaut z. B. in süddeutschen Dialekten bis heute z.T. weniger stark vertreten ist als in der Standardsprache, vgl. sie schlaft, er tragt (vgl. Wells 1990: 100). Von einer Morphologisierung des Umlauts kann man sprechen, sobald der Umlaut analogisch, also ähnlichkeitsbasiert, auf Wortformen übertragen wird, in denen nie ein Umlautauslöser stand, z. B. Häuser, Wälder, Bäume (vgl. von Polenz 2000: 87). Sehr deutlich zeigt sich die Funktionalisierung des Umlauts z. B. im Deklinationsparadigma von Kraft, das in Tab. 14 dargestellt ist. Im Ahd. finden sich umgelautete Formen auch im Singular, und zwar im Genitiv und im Dativ. Das ist darauf zurückzuführen, dass hier der Umlautauslöser / i / genauso vorhanden ist wie in allen Pluralkasus. Im Mhd. hingegen findet allmählich ein Ausgleich statt. Eine Zeitlang existieren im Gen. und Dat. krefte und kraft parallel, aber die nicht-umgelautete Form setzt sich durch. Dies zeigt auch eine Korpusrecherche im Referenzkorpus Mittelhochdeutsch ( REM ). Fig. 19 zeigt die relativen Frequenzen aller Tokens, die im REM als kraft lemmatisiert und in der Kategorie infl (für inflection ‚Flexion‘) als Gen.Sg. oder Dat.Sg. getaggt sind. Bis auf einige Ausreißer insbesondere in Zeitschnitten mit nur sehr wenigen Belegen wird hier sehr schön deutlich, wie sich das Singular-Paradigma allmählich zugunsten der nicht-umgelauteten Form verschiebt. Ahd. Mhd. Sg. Pl. Sg. Pl. Nom. kraft krefti kraft krefte Gen. krefti kreftio krefte / kraft krefte Dat. krefti kreftim krefte / kraft kreften Akk. kraft krefti kraft krefte Tab. 14: Deklinationsparadigma von kraft im Ahd. und Mhd. (nach Stricker et al. 2016: 140). <?page no="132"?> 132 4. Phonologischer Wandel 6 2 1 2 39 23 11 9 22 35 1 2 5 77 1 5 1 12 86 1 7 0% 25% 50% 75% 100% 11,2-12,1 12 12,1 12,2 12,2-13,1 13,1 13,1-13,2 13,2 13,2-14,1 14 14,1 14,1-14,2 14,2 Zeit Anteil mit <a> Ja Nein Kraft, REM Fig. 19: Verteilung von umgelauteten (ohne <a>) und nicht-umgelauteten (mit <a>) Formen des Lexems Kraft im Gen. und Dat. Sg. im Referenzkorpus Mittelhochdeutsch. Die Zeitangaben sind wie folgt zu lesen: 11,2 bedeutet „2. Hälfte 11. Jh.“, demnach bedeutet „11,2-12,1“, dass die hier erfassten Texte in der 2. Hälfte des 11. Jh. oder der 1. Hälfte des 12. Jh. zu datieren sind. Bevor sich die klare „Arbeitsteilung“ zwischen nicht-umgelauteter Form (Singular) und umgelauteter Form (Plural) durchgesetzt hat, existierten also zunächst die unterschiedlichen Varianten nebeneinander. Im Bereich der Pluralbildung und der Adjektivsteigerung gibt es auch in der Standardsprache bis heute Schwankungsbzw. Zweifelsfälle, z. B. die Wagen vs. die Wägen, krummer vs. krümmer (vgl. Nübling 2010: 16). Bei Sprecherinnen und Sprechern führt das manchmal zu sprachlichen Unsicherheiten, wie z. B. folgender Beitrag auf dem Internetportal gutefrage.net zeigt 6 : (17) Da einige kollegen immer Wägen sagen, und ich der meinung bin das es Wagen nicht im Plural Wägen heisst, wollte ich mal euch fragen was meint ihr dazu? 6 Quelle: https: / / www.gutefrage.net/ frage/ wagen-im-plural, zuletzt abgerufen am 30. 05. 2017. <?page no="133"?> 133 4.1 Phonologischen Wandel verstehen Solche Zweifelsfälle entstehen, weil der Umlautplural einige, aber eben nicht alle umlautfähigen Pluralformen erfasst hat und sich seine Produktivität z.T. auch diatopisch (also zwischen unterschiedlichen Sprachräumen) unterscheidet. Eine der Antworten bei gutefrage.net auf die in (17) genannte Frage weist ganz richtig darauf hin, dass im süddeutschen Raum Wägen verbreiteter sei: Gerade im Ostoberdeutschen spielte und spielt nämlich die Pluralmarkierung durch Umlaut aufgrund der starken e-Apokope (also des Wegfalls des--e im Auslaut) eine wichtige Rolle, z. B. Täg (statt Tage). Heute ist der Pluralumlaut mit Ausnahme von fachsprachlichen Bezeichnungen wie Stähle oder Läger allerdings nicht mehr produktiv (vgl. Wegera & Waldenberger 2012: 165). Ablaut Unter Ablaut versteht man den systematischen Wechsel bestimmter Vokale in etymologisch verwandten Wörtern und Wortformen (vgl. Bußmann 2008: 2). Der Begriff Ablaut geht auf Jacob Grimms erstmals 1819 erschienene „Deutsche Grammatik“ zurück (vgl. Schmid 2013: 118), wo er den Ablaut wie folgt beschreibt: Zufolge bestimmter, in den innersten bau unserer sprache verflochtener gesetze lösen sich in den wurzeln selbst und ohne daß dazu eine auf der endung beruhende veranlaßung nöthig wäre, vocallaute einander ab. (Grimm 1822: 10) Auch wenn Grimms Metaphorik aus heutiger Sicht etwas blumig anmutet, macht er auf einen wichtigen Unterschied zwischen dem Ablaut und Umlaut aufmerksam. Während es sich beim Umlaut um einen zunächst rein phonologisch konditionierten Wandel handelt (s. o. Infobox 9), erfüllte der Ablaut bereits im Ie. morphologische Funktion (vgl. Nübling et al. 2013: 244). Um uns diesen wichtigen Unterschied genauer klarzumachen, sehen wir uns in (18) jeweils ein Beispiel aus dem Ahd. an. (18) Ablaut ahd. ih rīte ‚ich reite‘ - ih reit ‚ich ritt‘ Umlaut ahd. lamb ‚Lamm‘ - lembir ‚Lämmer‘ ahd. lang ‚lang‘ - lengiro ‚länger‘ Beim Umlaut ist es das / i / , das in den unter (18) genannten Beispielen den Wechsel von / a / zu / e / auslöst. Es handelt sich also um ein Paradebeispiel für <?page no="134"?> 134 4. Phonologischer Wandel bedingten oder kombinatorischen Lautwandel. Dass allein der phonologische Kontext für den Lautwechsel verantwortlich ist, zeigt sich u. a. daran, dass er in ganz unterschiedlichen Bereichen auftritt-- bei Verben genauso wie bei Substantiven und Adjektiven. Auch der Ablaut tritt in unterschiedlichen Bereichen auf, außer in der Verbflexion z. B. auch in der Wortbildung (Ritt zu reiten; Floß zu fließen), allerdings handelt es sich beim Ablaut schon im Ahd. nicht (mehr) um phonologisch bedingte Alternanzen. Anders als der Umlaut, der seine morphologische Funktion im Laufe der deutschen Sprachgeschichte erst entwickelt, ist der Ablaut bereits zu Beginn der deutschen Sprachgeschichte morphologisiert. Jedoch wird angenommen, dass auch der Ablaut ursprünglich-- in Vorstufen des Ie.-- lautlich bedingt war (vgl. Mailhammer 2007a,b). Beim quantitativen Ablaut, der die Vokallänge betrifft (z. B. rītan ‚reiten‘, kurzes / i / -- ritum ‚ritten‘, langes / i: / ), geht man davon aus, dass er auf Vokalreduktion in unbetonten Silben bei einem (noch frei beweglichen) Druckakzent zurückgeht (vgl. Mailhammer 2007a: 19; Nübling et al. 2013: 244). Für den qualitativen Ablaut, also den Wechsel der Vokalqualität z. B. bei nehmen vs. nahm, gibt es verschiedene Erklärungsmuster: Einige Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass der musikalische Akzent des Ie. eine Rolle gespielt hat, während andere die lautliche Umgebung für entscheidend halten (vgl. Mailhammer 2007a: 18). Meier-Brügger (2010: 282) argumentiert daher, dass der Ablaut im Ie. als morphonologisches Phänomen anzusehen ist, also als Phänomen „zwischen“ Morphologie und Phonologie. Er vergleicht ihn mit dem Komparativsuffix--er in länger oder dünner, bei dem es sich auch um „eine auf die morphologische Erscheinung ‚Komparativ‘ beschränkte Regel [handelt], die jedoch lautlichen Ursprung hat“, da sie auf den ursprünglich rein phonologisch bedingten Umlaut zurückzuführen ist. Der Ablaut im Flexionssystem der starken Verben Der Ablaut spielt, wie erwähnt, unter anderem in der Wortbildung eine Rolle, und zwar in der sog. impliziten Derivation (springen- - der Sprung; klingen- - der Klang, vgl. Motsch 2004: 325). Seine wohl wichtigste Anwendungsdomäne ist jedoch die Flexion der starken Verben. Der Ablaut wird hier systematisch genutzt, um die Verbkategorien Tempus und Numerus auszudrücken (vgl. Sonderegger 1979: 85 f.). Man unterscheidet traditionell sieben Ablautreihen, von denen fünf ie. Ursprungs sind, während es sich bei den Ablautreihen 6 <?page no="135"?> 135 4.1 Phonologischen Wandel verstehen und 7 um germ. Entwicklungen handelt. Gerade die 7. Ablautreihe ist dabei ein relativ inhomogenes „Sammelbecken“ (Nowak 2015: 271) für Verben, die ihr Präteritum vorher durch ein anderes Verfahren, nämlich durch Reduplikation, also die Verdopplung des Anlauts, gebildet hatten. Einen allerletzten Rest der Reduplikation sehen wir noch im Flexionsparadigma von tun: Die Präteritalform tat geht auf reduplizierendes ahd. tëta zurück (vgl. Nübling 2000: 271). Stufe 1 (Infinitiv, Präsens Indikativ und Konjunktiv) Stufe 2 (1./ 3. Singular Präteritum Indikativ) Stufe 3 (alle anderen Präteritalformen im Indikativ) Stufe 4 (Partizip II ) Reihe I a) r ī tan ‚reiten‘ reit ritum giritan b) vor / h / , / w / d ī han ‚gedeihen‘ d ē h digum (mit grammatischem Wechsel) gidigan (mit grammatischem Wechsel) Reihe II a) liogan / liugan ‚lügen‘ loug lugum gilogan b) vor Dental und / h / biotan ‚bieten‘ b ō t butum gibotan Reihe III a) i + Nasal + Konsonant bintan ‚binden‘ bant buntum gibuntan b) ë + Liquid + Konsonant flëhtan ‚flechten‘ flaht fluhtum giflohtan Reihe IV ë + Nasal, Liquid, hh (< germ. k) nëman ‚nehmen‘ nam n ā mum ginoman Reihe V ë + Konsonant (nicht Nasal oder Liquid) i + Doppelkonsonsant gëban ‚geben‘ sitzen gab sa ʒ g ā bum s ā ʒ um gigëban gisë ʒʒ an Reihe VI a + Nasal / Liquid a + einfacher Konsonant bzw. hs, sk a / e + Doppelkonsonant faran ‚fahren, gehen‘ fuor fuorum gifaran <?page no="136"?> 136 4. Phonologischer Wandel Reihe VII a) ei + Kons. a + Nasal + Kons. a + Liquid + Kons. a + h ā + Konsonant hei ʒ an ‚heizen‘ hia ʒ hia ʒ um gihei ʒ an b) ou + Konsonant uo + Konsonant ō + Konsonant ruofan ‚rufen‘ reof reofum giruofan Tab. 15: Ablautreihen der starken Verben im Ahd. (nach Sonderegger 2003: 319-323). Denkpause Sehen Sie sich die ersten fünf Ablautreihen an und überlegen Sie, wie sich die Bildung des Präteritums im Ahd. vom Nhd. unterscheidet. Wie Tab. 15 zeigt, gibt es vier unterschiedliche Ablautstufen, die bestimmten Numerus- und Tempuskategorien entsprechen. 7 Im Fnhd. fielen die zweite und dritte Ablautstufe zusammen (vgl. Nübling et al. 2013: 249): Statt ich binde-- ich band-- wir bunden heißt es heute ich binde-- ich band-- wir banden. Die Numerusunterscheidung wurde also aufgegeben, der Ablautvokal ist im Singular und im Plural der gleiche. Deshalb spricht man bei diesem Vorgang auch vom präteritalen Numerusausgleich. Diesem Vorgang sowie der Entstehung einer sog. „8. Ablautreihe“ (Nowak 2015) widmet sich Kap. 5.1.1 eingehender. Wie die Untergliederung der Ablautreihen I bis III in je zwei Untergruppen a) und b) zeigt, haben die Ablautreihen durch kombinatorischen Lautwandel eine Aufsplitterung erfahren (vgl. Nübling et al. 2013: 249). So wirken sich in Ablautreihe Ib die ahd. Monophthongierung und der grammatische Wechsel aus und in Reihe III a die wg. Hebung. Zum Nhd. hin findet eine weitere Ausdifferenzierung des Systems statt-- laut Duden-Grammatik (2016: § 633) sind fürs Gegenwartsdeutsche etwa vierzig verschiedene Vokalwechsel zu verzeichnen. 7 Das ist streng genommen eine Vereinfachung, da die Ablautstufen ursprünglich von ihrer Funktionalisierung im Flexionsparadigma der starken Verben unabhängig sind. So illustriert Keller (1995: 82) die unterschiedlichen Ablautstufen an gr., lat. und got. Wortformen für ‚Fuß‘: lat. pedis / pēs, gr. podós, got. fōtus. <?page no="137"?> 137 4.2 Phonologischen Wandel untersuchen Zum Weiterlesen Einen schon etwas älteren, aber in der Fülle an Informationen und Beispielen noch immer beeindruckenden Überblick über Lautwandelprozesse in der deutschen Sprachgeschichte bieten Krahe & Meid (1961). Eine gut verständliche kurze Einführung in die deutsche Sprachgeschichte mit Schwerpunkt Lautwandel ist Vogel (2012). Für ausführlichere Darstellungen zu Ablaut und Umlaut vgl. z. B. die Einführungen von Wegera & Waldenberger (2012), Nübling et al. (2013) und Bergmann et al. (2016). Aufgabe Nutzen Sie das Sprach GIS auf dem Portal regionalsprache.de, um zu erkunden, wie Pluralvarianten mit und ohne Umlaut (z. B. Wagen vs. Wägen) geographisch verteilt sind. Auch ein Blick in den „Atlas der deutschen Alltagssprache“ (www. atlas-alltagssprache.de) empfiehlt sich. 4.2 Phonologischen Wandel untersuchen 4.2.1 Graphie und Phonologie Wer historische Phonologie untersuchen möchte, steht unumgänglich vor einem Problem: Wir haben keine unmittelbaren Zeugnisse von der Lautung des Ahd., Mhd., Fnhd. und auch großer Teile des Nhd. Wir müssen uns auf die Verschriftung der Sprache verlassen, die, wie wir noch sehen werden (s. u. Kap. 9.1), keineswegs eine 1: 1-Übertragung von Laut zu Schrift darstellt. In Fußnote 5 oben habe ich einen Spruch erwähnt, der nur deshalb funktioniert, weil in einigen Dialekten Pferd und fährt homophon sind, also gleich ausgesprochen werden. Weitere Beispiele für Homophone, die sich aber in ihrer Schreibung unterscheiden, sind etwa Verben und werben oder Ferse und Verse. Umgekehrt gibt es Wörter, die gleich geschrieben, aber unterschiedlich ausgesprochen werden, sog. Homographe, z. B. modern (einmal als Verb mit Erstsilbenbetonung, einmal als Adjektiv mit Betonung auf der zweiten Silbe). Am Beispiel des Umlauts haben wir bereits gesehen, dass es problematisch sein kann, sich allein auf die Schrift zu verlassen. So wurde der Sekundärumlaut lange Zeit ins Mhd. datiert, weil er erst zu diesem Zeitpunkt in der Schrift belegt ist (vgl. Nübling 2013: 16). Bereits Twaddell (1938) hat jedoch festgestellt, dass diese Datierung zu Problemen führt, da die Umlautauslöser i, j und ī im <?page no="138"?> 138 4. Phonologischer Wandel Mhd. zum größten Teil aufgrund der Nebensilbenabschwächung schon geschwunden sind. Somit müsste man entweder annehmen, dass der Lautwandel eingetreten sei, nachdem das, was ihn auslöst, bereits nicht mehr da ist- - „a patent absurdity“, so Twadell (1938: 177). Oder aber man geht davon aus, dass der Lautwandel bereits im Ahd. stattgefunden hat, ohne dass er allerdings in der Schrift reflektiert worden wäre. Das bedeutet natürlich, dass man den Zeitpunkt, zu dem der Lautwandel stattgefunden hat, nicht genau festmachen kann. Allerdings kann man in manchen Fällen Rückschlüsse auf einen terminus ante quem, also einen Zeitpunkt, vor dem ein Lautwandel stattgefunden haben muss, oder einen terminus post quem, also den frühestmöglichen Zeitpunkt, ziehen, beispielsweise anhand von Endreimpaaren, in denen Lexeme mit dem betroffenen Laut verwendet werden. Selbstverständlich können wir nicht mit absoluter Sicherheit wissen, wie ahd. oder mhd. Wörter ausgesprochen wurden. Das gleiche gilt übrigens für ihre Bedeutung: Woher wissen wir z. B., dass ein Wort wie kint bereits im Mhd. ‚Kind‘ bedeutete und nicht etwa ‚Nashorn‘? Bei der Bedeutung kann der Kontext Rückschlüsse zulassen, wobei hier wie auch im Bereich der Lautung Occam’s razor gilt: Wenn es keine Indizien dafür gibt, dass eine Veränderung stattgefunden hat, ist die Annahme, dass es keinen Wandel gegeben hat, die weniger voraussetzungsreiche und damit die zu bevorzugende Hypothese. Schmitt-Brandt (1998: 20) beschreibt das Verhältnis von Sprache und Schrift mit Hilfe von „Transformationsregeln“: „Aussprache ist die Rücktransformation von Schrift in Sprache“, umgekehrt überführt Schrift sprachliche Äußerungen nach bestimmten Transformationsregeln in graphische Zeichen. Die Rekonstruktion von Lautwerten aus der Schrift setzt also die Kenntnis dieser Transformationsregeln voraus. Nun könnte man die Position vertreten, dass es völlig unmöglich sei, Laute aus Schreibungen zu erkennen. Schwerdt (2000: 123) gibt jedoch zu bedenken, dass, wer eine solche Position vertrete, auch erklären müsse, warum sich eigentlich Schreibungen wandeln. Sicherlich sind Szenarien denkbar, in denen sich Schrift unabhängig von der Lautung wandelt. Ein solcher Fall liegt aller Wahrscheinlichkeit nach in der Durchsetzung des sog. morphologischen Prinzips im Deutschen vor (s. u. 9.1): Im heutigen Deutschen sagen wir der Hun[ t ] (mit stimmlosem Plosiv), aber des Hun[ d ]es (mit stimmhaftem Plosiv), aber wir schreiben in beiden Fällen ein <d>: <der Hund>, <des Hundes>. Im Mhd. hingegen wurde diese sogenannte Auslautverhärtung verschriftet, man schrieb also <der hunt>. Hier hat also ein Wandel der Schreibkonventionen stattgefunden, dem offenbar kein lautlicher <?page no="139"?> 139 4.2 Phonologischen Wandel untersuchen Wandel entspricht. Allerdings bietet das morphologische Verschriftungsprinzip eine gute Erklärung dafür: Wir schreiben <Hund> mit <d>, damit die Nominativform graphisch mit den anderen Kasusformen übereinstimmt. Die Veränderung ist also keineswegs unmotiviert. Kohrt (1998: 65) weist darauf hin, dass „phonologische wie auch graphematische Veränderungen niemals für sich allein bestehen können, sondern grundsätzlich zu einem Wandel komplexer sprachlicher Zeichengestalten führen.“ Daher ist es wichtig, das Gesamtsystem im Blick zu behalten. Richtig ist allerdings auch, wie wir am Beispiel der Theorien über den gesprochenen, aber nicht verschrifteten Sekundärumlaut im Ahd. gesehen haben, dass sich Aussagen über historische Phonologie nicht (unmittelbar) falsifizieren lassen, „sondern sich nur als mehr oder minder plausibel erweisen können“ (Kohrt 1998: 562). 4.2.2 Phonologischer Wandel in „real-time“ und „apparent-time“ Sieht man sich Fotos oder Videoaufnahmen an, die vor 10 oder 15 Jahren entstanden sind, ist man oft überrascht, wie viel sich in so kurzer Zeit geändert hat-- seien es Modetrends, Kleidung, Frisuren, technische Geräte-… Ähnlich wie mit dem Kulturwandel ist es auch mit dem Sprachwandel: Wir tragen alle-- meist unbewusst-- unseren Teil dazu bei, aber dass sich etwas geändert hat, wird uns oft erst in der Rückschau klar. Lange galt daher der Prozess des Sprachwandels und insbesondere des Lautwandels auch als unbeobachtbar (vgl. Hockett 1958: 444). Mittlerweile allerdings hat man dieses Diktum ein wenig relativiert. Eine Möglichkeit, Sprachwandel nicht nur auf Grundlage von Texten, sondern mit echten, lebenden Menschen zu untersuchen, ist der Vergleich des sprachlichen Verhaltens unterschiedlicher Generationen. Auch hier kann man wieder kulturellen Wandel als Vergleichspunkt heranziehen: Wenngleich es sicherlich viele ältere Menschen gibt, die mit der Mode gehen, ist doch die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person sich altmodisch kleidet, eine eher altmodische Frisur hat und ein etwas betagteres Auto fährt, bei älteren Menschen tendenziell höher als bei jüngeren. Ganz ähnlich ist es in der Sprache: Gerade in Dialekten „konservieren“ ältere Sprecherinnen und Sprecher oftmals noch Formen, die von jüngeren nicht mehr verwendet werden. Die Idee, dass sprachliche Unterschiede zwischen verschiedenen Generationen einer Sprecherinnenpopulation diachrone Entwicklungen spiegeln, nennt man auch apparent-time-Hypothese (vgl. Bailey 2013). Die Methode, unterschiedliche Generationen einer Sprecherpopulation zu untersuchen, wurde <?page no="140"?> 140 4. Phonologischer Wandel maßgeblich von dem amerikanischen Soziolinguisten William Labov geprägt (vgl. Labov 1963), der einen Lautwandelprozess auf der Insel Martha’s Vineyard (Massachusetts) untersuchte. Bei diesem Verfahren gilt es natürlich, Faktoren, die möglicherweise den Sprachgebrauch der Probandinnen beeinflussen könnten, konstant zu halten-- beispielsweise soziale Stellung und Geschlecht. Auch ist zu beachten, dass Sprecherinnen und Sprecher „im Laufe ihres Lebens ihre individuelle Sprechweise verändern“ (Schwarz 2015: 27), und zwar unabhängig von allgemeinen Sprachwandelprozessen- - man spricht hier von age grading (Hockett 1950). Ein Beispiel für die Kombination von real time- und apparent time-Verfahren ist die Studie von Schwarz & Streck (2009) zur Diphthongierung von mhd. / î / , z. B. zît > Zeit. Dieser Lautwandel hat sich in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich stark durchgesetzt, im Alemannischen ist teilweise der Monophthong noch bewahrt. Anhand eines real-time-Vergleichs von Wenker-Karten (s. o. 2.2.3) aus dem 19. Jahrhundert mit aktuellen Daten aus dem Südwestdeutschen Sprachatlas zeigen Schwarz & Streck (2009: 209), dass sich bei den Lexemen bleiben, gleich und Zeit die diphthongierte Variante im Südosten des untersuchten Sprachraums weiter ausgebreitet hat. Sie ergänzen diese Untersuchung mit einem apparent-time-Ansatz, der hier aber nicht als Vergleich verschiedener Generationen operationalisiert wird: Vielmehr vergleichen sie elizitierte, also den Informanten „entlockte“, mit spontanen Sprachdaten. Beim Südwestdeutschen Sprachatlas wurden, wie auch bei anderen, vergleichbaren Projekten, Informanten einerseits gebeten, vorgegebene Beispielsätze in ihren jeweiligen Dialekt zu übertragen. Hier machen sie also bewusst von ihrem Dialektwissen Gebrauch. Andererseits wurden auch spontane Gespräche aufgezeichnet. Wenn man einen Beispielsatz in den eigenen Dialekt „übersetzt“, ist es gut möglich, dass man dabei auf Eigenheiten des Dialekts zurückgreift, die man zwar kennt, aber normalerweise nicht aktiv nutzt. Ein einfaches Beispiel: Ich selbst bin Pfälzer und würde, wenn ich Dialekt spreche, nicht das Wort Grumbeere ‚Kartoffeln‘ benutzen. Sollte ich aber als Informant einen Satz wie In Kusel ist ein Sack Kartoffeln umgefallen ins Pfälzische übertragen, würde ich wohl auch das spezifisch pfälzische Lexem benutzen. Beim apparent-time-Verfahren, wie es Schwarz & Streck (2009) anwenden, wird also nicht auf den Dialektgebrauch einer älteren Generation, sondern auf das vorhandene, aber nicht mehr aktiv genutzte Dialektwissen von Informantinnen zurückgegriffen, um Rückschlüsse auf einen früheren Sprachzustand zu ziehen. Anhand der divergierenden Realisierungen, also der Fälle, in denen ein Informant in den <?page no="141"?> 141 4.2 Phonologischen Wandel untersuchen elizitierten Daten zwar noch ein / i: / spricht, in den spontansprachlichen Daten aber / aɪ / sagt, können Schwarz & Streck (2009: 210-212) zeigen, dass sich die Diphthongierung auch im traditionellen „Monophthonggebiet“ von Norden nach Süden auszubreiten scheint. Zum Weiterlesen Eine Fundgrube für dialektologisch Interessierte ist das Portal regionalsprache. de, wo man unter anderem in die Karten von Georg Wenkers „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ Einsicht nehmen und sie direkt mit Karten aus neueren Projekten vergleichen kann, unter anderem mit Neuerhebungen der „Wenker-Sätze“ im Rahmen des Projekts „Deutscher Sprachatlas“ oder auch mit regionalen Atlanten wie dem erwähnten Südwestdeutschen Sprachatlas. Hier gibt es auch Audiomaterial, das sich gut für apparent-time-Studien anbietet. Die Unterscheidung real time / apparent time stammt aus der Soziolinguistik, in die z. B. Löffler (2016) einführt. <?page no="143"?> 143 5.1 Morphologischen Wandel verstehen 5. Morphologischer Wandel 5.1 Morphologischen Wandel verstehen 5.1.1 Flexionsmorphologischer Wandel Bereits in Kap. 4.1.2 zum Ablaut sind wir dem Phänomen begegnet, dass Verben ihre Flexionsklasse wechseln: Statt bellen-- ball-- gebollen oder bellen-- boll-- gebollen heißt es heute bellen-- bellte-- gebellt. Und im substantivischen Bereich sprechen wir eher von dem Schwan als von dem Schwanen, anders als in folgendem Beleg aus dem 17. Jahrhundert: (19) were ich ein Schwan / so thät ich was einem Schwanen wol anstehet (Dannhauer, Katechismus Milch, 1653, DTA ) Konjugations- und Deklinationsklassenwechsel sind Beispiele für flexionsmorphologischen Wandel. In diesem Kapitel wollen wir je ein Beispiel für Flexionswandel aus dem verbalen und aus dem substantivischen Bereich näher unter die Lupe nehmen. Zunächst befassen wir uns mit dem präteritalen Numerusausgleich, dem im Umbau des Systems der starken Verben eine zentrale Rolle zukommt. Anschließend wenden wir uns Entwicklungen im Bereich der Substantivflexion zu. Der präteritale Numerusausgleich Unter dem präteritalen Numerusausgleich versteht man den Verlust der Numerusdistinktion im Ablautsystem der starken Verben (s. o. Kap. 4). Tab. 16 illustriert den präteritalen Numerusausgleich am Beispiel von binden aus der Ablautreihe 3a. Im Mhd. findet sich noch eine relativ klare Unterscheidung zwischen Singular und Plural-- ein „Ausreißer“ ist die 2. Person Singular, die den Vokal der dritten Ablautstufe aufweist (also bei binden ein u). Im Wg. hat die 2. Person Singular zudem einen Sonderweg gegenüber anderen germ. Sprachen eingeschlagen und die Endung--i genommen. Dieses--i löst Primärbzw. Sekundärumlaut aus (also bei binden: u > ü). Noch bis ins Fnhd. hinein finden wir daher neben du bandest wir auch noch du bündest. Allmählich kristallisiert sich eine klare Unterscheidung zwischen Singular und Plural heraus. Zum Nhd. hin wird diese Unterscheidung jedoch aufgegeben-- die zweite und dritte Ablautstufe fallen zusammen. Das ist kein geradliniger Prozess; so beobachtet Philipp <?page no="144"?> 144 5. Morphologischer Wandel (1980: 65), dass sich der Präteritalvokal u bis zum Ende der fnhd. Periode auch häufig im Singular findet. Die Ausgleichstendenzen laufen also zunächst in beide Richtungen, ehe sich eine Variante (bei binden: das a) durchsetzt. Prät. Ind. Mhd. Fnhd. Nhd. Sg. 1 bant band band 2 bünde (> bündest) bandest bandest 3 bant band band Pl. 1 bunden bunden banden 2 bundest bundet bandet 3 bunden bunden banden Tab. 16: Präteritaler Numerusausgleich am Beispiel der Ablautreihe 3a, nach Dammel (2011: 99). Der präteritale Numerusausgleich bietet sich für eine Korpusrecherche an. Besonders gut eignet sich dafür das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus, in dem die Verben auf ihre Flexionsklassen hin annotiert sind (inklusive der Ablautreihen bei den starken Verben) und in dem man gezielt nach Belegen im Präteritum suchen kann. Exemplarisch zeigt Fig. 20 die Verteilung der Vokalvarianten u, o und a in Ablautreihe 3a (z. B. binden). In Ablautreihe 3 ist der präteritale Numerusausgleich besonders langwierig und dauert teilweise bis ins 19. Jh. (vgl. Dammel 2011: 99). Seine Anfänge sind dennoch schon deutlich zu sehen, der prozentuale Anteil der a-Variante steigt kontinuierlich (auch wenn die absoluten Belegzahlen natürlich relativ gering sind). Dass sich hier neben a und u auch o-Formen finden, ist auf die sog. mitteldeutsche Senkung von u zu o vor (historischem) Doppelnasal 8 zurückzuführen (vgl. Nowak 2015: 16 f.). Diese findet auch in der Partizipform, also in Ablautstufe 4, statt: (20) Darnach gewonnen sie Corinthum vnnd gantz Aphricam / (Johann Bange, Chronik, Mühlhausen 1599, FnhdC) 8 Heute sprechen wir in Wörtern wie gewinnen nur einen Nasal: [ ɡəˈvɪ n ən ]. Historisch handelt es sich jedoch tatsächlich um einen Doppelkonsonanten, wie wir sie heute z. B. noch aus dem Italienischen kennen (z. B. bello ‚schön‘, s. o. 3.1.3). <?page no="145"?> 145 5.1 Morphologischen Wandel verstehen 6 14 2 26 3 6 21 6 1 10 0% 25% 50% 75% 100% 14 15 16 17 Jahrhundert Relative Frequenz Vokal u o a Ablautreihe 3a im Bonner Frühneuhochdeutschkorpus, Plural Präteritum Fig. 20: Allmähliche Durchsetzung der a-Variante in der Ablautreihe 3a im Bonner Frühneuhochdeutschkorpus. Die Zahlen im Balkendiagramm geben die absoluten Frequenzen an. Nübling & Dammel (2004) erklären den präteritalen Numerusausgleich mit Hilfe von Bybees (1985) Konzept der Relevanz, das sich darauf bezieht, welchen semantischen Einfluss zwei „Bedeutungselemente“ (meaning elements) aufeinander haben, z. B. ein Affix auf seinen Stamm (vgl. Bybee 1985: 4). Fig. 21 zeigt die von Nübling & Dammel (2004) in Anlehnung an Bybee vorgeschlagene Relevanzhierarchie für verbale Kategorien. Aus der Grafik geht hervor, dass relevantere Kategorien meist direkt im Wort kodiert werden-- daher „hoher Fusionsgrad“. So wird beim Ablaut die Kategorie Tempus direkt im Wort kodiert, indem der Stammvokal moduliert wird: reiten-- ich ritt. Bei schwachen Verben hingegen wird Tempus zwar nicht im, aber doch direkt am Wort kodiert, durch das sog. Dentalsuffix--te: sagen-- ich sagte. Die Information „Person“ hingegen können wir in vielen Fällen nicht unmittelbar aus dem Verb ableiten, sondern müssen sie z. B. dem Subjekt(pronomen) entnehmen: Ihr geht- - Herr Müller geht; wir gehen-- sie gehen. Während Person einen sehr niedrigen Relevanzgrad hat, rangiert Valenz sehr weit oben auf der Relevanzhierarchie. Valenz bezieht sich auf die „Leerstellen“, <?page no="146"?> 146 5. Morphologischer Wandel die ein Verb eröffnet. So eröffnet geben zwei Leerstellen, die besetzt werden müssen (ich gebe dem Jungen ein Buch), öffnen nur eine, die obligatorisch zu besetzen ist (ich öffne die Tür). Valenz betrifft die Anzahl und die Rollen der am Geschehen Beteiligten und übt damit einen starken Einfluss auf die Verbsemantik aus (vgl. Bybee 1985: 20). So macht es einen Unterschied, ob ich um mich schlage (intransitiv) oder einen Sandsack schlage (transitiv). In vielen Fällen gibt es im Deutschen z. B. für die transitive Variante eines intransitiven Verbs ein eigenes, oft derivationell abgeleitetes Lexem, z. B. fahren-- befahren. Die Diathese-- Aktiv oder Passiv-- modifiziert die Verbsemantik ebenfalls sehr stark, denn hier werden die Handlungsrollen praktisch vertauscht: ich operiere vs. ich werde operiert. Aspekt bezieht sich auf den internen Verlauf des Verbgeschehens und greift damit ebenfalls stark in die Verbsemantik ein, vgl. blühen (Zustand) vs. erblühen (inchoativ: Beginn / Einsetzen eines Ereignisses; Zustandswechsel). Tempus indes verändert nicht das vom Verb kodierte Geschehen, sondern versetzt es nur an einen anderen Zeitpunkt. Modus-- Indikativ oder Konjunktiv-- lässt die Verbsemantik ebenfalls „intakt“ und bezieht sich lediglich auf den Faktizitätsgrad der Aussage (vgl. Nübling & Dammel 2004: 180). Die Kategorien Numerus und Person schließlich modifizieren nicht die Bedeutung des Verbs an sich, sondern spezifizieren lediglich die beteiligten Akteure-- sie sind somit am wenigsten „relevant“ in Bybees Sinne. Fig. 21: Relevanzhierarchie nach Bybee (1985), hier in Anlehnung an Nübling & Dammel (2004: 178). Mit Hilfe der Relevanzhierarchie lässt sich erklären, warum beim präteritalen Numerusausgleich die wortinterne Markierung der Kategorie „Tempus“ durch Stammmodulation (direkt im Wort, somit stark fusionierend) erhalten geblieben ist, während die weniger relevante Kategorie „Numerus“ über die Flexionsendung (also am Wort, somit weniger stark fusionierend) ausgedrückt wird. Zudem lässt sich damit erklären, warum zuerst die per Stammalternation ausgedrückte Information „Person“ in der 2. Person Singular abgebaut wird (s. o. Tab. 16): „Person“ ist noch weniger relevant als „Numerus“-- deshalb liegt <?page no="147"?> 147 5.1 Morphologischen Wandel verstehen es nahe, das System zu vereinfachen und den Unterschied zwischen 2. Person Singular und den anderen Singularformen zu nivellieren. Neben dem Relevanzprinzip spielt allerdings auch der Aspekt der Gebrauchshäufigkeit eine zentrale Rolle im flexionsmorphologischen Wandel. So sind es z. B. oftmals Verben aus dem früher alltagsbestimmenden bäuerlichen Bereich, die von der starken in die „regelmäßige“ schwache Flexion übergegangen sind, was möglicherweise damit zusammenhängt, dass sie stark an Frequenz eingebüßt haben: melken-- malk-- gemolken > melken-- melkte-- gemolken/ gemelkt. Hohe Gebrauchsfrequenz kann konservierend wirken, wie man auch in anderen Bereichen der Grammatik und in anderen Sprachen sehen kann, z. B. im Englischen, wo die längst außer Gebrauch gekommene Pluralbildung auf -ren (früher z. B. auch brethren ‚Brüder‘) noch in children ‚Kinder‘ vorhanden ist. Die Gebrauchsfrequenz spielt auch beim Übertritt von Verben in die sog. „8. Ablautreihe“ eine Rolle. Als 8. Ablautreihe bezeichnet Nowak (2015) das Alternanzmuster X-- o - o, dem beispielsweise Verben wie spinnen-- sponn-- gesponnen oder schwimmen-- schwomm-- geschwommen folgen (wobei die o-Form beim Präteritum von schwimmen noch recht selten anzutreffen ist, schwamm ist häufiger). Auf Grundlage von Korpusrecherchen im DeReKo zeigt Nowak (2013), dass u. a. befehlen, empfehlen, rinnen, schelten, besinnen und erstechen zwischen starker und „schwarker“ Flexion, wie Dammel & Nowak (2011) das X-o-o-Muster nennen, schwanken. Das Muster X-o-o findet sich schon in Ablautreihe II (lügen-- log-- gelogen; bieten-- bot-- geboten), und die Reihen III b und IV haben o im Partizip Perfekt (vgl. Nübling et al. 2013: 254). Insofern bietet sich das X-o-o-Muster als „Auffangbecken“ für starke Verben aus den Klassen III bis VI an, die zwar nicht oder nicht gleich zur schwachen Klasse übertreten, aber ein vereinfachtes Alternanzmuster annehmen. In einigen Fällen ist die „8. Ablautreihe“ nur ein Zwischenstadium auf dem Weg in die schwache Flexion, z. B. bellen-- ball-- gebollen > bellen-- boll-- gebollen > bellen-- bellte-- gebellt. In anderen Fällen zeigen X-o-o-Verben zumindest derzeit keine Tendenz zum „Schwachwerden“, z. B. heben-- hob-- gehoben (< heben-- hub-- geheben). Nowak (2015: 177-196) zeigt, dass v. a. niedrigfrequente schwache Verben in die X-o-o-Klasse übertreten. Sie interpretiert die „8. Ablautreihe“ als Uniformierung des Vergangenheitsausdrucks, da die Vergangenheitstempora nun durch o markiert werden, wodurch auch eine klare Opposition zu anderen Zeitformen hergestellt wird. So findet auch eine partielle Regularisierung statt, denn das o in der Präteritum- und Partizip-Präsens-Form ist für alle Angehörigen der „8. Ablautreihe“ vorhersagbar. Das ist bei den Ablautreihen III bis VI nicht der Fall, <?page no="148"?> 148 5. Morphologischer Wandel wo wir im Präteritum und Partizip Perfekt die Alternanzen a-o, a-e und u-e finden (fnhd. glimmen-- glamm-- geglommen, ALR III a; weben-- wab-- geweben, ALR V; heben-- hub-- geheben, ALR VI ). Chaos und Ordnung in der Substantivflexion In Kap. 3 haben wir bereits gesehen, dass das System der Substantivflexion, teilweise bedingt durch die Nebensilbenabschwächung, im Laufe der deutschen Sprachgeschichte einen tiefgreifenden Umbau erfährt. Aus synchroner Sicht wirkt das Flexionsklassensystem des Deutschen daher sehr unübersichtlich, ja geradezu chaotisch, wie es etwa der Aufsatztitel „Chaos und Ordnung“ von Köpcke (2000a) andeutet. Bezieht man sämtliche Einzelfälle mit ein, kann man im Deutschen 31 Deklinationsmuster für Substantive unterscheiden (vgl. Mugdan 1977: 69). Ohne Einbezug dieser Sonderfälle kann man von 10 nhd. Flexionsklassen ausgehen, die sich wiederum in die Grobkategorien „stark“, „schwach“, „gemischt“ einteilen lassen (vgl. Duden-Grammatik 2016: § 346). Mit Nübling (2008: 283) lassen sich diese drei groben Klassen wie folgt beschreiben: ▶ schwache Flexion: Genitiv Singular und Plural mit--en, z. B. der Zeuge-- des Zeugen, die Zeugen ▶ starke Flexion: weder Gen.Sg. noch Plural mit--en (d. h. alles andere inklusive Null), z. B. der Tag-- des Tages, die Tage; die Kraft-- der Kraft, die Kräfte ▶ gemischte Flexion: Plural mit--en, Gen.Sg. nicht mit--en (d. h. alles andere inklusive Null), z. B. der Staat-- des Staates, die Staaten; die Frau-- der Frau, die Frauen. Gerade für Personen, die Deutsch als Fremdsprache lernen, kann sich das Deklinationsklassensystem als Herausforderung erweisen, denn: „Es gibt kein grammatisches Kriterium, auf dessen Basis die Deklinationsklassenzugehörigkeit eines beliebigen Nomens eindeutig festgelegt werden könnte“ (Köpcke 2000a: 155). Jedoch arbeitet Köpcke (1995, 2000a, b) am Beispiel der schwachen Maskulina eine Reihe von Prinzipien heraus, die die Deklinationsklassenzuweisung im Nhd. steuern und mit denen sich auch diachrone Wechsel der Flexionsklasse erklären lassen. Er stützt sich dabei auf die Prototypentheorie, die sich seit den 70er-Jahren des 20. Jh. in den Kognitionswissenschaften, aber auch in der Linguistik zur Erklärung von Kategorisierungsoperationen als äußerst aufschlussreich erwiesen hat. Anders als die klassische aristotelische <?page no="149"?> 149 5.1 Morphologischen Wandel verstehen Kategorienlehre, die Kategorien anhand von Merkmalsbündeln definiert (z. B. zweibeinig, belebt etc. für die Kategorie „Mensch“), geht die Prototypentheorie davon aus, dass Kategorien eine innere Struktur haben und unscharfe Grenzen aufweisen (vgl. z. B. Taylor 2003). Mit innerer Struktur ist gemeint, dass nicht jedes Mitglied einer Kategorie ein gleich guter Vertreter der Kategorie ist-- vielmehr gibt es prototypische Mitglieder, die gleichsam den Kern der Kategorie bilden, und eher periphere. So ist ein Rotkehlchen ein prototypischer Vogel, ein Pinguin dagegen eher nicht. Daraus folgt, dass die Grenzen von Kategorien unscharf sind. So ist beispielsweise eine Fledermaus zwar biologisch gesehen kein Vogel, rangiert aber in der Studie von Rosch (1975: 32), die Probandinnen bat, die „Vogeligkeit“ verschiedener Tiere zu bewerten, nur einen Rang nach dem Pinguin. Unsere Fähigkeit, Muster und Ähnlichkeiten zu erkennen und auf dieser Grundlage die Welt in mehr oder weniger grobkörnige Kategorien einzuteilen, spielt auch in der Sprache eine wichtige Rolle bzw. macht Sprache, die oft selbst als Kategoriensystem gesehen wird (vgl. z. B. Ziem 2008), erst möglich. Für die schwache Deklination schlägt Köpcke (1995) zwei Prototypen vor, die in Fig. 22 dargestellt sind. Prototypische Vertreter der schwachen Deklination sind demnach mehrsilbige Substantive mit maskuliner Genuszuweisung, die das semantische Kriterium [+menschlich] erfüllen-- dies sind die drei Merkmale, die sich in beiden Prototypen wiederfinden. Bei Prototyp I kommen die Kriterien des auslautenden Schwa und der Penultimabetonung (d. h. Betonung auf der vorletzten Silbe) hinzu. Beispiele, die die Kriterien für Prototyp I erfüllen, sind etwa Halúnke und Matróse. Prototyp II weist indes Ultimabetonung auf, also Betonung auf der letzten Silbe, z. B. Journalíst, Spekulánt. Prototyp I Prototyp II + menschlich maskuline Genuszuweisung auslautendes Schwa Penultimabetonung mehrsilbig + menschlich maskuline Genuszuweisung Ultimabetonung mehrsilbig Fig. 22: Prototypen für die schwache Deklination nach Köpcke (1995: 168). Mit diesen Prototypen lassen sich auch gegenwartssprachliche Schwankungsfälle erklären: So findet sich das für gewöhnlich gemischt flektierte Substantiv Autor, das sowohl Prototyp I nahekommt (bis auf fehlendes auslautendes Schwa) als auch Prototyp II (bis auf fehlende Ultimabetonung), relativ häufig in <?page no="150"?> 150 5. Morphologischer Wandel der starken Flexion (833 Belege für des / eines Autoren ggü. 42.106 für des / eines Autors in DeReKo, Archiv W) 9 , während der nicht-menschliche, gemischt flektierte Bär eine leichte Tendenz zur schwachen Flexion aufweist (34 Treffer für des / eines Bärs ggü. 3.748 für des / eines Bären in DeReKo-W). Doch nicht nur Mitglieder der gemischten Deklination werden bisweilen stark bzw. schwach flektiert- - es finden sich auch Schwankungsfälle von schwach zu stark, z. B. Planet (vgl. Schäfer 2016b). Auf Grundlage einer Korpusstudie mit DECOW zeigt Schäfer (2016b), dass die semantischen und phonotaktischen Merkmale in Köpckes Prototypen gute Prädiktoren für den Gebrauch regulär schwacher Substantive in der starken Klasse darstellen; mit anderen Worten: Ein statistisches Modell kann mit Hilfe dieser Kriterien die tatsächliche Verteilung ziemlich genau voraussagen. Bei den gegenwartssprachlichen Schwankungsfällen lässt sich nicht voraussagen, ob die derzeit noch quantitativ stark unterrepräsentierten neuen Formen die alten verdrängen werden, sprich: ob die betroffenen Substantive letztlich ihre Flexionsklasse wechseln. Wenn das geschieht, dann wäre das nicht ohne Präzedenz: Insbesondere vom Mhd. zum Fnhd. hat eine ganze Reihe an Substantiven ihre Flexionsklasse gewechselt. Köpcke (2000a: 107) nennt folgende Beispiele: (21) schwach > stark: der hane, des hanen, die hanen > der Hahn, des Hahns, die Hähne stark > schwach: der heiden, des heiden(e)s, die heidene > der Heide, des Heiden, die Heiden Auch diese Beispiele lassen sich gut mit der Hypothese in Einklang bringen, dass es insbesondere das Merkmal Belebtheit ist, das in der Flexionsklassenzuweisung und somit auch im diachronen Wandel der Deklinationsklassenzugehörigkeit eine zentrale Rolle spielt. Aber selbstverständlich reichen einzelne Beispiele nicht aus, um eine solche Hypothese überzeugend zu untermauern. Daher wertet Köpcke (2000a) sämtliche Maskulina aus, die in der Deutschen Grammatik von Paul ([1917] 1968) genannt werden. Auf Grundlage dieser Daten zeigt er, dass es sich bei denjenigen Maskulina, die stabil schwach dekliniert werden, überwiegend um solche handelt, die das Merkmal [+menschlich] aufweisen. Indes wechseln gerade Nomina, die Unbelebtes bezeichnen, von der 9 Suchanfrage: #REG(^des$|^eines$) Autoren bzw. #REG(^des$|^eines$) Autors (Datum der Anfrage: 30. 05. 2017). <?page no="151"?> 151 5.1 Morphologischen Wandel verstehen schwachen in die starke Klasse: „Unter den von Paul aufgezählten 72 Nomina, die ein- -n annahmen, finden sich 69 (=96 %) unbelebte Nomina und nur 3 (=4 %) belebte, nämlich die Fischbezeichnungen Hausen, Huchen und Karpfen“ (Köpcke 2000a: 113). Viele ursprünglich schwache Maskulina, die ihr stammfinales Schwa abgeworfen haben (z. B. mhd. herre > nhd. Herr), wechseln in die starke oder gemischte Deklination, z. B. Ärmel, Busch, Pfau, Schmerz. Unter denjenigen, die die schwache Deklination beibehalten, finden sich überproportional viele, die Menschen oder Säugetiere bezeichnen: „Der Umschlagpunkt von schwacher zu kategorisch starker Deklination verläuft offensichtlich im Bereich der Bezeichnungen für Vögel und Fische.“ (Köpcke 2000a: 115) Fig. 23 fasst die Skala von maximal menschenähnlichen hin zu nicht-menschlichen Entitäten nach Köpcke (2000a) zusammen. Fig. 23: Kontinuum von maximal menschenähnlichen (prototypisch schwach deklinierten) zu nicht-menschlichen (prototypisch stark deklinierten) Substantiven nach Köpcke (2000a). Insgesamt deuten die diachronen Ergebnisse von Köpcke (2000a), aber auch der synchrone Befund auf die zentrale Rolle der Belebtheit hin, die auch in anderen Sprachwandelprozessen als entscheidender Faktor herausgearbeitet wurde (s. u. Kap. 9.1.1). Was den empirischen Befund angeht, so bietet die Verfügbarkeit neuer, annotierter Korpora die Möglichkeit, die genannten Hypothesen nicht nur auf Grundlage von Grammatiken, sondern auch korpusbasiert zu überprüfen. Hier ist insbesondere das in Arbeit befindliche Referenzkorpus Frühneuhochdeutsch ( REF ) eine vielversprechende Ressource, da es unmittelbar an das Referenzkorpus Mittelhochdeutsch ( REM ) anknüpft. Beide Korpora werden dann die Möglichkeit bieten, den Prozess des Flexionsklassenwechsels im Detail zu untersuchen und dabei auch die Schwankungsphasen zu berücksichtigen, in denen mehrere Formen koexistieren. <?page no="152"?> 152 5. Morphologischer Wandel Zum Weiterlesen Eine umfassende kontrastive Studie zum Deklinationsklassenwandel bietet Kürschner (2008), zum Konjugationsklassenwandel Dammel (2011). Zum relevanzgesteuerten verbalmorphologischen Umbau vgl. Schmuck (2013). Einen sehr guten Einstieg bieten die entsprechenden Kapitel in Wegera & Waldenberger (2012) sowie Nübling et al. (2013). 5.1.2 Wortbildungswandel Die historische Wortbildung des Deutschen erfährt in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit, was sich in zahlreichen Sammelbänden, programmatischen Aufsätzen zur Theorie des Wortbildungswandels sowie Monographien zu einzelnen Wortbildungsmustern niederschlägt. Unter Wortbildung versteht man, wie eingangs (Kap. 1) dargelegt, zweierlei: Zum einen die Komposition, also die Kombination wortwertiger Morpheme, z. B. Donau+dampfschiff+kapitän, zum anderen die Derivation. Hier wird ein komplexes Wort meist mit Hilfe eines Affixes gebildet, etwa Freiheit aus dem Adjektiv frei und dem Suffix--heit. Das Wort, das quasi in den offenen Slot von einem Muster wie [X-heit] eingesetzt wird, nennt man Basis (Mehrzahl: Basen). Bisweilen wird neben Komposition und Derivation auch die Konversion noch als eigene Kategorie angesetzt, hier jedoch soll sie als Subtyp der Derivation behandelt werden. Bei der Konversion wird ein Wort von einer Wortart in eine andere überführt, ohne dass sich seine Form ändert, vgl. tanzen-- das Tanzen. Wenn wir uns mit dem diachronen Wandel von Wortbildung befassen, stellt sich zunächst das Problem der Abgrenzung: Wie genau kann Wortbildungswandel von anderen Wandelprozessen unterschieden werden? Oder umgekehrt: Was genau fällt in den Bereich des Wortbildungswandels? Um dieses Problem genauer zu verstehen, müssen wir uns zunächst vor Augen führen, dass jedes Wort, das mit Hilfe eines Wortbildungsmusters gebildet worden ist, auch ein eigenständiges Wort ist. Nehmen wir das Wort Heizung, dessen Bedeutung sich im Laufe des 20. Jahrhunderts deutlich verändert hat. Es handelt sich um ein deverbales Substantiv, d. h. es ist von einem Verb abgeleitet, nämlich vom Verb heizen. Ursprünglich bezog es sich auf den Prozess des Heizens, wie Beispiel (22) zeigt. Heute indes bezieht es sich fast ausschließlich auf eine Heizvorrichtung, also auf ein konkretes Objekt, wie es in Beispiel (23) der Fall ist. <?page no="153"?> 153 5.1 Morphologischen Wandel verstehen (22) Die Heizung der Röstöfen geschah vielfach mit Gas. (Beck, Geschichte des Eisens, 1903, DTA ) (23) Er lachte und half den Kocher und die Heizung hochschleppen. (Jentzsch, Seit die Götter ratlos sind, DWDS ) Das Wort Heizung hat also seine Bedeutung gewandelt-- und zwar unabhängig vom Basisverb heizen, das natürlich auch heute noch auf einen Prozess referiert. Anders ist es etwa bei Landung: Auch hier lässt sich festhalten, dass sich zumindest die Bedeutung, die man typischerweise mit dem Begriff in Verbindung bringt, geändert hat. War es zunächst das Anlegen eines Schiffes, so ist es heute die Landung eines Flugobjekts (wenngleich die ältere Bedeutung nicht ganz außer Gebrauch gekommen ist, vgl. Landung in der Normandie). Hier hat sich die Bedeutung der Nominalisierung parallel zur Bedeutung des Basisverbs entwickelt, das ebenfalls das Anlegen eines Schiffes bezeichnete, wie Beispiel (24) zeigt. (24) Wenn wir unſer Schiff herantrieben, landen wollten, verſchwanden die Thürme und Berge in die Wolken (Alexis, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, 1852, DTA ) Wenn ein Wortbildungsprodukt eine eigenständige Bedeutung annimmt, die sich nicht kompositional aus Basisverb und Wortbildungsmuster ableiten lässt, so spricht man von Lexikalisierung. Im Falle von Landung liegt keine Lexikalisierung vor: Wer das Verb landen und das Wortbildungsmuster der ung-Nominalisierung kennt, wird keine Probleme haben, Landung zu verstehen. Dass es sich bei der Heizung indes um ein konkretes Objekt handelt, erschließt sich weder aus dem Basisverb noch aus dem Wortbildungsmuster. Die Nominalisierung muss daher über einen eigenen Eintrag im „mentalen Lexikon“ verfügen (zum Lexikon s. u. 7.1), sie ist lexikalisiert. Doch handelt sich sich, um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, bei Lexikalisierung um Wortbildungswandel? Streng genommen vollzieht sich der Wandel ja nur auf semantischer Ebene: Es ist die Bedeutung des Wortes Heizung, die sich ändert. Das Wortbildungsmuster, in diesem Fall also: die ung-Nominalisierung, ändert sich dadurch zunächst nicht. Daher unterscheidet Scherer (2006) Wortbildungswandel im engeren Sinne von einer Reihe von Schnittstellenphänomenen. Wortbildungswandel im engeren Sinne bezieht sich dabei ausschließlich auf Wortbildungsmuster, also <?page no="154"?> 154 5. Morphologischer Wandel Muster wie beispielsweise X-heit, X-lich oder eben X-ung. Konstitutiv für Wortbildungswandel i.e.S. ist der Wandel von Wortbildungsbeschränkungen: Angriffspunkt für Veränderungen sind hier [i.e. auf der Ebene der Wortbildungsmuster, S. H.] die Wortbildungsbeschränkungen, die die Form und den Inhalt von Input wie Output betreffen. Wortbildungswandel äußert sich demnach als Wandel von Wortbildungsbeschränkungen. (Scherer 2006: 25) Denkpause Was ist in obigem Zitat unter Form und Inhalt, was unter Input und Output zu verstehen? Was könnten Beispiele für Beschränkungen sein, die Form oder Inhalt von Input oder Output betreffen? Unter Inputbeschränkungen sind dabei Restriktionen zu verstehen, die sich auf die potentiellen Basen eines Wortbildungsmusters beziehen. Beispielsweise nimmt--ung zunächst substantivische Basen (vgl. Horlitz 1986: 480). Ein Relikt hiervon ist Dämmerung zum ahd. Substantiv dēmar: Das Verb dämmern ist erst im Nhd. belegt (vgl. Wilmanns 1899: 378). Schon im Ahd. jedoch haben sich die Inputrestriktionen des Wortbildungsmusters drastisch verändert. Desubstantivische Bildungen sind bald nicht mehr möglich, stattdessen lässt das Muster praktisch nur noch verbale Basen zu, vgl. z. B. heilunga, labunga (vgl. Dittmer 1987). Die Wortart, der eine potentielle Basis angehört, lässt sich als formales Kriterium betrachten. Inputbeschränkungen können sich aber auch auf semantische Aspekte beziehen- - nach Scherer also: auf den „Inhalt“ des Inputs. Diese Restriktionen lassen sich jedoch nicht immer so klar erfassen wie die formalen Beschränkungen. Demske (2000) arbeitet eine Reihe semantischer Beschränkungen heraus, denen die ung-Nominalisierung im heutigen Deutschen unterliegt. So lassen sich keine ung-Nomina auf Basis inchoativer Verben bilden, also auf Basis von Verben, die zum Ausdruck bringen, dass ein Geschehen einsetzt: *Erblühung, *Loslachung. Ebenso kommen Verben des Besitzwechsels (*Gebung) und Verben mit durativer Bedeutung (*Glaubung) nicht als Basen in Frage. Hier lassen sich freilich unschwer Gegenbeispiele finden-- so ist Schenkung durchaus möglich, wenn auch lexikalisiert, und ung-Bildungen mit inchoativer Basis wie Erblühung finden sich in Korpora durchaus, wenn sie auch nicht sehr häufig sind. Bei semantischen Restriktionen lassen sich zumeist nur Tendenzen formulieren. Teilweise liegen semantische Restriktionen natür- <?page no="155"?> 155 5.1 Morphologischen Wandel verstehen lich auch in rein logischen Gegebenheiten begründet: So kann das Morphem entnur an Basen treten, die einen reversiblen Prozess denotieren (vgl. Taylor 2002: 291 zum engl. Pendant un-): enthüllen, entpacken, neuerdings auch entfreunden, aber nicht *entschwängern. Outputrestriktionen beziehen sich auf die Wortbildungsprodukte, die sich mit Hilfe eines Wortbildungsmusters produktiv ableiten lassen. Scherer (2006) zeigt, dass sich der Output der Agentivbildung auf--er (Bäcker, Lehrer) diachron verändert hat und die Objektlesart (Wasserkocher) neben der nach wie vor zentralen Personlesart deutlich frequenter geworden ist. Auch für die ung-Nominalisierung lässt sich zeigen, dass der Output heterogener wird und neben einer Prozesslesart (Landung) auch eine Objekt- (Heizung) oder gar Personlesart (Bedienung) möglich ist. Hier stellt sich freilich die Frage, ob es tatsächlich sinnvoll ist, im Blick auf den Output ebenfalls von Beschränkungen zu sprechen. Wenn es um den Input geht, so gibt es eine endliche Anzahl an Wörtern, die als Basen für ein Wortbildungsmuster prinzipiell in Frage kommen. Mit Hilfe des Konzepts der Inputbeschränkungen lässt sich nun erfassen, welche Wörter aus dieser endlichen Anzahl an potentiellen Basen tatsächlich als Basen für das Wortbildungsmuster fungieren können und welche nicht. Hingegen gibt es kein a-priori festgelegtes, endliches Inventar an Wortbildungsbedeutungen. Zwar liegt es nahe, ein geschossenes Set an Konzepten wie „Person“, „Objekt“ usw. zu operationalisieren, doch wären theoretisch auch Wortbildungsprodukte mit sehr viel spezifischeren Bedeutungen denkbar. Somit wäre zu überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, statt von Outputbeschränkungen vielmehr vom Outputpotential eines Wortbildungsmusters zu sprechen. Wegera & Waldenberger (2012: 236) argumentieren außerdem, dass die Verquickung von Restriktions- und Produktivitätsveränderungen nur in eine Richtung funktioniere: Ein Wortbildungsmuster kann in dem Maße produktiver werden, in dem Restriktionen abgebaut werden, umgekehrt bedeutet aber Produktivitätsverlust oder das Unproduktiv-Werden eines Wortbildungsmusters nicht, dass Restriktionen zunehmen. Die Frage, ob das Unproduktivwerden von Wortbildungsmustern zwangsläufig mit der Zunahme von Restriktionen in Verbindung steht, hängt natürlich davon ab, was man unter Restriktionen versteht. Fasst man den Begriff weit genug, dann kann jedes Außer-Gebrauch-Kommen eines Wortbildungsprodukts im Sinne einer Wortbildungsbeschränkung gedeutet werden. Ein so weit gefasster <?page no="156"?> 156 5. Morphologischer Wandel Begriff der Wortbildungsbeschränkung hat jedoch den Nachteil, dass man unter Umständen sehr viele verschiedene einzelne Beschränkungen annehmen muss, ohne dass sich daraus sinnvolle Generalisierungen ableiten lassen. So könnte man im Extremfall eine Beschränkung formulieren, die sich nur auf eine einzige Basis bezieht, z. B.: Das Verb murmeln kommt nicht als Basis für die Nominalisierung auf--ung in Frage, deshalb ist *Murmelung nicht möglich. Es ist durchaus möglich, dass unser Wissen darüber, welche Wortbildungsprodukte möglich sind und welche nicht, auf Einzelwortbasis funktioniert. In diesem Fall erübrigt sich aber im Grunde der Begriff der Restriktion. Auch wenn man somit einige Aspekte von Scherers Definition des Wortbildungswandels hinterfragen kann, eignet sie sich gut zur quantitativen Operationalisierung, da man anhand der jeweils belegten Wortbildungsprodukte sowohl die Inputrestriktionen als auch das Outputpotential eines Wortbildungsmusters korpusbasiert erfassen kann. Einige Beispiele dafür werden wir in den nächsten Kapiteln kennenlernen. Darüber hinaus ist das Konzept eng an den Begriff der Produktivität gekoppelt, dem wir uns im Methodenteil zuwenden werden. 5.1.2.1 Das veränderliche System der Adjektivbildung Möglicherweise-- zumindest wenn es sein Ziel erreicht-- finden Sie dieses Buch nützlich und die darin diskutierten Konzepte weder widersinnisch noch einfältiglich. Die beiden letztgenannten Derivate aus dem Fnhd. stehen exemplarisch für Prozesse des Wortbildungswandels im adjektivischen Bereich. So ist die sogenannte pleonastische Derivation mit--lich-- also das Anfügen von--lich an eine bereits adjektivische Basis, oft an Adjektive auf--ig, z. B. fleißiglich, trauriglich-- vom Fnhd. zum Nhd. deutlich zurückgegangen (vgl. Kempf 2016). Übrig geblieben sind von diesem Muster lediglich wenige Relikte. Aufbauend auf einschlägigen Studien wie Thomas (2002) und Ganslmayer (2012) sowie auf eigenen umfangreichen Korpusrecherchen, bietet Kempf (2016) den derzeit wohl umfassendsten Überblick zur Geschichte der Adjektivderivation im Deutschen, wobei sich ihre Studie auf die Suffixe--lich,--ig und--isch und deren Entwicklung vom Fnhd. zum Nhd. konzentriert. Für die einzelnen Suffixe diskutiert sie jeweils ihre Produktivitätsentwicklung, die Basen, die das jeweilige Suffix nimmt (Input), sowie das Funktionsspektrum, das die jeweiligen Wortbildungsprodukte erfüllen (Output). Im Blick auf den Anteil der einzelnen Suffixe an allen adjektivischen Suffixderivaten stellt sie fest, dass--lich und--ig im Fnhd. noch mit zusammen gut 76 % im <?page no="157"?> 157 5.1 Morphologischen Wandel verstehen Bonner Frühneuhochdeutschkorpus den Löwenteil der Bildungen ausmachen. Gerade--lich wird dann jedoch im Vergleich zu anderen Suffixen deutlich seltener. Das Suffix--isch indes erlebt einen „drastische[n] Aufstieg“ (Kempf 2016: 126). Besonders zwischen 1450 und 1750 ist für--isch eine Produktivitätszunahme festzustellen, wobei sich die Funktionsklassen, denen Wortbildungsprodukte auf--isch zuzuordnen sind, allmählich ausdifferenzieren. Während zunächst die Markierung einer Zusammengehörigkeit die Hauptfunktion des Suffixes darstellt (römisch, höllisch), werden beispielsweise die vergleichende Funktion (bäurisch ‚wie ein Bauer / nach Art eines Bauern‘) und die determinierend-referentielle Funktion (z. B. elich in elich Stand ‚Ehestand‘) diachron prominenter. Insbesondere entwickelt -isch auch eine pejorative (abwertende) Zusatzfunktion (Kempf 2016: 273). Kempf (2016: 284) zeigt, dass die Affinität der isch-Derivation zu pejorativen Basen vom Mhd. zum Fnhd. steigt. Umgekehrt weist Pounder (2000: 190) für ihre Belege aus dem 16. und 18. Jh. eine Affinität pejorativer Basen zur isch-Suffigierung nach. Interessanterweise kommen bei pejorativen Basen Konkurrenzbildungen auf--lich oder--ig außer Gebrauch, bswp. höhnlich, spöttlich, neidig (vgl. Kempf 2016: 278). Allmählich gewinnen so auch Derivate mit neutraler Basis eine abschätzige Konnotation. So kann kindisch noch bis ins 19. Jh. als Synonym zu kindlich gebraucht werden; Kainz ([1943] 1976: 261) schreibt sogar: „Bis ins erste Jahrzehnt des 19. Jhdts. hat kindisch fast durchweg die nämliche Bedeutung wie kindlich.“ (25a) ist ein Beispiel für einen Korpusbeleg aus dem Referenzkorpus Mittelhochdeutsch, in dem kindisch wertneutral verwendet wird. Allerdings zeigt ein Blick in die frühen Belege des Deutschen Textarchivs, dass die pejorative Verwendung bereits im 17. Jh. recht dominant ist. Ein Beispiel hierfür stellt der Beleg in (25b) dar. (25) a. in dinen erſten kindiſchen iaren (Rheinisches Marienlob, 13. Jh., REM ) b. warum ſeit ihr ſo kindiſch / daß ihr nach dem Apfel greiffet / und nicht nach dem Kleinod / daß viel tauſend Aepfel wehrt iſt? (von Birken, Kirch-Wandel, DTA ) Dieses Phänomen ist freilich nicht auf kindisch beschränkt, sondern lässt sich auch bei anderen Derivaten mit neutraler Basis wie dörfisch oder herrisch beobachten (vgl. Kempf 2016: 278). Diese Tendenz ist jedoch auf Bildungen beschränkt, die native Appellativa als Basis haben-- ein Großteil der Neubildungen schon ab dem Fnhd. hat Eigennamen und nicht-native Substantive als Basis, wie <?page no="158"?> 158 5. Morphologischer Wandel Fig. 24 zeigt. Bei der Datenerhebung hat Kempf (2016) nur diejenigen Belege als Neubildungen gezählt, die in keinem der vorherigen Zeitschnitte vorkommen. Während--isch also einen Aufstieg erlebt, ist für--lich ein allmählicher Rückgang festzustellen, nicht nur im Blick auf ihren Anteil an Adjektivbildungen insgesamt, sondern auch bezüglich ihres Anteils an adjektivischen Neubildungen (vgl. Kempf 2016: 128-135). Funktional ist das Suffix dabei ausgesprochen vielseitig- - Thomas (2002) unterscheidet nicht weniger als 20 verschiedene Funktionen, von denen hier nur die wichtigsten und häufigsten genannt werden sollen 10 : ▶ modal: geistlich vnd leiblich ernehrt werden ‚in Bezug auf den Geist / den Körper‘ ▶ pleonastisch (oder adverbbildend): fleissiglich ▶ aktivisch: Das hawbt mag füglich jn ein gefirt ding [=Viereck] getzogen werden (zu sich fügen ‚(zusammen) passen‘) ▶ possessiv-ornativ: gleich wincklich feld ‚mit gleichen Winkeln‘ ▶ passivisch: du-[…] wirst selb mercklichen nutz daran entpfinden (‚Nutzen, der bemerkbar ist‘) ▶ kausativ-faktitiv: gefährlich ‚eine Gefahr verursachend‘, behilflich ‚Hilfe tuend‘ ▶ gleichsetzend: vom ehelichen Leben ‚Lebensform, das eine Ehe ist‘ Insbesondere pleonastische Formen, also solche mit zwei Suffixen, die im Grunde die gleiche Funktion erfüllen, kommen im Laufe der Zeit außer Gebrauch-- Bildungen wie fleißiglich wirken heute antiquiert. In der possessiv-ornativen Funktion wird--lich von--ig verdrängt; statt von einem *gleichwinklichen würde man heute von einem gleichwinkligen Dreieck sprechen. Insgesamt konzentriert sich--lich also auf einige wenige Funktionsklassen. Heute wird es vor allem zur Markierung von Pertinenz (Zugehörigkeit), z. B. göttlich, und Referenz, z. B. klanglich gut, produktiv verwendet. Interessant ist im Blick auf- -lich zudem, dass viele lich-Derivate mit passivischer Funktion (‚kann ge- VERB -t werden‘) allmählich durch bar-Derivate ersetzt werden, wobei sich jedoch die mit unnegierten Pendants diesem Prozess länger zu widersetzen scheinen: Statt ersetzlich würden wir heute beispielsweise eher ersetzbar gebrauchen, während das negierte Pendant unersetzlich durchaus noch verwendet wird. Ähnlich verhält es sich bei unüberwindlich, unerklärlich oder unvermeidlich (vgl. Kempf 2016: 10 Die fnhd. Beispiele und die Paraphrasen stammen aus Thomas (2002). <?page no="159"?> 159 5.1 Morphologischen Wandel verstehen 187). Auch im Bereich der Neubildungen stellt Kempf fest, dass das negierende Schema länger aktiv bleibt als das affirmative. So sind in ihrem Korpus nach 1650 mit einer Ausnahme (erhältlich) nur solche affirmativen lich-Derivate neu belegt, denen ein negiertes Pendant zeitlich vorausgeht, bei denen es sich also vermutlich um Rückbildungen handelt. Darunter versteht man Derivation durch Tilgung eines Wortbildungsaffixes (vgl. Fleischer 2000: 893)-- ein häufig erwähntes Beispiel hierfür ist notlanden, das aus dem Kompositum Notlandung rückgebildet ist. Als Erklärung für die längere Aktivität der negierten Variante der lich-Derivation nimmt Kempf (2016: 190) die kognitive Verfestigung des Schemas [un-X-lich] an, das quasi ein Eigenleben entwickelt. Für die Derivation auf--ig schließlich ist eine leichte Produktivitätszunahme festzustellen, auch weil, wie oben erwähnt, einige lich-Bildungen mit possessiv-ornativer Semantik durch ig-Bildungen ersetzt werden. Dies ist auch die dominante Funktion für die ig-Ableitung im allgemeinen, und die meisten Neubelege, die im 18. Jh. erstmals belegt sind, also dem Zeitraum, in dem das Derivationsmuster am meisten an Produktivität zunimmt, sind diesem funktionalen Bereich zuzuordnen, z. B. sandig, rußig, niederträchtig ‚mit Sand / Ruß / Niedertracht‘. Weiterhin gibt es eine aktivische Bedeutungsvariante in Bildungen wie flatterig, ergiebig. Diese ist eng mit der possessiv-ornativen Funktion verbunden, und gerade im Mhd. weisen viele Derivate beide Bedeutungsvarianten gleichzeitig auf, z. B. zornig ‚zürnend / mit Zorn‘, gierig ‚gierend / mit Gier‘ (vgl. Kempf 2016: 221). Insgesamt jedoch ist das funktionale Repertoire der ig-Derivation deutlich kleiner als das der lich- oder der isch-Derivation. Insgesamt zeigt sich, dass die Entwicklung der drei hier diskutierten adjektivischen Wortbildungsmuster ein Paradebeispiel für Wortbildungswandel im oben erörterten Sinne darstellt: Erstens ändert sich die Produktivität der unterschiedlichen Muster, und zweitens stehen diese Produktivitätsveränderungen in engem Zusammenhang mit den Inputrestriktikonen und dem Outputpotential des jeweiligen Musters. <?page no="160"?> 160 5. Morphologischer Wandel Fig. 24: Fremdwort- und Eigennamenstatus der Basiswörter von isch-Derivaten im Bonner Frühneuhochdeutschkorpus (FnhdC) und im GerManC-Korpus nach Kempf (2016: 261). APP = Appellativum, EN = Eigenname. 5.1.2.2 Das Wortbilden und die Wortbildung: Nominalisierungsmuster im Wandel Einen ähnlich mustergültigen Fall für Wortbildungswandel stellt die diachrone Entwicklung der ung-Nominalisierung dar, die bereits Demske (2000, 2002) untersucht hat. Auf diesen Ergebnissen aufbauend, untersucht Hartmann (2016b, im Ersch.) dieses Wortbildungsmuster auf der Grundlage dreier diachroner Korpora: des Mainzer Frühneuhochdeutschkorpus (Kopf 2016), des GerManC-Korpus und des Deutschen Textarchivs. Vom Deutschen Textarchiv ( DTA ) wird dabei ein auf Textsorten und 50-Jahres-Zeitschnitte hin ausgewogenes Subkorpus mit etwa 1 Million Wörtern benutzt. <?page no="161"?> 161 5.1 Morphologischen Wandel verstehen Um einen Eindruck zu gewinnen, wie sich das Wortbildungsmuster verändert hat, werfen wir zuerst einen Blick auf drei durchaus repräsentative Beispiele aus den drei Korpora: (26) dem Klang/ Laut und Maß/ welches ihnen etwan von Lesung eines Gedichts in dem Gedächtniß geblieben/ ( NOBD -1650- ST -099.txt, MzFnhd) (27) Mit r uͤ stung zu der Reise gehn viele Tage weg / doch endlich ziehn wir fort. (Bressand, Sterbende Euridice, 1699, GerManC) (28) Dazu erinnerte er ſich, daß er dem Geheimrath Lupinus verſprochen, ihm bei der Collationirung zweier Manuſcripte heut Abend zu helfen. (Alexis, Bürgerpflicht, 1852, DTA ) In den Beispielen (26) und (27) zeigt sich eine stark prozessuale Lesart der ung-Nominalisierung, die so im Gegenwartsdeutschen nicht mehr möglich ist. Dies gilt nicht nur bei Wortbildungsprodukten, die wie diese heute lexikalisiert sind: Lesung kann nicht mehr *‚das Lesen eines Buches‘ bezeichnen, sondern ist auf sehr spezifische Kontexte beschränkt. Entweder bezieht es sich auf eine Veranstaltung, etwa eine Autorenlesung, oder auf die Lesung eines Gesetzentwurfs in einem Parlament im Zuge eines Gesetzgebungsverfahrens. Noch stärker auf eine spezifische Lesart eingeengt ist Rüstung, was in der Regel nur noch ein konkretes Objekt bezeichnen kann- - eine Ausnahme hiervon sind Komposita wie Rüstungsausgaben, in denen tatsächlich der ‚Prozess des (Auf-) Rüstens‘ gemeint ist. Beispiel (28) indes zeigt einen Trend, der sich im frühen Nhd. einer großen Beliebtheit erfreut, nämlich die Nominalisierung von aus dem Französischen entlehnten Verben auf--ieren. Einige dieser Verben-- mitsamt der entsprechenden Nominalisierungen-- sind heute Bestandteil unserer Alltagssprache, z. B. Regulierung, Stabilisierung. Andere, wie Depravierung, Purgierung oder eben Collationierung in (28), sind außer Gebrauch gekommen oder nur noch in Fachvokabular zu finden. Mit diesen eher impressionistischen Beobachtungen haben wir bereits die Input- und Outputrestriktionen des Musters angeschnitten. Einerseits kommen durch Entlehnung neue Wörter in die Sprache, die als Basen (also als Input) für ung-Nomina fungieren können. Zugleich jedoch lässt sich eine Veränderung im Blick auf den Output beobachten: Im Nhd. können ung-Nomina nur noch eingeschränkt die prozessuale Semantik zum Ausdruck bringen, die für die ung-Nominalisierung in früheren Sprachstufen so zentral ist. Sogar noch zu Beginn des 20. Jh. finden sich Belege wie (29): <?page no="162"?> 162 5. Morphologischer Wandel (29) Nach Lesung dieser Zeilen bekam Georges einen Wutanfall (DeRe- Ko, HK 4 / F22.00001, 1902). In Fällen wie (26) bis (29) würden wir im Gegenwartsdeutschen eher zum nominalisierten Infinitiv greifen: das Lesen eines Gedichts. Daher sieht Demske (2000) den nominalisierten Infinitiv auch als „Nachfolgemodell“ der ung-Nominalisierung (vgl. auch Barz 1998). Demske (2000) zeichnet ein quasi zyklisches Bild des Wandelprozesses im Bereich der deverbalen Nominalisierung (also der Ableitung von Nomina auf Basis von Verben): Wenn die Wortbildungsprodukte eines produktiven Wortbildungsmusters häufig gebraucht werden, machen sie oft einen Prozess der Lexikalisierung durch- - sie entwickeln also eine eigene, von Basis und Wortbildungsmuster prinzipiell unabhängige Semantik. Die Bedeutung des Wortbildungsprodukts lässt sich somit nicht mehr allein durch die Kenntnis der Basis und des Wortbildungsmusters erschließen. So bedarf es zusätzlichen (Welt-)Wissens, um Lesung in einem Satz wie die Lesung wurde unterbrochen als ‚Veranstaltung‘ zu interpretieren und nicht als *‚Prozess des Lesens‘. Das Wortbildungsprodukt muss also einen eigenen Eintrag im mentalen Lexikon haben- - daher „Lexikalisierung“. Wenn viele Produkte eines Wortbildungsmusters lexikalisiert sind, wird dieses Muster oft durch jüngere „Konkurrenten“ verdrängt. Im Falle der ung-Nominalisierung wäre das der nominalisierte Infinitiv: Da wir Wörter wie lesen, aber auch z. B. heizen nicht mehr mit Hilfe der ung-Nominalisierung substantivieren können, müssen wir auf ein anderes Wortbildungsmuster ausweichen. Die ung-Nominalisierung ihrerseits sieht Demske (2000) als Nachfolgemodell eines anderen Wortbildungsmusters, nämlich der impliziten Derivation (z. B. reiten-- Ritt, schneiden-- Schnitt). Die Lexikalisierung frequenter ung-Nomina trägt auch entscheidend dazu bei, dass das Wortbildungsmuster als Ganzes immer „nominaler“ wird und die prozessuale Lesart, wie oben erwähnt, ein Stückweit verloren geht. Ein Muster, in dem sich die prozessuale Lesart von ung-Nomina im Fnhd. und im frühen Nhd. besonders deutlich niederschlägt, ist die Verwendung von ung-Nomina als präpositionale Komplemente, wie wir sie in (30) finden (zit. nach Demske 2000: 380): (30) Diese wochen hat man alhie in grabung deß Grunds zu S. Petro ein Kreutzlein oder heyligthumb-[…] gefunden. (Relation des Jahres 1609) <?page no="163"?> 163 5.1 Morphologischen Wandel verstehen Diese Konstruktion, die-- je nach Präposition-- etwa Vorzeitigkeit, Gleichzeitigkeit oder Nachzeitigkeit, aber auch kausale Relationen ausdrücken kann (z. B. durch Lufftholung, Abel, Leib-Medicus, 1699, DTA ), setzt in den allermeisten Fällen eine stark prozessuale Konzeptualisierung des von der Nominalisierung kodierten Geschehens voraus.Wie die Korpusrecherchen von Hartmann (2016b) zeigen, nimmt die Frequenz dieser Konstruktion im Laufe des Fnhd. deutlich zu und geht dann im Laufe des Nhd. drastisch zurück. Auch in einem eine Million Tokens umfassenden ausgewogenen Subkorpus des DTA bestätigt sich dieses Muster, wie Fig. 25 zeigt (vgl. auch Hartmann im Ersch.). Zu Beginn des Untersuchungszeitraums, um 1600, gehören noch 17,5 Prozent aller Belege, die sich im Korpus für ung-Nomina finden, diesem Muster an, am Ende der vom Korpus erfassten Zeitspanne, im Übergang vom 19. zum 20. Jh., sind es nicht einmal mehr 5 Prozent. Demgegenüber treten ung-Nomina häufiger mit Artikel oder im Plural auf. Auch diese Entwicklung kann als Indiz für eine stärkere „Nomenhaftigkeit“ des Musters verstanden werden: Substantive bezeichnen typischerweise Dinge, die sich durch Individuiertheit und Zählbarkeit auszeichnen (s. auch Infobox 12). Maus oder Stein sind damit „bessere“ Beispiele für Substantive als nicht-zählbare Massennomen wie Sand oder Wasser. Mit dem Gebrauch des Artikels kennzeichnet man das, worauf Bezug genommen wird, quasi als konkretes Einzelelement, man gibt ihm gleichsam „eine festumrissene Gestalt“ (Brinkmann 1949: 16), betont also die Individuiertheit. Pluralisierung ist grundsätzlich nur bei zählbaren Nomina möglich, und wenn man nicht-zählbare Nomina mit einem Pluralmarker versieht, „erzwingt“ man eine Lesart im Sinne eines zählbaren Nomens: die Biere ‚mehrere Sorten oder Gläser Bier‘, die Schönheiten ‚mehrere Personen, die als schön wahrgenommen werden‘ (vgl. Vogel 1996: 115). <?page no="164"?> 164 5. Morphologischer Wandel Fig. 25: Relative Frequenz der Konstruktion „Präposition + ung-Nominalisierung“ in einem ausgewogenen Subkorpus des Deutschen Textarchivs. Auf das Beispiel der ung-Nominalisierung werden wir im Methodenteil (Kap. 5.2.1) noch einmal zurückkommen. Zusammengenommen zeigen die Ergebnisse eine wachsende „Nominalität“ des Musters und bestätigen damit die Beobachtung Demskes (2000), dass es sich bei der Entwicklung der ung-Nominalisierung quasi um einen „Nominalisierungsprozess“ im wörtlichen Sinne handelt. Die bei vielen ung-Nomina zu beobachtende „Drift“ hin zu konkrete(re)n Wortbildungsbedeutungen lässt sich übrigens nicht nur für dieses Wortbildungsmuster und nicht nur fürs Deutsche nachweisen, sondern ist vielfach belegt. So beobachtet Panagl (1987: 146) eine generelle Tendenz deverbaler <?page no="165"?> 165 5.1 Morphologischen Wandel verstehen Nominalisierungen, zunächst eine resultative Bedeutung auszubilden (Die Zerstörungen waren noch jahrelang zu sehen, Bsp. aus Ehrich & Rapp 2000: 292), um anschließend auf ein konkretes Objekt zu verweisen. Beispiele aus anderen Sprachen sind lat. mansio zu manere ‚anhalten, bleiben‘ > spätes Latein mansio ‚Aufenthaltsort‘ > frz. maison ‚Haus’ (Panagl 1987) oder lat. prehensio ‚das Gefangennehmen‘ > frz. prison ‚Gefangenschaft‘ > frz. prison ‚Gefängnis‘ (Blank 1999). Die Tendenz zu konkreteren Bedeutungsvarianten lässt sich auch für Nominalisierungen auf--ing im Englischen zeigen (vgl. Fonteyn & Hartmann 2016). Infobox 12: Wortarten als prototypische und sprachspezifische Kategorien Vielleicht haben Sie in der Grundschule Nomen und Verben auch als „Dingwörter“ und „Tunwörter“ kennengelernt. Nun sind zum Beispiel Liebe oder Frieden nicht unbedingt „Dinge“ im Sinne konkreter Objekte, und regnen ist nicht unbedingt etwas, was irgendjemand tut. Dennoch erfassen die simplen deutschen Begriffe eine wichtige Erkenntnis über diese beiden Wortarten. Verben bezeichnen prototypischerweise eine Tätigkeit bzw. ein Geschehen, Substantive bezeichnen im prototypischen Fall (konkrete) Objekte. Adjektive schließlich bringen in der Regel Eigenschaften zum Ausdruck. Auch wenn regnen kein prototypisches Verb sein mag, würde kaum jemand abstreiten, dass es sich dabei um ein Verb handelt. Aber was ist zum Beispiel mit lesen in der Konstruktion ich bin am lesen / Lesen? Die Tatsache, dass das Verb in dieser Konstruktion in geschriebenen Texten mal klein, mal groß geschrieben auftritt (s. u. Kap. 6.1.3), zeugt von einer gewissen Unsicherheit darüber, ob es sich hier um ein Verb oder um eine Nominalisierung handelt. Wortarten lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien einteilen. Mit Sasse (1993) kann man semantische, formale und distributionale Kriterien unterscheiden. Nehmen wir als Beispiel die Wörter Stein und rennen. Stein bezieht sich auf ein Objekt, rennen auf eine Tätigkeit. Daher lassen sie sich nach dem o. g. semantischen Kriterium als Substantiv bzw. Verb identifizieren. Weiterhin weist rennen die Infinitivendung -en auf, anhand deren das Wort als Verb erkennbar ist; ähnlich weist Stein in seinen unterschiedlichen deklinierten Formen (des Steins, die Steine) nomentypische Endungen auf. Dies sind formale Kriterien zur Wortartenklassifikation. Schließlich lassen sich Wortarten anhand ihrer Stellung im Satz unterteilen, also ihrer Verteilung (Distribution). So treten <?page no="166"?> 166 5. Morphologischer Wandel 5.2 Morphologischen Wandel untersuchen Die folgenden Kapitel widmen sich dem Begriff der Produktivität, der für die Untersuchung des Wortbildungswandels, aber auch des syntaktischen Wandels zentral ist und auch im Bereich der Flexionsmorphologie z. B. im Vergleich unterschiedlicher Flexionsvarianten (Allomorphe) Anwendung finden kann. Kapitel 5.2.1 diskutiert zunächst unterschiedliche theoretische Perspektiven auf Produktivität sowie Möglichkeiten, sie zu messen. Kapitel 5.2.2 widmet sich dann, erneut am Beispiel der ung-Nominalisierung, der diachronen Anwendung von Produktivitätsmaßen. im Deutschen Substantive typischerweise in Subjekt- oder Objektposition auf (aber nicht ausschließlich: in einigen Fällen ist z. B. ein isoliertes Vorkommen möglich, vgl. Achtung! ). Die Wortartenunterteilung in Nomen, Verb, Adjektiv und die „kleineren“ Wortarten wie Präpositionen und Konjunktionen ist uns so vertraut, dass wir geneigt sind, genau diese Wortarten in allen Sprachen zu suchen. Die Frage, inwieweit Wortarten sprachübergreifend sind, wurde und wird jedoch kontrovers diskutiert. Bereits Adelung (1782b: 113) mahnte: „Das Eigene jeder Sprache muß in ihr selbst aufgesucht werden.“ Am ehesten noch sind Nomen und Verb universale Kategorien, aber auch hier wird im Blick auf eine Reihe von Sprachen, die auf den Philippinen und an der Nordwestküste des Pazifik gesprochen werden, diskutiert, ob sie eine Unterscheidung zwischen diesen Kategorien aufweisen oder nicht (vgl. Evans & Levinson 2009: 434). <?page no="167"?> 167 5.2 Morphologischen Wandel untersuchen Infobox 13: Types, Tokens, Hapax Legomena Die Produktivitätsmaße, die wir in diesem Abschnitt kennenlernen, arbeiten mit drei grundlegenden korpuslinguistischen Messgrößen: Types, Tokens und Hapax Legomena. Unter Types (eingedeutscht häufig auch als Typen bezeichnet) versteht man unterschiedliche Einheiten - also in der Korpuslinguistik meist: unterschiedliche Lexeme. Unter Tokens (eingedeutscht oft auch Token) versteht man unterschiedliche Instanzen oder „Exemplare“ desselben Typs. An einem nicht-sprachlichen Beispiel: Wenn Sie und Ihr Kommilitone je ein Exemplar dieser Einführung besitzen, dann haben Sie dasselbe Buch (1 Type), aber zwei Exemplare davon (2 Tokens). An einem sprachlichen Beispiel: Der Satz Mainz bleibt Mainz enthält zweimal den Eigennamen Mainz und einmal das Verb bleiben, also zwei Types und insgesamt drei Tokens. Als Hapax Legomenon (von gr. ἅπαξ λεγόμενον ‚das (nur) einmal Gesagte‘, Plural: Hapax Legomena, kurz auch Hapaxe) bezeichnet man Types, die nur einmal im Korpus vorkommen, bei denen also Type- und Tokenfrequenz gleich eins ist. 5.2.1 Morphologische Produktivität messen Wortbildungsmuster sind, wie das Theoriekapitel zum Wortbildungswandel (5.1.2) bereits deutlich gemacht hat, unterschiedlich produktiv, d. h. sie unterscheiden sich darin, in welchem Maße sie neue Bildungen hervorbringen. So kann man z. B. die Infinitivnominalisierung auf fast jedes beliebige Verb anwenden: tanzen-- das Tanzen; sein-- das Sein usw. Auch bei neuen Verben können wir das Muster einsetzen: das Googeln, das Twittern. Hingegen kann man die Ableitung mit -nis praktisch gar nicht mehr produktiv verwenden: *Geilnis, *Hellnis etc. Sie ist nur (quasi relikthaft) in bereits existierenden Wortbildungsprodukten erhalten: Finsternis, Düsternis, Wagnis. Das Konzept der morphologischen Produktivität wollen wir nun etwas genauer unter die Lupe nehmen. <?page no="168"?> 168 5. Morphologischer Wandel Definitionen von Produktivität Unter morphologischer Produktivität versteht man die Fähigkeit eines Wortbildungsmusters, Neubildungen hervorzubringen (vgl. Booij 2012: 70). Diese Definition scheint zunächst recht einfach, wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf, die dazu führen, dass Produktivität zu den umstrittensten Konzepten in der Sprachwissenschaft gehört-- gerade im Blick auf die empirische Operationalisierung. Beispielsweise hat Rainer (1987) nicht weniger als sechs verschiedene Definitionen des Produktivitätsbegriffs herausgearbeitet, die in Tab. 17 zusammengefasst sind. Während einige der dort genannten Definitionen selbsterklärend sind, bedürfen andere einer genaueren Erläuterung. Nr. Definition 1 Produktivität einer Wortbildungsregel als Funktion der Menge der zu einem bestimmten Zeitpunkt nach dieser Wortbildungsregel realisierten Bildungen (direkte Proportionalität) 2 Produktivität einer Wortbildungsregel als Funktion der Menge ihrer möglichen Basen (direkte Proportionalität) 3 Produktivität als Verhältnis von usuellen zu möglichen Bildungen 4 Produktivität als Möglichkeit von Neubildungen 5 Produktivität als Wahrscheinlichkeit von Neubildungen 6 Produktivität als Anzahl der Neubildungen in einem bestimmten Zeitraum Tab. 17: Definitionen morphologischer Produktivität nach Rainer (1987). Am einfachsten ist wohl die erste Definition, auch wenn sie etwas kompliziert formuliert ist. Hier geht es einfach um die reine Typefrequenz, d. h. Produktivität bemisst sich schlicht an der Zahl der Bildungen, die nach einem Wortbildungsmuster realisiert werden. Je mehr Bildungen, desto höher die Produktivität; je weniger Bildungen, desto niedriger die Produktivität-- das ist mit „direkter Proportionalität“ gemeint. Die zweite Definition stützt sich auf das etwas problematische Konzept möglicher Wörter. Die Meinungen darüber, wie ein mögliches Wort zu definieren ist, gehen jedoch auseinander. Einige Ansätze würden beispielsweise argumentieren, dass Formen wie Hilfreichheit oder erreichlich mögliche Wörter des Deutschen seien, auch wenn diese Wörter natürlich nicht gebraucht werden-- sie widersprechen jedoch nicht den (formalen) Beschränkungen des jeweiligen Wortbildungsmusters. So fordert das Suffix--keit eine adjektivische Basis, während- -lich verbale Basen nimmt. Eine solche Definition möglicher <?page no="169"?> 169 5.2 Morphologischen Wandel untersuchen Wörter wird in Ansätzen vertreten, die strikt zwischen „Kompetenz“ und „Performanz“ unterscheiden (vgl. Haspelmath 2002: 98). Mit Kompetenz ist dabei das intrinsische Sprachwissen eines idealen Sprechers gemeint, mit Performanz der tatsächliche Sprachgebrauch. Rainer (2012: 166) weist darauf hin, dass Friedrich Jakob Schmitthenner die heutige Terminologie bereits 1826 vorweggenommen hat, als er mögliche Wörter als solche Wörter definierte, „deren Bedingnisse durch die Elemente und Ableitungsgesetze der Sprache gegeben sind“ (Schmitthenner: Ursprachlehre, zit. nach Rainer 2012: 166). Ähnliche, wenn auch moderner formulierte Definitionen finden sich bei Plag (1999: 7) und Bauer (2004: 86), wobei Letzterer nur solche Wörter als mögliche Wörter anerkennt, die zwar möglich, aber nicht belegt sind, während Plag alle regelkonformen Bildungen, „existing or nonexisting“, zu den möglichen Wörtern zählt. Zugleich weist Plag (1999: 7) darauf hin, dass eine Operationalisierung des Begriffes „mögliches Wort“ auf Grundlage von Wortbildungsregeln zunächst eine genaue Spezifikation dieser Regeln erfordert. Während Definition 2 sich ausschließlich auf mögliche Wörter stützt und somit die potentielle Anwendungsdomäne eines Wortbildungsmusters als entscheidend für seine morphologische Produktivität sieht, bezieht Definition 3 auch usuelle Wörter mit ein. Auch was ein usuelles, also tatsächlich im Gebrauch befindliches, Wort ist, lässt sich nicht ohne weiteres definieren. Wenn ich beispielsweise Hilfreichheit verwende, ohne dass mir klar ist, dass die Form von den meisten Sprecherinnen und Sprechern des Deutschen als ungrammatisch eingestuft werden würde-- ist es dann schon ein usuelles Wort, nur weil ich es verwendet habe? Das ist eine sehr theoretische Frage, die sich von einer dezidiert empirischen Warte so nicht stellt. Empirisch kann man usuelle Wörter auf Grundlage einer bestimmten Datenbasis definieren, etwa Wörterbücher oder Korpora (vgl. Rainer 1987: 189). Eingangs habe ich Produktivität allgemein definiert als Möglichkeit eines Musters, neue Bildungen hervorzubringen. In den ersten drei Definitionen spielen Neubildungen jedoch nur sehr indirekt eine Rolle. In den Definitionen 4, 5 und 6 hingegen werden sie ausdrücklich erwähnt. Definition 4 konzeptualisiert Produktivität dabei als binäre Kategorie, d. h. ein Wortbildungsmuster ist entweder produktiv oder nicht: „[E]ine Wortbildungsregel ist zu einem bestimmten Zeitpunkt produktiv genau dann, wenn man nach ihr zu diesem Zeitpunkt neue Wörter bilden kann“ (Rainer 1987: 190). Definition 5 legt die Wahrscheinlichkeit zugrunde, dass ein Wortbildungsmuster Neubildungen her- <?page no="170"?> 170 5. Morphologischer Wandel vorbringt. Rainer bezieht sich hier auf Harris (1951), der schon früh wesentliche Punkte der Diskussion um Produktivität vorweggenommen hat. Er nennt als Beispiel die Konversion von Nomen zu Verb im Englischen (to ship, to salt): Angenommen, wir haben eine große Stichprobe an Sprachdaten, in denen ein bestimmtes Substantiv- - sagen wir truck- - noch nicht in verbalisierter Form vorkommt, so ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass wir auf einen Beleg wie (31) stoßen, wenn wir die Stichprobe vergrößern: (31) this year CDFW will truck an estimated 18.4 million fish ( ENCO- W 16 AX ) Die diachrone Dimension, die Produktivität inhärent mit sich bringt (denn Neubildungen sind ja nur neu im Vergleich zu einem früheren Zeitpunkt! ), kommt in Definition 6 explizit zum Tragen. Für eine empirisch orientierte, diachrone Herangehensweise ist diese Definition wohl die wichtigste. Wenn wir sie datenbasiert operationalisieren wollen, stellt sie uns aber erneut vor die Frage, wie wir eigentlich Neubildungen identifizieren können. Denkpause Angenommen, Sie haben ein großes Korpus, das in mehrere Zeitschnitte untergliedert ist, die jeweils einem Jahrhundert entsprechen. Überlegen Sie, wie Sie entscheiden würden, welche Wörter im jeweiligen Jahrhundert als Neubildungen gelten können. Neubildungen in historischen Korpora zu identifizieren ist praktisch unmöglich: Man sieht einem Wort nicht an, ob es eine Neubildung ist, und ein Wort, das in einem bestimmten Zeitschnitt eines Korpus zum ersten Mal auftaucht, muss nicht zwangsläufig eine Neubildung sein-- es ist ebenso gut möglich, dass frühe Verwendungen dieses Wortes nur nicht im Korpus dokumentiert sind. Um Neubildungen mit absoluter Sicherheit identifizieren zu können, bräuchten wir ein Korpus, das alle Äußerungen jeder Sprachbenutzerin und jedes Sprachbenutzers, ob geschrieben oder gesprochen, enthält. Ein solches Korpus kann es natürlich nicht geben. Also brauchen wir eine Messgröße, die uns zumindest eine Annäherung an die Zahl der Neubildungen in einem bestimmten Zeitraum erlaubt. Oftmals greift man hier auf die Zahl der Hapax Legomena zurück, also der Wörter, die nur einmal im gesamten Korpus belegt sind. Die Idee dahinter ist, dass zwar nicht jedes Hapax Legomenon eine Neubildung sein muss, dass aber die Zahl der Hapaxe mit der Zahl der Neubildungen korreliert. <?page no="171"?> 171 5.2 Morphologischen Wandel untersuchen Andere Ansätze hingegen betonen stärker die Rolle der Typefrequenz unabhängig von der Anzahl der Hapax Legomena. So nimmt Bybee (2010: 95 f.) an, dass der kognitive Mechanismus hinter Produktivität Analogie ist: Wir bilden neue Instanzen einer Konstruktion auf Grundlage der existierenden Instanzen, also zum Beispiel Hosengate (so wurde in der Boulevardpresse der vieldiskutierte Vorgang genannt, dass Bundestrainer Joachim Löw sich bei einem Fußballspiel in den Schritt griff), weil wir Watergate, Nipplegate, Camillagate (‚uneheliche Beziehung zwischen Prinz Charles und Camilla‘) kennen (zu- -gate vgl. Flach et al. im Ersch.). Je mehr „Vorbilder“ es gibt, auf die wir zurückgreifen können, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Muster auch tatsächlich genutzt wird, um neue Wörter zu bilden. Daher wurden in der Literatur eine ganze Reihe von Produktivitätsmaßen vorgeschlagen, die sich in unterschiedlichem Maße auf die Zahl der Types, Tokens und Hapax Legomena stützen. Einen Überblick bieten z. B. Baayen (2009) sowie Hilpert (2013: 132), dessen tabellarische Darstellung in Tab. 18 wiedergegeben ist, wobei die einzelnen Maße am Beispiel der ung-Nominalisierung veranschaulicht werden. Das wohl verbreitetste Maß, die potentielle Produktivität, werden wir im nächsten Abschnitt genauer betrachten. Produktivitätsmaß Operationalisierung Formel Beispiel Realisierte Produktivität Summe aller Types einer Konstruktion (Typefrequenz) Summe aller ung-Nomina im Korpus Typefrequenzwandel Summe aller neuen Types in einem gegebenen Zeitraum Summe aller ung-Nomina, die in einem zeitlich vorher angesiedelten Korpus nicht vorhanden sind Normalisierter Frequenzwandel Summe aller neuen Types in einem gegebenen Zeitraum, geteilt durch Korpusgröße Summe aller ung-Nomina, die in einem zeitlich vorher angesiedelten Korpus nicht vorhanden sind, geteilt durch die Gesamtzahl aller Tokens im Korpus Potentielle Produktivität Summe der Hapax Legomena einer Konstruktion, geteilt durch Anzahl aller Tokens, die zur Konstruktion gehören Summe aller nur einmal vorkommenden ung-Nomina, geteilt durch die Gesamtzahl der ung-Nomina im Korpus <?page no="172"?> 172 5. Morphologischer Wandel Produktivitätsmaß Operationalisierung Formel Beispiel Expandierende Produktivität Summe der Hapax Legomena einer Konstruktion, geteilt durch die Gesamtsumme der Hapaxe im Korpus ∑ Summe aller nur einmal vorkommenden ung-Nomina, geteilt durch die Gesamtzahl aller nur einmal vorkommenden Tokens im Korpus Tab. 18: Produktivitätsmaße nach Hilpert (2013: 132), illustriert am Beispiel der ung-Nominalisierung. Potentielle Produktivität Baayen (2009: 901 f.) vergleicht die Produktivität eines Wortbildungsmusters mit dem Erfolg eines Unternehmens: Eine hohe realisierte Produktivität (also hohe Typefrequenz) deutet darauf hin, dass es einen großen „Marktanteil“ hat. Eine hohe expandierende Produktivität-- die darauf hindeutet, dass die Neubildungen, die diesem Muster folgen, einen großen Anteil an der Gesamtzahl der Neubildungen im Korpus haben-- kann darauf hindeuten, dass es auf Expansionskurs ist, unabhängig davon, wie groß sein Marktanteil schon ist. Allerdings ist es gut möglich, dass ein Unternehmen bereits einen hohen Marktanteil hat, aber kaum noch Käuferinnen da sind, weil der Markt bereits gesättigt ist. So lässt sich bei der ung-Nominalisierung beobachten, dass ihre Wortbildungsprodukte zwar extrem frequent sind, aber nur noch wenige Neubildungen hinzukommen. Ein Wortbildungsmuster, dessen „Markt“ gesättigt ist, hat eine geringere potentielle Produktivität. Umgekehrt bedeutet das: Ein Wortbildungsmuster mit hoher potentieller Produktivität bringt eher Neubildungen hervor als ein Muster mit niedriger potentieller Produktivität. Allerdings gilt es bei der Anwendung der potentiellen Produktivität (wie auch anderer Produktivitätsmaße) im Blick zu behalten, dass die Ergebnisse in hohem Maße von der jeweiligen Stichprobe abhängig sind. Zur Veranschaulichung werfen wir einen Blick auf Fig. 26. Nehmen wir an, was wir dort sehen, seien Wortbildungsprodukte von zwei verschiedenen Wortbildungsmustern irgendeiner Sprache. Anders als bei einer echten Sprache, haben wir bei einer fiktiven Modellsprache den Vorteil, dass wir die Grundgesamtheit kennen-- also alle Types und Tokens. Auch können wir so tun, als wäre Sprache statisch-- bei einer echten Sprache können wir die Grundgesamtheit ja auch deshalb nicht kennen, weil sie sich mit jeder einzelnen Äußerung ändert. Es gibt zwei Wortbildungs- <?page no="173"?> 173 5.2 Morphologischen Wandel untersuchen muster in unserem Modell: Die Wortbildungsprodukte des einen werden durch Zahlen repräsentiert, die des anderen durch Buchstaben. Der Einfachheit halber ist die Sprache so gestaltet, dass in der Gesamtsprache 1 einmal vorkommt, 2 zweimal, 3 dreimal usw. Analog kommt beim zweiten Wortbildungsmuster a einmal vor, b zweimal, c dreimal usw. Darüber hinaus hat das Buchstaben-Wortbildungsmuster noch zwei weitere Hapax Legomena, nämlich A und α , die jeweils ein einziges Mal in der Gesamtsprache vorkommen. Ignorieren wir zunächst die beiden Kreise in der Grafik und schauen wir uns die beiden fingierten Wortbildungsmuster als Ganze an. Das Zahlen-Muster ist eindeutig tokenfrequenter: Insgesamt gibt es 45 Tokens, während das Buchstaben-Muster nur 17 Tokens aufweist. Auch hat das Zahlen-Muster etwas mehr Types: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 und 9. Das Buchstaben-Muster hat nur sieben Types: a, A, α , b, c, d, e. Allerdings weist das Buchstaben-Muster mehr Hapax Legomena auf, nämlich drei (a, A, α ), während bei den Zahlen nur die 1 ein Hapax Legomenon ist. Der Anteil von Hapax Legomena an der Gesamtzahl der Tokens beträgt damit bei den Zahlen 1 von 45 (=-0,02), bei den Buchstaben 3 von 17 (=-0,18). Für diese Messgröße, die man mit Baayen (2009) potentielle Produktivität nennt, findet man in der Literatur auch die Bezeichnungen „Produktivität i.e.S.“, „category-conditioned degree of productivity“, „Baayens 𝒫 “ oder schlicht „P“ (vgl. u. a. Baayen 1992, 1993; Aronoff 2014). Die entsprechende Formel lautet: P-= n 1 / N Dabei steht n 1 für die Anzahl der Hapaxe, die zum untersuchten Wortbildungsmuster gehören, und N für die Gesamtzahl der Tokens, die zum Wortbildungsmuster gehören. Weil wir bei tatsächlichen Sprachen die Grundgesamtheit nicht kennen können, arbeiten wir mit Stichproben. Ein Korpus kann in diesem Sinne als Stichprobe aus der Grundgesamtheit aller Äußerungen, die in einem bestimmten Zeitraum in einer bestimmten Sprache getätigt wurden, gesehen werden. Die beiden Kreise in Fig. 26 repräsentieren jeweils eine Stichprobe, eine kleinere und eine größere. Da wir bei unserer Modellsprache die Grundgesamtheit kennen, können wir die Produktivitätswerte der beiden fiktiven Wortbildungsmuster in den Stichproben mit dem Produktivitätswert vergleichen, den wir auf Grundlage der Gesamtsprache errechnet haben. <?page no="174"?> 174 5. Morphologischer Wandel Denkpause Ermitteln Sie den Wert der potentiellen Produktivität für das „Buchstaben-“ und das „Zahlen-Muster“ auf Grundlage der beiden Stichproben in Fig. 26 (kleiner Kreis links und etwas größerer Kreis rechts). Denken Sie daran, dass Sie nur zwei Informationen brauchen: a) Wie viele Buchstaben oder Zahlen kommen genau einmal im Kreis vor? b) Wie viele Buchstaben oder Zahlen befinden sich insgesamt in dem Kreis? Der Wert aus a), geteilt durch den Wert aus b), ergibt die potentielle Produktivität. Im kleinen Kreis links gibt es bei den Zahlen ein Hapax Legomenon, nämlich die 6. In Relation zu zehn Tokens, die sich insgesamt in der Stichprobe befinden, ergibt sich also eine potentielle Produktivität von 1 / 10-= 0,1. Bei den Buchstaben findet sich ebenfalls nur ein Hapax, nämlich das d. In Relation zu sechs Tokens beträgt der Produktivitätswert also 1 / 6-= 0,17. Die Differenz zwischen den Produktivitätswerten des Buchstaben-Musters und des Zahlen-Musters ist also deutlich geringer als in der Gesamtsprache, aber es ist noch zu erkennen, dass das Buchstaben-Muster ein höheres „Potential“ für Hapaxe hat. In beiden Fällen handelt es sich bei den Hapaxen in der Stichprobe nicht um „echte“ Hapaxe, also nicht um Items, die in der Gesamtsprache nur einmal vorkommen. Im Gegenteil handelt es sich sogar um relativ frequente Items, was zeigt, wie stark der Zufall diese (zu) kleine Stichprobe beeinflusst. Die größere Stichprobe spiegelt die Frequenzverhältnisse insgesamt etwas besser wider. Hier finden wir bei den Zahlen zwei Hapax Legomena (1 und 5) bei insgesamt 21 Tokens, was einem P-Wert von 0,095 entspricht. Bei den Buchstaben befinden sich ebenfalls zwei Hapaxe in der Stichprobe (α und b), bei insgesamt 7 Tokens, sodass wir zu einem P-Wert von 0,29 kommen. <?page no="175"?> 175 5.2 Morphologischen Wandel untersuchen Fig. 26: Eine fiktive Modellsprache. Die Zahlen stehen für die Produkte eines Wortbildungsmusters, die Buchstaben für die Produkte eines anderen Wortbildungsmusters. Was zeigen uns diese Spielereien? - - Zum einen macht das Modell deutlich, dass der im Korpus gemessene Produktivitätswert in hohem Maße von der Stichprobengröße abhängt. Zum anderen zeigt es zumindest ansatzweise die Möglichkeiten und Grenzen auf, die der Vergleich unterschiedlicher Produktivitätswerte mit sich bringt und auf die wir im nächsten Abschnitt an einem konkreten Beispiel näher eingehen werden. 5.2.2 Diachrone Anwendung von Produktivitätsmaßen In unserem Modell haben wir die Produktivität von zwei verschiedenen Wortbildungsprodukten verglichen, wie es auch in synchron orientierten Studien zu unterschiedlichen Wortbildungsmustern in einzelnen Sprachen häufig geschieht (z. B. Gaeta & Ricca 2006). In sprachgeschichtlichen Studien ist es hingegen häufig der Fall, dass wir die Produktivität eines Wortbildungsmusters zu unterschiedlichen Zeitpunkten vergleichen. Tab. 19 zeigt die Types, Tokens und Hapax Legomena der Nominalisierung auf -ung in einem etwa eine Million Wörter umfassenden, auf sechs Zeitschnitte und drei Textsorten hin ausgewo- <?page no="176"?> 176 5. Morphologischer Wandel genen Subkorpus des Deutschen Textarchivs (Hartmann im Ersch.). Anhand der Zeitschnitte ist das Korpus quasi in sechs Subkorpora unterteilt: Für jedes dieser Subkorpora lässt sich ein eigener Produktivitätswert errechnen. (Hapax Legomena werden jedoch auf Grundlage des Gesamtkorpus definiert, d. h. als Hapax Legomenon gilt nur ein Wort, das in allen sechs Zeitschnitten nur ein einziges Mal auftaucht-- es reicht nicht, wenn es in einem der sechs Zeitschnitte nur einmal belegt ist.) Aus diesen einzelnen Produktivitätswerten für jeden Zeitschnitt ergibt sich dann eine Produktivitäts-Verlaufskurve, wie sie in Fig. 27 dargestellt ist. Tokens Types Hapax Legomena Periode 1 (1600-1649) 922 335 84 Periode 2 (1650-1699) 924 384 93 Periode 3 (1700-1749) 1273 395 69 Periode 4 (1750-1799) 2106 501 64 Periode 5 (1800-1849) 2720 614 102 Periode 6 (1850-1899) 3001 663 159 Summe 10 946 2892 571 Tab. 19: Tokens, Types und Hapax Legomena der ung-Nominalisierung in einem Subkorpus des Deutschen Textarchivs. Mit Hilfe der in Tab. 19 angegebenen Werte lässt sich nach der oben angegebenen Formel die potentielle Produktivität des Wortbildungsmusters errechnen. Denkpause Wie können wir anhand der Angaben in Tab. 19 die potentielle Produktivität für Periode 1 (1600-1649) errechnen? Für die erste Periode errechnet sich die potentielle Produktivität also wie folgt: Anzahl der Hapax Legomena (84) geteilt durch die Gesamtzahl der Tokens auf--ung (922) = 0,09. Vor allem vom zweiten zum vierten Zeitschnitt, also von 1650 bis 1800, lässt sich ein diachroner Rückgang der Produktivität feststellen, der sich auch mit dem Befund deckt, den Hartmann (2016b) auf Grundlage des GerManC-Korpus <?page no="177"?> 177 5.2 Morphologischen Wandel untersuchen erzielen konnte. Danach steigt die Produktivität wieder leicht, was möglicherweise auf den „humanistischen Entlehnungsschub“ und den damit einhergehenden Zuwachs an Basen (insbesondere Lehnwörter auf--ieren) zurückzuführen ist, möglicherweise aber auch einen Nebeneffekt der Zusammenstellung der Korpusdaten darstellt- - in solchen Fällen spricht man auch von einem Korpusartefakt. Um zu ergründen, ob das Wortbildungsmuster tatsächlich wieder etwas produktiver wird oder ob es sich um ein Artefakt handelt, müsste man z. B. a) die Daten selbst genauer unter die Lupe nehmen und / oder b) Vergleichsdaten aus derselben Zeitspanne auswerten (sofern verfügbar). Wenn man mit der Messgröße der potentiellen Produktivität arbeitet, darf nicht vergessen werden, dass es sich um ein Maß handelt, das der Interpretation bedarf und das zum einen eine möglichst genaue Kenntnis der zugrundeliegenden Daten voraussetzt, zum anderen ein Verständnis dahingehend, wie der Wert mathematisch zustandekommt. Der Quotient aus der Anzahl der Hapax Legomena (n 1 ) und der Anzahl der Tokens (N) besagt zunächst nichts weiter als wie viele Hapaxe es im Verhältnis zu N gibt. Probabilistisch gewendet heißt das: In einer Stichprobe der Größe Fig. 27: Potentielle Produktivität der ung-Nominalisierung im DTA baby-Korpus. <?page no="178"?> 178 5. Morphologischer Wandel Fig. 28: Token- und Typefrequenz der ung-Nominalisierung im DTA baby-Korpus, jeweils im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Tokens in der jeweiligen Periode. <?page no="179"?> 179 5.2 Morphologischen Wandel untersuchen N können wir erwarten, n 1 Hapax Legomena zu finden (vgl. z. B. Plag et al. 1999). Nun hängt aber, wie wir oben gesehen haben, der Wert der potentiellen Produktivität von der Stichprobengröße und von der Anzahl der Tokens ab. Im DTA baby-Korpus ist die Gesamtzahl der Tokens (also aller Tokens, nicht nur der ung-Nomina) für die einzelnen Zeitschnitte ausgewogen; in diesem Sinne bleibt die Stichprobengröße also gleich. Allerdings steigt im Falle der ung-Nominalisierung sowohl die Tokenals auch die Typefrequenz, wie Fig. 28 zeigt. Eine kleinere Anzahl an Tokens hat im Grunde den gleichen Effekt wie eine kleinere Stichprobe: Je kleiner die Tokenmenge ist, desto eher kommt ein Type nur einmal vor, d. h. die Hapaxwerte liegen bei kleinen Tokenmengen künstlich hoch (vgl. Kempf 2016: 115). Das entwertet das Maß der potentiellen Produktivität zwar nicht; allerdings kann es sinnvoll sein, es mit zusätzlichen Möglichkeiten der Produktivitätsmessung zu verbinden. Eine Möglichkeit, die genannten Probleme zu vermeiden, kann darin bestehen, durch entsprechendes Sampling die Tokengrößen gleich zu halten (vgl. Gaeta & Ricca 2006). Eine andere Möglichkeit wenden z. B. Lüdeling & Evert (2005) und Schneider-Wiejowski (2011) an, die auf statistische Modelle zurückgreifen, um die erwarteten Hapaxwerte für eine bestimmte Tokenmenge zu extrapolieren. Noch eine andere Option besteht darin, sich der Anzahl der Neubildungen über eine andere Messgröße als über die Hapax Legomena anzunähern. So greift Cowie (1999) auf die Zahl neuer Types zurück, d. h. solcher Types, die im jeweils vorangehenden Zeitschnitt nicht belegt sind. Neue Types in der ersten Periode werden dabei anhand eines anderen, zeitlich früher gelagerten Korpus identifiziert. Fig. 29 zeigt die Ergebnisse eines solchen Verfahrens für die ung-Nominalisierung im DTA baby-Korpus, wobei als zeitlich früher gelagertes Vergleichskorpus das Mainzer Frühneuhochdeutschkorpus herangezogen wurde, auf dem die in Hartmann (2016b) berichteten Ergebnisse zur ung-Nominalisierung im Fnhd. basieren. Kempf (2016) ergänzt die genannten Ansätze um einen weiteren, indem sie für eine kleine, zufällige Stichprobe ihrer Belege eine detaillierte, „komparative“ Datierung unternimmt. Zu diesem Zweck hat sie das Alter der von ihr untersuchten Adjektivbildungen in mehreren Wörterbüchern und Korpora überprüft und die Angaben bzw. Ergebnisse miteinander verglichen (daher „komparativ“). Tab. 20 zeigt einige Beispiele für die Anwendung dieser Methode auf zufällig ausgewählte ung-Nomina, deren Alter mit Hilfe von insgesamt fünf Ressourcen überprüft wurde: dem Deutschen Rechtswörterbuch, dem <?page no="180"?> 180 5. Morphologischer Wandel DTA , dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch, GoogleBooks sowie dem über DWDS verfügbaren etymologischen Wörterbuch von Pfeifer. 11 Maßgebend ist dabei immer die früheste Datierung. Dieses Verfahren ist natürlich nur für sehr kleine Stichproben praktikabel, eignet sich aber gut als Vergleichsmöglichkeit: Wenn die Ergebnisse z. B. der potentiellen Produktivitätsanalyse ähnliche Trends zeigen wie die „komparative Datierung“, dann können wir zuversichtlicher sein, dass unsere Analyse tatsächlich zutreffend ist. 11 Ich danke Luise Kempf, die diese Erhebung im Rahmen einer gemeinsamen Untersuchung durchgeführt hat. Fig. 29: Anzahl „neuer“ Types pro Zeitschnitt, relativ zur Gesamtzahl der Types in der jeweiligen Periode. <?page no="181"?> 181 5.2 Morphologischen Wandel untersuchen Derivat Erstbeleg Lösung Ahd. Ordnung Ahd. Kürzung spätes Mhd. Begabung 1321 Leitung 1349 Zeitung spätes 14. Jh. Belastung 1446 Aufteilung 1449 Siedlung 15. Jh. Verbindung 15. Jh. Regierung Mitte 15. Jh. Freistellung 1555 Verweigerung 1563 Versammlung 1564 Wirkung 1578 Aufwendung 1596 Gestaltung 16. Jh. Verarbeitung 1600 Bewachung 1623 Veranstaltung 1685 Zuladung 1734 Hervorhebung 1791 Identifizierung 1793 Beschwichtigung 1803 Aufbesserung 1804 Regelung 1808 Überschuldung 1814 Sanierung 1869 Bewertung 1871 Stilllegung 1905 Tab. 20: Möglichst genaue Datierung zufällig ausgewählter ung-Nomina anhand etymologischer Wörterbücher und mehrerer Korpora. <?page no="182"?> 182 5. Morphologischer Wandel Alles in allem hat sich seit Mayerthalers (1981: 124) vielzitierter Feststellung, dass Produktivität zu den unklarsten Begriffen in der Linguistik gehöre, wenig geändert: Nach wie vor existieren verschiedene Konzepte und quantitative Operationalisierungen des Produktivitätsbegriffes parallel und konkurrieren miteinander. Allerdings schließen die verschiedenen Ansätze einander nicht aus, sondern zeigen idealerweise verschiedene einander ergänzende Aspekte der Produktivität eines Musters auf. Aufgabe Suchen Sie im Bonner Frühneuhochdeutschkorpus nach Adjektiven auf- -lich und errechnen Sie die potentielle Produktivität des Suffixes. (Lösungshinweise im digitalen Begleitmaterial) <?page no="183"?> 183 6.1 Syntaktischen Wandel verstehen 6. Syntaktischer Wandel 6.1 Syntaktischen Wandel verstehen Gegenstand der Syntax sind grammatische Strukturen oberhalb der Wortebene (vgl. Fleischer & Schallert 2011: 21). Dazu gehören neben Sätzen auch sog. Satzglieder oder Phrasen. So ist in (32) das Huhn ein Satzglied, genauer gesagt: das Subjekt des Satzes. (32) Das Huhn überquerte die Straße. Das Huhn ist offensichtlich kein (einzelnes) Wort, sondern eine Kombination aus zwei Wörtern. Die Umstellprobe zeigt, dass der Artikel das und das Substantiv Huhn zusammengehören: Die Straße überquerte das Huhn ist (syntaktisch) möglich, ebenso Überquerte das Huhn die Straße? , aber nicht so etwas wie *Das überquerte Huhn die Straße oder *Das Straße überquerte die Huhn. Der Artikel und das Substantiv bilden zusammen eine Nominalphrase ( NP ). Zusammen mit der Verbalphrase ( VP ) die Straße überqueren, die ihrerseits aus der NP die Straße und dem Verb überqueren besteht, bildet diese NP einen Satz, wie das Baumdiagramm in Fig. 30 zeigt. Ergänzen könnte man den Satz beispielsweise noch mit einer Präpositionalphrase wie in einem Schneckentempo. Von den genannten syntaktischen Kategorien sind syntaktische Funktionen zu unterscheiden. Wie bereits gesagt, erfüllt in (32) das Huhn Subjektfunktion, stellt also die Konstituente dar, die man mit Wer oder was? erfragen kann. Das Verb überqueren bildet das Prädikat des Satzes, bisweilen auch „Satzaussage“ genannt, denn das Prädikat bildet gleichsam den Kern des Satzes und bestimmt seine Gesamtbedeutung. die Straße schließlich bildet das direkte Objekt (Akkusativobjekt), das sich mit Wen oder was? erfragen lässt. 1 Die syntaktischen Funktionen sind grundsätzlich von den syntaktischen Kategorien unabhängig. Während das Prädikat- - zumindest der gängigen Auffassung zufolge (vgl. Meibauer et al. 2015: 158)-- immer verbal ist, muss z. B. das Objekt nicht zwangsläufig eine NP sein. Es kann auch ein ganzer (Neben-)Satz sein wie in (33). 1 Das indirekte Objekt (Dativ) ließe sich entsprechend mit Wem oder was? erfragen, z. B. Ich gebe dem Lehrer das Buch. <?page no="184"?> 184 6. Syntaktischer Wandel (33) Ich sehe, dass das Huhn die Straße überquert. Das Huhn überquerte die Straße. DET N V DET N NP VP NP S Fig. 30: Phrasenstrukturbaum zum Beispielsatz in (32). Beispiel (32) illustriert die typische Konstituentenstruktur im deutschen Aussagesatz: Subjekt-- Prädikat-- Objekt. Zusammen mit Subjekt-- Objekt-- Prädikat gehört diese auch zu den beiden mit Abstand am weitesten verbreiteten Konstituentenreihenfolgen in den Sprachen der Welt. In einigen Sprachen sind aber auch Prädikat-- Objekt-- Subjekt oder gar Objekt-- Subjekt-- Prädikat als dominante Reihenfolge bezeugt, vgl. (34) (nach Dryer 2013). (34) Nias (austronesische Sprache, gesprochen in Indonesien) i-rino vakhe ina-gu kochen-3. SG . Reis Mutter-1. SG . Prädikat Obj. Subj. Nadëb (gehört zur kleinen Sprachfamilie der Nadahup-Sprachen, gesprochen in Brasilien) awad kalapéé hap ʉ́ h Jaguar Kind sehen Obj. Subj. Prädikat Das Deutsche gilt im World Atlas of Language Structures als Sprache, die keine dominante Konstitutenstruktur hat, denn in Nebensätzen finden wir bekanntlich die Struktur Subjekt- - Objekt- - Prädikat. Das Deutsche stellt also einen „typologischen Mischtyp“ dar (Nübling et al. 2013: 104). Hierzu gibt es allerdings <?page no="185"?> 185 6.1 Syntaktischen Wandel verstehen geteilte Meinungen, was in der Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur gerade bei Studienanfängern u. U. für Verwirrung sorgen kann. So geht man in der generativen Linguistik davon aus, dass die Nebensatzstruktur Subjekt-- Objekt-- Prädikat die grundlegende Konstituentenfolge des Deutschen sei und die Hauptsatzstruktur davon über Transformationsregeln abgeleitet werde (vgl. z. B. Bach 1962). Seltener wird auch umgekehrt Subjekt-- Prädikat-- Objekt als grundlegende Struktur angenommen, von der wiederum die Nebensatzstruktur über Transformationsregeln abgeleitet wird (vgl. z. B. Zwart 1997). Syntaktischer Wandel kann beispielsweise die Stellung der einzelnen Konstituenten im Satz betreffen, aber auch die Stellung der einzelnen Elemente auf der Phrasenebene. Geradezu ein Paradebeispiel für syntaktischen Wandel ist sicherlich der Wandel der Genitivstellung im Deutschen (von des Vaters Haus zu das Haus des Vaters). Dieses Fallbeispiel steht im Mittelpunkt von Kap. 6.1.1. Der Wandel der Genitivstellung kann in Zusammenhang gesehen werden mit dem schon in Kap. 3 mehrfach erwähnten Ausbau des klammernden Verfahrens, der in Kap. 6.1.2 noch einmal systematisch thematisiert wird. Kap. 6.1.3 geht auf die Entstehung eines syntaktischen Verfahrens zum Ausdruck von Progressivität (Verlauf eines Ereignisses) ein, nämlich des sog. am-Progressivs, vgl. Ich bin am arbeiten. Der Methodenteil (Kap. 6.2) legt dann den Schwerpunkt auf die Arbeit mit annotierten Korpora, stellt aber auch eine experimentelle Pilotstudie zum am-Progressiv vor. Zum Weiterlesen Wer seine Syntax-Kenntnisse auffrischen will, wird z. B. in den entsprechenden Kapiteln in Schäfer (2015) und Imo (2016) fündig. Eine kurze Einführung ins topologische Feldermodell, das für das Verständnis der unter 6.1.2 diskutierten Entwicklung des klammernden Verfahrens hilfreich ist, bietet z. B. Wöllstein (2014). 6.1.1 „Genitivschwund“ und Wandel der Genitivstellung Sucht man bei Online-Händlern nach dem Titel „Meines Vaters Haus“, so findet man unter anderem einen Gedichtband und zwei Romane-- ein Zeichen dafür, dass die Voranstellung attributiver Genitive im gehobenen Stil gelegentlich noch vorkommt. Ansonsten jedoch benutzen wir für gewöhnlich den Genitiv in postnominaler Stellung: das Haus meines Vaters. Der Wandel vom präponier- <?page no="186"?> 186 6. Syntaktischer Wandel ten zum postponierten Genitiv begann bereits im 13. Jh. und kann als teilweise belebtheitsgesteuert verstanden werden (vgl. Nübling et al. 2013: 107 f.): So dominiert die postnominale Stellung bereits im frühen 16. Jh. bei Appellativa (d. h. Substantiven, die keine Eigennamen sind), die Unbelebtes bezeichnen. Bei Appellativa mit belebten Referenten ist sie deutlich geringer, bei Eigennamen sogar sehr selten, wie Fig. 31 zeigt: Dort sind die Ergebnisse der Korpusstudien von Ebert (1988) und Demske (2001) zusammengefasst. Die Daten von Ebert (in der Grafik grau hinterlegt) stammen aus 15 Nürnberger Texten, Demskes Daten basieren auf einem Korpus aus Zeitungstexten. Die Grafik zeigt, dass der Anteil nachgestellter Genitive insgesamt deutlich zunimmt, wobei insbesondere bei unbelebten Appellativa (damit sind in den genannten Studien alle Appellativa gemeint, die keine Personen bezeichnen; andere Studien operationalisieren den Begriff der Belebtheit anders! ) bereits in Eberts Daten die postponierte Variante dominiert. Dass appellativische Personenbezeichnungen später nach rechts wandern und auch heute noch in der präponierten Variante eher akzeptabel scheinen als nicht-belebte Genitivattribute ( ? meines Vaters Haus wirkt veraltet, aber möglicherweise noch akzeptabel; ? des Hauses Besitzer oder ? des Buches Ende hingegen eher ungrammatisch), weist darauf hin, dass dem kognitiven Faktor der Belebtheit hier eine Schlüsselrolle zukommt (vgl. auch Ronneberger-Sibold 2010: 100): Weil belebte Entitäten besonders salient (d. h. auffällig, unserer Wahrnehmung besonders zugänglich) sind, weisen auch sprachliche Zeichen, die auf sie referieren, häufig Besonderheiten auf (s. auch Kap. 9.1.1). Im Falle des Genitivs spezialisiert sich die Prästellung auf die possessive (Merkels Haus) bzw. agentive Lesart (Merkels Politik), die prinzipiell nur für belebte Objekte in Frage kommt. Andere Lesarten, etwa die partitive (ein Stück des Kuchens), sind nur noch in der Poststellung möglich (*des Kuchens ein Stück). Neben der Belebtheit bzw. Individuiertheit nennen Nübling et al. (2013: 108 f.) noch zwei weitere Faktoren, die im Stellungswandel des Genitivs eine Rolle spielen: Zum einen nehmen indefinite Genitive früher die Poststellung an als Genitive (eines Freundes Haus > das Haus eines Freundes), zum anderen scheinen Genitive, die stark erweitert sind (z. B. durch Attribute), früher nachgestellt zu werden, z. B. boſin vnrechter geiſte gewalt (SalH, 13. Jh., REM ) > die Gewalt (Macht) böser, unrechter Geister. <?page no="187"?> 187 6.1 Syntaktischen Wandel verstehen 353 155 83 27 92 569 96 76 4 10 24 126 50 36 2 8 82 122 1500-1540 1609 1667 Prä Post Prä Post Prä Post 0% 20% 40% 60% Jahr / Stellung Anteil Belebtheit APP-unbelebt APP-belebt EN, Titel, Unika Fig. 31: Prävs. Poststellung in den Daten von Ebert (1988), zit. in Demske (2001: 218), und im Zeitungskorpus von Demske (2001: 219 f.). APP = Appellativum, EN = Eigenname. Im heutigen Deutsch ist die Prästellung generell auf artikellose Eigennamen, insbesondere Personennamen, beschränkt. Das ist einer der sehr wenigen Aspekte, in denen sich Eigennamen im heutigen Deutsch syntaktisch von anderen Substantiven unterscheiden-- in anderen Bereichen, etwa der Morphologie (vgl. die Männer vs. die Manns), weisen Eigennamen deutlich mehr Eigenheiten auf (vgl. Nübling et al. 2012: 84). Bei Personennamen ist die Prästellung bis heute der Normallfall, wenngleich auch die Poststellung möglich ist: Merkels Politik und Die Politik Merkels. Etwas weniger wohlgeformt klingt indes Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkels Politik, hier würde man eher auf die Poststellung ausweichen: die Politik der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Hier greift also wieder das Prinzip: Je stärker der Genitiv erweitert ist, desto eher steht er rechts vom Kopfnomen. Peschke (2014) zeigt auf Grundlage einer Korpusstudie im DeRe- Ko, dass die Nachstellung umso eher gewählt wird, je höher die syntaktische Komplexität der jeweiligen Genitivphrase ist. Dabei definiert sie Komplexität als Mehrgliedrigkeit von Eigennamen und arbeitet folgerichtig mit drei Komplexitätsstufen: Als „einfach“ gilt der alleinstehende Familienname (Merkel), als <?page no="188"?> 188 6. Syntaktischer Wandel „komplex I“ Rufname + (Adelsprädikat) + Familienname (Karl-Theodor ((von und) zu) Guttenberg), als „komplex II “ Eigennamen, die um ein Appellativ erweitert sind, z. B. um eine Funktionsbezeichnung wie bei (Bundes-)Kanzlerin Angela Merkel. Wie die linke Grafik in Fig. 32 zeigt, wird die Prästellung bei Merkel und Guttenberg sowohl bei einfacher Nennung des Familiennamens als auch bei der Nennung von Ruf- und Familienname bevorzugt, während bei Beethoven die Poststellung deutlich stärker ausgeprägt ist, unabhängig von der Komplexität. Peschke (2014: 241) führt als mögliche Erklärung an, dass Beethoven als weniger belebt und agentiv wahrgenommen wird als die beiden zum Zeitpunkt der Berichterstattung aktiven und in den Medien sehr präsenten Politiker. Weiterhin vergleicht sie die Häufigkeiten von Genitiven und von-Phrasen bei Merkel und Guttenberg, wobei sich bei beiden Politikernamen ein starker Zusammenhang mit der Komplexität zeigt. Bei einfacher Nennung des Familiennamens wird die Genitivphrase stark bevorzugt, also eher die Politik Merkels oder Merkels Politik als die Politik von Merkel. Bei Rufname + Familienname halten sich beide Varianten die Waage, während bei appellativischer Ergänzung die von-Periphrase deutlich dominiert. Diese Ergebnisse sind in der rechten Grafik in Fig. 32 dargestellt. Auch eine Fragebogenstudie von Zifonun (2011: 4) zeigt den Zusammenhang zwischen Komplexität und Genitivstellung bei Eigennamen. So wird Annas Sprache von 100 % der 53 Befragten akzeptiert, während die Sprache Annas nur bei 77 % auf volle Akzeptanz stößt. Indes wird die Sprache Annas aus Mannheim deutlich stärker akzeptiert als Annas aus Mannheim Sprache, das 75 % der Befragten als inakzeptabel ablehnen. In zukünftigen Studien wäre es interessant, die Faktoren Belebtheit/ Eigennamigkeit und Komplexität auf Grundlage einer größeren diachronen Datenbasis zu untersuchen. Neben dem Wandel der Genitivstellung gibt es natürlich-- gerade in der gesprochenen Sprache-- die Tendenz, auf die sog. von-Periphrase auszuweichen, wie ja auch Peschkes Studie bereits zeigt (das Auto von meinem Vater). In der sprachkritischen Diskussion wird bekanntlich immer wieder der „Tod“ des Genitivs beklagt. Allerdings ist gerade der adnominale Genitiv (also der Genitiv, der als Attribut zu einem Nomen verwendet wird) überraschend lebendig. Während der adjektivische (eines Verbrechens fähig) und adverbale Genitiv (ich erinnere mich meines Urlaubs) diachron abgebaut werden, oft zugunsten von Präpositionalkonstruktionen (zu einem Verbrechen fähig, ich erinnere mich an meinen Urlaub), ist der adnominale Genitiv in der deutschen Standardsprache gut erhalten, sogar in eher umgangssprachlichen Registern (vgl. Scott 2011: <?page no="189"?> 189 6.1 Syntaktischen Wandel verstehen Fig. 32: Ergebnisse einer Korpusanalyse von Peschke (2014) zum Zusammenhang zwischen syntaktischer Komplexität und der Wahl von Prä- oder Poststellung des Genitivs (links) bzw. zwischen Genitiv und von-Periphrase (rechts) am Beispiel von Angela Merkel, Karl-Theodor zu Guttenberg und Ludwig van Beethoven. <?page no="190"?> 190 6. Syntaktischer Wandel 62). Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass die von-Periphrase in der sprachkritischen Diskussion stark stigmatisiert wurde. In einer der aktuellsten Untersuchungen zum Genitiv vertritt Scott (2014) die sehr interessante Hypothese, dass es die Standardisierung und Kodifizierung des Deutschen war, die den Genitiv quasi vor dem Aussterben gerettet hat. Allerdings muss er sich dabei notwendigerweise auf sehr indirekte Evidenz stützen. Insgesamt ist die Frage, warum der Genitiv im Deutschen schwindet, der adnominale Genitiv aber prinzipiell erhalten bleibt, noch nicht abschließend beantwortet (vgl. auch Donhauser 1998: 84; Fleischer & Schallert 2011: 99 f.). 6.1.2 Der Ausbau der Klammer Den in 6.1.1 beschriebenen Wandel der Genitivstellung kann man auch vor dem Hintergrund eines Parameters verstehen, den Ronneberger-Sibold (z. B. 2010) als übergreifendes Prinzip in der Entwicklung des Deutschen (und auch anderer Sprachen) sieht, das sog. klammernde Verfahren. Damit ist gemeint, dass bestimmte Bestandteile eines Satzes so von zwei Grenzsignalen umschlossen werden, dass der Hörer / Leser aus dem Auftreten des ersten Signals mit sehr großer Wahrscheinlichkeit schließen kann, dass der betreffende Bestandteil erst beendet sein wird, wenn das passende zweite Signal in der Sprechkette erscheint. (Ronneberger-Sibold 2010: 87) Ronneberger-Sibold (1994: 121) illustriert das Prinzip am Beispiel der Nominalphrase ( NP ) dieses Ausländern nur schwer vermittelbare System: Das Demonstrativpronomen dieses, hier syntaktisch gesehen ein Artikelwort oder Determinierer, eröffnet die Klammer. Aus ihrer Spracherfahrung weiß die Rezipientin, dass die NP mit einem Substantiv schließt, das in Numerus, Kasus und Genus mit dem Determinierer übereinstimmt. Das ist bei Ausländern nicht der Fall, denn Ausländern kann nur Dativ Plural sein-- um damit zu kongruieren, müsste das Demonstrativpronomen diesen lauten, z. B. Diesen Ausländern kann man das System durchaus vermitteln. Erst das Substantiv System erfüllt die Erwartung der Rezipientin, schließt damit die Klammer und fungiert als sogenanntes Kernsubstantiv in der Nominalklammer. Neben der Nominalklammer unterscheidet man noch zwei weitere Klammertypen, nämlich Haupt- und Nebensatzklammer. Die Hauptsatzklammer kann entweder aus Hilfs- oder Modalverb und infinitem Vollverb bestehen (sie hat [das Spiel nach nur 44 Minuten] verloren) oder aus finitem Verb und <?page no="191"?> 191 6.1 Syntaktischen Wandel verstehen trennbarem Präfix (er zieht [den Vorhang] weg; Bsp. aus Nübling et al. 2013: 96). Die Nebensatzklammer wird eröffnet von einer Subjunktion oder einem Relativpronomen und schließt mit dem Verbkomplex: weil [sie das Buch] gelesen hat. Als Hauptfunktion der Klammer gilt die hörerseitige Aufmerksamkeitssteuerung. „Der Hörer wird bei der Dekodierung gefordert, da er gezwungen ist, ständig Hypothesen über den Fortgang des Satzes zu bilden“ (Nübling et al. 2013: 104). Damit sind Befunde aus der Psychologie und Psycholinguistik in hohem Maße kompatibel, die zeigen, dass wir ständig das, was unser Gegenüber als nächstes sagen (und tun) wird, voraussagen (forward modelling, vgl. z. B. Pickering & Garrod 2013). Gerade die Nominalklammer ermöglicht „komprimierende, informationsverdichtende Strukturen“ (Nübling et al. 2013: 104)- - wollte man z. B. dieses Ausländern nur schwer vermittelbare System ins Englische übersetzen, müsste man das Attribut Ausländern nur schwer vermittelbar in einem Nebensatz wiedergeben. In der Geschichte des Deutschen kann man einen Ausbau aller drei Klammertypen beobachten, wobei für den Stellungswechsel beim Genitiv die Entwicklung der Nominalklammer relevant ist. Ronneberger-Sibold (2010: 99) beobachtet, dass das vorangestellte Genitivattribut nur selten einen Determinierer erhält-- Belege wie diese des Papagoyens Worte sind die Ausnahme, in der Regel wird eine solche Häufung von Determinierern vermieden (vgl. auch *das meines Vaters Auto). Stattdessen wird auf den Determinierer des Kernsubstantivs verzichtet: der Weisheit letzter Schluss (nicht: *der i der j Weisheit j letzte Schluss i2 ). Das bringt aus Sicht des klammernden Verfahrens Nachteile mit sich: Je mehr sich die Klammerkonstruktion bei Nominalphrasen ohne vorangestelltes Genitivattribut durchsetzte, umso mehr waren vermutlich die Hörer und Leser geneigt, jedes Determinans zunächst einmal als Eröffnung einer Klammer zu betrachten, die durch das Kernsubstantiv der ganzen NP geschlossen wurde. (Ronneberger-Sibold 2010: 99) In manchen Fällen führt so der einleitende Determinierer in die Irre, da man z. B. in der Weisheit letzter Schluss zunächst annehmen könnte, dass Weisheit das Kernsubstantiv und damit das klammerschließende Element sei. Bei dieser Erwartungshaltung könnte man annehmen, dass die NP der Weisheit beispielsweise als Objekt fungiert und dass so etwas folgt wie …- müssen wir entsagen 2 Die Indizes i und j zeigen hier an, welcher Artikel mit welchem Substantiv zusammengehört. <?page no="192"?> 192 6. Syntaktischer Wandel oder …-sollen wir Tribut zollen. Diese Erwartung wird jedoch nicht erfüllt. Die Nachstellung ist für das klammernde Verfahren günstiger, und sie ist es auch, die sich im Laufe der Sprachgeschichte durchsetzt. Auch andere Entwicklungen bringt Ronneberger-Sibold (2010) mit dem Ausbau der Klammer in Verbindung. So wurde die Möglichkeit, ein Adjektivattribut seinem Bezugssubstantiv nachzustellen, im Laufe der deutschen Sprachgeschichte immer mehr beschränkt und findet sich heute nur noch in erstarrten Formen wie Röslein rot, Hänschen klein sowie in der Werbe- und teilweise auch in der Pressesprache, vgl. Leben pur, Fußball brutal (vgl. Ronneberger-Sibold 2010: 101 f.). Durch die Voranstellung des obligatorisch flektierten und dadurch mit dem Bezugssubstantiv kongruierenden Attributs wird der linke Klammerrand gestärkt: Ein rotes Röslein, brutaler Fußball. 6.1.3 Der am-Progressiv Formen wie ich bin am lesen oder ich bin am arbeiten begegnen uns im Alltag allenthalben. Auch wenn der Duden-Band „Richtiges und gutes Deutsch“ diese Konstruktion derzeit noch vorwiegend der gesprochenen Sprache zuordnet (vgl. Duden 2016b: 56), hat sich der sogenannte am-Progressiv zu einem „varietätenübergreifenden, selbst standardsprachlich auftretenden Phänomen entwickelt“ (Flick & Kuhmichel 2013 52). Wie aber beispielsweise die Erhebung im „Atlas der deutschen Alltagssprache“ 3 zeigt, gibt es in der regionalen Verteilung dieses Phänomens durchaus deutliche Unterschiede: Während die Informanten im Westen Deutschlands Formen wie Sie ist noch am schlafen als „sehr üblich“ bezeichneten, tendieren die Informanten im übrigen Bundesgebiet eher zu den Auswahlmöglichkeiten „neuerdings üblich“ oder „völlig unüblich“. Deutlich weniger Informanten bezeichneten jedoch eine Variante mit Objektergänzung, z. B. Sie ist die Uhr am reparieren, als üblich. Als Ursprungsorte des am-Progressiv werden zumeist das Rheinland und Westfalen gesehen, weshalb man die Konstruktion bisweilen auch als „rheinische Verlaufsform“ bezeichnet. Als mögliches weiteres, unabhängiges Entstehungsgebiet wird jedoch auch die Schweiz diskutiert (vgl. Ebert 1996). 3 http: / / www.atlas-alltagssprache.de/ runde-2/ f18a-b/ (zuletzt abgerufen am 28. 04. 2017). <?page no="193"?> 193 6.1 Syntaktischen Wandel verstehen Denkpause Würden Sie sagen, dass es einen Bedeutungsunterschied gibt zwischen er ist am putzen und er putzt? Die Progressivform legt, wie ihr Name schon sagt, den Fokus stärker auf den Verlauf des Geschehens: ‚Er ist gerade dabei, zu putzen‘. Das Verbgeschehen wird quasi „von innen heraus“ betrachtet (Flick 2016: 166); der Sprecher nimmt eine Perspektive ein, die mitten im Geschehen verortet ist. Prinzipiell kann man zwar auf ein und dieselbe Situation mit er putzt und er ist am putzen Bezug nehmen, doch sind die beiden Varianten nicht in allen Kontexten austauschbar. So kann man ohne weiteres sagen: Er putzt jeden Morgen die Wohnung, bevor er einkauft. Der gleiche Satz im am-Progressiv hingegen ist zumindest zweifelhaft: ? Er ist jeden Morgen die Wohnung am putzen, bevor er am einkaufen ist. Die durch den am-Progressiv vermittelte Information, dass die Handlung gerade im Verlauf befindlich ist, ist mit dem Temporaladverbial jeden Morgen nur bedingt kompatibel. Der deutsche am-Progressiv ist vergleichbar mit der englischen Progressivform [be V-ing]: He is cleaning the windows. Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Englischen und dem Deutschen ist jedoch, dass die Wahl zwischen dem simple present (also: He cleans the windows) und dem present progressive weitgehend obligatorisch ist. Anders als im Deutschen kann ich im Englischen mit den beiden Varianten nicht auf dieselbe Situation Bezug nehmen: Wenn ich sage He cleans the windows, meine ich damit, dass er regelmäßig bzw. gewohnheitsmäßig die Fenster reinigt, zum Beispiel weil er von Beruf Fensterreiniger ist; wenn ich hingegen sage He is cleaning the windows, bringe ich damit zum Ausdruck, dass er gerade dabei ist, diese Tätigkeit auszuführen. Daher gilt die Progressivform im Deutschen als „noch nicht voll grammatikalisiert“ (Szczepaniak 2011: 159)-- das Deutsche kann zwar Progressivität zum Ausdruck bringen, hat dafür jedoch (noch) keine feste und obligatorische Kategorie entwickelt. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass es neben dem am-Progressiv noch andere Möglichkeiten gibt, Progressivität zum Ausdruck zu bringen, z. B. den sog. Absentiv (er ist schwimmen) oder die beim V-en sein-Konstruktion (sie ist beim Skatspielen). Dass sich ausgerechnet die Präposition an (mit enklitisch verschmolzenem Definitartikel: an + dem > am) in Verbindung mit einer Infinitivform und sein zum Progressivitätsmarker entwickelt, lässt sich mit der konzeptuellen Meta- <?page no="194"?> 194 6. Syntaktischer Wandel pher ZEIT IST RAUM (Lakoff & Johnson [1980] 2003; Boroditsky 2000) erklären. Da Zeit nichts unmittelbar Greifbares ist, nutzen wir das Konzept RAUM , um sie fassbar zu machen: Ein Treffen, das länger geht, nimmt mehr Raum in unserem Kalender ein als ein 15-minütiges kurzes Gespräch. Wir blicken zurück auf unsere Vergangenheit und nach vorn in die Zukunft. In einem Satz wie Weihnachten naht mit Riesenschritten greifen wir auf das räumliche Konzept NÄHE zurück, um zum Ausdruck zu bringen, dass bis zu einem bestimmten Ereignis nur noch wenig Zeit vergehen wird. Die Präposition an bringt ebenfalls räumliche Nähe-- oft unmittelbare räumliche Nähe-- zum Ausdruck: Das Fahrrad lehnt an dem Schuppen, er schmiegte sich an seinen Freund. Sie eignet sich damit ideal dazu, auch zum Ausdruck zeitlicher Nähe verwendet zu werden-- und zwar nicht nur im Deutschen, wie Beispiel (35) aus dem Irischen zeigt (aus Heine & Kuteva 2002: 202). (35) Tá sé ag dúnadh an dorais. sein er an schließen DET Tür- GENITIV ‚Er ist dabei, die Tür zu schließen.‘ Auch in vielen anderen Sprachen haben sich lokative Konstruktionen zu Progressivitätsmarkern entwickelt. Neben der Präposition an (und ihren Entsprechungen in anderen Sprachen) eignet sich z. B. auch in gut, die im Geschehen verortete Perspektive, die für Progressivkonstruktionen charakteristisch ist, zum Ausdruck zu bringen. So hatte auch die im Fnhd. und frühen Nhd. produktive Konstruktion in + Nominalisierung, die wir in Kap. 5 kennengelernt haben, progressiven Gehalt, z. B. in grabung deß Grunds zu S. Petro. Weitere lokative Konstruktionen, die zu Progressivitätsmarkern wurden, sind z. B. être en train de im Französischen (vgl. Booij 2008: 83) oder Positionsverben wie ‚sitzen‘ in skandinavischen Sprachen, z. B. schwedisch han sitter och läser ‚er ist am lesen‘, wörtl. ‚er sitzt und liest‘ (vgl. Szczepaniak 2011: 160). Obwohl es kaum übertrieben ist, den am-Progressiv zu den beliebtesten Forschungsgegenständen in der germanistischen Linguistik zu zählen, gibt es bislang noch keine systematische diachrone Studie, die seine Entstehung und Ausbreitung im Deutschen korpusbasiert untersucht. Das liegt teilweise an der recht spärlichen Datenlage. Wie Flick & Kuhmichel (2013: 55) zeigen, fehlen für den am-Progressiv Belege aus früheren Sprachstufen, die eine eindeutige lokative Lesart aufweisen. Jedoch findet sich schon zu Beginn des 16. Jh. ein Beleg dafür, dass mit einer am-Konstruktion ein Geschehen als im Verlauf dargestellt wird: <?page no="195"?> 195 6.1 Syntaktischen Wandel verstehen (36) Fand wir king Philips, der am herausreiten was. (Tagebuch des Lucas Rem, zit. nach van Pottelberge 2004: 233) Darüber hinaus kommen schon seit dem Ahd. gelegentlich Substantivierungen in Verbindung mit an vor, z. B. án demo tûonne ‚an dem Tun‘ = ‚bei diesem Vorgang‘ (Notker von St. Gallen). Trotz solcher Belege, bei denen es sich oft um Zufallsfunde handelt, ist der am-Progressiv in älteren Texten ein äußerst seltenes Phänomen, das „nur mit großer Mühe zu belegen“ ist (van Pottelberge 2004: 238). Vor diesem Hintergrund stellt van Pottelberge (2004: 237 f.) die gängige Annahme in Frage, dass einer hohen Gebrauchsfrequenz im Prozess der Grammatikalisierung eine zentrale Rolle zukommt- - die Grammatikalisierung des am-Progressivs (und ähnlich auch der entsprechenden Konstruktion mit aan het im Niederländischen) vollziehe sich, obwohl es sich um seltene Konstruktionen handle. Allerdings muss die Frage offen bleiben, ob der am-Progressiv möglicherweise im gesprochenen Deutsch häufiger war und nur in geschriebenen Texten selten belegt ist. Zumindest bruchstückhaft können wir dennoch die Geschichte des am-Progressivs im Deutschen nachvollziehen: Sie beginnt mit der Verwendung von an mit Nominalisierungen und führt zur Etablierung der gefestigten Form am + INF + SEIN (eine Variante wie *an dem kochen sein ist hingegen nicht möglich). Der kategoriale Status der Infinitivform im gegenwartsdeutschen am-Progressiv ist ambig: In einem Satz wie Ich bin am lesen kann man lesen entweder als verbalen Infinitiv oder als nominalisierten Infinitiv interpretieren. Diese Ambiguität spiegelt sich in der Graphie wider: In Korpusdaten zum am-Progressiv finden sich sowohl Belege, in denen der Infinitiv groß geschrieben ist, als auch solche mit Kleinschreibung des Infinitivs. Insgesamt überwiegt allerdings deutlich die Kleinschreibung, was zeigt, dass der am-Progressiv überwiegend als hochgradig verbale Form wahrgenommen wird. In einer Stichprobe von 2000 Belegen für am + Infinitiv + SEIN aus dem Webkorpus DECOW 14 AX , aus der insgesamt 199 Fehltreffer manuell aussortiert wurden, stehen 35 Belegen mit Großschreibung 1965 Belege mit Kleinschreibung gegenüber. Interessant ist, dass sich Hapax Legomena-- also nur einmal belegte Types (s. o. Kap. 5)-- und Wörter, die mehr als einmal im am-Progressiv belegt sind, sehr ungleich auf Groß- und Kleinschreibung verteilen, wie Tab. 21 zeigt: Bei fast allen groß geschriebenen Belegen handelt es sich um Hapaxe. Der Unterschied ist statistisch <?page no="196"?> 196 6. Syntaktischer Wandel hochsignifikant ( χ 2 =115,6; p<0.001; ϕ =0,24) 4 . Dies deutet möglicherweise darauf hin, dass „prototypische“ und sehr häufige am-Progressive als eher verbal empfunden werden, während der Infinitiv in eher untypischen Progressiven wie am Missioniertwerden eher als substantiviert empfunden wird-- diese Hypothese bedürfte jedoch noch genauerer Überprüfung. Auch wäre es sinnvoll, zusätzliche Daten aus anderen Korpora zu erheben, zumal beim COW -Korpus davon ausgegangen werden kann, dass es viele unlektorierte, konzeptionell nähesprachliche Texte enthält, in denen auf Groß- und Kleinschreibung generell eher wenig Wert gelegt wird. Großschreibung Kleinschreibung Type mit mehr als 1 Token 4 1625 Type mit 1 Token (Hapax) 31 340 Tab. 21: Groß- und Kleinschreibung von Infinitiven im am-Progressiv, basierend auf einer Stichprobe von 2000 Belegen aus dem Webkorpus DECOW 14 AX . Sollte die Hypothese jedoch zutreffen, dass untypische am-Progressive eher als stärker „nominal“ empfunden werden, dann würde sich dies gut mit den Befunden von Flick (2016) decken, die zeigt, dass sich bestimmte Verben besonders gern mit dieser Konstruktion verbinden, während andere selten bis nie im am-Progressiv auftreten. So kommen werkeln, abklingen oder verdursten sehr häufig vor. Bestimmte am-Progressive wie am Laufen sein (die Ermittlungen sind am Laufen) kann man sogar als eigenständige, vom am-Progressiv inzwischen losgelöste Konstruktionen mit eigener Bedeutung sehen. Insgesamt tritt der am-Progressiv bevorzugt mit Verben auf, deren Semantik gut mit der Progressivität, die diese Konstruktion zum Ausdruck bringt, vereinbar ist. Ich bin am arbeiten ist problemlos möglich, weil es sich um eine Tätigkeit handelt, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und bei der die Verlaufsform folgerichtig „passt“. ? Ich bin das Fenster am öffnen hingegen wirkt fragwürdig-- nicht nur 4 Zum Chi-Quadrat-Test s. u. 6.2.3. Der p-Wert gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass eine solche Verteilung durch Zufall zustandekommt. Phi ( ϕ ) gibt die Effektstärke an und ist, anders als der p-Wert, von der Stichprobengröße unabhängig. Die Effektstärke nimmt einen Wert zwischen 0 und 1 an, ein Wert von 0,24 ist also nicht besonders hoch, was man so interpretieren kann, dass ein Effekt von Frequenz (bzw. „Hapaxigkeit“) auf Großschreibung zwar vorhanden, aber nicht allzu stark ist- - andere Faktoren spielen auch mit hinein. <?page no="197"?> 197 6.1 Syntaktischen Wandel verstehen aufgrund der Objektergänzung, die, wie oben erwähnt, nur in einigen Regionen akzeptiert wird, sondern auch aufgrund der Semantik. Für gewöhnlich ist das Öffnen eines Fensters eine eher punktuelle Tätigkeit und keine, die sich länger hinzieht. Natürlich lässt sich dennoch ein Szenario konstruieren, in dem sich das Öffnen des Fensters über einen längeren Zeitraum erstreckt, etwa wenn es klemmt oder starker Gegenwind die Tätigkeit erschwert. Prototypischerweise aber würde man eine solche Verbalhandlung nicht im am-Progressiv erwarten, wie auch die Ergebnisse von Flick (2016) zeigen. Sie hat die Verben, die in der am-Progressiv-Konstruktion auftreten, auf Grundlage des TAGGED -C-Archivs im Deutschen Referenzkorpus untersucht. Zur Einteilung der Verben in semantische Klassen nutzt sie die von Vendler (1957) vorgeschlagenen Aspektkategorien (nach Flick 2016: 174): ▶ Am häufigsten kommen in der Konstruktion Activities vor. Darunter versteht man Verben, die einen länger andauernden, dynamischen Prozess beschreiben und keinen inhärenten Endpunkt haben, z. B. schwimmen: Diese Tätigkeit dauert länger an-- sie ist durativ. Auch ist schwimmen kein fester Zustand wie etwa existieren, sondern beschreibt einen Prozess, der durch Veränderungen im Lauf der Zeit zustande kommt, z. B. durch Veränderungen meiner Körperhaltung und meiner Position im Wasser-- schwimmen ist also dynamisch. Schließlich hat die Tätigkeit hat keinen inhärenten Endpunkt, ich könnte rein theoretisch in alle Ewigkeit weiterschwimmen (praktisch natürlich nicht)-- sie ist atelisch (von gr. τέλος ‚Ziel‘). ▶ Die zweithäufigste Klasse sind Accomplishments wie ein Bild malen. Accomplishments ähneln Activities darin, dass sie durativ und dynamisch sind. Allerdings haben sie einen inhärenten Endpunkt, sind also telisch: Der Prozess des Bildmalens ist abgeschlossen, wenn das Bild fertig gemalt ist. ▶ Deutlich seltener treten hingegen Achievements wie aufwachen oder sterben in der am-Progressiv-Konstruktion auf. Damit ist ein unmittelbarer Zustandswechsel gemeint, also ein Prozess, der dynamisch und telisch, aber nicht durativ ist. ▶ Fast gar nicht sind im TAGGED -C-Archiv States in der am-Progressiv-Konstruktion belegt. Damit sind andauernde Zustände wie etwa wissen oder haben gemeint, die durativ, aber weder dynamisch noch telisch sind. Wenn die Grammatikalisierung des am-Progressivs fortschreitet, wäre zu erwarten, dass in Zukunft häufiger auch Accomplishments und States in dieser <?page no="198"?> 198 6. Syntaktischer Wandel Konstruktion auftreten. In Grammatikalisierungsprozessen lässt sich häufig beobachten, dass Konstruktionen quasi ihre Reichweite ausdehnen (vgl. z. B. Himmelmann 2004): So dehnt sich das sog. „Rezipientenpassiv“ (ich bekomme ein Buch geschenkt) erst nach und nach auf Verben aus, die mit der Bedeutung des Vollverbs bekommen inkompatibel sind (ich bekomme die Zähne gezogen; vgl. Szczepaniak 2011: 152-158). Angesichts der immer größeren Zahl an verfügbaren Korpusdaten wäre es spannend, auf Grundlage einer möglichst großen Datenbasis zu untersuchen, ob in den letzten Jahren oder Jahrzehnten ein Anstieg von Achievements und States in der am-Progressiv-Konstruktion zu verzeichnen ist. Auch würde sich der am-Progressiv gut für apparent time-Studien anbieten, wie sie Flecken (2011) für die nl. aan het-Konstruktion durchgeführt hat: Auf Grundlage einer generationenübergreifenden Befragung zeigt sie, dass bei den älteren Befragten die Zahl der Kontexte, in denen sie die aan het-Konstruktion für wohlgeformt erachten, deutlich eingeschränkter ist als bei jüngeren Befragten. Zum Weiterlesen Van Pottelberge (2004) ist eine umfangreiche Monographie zum am-Progressiv-- wer sich mit dieser Konstruktion beschäftigt, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Einen kurzen und gut lesbaren Überblick zur Entwicklung des am-Progressivs bietet das entsprechende Kapitel in Szczepaniak (2011). Einschlägig sind auch die Aufsätze von Flick & Kuhmichel (2013) sowie Flick (2016). Infobox 14: Grammatikalisierung Die allmähliche Durchsetzung des am-Progressivs kann als Prozess der Grammatikalisierung verstanden werden. Grammatikalisierung bedeutet, dass aus einem lexikalischen Zeichen ein grammatisches Zeichen wird. Das ist z. B. beim Verb haben der Fall: In dem Satz Ich habe ein Handy ist es ein Vollverb und trägt lexikalische Bedeutung; in dem Satz Ich habe es noch nie benutzt ist es ein Hilfsverb und erfüllt grammatische Funktion. Zentral für die Entstehung grammatischer Formen sind die Mechanismen der Reanalyse und der Analogiebildung. So wird die Entwicklung des haben-Perfekts zurückgeführt auf Kontexte, in denen ein nachgestelltes attributives Partizip als Bestandteil der Verbphrase neu interpretiert (reanalysiert) wurde, z. B. <?page no="199"?> 199 6.1 Syntaktischen Wandel verstehen ahd. phígboum habeta sum giflanzotan, in sinemo uuingarten Feigenbaum hatte irgendeiner gepflanzten in seinem Weingarten ‚Jemand besaß einen gepflanzten Feigenbaum in seinem Weingarten.‘ (Tatian 102,2, zit. nach Szczepaniak 2011: 131) Das Partizip giflanzotan bezieht sich hier auf den phígboum - aufgrund der relativ freien Wortstellung des Ahd. kann es nachgestellt werden. Zwar wird nicht eindeutig klar, ob der Besitzer den Feigenbaum selbst gepflanzt hat, allerdings bietet sich diese Interpretation an (vgl. Szczepaniak 2011: 132). Aus dieser Interpretation heraus kann sich eine andere Lesart des obigen Satzes ergeben, nach der sich giflanzotan nicht mehr auf den phígboum bezieht, sondern vielmehr die Tätigkeit des Besitzers (sum) ausdrückt. Also: ‚Er hat den Feigenbaum gepflanzt.‘ Der Mechanismus der Analogie lässt sich gut an einem weit jüngeren Grammatikalisierungsphänomen illustrieren, in dem aber auch Reanalyse eine Rolle spielt, nämlich am sog. Rezipientenpassiv: Er bekommt ein Buch geschenkt. Die Entwicklung dieser Konstruktion lässt sich grob in folgende Stadien einteilen, die Heine (2003) für Grammatikalisierungsprozesse ansetzt: ▶ Desemantisierung: Verlust an semantischem Gehalt. Die „Quelle“ fürs bekommen-Passiv bilden Konstruktionen wie Sie bekommt den Kaffee geröstet ‚Sie erhält den Kaffee in geröstetem Zustand‘. Weil wir mit dem Rezipientenpassiv vertraut sind, interpretieren wir diesen Beispielsatz möglicherweise automatisch als bekommen-Passiv, allerdings finden sich in Korpora durchaus Belege mit anderen Verben, die (noch) nicht als Passivstrukturen gedeutet werden können: Wer in Unkenntnis der Rechtslage renoviert, kann vom Vermieter noch nach Jahren die Kosten erstattet verlangen ( NKU 09 / JUN .01 660, DeReKo). Das Muster wird dann als Passivstruktur reanalysiert, wobei sicherlich auch die strukturelle Ähnlichkeit zum werden-Passiv eine Rolle spielt (Hier wird Kaffee geröstet). Die Reanalyse basiert also auch darauf, dass die Sprachbenutzenden eine Analogie erkennen. In der Grammatikalisierungsforschung bezieht sich der Begriff der Analo- <?page no="200"?> 200 6. Syntaktischer Wandel 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen 6.2.1 Zur Arbeit mit annotierten Korpora In diesem Kapitel wollen wir uns an einem Beispiel verdeutlichen, wie man mit annotierten Korpora arbeiten kann. Eine Warnung vorab: Auch wenn ich versuche, die Darstellung möglichst einfach zu halten, wird es teilweise sehr gie (oder Analogisierung bei Traugott 2010) aber zumeist auf etwas anderes, nämlich auf die analogische Extension der durch Reanalyse gewonnenen Struktur. ▶ Diese Extension ist zugleich der zweite Schritt im „typischen“ Grammatikalisierungsszenario, das Heine (2003) vorschlägt: Die Konstruktion wird in neuen Kontexten verwendet, z. B. Sie bekommt ein Lied vorgesungen. Durch die „ungewöhnliche Besetzung der einzelnen Positionen“ (Szczepaniak 2011: 37) wird die durch Reanalyse entstandene neue Struktur quasi sichtbar-- denn die Paraphrase *‚Sie erhält ein Lied in vorgesungenem Zustand‘ ist hier nicht mehr möglich. Analogie bedeutet in diesem Zusammenhang also, dass Formen in einer bestimmten Konstruktion auftreten, in denen sie vorher nicht möglich waren. Beim Rezipientenpassiv wird das besonders deutlich, wenn privative Verben, also solche, die den Verlust von etwas ausdrücken, in der Konstruktion auftreten: Sie bekommt die Zähne gezogen (Szczepaniak 2011: 157). ▶ Weiterhin gehen die morphosyntaktischen Eigenschaften der Ursprungsform verloren; hier spricht Heine (2003) von Dekategorialisierung. So ist bekommen ein transitives Verb, fordert also ein Objekt: Ich bekomme einen Kaffee. In einem Satz wie ich bekomme den Kaffee geröstet ist noch ein direktes Objekt vorhanden. Das ist z. B. in Sie bekommt geschrieben nicht mehr der Fall. ▶ Eine Entwicklung, die das Rezipientenpassiv (noch? ) nicht durchlaufen hat, ist die Erosion, der letzte Schritt im Grammatikalisierungsprozess. Damit ist der Verlust von phonologischer Substanz gemeint. So wird das engl. going to-Futur gern zu gonna kontrahiert, was bei der wörtlichen Verwendung von going to nicht möglich ist: I’m going to try > I(’m) gonna try, aber I’m going to the library-- *I’m gonna the library. <?page no="201"?> 201 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen technisch. Wer sich selbst an einer komplexeren Korpusrecherche probieren möchte, findet im digitalen Begleitmaterial Tutorials zu mehreren Korpora, die teilweise auch nähere Hintergründe zu den technischen Details liefern. Fallbeispiel: Prä- und postnominaler Genitiv im DTA In Kap. 2.2.2 haben wir eine Reihe von Korpora kennengelernt und einen ersten Überblick über mögliche Annotationsebenen von Korpora gewonnen. So haben wir gesehen, dass Korpora häufig auf die Grundformen der einzelnen Wörter hin getaggt sind (Lemmatisierung) sowie auf Wortarten ( POS -Tagging). In vielen Korpora sind darüber hinaus z. B. Satzgrenzen annotiert. Wenn wir uns mit syntaktischen Phänomenen befassen, können diese Annotationen sich bereits als sehr hilfreich erweisen. Nehmen wir zum Beispiel an, wir wollen die Stellung des Genitivs untersuchen: des Vaters Haus (Prästellung) vs. das Haus des Vaters (Poststellung). Welche Suchabfrage wir hier wählen können, hängt fundamental davon ab, welche Annotationen das Korpus bietet. Deshalb ist es wichtig, sich zunächst mit dem Korpus, das man nutzen möchte, vertraut zu machen, insbesondere mit Hilfe der Dokumentation. Sehr aufschlussreich kann es aber auch sein, einfache Suchanfragen auszuprobieren und auf diese Weise ein Korpus und seine Annotation näher kennenzulernen. Fangen wir zunächst mit dem Deutschen Textarchiv an, das für eine syntaktische Fragestellung insofern eine Herausforderung darstellt, als es lediglich lemmatisiert und auf Wortarten hin getaggt ist. Da es nicht möglich ist, z. B. gezielt nach Genitiven zu suchen, müssen wir eine Behelfslösung finden. Wir kommen beispielsweise schon recht weit, wenn wir nach den Wortformen des, der, eines, einer suchen, gefolgt von einem als Substantiv getaggten Wort. Dies kann natürlich nur eine erste Annäherung sein, da Genitive mit einem anderen Determinierer, etwa mit Demonstrativ- oder Possessivpronomen (dieses Vaters, unseres Vaters), nicht berücksichtigt werden. Dennoch können wir auf diese Weise eine potentiell sehr aufschlussreiche Stichprobe gewinnen. Im DTA würde die entsprechende solche Suchanfrage wie folgt aussehen: "$w=/ (des|der|eines|einer)/ g #1 $p=/ N./ " Lassen Sie sich nicht von der Komplexität dieser Abfrage abschrecken! Sehen wir uns die einzelnen Elemente der Suchabfrage näher an. Die gesamte Suchanfrage steht in Anführungszeichen-- diese sind, vereinfacht gesagt, notwendig, <?page no="202"?> 202 6. Syntaktischer Wandel um dem Programm klarzumachen, dass alles, was in den Anführungszeichen steht, zusammengehört. Mit $w geben wir an, dass wir auf einer spezifischen Annotationsebene suchen möchten, nämlich auf der Ebene, die den Text in moderner Schreibung enthält und die wir im Folgenden als w-Ebene bezeichnen wollen (z. B. wird hier das sog. Schaft-s < ſ > als <s> dargestellt). Um auf der Ebene zu suchen, die die originale Schreibweise abbildet, müssten wir $w durch $u ersetzen. Allerdings würden uns dann möglicherweise Treffer entgehen, in denen des als <de ſ > verschriftet ist. Was suchen wir auf der w-Ebene nun? Wir suchen zunächst Belege, die mit einem bestimmten oder unbestimmten Artikel beginnen: „/ (des|der|eines|einer)/ “. Mit den Slashes (/ ) geben wir an, dass wir reguläre Ausdrücke benutzen möchten. Reguläre Ausdrücke sind Zeichen, die zum Auffinden bestimmter Zeichengruppen bzw. Zeichenfolgen benutzt werden (vgl. z. B. Fitzgerald 2012: 1). Reguläre Ausdrücke kann man zum Beispiel verwenden, um irgendein Zeichen zu finden: Mit „.*aus“ etwa kann man nach Zeichenketten (Strings) suchen, in denen der Zeichenfolge aus null bis beliebig viele Zeichen vorausgehen, man findet damit also aus, raus, Haus, Maus, Kirchenmaus und vieles andere. In unserer Suchanfrage benutzen wir einen der bekannteren regulären Ausdrücke, der Ihnen vielleicht schon begegnet ist: den horizontalen Strich |, der für ein logisches ODER steht. 5 Das g, das dem zweiten Slash folgt, der den ersten regulären Ausdruck abschließt, ist hingegen kein standardgemäßer regulärer Ausdruck, sondern spezifisch für die Suchabfragesyntax des Tools DDC , das DWDS und DTA nutzen. Das g sagt, dass wir genau diese Strings finden möchten- - andernfalls findet die Suchsyntax nämlich auch Wörter, in denen z. B. die Zeichenfolge des oder der vorkommt, z. B. Landes oder Länder. Der gleiche Effekt ließe sich mit gängigeren regulären Ausdrücken erzielen, indem wir jedem der gesuchten Strings ein ^ (für: das darauffolgende Zeichen soll am Anfang des Strings-- in unserem Fall: des Wortes-- stehen) voranstellen und ein $ folgen lassen (für: das vorangehende Zeichen soll am Ende stehen), also: / (^des$|^der$|^eines$|^einer$)/ . In diesem Fall ist die DDC -spezifische Syntax allerdings effizienter. 5 Vorsicht: In DDC muss man, wie bereits in Kap. 2.2 erwähnt, außerhalb von regulären Ausdrücken den ODER -Operator doppelt setzen: ||. Innerhalb von regulären Ausdrücken hingegen setzt man ihn, wie bei regulären Ausdrücken üblich, einfach. <?page no="203"?> 203 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen Zusammengenommen lautet dieser erste reguläre Ausdruck also: Finde alle Strings, die genau mit der Zeichenfolge des, der, eines ODER einer übereinstimmen. Dem von / / umschlossenen Ausdruck folgt ein Wortabstandsoperator. Hier könnten wir #0 einsetzen, wenn wir wollen, dass zwischen dem Artikel (des, der, eines oder einer) und dem Nomen, das dem Artikel folgen soll, kein einziges Wort steht. Dann würden wir also des Vaters oder des Hauses finden, aber nicht des alten Vaters oder des schönen Hauses. Damit würden uns möglicherweise sehr viele Treffer entgehen, deshalb erlauben wir einen Abstand von maximal einem Wort, um wenigstens auch solche Belege zu finden, in denen zwischen Artikel und Substantiv noch ein Attribut steht. Mit $p=/ N./ schließlich suchen wir nach Substantiven. $p spezifiziert, dass wir auf der Part-of-Speech-Ebene suchen, also auf der Ebene der Wortartenannotation. Substantive sind auf der POS -Ebene als „ NN “ (Appellativa) oder „ NE “ (Eigennamen) getaggt. Der reguläre Ausdruck „.“ steht für genau ein beliebiges Zeichen: „/ N./ “ findet also alle Strings, bei denen dem Zeichen N noch ein weiteres Zeichen folgt. Zusammengenommen lautet unsere Suchanfrage also: Finde alle Belege, bei denen einem der Wörter der, des, eines oder einer im Abstand von maximal einem Wort ein Substantiv folgt. Wenn Sie noch nie mit Korpora gearbeitet haben, ist diese Suchanfrage trotz der ausführlichen Erläuterung möglicherweise etwas erschlagend für Sie. Auch hier gilt: Lassen Sie sich nicht abschrecken-- aller Anfang ist bekanntlich schwer. Wenn Sie sich näher mit dem DTA und der Suchabfragesyntax DDC , die es verwendet, auseinandersetzen möchten, kann es hilfreich sein, zunächst ein wenig mit den Beispiel-Suchanfragen herumzuspielen, die auf www.deutschestextarchiv.de unter „Linguistische Suche“ aufgeführt sind. Kehren wir nun aber zu unserer Suchanfrage zurück und stellen die entscheidende Frage: Finden wir damit eigentlich das, was wir gesucht haben? Precision und Recall Die ersten von insgesamt über 3 Millionen (! ) Ergebnissen 6 unserer Suche sind die ersten dreizehn in Tab. 22 dargestellt. Alle 13 Belege stammen übrigens aus 6 Je nachdem, ob man das alte Interface eins.dwds.de oder das neue Interface dwds.de nutzt, variiert die Zahl der Ergebnisse etwas. Einer der Nachteile der alten Schnittstelle ist, dass dort teilweise zwei nahe beieinanderstehende Treffer in einem Beleg zusam- <?page no="204"?> 204 6. Syntaktischer Wandel einem Kochbuch mit dem schönen Titel „Ein Köstlich new Kochbuch Von allerhand Speisen/ an Gemüsen/ Obs/ Fleisch/ Geflügel/ Wildpret/ Fischen vnd Gebachens“. Kontext links Keyword Kontext rechts Weyland Herrn D. Johann Jacob Weckers / des berümbten Medici , seligen / nachgelassene Wittib . Amberg . auff embsiges anhalten viler guthertziger / vnd der sachen verständiger leut GOtt der Allmächtige NA bey der löblichen Kunst jederzeit lieber auß der Kuchen / dann auß der Apotecken curirt der liebe Gott der Meinung / mehr bemelter mein lieber Herr seliger Aber in solchem hat jhn der liebe Gott / von mir vnd auß diser Welt zu sich gefordert . Vnd ob wol dasselbige / von wegen der grossen Müh vnd Arbeit / von der vrsach vnnd anlaß / / dergleichen ich vor disem vnter dem namen eines Kochbuchs außgangen seyn / zu dises leibs vnd lebens pflegung vnd täglicher vnterhaltung der Gesundheit Deßgleichen des Ertzvatters Jacobs beyde Weiber / Tab. 22: Ergebnis der DTA -Korpusrecherche nach der / des / eines / einer + Substantiv im Abstand von max. 1 Wort. Fehltreffer sind grau hinterlegt. Schnell fällt auf, dass die Ergebnisse-- wenig überraschend-- viele Fehltreffer enthalten, denn der ist natürlich nicht nur die Singular-Genitivform des femimengefasst werden. Dadurch reduziert sich die Belegzahl. Bei einer Suchanfrage wie der unseren kommt das natürlich extrem häufig vor. Deshalb zeigt das neue Interface für unsere Suchanfrage eine Trefferanzahl von etwas über 2 Mio., das neue hingegen etwas über 3 Mio. an. <?page no="205"?> 205 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen ninen Artikels bzw. die Plural-Genitivform des bestimmten Artikels in allen drei Genera, sondern auch der Nominativ Singular des maskulinen bestimmten Artikels (der liebe Gott) und die Dativform des femininen bestimmten Artikels (auß der Kuchen ‚aus der Küche‘). So verwundert es wenig, dass sich schon in diesem winzigen Auszug gut die Hälfte der Treffer als sogenannte false positives erweisen, also als Treffer, die wir mit unserer Suchanfrage finden, obwohl wir sie eigentlich gar nicht finden wollen. In der Korpuslinguistik nennt man das Verhältnis von „richtigen“ Treffen zu Fehltreffern in den gewonnenen Daten auch Precision. Unsere Ergebnisse zeichnen sich, wie wir gesehen haben, nicht unbedingt durch ein hohes Maß an Precision aus. In manchen Fällen kann eine genauere Suchanfrage zu einer höheren Precision führen. Je nachdem, mit welchen Daten man arbeitet, kann es aber auch durchaus sein, dass man mit den Fehltreffern leben und sie manuell aussortieren muss. Würden wir das „Köstlich new Kochbuch“ manuell durchsuchen, fänden wir möglicherweise auch Treffer, die unsere Suchanfrage nicht findet, zum Beispiel Substantive mit zwei Attributen wie des köstlichen neuen Kochbuchs. Diese Elemente nennt man true negatives, also Elemente, die nicht gefunden werden, obwohl wir sie eigentlich hätten finden wollen, da sie ja zu der Konstruktion gehören, die wir untersuchen. Das Verhältnis von Treffern (ohne Fehltreffer) zur Gesamtzahl der Belege, die für die Untersuchung von Interesse sind (also Treffer + true negatives) nennt man Recall. Der genaue Recall-Wert lässt sich natürlich nur herausfinden, wenn man alle Texte im Korpus manuell durchsucht-- ein Verfahren, das die automatische Suchabfrage ad absurdum führen würde. In vielen Fällen kann es aber sinnvoll sein, den Recall-Wert für eine Stichprobe-- sagen wir, zwei oder drei kurze Texte aus dem Korpus-- zu ermitteln, um besser beurteilen zu können, wie viele und welche Daten die gewählte Suchabfrage „übersieht“. Wenn ich zum Beispiel feststelle, dass in meiner Stichprobe fast alle Substantive im Genitiv zwei Attribute haben (des köstlichen neuen Kochbuchs), wäre es sinnvoll zu überlegen, den Wortabstandsoperator zu ändern, sodass diese Belege mit erfasst werden und ein besserer Recall erzielt wird. Wenn ich hingegen feststelle, dass zwar gelegentlich Genitive mit zwei Attributen vorkommen, sich aber die Zahl der Fehltreffer enorm erhöhen würde, wenn ich den Wortabstand erhöhe, kann es sinnvoll sein, den schlechteren Recall zugunsten einer höheren Precision in Kauf zu nehmen. <?page no="206"?> 206 6. Syntaktischer Wandel Infobox 15: Wie viel ist genug? - Zur Stichprobengröße Wenn eine Suchanfrage, wie in diesem Kapitel gesehen, drei Millionen Ergebnisse liefert, ist es praktisch unmöglich, alle manuell durchzusehen. In einem solchen Fall ist es meist empfehlenswert, eine bessere und genauere Suchanfrage zu finden. Aber gerade wenn man hochfrequente Phänomene in großen Korpora untersucht, steht man häufig vor einer unüberschaubaren Menge an Ergebnissen - selbst wenn die Precision hoch ist und sich nur wenige Fehltreffer in den Daten befinden. Gerade für kleinere Studien etwa in Seminararbeiten bietet es sich daher an, mit Stichproben zu arbeiten. Die wahrscheinlich am häufigsten gestellte Frage von Studierenden, die zum ersten Mal korpuslinguistisch arbeiten, ist: „Wie groß muss meine Stichprobe sein? “ Darauf gibt es leider keine pauschale Antwort. Es gibt keine feste Untergrenze, ab der eine Stichprobe repräsentativ ist (zumal es „echte“ Repräsentativität in dem Sinne, dass die Stichprobe ein ganz genaues Abbild der Grundgesamtheit, nur eben im Kleinen, darstellt, ohnehin nicht geben kann). Die Wahl der Stichprobengröße ist also von mehreren ganz praktischen Faktoren abhängig, unter anderem: ▶ Wie werden die Daten annotiert? Sehr viele Annotationen, die noch dazu erfordern, dass der Kontext mit einbezogen wird, sind zeitaufwendig und rechtfertigen eine kleinere Stichprobe. Arbeitet man dagegen nur mit den reinen Type- und Tokenfrequenzen, ohne eigene Annotationen hinzuzufügen, gibt es keinen Grund, überhaupt eine Stichprobe zu nehmen. In diesem Fall kann man gleich alle Daten mit einbeziehen. ▶ Wie werden die Daten ausgewertet? In manchen Fällen kann man schon mit 100 Belegen aussagekräftige Ergebnisse erzielen. Aber wenn man ein Korpus diachron auswerten möchte, das in 10 Zeitschnitte unterteilt ist, sind 100 Belege offensichtlich zu wenig- - denn dann hat man bei gleicher Verteilung gerade einmal 10 Belege pro Zeitschnitt! Für die ersten Gehversuche z. B. in Seminararbeiten empfehle ich in der Regel, mit 100 bis 500 Belegen zu arbeiten. In den meisten Fällen genügt das, um Tendenzen aufzuzeigen, und ist vom Arbeitsaufwand her auch für AnfängerInnen bewältigbar. Aus den obigen Überlegungen sollte jedoch klar geworden sein, dass diese Zahlen völlig willkürlich sind. <?page no="207"?> 207 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen Fallbeispiel 2: Prä- und postnominaler Genitiv im Referenzkorpus Mittelhochdeutsch Eine präzisere Suchanfrage können wir stellen, wenn ein Korpus über eine detailliertere morphologische Annotation oder sogar eine syntaktische Annotation verfügt. Im Referenzkorpus Mittelhochdeutsch ( REM ) zum Beispiel können wir u. a. auf Informationen zu Kasus und Numerus zugreifen-- davon habe ich z. B. in Kap. 4 Gebrauch gemacht, um die umgelauteten und nicht-umgelauteten Varianten der Gen.Sg.- und Dat.Sg.-Formen von kraft zu finden. Ebenso verfügen z. B. auch das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus (FnhdC) und die herunterladbare LING - COL -Version des GerManC-Korpus über Informationen u. a. zu Kasus und Numerus von Substantiven. Diese detailliertere morphologische Annotation können wir nutzen, um weitaus gezielter nach Genitivformen zu suchen, als es in einem lediglich POS -getaggten Korpus möglich ist. Mit anderen Worten: Wir können die Precision unserer Suchanfrage deutlich erhöhen. Dipper (2015: 537) nennt ein Beispiel, wie man das REM auf grobe Trends bezüglich der Genitivstellung untersuchen kann, indem man zunächst nur solche Belege berücksichtigt, in denen das Bezugsnomen dem Genitiv unmittelbar folgt oder vorangeht. REM ist über die Abfrageplattform ANNIS verfügbar. Diese nutzt die auf den ersten Blick etwas verwirrende, allerdings bei genauerem Hinsehen sehr logische Abfragesprache AQL (Annis Query Language). Hier die Suchabfrage für Dippers Anwendungsbeispiel in AQL 7 (die fett gedruckten Angaben rechts dienen der Erklärung und sind nicht mit einzugeben): inflection-= / .*Gen.*/ # 1 & pos ! = " DPOSA " # 2 & inflection ! = / .*Gen.*/ # 3 & pos-= / N.*/ # 4 & #1 _=_ #2 B 1 & #1 . #3 B 2 & #3 _=_ #4 8 B 3 7 Ein „Cheat Sheet“ für ANNIS , das die wichtigsten Suchabfrageoperatoren auf einen Blick enthält, findet sich im digitalen Begleitmaterial. Eine ausführlichere Anleitung zu ANNIS findet sich unter http: / / corpus-tools.org/ annis/ . 8 Die Suchanfrage ist Dipper (2015: 537) entnommen; dort steht allerdings statt DPOSA noch DPOSGEN (für ‚genitivisches Possessivpronomen‘). Der Tag DPOSGEN kommt in REM inzwischen nicht mehr vor. <?page no="208"?> 208 6. Syntaktischer Wandel Diese Abfrage spezifiziert vier verschiedene Teilabfragen (# 1 bis # 4), die über die Operatoren in den darauffolgenden Zeilen miteinander verbunden werden. Das ist eine Besonderheit von AQL , die gerade bei komplexen Abfragen nützlich sein kann. (Alternativ gibt es auch eine kompaktere Suchabfragevariante, auf die ich hier aber nicht eingehe.) # 1 sucht nach Tokens, deren Annotation auf der Annotationsebene inflection den String „Gen“ (für Genitiv) enthält, also z. B. Neut.Gen.Sg, Masc.Gen.Pl. Weil allerdings auf der infl-Ebene auch Possessivpronomina wie sein, ihr mit Gen getaggt sind, müssen diese ausgeschlossen werden. Im Hi TS -Tagset (Dipper et al. 2013), das für REM verwendet wurde-- einer für historische Korpora optimierten Abwandlung des verbreiteten Stuttgart-Tübingen Tagset ( STTS )-- sind diese mit DPOSA (Determinativ, possessiv, attributiv, vorangestellt) gekennzeichnet. # 2 sucht daher nach Tokens, die nicht damit übereinstimmen. In Zeile B 1 wird über den Operator _=_ gesagt, dass sich # 1 und # 2 auf das gleiche Token beziehen. Das heißt, es wird nach einem Token gesucht, das auf der infl-Ebene als „Gen“ annotiert ist, aber auf der POS -Ebene nicht als DPOSA . Die Zeilen # 3 und # 4 suchen nach dem Bezugsnomen. Dieses soll nicht im Genitiv stehen (Zeile # 3), aber es soll sich um ein Substantiv handeln (Zeile # 4). Zeile B 3 bindet diese beiden Bedingungen mit dem Operator _=_, besagt also wiederum, dass sich # 3 und # 4 auf dasselbe Token beziehen. Zeile B 3 schließlich benutzt den Punkt als Abstandsoperator. Er besagt, dass die beiden Tokens direkt aufeinander folgen sollen. Zusammengenommen findet die Suchanfrage also Wörter im Genitiv, die keine Possessivpronomina sind und denen ein Substantiv folgt, das nicht im Genitiv steht, z. B. Gottes Sohn. Denkpause Die o. g. Suchanfrage findet pränominale Genitive wie Gottes Sohn. Wie müsste man sie modifizieren, um postnominale Genitive wie Sohn Gottes zu finden? Für die Suche nach dem pränominalen Genitiv muss man Zeile B 2 einfach umstellen, also: # 3 . # 1. Fig. 33 zeigt exemplarisch einen Treffer für die Suchanfrage, die den pränominalen Genitiv findet. Natürlich sind auch bei diesen beiden Suchanfragen weder Precision noch Recall ganz ideal: Einerseits finden die beiden Anfragen nur solche Belege, bei denen Genitivattribut und Bezugsnomen direkt nebeneinanderstehen. Belege <?page no="209"?> 209 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen Fig. 33: Beispieltreffer für Token im Genitiv, gefolgt von einem Substantiv, das nicht im Genitiv steht. Screenshot aus ANNIS . In der obersten Zeile sieht man die Treffer in der Key Word in Context ( KWIC )-Ansicht, die Keywords (im Original farbig) sind durch Einrahmung hervorgehoben. Darunter sieht man die Annotationen für jedes Token. Hier sind die Annotationen, die auf der Ebene „inflection“ zu den beiden Keywords gehören, durch Einrahmung hervorgehoben. <?page no="210"?> 210 6. Syntaktischer Wandel mit Determinierer können nur für die pränominale, nicht für die postnominale Stellung gefunden werden: eines Gottes Sohn wird gefunden, Sohn eines Gottes hingegen nicht. Andererseits gibt es einige Fehltreffer, z. B. werden auch getrennt geschriebene Komposita wie den den goteſ ſun gefunden (vgl. Dipper 2015: 538). Dass Gottes in goteſ ſun als Genitiv annotiert ist, liegt an den Annotationsprinzipien von REM : In REM wurde die Entscheidung zwischen pränominalen Genitiven und Komposita- […] mit Bezug auf Standard-Wörterbücher wie Lexer (1872) getroffen: Was dort als Kompositum eingetragen ist, wird auch in REM so analysiert. goteſ ſun ‚Gottes-Sohn‘-[…] ist im Lexer nicht eingetragen. Hingegen gibt es zu gotſhuſ ‚Gotteshaus‘-[…] einen entsprechenden Eintrag im Lexer unter dem Stichwort got-hûs. (Dipper 2015: 538) Auch wenn wir dank der detaillierteren Annotation in REM gezielter nach Genitiven suchen können als etwa im DTA , erfordert also der Output, den wir erhalten, nach wie vor eine manuelle Bereinigung. Fallbeispiel 3: Prä- und postnominale Genitive in der Mercurius-Baumbank Einige Korpora verfügen nicht nur über eine morphologische, sondern auch über eine vollwertige syntaktische Annotation. Weil syntaktische Strukturen in solchen Korpora i. d. R. in Form von Syntaxbäumen dargestellt werden, nennt man sie auch Baumbanken. Die derzeit verfügbaren historischen Baumbanken des Deutschen sind relativ klein: Die Datenbank des Mercurius-Korpus (Demske 2007) enthält Zeitungstexte aus nur zwei Jahren (Mercurius von 1667 und Annus Christi von 1597), die sich aber zusammen immerhin auf ca. 187.000 Tokens belaufen. Die Deutsche Diachrone Baumbank (Hirschmann & Linde 2010) umfasst fürs Ahd., Mhd. und Fnhd. je etwa zweieinhalbtausend Tokens aus je zwei Texten. Beide genannten Baumbanken sind unter https: / / korpling.german.hu-berlin.de/ annis3 (zuletzt abgerufen am 30. 05. 2017) erreichbar. Auch sie machen von der Suchabfrageplattform ANNIS Gebrauch. Die Mercurius-Baumbank ist für die Suche nach pränominalem vs. postnominalem Genitiv besonders geeignet, da hier Genitiv-Attribute dezidiert als solche getaggt sind, und zwar mit GL für „Genitiv-Attribut links“ und GR Für „Genitiv-Attribut rechts“, wie Fig. 34 exemplarisch zeigt. Eine Form wie des Feindts ankunfft in Fig. 34 finden wir mit folgender Suchabfrage (aus Dipper 2015: 549): <?page no="211"?> 211 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen node >[label="GL"] cat="NP" node meint dabei einen beliebigen Knoten (im Baum in Fig. 34 werden Knoten als Ellipsen dargestellt). cat=" NP " indes steht für eine Nominalphrase. Mit >[label=" GL "] wird die Relation zwischen diesen beiden Elementen ausgedrückt: Das > bedeutet, dass es sich um eine unmittelbare Dominanzrelation handelt. Das bedeutet, dass der Knoten, der mit dieser Suchanfrage gefunden wird, dem NP -Knoten unmittelbar übergeordnet sein muss. Den Unterschied zwischen direkter und indirekter Dominanz zeigt Fig. 35. Dort wird der unterste NP -Knoten von zwei übergeordneten NP -Knoten dominiert. Direkt dominiert wird er aber nur von dem unmittelbar übergeordneten Knoten. Dieser Knoten ist es also, den unsere Suchanfrage findet. Würde unsere Anfrage nun einfach nur lauten node > cat="NP" , so würden alle Knoten gefunden, die einen NP -Knoten dominieren, ganz unabhängig davon, ob sich ein Genitivattribut in dem Treffer befindet oder nicht. Deshalb wird die Relation zwischen node einerseits und cat=" NP " andererseits noch genauer spezifiziert. Denn wie Fig. 34 und Fig. 35 zeigen, sind in den Bäumen nicht nur die Knoten beschriftet, sondern auch die „Äste“ des Baums, die man als Kanten oder engl. edges bezeichnet (vgl. Lemnitzer & Zinsmeister 2015: 71). Wir suchen also node und cat=" NP " nicht in irgendeinem direkten Dominanzverhältnis, sondern nur solche Fälle, in denen der Ast, der in der Baumdarstellung die Dominanz signalisiert, mit „ GL “ (Genitiv links) beschriftet ist. Entsprechend finden wir den „Genitiv rechts“, wenn wir „ GL “ in der Suchanfrage durch „ GR “ ersetzen. Da das Mercurius-Korpus Zeitungstexte aus zwei Jahrgängen beinhaltet, zwischen denen 60 Jahre liegen, könnte es interessant sein, die beiden Dokumente, aus denen das Korpus besteht (eines für den Mercurius 1667, eines für Annus Christi 1597), getrennt auszuwerten. Hier kann man von der Möglichkeit Gebrauch machen, via AQL auf die Meta-Annotationen des Korpus Bezug zu nehmen (über die man, ebenso wie über andere Aspekte der Annotation, durch Klick auf das Info-Symbol in der Korpusauswahlleiste unten links in ANNIS nähere Informationen bekommt). Eine Suchanfrage nur für den Mercurius sähe wie folgt aus: node >[label="GL"] cat="NP" & meta: : doc="Mercurius-1667" <?page no="212"?> 212 6. Syntaktischer Wandel Entsprechend lautet die Anfrage für Annus Christi: node >[label="GL"] cat="NP" & meta: : doc="AnnusChristi-1597" Die beiden Suchanfragen sowie ihre Äquivalente mit GR statt GL liefern die in Tab. 23 angeführten Ergebnisse. Interessanterweise ist der Anteil postnominaler Genitive im Annus Christi mit 67,7 % etwas höher als im Mercurius mit 53,4 %. Das mag möglicherweise auf einen etwas konservativeren Genitivgebrauch im Mercurius hinweisen oder auch daran liegen, dass sich das Wortbildungsmuster der sog. Genitivkomposition allmählich entfaltet: Bei einem Beleg wie wann dieser Rebellen Auffstand grossen Fortgang gewonnen hätte kann nicht eindeutig entschieden werden, ob es sich bei Rebellen Auffstand noch um einen pränominalen Genitiv oder schon um ein Kompositum handelt. Genitiv links Genitiv rechts Annus Christi 1597 162 339 Mercurius 1667 737 846 Tab. 23: Ergebnisse für die Suche nach „Genitiv links“ und „Genitiv rechts“ in den beiden Subkorpora der Mercurius-Baumbank. Wenn wir statt im Mercurius-Korpus in der Deutschen Diachronen Baumbank nach Genitivattributen suchen wollen, können wir die grundlegende Struktur der obigen Anfrage ebenfalls verwenden, müssen sie aber anpassen, da die Bezeichnungen der einzelnen Attribute und Werte dort geringfügig anders ist. So tragen die Kanten-Labels nicht den Namen label, sondern vielmehr func (für „syntaktische Funktion“), und statt der Werte GR und LG gibt es dort AG (für „Attribut, Genitiv“). Somit lautet die Anfrage dort also: node >[func="AG"] cat= "NP" Anders als im Mercurius-Korpus, können wir hier also nicht direkt nach pränominalen und postnominalen Genitiven suchen. Jedoch können wir die Ergebnisse exportieren und anschließend der Konkordanz eine Annotationsspalte hinzufügen, in der wir für jeden Beleg angeben, ob es sich um einen pränominalen oder um einen postnominalen Genitiv handelt. Ein Beispiel dafür, wie eine solche Konkordanz aussehen könnte, zeigt Fig. 36: Mit Hilfe des in ANNIS unter More > Export verfügbaren TextColumnExporter wurden dafür die 34 Belege <?page no="213"?> 213 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen als KWIC -Datei mit tab-separierten Belegen exportiert, die ihrerseits dann unkompliziert in ein Tabellenkalkulationsprogramm (hier: LibreOffice Calc) kopiert werden können (Fig. 36). Fig. 34: Beispiel-Baum aus der Mercurius-Baumbank: Das Genitivattribut des Feindts ist mit dem Label „ GL “ markiert. Fig. 35: Beispiel für direkte Dominanz (durchgezogener Pfeil) vs. indirekte Dominanz (daher Pfeil durchgestrichen). <?page no="214"?> 214 6. Syntaktischer Wandel Fig. 36: Beispiel für Anreicherung einer Konkordanz mit einer Annotationsspalte zur Genitivstellung. Daten bereinigen und annotieren Selbst wenn wir mit einem Korpus mit detaillierter syntaktischer Annotation arbeiten, haben wir also häufig noch mit Fehltreffern zu kämpfen. Auch ist es oftmals so, dass die unmittelbar aus den Daten gewonnenen Frequenzen, wie jene in Tab. 23, allein zunächst wenig aussagen und die gesammelten Belege daher einer weiteren Anreicherung mit Annotationen bedürfen. Der nächste wichtige Schritt bei der Korpusanalyse nach der Datenextraktion ist daher stets das Bereinigen und Annotieren der gesammelten Daten. Wie bereits geschildert, lassen sich bei den meisten Suchanfragen Fehltreffer kaum vermeiden-- diese müssen durch manuelle Durchsicht der Daten soweit möglich beseitigt werden. 9 Hier hilft es, die in Kap. 2.2.2 genannten Faustregeln zu guten Konkordanzen zu beherzigen, denn je mehr die Konkordanz den dort genannten Idealen entspricht, desto einfacher ist es, „false positives“ mit nur wenigen Handgriffen zu beseitigen. So kann man in Microsoft Excel und LibreOffice Calc von nützlichen Tastenkombinationen Gebrauch machen: Mit Strg / Cmd und Leertaste kann man eine ganze Zeile markieren, mit Strg / Cmd und-- kann man eine ganze Zeile löschen. Das funktioniert übrigens auch, wenn mehrere Zeilen markiert sind, sodass man u. U. auch mehrere aufeinanderfolgende Fehltreffer schnell beseitigen kann. 9 Bei sehr großen Datenmengen ist das manchmal nicht möglich. In diesem Fall muss man mit Stichproben arbeiten-- entweder beschränkt man dann die Analyse generell auf die gewählte Stichprobe, oder man nutzt die Stichprobe, um die Anzahl der Fehltreffer in der gesamten Konkordanz zu extrapolieren, und arbeitet mit dem gesamten Datensatz weiter, wobei man die Tatsache, dass man mit „unreinen“ Daten arbeitet, natürlich immer im Hinterkopf behalten muss. <?page no="215"?> 215 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen In manchen Fällen endet der Prozess der Datenaufbereitung hier-- beispielsweise, wenn wir nur wissen wollen, welche Substantive wie häufig im präbzw. postnominalen Genitiv stehen. In den meisten Fällen aber beginnt die eigentliche Korpusarbeit überhaupt erst hier, nämlich mit der Annotation der aus den Daten gewonnenen Konkordanz. Im Falle des Genitivs haben wir gesehen, dass die Faktoren Belebtheit, Definitheit und Komplexität eine zentrale Rolle bei der Wahl zwischen präponiertem und postponiertem Genitiv zu spielen scheinen. Um dies an eigenen Daten zu überprüfen, könnten wir nun die Daten in unserer Konkordanz auf diese Faktoren hin annotieren. Dabei ist es wichtig, für „schwammigere“ Kategorien klare Annotationskriterien zu formulieren. Beispielsweise ist eine Annotation auf Belebtheit zwangsläufig mit schwierigen Entscheidungen verbunden: Gilt zum Beispiel ein Kollektivum wie Versammlung als belebt? Was ist mit einem Wort wie Seele? Und welche Belebtheitsstufen sollen überhaupt angenommen werden? Prinzipiell gibt es in solchen Fällen drei Möglichkeiten: 1. Annotationskriterien in der existierenden Literatur finden (für Belebtheit z. B. Zaenen et al. 2004) und ihnen genau folgen. 2. Annotationskriterien in der existierenden Literatur finden, sie aber abwandeln, um sie der eigenen Fragestellung bzw. den Besonderheiten der eigenen Daten anzupassen. Die Abweichungen müssen begründet und dokumentiert werden. 3. Eigene Annotationskriterien formulieren. Diese sollten klar und umfassend dargelegt und von Anfang an schriftlich fixiert werden-- Kriterien, die nur im Kopf des Annotators oder der Annotatorin existieren, haben wenig Wert, da sie gern in Vergessenheit geraten (ich spreche aus Erfahrung). Diese Grundregeln gelten natürlich nicht nur für die Untersuchung syntaktischer Fragestellungen, sondern für alle Korpusrecherchen. Syntaktische Korpusanalysen sind aber, wie dieses Kapitel gezeigt hat, häufig sehr komplex und erfordern daher zum einen genaue Überlegungen, was man sucht und wie man es sucht, und zum anderen ein sorgfältiges Bereinigen der Daten. Zum Weiterlesen Dipper (2015), auf die sich große Teile dieses Kapitels stützen, bietet detaillierte Anwendungsbeispiele für die Suche nach syntaktischen Mustern insbesondere in REM , aber z. B. auch im Mercurius-Korpus. Wer Baumbanken nutzen <?page no="216"?> 216 6. Syntaktischer Wandel möchte, findet z. B. bei Lemnitzer & Zinsmeister (2015) wichtige Hinweise zum Einstieg. Aufgabe Untersuchen Sie die Stellung des adnominalen Genitivs in einem Korpus Ihrer Wahl und annotieren Sie eine Stichprobe auf das Kriterium der Belebtheit hin. Bestätigt sich die Prognose, dass belebte Entitäten eher pränominal auftreten? 6.2.2 Zwischen Syntax und Lexik: Alles hat seinen Preis Dieser Abschnitt stellt eine weitere Korpusstudie vor und fungiert zugleich als Bindeglied zum nächsten Kapitel, in dem es um Lexik und Semantik gehen wird. Die Lexik befasst sich mit dem Wortschatz einer Sprache, also zunächst einmal mit einzelnen Wörtern. Allerdings gibt es auch Einheiten oberhalb der Wortebene, die feste Fügungen darstellen und sich somit ein Stückweit wie Wörter verhalten. Man denke an Wendungen wie auf freiem Fuß sein, die z. B. keine weiteren Ergänzungen zulassen (*auf freiem und entfesseltem Fuß sein), oder an Funktionsverbgefüge wie in Erfahrung bringen (*in genaue / ungefähre / präzise Erfahrung bringen). Die Entstehung solcher Wendungen kann man sich als Pfad von der Syntax in die Lexik vorstellen: Eine häufig wiederholte syntaktische Fügung wird zu einer mehr oder weniger zusammengehörigen Einheit. Man spricht hier mit Haiman (1994) von chunking: Wörter, die häufig zusammen vorkommen, werden quasi als zusammengehörige „Blöcke“ (chunks) wahrgenommen (vgl. auch Bybee 2007, Schneider 2014). Das kann so weit gehen, dass aus ehemals mehreren Wörtern ein neues entsteht, z. B. gegenüber aus gegen und über (ursprünglich getrennt: gegen dem Haus über). In anderen Fällen handelt es sich (noch) um eine eher lose Verbindung. So tritt das sonst nicht allzu gebräuchliche Adjektiv ungebeten in der weit überwiegenden Mehrzahl aller Fälle mit den Substantiven Gast oder Besuch auf (ungebetene Gäste, ungebetener Besuch), seltener sind z. B. ungebetene Blicke, ungebetene Ratschläge oder eine ungebetene Erkältung belegt (Datengrundlage hier: DECOW 16A). Somit kann man sagen, dass ungebetene Gäste zwar einen Chunk bildet, der aber nicht so untrennbar miteinander verbunden ist wie z. B. Phraseologismen des Typs auf gut Glück. Chunking ist also, wie so vieles im Sprachwandel, ein gradueller Prozess. <?page no="217"?> 217 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen Einen besonders interessanten Fall des Chunkings zeigt Stefanowitsch (2011) in seiner Analyse des Musters [ NP hat POSS Preis] auf. NP steht hier für irgendeine Nominalphrase- - das kann ein Substantiv, ggf. mit Begleiter, sein: Luxus hat seinen Preis, Die Nacht hat ihren Preis, aber auch ein Pronomen wie dies oder alles. POSS steht für ein Possessivpronomen, meist seinen oder ihren, aber theoretisch wäre z. B. auch so etwas wie Du hast Deinen Preis denkbar. Stefanowitsch sieht [ NP hat POSS Preis] als eine Konstruktion im Sinne der Konstruktionsgrammatik; was genau darunter zu verstehen ist, werden wir in Kap. 6.2.3 erörtern. In diesem Abschnitt hingegen genügt es, den Begriff Konstruktion in einem allgemeinen Sinn zu gebrauchen und darunter einfach ein sprachliches Muster zu verstehen. Stefanowitsch beobachtet, dass im Falle von [ NP hat POSS Preis] bei femininen NP s vergleichsweise häufig ein maskulines Possessivpronomen folgt, z. B. ? Qualität hat seinen Preis. Diese Inkongruenz ist umgekehrt fast nie feststellbar, Belege für [ NP mask / neutr hat ihren Preis] wie *Alles hat ihren Preis finden sich in seiner Belegsammlung auf Grundlage des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) hochsignifikant seltener als Belege für [ NP fem hat seinen Preis]. Tab. 24 zeigt die Ergebnisse: Von 1085 maskulinen oder neutralen NP s in den Belegen sind nur 3 mit dem Possessivpronomen inkongruent, von 1129 femininen NP s hingegen immerhin 40. Mit einem Kreuztabellentest wie dem Chi-Quadrat-Test oder dem Fisher Exact Test kann man zeigen, dass es statistisch extrem unwahrscheinlich ist, dass eine solche Verteilung durch Zufall zustandekommt. Wie lässt sie sich aber erklären? Mask./ Neutr. Fem. Gesamt Kongruent 1082 1089 2171 Inkongruent 3 40 43 Gesamt 1085 1129 2214 Tab. 24: Absolute Frequenz von kongruenten und inkongruenten Possessivpronomina in der Konstruktion [ NP hat POSS Preis], aus Stefanowitsch (2011: 205). Um Stefanowitschs Argumentation besser folgen zu können, replizieren wir im Folgenden seine Studie, allerdings nur auf Grundlage einer etwas kleineren Stichprobe. Wir nutzen das Web-Interface von COSMAS II , das unter https: / / cosmas2.ids-mannheim.de/ cosmas2-web/ zugänglich ist (kostenlose Registrierung erforderlich). <?page no="218"?> 218 6. Syntaktischer Wandel Hier suchen wir im (ungetaggten, aber lemmatisierten) Archiv W nach allen Flexionsformen von haben, unmittelbar gefolgt von einem Possessivpronomen und dem Wort Preis. Mit Hilfe des Grundform-Operators & können wir nach verschiedenen Flexionsformen von haben suchen: &haben. Dabei ist darauf zu achten, dass zuvor unter „Optionen“ im Reiter „Lemmatisierung“ die Häkchen bei „Komposita“, „Sonstige Wortbildungsformen“ und „Spezialfälle“ entfernt werden, da COSMAS II sonst neben Flexionsformen von haben auch nahezu alle Wörter findet, in denen ein String vorkommt, der mit einer der Flexionsformen von haben identisch ist (z. B. Hattrick [sic! ]), sodass die Ergebnisse in die Zehntausende gehen. &haben / +w1 #REG(^(d|m|s|D)einen$|^(I|i)hren$) / +w1 Preis Mit # REG kann man in COSMAS II nach regulären Ausdrücken suchen, die wir ja in Kap. 6.2.1 bereits kennengelernt haben. ^ gibt an, dass das darauffolgende Zeichen am Anfang des Strings stehen soll, $ gibt an, dass das davor stehende Zeichen am Ende stehen soll-- zusammen erfüllen sie also die gleiche Funktion wie oben das g in der DDC -Syntax von DTA / DWDS . Die auf das ^ folgende Klammer gruppiert die darin stehenden Elemente. Sie sagt, dass das Zeichen, das am Anfang des Strings steht, entweder ein d, ein m, ein s oder ein großes D sein soll. Insgesamt findet der reguläre Ausdruck somit deinen, meinen, seinen, Deinen, Ihren, ihren. Im Abstand von max. 1 Wort (/ +w1) soll dann Preis folgen. Die etwas über 8000 Ergebnisse finden sich im digitalen Begleitmaterial als .csv-Datei, die man mit gängigen Tabellenkalkulationsprogrammen öffnen kann. Ich habe eine Stichprobe von 1000 Belegen genommen und sie auf drei Kriterien hin annotiert: a) das Lemma im NP -Slot (also z. B. Qualität in Qualität hat ihren Preis), b) das grammatische Geschlecht dieses Lemmas (z. B. „weiblich“ für Qualität), c) der Numerus des Lemmas (Singular bei Luxus hat seinen Preis, Plural bei Luxusreisen haben ihren Preis). Um die spannendste Frage gleich zu beantworten: Auch in diesem vergleichsweise kleinen Datensatz finden sich insgesamt 15 Belege, in denen das Genus von NP und Possessivpronomen nicht übereinstimmt, z. B. (37) a. Die Genauigkeit hat seinen Preis. (U97, DeReKo) b. Profilierung in eigener Sache hat seinen Preis. (E97, DeRe- Ko) c. Die Ausschüttungsfreudigkeit von Hussel hat seinen Preis. (Z78, DeReKo) <?page no="219"?> 219 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen Für eine Inkongruenz in die umgekehrte Richtung findet sich hingegen in der Stichprobe kein Beleg. Wie kann man diese Inkongruenzen nun erklären-- und vor allem die Tatsache, dass sie nur in eine Richtung auftreten und nicht auch Belege mit maskuliner NP und femininem Possessivpronomen vorkommen? Das Phänomen des Chunking liefert eine naheliegende Erklärung: hat seinen Preis wird als zusammengehöriger „Chunk“, als feste Einheit, wahrgenommen. Dies wäre zu erwarten, wenn die Konstruktion viel häufiger mit maskuliner oder neutraler NP als mit femininer auftreten würde. Das ist allerdings sowohl in Stefanowitschs Daten als auch in unserer Stichprobe nicht der Fall. Lässt man in unserer Stichprobe Belege im Plural außer Acht, so stehen 383 Belege im Maskulinum oder Neutrum 427 Belegen im Femininum gegenüber-- auch hier ähnelt die Verteilung der aus Stefanowitschs Daten (Tab. 24). Es muss also eine andere Erklärung geben als die reine Tokenfrequenz. Ein Blick auf die Types, die im NP -Slot auftreten, zeigt, dass bei [ NP hat seinen Preis] ein starker Frequenzabfall zwischen den häufigsten Varianten das / alles hat seinen Preis einerseits und allen anderen Varianten andererseits festzustellen ist. Zusammen machen diese in unserer Stichprobe fast ein Drittel der Belege für [ NP hat seinen Preis] aus, mit deutlichem Abstand zur nächsthäufigeren Subjekt- NP Erfolg. Bei [ NP hat ihren Preis] ist zwar auch ein deutlicher Frequenzvorsprung von Qualität vor dem nächsthäufigeren Item festzustellen, allerdings ist der Anteil von Qualität an allen Belegen für [ NP hat ihren Preis] deutlich geringer (Tab. 25). NP hat seinen Preis NP hat ihren Preis Lemma Freq Lemma Freq alles 72 Qualität 53 das 51 Sicherheit 20 Erfolg 16 Freiheit 12 Fortschritt 10 sie 12 es 7 die 8 Luxus 7 Leistung 8 Qualität 7 Schönheit 7 der 5 Technik 7 Komfort 5 Politik 6 Umweltschutz 5 Arbeit 5 Tab. 25: Die häufigsten Lexeme im NP -Slot der Konstruktion [ NP hat POSS Preis] in einer 1000 Belege umfassenden Stichprobe aus dem DeReKo. <?page no="220"?> 220 6. Syntaktischer Wandel Stefanowitsch (2011: 207) zieht aus den Daten folgende Schlussfolgerung: Angesichts dieser klaren Häufigkeitsunterschiede ist es durchaus plausibel anzunehmen, dass die Variante [(das / alles) hat seinen Preis] aufgrund ihrer relativen Häufigkeit ein stark verankertes eigenständiges Muster darstellt und so dazu beiträgt, dass auch das abstraktere Muster [ NP i hat seinen i Preis] insgesamt stärker verankert ist als die Variante mit dem femininen Possessivpronomen. Auf dieses stärker verankerte Muster greifen Sprecher / innen dann häufig auch in den Fällen zu, in denen sie eine feminine Subjekt- NP in die Leerstelle einsetzen. Diese Fallstudie zeigt einerseits, wie relevant das Phänomen des Chunking für die Entstehung sprachlicher Muster ist. Andererseits macht sie deutlich, dass sich die Ursache für die Entstehung und kognitive Verankerung solcher Einheiten nicht immer aus den reinen Tokenfrequenzen erkennen lässt. Im Falle der Konstruktion [ NP hat seinen Preis] ist es vielmehr die Frequenz der einzelnen Types und ihr Anteil an allen Vorkommnissen der Konstruktion, die zu einer plausiblen Erklärung für den beobachteten Chunking-Prozess führt. Aufgabe 1979 erschien Christa Wolfs Novelle „Kein Ort. Nirgends“. Seitdem kann man gerade in der Pressesprache beobachten, dass daraus ein Muster entstanden ist, in dem-- ähnlich wie bei [ NP hat POSS Preis]-- der NP -Slot variabel ist, z. B. Kein Hintergedanke, nirgends. oder Kein Adressat mehr, nirgends (Belege aus DeReKo). Verfolgen Sie die Entwicklung dieser Konstruktion in einem Korpus Ihrer Wahl, z. B. dem W-Archiv des Deutschen Referenzkorpus (wo man sich auch ein Korpus nach eigenen Wünschen zusammenstellen kann, sodass es z. B. nur Pressetexte enthält) oder im ZEIT -Korpus, das über DWDS verfügbar ist. Welche Funktion erfüllt die Konstruktion [kein NP , nirgends], gerade im Vergleich zur einfacheren Formulierungsvariante [kein NP ]? 6.2.3 Eine Methode kommt selten allein: Die Familie der Kollostruktionsanalysen Das soeben diskutierte Beispiel [ NP hat POSS Preis] ist insofern an der Schnittstelle von Syntax und Lexikon anzusiedeln, als man hier von der Verfestigung eines syntaktischen Musters sprechen kann: Zum einen etabliert sich [ NP hat POSS Preis] als relativ häufig und produktiv verwendete Fügung, zum anderen <?page no="221"?> 221 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen kristallisiert sich [ NP hat seinen Preis] als stehende Wendung heraus, in der nur noch der NP -Slot, aber nicht mehr der POSS -Slot variabel ist. Solche Verfestigungsprozesse lassen sich häufig feststellen. Deshalb unterscheidet man z. B. in der Konstruktionsgrammatik syntaktische Muster nach ihrer Schematizität, von hochschematischen wie [Subjekt-- Prädikat-- Objekt] bis hin zu stehenden Wendungen wie Morgenstund hat Gold im Mund (vgl. z. B. Ziem & Lasch 2013: 105). Letztere würden allerdings nicht alle linguistischen Theorien als syntaktische Konstruktionen bezeichnen. Sieht man mit der Konstruktionsgrammatik syntaktische Konstruktionen und morphologische Muster als bedeutungstragende Einheiten, kann man fragen: Welche „Bedeutung“ (oder vorsichtiger gesagt: welche Funktion) hat eine abstrakte Konstruktion wie z. B. der Genitiv oder die Ditransitivkonstruktion ([ NP V NP NP ], z. B. ich gebe dir das Buch, aber auch ich backe dir einen Kuchen)? Um solche Fragen zu beantworten, ist es oft sinnvoll, die Lexeme genauer zu untersuchen, die in der betreffenden Konstruktion auftreten. Stefanowitsch & Gries (2003, 2005) bzw. Gries & Stefanowitsch (2004) haben eine Reihe von Methoden entwickelt, mit deren Hilfe sich Lexeme identifizieren lassen, die überzufällig häufig in bestimmten Konstruktionen auftreten. Diese Methoden werden zusammengenommen als Kollostruktionsanalyse bezeichnet, wobei dieser Begriff häufig nur auf das wohl verbreitetste Verfahren, die einfache Kollexemanalyse, bezogen wird, der sich auch dieses Kapitel ausschließlich widmet (die anderen Verfahren werden nur in Seitenblicken erwähnt). Der Begriff Kollostruktion ist eine Kontamination (Zusammenziehung / Zusammenfügung) aus den Wörtern Kollokation und Konstruktion. Als Kollokationen bezeichnet man Wortfolgen, die (häufig) zusammen auftreten. Unter einer Konstruktion versteht man in der Konstruktionsgrammatik Form-Bedeutungs-Paare auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen, in den meisten anderen Theorien bezeichnet er syntaktische Muster. Die einfache Kollexemanalyse lässt sich ideal für Konstruktionen mit einem offenen Slot einsetzen, z. B. für so etwas wie den NP -Slot von [ NP hat POSS Preis] oder aber für ein Idiom wie [Ein N kommt selten allein]. Es handelt sich hier um eine sog. teilschematische Konstruktion, d. h. ein Teil der Konstruktion steht fest und kann nicht oder nur bedingt variiert werden (ggf. könnte man noch selten durch niemals ersetzen), während ein anderer Teil variabel ist-- das ist der offene Slot, hier der N-Slot. In diese Leerstelle können unterschiedliche Füllwerte eingesetzt werden. Diese Füllwerte nennen Stefanowitsch & Gries (2003) Kollexeme. <?page no="222"?> 222 6. Syntaktischer Wandel Hinter den Kulissen der Kollostruktionsanalyse: Mehrfeldertests Um nun herauszufinden, welche Kollexeme in diesem Slot überzufällig häufig auftreten, greift die einfache Kollexemanalyse auf statistische Mehrfeldertests zurück. Die Idee hinter solchen Tests ist ganz einfach und lässt sich an folgendem Alltagsbeispiel illustrieren: Angenommen, an Ihrer Universität werden zwei Kurse zur Einführung in die historische Sprachwissenschaft angeboten. Nehmen wir, natürlich idealisierend, an, dass der einzige Unterschied zwischen den beiden Kursen der Dozent ist: Sie werden von zwei verschiedenen Dozenten geleitet, aber das Themenspektrum ist das gleiche, die Zusammensetzung der Studierenden ist im Blick auf ihre Vorkenntnisse, ihre Intelligenz, ihre Herkunft usw. die gleiche, die Rahmenbedingungen sind die gleichen, und am Ende schreiben alle denselben Test, der nicht von den beiden Dozenten, sondern von einer dritten, unabhängigen Instanz bewertet wird. Am Ende ergibt sich folgendes Bild: In Kurs A bestehen 25 von 30 Studierenden die Prüfung, 5 fallen durch. In Kurs B bestehen nur 17 von 30 Studierenden, 13 hingegen nicht. Diese Ergebnisse lassen sich in einer Vier-Felder-Kontingenztabelle wie Tab. 26 anordnen. Kurs A Kurs B bestanden 25 17 nicht bestanden 5 13 Tab. 26: Kontingenztabelle zum fiktiven Beispiel „Prüfung in historischer Sprachwissenschaft“. Auf den ersten Blick wird klar, dass in Kurs B mehr Studierende durchgefallen sind als in Kurs A. Aber heißt das, dass der Dozent in Kurs A schlechtere Arbeit geleistet hat-- oder könnte das Ergebnis durch Zufall zustandegekommen sein, etwa weil in Kurs B gerade sieben Studierende mehr als in Kurs A einen schlechten Tag erwischt hatten? Mit Hilfe statistischer Methoden lässt sich herausfinden, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Verteilung wie diejenige, die wir beobachten, durch Zufall zustandekommt. Das nutzen Mehrfeldertests wie z. B. der Chi-Quadrat-Test, die Auskunft darüber geben, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Verteilung z. B. in einer 2x2-Tabelle wie Tab. 26 zustandekommt. Dafür werden die beobachteten Werte verglichen mit den Werten, die man bei einer Zufallsverteilung erwarten würde. In unserem Beispiel etwa würde man bei einer Zufallsverteilung erwarten, dass das Verhältnis zwischen Studierenden, die die Prüfung bestehen, und Studierenden, die die Prüfung nicht bestehen, <?page no="223"?> 223 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen in beiden Kursen gleich ist. Um diesen Erwartungswert zu berechnen, werfen wir quasi die beiden Gruppen zusammen und teilen sie so auf, dass wir in beiden Gruppen gleich viele Besteher und Nichtbesteher haben. Mathematisch erreichen wir das, indem wir für jede Zelle die Zeilensumme mit der Spaltensumme multiplizieren und sie durch die Gesamtsumme, die sich aus allen vier Zellen ergibt, teilen, also z. B. für die erste Zelle: (25+17)*(25+5) / (25+5+17+13). Wiederholen wir das für die drei anderen Zellen, ergibt sich das Bild in Tab. 27. Kurs A Kurs B bestanden 21 21 nicht bestanden 9 9 Tab. 27: Erwartete Frequenzen bei Zufallsverteilung. Der Chi-Quadrat-Wert wird berechnet, indem man in jeder Zelle den erwarteten Wert vom beobachteten Wert abzieht, das Resultat quadriert, es durch den erwarteten Wert teilt und die vier Werte, die sich dadurch ergeben (einer für jede Zelle) aufsummiert. Für die erste Zelle wäre das also z. B. (25-21) 2 / 21. Insgesamt ergibt sich für unser Beispiel so ein Chi-Quadrat-Wert von 3,89. Dieser Wert kann dann mit einer Wahrscheinlichkeitsverteilung abgeglichen werden, sodass man mit Hilfe des Chi-Quadrat-Werts (sowie der sog. Freiheitsgrade; für eine gute Erklärung dieses Konzepts vgl. z. B. Field et al. 2012: 38) einen Wahrscheinlichkeitswert ermitteln kann. Früher musste man das noch manuell mit Hilfe von Tabellen tun (wie sie z. B. in der lesenswerten Einführung von Butler 1985 abgedruckt sind), heute kann man dafür auf Statistikprogramme wie R zurückgreifen und sowohl den Chi-Quadrat-Wert als auch den p-Wert, also den Wahrscheinlichkeitswert, einfach anhand der Daten aus Tab. 26 herausfinden. In unserem Beispiel ergibt sich ein Wert von p = 0,049. Dieser Wert liegt knapp unter der häufig verwendeten (natürlich willkürlichen! ) Signifikanzschwelle von 0,05. Das bedeutet, dass wir die Nullhypothese (also die Hypothese, die unserer Voraussage widerspricht; s. o. 2.2), dass die Verteilung durch Zufall zustandegekommen ist, zurückweisen können. Das heißt allerdings nicht, dass die Verteilung nicht trotzdem durch Zufall zustande gekommen sein kann. Somit können wir die Schuld zwar mit einiger Gewissheit auf den Dozenten schieben, aber eben nicht mit absoluter Sicherheit. Neben dem Chi-Quadrat-Test gibt es noch weitere Mehrfeldertests, die unterschiedliche Vor- und Nachteile haben. In der Kollostruktionsanalyse, auf die <?page no="224"?> 224 6. Syntaktischer Wandel wir nun zurückkommen, werden z. B. häufig der Fisher Exact Test oder Log-Likelihood Ratio benutzt (Dunning 1993); den letztgenannten Test werde ich im Folgenden verwenden. Eine Diskussion unterschiedlicher Assoziationsmaße bietet Wiechmann (2008). Einfache Kollexemanalyse von [Ein N kommt selten allein] Die einfache Kollexemanalyse greift die Logik von Mehrfeldertests auf und wendet sie auf die Häufigkeit von Wörtern an. Um dies an der Konstruktion [Ein N kommt selten allein] zu illustrieren: Der Korpusbeleg Ein Übel kommt selten allein kommt siebenmal im Korpus vor. Ist das viel oder wenig? Um das herauszufinden, muss ich zunächst wissen, wie häufig das Wort Übel in der Konstruktion [Ein N kommt selten allein] ist (Zelle 1 in Tab. 28) und wie häufig es im Korpus insgesamt vorkommt (Zelle 2: Gesamtfrequenz des Lexems abzüglich der Frequenz in Zelle 1). Auch muss ich wissen, wie häufig die Konstruktion [Ein N kommt selten allein] im Korpus ist (Zelle 3: Gesamtfrequenz der Konstruktion abzüglich der Frequenz in Zelle 1). Und schließlich brauche ich für die vierte Zelle in der Kontingenztafel, die ja vier Felder hat, noch einen Vergleichswert, wofür sich hier z. B. die Summe aller Substantive im Korpus anbietet (Zelle 4: Gesamtfrequenz aller Substantive abzüglich der Frequenz von l, also in diesem Fall Übel). Lexem l andere Lexeme Konstruktion K 1. Lexem l in Konstruktion K 3. Andere Lexeme in Konstruktion K andere Konstruktionen 2. Lexem l in allen anderen Konstruktionen 4. Andere Lexeme des gleichen Typs (z. B. Substantiv) in allen anderen Konstruktionen Tab. 28: Vier-Felder-Kontingenztafel für die einfache Kollexemanalyse (vereinfacht nach Stefanowitsch & Gries 2003). Um an die besagten Frequenzen zu gelangen, habe ich aus dem W-Archiv (ohne Neuakquisitionen) des DeReKo über die Suchanfrage #REG(^(e|E)ine? $) / +w2 kommt selten allein alle 2.120 Belege für die Konstruktion extrahiert. # REG bedeutet dabei, dass ich reguläre Ausdrücke benutzen möchte, also z. B. Platzhalter, Wiederholungsoperatoren oder das ODER -Zeichen |. Mit dem in Klammern stehenden regulären Ausdruck ^(e|E)ine? $ suche ich die Strings ein / Ein und eine / Eine: Das ? bedeutet, dass das davor stehende Zeichen 0- oder <?page no="225"?> 225 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen 1-mal vorkommen kann, also optional ist. Mit ^ spezifiziere ich, dass das darauffolgende Zeichen am Anfang des Strings (hier: dies Worts bzw. Tokens) stehen soll, mit $, dass das vorangehende Zeichen am Ende stehen soll. Der Wortabstandsoperator / +w2 spezifiziert einen Wortabstand von maximal 2 zwischen ein bzw. eine auf der einen Seite und der Wortfolge kommt selten allein auf der anderen. Der Wortabstand zwischen den anderen Suchwörtern ist automatisch 1, wenn unterhalb des Suchfensters das Häkchen bei „Weggelassener Verknüpfungsoperator bedeutet Wortabstand / +w1“ gesetzt ist. Außerdem nutze ich die auf der IDS -Seite abrufbaren Token-, Lemma- und POS -Frequenzliste 10 , um an die Daten für Zelle 2 und 4 in Tab. 28 zu gelangen. Das ist auch der Grund, warum für diese Suchanfrage das W-Korpus ohne Neuakquisitionen genutzt wurde, denn die Wortformenlisten stammen noch von 2014. (Hierzu ist allerdings zu sagen, dass dieses Vorgehen dennoch methodisch nicht ganz sauber ist: Nicht alle Tokens, die in der [ein N kommt selten allein]-Konkordanz den N-Slot füllen, sind auch in der Frequenzliste zu finden, was darauf hindeutet, dass die Liste nicht alle Wortformen des W-Archivs beinhaltet. Dennoch ist dies die wohl beste Option, die ohne aufwändiges manuelles Durchsuchen nach jedem einzelnen Lexem im N-Slot möglich ist.) Mit Hilfe der so gewonnenen Daten würde man die einzelnen Felder in Tab. 28 für das konkrete Beispiel Ein Übel kommt selten allein wie folgt füllen: Die Instanz ein Übel kommt selten allein findet sich, wie gesagt, siebenmal, die erste Zelle wäre also mit 7 zu füllen. Insgesamt kommt Übel 53.237-mal im Korpus vor, die Frequenz von Übel außerhalb der [ein N kommt selten allein]-Konstruktion beträgt also 53.237-7- = 53.230. Mit diesem Wert füllen wir Zelle 2. Da wir insgesamt 2.120 Belege für die [ein N kommt selten allein]-Konstruktion gefunden haben, von denen 7 auf ein Übel kommt selten allein entfallen, errechnet sich der Wert für die dritte Zelle wie folgt: 2120-7- = 2113. Für die vierte Zelle können wir die Frequenzen aller in der Wortformenliste als NN (=- „normales Nomen“, also Appellativum) oder NE (Eigenname) getaggten Lemmata aufsummieren und kommen auf 2.193.873.684. Mit Hilfe dieser vier Werte können wir für Übel und auch für alle anderen Lexeme, die im N-Slot der Konstruktion auftreten, einen Vierfeldertest rechnen, dessen p-Wert dann als Assoziationsstärke interpretiert wird. Lexeme, die überzufällig häufig in der Konstruktion auftreten, gelten als mit der Konstruktion assoziierte Kollexeme 10 http: / / www1.ids-mannheim.de/ kl/ projekte/ methoden/ derewo.html (zuletzt abgerufen am 20. 05. 2017). <?page no="226"?> 226 6. Syntaktischer Wandel (engl. attracted collexemes); solche, die überzufällig selten auftreten, gelten als dissoziiert (engl. repelled). Zum Glück müssen wir die Berechnung nicht von Hand durchführen, sondern können mittlerweile auf ein sehr nützliches und einfach zu bedienendes R-Paket zurückgreifen (Flach 2017). Mit Hilfe dieses Pakets wurden die Kollostruktionsstärken in Tab. 29 errechnet, wobei als Assoziationsmaß die Log-Likelihood-Ratio gewählt wurde. Einer verbreiteten Praxis in der Kollostruktionsanalyse folgend, werden dabei die Kollostruktionsstärken der dissoziierten Kollexeme negativiert. assoziiert dissoziiert Lexem Freq. Koll.stärke Lexem Freq. Koll.stärke Zwilling 458 7529.79 Strobl 6 -142.47 Unglück 319 4320.98 Bronner 2 -168.27 Tante 70 823.71 Frantz 2 -168.27 Unheil 31 394.22 Kogler 2 -168.27 Mord 36 273.67 Rosenow 2 -168.27 Single 31 262 Zombie 2 -168.27 Jubiläum 24 175.46 Ass 1 -176.63 Streik 21 167.3 Baggio 1 -176.63 Geist 25 164.4 Beetle 1 -176.63 Ohrwurm 12 142.78 Dirndl 1 -176.63 Gespenst 12 120.72 Funkel 1 -176.63 Duke 202 106.23 Geiß 1 -176.63 Gauner 9 103.14 Jagger 1 -176.63 Ungar 7 73.25 Kinski 1 -176.63 Diva 7 69.88 Klitschko 1 -176.63 Glück 15 66.61 Liebscher 1 -176.63 Elefant 8 63.56 Loop 1 -176.63 Schwein 8 57.22 Murdoch 1 -176.63 Übel 7 57.11 Pessoa 1 -176.63 Baby 9 53.94 Pippi 1 -176.63 Engel 9 53.05 Polenz 1 -176.63 Mops 4 48.73 Romero 1 -176.63 <?page no="227"?> 227 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen Hiobsbotschaft 5 47.41 Schefer 1 -176.63 Umzug 8 45.56 Unwort 1 -176.63 Fehltritt 4 45.26 Westerwelle 1 -176.63 Hase 6 41.48 Opa 5 37.96 Ego 4 35.53 Tiefschlag 3 32.27 Tab. 29: Am stärksten assoziierte und dissoziierte Kollexeme in der Konstruktion [Ein N kommt selten allein]. Kursiv in der linken Spalte: Titel. Die erste Beobachtung, die man anhand der Ergebnisse machen kann, ist, dass die Konstruktion enorm häufig in Titeln von Büchern, Filmen, Fernsehserien oder Bühnenstücken verwendet wird; die Instanzen, bei denen diese Verwendung durch den Kontext in den Belegen klar zu erkennen ist (z. B. durch Anführungszeichen, Angabe des Autors / der Autorin oder des Originaltitels usw.), sind in Tab. 29 kursiv gesetzt. Da es sich bei Titeln um Eigennamen handelt (genauer: um Kunstwerknamen, vgl. Nübling et al. 2012: 296-315), lässt sich darüber streiten, wie aussagekräftig es ist, dass sie als signifikant assoziierte Kollexeme identifiziert werden. Angesichts der Textzusammenstellung im De- ReKo, das ja viele Zeitungstexte umfasst, ist es wenig verwunderlich, dass Titel mehrfach in genau dieser Form auftreten, denn Eigennamen sind invariabel-- ich kann nicht auf „Ein Duke kommt selten allein“ Bezug nehmen mit „Ein Duke hat fast immer wen dabei“. Weil der Titel nicht nur in Besprechungen, sondern auch in Ankündigungen, Kinoprogrammen, Bestsellerlisten usw. erwähnt wird, erhöht sich die Frequenz automatisch. In jedem Fall empfiehlt es sich, die eigennamigen (onymischen) Instanzen gesondert zu betrachten. Die schiere Masse an Titeln in Tab. 29 lässt darauf schließen, dass die Assoziation zwischen der [ein N kommt selten allein]-Konstruktion und Kunstwerknamen in unserem Wissen über die Konstruktion verankert ist. Betrachtet man indes nur die übrigen signifikant assoziierten Kollexeme, in Tab. 29 fett gesetzt, erweisen sie sich als Variationen eines Themas und als Abwandlungen der vermutlich ältesten Variante Ein Unglück kommt selten allein, was auch die bis heute mit Abstand häufigste nicht-eigennamige Verwendung darstellt. Unheil, Übel, Hiobsbotschaft und Tiefschlag sind die anderen Lexeme, die überzufällig häufig an die Stelle von Unglück treten; einziger Ausreißer ist <?page no="228"?> 228 6. Syntaktischer Wandel Glück-- diese Variante kann als direkte Anspielung auf die feste Wendung Ein Unglück kommt selten allein und quasi als Umkehrung derselben verstanden werden. Insgesamt scheint die Konstruktion also, wenn man vom ironischen und vom onymischen Gebrauch absieht, tendenziell für eine Reihe negativer Ereignisse gebraucht zu werden. Die „semantische Prosodie“ der Konstruktion- - so nennt man das Phänomen, dass Wörter oder Konstruktionen durch häufige Kollokationen eine positive oder negative Konnotation entwickeln können (vgl. z. B. Sinclair 1990)-- ist also eine tendenziell negative, auch wenn die Konstruktion natürlich oft ironisch gebrochen verwendet wird. Aus den dissoziierten Kollexemen indes lassen sich oft Rückschlüsse auf untypische Verwendungsweisen ziehen-- oder auch auf spontane, produktive Verwendungsweisen (vgl. Hartmann 2014). Letzteres scheint hier der Fall zu sein: Fast durchweg handelt es sich bei den Lexemen, die überzufällig selten (meist nur einmal) in der Konstruktion auftauchen, um Personennamen. Das lässt darauf schließen, dass sich-- insbesondere etwa in Presseüberschriften-- [Ein EN kommt selten allein] als produktives Muster etabliert hat, das gerne spontan um neue Instanzen erweitert wird. Weitere Varianten der Kollostruktionsanalyse und ihr Nutzen Die beiden anderen Mitglieder in der Familie der Kollostruktionsanalysen sind die distinktive und die kovariierende Kollexemanalyse. Die distinktive Kollexemanalyse vergleicht Füllwerte in zwei (oder auch mehr) konkurrierenden Konstruktionen, z. B. wegen + artikelloses Substantiv im Dativ vs. wegen + artikelloses Substantiv im Genitiv (wegen Umbau vs. wegen Umbaus, wegen Einbruch vs. wegen Einbruchs). Die kovariierende Kollexemanalyse analysiert für Konstruktionen mit zwei offenen Slots (z. B. je X-er desto Y-er), welche Füllwerte überzufällig häufig miteinander auftreten. Beide Varianten haben den Vorteil, dass zur Errechnung der Assoziationswerte nur die Frequenzen innerhalb der untersuchten Konstruktion(en) benötigt werden. Das bedeutet, dass man gut mit Stichproben arbeiten kann, während man für die einfache Kollexemanalyse immer einen exhaustiven Datensatz und Zugang zu den Gesamtfrequenzen der einzelnen Lexeme im Korpus benötigt. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass der heuristische Wert der Kollostruktionsanalyse umstritten ist (vgl. z. B. Bybee 2010; Schmid & Küchenhoff 2013; vgl. Gries 2012, 2015 für Erwiderungen und Küchenhoff & Schmid 2015 für eine Fortführung der Debatte) und dass es auch alternative <?page no="229"?> 229 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen Assoziationsmaße gibt, z. B. Mutual Information (vgl. z. B. Church & Hanks 1990) oder Schmids (z. B. 2010) Maße der attraction und reliance. Gerade als explorative Methode eignet sich die Kollostruktionsanalyse aber hervorragend, zumal sie auch für AnfängerInnen relativ einfach durchführbar ist- - auch wenn die meisten Analysen zugegebenermaßen ein weitaus aufwändigeres manuelles Bereinigen der Daten voraussetzen als die hier vorgestellte Analyse, gerade wenn man sich mit abstrakteren Mustern beschäftigt, die keine so feste Struktur haben wie [ein N kommt selten allein]. So untersuchen Stefanowitsch & Gries (2003) unter anderem die engl. Passivkonstruktion. Um diese Analyse aufs Deutsche zu übertragen, könnte man z. B. in einem Korpus nach werden + Partizip II suchen (das Zustandspassiv mit sein + Partizip II übergehen wir geflissentlich, ebenso wie das Rezipientenpassiv mit bekommen / kriegen + Partizip II ) und müsste dann Fehltreffer, z. B. Futur II -Belege wie sie wird gewandert sein, aussortieren. Eine einfache Kollexemanalyse kann man hier natürlich auch nur durchführen, wenn man Zugriff auf alle Belege hat- - generell lässt sich das am besten mit Korpora umsetzen, die man herunterladen und offline durchsuchen kann, da man so immer Zugriff auf die kompletten Daten hat. Das setzt wiederum fortgeschrittene Kenntnisse voraus, die auch in den Tutorials im Begleitmaterial zu diesem Buch nur ansatzweise vermittelt werden können. Die distinktive und kovariierende Kollexemanalyse bieten sich daher für erste Schritte im Bereich der Assoziationsmaße eher an. Zum Weiterlesen Einen Überblick über die Familie der Kollostruktionsanalysen gibt Stefanowitsch (2013). Das R-Paket „collostructions“ und ausführliche Videos zu seiner Verwendung finden sich unter http: / / userpage.fu-berlin.de/ ~flach/ corpling/ (zuletzt abgerufen am 20. 05. 2017). Exemplarisch für Studien, die die Kollostruktionsanalyse (teilweise auch diachron) auf deutsche Daten anwenden, seien Stefanowitsch (2007), Hilpert (2008), Goschler (2011) und Zeschel (2011) genannt. Hilpert (2006) schlägt eine diachrone Erweiterung der distinktiven Kollexemanalyse vor; Stefanowitsch (2006) nennt einige Vorbehalte gegenüber dieser diachronen distinktiven Kollexemanalyse, während Fonteyn & Hartmann (2016) das Potential der Methode betonen. <?page no="230"?> 230 6. Syntaktischer Wandel 6.2.4 Noch einmal am-Progressiv: Ein experimenteller Ansatz 11 Der am-Progressiv bietet sich nicht nur für Korpusstudien an, sondern auch für Fragebogenstudien und Experimente. So könnte man für den am-Progressiv die Frage stellen, ob er von Menschen aus Regionen, in denen diese Konstruktion nur sehr schwach grammatikalisiert ist, anders verarbeitet bzw. verstanden wird als von Menschen aus Regionen, in denen sich der am-Progressiv schon voll durchgesetzt hat. Eine Möglichkeit der experimentellen Operationalisierung (allerdings ohne diatopische Ausrichtung) zeigt eine Studie zum niederländischen Pendant des am-Progressivs, der aan het-Konstruktion. Flecken & Gerwien (2013) greifen auf einen experimentellen Ansatz mit mehreren Schritten zurück: In einem ersten Experiment haben sie 10 Muttersprachlerinnen des Niederländischen gebeten, die inhärente Dauer von insgesamt 150 Verben bzw. Verbphrasen auf einer Skala von 1 bis 5 in Relation zu einem Vergleichsereignis (z. B. „Nudeln kochen“) zu schätzen (1- = viel kürzer als Nudeln kochen, 5- = viel länger als Nudeln kochen). Weitere 10 Probandinnen bewerteten die Vorstellbarkeit des Ereignisses und 10 andere Probandinnen ihre Vertrautheit mit dem Ereignis. Nur jene Ereignisse, die als vorstellbar und vertraut bewertet wurden, flossen in den zweiten Schritt des Experiments ein. Hier wurden insgesamt 27 Probanden ebenfalls gebeten, zunächst ihre Vertrautheit mit den in den insgesamt 78 Stimulisätzen beschriebenen Vorgängen zu bewerten. Anschließend sollten sie die Dauer des Ereignisses mit Hilfe eines Schiebereglers schätzen. Im Gegensatz zu den Teilnehmerinnen aus Experiment 1 erhielten sie jedoch nicht das reine Verb bzw. die Verbphrase im Infinitv als Stimulus, sondern vielmehr Sätze, die entweder progressiv oder nicht-progressiv formuliert waren: Paul is de badkamer aan het poetsen vs. Paul poetst de badkamer ‚Paul putzt das Badezimmer‘. Um das eigentliche Ziel der Studie nicht preiszugeben, wurden die Probanden gelegentlich gefragt, ob sie den jeweiligen Satz zuvor schon gelesen hatten. Mit Hilfe der Ergebnisse aus Experiment 1 wurde die inhärente Dauer der jeweiligen Verben in die drei Kategorien „lang“, „mittel“ und „kurz“ eingeteilt. Die Ergebnisse des zweiten Experiments zeigten, dass die progressive Form bei kurzen Ereignissen zu längeren Schätzungen führt. Für mittellange und lange Ereignisse hingegen stellen Flecken & Gerwien (2013) den gegenteiligen Effekt 11 Dieses Kapitel basiert teilweise auf Hartmann (2016a). <?page no="231"?> 231 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen fest: Hier fallen die Schätzungen der Dauer bei der progressiven Form kürzer aus. Was zunächst überraschen mag, ergibt sich bei näherem Hinsehen logisch aus der oben erörterten semantischen Charakterisierung des Progressivs. Weil der Progressiv quasi eine ins Geschehen involvierte Perspektive evoziert (s. o. 6.1.3), wird von einem langen Ereignis (wie wandern) gleichsam ein Ausschnitt gewählt, während ein kurzes Ereignis (wie eine Flasche öffnen) sozusagen in Zeitlupe konzeptualisiert wird. Ein solches Experiment lässt sich gut aufs Deutsche übertragen. Da das experimentelle Paradigma keine Reaktionszeitmessungen erfordert, kann man die einzelnen Schritte des Experiments auch gut mit einer Online-Studie durchführen. (Bei Reaktionszeitmessungen ist es dagegen immer gut, wenn alle Teilnehmenden das gleiche Gerät benutzen, um sicherzustellen, dass Reaktionszeitunterschiede nicht auf Hardware-Unterschiede zurückzuführen sind.) Im Folgenden stelle ich eine kleine, methodisch noch mängelbehaftete Pilotstudie zum am-Progressiv vor, die sich am Paradigma von Flecken & Gerwien (2013) orientiert, dieses aber stark vereinfacht. In einem ersten Schritt wurde in einer Umfrage über GoogleDocs ein kleiner Kreis an Teilnehmenden gebeten, eine Reihe von Stimulisätzen in die Kategorien „lang“, „kurz“ und „mittel“ einzuordnen und anzugeben, wie vertraut sie mit den darin beschriebenen Tätigkeiten sind. Diejenigen Ereignisse, die mit großer Mehrheit (mind. 75 %) in eine der drei Kategorien eingeordnet wurden und beim Vertrautheits-Rating einen Durchschnittswert von mindestens 3 (auf einer Skala von 1 bis 5) erreichten, wurden in die eigentliche Studie mit einbezogen. Diese wurde mit Hilfe der Javascript-Programmbibliothek jsPsych 4.3 (de Leeuw 2015) erstellt. jsPsych bietet eine Reihe vorgefertigter Funktionen, die gerade in psycholinguistischen Experimenten sehr häufig verwendet werden. Im Folgenden mache ich jedoch nur von sehr einfachen und grundlegenden Funktionen Gebrauch: zum einen von der Möglichkeit, die Reihenfolge von Stimuli zu randomisieren, zum anderen von der Möglichkeit, sog. Likert-Skalen zu erstellen. Die Likert-Skala (Likert 1932) ist nach dem Sozialwissenschaftler Rensis Likert benannt und nutzt eine einfache Rating-Skala, die Ihnen sicherlich schon oft begegnet ist-- zum Beispiel nach dem Muster: „5-= stimme sehr zu, 4-= stimme eher zu“ etc. In jsPsych funktioniert die Likert-Skala über einen Schieberegler, wie Fig. 37 zeigt. <?page no="232"?> 232 6. Syntaktischer Wandel Fig. 37: Likert-Skala in jsPsych. Ich habe das jsPsych-Plugin zur Erstellung von Likert-Skalen zweckentfremdet, um damit einen „Schieberegler“ à la Flecken & Gerwien zu generieren. Dieser erfordert eine kontinuierliche Skala, keine dichotomen Kategorien wie die Likert-Skala. Aber: Wenn die Likert-Skala ausreichend viele Intervalle hat (hier: 1000), dann erhält man eine quasi-kontinuierliche Skala (Fig. 38). Fig. 38: Quasi-kontinuierliche Skala in jsPsych. Mit Hilfe dieses Schiebereglers wurden die Probandinnen und Probanden gebeten, die Dauer von insgesamt 33 Sätzen zu schätzen. Elf der Sätze waren im einfachen Präsens formuliert, elf im am-Progressiv, bei elf weiteren handelte es sich um Distraktoren, die vom eigentlichen Ziel der Studie ablenken sollten. Die 33 Items wurden in randomisierter Reihenfolge gezeigt. Jedem Teilnehmer wurde zufällig eines von zwei Sets an Stimuli zugewiesen: Im ersten Set waren jene der 22 Target-Sätze im am-Progressiv formuliert, die im zweiten im Präsens formuliert waren, und umgekehrt. Für jedes Item wurden die Probandinnen außerdem um ein Grammatikalitätsurteil auf einer Skala von 1 („inakzeptabel“) bis 5 („völlig akzeptabel“) gebeten (mit der Likert-Skala in Fig. 37). Insgesamt nahmen 36 Freiwillige im Alter von 19 bis 59 Jahren (Durchschnittsalter: 30,3; Median: 28; Geschlecht: 12 männl., 23 weibl., 1 k.A.) an der web-basierten Studie teil. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer stammten allerdings aus dem süddeutschen „Kerngebiet“ des am-Progressivs, insbesondere aus Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und dem Saarland. 12 12 Die Angabe zum Ort der sprachlichen Sozialisation wurde mit einem Freitextfeld erfragt, um den Probandinnen selbst die Entscheidung zu überlassen, wie genau sie die <?page no="233"?> 233 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen Folgestudien mit Probandinnen aus anderen Teilen Deutschlands wären selbstverständlich wünschenswert und könnten möglicherweise auch Aufschluss darüber geben, ob der Grammatikalisierungsgrad des am-Progressivs zu Unterschieden in der Konzeptualisierung führt (das war auch der Grund, warum ich den Akzeptabilitätstest überhaupt in die Studie eingebaut habe). Werfen wir zunächst einen Blick auf die Akzeptabilitäts-Ratings, so zeigt sich erwartungsgemäß, dass die Präsensformen der Target-Sätze (die Distraktoren wurden in der Auswertung nicht mehr berücksichtigt) mit einigen wenigen Ausnahmen als voll akzeptabel (5) bewertet wurden, während die Wertungen beim am-Progressiv deutlich gemischter ausfallen (Fig. 39). Dabei zeigt sich, dass mehrere Faktoren die Akzeptabilität beeinflussen: Erstens stoßen am-Progressive mit Objekterweiterung (ich bin ein Haus am bauen) auf deutlich geringere Akzeptanz als solche ohne Objekterweiterung. Zweitens ist davon auszugehen, dass auch die inhärenten aspektuellen Eigenschaften der jeweiligen Verben auf den Akzeptabilitätsgrad Einfluss nehmen (s. o. 6.1.3). Da die Objekterweiterung die aspektuellen Eigenschaften des Verbs modifiziert, ist zudem mit einer Interaktion beider Faktoren zu rechnen. Region spezifizieren wollen, und damit die Antwortwahrscheinlichkeit zu erhöhen. Da meist das Bundesland angegeben wurde, liegt dies der hier dargestellten Auswertung zugrunde, wenngleich die politischen Grenzen aus dialektologischer Sicht natürlich wenig aussagekräftig sind. Bei der Schätzung der Dauer, die hier im Zentrum des Interesses steht, ist in einigen „prototypischen“ Fällen tatsächlich genau derjenige Unterschied zwischen inhärent kurzen und inhärent langen Formen festzustellen, der auf Grundlage der Ergebnisse von Flecken & Gerwien (2013) zu erwarten ist. Bei genauerem Hinsehen fallen die Ergebnisse jedoch weitaus weniger eindeutig aus. Im Falle der kurzen Ereignisse bestätigt sich zwar durchgängig die Tendenz, dass der am-Progressiv zu einer längeren Konzeptualisierung führt. Bei mittellangen und langen Ereignissen fallen die Ergebnisse hingegen deutlich heterogener aus (Fig. 40 zeigt einen Teil der Ergebnisse; die vollständigen Resultate finden sich im digitalen Begleitmaterial). So fällt die Schätzung der Dauer für Ich bin am laufen länger aus als für Ich laufe. Noch deutlicher wird dies z. B. bei Ich bin am warten gegenüber Ich warte und Ich bin einen Zeitungsartikel am lesen gegenüber Ich lese einen Zeitungsartikel. Dass sich die Hypothese einer kürzeren Schätzung bei inhärent langen Ereignissen nicht immer bestätigt, kann mehrere Gründe haben: Erstens können Gebrauchskonventionen eine Rolle spielen. So wird warten auch im Präsens zumeist in einem progressiven <?page no="234"?> 234 6. Syntaktischer Wandel Fig. 39: Akzeptabilitätswerte für die Target-Items. Aus Gründen der Lesbarkeit werden nur die Akzeptabilitätswerte für die im am-Progressiv formulierten Items dargestellt. Sinn gebraucht (ich warte auf-…, ich warte schon seit-…, nur selten: ich warte zwei Stunden). Zweitens spielt auch die Semantik des Verbs über die mit Hilfe der Aspektklassen erfassbaren Charakteristika hinaus eine Rolle. Ähnlich wie schlafen kann warten quasi als „statische Aktivität“ angesehen werden (vgl. Croft 2012: 39 für einen Überblick über verschiedene Analysen). Da die Verbsemantik eine völlig undynamische Konzeptualisierung nahelegt, ist der Prozess intern „homogener“, als dies etwa bei wandern, einer dynamischen Aktivität, der Fall ist. Daher kann nur bedingt ein Ausschnitt aus dem Geschehen konzeptualisiert werden; eher wird man sich in den (Gefühls-)Zustand des Wartens hineinversetzen, und zwar sowohl bei der im Präsens formulierten als auch bei <?page no="235"?> 235 6.2 Syntaktischen Wandel untersuchen der progressiven Variante. Dies lässt zusammenfassend darauf schließen, dass sich für prototypische Fälle die von Flecken & Gerwien (2013) beobachtete Tendenz auch im Deutschen zeigt, dass zugleich aber die Konzeptualisierung der vom Verb denotierten Vorgänge von einer Vielzahl an Variablen beeinflusst wird, was im Falle der (mittel-)langen Ereignisse in der vorliegenden Studie zu sehr heterogenen Ergebnissen führt. Fig. 40: Schätzung der Dauer für eine Auswahl der einzelnen einzelnen Stimulisätze (dunkelgrau: Präsens, hellgrau: am-Progressiv). Die gestrichelte horizontale Linie zeigt die Mitte der Skala, wo sich der Schieberegler zu Beginn jedes Trials befindet. Die gestrichelte vertikale Linie trennt inhärent kurze von inhärent (mittel-)langen Ereignissen. <?page no="236"?> 236 6. Syntaktischer Wandel Insgesamt also leidet die Studie unter relativ vielen Störvariablen, denn die Ergebnisse sind zwar interessant, allerdings scheinen viele Faktoren mit hineinzuspielen, die von der Variablen ablenken, die eigentlich mit der Studie untersucht werden sollte. Das Set an Stimuli, das für die Studie verwendet wurde, könnte durchdachter, ausgewogener und homogener sein. Das zeigt, wie wichtig bei experimentellen Studien ein möglichst sorgfältiges Design ist. Kleine Pilotstudien können helfen, Quellen von Störvariablen ausfindig zu machen und ein Gefühl dafür zu gewinnen, worauf beim Design eines Experiments zu achten ist. Zum Weiterlesen Zum Einstieg in jsPsych eignet sich das Tutorial, das unter http: / / docs.jspsych. org verfügbar ist. Eine Python-basierte Alternative ist PsychoPy, das neuerdings ebenfalls Web-basierte Studien unterstützt (http: / / www.psychopy.org/ , beide Links zuletzt abgerufen am 30. 05. 2017). Aufgabe Finden Sie heraus, was ein action-sentence compatibility task ist (vgl. Glenberg & Kaschak 2002; Bergen & Wheeler 2010) und versuchen Sie, mit jsPsych ein einfaches Experiment nach diesem Paradigma zu programmieren. Konkret soll es wie folgt aussehen: a) Die Teilnehmenden sehen eine Reihe von Sätzen, von denen einige semantisch sinnvoll und syntaktisch wohlgeformt sind, z. B. ich öffne die Tür, ich schließe das Fenster, während andere Kunstwörter enthalten, z. B. ich dropsle den Bingsler. b) Nachdem der Satz eingeblendet wurde, sollen die Teilnehmenden beurteilen, ob es sich um einen grammatischen Satz handelt. Wenn ja, sollen sie eine bestimmte Taste drücken, wenn nein, eine andere. Dabei ist wichtig, dass eine der Tasten weiter oben, die andere weiter unten auf der Tastatur liegt (z. B. 7 vs. Leertaste oder Pfeil nach oben vs. Pfeil nach unten). Idealerweise gibt es zwei Konditionen, wobei in einer die Tasten für Ja und Nein gegenüber der anderen vertauscht sind. c) Die Stimuli-Sätze sollen in randomisierter Reihenfolge gezeigt werden. (Eine mögliche Umsetzung findet sich im digitalen Begleitmaterial.) <?page no="237"?> 237 7.1 Lexikalischen und semantischen Wandel verstehen 7. Lexikalischer und semantischer Wandel 7.1 Lexikalischen und semantischen Wandel verstehen Wörter wie googeln oder skypen gehören heute ebenso zu unserem alltäglichen Wortschatz wie Internet, Laptop oder e-Book. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte niemand mit diesen Begriffen etwas anfangen können- - schon allein, weil die Konzepte, die sie bezeichnen, noch nicht existierten. Das zeigt, dass der Wortschatz einer Sprache auf kulturelle Neuerungen und Veränderungen reagiert. Ein Beispiel dafür ist der Wandel der Verwandtschaftsbezeichnungen, den z. B. Jones (2005) und Nübling et al. (2013: 142-146) behandeln und in dem sich der gesellschaftliche Wandel von der Großfamilie zur Kernfamilie widerspiegelt. So kommen Bezeichnungen für weiter entfernte Verwandte wie Base ‚Schwester des Vaters‘ und Muhme ‚Schwester der Mutter‘ außer Gebrauch. Der Vetter, einst ‚Bruder des Vaters‘, bleibt zwar erhalten, ändert aber seine Bedeutung und wird zur generischen Bezeichnung für entferntere Verwandte. Das zeigt, dass nicht nur das lexikalische Inventar einer Sprache hochdynamisch ist. Auch die Bedeutung von Wörtern unterliegt Wandelprozessen. So kann das oben genannte googeln mittlerweile nicht nur für Google-Suchen benutzt werden, sondern wird oft gleichbedeutend mit ‚im Internet suchen‘ verwendet, wie die Beispiele (38) und (39) aus dem Webkorpus DECOW 16A zeigen. (38) Ich hab mal eben das Buch bei Wikipedia gegoogelt. (39) Ich ziehe bald nach Amerika und habe deswegen Heli und USA bei Youtube gegoogelt. Dieses Kapitel befasst sich mit beiden Phänomenen: Zuerst wird es um Bedeutungswandel gehen. Hier stellt sich allerdings die Frage, was eigentlich Bedeutung ist-- auf den ersten Blick eine sehr einfache Frage, die sich aber bei näherem Hinsehen als überraschend kompliziert entpuppt und zu der es in der Linguistik viele verschiedene Ansichten gibt. Anschließend wenden wir uns dem lexikalischen Wandel zu, also der Veränderung des Wortschatzes. Was ist Bedeutung? Fritz (2011: 2) unterscheidet zwei Typen von Bedeutungstheorien, die in der derzeitigen historischen Semantik vertreten sind. Einerseits gibt es repräsentationistische Ansätze, die davon ausgehen, dass sprachliche Zeichen mentale <?page no="238"?> 238 7. Lexikalischer und semantischer Wandel Repräsentationen hervorrufen: Wenn ich Katze sage, evoziert dies in meiner Zuhörerin die mentale Repräsentation einer Katze, die je nach Kontext beispielsweise eine Siam- oder eine Perserkatze, klein oder groß, schwarz oder rötlich sein kann. Der repräsentationistische Ansatz wird insbesondere in der kognitiven Semantik vertreten 1 . Genauer gesagt, wird dort Bedeutung in neueren Ansätzen als verkörperte Simulation (embodied simulation) verstanden (vgl. Bergen 2012). Das bedeutet, dass wir nicht nur abstrakte Repräsentationen von, sagen wir, Katzen, Hunden oder Pinguinen oder auch von Tätigkeiten wie gehen oder stürzen haben, sondern uns ganz konkret in die Situation hineinversetzen, die in einer bestimmten Äußerung kodiert ist. Evidenz für diese Auffassung kommt unter anderem aus neurolinguistischen Studien, die zeigen, dass etwa beim Verstehen von Wörtern wie kick ‚treten‘ Gehirnareale aktiviert werden, die für Bein- und Fußbewegungen zuständig sind, während bei talk ‚reden‘ Areale aktiviert werden, die Gesichts- und Mundbewegungen kontrollieren (vgl. Pulvermüller 2013: 461). Eine solche Theorie steht natürlich vor der Herausforderung, dass viele sprachliche Zeichen, etwa Präpositionen wie in, vor, über, aber auch Begriffe wie Zeit, sehr abstrakte Bedeutungen haben. Hier wurden jedoch eine ganze Reihe kognitiver Strategien vorgeschlagen, wie diese verstanden werden. An dieser Stelle sollen nur zwei genannt werden-- erstens die Metapher (s. u. 7.1.2, Infobox 16). So konzeptualisieren wir beispielsweise Zeit räumlich. Viele der Grafiken in diesem Buch zeigen das, denn sie stellen den zeitlichen Verlauf eines Phänomens als horizontale Achse dar. Aber auch sprachlich schlägt sich das nieder, z. B. vor dem Sturm (vgl. vor dem Haus), ich muss den Termin nach hinten verschieben (vgl. ich muss das Regal nach hinten schieben). Zweitens kann man z. B. für Präpositionen abstrakte bildschematische Bedeutungen annehmen (Johnson 1987, Lakoff 1987), die natürlich auch metaphorisch verstanden werden und so mit der Zeit „ausbleichen“ können, vgl. z. B. die literale Verwendung von über in das Bild hängt über dem Schreibtisch mit der metaphorischen in Lass uns über Linguistik reden (vgl. auch Coventry & Garrod 2004). 1 Wie so viele Bezeichnungen mit dem Attribut kognitiv, ist auch „kognitive Semantik“ mehrdeutig: Es kann einerseits die umfassende Theorie sprachlicher Bedeutung von Talmy (2000) gemeint sein, andererseits die Auffassung von Bedeutung in der sog. Kognitiven Linguistik im allgemeinen. Hier ist die letztgenannte Lesart gemeint. Zur Einführung in die Kognitive Linguistik vgl. z. B. Croft & Cruse (2003) oder Evans & Green (2006). Eine etwas andere Spielart der kognitiven Linguistik stellt Schwarz-Friesel (2008) vor. <?page no="239"?> 239 7.1 Lexikalischen und semantischen Wandel verstehen Solchen repräsentationistischen Ansätzen stehen gebrauchstheoretische Ansätze gegenüber, die den Fokus auf sprachliches Handeln legen (vgl. Fritz 1998: 101). Die Grundidee dieses Ansatzes findet sich bei Wittgenstein ([1953] 2011: § 43): „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Zentral für diesen Ansatz ist der Begriff der Gebrauchsregel. Gebrauchsregeln geben an, wie man ein bestimmtes sprachliches Zeichen verwendet, und „funktionieren prinzipiell nach dem Schema: Verwende das Wort X, wenn Du auf einen Sachverhalt / Gegenstand Y verweisen möchtest.“ (Bechmann 2016: 186, Hervorhebung im Original) Auch wenn repräsentationistische und gebrauchstheoretische Ansätze in der Literatur oft quasi antagonistisch gegenübergestellt werden, schließen sie einander nicht aus. So weist Busse (2012: 792) darauf hin, dass „in jeder Bedeutungsdefinition explizit oder implizit unhintergehbar ein Kern von Repräsentation enthalten sein muss“, da der Gebrauch eines Zeichens ja nicht selbstzweckhaft geschieht, sondern bestimmte Konzepte im Rezipienten hervorrufen (evozieren) soll (vgl. auch Busse 2015: 299). Gerade im Bereich der Kognitiven Linguistik hat sich immer stärker die Erkenntnis durchgesetzt, dass Sprache im allgemeinen und Bedeutung im besonderen gebrauchsbasiert sind, weshalb auch teils recht unterschiedliche linguistische Theorien unter diesem Label (engl. usage-based theories) zusammengefasst werden. Bedeutung wird gebrauchsbasiert erworben- - so zeigen beispielsweise Ibbotson et al. (2014), dass Kinder die englische ing-Verlaufsform (I’m walking, I’m cooking) aus konkreten Situationen lernen, denn in kindgerichteter Sprache wird sie dann verwendet, wenn die Handlung gerade im Gange ist. Deb Roy, ein Wissenschaftler am Massachusetts Institute for Technology ( MIT ), hat sein Haus mit Kameras und Mikrofonen ausgestattet, um über Jahre hinweg den Spracherwerb seines Kindes aufzuzeichnen, und konnte damit u. a. zeigen, dass bestimmte Wörter erwartungsgemäß an bestimmten Orten häufiger verwendet werden, z. B. Wasser im Badezimmer oder Mango in der Küche (vgl. Roy et al. 2006; Meirelles 2013: 176-179). Diese Erkenntnisse mögen trivial wirken, da sie unseren intuitiven Erwartungen entsprechen. Aber abgesehen davon, dass-- wie eingangs im Methodenteil erwähnt-- wir unseren Intuitionen nicht immer trauen können, gibt es in der Philosophie des Geistes eine recht starke Strömung, die Bedeutung als weitgehend vom Sprachgebrauch entkoppelt sieht und stattdessen annimmt, dass Sprache und auch Denken über ein System abstrakter Symbole, eine „Language of Thought“, funktionieren (vgl. Fodor 1975). <?page no="240"?> 240 7. Lexikalischer und semantischer Wandel Aus einer solchen Perspektive wäre nicht zwangsläufig mit einer so starken Korrelation von Sprache und außersprachlichen Faktoren zu rechnen. Doch nicht nur der Spracherwerb ist ein wichtiger Testfall für gebrauchsbasierte Theorien. Auch Phänomene des Bedeutungswandels können sich im Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Sprachwissen und Sprachgebrauch als aufschlussreich erweisen. Fritz (1998: 8) sieht die historische Semantik als „Prüfstein für Bedeutungstheorien“, insbesondere im Blick auf Aspekte wie die Abgrenzung von Semantik und Pragmatik oder die Trennung zwischen sprachlichem Wissen und Weltwissen, die in einigen Theorien sehr rigide vorgenommen, in anderen hingegen praktisch nivelliert wird. Im Folgenden soll es unter anderem darum gehen, wie man sich solchen zunächst sehr theoretisch anmutenden Fragen empirisch annähern kann. Zuvor jedoch werfen wir noch einen genaueren Blick auf den Begriff des (mentalen) Lexikons und befassen uns dann mit Entlehnung als Beispiel für die Erweiterung des Wortschatzes. Was ist das Lexikon? In der Alltagssprache verstehen wir unter einem Lexikon zumeist ein Wörterbuch oder eine Enzyklopädie, die allgemeines Wissen umfassen kann oder auch einem bestimmten Themenbereich gewidmet ist („Lexikon der Sprachwissenschaft“, „Lexikon der Alltagsqualen“). In der Linguistik hat der Begriff jedoch noch mindestens eine andere wichtige Bedeutung. Er bezeichnet nämlich den Wortschatz einer Sprecherin oder eines Sprechers bzw. auch den Wortschatz einer Sprache. Bußmann (2008: 407) definiert Lexikon aus Sicht der theoretischen Linguistik als „Inventar des auf die Lexeme entfallenden Anteils an der Laut-Bedeutungs-Zuordnung einer Sprache in Form von phonetisch-phonologischer, morpho-syntaktischer und semantischer Information“. Meibauer et al. (2015: 16) unterscheiden drei linguistische Lexikonbegriffe: (i) Das Lexikon als Komponente eines theoretischen Modells, (ii) das mentale Lexikon im Sinne der Speicherung und Verarbeitung von Lexikoninformationen im menschlichen Gehirn, (iii) das neuroanatomische Lexikon, womit der „Sitz“ des Lexikons im Gehirn gemeint ist. Alle drei hängen eng zusammen, und gerade die Unterscheidung zwischen (i) auf der einen Seite und (ii) und (iii) auf der anderen mag zunächst verwirrend wirken. Hier ist es wichtig sich klarzumachen, dass Wissenschaft immer auch Modellbildung ist. Wir wissen nicht, wie Sprache im Gehirn „funktioniert“-- deshalb erarbeiten wir auf Grundlage der verfügbaren <?page no="241"?> 241 7.1 Lexikalischen und semantischen Wandel verstehen Evidenz eine Theorie, ein Modell davon, wie es möglicherweise sein könnte. Mit Hilfe der wissenschaftlichen Methode können wir dieses Modell dann überprüfen, korrigieren und verfeinern oder, wenn nötig, sogar komplett verwerfen. Die drei genannten Definitionen hängen eng zusammen, denn die meisten Theorien, die ein Lexikon annehmen, verbinden damit notwendigerweise auch Hypothesen zur Sprachverarbeitung, die letztlich im Gehirn stattfindet. Ob es dort allerdings wirklich einen festen „Sitz“ einzelner Komponenten der menschlichen Sprachfähigkeit gibt, ist umstritten. Wir können an dieser Stelle weitgehend agnostisch bleiben-- wenn in diesem Buch von lexikalischem Wandel die Rede ist, dann bedeutet das, dass sich das lexikalische Inventar einer Sprache, verstanden als geteiltes Wissen einer Population von Sprecherinnen und Sprechern (s. o. Kap. 2.1), wandelt. Wenn von Lexikalisierung die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass sprachliche Einheiten „lexikalische“ Eigenschaften annehmen. Das ist der Fall, wenn z. B. syntaktische Einheiten zu feststehenden, invarianten Wendungen werden, z. B. auf gut Glück, oder wenn morphologisch komplexe Wörter eine Sonderbedeutung annehmen, durch die sie nicht mehr kompositional aus den einzelnen Morphemen und den beteiligten morphologischen Mustern ableitbar sind, z. B. Heizung ‚Prozess des Heizens‘ > ‚Gerät zum Heizen‘. Dabei ist es für unsere Zwecke unerheblich, ob lexikalisierte Einheiten anders gespeichert bzw. verarbeitet werden als nicht-lexikalisierte. Lexik und Semantik im Wandel Im Folgenden wenden wir uns zwei Fallbeispielen für lexikalischen Wandel und Bedeutungswandel zu: Zunächst der Erweiterung des Wortschatzes durch Entlehnung, anschließend dem Bedeutungswandel des Wortes geil. Der Methodenteil befasst sich dann mit unterschiedlichen Perspektiven auf lexikalischen und semantischen Wandel, diskutiert Nutzen und Einschränkungen des Google Ngram Viewers als Instrument, das erste Hinweise auf lexikalische Wandelprozesse liefern kann, und wendet sich anschließend der Frage zu, wie man ein nicht wirklich „quantifizierbares“ Phänomen wie Bedeutung empirisch untersuchen kann. <?page no="242"?> 242 7. Lexikalischer und semantischer Wandel 7.1.1 Erweiterung des Wortschatzes durch Entlehnung In der sprachkritischen und sprachpuristischen Diskussion sind es oft Anglizismen, die die Gemüter am stärksten erhitzen. „Verkommt die deutsche Sprache (Anglizismen)? “, fragt etwa ein Nutzer auf dem Online-Portal gutefrage.net 2 , und die als „hilfreichste Antwort“ gewählte Reaktion beginnt mit den Worten: „über Begriffe, wie gebrainstormed usw. kann auch ich nur den Kopf schütteln“, worauf jedoch die Einschätzung folgt, dass diese sich wohl kaum durchsetzen würden und dass gegen Anglizismen grundsätzlich nichts einzuwenden sei, da das Deutsche ja auch Wörter wie blitzkrieg oder kindergarten ins Englische „exportiert“ habe. Frage und Antwort zeigen quasi in kondensierter Form typische Muster des laienlinguistischen Diskurses um die Entlehnung von Wörtern: Gerade Anglizismen werden gerne als Symptome eines vermeintlichen Sprachverfalls gedeutet. Aus linguistischer Sicht hingegen gehört Entlehnung nicht nur zu den natürlichsten, sondern auch zu den interessantesten und aufschlussreichsten Prozessen in der Entwicklung von Sprachen, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Erstens betreiben wir ja Sprachwissenschaft nicht zum Selbstzweck, sondern wollen unter anderem auch etwas darüber herausfinden, wie Kultur und Kognition funktionieren-- und gerade über kulturelle Entwicklungen können Entlehnungsprozesse Aufschluss geben. Zweitens verraten Entlehnungen auch viel darüber, wie Sprache funktioniert, und können damit im besten Fall auch ein Stückweit ein Fenster zu den kognitiven Prozessen öffnen, die Sprache und insbesondere der Konstruktion von Bedeutung zugrundeliegen. So könnte man fragen, warum das Deutsche einen Anglizismus wie Job braucht, wo es doch schon Wörter wie Arbeit und Beruf oder auch Komposita wie Gelegenheitsarbeit gibt. In aller Regel leistet sich eine Sprache nicht den Luxus, zwei oder mehr völlig bedeutungsgleiche Wörter zu haben (das nennt man, um es provokativ auf Englisch zu formulieren, das no-synonymy principle, oder auf Deutsch Synonymenvermeidung). Drittens kann man anhand der Entwicklung von Lehnwörtern beobachten, wie eine Sprache mit neuem Material umgeht. So können Lehnwörter auch Rückschlüsse bezüglich grammatischer Fragestellungen zulassen. Wenn wir beispielsweise wissen wollten, ob im Deutschen die starke Verbflexion mit Ablaut (z. B. binden-- band-- gebunden) noch produktiv ist, könnten wir prüfen, wie neu ins Deutsche gekommene Wörter mit prinzipiell ablautfähigem Stammvokal flektieren, und würden schnell herausfinden, 2 http: / / www.gutefrage.net/ frage/ verkommt-die-deutsche-sprache-anglizismen (abgerufen am 24. 03. 2017). <?page no="243"?> 243 7.1 Lexikalischen und semantischen Wandel verstehen dass sie schwach flektiert werden: So lautet das Präteritum von tweeten ‚eine Nachricht über Twitter schicken‘ nicht ich twoot, sondern ich tweetete. Da wir bereits wissen, dass die starke Flexion im Deutschen nicht mehr produktiv ist, erübrigt sich eine solche Untersuchung zwar, doch in anderen Bereichen-- etwa bei der Untersuchung konkurrierender Pluralmuster (z. B. Wegener 2003)- - können sich derlei junge Lehnwörter als sehr aufschlussreich erweisen. Entlehnung ist keineswegs ein neues Phänomen. Auch wenn wir es ihnen nicht mehr ansehen, sind Wörter wie Fenster, Kirche oder Grenze aus anderen Sprachen entlehnt (aus dem Lateinischen, Griechischen und Polnischen). Deutlich weniger stigmatisiert als Anglizismen, aber noch deutlich als Entlehnungen erkennbar sind Gallizismen, also Lehnwörter aus dem Französischen wie beispielsweise Restaurant oder Journalismus. Diese Beispiele zeigen auch, dass Entlehnungen das Lautinventar einer Sprache bereichern können, denn dass wir sie unmittelbar als Lehnwörter erkennen, liegt insbesondere an den im Deutschen nicht vorkommenden Lauten: dem nasalisierten / ã / in Restaurant und dem stimmhaften Frikativ / ʒ / im Anlaut von Journalismus. Entlehnung erschöpft sich aber nicht im direkten Übernehmen lexikalischen Materials. Um zum Beispiel der Anglizismen zurückzukehren: Sprachkritiker empören sich bekanntlich nicht nur über Begriffe wie City Center, sondern auch über Strukturen, die vermeintlich oder tatsächlich aus dem Englischen entlehnt sind, z. B. ich realisiere das im Sinne von ‚ich erkenne das‘ oder das meint im Sinne von ‚das bedeutet‘. Daher unterscheidet man zwischen lexikalischen und semantischen Entlehnungen; letztere werden auch Lehnprägungen genannt. Beide kann man noch weiter untergliedern, wie Fig. 41 zeigt. Je nachdem, wie stark sie in die Nehmersprache integriert sind, unterscheidet man bei lexikalischen Entlehnungen zwischen Fremdwörtern und (assimilierten) Lehnwörtern. Fremdwörter sind nicht ins grammatische System der Nehmersprache-- also in unserem Fall: des Deutschen-- integriert. So wäre Palais ein Fremdwort, die eingedeutschten Formen Palast oder Pfalz hingegen assimilierte Lehnwörter (vgl. Betz 1974: 136). Da die Integration von Fremdwörtern graduell verläuft, ist die Grenze zwischen Fremdwörtern und Lehnwörtern fließend. Beispielsweise ist Keks (< engl. cakes) sehr stark integriert, während Computer eher schwach integriert ist. <?page no="244"?> 244 7. Lexikalischer und semantischer Wandel Denkpause Überlegen Sie, in welcher Hinsicht sich Keks im Vergleich zum engl. cakes ans Deutsche angepasst hat. Im Falle von Keks ist zunächst die phonologische Anpassung auffällig: Der Dipththong / eɪ / , den wir in engl. / keɪk / finden, kommt im nativen Wortschatz des Deutschen nicht vor, das lange e in / ke: ks / hingegen schon. Zudem findet eine graphematische Anpassung statt: Während sich die satzinterne Großschreibung des Wortanfangs auch bei sonst nicht integrierten Fremdwörtern findet, geht <Keks> insofern noch einen Schritt weiter, als das <c>, das wortinitial nur bei Lehnwörtern vorkommt, ans Deutsche angepasst wird (<k>). Im spezifischen Falle von Keks ist zudem die semantische Entwicklung interessant, da die entlehnte Pluralform eine Singularlesart entwickelt. 3 Belege wie (40) bilden möglicherweise Brückenkontexte: Hier kann Keks, gerade bei der zweiten Verwendung, einerseits als Pluralform verstanden werden, andererseits aber auch als Massennomen, also als unzählbares Substantiv wie etwa Mehl oder Sand. (40) Waffelfabriken wurde freigestellt, das ihnen zustehende Mehlkontingent-[…] zu Keks, Lebkuchen oder Zwieback zu verarbeiten. Der Absatz von Keks ist ebenfalls durch die Reichsgetreidestelle geregelt. (Zeller, Volkswirthschaftliche Zeitfragen, 1915, GoogleBooks) Weiterhin wird Keks auch morphologisch integriert. So lautet die Genitivform des Kekses (neben des Keks), vgl. (41), und der Plural wird mit dem nativen e-Suffix gebildet: Kekse. (41) Nach dem Wiederauftauchen des goldenen Kekses hat sich das „Krümelmonster“ erneut gemeldet. ( BRZ 13 / FEB .02 641, DeReKo) Im Bereich der semantischen Entlehnung oder Lehnprägung unterscheidet man zwischen Lehnbedeutung und Lehnbildung. Von Lehnbedeutung spricht man, wenn eine Bedeutungsvariante eines sprachlichen Zeichens aus der Gebersprache auf das entsprechende Zeichen in der Nehmersprache übertragen 3 Interessanterweise heißt es in der Duden-Auflage von 1915: „Diese Eindeutschung des engl. cake ist annehmbar, aber es muß in der E[in]z[ahl] Kek gesagt werden, nicht Keks“ (zit. nach Busse 1993: 37). <?page no="245"?> 245 7.1 Lexikalischen und semantischen Wandel verstehen wird, z. B. feuern ‚kündigen‘ von engl. fire (vgl. Nübling et al. 2013: 158). Bei der Lehnbildung werden in Anlehnung an fremdsprachliches Material neue Wörter kreiert. Dabei kann man unterscheiden zwischen Lehnschöpfung und Lehnformung. Lehnschöpfungen nennt man Bildungen, die keine formalen Ähnlichkeiten mit der fremdsprachlichen Vorlage haben (z. B. waagerecht zu horizontal und senkrecht zu vertikal). Lehnformungen indes lehnen sich mehr oder weniger stark an die Vorlage an. Hier unterscheidet man zwischen Lehnübersetzung (wenn das fremdsprachliche Original Glied für Glied übertragen wird, z. B. Rechtschreibung zu Orthographie) und Lehnübertragung (bei freierer Übersetzung: Wolkenkratzer zu skyscraper, vgl. Nübling et al. 2013: 157 f.). Fig. 41: Fremd- und Lehnworttypologie nach Betz (1974: 137), Bsp. z.T. aus Nübling et al. (2013: 158). 7.1.2 Wie geil ist das denn: Bedeutungswandel Im Laufe dieses Buches sind wir schon zahlreichen Beispielen dafür begegnet, dass Wörter ihre Bedeutung ändern können. In diesem Kapitel wollen wir jedoch über das Was hinausgehen und nach dem Wie und Warum fragen-- gibt es so etwas wie „Mechanismen“ des Bedeutungswandels, die sich herausarbeiten lassen? Und wie kann man diesen Mechanismen empirisch auf den Grund gehen? Schauen wir uns zum Einstieg zunächst ein gern gewähltes Beispiel für semantischen Wandel näher an, nämlich die Entwicklungsgeschichte des Wortes geil (vgl. z. B. Keller & Kirschbaum 2000). Im Laufe der deutschen Sprachge- <?page no="246"?> 246 7. Lexikalischer und semantischer Wandel schichte hat es so unterschiedliche Bedeutungen angenommen wie ‚fröhlich‘, ‚sexuell erregt‘ und ‚großartig‘ (vgl. z. B. Pfeifer 1993; vgl. auch Brandt 1989). (42) Doh waſ er fro v n̄ geil do er alſo groz heil an deme ſpile bííagite ‚Doch war er froh und geil, weil er so großes Heil an dem Spiel bejagte.‘ (Konrad von Fleck, Flore, REM ) (43) Jſt ſie von Natur geyl vnnd vnkeuſch / ſo hilfft kein eyferen / jhre Liſt vnnd verſchlagenheiten ſeind vnendtlich ‚Ist sie von Natur aus geil und unkeusch, so hilft kein Eifern, ihre List und ihre Verschlagenheiten sind unendlich‘ (Albertinus, Landstörtzer, 1615, DTA ) Die Beispiele aus dem Mhd. in (42) und aus dem Fnhd. in (43) zeigen, dass sich nicht nur die Bedeutung von geil verändert hat, sondern auch die damit einhergehende Konnotation-- noch deutlicher wird das, wenn man mehr Korpusbelege im Kontext betrachtet (beispielsweise im Deutschen Textarchiv-- probieren Sie es doch einmal aus! ). Zwar konnte geil schon im Ahd. negativ (und auch im sexuellen Sinn) verwendet werden, doch scheint diese Verwendungsweise diachron an Bedeutung zu gewinnen. Die Belege im Deutschen Textarchiv beispielsweise legen nahe, dass geil immer stärker einen negativen Beiklang erhält. Bezeichnenderweise kookkurriert es im DTA häufig mit Weib (37-mal), Lust (29-mal), Tier (19-mal), Bock (16-mal) oder Brunst (16-mal) 4 , während für frühere Jahrhunderte, wie auch Beispiel (42) zeigt, eher die Zwillingsformel geil unde frô charakteristisch ist (vgl. Keller & Kirschbaum 2000: 41). An diesem Beispiel lassen sich zwei wichtige Faktoren illustrieren, die beim Bedeutungswandel eine Rolle spielen und die oft eng miteinander interagieren. Zum einen wird die Bedeutung eines Wortes sehr stark von den Kontexten geprägt, in denen es auftritt- - in Kap. 7.2 werden wir uns damit noch näher befassen. Da geil immer häufiger in sexuellen Kontexten verwendet wurde- - zunächst wohl euphemistisch--, nahm es immer stärker die Bedeutung ‚lüstern‘ an, die allmählich die frühere Bedeutung ‚fröhlich‘ verdrängte und als Antonym (Gegenbegriff) zu keusch verwendet werden konnte, wie Beispiel (44) zeigt. (44) der Sommer macht geil / der Winter macht keuſch (Francisci, Lust- Haus, 1676, DTA ) 4 Gezählt wurden die Lemmata im Abstand von 5 Wörtern vor und 5 Wörtern nach dem Keyword, das wiederum im DTA (Stand 2015) mit der Lemmasuche nach geil gefunden wurde (639 Treffer). Da das DTA weiter wächst, können in der aktuellen Version evtl. mehr Treffer gefunden werden. <?page no="247"?> 247 7.1 Lexikalischen und semantischen Wandel verstehen Zum anderen ist Bedeutungswandel bisweilen mit kulturellen Faktoren verbunden. Die Entstehung der negativen Konnotation von geil im sexuellen Sinn setzt einen gesellschaftlichen Kontext voraus, in dem Sexualität tabuisiert ist und Keuschheit als Ideal gilt. Ganz ähnlich ist auch die Tatsache, dass viele abwertend gebrauchte Adjektive wie dumm, doof, blöde ursprünglich Krankheiten bzw. Behinderungen bezeichneten, nur vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Stigmatisierung von Krankheit und Behinderung zu erklären. Zu den kulturellen Faktoren, die im lexikalischen und semantischen Wandel eine Rolle spielen, zählt auch das Sprachtabu (Allan & Burridge 2004), auf das wir in Kap. 8.1.1 noch einmal zurückkommen werden. Dass geil lange Zeit tabuisiert war, zeigt eine Anekdote, die Brandt (1989: 141) berichtet: Als im November 1987 ein Elektromarkt Fernsehwerbung schaltete, in der eine Rotkäppchen-Figur das Angebot des Markes als geil bezeichnete, wurde der Spot nach empörten Reaktionen schnell wieder abgesetzt. Der Werbespot griff natürlich die heute sehr gängige, nach Brandt (1989: 130) ungefähr seit Anfang der 70er-Jahre in der Jugendsprache gebräuchliche emphatisch-positive Bedeutung auf. Brandt vermutet, dass sich geil gerade aufgrund seiner Tabuisierung als empathisch-positiv konnotiertes Adjektiv etablieren konnte: „[G]erade die Tabuisierung und die Herkunft aus dem sexuellen Bereich haben es zu einem besonders kräftigen und distinktiven Ausdruck gemacht“ (1989: 132). Allmählich kam es freilich zu einer Enttabuisierung, was auch daran erkennbar ist, dass ein anderer Elektromarkt nur wenige Jahrzehnte nach besagtem Rotkäppchen-Werbespot mit „Geiz ist geil“ einen Slogan kreierte, der geradezu zum geflügelten Wort geworden ist (im DWDS -„Wortprofil“ ist Geiz sogar das häufigste Kollokat zu geil). Zwar war auch dieser Slogan nicht unumstritten, doch drehten sich die Diskussionen eher um die Aussage als um den Gebrauch von geil, wie z. B. ein kursorischer Blick über die Belege in den DWDS -Zeitungskorpora ( ZEIT , Tagesspiegel, Berliner Zeitung) belegt. Hier zeigt sich sehr schön, was Wustmann (1903: 350), sonst eher für sein Sprachpflegertum als für erhellende linguistische Einsichten bekannt, sehr treffend formulierte: „Wörter sind wie Münzen im Verkehr: Sie greifen sich mit der Zeit ab und verlieren ihr scharfes Gepräge.“ Das gilt in vielen Fällen nicht nur für die literale Bedeutung (Desemantisierung bzw. semantische „Ausbleichung“, wie sie uns z. B. in der Grammatikalisierung begegnet; s. o. Kap. 6), sondern auch für ihre expressive Kraft. <?page no="248"?> 248 7. Lexikalischer und semantischer Wandel Typen des Bedeutungswandels Keller & Kirschbaum (2003) unterscheiden drei Haupttypen des Bedeutungswandels: Bedeutungswandel kann erstens eine Folge eines Prozesses der Differenzierung darstellen (oft auch als Bedeutungsverengung bezeichnet). Damit ist gemeint, dass eine mögliche, zunächst nur kontextbedingte Interpretation eines sprachlichen Zeichens Bestandteil seiner lexikalischen Bedeutung wird. So bedeutete das Adjektiv witzig ursprünglich ‚klug‘, wie Beispiel (45) zeigt. (45) Welche vernunfft ist hie so geschieckt / die solchen befehl Gottes fassen / welcher verstand ist so witzig / der es begreiffen möge (Neomenius, Glaubens Prob, 1616, DTA ) Im 18. Jh. schränkt sich die Bedeutung von witzig jedoch allmählich auf einen Spezialfall der Klugheit ein; das Adjektiv nimmt die Bedeutung ‚geistreich‘ an. Eine explorative Analyse der Wörter, die den als witzig lemmatisierten Tokens im Deutschen Textarchiv unmittelbar folgen, gibt bereits eine ungefähre Ahnung von dieser Bedeutungsentwicklung. Tab. 30 zeigt die absoluten Frequenzen der Wörter, die im DTA auf witzig folgen. Dieses Vorgehen kann natürlich nur einen allerersten Eindruck geben und vernachlässigt viele Faktoren, auf die eine systematische Korpusstudie Rücksicht nehmen müsste 5 . Dennoch zeigt sich z. B., dass die Fügung witziger Kopf, wie in (46), vom 18. zum 19. Jh. seltener wird, was darauf hindeutet, dass man Witzigkeit nicht mehr in erster Linie einem Menschen als Eigenschaft zuschreibt, sondern eher einem Produkt des menschlichen Geistes-- so kookurriert witzig im 18. und auch noch im 19. Jh. häufig mit Einfall, wie in (47): (46) Ein witziger Kopf befindet sich also oft weit besser unter einer Gesellschaft leerer Schwätzer, die niemals auf einer Sache beharren-[…] als bey einer Zusammenkunft verständiger Männer, deren Gedanken gleichförmiger und regelmäßiger fortgehen. (Garve, Abhandlungen, 1779, DTA ) 5 Zum Beispiel muss bei der Interpretation berücksichtigt werden, dass die Datenmengen pro Jahrhundert unterschiedlich sind, dass möglicherweise ein gehäuftes Vorkommen von witzig in einem einzigen Text die Frequenzen verzerrt und dass witzig sowohl attributiv als auch prädikativ gebraucht werden kann: das witzige Buch vs. das Buch ist witzig und die Untersuchung der Kollokate im Wortabstand von +1 eigentlich nur zur attributiven Verwendungsweise aussagekräftige Ergebnisse liefern kann (und selbst hier kann das Bezugsnomen erst später folgen, vgl. das witzige, aber unnötige Buch). <?page no="249"?> 249 7.1 Lexikalischen und semantischen Wandel verstehen (47) Ein wiziger Einfal erregt nie überlautes Lachen; er gefält der Sele, aber er verzert keine Gesichtsmuskel. (Campe, Rathgeber, 17 839, DTA ) 17. Jh. 18. Jh. 19. Jh. sein 18 Kopf 80 sein 31 werden 7 Einfall 45 Einfall 15 machen 5 sein 34 Kopf 9 Mensch 2 Franzose 7 genug 6 Antwort 5 werden 6 Erfindung 5 Mann 5 Schrift 5 Art 4 werden 5 Wort 4 Art 4 Anspielung 3 Gedanke 4 Bemerkung 3 Herr 4 Gespräch 3 Mann 4 Kombination 3 Schriftsteller 4 Subjekt 3 Anmerkung 3 bemerken 3 Leute 3 Tab. 30: Kollokate von witzig im Deutschen Textarchiv (nur Wörter unmittelbar nach dem Adjektiv, nur Substantive und Vollverben, fürs 18. und 19. Jh. nur Types mit einer Frequenz von 3 oder mehr). Die heutige Bedeutung ‚lustig‘ setzte sich hingegen erst im 19. Jh. durch (vgl. Keller & Kirschbaum 2003: 27). Der Bedeutungswandel von ‚geistreich‘ zu ‚lustig‘ zählt jedoch schon zum zweiten der drei Typen von Bedeutungswandel, die Keller & Kirschbaum (2003) unterscheiden, nämlich zum metonymischen Wandel. Mit Metonymie ist gemeint, dass etwas durch etwas anderes bezeichnet wird, das mit dem Bezeichneten in einem Sinnzusammenhang steht. Beispielsweise kann ich jemanden als klugen Kopf bezeichnen, meine aber eigentlich nicht seinen Kopf, sondern den ganzen Menschen (Teil-Ganzes-Relation). In einem Satz wie Das Weiße Haus steht kopf ist mit dem Weißen Haus nicht das Gebäude gemeint, sondern die US -amerikanische Regierung (Verhältnis der <?page no="250"?> 250 7. Lexikalischer und semantischer Wandel Zusammengehörigkeit). Die Relationen, die bei metonymischer Übertragung zum Tragen kommen, sind recht vielfältig und lassen sich am besten unter dem Schlagwort Kontiguität subsumieren, von lat. contiguus ‚berührend, angrenzend‘-- es besteht also ein Verhältnis der (semantischen) Nähe. Wenn eine Metonymie zum Bestandteil der lexikalischen Bedeutung eines Wortes wird, kann Polysemie entstehen. Von Polysemie spricht man, wenn ein Wort mehrere Bedeutungen hat. So konnte z. B. burc im Mhd. nicht nur eine Burg, sondern auch eine befestigte Stadt bezeichnen, wie (48) zeigt. (48) sie voren zo Constinopele / der vil meren burge ‚Sie gingen in die große / bedeutende Stadt Konstantinopel.‘ (König Rother, zit. nach MWB ) Hier hat eine metonymische Bedeutungsübertragung stattgefunden: von der Burg, die zumeist das Zentrum der Stadt bildete (bzw. um die herum die jeweilige Ansiedlung entstand), auf die gesamte Stadt. Metonymischer Bedeutungswandel findet aber nicht nur im Bereich der Substantive statt, auch wenn er hier natürlich besonders deutlich erkennbar ist. Als Beispiele für metonymischen Bedeutungswandel im adjektivischen Bereich nennen Keller & Kirschbaum (2003: 61-68) unter anderem überflüssig ‚überfließend, reichlich‘ > ‚unnötig‘ und gemein ‚gewöhnlich‘ > ‚hinterhältig, boshaft‘. Im Falle von überflüssig kommt eine Kontiguitätsrelation des „Wenn-Dann“ zum Tragen: Wenn ich etwas im Überfluss habe, dann habe ich mehr davon, als ich brauche. Ein Teil davon ist also entbehrlich, unnötig- - überflüssig eben. Im Falle von gemein ist die ursprüngliche Bedeutung noch in biologischen Artenbezeichnungen wie Gemeine Breitstirnblasenkopffliege erhalten. (Ja, die gibt es wirklich.) Die Wurzel der heute üblichen Bedeutung ‚boshaft‘ sehen Keller & Kirschbaum (2003: 66 f.) in Verwendungsweisen, in denen gemeine Menschen von Adligen abgegrenzt werden. Dabei spielt das Stereotyp eine Rolle, dass Nichtadelige weniger feine Umgangsformen hätten. Stimmt dieses Szenario, so liegt also eine metonymische Übertragung vom (sozialen) Status auf Eigenschaften und Verhaltensweisen vor. Ein wichtiger Motor in diesem Prozess der Bedeutungsverschlechterung (Pejorisierung) ist, dass Begriffe euphemistisch, also verschleiernd, verwendet werden, also z. B. gemein ‚gewöhnlich‘ für ‚vulgär‘. 6 6 Die Begriffe Bedeutungsverbesserung (auch: Meliorisierung) und Bedeutungsverschlechterung sind umstritten (vgl. Blank 1993; Bechmann 2013: 232-235), weil ja nicht die Wörter selbst „besser“ oder „schlechter“ werden, sondern vielmehr eine Bedeutungs- <?page no="251"?> 251 7.1 Lexikalischen und semantischen Wandel verstehen Der dritte Wandeltyp, den Keller & Kirschbaum (2003) ansetzen, ist der metaphorische Wandel. Ähnlich wie bei der Metonymie, wird auch bei der Metapher ein Konzept durch ein anderes zum Ausdruck gebracht. Anders als bei der Metonymie besteht allerdings bei der Metapher zwischen den beiden Konzepten kein direkter Sachzusammenhang, sondern ein Ähnlichkeitsverhältnis. Wenn ich z. B. sage: Max ist ein scheues Reh, meine ich damit nicht, dass Max vier Beine und Hufe hat. Vielmehr verbildliche ich seine Schüchternheit, indem ich ihn in eine Ähnlichkeitsrelation mit einem Tier setze, für das genau diese Eigenschaft als charakteristisch gilt (ob Rehe wirklich scheu sind, ist dabei nicht wichtig; wichtig ist, dass gemeinhin angenommen wird, sie seien es). Oder wenn ich sage: Es war ein langer Weg, bis dieses Buch fertiggestellt war, heißt das nicht, dass ich zur Fertigstellung des Buches große Distanzen zurücklegen musste. Vielmehr verdeutliche ich mit dem Bild des Weges eine lange Zeitspanne oder auch einen viele verschiedene Schritte umfassenden Entstehungsprozess. Metaphern sind zwar häufig kreativ und werden ad-hoc gebildet, aber sehr viele Metaphern sind auch konventionalisiert, etwa im bereits erwähnten Bereich des Redens über Zeit, wo wir auf feste räumliche Metaphern zurückgreifen (das Treffen wurde nach hinten verschoben). Auch Dimensionsadjektive wie groß und klein werden in entsprechenden Kontexten standardmäßig metaphorisch interpretiert, z. B. Napoleon war ein großer Stratege oder Karl ist ein kleiner Angestellter (Keller & Kirschbaum 2003: 34)-- niemand würde hier auf die Idee kommen, groß und klein wörtlich zu nehmen und auf die Körpergröße zu beziehen. Ein anschauliches Beispiel für metaphorischen Bedeutungswandel stellt Kopf dar, von ahd. koph ‚Becher‘ (vgl. engl. cup). Das mhd. Beispiel in (49)-- aus einer Abendmahlsschilderung: Jesus nimmt den Becher mit Wein-- illustriert diese alte Verwendungsweise: (49) den cof nam er mit den wine ‚Er nahm den Kelch mit dem Wein‘ (Der arme Hartmann, Rede vom Glauben, ca. 1150, REM ) Dass auf den Kopf mit bisweilen schillernden Metaphern Bezug genommen wird, wissen wir aus der Gegenwartssprache, wo sich Begriffe wie Hirnschale, Hirnkasten, regional auch Birne u. ä. finden. Blank (2001: 122) zeigt, dass sich das Quellkonzept Rundes Gefäss bei Bezeichnungen für den Kopf in vielen verschiedenen Sprachen findet-- so gehen lat. caput, dt. Haupt, engl. head auf übertragung auf Konzepte stattfindet, die als „besser“ oder „schlechter“ bewertet werden. Dafür gibt es jedoch keine wirklich objektiven Bewertungsmaßstäbe. <?page no="252"?> 252 7. Lexikalischer und semantischer Wandel ie. *kap- ‚fassen‘ zurück, dt. Kopf hingegen auf lat. cuppa ‚Becher‘. Während im Deutschen Kopf die ältere Form Haupt fast völlig verdrängt hat, existieren im Niederländischen noch hoofd und kop parallel, wobei kop jedoch nur das Haupt eines Tieres bezeichnen kann- - den Kopf eines Menschen kann man allenfalls umgangssprachlich und in abwertendem Sinne als kop bezeichnen. Auch metaphorischer Wandel ist nicht auf Substantive beschränkt: So interpretiert etwa Keller (1993) die Entwicklung des epistemischen weil (Sie ist wohl zu Hause, weil ihr Fahrrad steht vor der Tür), auf die wir in Kap. 8.1.3 noch ausführlich zurückkommen werden, als metaphorischen Bedeutungswandel. Im genannten Beispielsatz hat weil keine kausale (begründende) Funktion, wie das in anderen weil-Sätzen der Fall ist, z. B. ich trage ein T-Shirt, weil es warm ist. In Sie ist wohl zu Hause, weil ihr Fahrrad steht vor der Tür benutzt die Sprecherin das weil, um die Quelle ihrer Information deutlich zu machen-- es erfüllt also eine epistemische (wissens-/ erkenntnisbezogene) Funktion. Mit Sweetser (1990) geht Keller davon aus, dass bei der Entstehung epistemischer Marker eine metaphorische Übertragung stattfindet von der realen Welt auf die „Welt der Erkenntnis“. Solche Übertragungen aus der physischen auf die mentale Domäne kommen laut Sweetser (1990: 46) sehr häufig vor. Beispiele, die unmittelbarer als metaphorisch zu erkennen sind als das epistemische weil, sind erwägen / abwägen, die eine mentale Operation als konkrete Handlungen fassen, oder begreifen (s. Infobox 16). Infobox 16: Konzeptuelle Metaphern Der Begriff der Metapher ist Ihnen sicherlich schon im literaturwissenschaftlichen Sinne begegnet, nämlich als rhetorisches Stilmittel. Allerdings geht man in der Sprachwissenschaft davon aus, dass Metaphern mehr sind als nur ein Stilmittel. Das hat zur Folge, dass sich der literaturwissenschaftliche und der linguistische Metaphernbegriff unterscheiden. In der Literaturwissenschaft würde ein Satz wie Achilles ist ein Löwe in der Schlacht als Metapher gelten, Achilles ist wie ein Löwe in der Schlacht hingegen nicht - bei diesem Satz spräche man von einem Vergleich (Simile). Beiden Sätzen liegt jedoch aus linguistischer Sicht die gleiche konzeptuelle Metapher zugrunde. Die konzeptuelle Metapherntheorie (Lakoff & Johnson 2003) sieht Metaphern als eine kognitive Strategie, die uns hilft, (abstrakte) Konzepte mit Hilfe <?page no="253"?> 253 7.1 Lexikalischen und semantischen Wandel verstehen Zum Weiterlesen Keller & Kirschbaum (2003) befassen sich mit Bedeutungswandel im adjektivischen Bereich, Bechmann (2013) mit dem Bedeutungswandel deutscher Verben. Beide Werke sind stark (gebrauchs-)theoretisch geprägt. Eine Einführung in die historische Semantik bietet Fritz (1998). Für stärker empirisch und / oder methodologisch ausgerichtete Studien muss man (derzeit noch) in die Anglistik ausweichen, z. B. zu Allan & Robinson (2012). Aufgabe Untersuchen Sie mit Hilfe eines Korpus Ihrer Wahl den Bedeutungswandel von blöd(e). anderer (meist konkreter) Konzepte zu verstehen. So können wir z. B. abstrakte Schwierigkeiten als konkrete Hindernisse konzeptualisieren (Das Gesetz musste bis zu seiner Verabschiedung viele Hürden nehmen; man legt ihm immer Steine in den Weg), Liebe als Wahnsinn (Ich bin verrückt nach dir) oder Zeit als Raum (ein Treffen nach hinten verschieben) oder als Ressource (ich habe keine Zeit / ich verschwende Zeit). Den Spenderbereich, aus dem ein metaphorischer Ausdruck stammt, nennt man in der Metapherntheorie Quelldomäne, den (meist abstrakten) Bereich, aus dem das damit verbildlichte Konzept stammt, Zieldomäne. In der Konzeptuellen Metapher ZEIT IST RAUM ist also RAUM die Quelldomäne (der Bereich, der die Quelle des bildlichen Ausdrucks bildet), und ZEIT ist die Zieldomäne (vgl. z. B. Kövecses 2010, 2015). In vielen Fällen lassen sich gegenwartssprachliche Begriffe auf Metaphern zurückführen, die heute verblasst sind. In einem Wort wie begreifen ist die Metapher noch gut erkennbar (abstrakte Ideen werden als Objekte konzeptualisiert, das Verstehen dieser Ideen als physisches Im-Griff-Haben dieser Objekte), während man z. B. bei wissen tief in der etymologischen Wortgeschichte graben muss, um zu sehen, dass es mit lat. vidēre ‚sehen, wahrnehmen, erkennen‘ verwandt ist. <?page no="254"?> 254 7. Lexikalischer und semantischer Wandel 7.2 Lexikalischen und semantischen Wandel untersuchen Viele Sprachtheorien beschreiben sprachliche Zeichen als Paare aus Form und Bedeutung. Man könnte sagen, dass sich die Lexik und die Semantik als linguistische Subdisziplinen jeweils einem dieser „Pole“ widmen. Die Formseite, also die Lexik, ist für empirische Untersuchungen viel direkter zugänglich als die Bedeutungsseite, da wir es hier-- zumindest, soweit es sich um schriftlich erfasste oder anderweitig aufgezeichnete Sprachdaten handelt-- mit unmittelbar Beobachtbarem zu tun haben. Bedeutung hingegen ist nichts, was man direkt sehen oder gar zählen kann. Wir sehen dem Wort blümerant nicht an, dass es ‚flau, unwohl‘ bedeutet. Wenn wir seine Bedeutung kennen, dann entweder weil wir das Wort im Kontext aufgeschnappt und seine Bedeutung erschlossen haben oder weil sie uns jemand erklärt hat. Wenn wir Bedeutung als mentale Simulation verstehen, können wir nicht wissen, welche mentale Simulation das Wort wohl in einer Hörerin, sagen wir, des 18. oder 19. Jh. ausgelöst hat. Bei heutigen Sprechern können neurowissenschaftliche Methoden oder behaviorale Experimente immerhin ansatzweise Aufschluss darüber geben, wie die Konstruktion von Bedeutung in der menschlichen Kognition funktioniert. Für frühere Sprachstufen kann man aber immerhin von der Tatsache Gebrauch machen, dass Bedeutung eben auch stark kontextgebunden ist. So wird in (49) aus dem Kontext klar, dass kof hier nicht ‚Kopf ‘ bedeuten kann. Einige der explorativen Korpusstudien in Kap. 7.1 haben bereits gezeigt, dass ein Blick auf das unmittelbare sprachliche Umfeld von Wörtern Hinweise auf ihre Bedeutung liefern kann. So findet sich Kopf im heutigen Deutschen häufig in der Nachbarschaft von z. B. Fuß, Schulter oder schütteln, wie z. B. ein Blick auf das „Wortprofil“ beim DWDS zeigt, das typische Verbindungen aus den DWDS -Kernkorpora generiert. Im Referenzkorpus Mittelhochdeutsch hingegen finden sich ganz andere Kollokate, z. B. die Attribute silbern, golden und die Verben stellen und nehmen. So aufschlussreich die bisher in diesem Kapitel dargestellten explorativen Studien auch gewesen sein mögen, waren sie doch eher ad-hoc und unsystematisch. Die folgenden Abschnitte widmen sich verschiedenen Methoden, mit deren Hilfe man sich auf systematische Weise dem schwer fassbaren Phänomen Bedeutung annähern kann. Zunächst erörtern wir zwei grundlegende Perspektiven auf das Verhältnis von Form und Bedeutung, nämlich Semasiologie und Onomasiologie. <?page no="255"?> 255 7.2 Lexikalischen und semantischen Wandel untersuchen 7.2.1 Zwei Perspektiven auf Bedeutung: Semasiologie und Onomasiologie Die Begriffe Semasiologie und Onomasiologie wurden Ende des 19./ Anfang des 20. Jh. geprägt und stellen nach Baldinger (1997: 2118) „die beiden grundlegenden sprachwissenschaftlichen Methoden zur Analyse von Bedeutungen“ dar. Streng genommen handelt es sich allerdings nicht um Methoden, sondern eher um unterschiedliche Perspektiven auf die Paarung von Form und Bedeutung, die ja sprachliche Zeichen charakterisiert. Fig. 42 illustriert dies an einem Zeichenmodell, das dem saussureschen Zeichenbegriff nachempfunden ist (bei dem die Form- und Bedeutungsseite signifiant und signifié heißen: Die sprachliche Form [ baʊ̯ m ] z. B. ist ein signifiant, also das Bezeichnende, der durch dieses Zeichen vermittelte Inhalt ist das signifié, also das Bezeichnete). Wenn ich frage: Welche Bedeutungen hat das Wort Bank? (‚Sitzgelegenheit‘ und ‚Geldinstitut‘, vielleicht auch noch ‚Sandbank‘), dann nehme ich eine semasiologische Perspektive ein, nehme also die sprachliche Form als Ausgangspunkt und frage danach, welchen Inhalt oder welche Inhalte sie zum Ausdruck bringt. Hingegen ist die Frage, mit welchen Wörtern ich ein Konzept wie STERBEN ausdrücken kann (sterben, das Zeitliche segnen, krepieren, verenden, abnippeln etc.), onomasiologischer Natur. Auch diachrone Studien können beide Perspektiven einnehmen. So kann man diachron untersuchen, welche Ausdrucksformen es diachron für das Verwandtschaftsverhältnis ‚Bruder des Vaters‘ gibt (im Ahd. fetiro, später Vetter, heute Onkel, vgl. Nübling et al. 2013: 145). Das wäre eine onomasiologische Fragestellung. Umgekehrt ließe sich fragen, welche Bedeutungen das Wort Vetter im Laufe seiner Geschichte hatte (erst ‚Bruder des Vaters‘, später auch ‚Bruder der Mutter‘; im Fnhd. sogar alle möglichen entfernten männlichen Verwandten, vgl. Nübling et al. 2013: 145). Diese Fragestellung nimmt eine semasiologische Perspektive ein. Die Unterscheidung zwischen Semasiologie und Onomasiologie lässt sich auch mit der Unterscheidung zwischen Semantik und Lexik in Verbindung bringen. Salopp könnte man sagen: Semasiologie ist „Semantik pur“, weil sie eine sprachliche Fig. 42: Semasiologie und Onomasiologie, dargestellt in einem dem saussureschen Zeichenbegriff nachempfundenen Modell. <?page no="256"?> 256 7. Lexikalischer und semantischer Wandel Form als festen Ausgangspunkt hat und nach ihrer Bedeutung fragt-- Onomasiologie hingegen ist an der Schnittstelle von Lexik und Semantik anzusiedeln, da nach unterschiedlichen lexikalischen Einheiten gefragt wird, die z. B. zum gleichen Wortfeld gehören oder (annähernd) bedeutungsgleich sind. 7.2.2 Wortfrequenzen im schnellen Überblick: Der Google Ngram Viewer Um einen schnellen Überblick darüber zu gewinnen, wann ein noch junges Wort wie Sowjetunion oder Watergate in die deutsche Sprache kam, oder um zu überprüfen, ob ein bestimmtes Wort in den letzten zweibis dreihundert Jahren irgendwann einen Frequenzanstieg oder -rückgang erfahren hat, eignet sich der Google Ngram Viewer (books.google.com / ngrams, zuletzt abgerufen am 20. 05. 2017; vgl. Michel et al. 2011). Dieser basiert auf einem Bruchteil der GoogleBooks-Daten, also eingescannten und über optische Zeichenerkennung (Optical Character Recognition, OCR ) automatisch maschinell durchsuchbar gemachten Büchern. Diese stehen in Form von n-Grammen zur Verfügung. n-Gramme sind Zeichenfolgen, die aus n Einheiten (zumeist: Wörtern) bestehen. Zum Beispiel lässt sich der Satz Das Pferd frisst keinen Gurkensalat in 1-Gramme (Unigramme) zerlegen: Das Pferd frisst keinen Gurkensalat …-oder in 2-Gramme (Bigramme)-… Das Pferd Pferd frisst frisst keinen keinen Gurkensalat …-oder in 3-Gramme (Trigramme)-… Das Pferd frisst Pferd frisst keinen frisst keinen Gurkensalat <?page no="257"?> 257 7.2 Lexikalischen und semantischen Wandel untersuchen usw. Bei längeren Sätzen sind natürlich auch 4-, 5-Gramme usw. problemlos möglich. In Kap. 8.2.2 werden wir noch einmal auf die Nutzung von n-Grammen in explorativen korpuslinguistischen Methoden zurückkommen. Nach eigenen Angaben umfassen die Google Ngrams-Daten etwa 4 % aller jemals gedruckten Bücher (vgl. Michel et al. 2011: 176). Natürlich ist aber Größe nicht alles, und bei der Nutzung des Ngram Viewers sind eine Reihe von Vorbehalten zu bedenken, deren wichtigste Zhang (2015) nennt: Erstens gibt es recht viele OCR -Fehler, wobei damit zu rechnen ist, dass es umso mehr Fehler gibt, je älter ein Buch ist-- gerade bei Büchern in Frakturschrift ist anzunehmen, dass es mehr Fehler gibt. Ein sehr instruktives Beispiel findet sich bei der digitalisierten Version von Rudelbach (1832: 296), wo alle Scheiße der Weisheit und Erkenntniß verborgen liegen (eigentlich: Schätze der Weisheit und Erkenntniß). Zweitens sind auch die Metadaten nicht immer korrekt. Man muss aber hinzufügen, dass diese Einwände für jedes Korpus gelten, das möglichst große Textmengen erfassen möchte (z. B. auch fürs Deutsche Textarchiv). Schwerer wiegt, dass das Korpus nicht auf Textsorten hin ausgewogen ist, wie z. B. Pechenick et al. (2015) für die englischen Ngram-Daten zeigen. In manchen Fällen lassen sich daher Wortfrequenzänderungen möglicherweise eher auf Veränderungen in der Zusammenstellung des Korpus zurückführen als auf tatsächliche Veränderungen im Sprachgebrauch (vgl. Koplenig 2015). Da aus urheberrechtlichen Gründen nur die n-Gramme, aber keine Metadaten, geschweige denn die kompletten Texte zum Download angeboten werden, ist es auch nicht möglich, manuell ausgewogene Subkorpora zu erstellen. Solange man sich dieser Vorbehalte bewusst ist, spricht nichts dagegen, den Ngram Viewer zu verwenden, um einen Einblick in diachrone Wortfrequenzverläufe zu bekommen. Das ist insbesondere dann interessant, wenn ein Wort (oder eine Wortverbindung) im Laufe der Zeit durch einen konkurrierenden Ausdruck ersetzt wurde, wie wir es in Kap. 2.2.3 schon am Beispiel von in Ansehung vs. in Anbetracht gesehen haben. Fig. 43 zeigt ein weiteres Beispiel, nämlich den Frequenzverlauf verschiedener Wörter für das Konzept ‚männliches Kind (bzw. junger Erwachsener)‘. Hier zeigt sich sehr schön, wie die Frequenz von Knabe mit der Zeit abnimmt und die von Junge zunimmt, während Bub(e) ungefähr auf gleichem Niveau bleibt. Das allein sagt zwar noch wenig darüber aus, wie genau dieser Wandel vonstattengeht und warum eine Variante sich durchsetzt, während die andere außer Gebrauch kommt, doch kann es, wie gesagt, ein erster Schritt sein, um interessante Muster zu entdecken. Nevalainen (2013: 49) schlägt vor, wo möglich, große Korpora wie die n-Gramme von <?page no="258"?> 258 7. Lexikalischer und semantischer Wandel GoogleBooks quasi als Sprungbrett für systematischere Studien zu verwenden. Findet man beispielsweise in den Ngram-Daten einen klaren Hinweis darauf, wann ein Wandelprozess stattfindet, kann man dann anhand eines kleineren, möglicherweise auch auf für den jeweiligen Untersuchungsgegenstand vielversprechenden Korpus quasi in diesen Zeitschnitt „hineinzoomen“ und eine systematischere Fallstudie durchführen. Fig. 43: Frequenzverläufe von Junge, Knabe und Bub(e) im Google Ngram Viewer (20. 05. 2017). <?page no="259"?> 259 7.2 Lexikalischen und semantischen Wandel untersuchen Aufgabe Vergleichen Sie die Frequenzverläufe für die Politikernamen Merkel, Guttenberg und Bulmahn im Google Ngram Viewer und im Tool „Statistische Auswertungen“ auf www.dwds.de. Sind die Ergebnisse vergleichbar? Was fällt auf, wenn Sie die bei DWDS verfügbare Textsortenansicht aktivieren? 7.2.3 „Zeige mir deine Nachbarn und ich sage dir, wer du bist“: Was Kollokationen über Semantik verraten. Wenn Sie bereits korpuslinguistische Tools ausprobiert haben- - sei es motiviert durch die vorangegangenen Kapitel, durch linguistische Seminare oder auch aus eigenem Antrieb--, ist Ihnen sicher aufgefallen, dass viele Korpusabfragesysteme die Möglichkeit bieten, sich Kollokationen anzeigen zu lassen. Darunter sind Wörter zu verstehen, die häufig gemeinsam auftreten (d. h. direkt aufeinanderfolgend oder zumindest nah beieinander). Das Interesse für Kollokationen in der Korpuslinguistik (wie auch in der Computerlinguistik) hat mehrere Gründe. Aus Sicht der sog. distributionalen Semantik (vgl. z. B. Perek 2016) bieten Kollokationen die Möglichkeit, Aspekte der Bedeutung von Wörtern und Konstruktionen quantitativ fassbar zu machen. Aussagen über den semantischen Gehalt sprachlicher Einheiten sind sonst in aller Regel introspektiv: Wenn ich sage „Das Wort Katze bezeichnet ein Säugetier mit vier Beinen“, dann liegt dieser Aussage mein eigenes sprachliches Wissen zugrunde. Die Aussage ist natürlich nichtsdestotrotz völlig legitim. Allerdings stößt der introspektive Ansatz schnell an seine Grenzen. Erstens lässt sich die „Bedeutung“ von Funktionswörtern-- etwa hochgradig polyfunktionaler Präpositionen wie um-- nur schwer umreißen. Hier erlauben distributionale Methoden unter Umständen eine genauere Charakterisierung ihres funktionalen Potentials. Zweitens stehen wir bei historischen Daten vor dem Problem, dass wir uns als Nicht-Muttersprachler des Alt-, Mittel- oder Frühneuhochdeutschen nur bedingt auf unsere Intuition stützen können, wenn wir Belege aus früheren Sprachstufen analysieren. Das gilt insbesondere für subtile Bedeutungsnuancen. Als Muttersprachler des Deutschen wissen wir beispielsweise, dass Knabe ein hohes Maß an semantischer Ähnlichkeit mit Junge aufweist, allerdings deutlich angestaubter klingt, oder dass Klient und Mandant ein sehr ähnliches Konzept denotieren, aber mit je unterschiedlichen Berufsgruppen assoziiert sind. Es ist zu erwarten, dass sich das auch in unterschiedlichen Kollokationen nieder- <?page no="260"?> 260 7. Lexikalischer und semantischer Wandel schlägt: Bei Knabe beispielsweise können wir erwarten, dass das Wort häufig in festen Wendungen wie alter Knabe auftritt; bei Mandant ist zu erwarten, dass es mit juristischen Termini kollokiert. Die Grundidee der distributionalen Semantik lässt sich in dem Slogan von Firth (1957: 11) zusammenfassen: „You shall know a word by the company it keeps.“ Dank der Rechenleistung moderner Computer können wir Firth beim Wort nehmen und mit Hilfe sogenannter semantischer Vektoren das distributionale Verhalten von Wörtern anhand ihres unmittelbaren Umfelds untersuchen. Im sog. semantic vector-space modelling werden gewichtete Kookkurrenzfrequenzen aus dem Kontext der zu untersuchenden Wörter errechnet, wobei die Kontexte unterschiedlich groß sein können, von einzelnen Wörtern bis hin zu ganzen Dokumenten (vgl. Levshina 2015: 323). Hier stelle ich den sog. bag of words-Ansatz vor, bei dem eine bestimmte Anzahl Wörter aus dem linken und rechten Kontext des relevanten Keywords extrahiert werden. In Kap. 2.2.2 habe ich korpuslinguistische Methoden am Beispiel von Begriffen für Süßwaren illustriert. Wir kehren nun in den kulinarischen Bereich zurück und wählen neun Wörter aus, deren Distributionsverhalten wir untersuchen möchten: Banane, Bonbon, Christstollen, Keks, Schokoriegel, Spekulatius, Lebkuchen, Marzipan, Zimt. Diese Wörter bezeichnen unterschiedliche Konzepte: Obst, Süßwaren, ein Gewürz. Für uns ist jedoch vor allem wichtig, dass sie in unterschiedlichem Maß mit dem Konzept „Weihnachten“ verbunden sind. Während die Banane- - zumindest in unseren Gefilden- - eine eher unweihnachtliche Zwischenmahlzeit darstellt, sind Spekulatius und Lebkuchen so eng mit Weihnachten verbunden, dass alljährlich Klagen zu hören sind, wenn sie zu früh in den Supermarktregalen auftauchen. Um das distributionale Verhalten der neun Wörter zu extrahieren, habe ich jeweils die maximale Anzahl an verfügbaren Belegen (maximal 10.000 7 ) aus dem Webkorpus DECOW 14 AX extrahiert. Insgesamt fanden sich für alle neun Begriffe 61.115 Belege. Anschließend wurden jeweils die fünf Belege links und rechts vom Keyword extrahiert (bzw., wo weniger als fünf Wörter im linken oder rechten Kontext waren, alle Wörter). Hier zwei Beispiele, wobei das Keyword fett gedruckt ist und die je 7 Die Suchanfrage wurde mit dem inzwischen eingestellten Online-Abfragesystem Colibri 2 durchgeführt, das den Export von bis zu 10.000 Belegen erlaubte. De facto fanden sich teilweise einige Belege mehr in der ausgegebenen Konkordanz, sodass in den Daten beispielsweise 11.584 Belege für Banane enthalten sind. <?page no="261"?> 261 7.2 Lexikalischen und semantischen Wandel untersuchen fünf Kontextwörter, die in den „bag of words“ Eingang gefunden haben, unterstrichen sind: (50) Bin kein großer Freund von Spekulatius im September, auch wenn Spekulatius und Lebkuchen echt lecker sind. (51) Diese typischen Weihnachtsleckereien wie Lebkuchen, Spekulatius oder Dominosteine mag ich so gar nicht. Da das DECOW 14 AX -Korpus lemmatisiert ist, wurden nicht die Wortformen, sondern die Lemmata für die Analyse genutzt. Die o. g. Beispiele gehen also in folgender Form in die Analyse ein: Spekulatius im September auch wenn Spekulatius und Lebkuchen echt lecker sein dies typisch Weihnachtsleckerei wie Lebkuchen Spekulatius oder (unknown) mögen ich so In diesen Beispielen zeigt sich bereits ein häufiges Kollokat von Spekulatius, nämlich Lebkuchen, das insgesamt 259-mal im unmittelbaren Umfeld von Spekulatius auftritt (zum Vergleich: Im unmittelbaren Umfeld von Banane tritt Lebkuchen nur einmal auf). Tab. 31 zeigt einen kleinen Ausschnitt aus der Kookkurrenztabelle, wobei nur die Substantive, die im unmittelbaren Umfeld von Spekulatius auftreten, berücksichtigt wurden. Lemma im Umfeld von Spekulatius Frequenz Lebkuchen 259 Glühwein 79 Zimtstern 59 Supermarkt 45 Stollen 39 Weihnacht(en) 33 Tab. 31: Frequente Substantive im unmittelbaren Umfeld von Spekulatius. Die Kookkurrenzfrequenzen werden anschließend mit Hilfe einer Gewichtungsmethode, der sog. Positive Pointwise Mutual Information, analysiert, um zu überprüfen, welche Kookkurrenzen sehr häufig und welche eher überraschend sind. In die Berechnung gehen dabei die auf Basis dieser Frequenzen ermittelten <?page no="262"?> 262 7. Lexikalischer und semantischer Wandel Wahrscheinlichkeiten für das gemeinsame Auftreten der Kollokate sowie für das Auftreten der einzelnen Wörter unabhängig voneinander ein- - also beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, dass Lebkuchen in der Nähe von Spekulatius auftritt, sowie die Gesamtwahrscheinlichkeit, dass Lebkuchen im Text auftritt, und die Gesamtwahrscheinlichkeit, dass Spekulatius auftritt. Mit Hilfe eines Ähnlichkeitsmaßes, der Kosinus-Ähnlichkeit, wird daraufhin ermittelt, welche Wörter einander im Blick auf ihr distributionales Verhalten eher gleichen und welche eher unterschiedlich sind. Dann kann ein hierarchical clustering-Algorithmus genutzt werden, um Cluster, also zusammengehörige Kategorien, zu identifizieren. Das Baumdiagramm in Fig. 44 zeigt die Ergebnisse und ist wie folgt zu lesen: Aufgrund der mit Hilfe der Kosinus-Ähnlichkeit ermittelten Werte gruppiert der Algorithmus die Daten in zwei große Cluster-- dem ersten gehören Banane, Keks, Bonbon und Schokoriegel an, dem zweiten Spekulatius, Christstollen, Lebkuchen, Marzipan und Zimt. Innerhalb dieser Cluster nimmt der Algorithmus noch einige weitere Splits vor-- so gruppiert er beispielsweise Lebkuchen und Christstollen in unmittelbarer Nachbarschaft und ordnet diese zudem dem gleichen Cluster wie Spekulatius zu. Fig. 44: Cluster-Dendrogramm mit den Ergebnissen der hierarchical-clustering-Analyse der Ähnlichkeitswerte von neun Begriffen. Die Ergebnisse der quantitativen Analyse stimmen also in hohem Maße mit unserer Intuition überein: Die Begriffe mit starker inhärenter Assoziation zu Weihnachten werden einem Cluster zugeordnet, während die Begriffe, die entweder nicht mit Weihnachten assoziiert sind (wie Banane) oder nur eingeschränkt (wie Keks-- in Weihnachtskontexten spricht man auffälligerweise eher von Plätzchen), einem anderen Cluster zugewiesen werden. <?page no="263"?> 263 7.2 Lexikalischen und semantischen Wandel untersuchen Dieses Beispiel ist natürlich zunächst einmal nur eine nette kleine Spielerei, zeigt aber deutlich das Potential der Methode auf. Wenn die diachrone Dimension hinzukommt, eignet sich die Methode gut, um Änderungen in den kollokationalen Präferenzen von sprachlichen Einheiten zu entdecken oder um zu zeigen, dass sich Wörter semantisch einander annähern oder voneinander entfernen. Perek (2016) etwa zeigt auf Grundlage des Corpus of Historical American English für die sog. hell-Konstruktion (get the hell out of here; he scared the hell out of me), dass sich die Verben, die in dieser Konstruktion auftauchen, in einer Reihe semantischer Cluster gruppieren und dass diachron die Cluster mit den meisten Types auch die meisten Neumitglieder verbuchen, sich also als am produktivsten erweisen. Fürs Deutsche gibt es m.W. derzeit noch keine nennenswerten Studien, die sich dieser Methode bedienen, was auch an der noch geringen Verfügbarkeit ausreichend großer Korpora liegen mag. Zum Weiterlesen Dieses Kapitel hat die Darstellung der distributionalen Semantik bewusst sehr knapp gehalten und daher die verwendeten Distanz- und Ähnlichkeitsmaße weitgehend unerklärt gelassen. Einen sehr guten Einstieg zu semantischen Vektoren bietet Levshina (2015, Kap. 16), auf deren Schritt-für-Schritt-Anleitung auch die hier vorgestellte Analyse basiert. Aufgaben 1. Lexikalischer Wandel führt bisweilen zu sprachkritischen Reaktionen. So schreibt Wustmann (1903: 356 f.): „Und wenn zwei oder drei zusammenkommen, die den Modewörterabscheu teilen, und sie vergleichen ihre Liste, so zeigt sich, daß sie genau dieselben Wörter darauf haben- - ein Beweis, daß es an den Wörtern liegt und nicht an den Menschen, wenn manche Menschen manche Wörter unausstehlich finden.“- - Erörtern Sie vor dem Hintergrund der in Kap. 2 dargelegten wissenschaftlichen Methode, warum diese Aussage sich nicht auf eine „Beweisfindung“ im wissenschaftlichen Sinn beziehen kann. 2. Nutzen Sie den Google Ngram Viewer, um die Entwicklung von engl. cakes zu dt. Keks nachzuvollziehen. Wann kommt Cakes auf, wann Keks? Wann setzt sich die letztere Variante durch? Werfen Sie einen Blick auf die Buchauszüge, um herauszufinden, wie lange Keks noch mit Pluralbedeutung benutzt wird. <?page no="265"?> 265 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen 8. Pragmatischer Wandel 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen Pragmatik befasst sich mit allen Aspekten sprachlichen Handelns. Wie bereits in Kap. 2.1.1 erwähnt, ist es ist nicht immer ohne weiteres möglich, Semantik und Pragmatik voneinander abzugrenzen. Meibauer (2008: 4) bringt es auf die Formel, dass „die wörtliche Bedeutung eines geäußerten Satzes in der Semantik untersucht wird, während Bedeutungsaspekte, die nur aufgrund des Kontextes zustandekommen, Gegenstand der Pragmatik sind.“ Ein klassisches Beispiel, in dem das, was mit einer Äußerung zum Ausdruck gebracht wird, über die wörtliche Bedeutung dieser Äußerung hinausgeht, sind konversationelle Implikaturen. So kann die Äußerung Es zieht! eine indirekte Aufforderung an die Hörerin oder den Hörer enthalten, doch bitte das Fenster zu schließen-- diese Aufforderung wird jedoch nicht direkt ausgesprochen, sondern sie wird, wie man in der linguistischen Pragmatik sagt, implikatiert. Nicht immer lässt sich allerdings genau bestimmen, welche Aspekte zur wörtlichen Bedeutung zählen und welche durch den Kontext zustandekommen. Manche Implikaturen sind so stark konventionalisiert, dass man in einigen linguistischen Theorien davon ausgeht, dass sie zum festen Bestandteil der jeweiligen Konstruktion geworden sind. Beispielsweise diskutieren Kay & Fillmore (1999) die sog. What’s X doing Y-Konstruktion im Englischen, z. B. What’s the fly doing in my soup? Auch im Deutschen finden sich Beispiele für die äquivalente Konstruktion (Beispiele aus DECOW 16A): (52) a. Was macht der Hund in der Dusche? ! b. Was macht der Esel in meinem Bett? ! c. Was macht das Sternenflotten-Delta in dem Trailer? ! Das wurde erst mit der Enterprise aus der Originalserie eingeführt. Es wird argumentiert, dass die Implikatur der Missbilligung mittlerweile zum festen Bestandteil des Musters What’s X doing Y geworden sei (z. B. Bybee 2010: 28). Diese sicherlich streitbare Argumentation ließe sich auch auf die entsprechende deutsche Was macht XY -Konstruktion übertragen. Wie alle anderen Aspekte von Sprache, sind auch pragmatische Konventionen im Wandel begriffen. Pragmatischer Wandel ist insofern von besonderem <?page no="266"?> 266 8. Pragmatischer Wandel Interesse, als er gewissermaßen als Seismograph für gesellschaftspolitische Veränderungen und Kulturwandel gesehen werden kann. So steht die Frage, welche Ausdrucksformen oder Anredevarianten in einer bestimmten Zeit als höflich oder unhöflich gelten, in engem Zusammenhang mit dem jeweiligen soziokulturellen Kontext. In diesem Kapitel werden wir uns zwei Fallbeispiele näher ansehen: zunächst das Fluch- und Schimpfverhalten, dann den Wandel der Anredepronomina. Während der letztgenannte Bereich mittlerweile als sehr gut erforscht gelten kann, gibt es zum Fluchen und Schimpfen diachron bislang nur wenig Forschung-- allerdings ist es ja auch Ziel dieses Buches, Forschungslücken aufzuzeigen und dazu einzuladen, sie mit eigenen Studien zu füllen. 8.1.1 Fluchen und Schimpfen diachron und kontrastiv Sitzbisler, sältedämliche Eggerepfli, Zibbelsuppgesicht- - nicht nur im Schweizerdeutschen, aus dem diese Beispiele stammen (Hess-Lüttich 2008: 335), sind Menschen ausgesprochen kreativ, wenn es ums Fluchen, Schimpfen und Beleidigen geht. Fluchen und Schimpfen sind deshalb und auch aus vielen anderen Gründen aus linguistischer wie auch aus kulturwissenschaftlicher Perspektive von großem Interesse. Flüche und Beschimpfungen können viel über eine Kultur verraten: So wurde etwa Bastard aus dem Französischen entlehnt und bedeutete zunächst ‚uneheliches Kind‘. Dass es bis heute als Schimpfwort benutzt wird, ist darauf zurückzuführen, dass bis weit ins 20. Jahrhundert hinein uneheliche Beziehungen und auch die daraus hervorgehenden Kinder gesellschaftlich stark stigmatisiert waren. Bis heute handelt es sich um ein extrem negativ aufgeladenes Wort, auch wenn vielen, die es gebrauchen oder zumindest kennen, die ursprüngliche Bedeutung möglicherweise nicht mehr bewusst ist. Sexuelle Beziehungen oder Orientierungen, die von der „Norm“ abweichen, stellen eine wichtige Quelle für Schimpfwörter und Beleidigungen dar. Beispielsweise werden ungeachtet der Tatsache, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen auf immer mehr Akzeptanz stoßen, Begriffe wie Schwuchtel noch immer als Beleidigungen gebraucht- - teilweise auch von Personen, die ihre Verwendung des Wortes explizit nicht als homophob verstanden wissen wollen (vgl. z. B. Technau 2016: 194, der Informanten insbesondere zu scherzhaftem Schimpfwortgebrauch in freundschaftlichen Kontexten befragt hat). Insgesamt scheinen jedoch sexuelle Beleidigungen im Deutschen nur eine untergeordnete Rolle zu spielen, zumindest im Vergleich zu anderen germanischen Spra- <?page no="267"?> 267 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen chen: Nübling & Vogel (2004) haben das Deutsche mit dem Niederländischen und Schwedischen verglichen und konnten zeigen, dass sich das Inventar an Fluch- und Schimpfwörtern im Deutschen vor allem aus dem skatologischen Bereich speist-- also dem Bereich der Exkremente, z. B. Scheiße oder Mist. Das Schwedische hingegen greift vor allem auf religiöse Flüche und Beschimpfungen zurück: „Was für die Deutschen die Scheiße, ist für die Schweden der Teufel“ (Nübling & Vogel 2004: 25). Das Niederländische hingegen nutzt alle Quellbereiche intensiv, insbesondere jedoch den sexuellen und den Bereich der Krankheiten, vgl. klootzak ‚Hodensack‘ oder Krijg de pest / pokken / aids ‚Krieg die Pest / Pocken / AIDS ‘. Tab. 32 gibt einen Überblick über Gebrauchsfrequenz und Produktivität von Flüchen und Beschimpfungen aus den jeweiligen Quellbereichen nach Nübling & Vogel (2004: 25).-- bedeutet darin, dass ein Bereich nicht genutzt wird; je mehr +-Zeichen, desto häufiger wird auf diesen Bereich zurückgegriffen. Eckige Klammern signalisieren, dass der Bereich nur sporadisch genutzt wird. Quelle sexuell skatologisch religiös Krankheiten Sprache Niederländisch +++ +(+) +(+) ++(+) Deutsch [+] +++ ++ - Schwedisch [+] + +++ - Tab. 32: Quellen für Fluch- und Schimpfwörter im Deutschen, Niederländischen und Schwedischen nach Nübling & Vogel (2004: 20). Zu Tab. 32 ist allerdings anzumerken, dass die Studie von Nübling & Vogel (2004) vorwiegend auf einer Zusammenfassung der bisherigen Forschungsliteratur und nicht auf einer empirischen (Korpus-)Studie beruht. Die darin genannten Werte haben also keine quantitative Grundlage, sondern geben lediglich die Tendenzen wieder, die sich aus der Literatur zum Fluchen und Schimpfen in den drei untersuchten Sprachen ableiten lassen. Die Untersuchung stellt somit ein ideales „Sprungbrett“ für mögliche Folgestudien dar, die zum einen die Ergebnisse auf Grundlage empirischer Daten- - etwa Korpus- oder Fragebogenuntersuchungen-- überprüfen und zum anderen die Fragestellung diachron erweitern könnten: So ließe sich z. B. die Hypothese formulieren, dass im Deutschen durch die Säkularisierung religiöse Flüche immer stärker enttabuisiert werden (dies könnte man etwa mittels generationenübergrei- <?page no="268"?> 268 8. Pragmatischer Wandel fender Befragungen überprüfen), was sich in einer höheren oder niedrigeren Gebrauchsfrequenz niederschlagen könnte oder aber auch einfach durch den Gebrauch in anderen Kontexten. Empirische Studien zum Fluch- und Schimpfverhalten werden jedoch dadurch erschwert, dass es sich um tabuisierte Bereiche handelt (vgl. zum Sprachtabu Allan & Burridge 2004). Je nach Grad der Tabuisierung können z. B. Korpora geschriebener Sprache nur ein verzerrtes Bild des Gebrauchs von Fluch- und Schimpfwörtern geben. So beobachtet Keller (1987: 6): Wenn ich den Satz hinschreibe ‚Fritz ist ein Rindvieh‘, so wird sich keiner der Leser beleidigt fühlen, auch dann nicht, wenn er Fritz heißt. Denn es ist ersichtlich, daß dieser Satz hier nicht gebraucht wurde, sondern lediglich erwähnt. Schreibe ich jedoch das Wort ‚ficken‘ hin, so habe ich mich eines Tabubruchs schuldig gemacht, obwohl auch hier deutlich ist, daß ich das Wort nicht gebraucht habe, sondern nur erwähnt. Die Unterscheidung zwischen tatsächlichem Gebrauch und (metasprachlicher bzw. zitativer) Erwähnung ist in Studien zu emotional aufgeladener Sprache üblich (vgl. Technau 2016: 188). In Korpora steht nun zum einen zu befürchten, dass der Anteil an Erwähnungen höher ist als als der Anteil von Belegen, in denen ein tabuisierter sprachlicher Ausdruck tatsächlich gebraucht wird; zum anderen liegt die Befürchtung nahe, dass die Frequenz im Korpus hier weniger als bei nicht-tabuisierten Wörtern Rückschlüsse auf die Frequenz im Alltagsgebrauch zulässt, da man erfahrungsgemäß stark negativ emotional aufgeladene Äußerungen eher sagt als schreibt. Diese Überlegungen sollen natürlich niemanden davon abhalten, Fluchen und Schimpfen korpusbasiert zu untersuchen. Im Gegenteil: Ähnliche Vorbehalte gelten bei fast jeder Korpusstudie-- man muss sich ihrer nur bewusst sein und darf sich nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen hinreißen lassen. Dass jedes methodische Vorgehen auch seine Grenzen hat, ist zudem ein gutes Argument dafür, nach Möglichkeit mehrere Methoden miteinander zu kombinieren. Im Bereich der Fluch- und Schimpfwortforschung bieten sich z. B. auch Fragebogenstudien, qualitative Interviews oder psycholinguistische Experimente an, um beispielsweise die Frage zu untersuchen, wie stark ein bestimmtes Schimpfwort emotional aufgeladen ist oder wie geläufig Sprecherinnen und Sprechern die Herkunft von Wörtern wie dumm (ursprünglich ‚stumm‘) oder doof (ursprünglich ‚taub‘) ist. <?page no="269"?> 269 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen 8.1.2 Haben Dieselben schon gespeist? Anredewandel im Deutschen Die bewegte Geschichte des deutschen Anredesystems In einem Fernsehgespräch zwischen der Schauspielerin Marianne Koch und dem Komödianten Vicco von Bülow alias Loriot entfaltete sich im Jahr 1979 folgender Dialog: Koch: Man könnte natürlich auch sagen, also zum Beispiel, der Wolfgang Menge, der erfindet immer Typen,-[…] die ihm genau gleichen. Wer sagt mir, dass diese Männlein oder Personen nicht auch dir-- Ihnen-- ähm-- Euch gleichen? Loriot: Ja, ähm-- dazu… zweierlei. Einmal ist leider aus meiner nächsten Umgebung, nicht zuletzt auch von meiner Frau, die Behauptung geäußert worden, dass ich langsam, aber sicher meinen Figuren zu ähneln beginne.-[…] Das zweite ist, was mir eben auffiel, dass, äh, Gnädigste mich nicht richtig ansprechen konnten. Sprechen wir nun eigentlich… sagen wir nun du oder Sie? Dazu müssen wir dem Publikum sagen, wir kennen uns seit… nein, das kann man gar nicht mehr sagen, das wäre unhöflich.-[…] Wir kennen uns schon sehr lange, und es ließ sich irgendwann das Du nicht mehr ganz vermeiden.-[…] Und nun sind wir in dem ärgerlichen Dilemma, wir wissen nicht, was wir sagen sollen, denn das weiß ich auch, dass Fernsehleute auf dem Bildschirm, die sich duzen, einen sehr negativen Eindruck machen, so, das is’ so diese Gesellschaft, die so alle unter einer Decke stecken-[…]. Außerdem lassen sich per Sie sehr viel komischere Sachen sagen. 1 In diesem Gespräch wird eine Frage thematisiert, vor der sicherlich jeder und jede Deutschsprechende schon einmal stand: Du oder Sie? Zugleich wird an dem Gespräch deutlich, dass die Wahl des Anredepronomens von einer Reihe an Faktoren abhängt und teilweise auch von gesellschaftlichen Erwartungen bestimmt wird. So lässt sich aus der Aussage von Loriot erschließen, dass es zum Zeitpunkt dieses Gesprächs Usus war, sich im Fernsehen zu siezen, selbst wenn man sich privat duzte. Heute dürfte das eher die Ausnahme als die Regel 1 Quelle: Sendung „3 nach 9“, aus: Loriot. Die vollständige Fernseh-Edition. Warner Home Video 2007. <?page no="270"?> 270 8. Pragmatischer Wandel sein. Eine empirische Studie zum Anredeverhalten in deutschen Fernsehsendungen liegt zwar m.W. noch nicht vor, doch wäre zu erwarten, dass eine solche Untersuchung für diesen Bereich das zeigen würde, was auch in anderen Domänen unverkennbar ist, nämlich eine deutliche Expansion des Du (vgl. z. B. Besch 1998). So ist es heute, anders als zu Zeiten des Loriot-Zitats, nichts Ungewöhnliches mehr, wenn sich in Nachrichtensendungen Sprecherin und Korrespondentin duzen. Wer mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen ist und dann Englisch als Fremdsprache lernt, ist möglicherweise zunächst überrascht darüber, dass es im Englischen nur ein Anredepronomen gibt: you. Es gibt kein unmittelbares Äquivalent zur du / Sie-Dichotomie des Deutschen. Aus typologischer Perspektive ist es jedoch eher das deutsche System, das überrascht, denn die meisten Sprachen in der repräsentativen Stichprobe des World Atlas of Language Structures ( WALS ), nämlich 136, kennen keine Höflichkeitsunterscheidung in Anredepronomina (vgl. Helmbrecht 2013). 49 Sprachen haben ein zweigliedriges System wie das Deutsche, in 15 Sprachen existiert sogar ein noch feingliedrigeres System mit mehr als zwei verschiedenen Anredepronomina mit Höflichkeitsdistinktion. So benutzt man im Hindi tū gegenüber kleinen Kindern, tum gegenüber Verwandten, guten Freunden und sozial niedrig gestellten Personen sowie das respektvollste Anredepronomen āp gegenüber Senioren (Helmbrecht 2013 nach Sharma & Vermeer 1963). In sieben weiteren Sprachen tendiert man dazu, aus Höflichkeit die direkte Anrede zu vermeiden. Natürlich beruht diese Einteilung von Anredesystemen in vier Kategorien (keine Unterscheidung-- zweigliedriges System-- dreigliedriges System-- Vermeidung der direkten Anrede), wie jede Typologie, auf Idealisierungen und Vereinfachungen. Betrachtet man das deutsche Anredesystem synchron und diachron, stellt man fest, dass es Aspekte jeder einzelnen dieser vier Kategorien aufweist oder zumindest an einem bestimmten Punkt in seiner Geschichte aufgewiesen hat. Ursprünglich nämlich hatte das Deutsche ein eingliedriges System. Bis ins Ahd. ist als einziges Anredepronomen du bezeugt. Nach Simon (2003a), der die Entwicklung der deutschen Anredepronomina in sechs Stufen unterteilt (Tab. 33), ist das die erste Stufe in diesem diachronen Prozess. Im späten Ahd. und im Mhd. findet sich neben dem informellen du auch das formelle Ihr. Dieses zweigliedrige System stellt die zweite Entwicklungsstufe dar. Die Wahl zwischen den Anredepronomina wird, wie etwa Simon (2003a, b) zeigt, bisweilen auch in der höfischen Literatur des Mittelalters thematisiert. Im „Parzival“ Wolframs <?page no="271"?> 271 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen von Eschenbach (um 1200) findet sich beispielsweise folgende Passage (Parzival 749, 15-30 2 ): dô sprach der rîche Feirefîz ‚Jupiter hat sînen vlîz, werder helt, geleit an dich. du solt niht mêre irzen mich: wir heten bed doch einen vater.‘ mit brüederlîchen triwen bater daz er irzens in erlieze und in duzenlîche hieze. Da sagte der reiche Feirefiz: „Jupiter hat sich angestrengt, als er dich schuf, du edler Held. Du mußt aber aufhören, mich zu ihrzen: wir sind doch eines Vaters Kinder.“ Mit brüderlicher Liebe bat er ihn, er möge ihm das Ihr und Euch erlassen und ihn duzen diu rede was Parzivale leit. der sprach ‚bruoder, iur rîcheit glîchet wol dem bâruc sich: sô sît ir elter ouch dan ich. mîn jugent unt mîn armuot sol sölcher lôsheit sîn behuot, daz ich iu duzen biete, swenn ich mich zühte niete.‘ Das schien Parzival nicht recht. Der sprach: „Bruder, Ihr seid an Macht und Herrlichkeit dem Bâruc gleich und dazu auch noch älter als ich. Meine Jugend und meine Armut sollen sich vor solch unbescheidenem Leichtsinn in Acht nehmen. Wenn ich Euch mit Du anreden wollte, dann wäre das gegen alle guten Sitten.“ In diesem Abschnitt lehnt Parzival das Angebot seines Halbbruders Feirefiz ab, ihn mit Du anzusprechen, und begründet dies mit dem höheren Alter sowie der höheren sozialen Stellung von Feirefiz. Die Faktoren, die die Wahl zwischen du und ir beeinflussen, sind also denen, die im heutigen Deutschen für das Duzen und Siezen gelten, nicht ganz unähnlich-- Alter und soziale Stellung spielen bis heute bei der Wahl der Anrede eine zentrale Rolle (vgl. z. B. Besch 1998: 87-89). Augenfällig sind aber auch die Unterschiede zum gegenwartssprachlichen System. So ist heute das Du unter Verwandten, gerade bei sehr engen Verwandten wie Geschwistern, selbstverständlich. Der älteste Beleg für das höfliche ir stammt aus dem Brief Otfrids von Weißenburg an Bischof Salomo von Konstanz, der seiner Evangelienharmonie vorangestellt ist (vgl. Simon 2003b: 88). Wie es im Deutschen zum Anredepronomen ir kam, ist zwar unklar, allerdings ist es typologisch gesehen nicht ungewöhnlich, dass sich das Pronomen der 2. Person Plural zur Höflichkeitsanrede 2 Sowohl Text als auch Übersetzung zit. nach Wolfram von Eschenbach. 2003. Parzival: Text und Übersetzung. Mhd. Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht. 2. Aufl. (De-Gruyter-Texte). Berlin, New York: De Gruyter. <?page no="272"?> 272 8. Pragmatischer Wandel entwickelt. Bis heute wird z. B. im Französischen das Pronomen vous sowohl für die 2. Person Plural als auch für die Höflichkeitsanrede verwendet-- vous jouez kann also sowohl ‚ihr spielt‘ als auch ‚Sie (Anrede) spielen‘ bedeuten. Das frz. System gilt quasi als Prototyp für zweigliedrige Anredesysteme, weshalb man in typologischer Forschung auf informelle vs. formelle Anreden auch mit „T-Form“ (von frz. tu) und „V-Form“ (von frz. vous) Bezug nimmt (vgl. z. B. Brown & Gilman 1960). Auch im Lateinischen findet sich ein zweigliedriges System mit tu und vos. Deshalb wird häufig davon ausgegangen, dass die ir-Anrede im deutschen durch lateinischen Einfluss entstanden ist (vgl. z. B. Nübling et al. 2013: 179). Simon (2003a: 104) gibt jedoch zu bedenken, dass die höfliche Pluralanrede in den Sprachen der Welt so weit verbreitet ist, dass nicht in allen Fällen von einer Beeinflussung ausgegangen werden kann; zudem verweist er auf Kohz (1982), der vergleichbare Muster im Isländischen des 9. Jh. findet, die kaum durch das romanische Vorbild motiviert sein können. Die Konvention, im Deutschen die 2. Person Plural als Anredeform zu benutzen, könnte also auch unabhängig vom Lateinischen aufgekommen sein. Generell handelt es sich bei der Entwicklung eines Personalpronomens im Plural zur höflichen Anredeform um einen häufig beschrittenen Grammatikalisierungspfad (vgl. Heine & Kuteva 2002: 234). Im 16. Jh. breitete sich die Verwendung des ir auch in sozial niedrigeren Sprecherschichten aus. Ungefähr zur gleichen Zeit etablierte sich in höheren Schichten eine weitere Form der höflichen Anrede, nämlich die Verwendung personenbezeichnender Nomina wie der Herr, meine Dame, der Vater etc., wie sie in (53) exemplifiziert ist. Dies ist die dritte Entwicklungsstufe in Tab. 33. (53) Ich bitt gantz freundlich, der Herr Woll mir es nicht für übel deutn, Das ich ihn ansprech bei den Leutn (Herzog Heinrich Julius von Braunschweig 1605, zit. nach Simon 2003a: 107) Während das ihn in dem frühen Beleg in (53) noch ein Antezedens hat, auf das es sich bezieht (nämlich der Herr), wird es später immer häufiger ohne Antezedens gebraucht, entwickelt sich damit also zum „echten“ Anredepronomen. Das Aufkommen dieser er / sie-Anrede deutet Simon (2003: 107) als Reaktion darauf, dass das ir, das sich auch in niederen Schichten ausbreitete, an Exklusivität verlor. Das Aufkommen des Sie bildet die nächste Stufe im Entwicklungsprozess (Stufe IV in Tab. 33). Listen (1999: 57) erklärt die Etablierung des Sie mit der <?page no="273"?> 273 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen häufigen Verwendung von Anreden wie Euer Ehren oder Euer Weisheit, auf das mit dem 3.Sg.-Pronomen sie Bezug genommen wurde: (54) Dis alles haben E[uer] G[naden] nu zubehertzigen vnd zu vberlegen / damit sie ja mit bösem vnd vnruhigem Gewissen / nichts thue / vnd vnterlasse / Vnd für dem grewlichen Abfall hüte / dazu ich dann E. G. Gottes Segen / vnd den heiligen Geist wünsche / der sie also leite / regiere / und füre / das sie bei der erkandten vnd bekandten Warheit / bestendiglich / biss an ir ende verharre. (Erasmus Sarterius, 1557, zit. nach Simon 2003a: 112) In Beispiel (54) beziehen sich sie und ihr auf das Substantiv Gnade, das im Singular steht. Folgerichtig werden auch die Pronomina im Singular gebraucht. Allerdings wurden Abstrakta wie Euer Gnaden häufig auch im Plural verwendet. In vielen Fällen lassen sich solche Anreden sowohl als Singularals auch als Pluralformen verstehen, sie sind also ambig. Diese Ambiguität wird dadurch verstärkt, dass gerade in Briefen häufig, wie in (54), mit Abkürzungen gearbeitet wurde (vgl. Simon 2003a: 113). Diese Ambiguität schlägt sich auch im Gebrauch der Pronomina nieder, die bisweilen in ein und demselben Text zwischen Singular und Plural variieren wie in (55). (55) Ich habe E[uer] k[urfürstlichen] g[naden] brieff ampfangen, V[nd] bedancke mich gantz untertheniglich gegen E.k.f.g., das sie so sorgfeltiglich vnd fleissig fragen nach meiner gesundheit-[…]. Das auch E.k.f.g. anzeigen, wie es yhr langweilig sey, weil vnser g[nädigs]ter Herr, E.k.f.g. gemalh, abwesend sind, kan ich wol gleuben. (Martin Luther 1544, zit. nach Simon 2003a: 113) Ungefähr zu Beginn des 18. Jh. hat sich der Gebrauch des pluralischen Sie als Anredepronomen endgültig durchgesetzt. Ebenfalls im 18. Jh. kommen „Sonderpronomina“ (Simon 2003a: 115) auf, etwa Die / Dero, Selbten und insbesondere Dieselben. (56) So bitten Ewr Mayestät wir nachmals / -[…] / hochflehentlich vnd aller vnderthänigst / Die geruhen Sich doch / Dero angebornen / rühmlichen / Oesterreichischen vnd Keyserlichen Mildigkeit nach / dieser Not / Elend vnd Jammers Dero getrewen Ständ / Vnderthanen vnd Inwohnern / allergnädigst zu erbarmen (Supplication 1620, zit. nach Simon 2003a: 115) <?page no="274"?> 274 8. Pragmatischer Wandel (57) weil ich nun vernomen, wie ew. excellentz ihre reise nach Teutschland zu nehmen gesinnet seyn, als habe bey selbten ich gehorsame ansuchung zu thun mich erkühnet. (Johann Christian Ettner von Eiteritz, 1715; zit. nach Simon 2003a: 115) (58) daß Ew. fürstl. gn. ankomnes schreiben alsbald gelifert werden, werden dieselben aus meinem bericht verstanden haben. (Preußisches Staatsarchiv 1632; zit. nach Simon 2003a: 115) Unter den genannten Formen ist Dieselben allerdings die einzige, die sich zumindest ansatzweise als Anredepronomen durchsetzen kann (vgl. Simon 2003a: 115 f.). So existiert denn im 18. Jh. ein ausgesprochen differenziertes fünfstufiges Anredesystem- - negativ könnte man auch sagen: ein aufgeblähtes und überfrachtetes System. Kritik daran äußert beispielsweise Adelung (1782b: 683 f.), der das Du als das „einzig wahre Pronomen der zweyten Person“ sieht und die Ausdifferenzierung des Anredesystems, die er auch ausführlich nachzeichnet, als „Thorheit“ verurteilt. Da er zugleich eine gute Zusammenfassung der bis hierher dargestellten Entwicklung bietet, soll hier eine etwas längere Passage zitiert werden: Der erste Anfang bestand darin, daß man regierende Herren in der zweyten vielfachen Person, folglich mit ihr anredete, welcher Gebrauch anfänglich daher gerühret zu haben scheinet, weil man in dem regierenden Herren zugleich seinen Hof mit zu sehen und anzureden glaubte. Bald fing man an, anstatt die Person gerade zu anzureden, die Anrede an ihre Würde zu richten, und so entstanden denn die abstracten Ehrennamen, welchen man das Possessive Pronomen der zweyten mehrfachen Person vorsetzte-[…]. Man fing an, diesen Mißbrauch auch auf das gesellschaftliche Leben auszudehnen, verwandelte die zweyte Person aus Höflichkeit in die dritte und redete sie mit er und sie an. Bald hielt man auch das für ungesittet, und vertauschte den Singular der dritten Person mit der vielfachen, und nun hieß jeder, welchen man ehren wollte, im Plural sie. Allein auch dieses schien in manchen Fällen nicht genug zu ehren, daher vertauschte man im Oberdeutschen das persönliche Pronomen mit dem Demonstrativo derselbe, erst mit dessen Singular, und dann wieder mit dessen Plural, welches denn auch im Hochdeutschen angenommen wurde. So ward das einige wahre Pronomen der zweyten Person du, nach und nach in dieselben verwandelt, und wer weiß, wie weit man hierin noch gehen wird, denn bey dem dieselben wird die Thorheit gewiß nicht stehen bleiben. <?page no="275"?> 275 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen Nach dieser Verdrehung und Verwirrung der Pronominum wird du nur noch 1. gegen Gott, 2. in der Dichtkunst und dichterischen Schreibart, 3. in der Sprache der engen Vertraulichkeit, und 4. in dem Tone der hochgebietenden Herrschaft und tiefen Verachtung gebraucht. Außer diesen Fällen redet man sehr geringe Personen mit ihr, etwas bessere mit er und sie, noch bessere mit dem Plural sie, und noch vornehmere wohl mit dem Demonstrativo Dieselben oder auch mit abstracten Würdenamen, Ew. Majestät, Ew. Durchlaucht, Ew. Excellenz u.s.f. an. (Adelung 1782b: 683 f.) Dennoch hielt sich das fünfstufige System noch bis ins 19. Jh., wobei im frühen 19. Jh. noch eine Umschichtung stattfand: er / sie, das ursprünglich als Reaktion auf die Ausbreitung des Ihr auch in niedrigeren Schichten aufgekommen war, sinkt in der Höflichkeitsskala deutlich; Bellmann (1991: 188) sieht es sogar als „das Pronomen der verächtlichen Anrede schlechthin“. Im heutigen Standarddeutschen indes „ist von der bewegten Geschichte der Anredepronomina nicht mehr viel zu erkennen“ (Simon 2003a: 124). Nur in Dialekten finden sich teilweise noch differenziertere Anredesysteme als die Du / Sie-Dichotomie, die in Tab. 33 Stufe VI bildet. Das heutige System zeichnet sich gegenüber dem zweigliedrigen System in Stufe II dadurch aus, dass ein spontaner Wechsel des Anredepronomens nicht möglich ist: Entweder ich duze meine Gesprächspartnerin, oder ich sieze sie. Ein Wechsel ist in aller Regel nur einmalig und nur in eine Richtung, nämlich vom Sie zum Du, möglich. Simon (2003 a, b) will daher „Respekt“ als grammatische Kategorie verstanden wissen, vergleichbar mit z. B. Numerus oder Kasus, die sich durch Obligatorizität auszeichnen: Wenn ich z. B. das Wort Katze verwende, dann muss ich spezifizieren, über wie viele Katzen ich rede-- entweder eine (Katze) oder mehrere (Katzen). Ich kann diese Information nicht offenlassen. 3 Ebenso ist die Wahl der respektvollen oder der informellen Anrede obligatorisch-- ich muss mich fest für eine der beiden Varianten entscheiden und kann nicht willkürlich zwischen den beiden Varianten wechseln. 3 Oder kann ich es doch? (Hier können Sie Ihren persönlichen Schrödingers-Katze-Witz einfügen.) <?page no="276"?> 276 8. Pragmatischer Wandel dieselben dieselben Sie Sie er sie er sie ihr ihr ihr ihr er sie Sie du du du du du du Germ. Ahd./ Mhd. 17. Jh. 18. Jh. frühes 19. Jh. heute I II III IV V VI Tab. 33: Die sechs Stufen in der Entwicklung des deutschen Anredesystems nach Simon (2003b: 86). Zur Pragmatik der Anrede Nun haben wir die einzelnen Stadien in der Geschichte des deutschen Anredesystems kennengelernt, aber die Frage, warum sich im Deutschen wie in vielen anderen Sprachen ausgerechnet Plural-Pronomina zu höflichen Anredeformen entwickeln, nur gestreift. Um zu verstehen, wie es zunächst zum Ihr, später zum Sie und daneben auch zu er / sie und Dieselben kam, kann sich das „Face“-Konzept von Brown & Levinson (1992) als aufschlussreich erweisen, das auch Simon (2003a) seiner Analyse der Diachronie des Anredesystems zugrunde legt. Im Umgang mit anderen Menschen sind wir immer darauf bedacht, unser Gesicht zu wahren: Wenn ich zum Beispiel bei einer Lüge oder einer anderen gesellschaftlich nicht erwünschten Aktivität ertappt werde, dann stellt das einen Gesichtsverlust dar, denn diese Enthüllung steht meinem Wunsch entgegen, dass Andere (und nicht zuletzt auch ich selbst) ein positives Bild von mir haben. Aber auch wenn jemand gegen meinen Willen meine Privatsphäre verletzt, kann ich mein „Gesicht“ bedroht sehen. Man kann dabei unterscheiden zwischen negativem Gesicht und positivem Gesicht: (a) Negatives Gesicht: Der elementare Anspruch auf Territorien, auf persönliche „Reservate“ und auf das Recht, nicht beeinträchtigt zu werden-- d. h. auf Handlungsfreiheit und Freiheit von Eingriffen-[…]. <?page no="277"?> 277 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen (b) Positives Gesicht: Das positive, konsistente Selbstbild bzw. die positive, konsistente „Persönlichkeit“, auf die von den Interagierenden Anspruch erhoben wird (das schließt entscheidend das Begehren nach Wertschätzung und Anerkennung dieses Selbstbildes ein). (Brown & Levinson 2007: 59) Am konkreten Beispiel: Wenn ich bei der besagten Lüge ertappt werde, wird damit mein positives Gesicht verletzt; wenn mich ein Stalker verfolgt und in meiner Wohnung beobachtet, verletzt er damit mein negatives Gesicht. Auch Sprechakte können gesichtsverletztendes Potential haben-- nicht nur, wenn es sich um Beschimpfungen handelt oder wenn Tabuwörter gebraucht werden. Auch die direkte Ansprache einer Person kann als gesichtsbedrohend empfunden werden, denn indem ich sie anspreche, sondere ich die Person quasi aus der Menge aus und nehme ihr damit das Recht, in der Masse unterzugehen (also salopp gesagt: in Ruhe gelassen zu werden). Um es mit der Metapher von Brown & Levinson (1987: 204) zu sagen: Ich nagle die angesprochene Person quasi fest. Das gilt sowohl bei der direkten Ansprache mit einem Anredepronomen als auch insbesondere bei der Anrede mit Namen-- daher gilt in einigen Kulturen die Anrede mit Namen auch als extrem unhöflich. Diesen potentiell gesichtsbedrohenden Akt kann ich vermeiden, indem ich statt der Einzelperson die ganze Gruppe anspreche, in der sie sich gerade befindet (vgl. Hickey 2003: 404). Damit schone ich also das negative Gesicht der angesprochenen Person. Auf denselben Effekt ziele ich ab, wenn ich die Person nicht direkt anspreche, sondern in der dritten Person über sie rede: Wie geht es dem Herrn heute? Diese Strategie, das negative Gesicht der angesprochenen Person zu schonen, könnte man auch als Prinzip der Indirektheit bezeichnen. Zugleich will man natürlich auch das positive Gesicht des Adressaten oder der Adressatin nicht verletzen. Hier kommen Strategien zum Einsatz, die Brown & Levinson (1987: 178) unter dem Schlagwort „give deference“ zusammenfassen- - man könnte hier vom Prinzip der Ehrerbietung sprechen, das darauf basiert, sich selbst zu erniedrigen und die angesprochene Person zu erhöhen. Die Pluralform bietet sich geradezu dafür an, eine Person quasi „größer“ zu machen. Zudem ist in vielen Gesellschaften der soziale Status eng an Gruppenzugehörigkeit geknüpft, sodass die Pluralform auch zum Ausdruck bringen kann, dass man die Einzelperson als Repräsentantin einer Gruppe anspricht, womit man zugleich deutlich macht, dass die angesprochene Person in der Gruppe, die sie angehört, eine gute Stellung hat und von der Gruppe Rückendeckung erhält (vgl. Brown & Levinson 1987: 199). Zusammenfassend nimmt <?page no="278"?> 278 8. Pragmatischer Wandel die Pluralform also auf das negative Gesicht Rücksicht, indem sie einer Person die Möglichkeit gibt, quasi in einer Gruppe unterzugehen, zum anderen auf das positive Gesicht, indem sie eine Person durch Pluralisierung „größer“ macht oder sie als Repräsentantin einer Gruppe konstruiert und ihr damit eine gute soziale Position unterstellt. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass der Grammatikalisierungspfad „Pluralpronomen > höfliches Anredepronomen“ in vielen Sprachen beschritten wird. 8.1.3 Pragmatik und Grammatikalisierung Versteht man mit Simon (2003a) die Etablierung des höflichen Sie als Entstehung einer grammatischen Kategorie, dann kann man die diachrone Entwicklung dieses Pronomens durchaus als Prozess der Grammatikalisierung begreifen. Dass Grammatik und Pragmatik nicht unabhängig voneinander existieren, sondern vielmehr in enger Wechselwirkung stehen, ist schon lange bekannt. Oft sind es-- wie beim Anredepronomen-- pragmatische Faktoren, zu denen sich die Entstehung einer grammatischen Form oder sogar einer grammatischen Kategorie letztlich zurückverfolgen lässt. Für beides soll im Folgenden ein Beispiel gegeben werden: Die Entwicklung der Subjunktion weil zeigt, wie aus einer lexikalischen Form eine grammatische(re) Form entsteht. Am Beispiel der Entwicklung des werden-Futurs lässt sich die Entstehung einer neuen, im Deutschen zuvor nicht vorhandenen Tempuskategorie nachvollziehen. Weil: Eine Subjunktion entsteht Im Englischen kann die Konjunktion since sowohl temporale (zeitliche) als auch kausale (begründende) Bedeutung haben, wie die folgenden Beispiele aus dem British National Corpus ( BNC ) zeigen: (59) The price has risen by 119p since Caradon announced a possible bid on 31 August. ‚Der Preis ist um 119p gestiegen, seit Caradon am 31. August ein mögliches Gebot angekündigt hat.‘ ( BNC , A1E) (60) A biography of an artist is a tricky proposition for a writer, since the artist may prefer to be judged through art, not life. ‚Die Biographie eines Künstlers / einer Künstlerin ist ein heikles Vorhaben für ein / e Schriftsteller / in, weil der / die Künstler / in es vielleicht vorzieht, durch die Kunst, nicht durch das Leben beurteilt zu werden.‘ ( BNC , A04) <?page no="279"?> 279 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen Im Gegenwartsdeutschen gibt es kein Wort, das sowohl ‚seit‘ als auch ‚weil‘ zum Ausdruck bringen kann. Allerdings sieht man der Subjunktion weil durchaus noch ihre Herkunft an: Die Ähnlichkeit zum Substantiv Weile ist nicht zufällig. Seit dem Mhd. hat sich weil allmählich aus der Fügung (al) die wîle entwickelt, in der wîle ‚Weile‘ zunächst ein Substantiv ist; vgl. auch das mittlerweile weitgehend außer Gebrauch gekommene alldieweil. So heißt es in einem Text aus dem 15. Jh., wo über die Reise mit einem minderjährigen König berichtet wird: (61) Vnd der wechsel werat all die weil wir vͤ ber Land zugen. Ettwann regnats, daz der edel Kung oft vast ward begossen, Wann wir heten vns nicht zugericht auf ain lange Ra ẏ s, sunder auf ain Kuercze.-[…] Es was auch ettwann also hais, daz er aller swiczat, daz trophen auf im lagen vnd gewan dann vil hycz plateren. Vnd das alles must der edel Kung leiden, all die weil wir vͤ ber lant zugen. ‚Und der Wechsel währte, alldieweil wir über Land zogen. Mal regete es, sodass der edle König heftig begossen wurde, denn wir hatten uns nicht auf eine lange Reise eingestellt, sondern auf eine kurze.-[…] Mal war es auch so heiß, dass er sehr schwitzte, dass Tropfen auf ihn lagten und er viele Hitzeblattern bekam. Und das alles musste der edle König erdulden, alldieweil wir über Land zogen.‘ (Helene Kottanerin, Mitte 15. Jh., FnhdC) In diesem Text wird deutlich, dass all die weil zunächst temporal gebraucht wird-- im ersten Satz ist nur diese Lesart möglich, denn der Wechsel der Witterungsbedingungen, der im weiteren Text beschrieben wird, findet natürlich nicht statt, weil die Gruppe übers Land zieht, sondern vielmehr während der beschriebenen Reise. Bei der zweiten Verwendung von all die weil im zitierten Text ist jedoch prinzipiell auch eine kausale Lesart möglich: Man kann den Satz sowohl interpretieren als ‚Das alles musste der König erdulden, während wir über Land zogen‘ als auch im Sinne von ‚Das alles musste der König erdulden, weil wir über Land zogen‘. Es handelt sich um einen sogenannten Brückenkontext, der beide Lesarten erlaubt (ähnlich wie übrigens (59) oben ein schönes Beispiel für einen Brückenkontext beim engl. since darstellt, denn die Preissteigerung liegt nicht nur zeitlich nach dem Gebot, sondern es ist zu erwarten, dass sie auch kausal durch das Gebot bedingt ist). Im Fnhd. war jedoch weil bereits dabei, sich gegen seine „Konkurrenten“ dieweil und alldieweil durchzusetzen, was Arndt (1959) unter anderem damit <?page no="280"?> 280 8. Pragmatischer Wandel begründet, dass es in dieser Zeit eine ganze Reihe unterschiedlicher temporaler Relationen ausdrücken konnte, z. B. ‚seit‘, ‚während‘ oder ‚solange‘ (vgl. auch Szczepaniak 2011: 177). Weil verdrängte nach und nach das zuvor übliche wan(de), das uns noch in frühen Texten aus dem Fnhd. begegnet: (62) den ersten manden nante er marci u̅ wande sin vater mars hiez ‚Den ersten Monat nannte er Marciu, weil sein Vater Mars hieß.‘ (Mainauer Naturlehre, Ende 14. Jh., FnhdC) Arndt (1959: 414) beobachtet, dass zuerst das Alemannische und das Mitteldeutsche die neuen Konjunktionen 4 denn und weil zeigen und dann eine Ausdehnung aufs Bairische und Schwäbische stattfindet; er räumt allerdings ein, dass er auf Grundlage einer recht überschaubaren Datenbasis arbeitet. Im Unterschied zu seinen „Konkurrenten“ da und denn, die im Gegenwartsdeutschen zwar ebenfalls nach wie vor kausal gebraucht werden können, aber auch andere Funktionen haben (z. B. Temporaladverb bei da: Da ertönte ein lauter Knall; Modalpartikel bei denn: Was hast du denn angestellt? ), hat sich weil auf die kausale Lesart spezialisiert (vgl. z. B. Wegener 2000). Von der Subjunktion zum Diskursmarker: Weil, die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen! Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass weil derzeit einen weiteren Grammatikalisierungsprozess durchmacht, und zwar zum sog. Diskursmarker (vgl. Szczepaniak 2011: 178). Diskursmarker sind sprecher- oder hörerseitige Signale, die diskurssteuernde Funktion haben oder eine Äußerung im Diskurs einbetten (vgl. Fraser 1996: 186; Gohl & Günthner 1999: 58). So können Diskursmarker signalisieren, dass man weitersprechen möchte (äh, also, ich mein) oder dass ein Redebeitrag zu Ende ist (ne? gell? ). Sie können aber auch signalisieren, welchen Bezug eine Äußerung zum vorangehenden Diskurs hat. Zum Beispiel kann ein Jedenfalls, … zum Ausdruck bringen, dass man nach einem Exkurs wieder zu dem Thema, von dem man abgeschweift ist, zurückkehrt. Gohl & Günthner (1999: 71) beobachten, dass Sprecherinnen und Sprecher im Gegenwartsdeutschen weil unter anderem verwenden, „um Zusammenhänge auch jenseits der 4 Hier benutze ich den Begriff Konjunktion als Überbegriff sowohl für koordinierende Konjunktionen wie denn, die Hauptsätze verbinden (Jana hustet, denn sie ist erkältet), als auch für subordinierende Konjunktionen (=-Subjunktionen) wie weil, die Nebensätze einleiten (Jana hustet, weil sie erkältet ist). <?page no="281"?> 281 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen Satzverknüpfung deutlich zu machen, den Informations- und Themenfluß im Gespräch zu gestalten und die Ausweitung von Redebeiträgen zu signalisieren.“ Im Korpusbeleg (63) beispielsweise hat weil allenfalls indirekt begründende Funktion: (63) Ich find das ist schon Rassebedingt, ob ein Hund hört oder nicht… weil wir haben einen Nachbarhund, das ist ein japanischer Chin, der ist von Natur aus nicht so schlau, das ist einfach so. ( DECO- W 16A, f1d919 876c3ce8fa072eee1014a3 714 477da) Die kausale Semantik ist in diesem Beispiel noch mittelbar zu erkennen: Die Person, die den (Foren-)Beitrag verfasst hat, begründet ihre Auffassung, dass Hunde je nach Rasse unterschiedlich gehorsam seien, mit einer Beobachtung, die sie am Nachbarhund gemacht haben will. Man spricht hier von einer epistemischen Verwendungsweise (von gr. ἐπιστήμη ‚Wissen(schaft)‘), d. h. die Diskurspartikel signalisiert quasi: „Ich habe gerade etwas behauptet, und jetzt erkläre ich, woher ich das weiß.“ Ein klassisches Beispiel für eine solche Verwendungsweise bei weil ist (64): (64) Sie ist wohl daheim, weil ihr Fahrrad steht vor dem Haus. (aus Szczepaniak 2011: 164) Hier kann weil ganz klar nicht kausal interpretiert werden: Dass ihr Fahrrad vor dem Haus steht, kann kaum der Grund dafür sein, dass sie zu Hause ist. Vielmehr stellt es einen Grund für die Sprecherin dar, anzunehmen, dass sie zu Hause ist. Auer & Günthner (2005: 340) beobachten zudem, dass weil auch als bloßes Fortsetzungssignal benutzt werden kann, wie folgender Gesprächsausschnitt aus einer Talkradiosendung zeigt: (65) und den profs wars eigentlich im grund genommen au scheißegal; = weil phh (-) ja; also (.) des geht denen halt au am arsch vorbei. (aus Auer & Günthner 2005: 340) Das weil bringt hier also keine kausale Relation mehr zum Ausdruck, sondern hat lediglich „die vorausweisende Funktion ‚es geht noch weiter‘“ (Szczepaniak 2011: 164). Charakteristisch für die Verwendung von weil als Diskursmarker ist, dass es in der Regel mit Verbzweitstellung verwendet wird, wie auch die Beispiele (63) bis (65) zeigen, wo weil keinen Nebensatz einleitet: Es heißt dort nicht …weil wir einen Nachbarhund haben oder weil ihr Fahrrad vor dem Haus steht, <?page no="282"?> 282 8. Pragmatischer Wandel sondern …weil wir haben einen Nachbarhund oder …weil ihr Fahrrad steht vor dem Haus. Allerdings schließen die Verwendung von weil als Diskursmarker und Verbletztstellung einander nicht aus, wie beispielsweise Wegener (2000: 69) zeigt-- Äußerungen wie Sie ist wohl daheim, weil ihr Fahrrad vor dem Haus steht sind durchaus möglich und in Gebrauch. Eine quantitative Korpusstudie, die den Gebrauch von weil (z. B. auf Grundlage der DECOW -Daten, die oft informellen Sprachgebrauch widerspiegeln) systematisch untersucht, steht m.W. derzeit noch aus. Das Futur: Eine Zeitform im Werden Ein weiterer Bereich, der zwar in der Forschung häufig diskutiert wird, zu dem aber nach meiner Kenntnis noch keine wirklich umfassende empirische Studie vorliegt 5 , ist die Entwicklung des werden-Futurs, z. B. Ich werde dieses Buch zu Ende schreiben. Schmid (2000: 6) weist darauf hin, dass keine Einigkeit darüber besteht, ob das Deutsche überhaupt eine Tempuskategorie „Futur“ aufweist. Das liegt unter anderem daran, dass die Wahl der werden + Infinitiv-Konstruktion in fast allen Kontexten nicht obligatorisch ist: Ich kann sagen Ich gehe morgen ins Kino oder Ich werde morgen ins Kino gehen. Bisweilen wird argumentiert, dass werden kein temporaler, sondern vielmehr ein modaler Marker sei (vgl. z. B. Leiss 1992, Mortelmans 2004b: 38). Nach dieser Auffassung kommt der Konstruktion werden + Infinitiv vor allem epistemische Funktion zu- - die Sprecherin bringt damit eine subjektive Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Ereignisses zum Ausdruck. Anhand von Übersetzungen aus dem Deutschen ins Englische und aus dem Englischen ins Deutsche zeigt Mortelmans (2004a, b), dass das werden-Futur vor allem dann benutzt wird, wenn die Sprecherin eine Voraussage aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen oder Überzeugungen macht. Hingegen wird für Ereignisse, die unabhängig von der Überzeugung der Sprecherin mit Sicherheit oder mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eintreten, eher das Präsens gewählt, wie der Beleg in (66) beispielhaft zeigt. (66) Wenn er [der Hurrikan] kommt, wirst du dir in die Hosen scheißen. (zit. nach Mortelmans 2004b: 47) 5 Mit Bogner (1996) gibt es jedoch schon eine korpusbasierte Untersuchung zum Fnhd. <?page no="283"?> 283 8.1 Pragmatischen Wandel verstehen Die Auffassungen von „Temporalisten“ und „Modalisten“, wie Mortelmans (2004b: 38) die Vertreter der beiden unterschiedlichen Richtungen nennt, schließen einander jedoch nicht zwangsläufig aus. So nimmt Szczepaniak (2011: 146) an, dass die Subjektivierung von werden + Infinitiv, also das Phänomen, dass eine sprachliche Konstruktion genutzt wird, um damit die subjektive Einstellung der Sprecherin zum Satzinhalt zum Ausdruck zu bringen, den Ausgangspunkt der Grammatikalisierung zum Futurmarker darstellt. Die Tatsache, dass wir uns im Gegenwartsdeutschen in den allermeisten Fällen (noch) frei zwischen Präsens und Futur entscheiden können, zeigt, dass der Grammatikalisierungsprozess nicht abgeschlossen ist. Schließt man sich dieser Argumentation an, könnte man sagen, dass das Deutsche zwar eine Futurkategorie hat-- aber es handelt sich nicht um eine voll ausgebildete grammatische Kategorie, sondern um eine Kategorie, die im Entstehen begriffen ist. Dass im Deutschen werden als Futurmarker grammatikalisiert wird, ist typologisch gesehen ungewöhnlich. In den meisten Sprachen sind es Bewegungsverben wie kommen und gehen, die zukünftige Ereignisse markieren (vgl. Bybee et al. 1994: 253), vgl. engl. I’m going to, frz. je vais oder schwed. jeg kommer at. Weiterhin werden die Modalverben sollen und wollen häufig als Futurmarker grammatikalisiert, z. B. engl. will, schwed. skola, nl. zullen (vgl. Szczepaniak 2011: 144). In diesem Grammatikalisierungspfad spiegelt sich gleichsam eine „Alltagstheorie des Handelns“ (Fritz 2000: 264): Wünsche (wollen) bzw. Aufforderungen (sollen) sind auf die Zukunft gerichtet. Wenn jemand einen Wunsch oder eine Aufforderung äußert, geht das oft mit der Absicht einher, eine entsprechende Handlung auszuführen oder ausführen zu lassen; wird eine Handlung angekündigt oder eingefordert, kann man oft davon ausgehen, dass sie auch realisiert wird: Ich will [und ich werde! ] den Mount Everest besteigen; du sollst [und du wirst! ] deine Hausaufgaben machen. Somit eignen sich wollen und sollen ideal zur Vorhersage von Handlungen. Auch im Deutschen wurden sollen und seltener wollen zur Voraussage zukünftiger Ereignisse verwendet (vgl. Fritz 2000: 265 f.). Die frühen Belege im DTA für wollen + Infinitiv lassen teilweise eine futurische Lesart zu, die aber nie eindeutig ist. Immer lässt sich das wollen auch volitiv, also auf den Willen bezogen, lesen wie in (68) ‚Er möchte Kaiser werden‘ oder inchoativ, also auf den Beginn oder das Einsetzen eines Ereignisses bezogen, wie in (69); diese Lesart ist auch in Beispiel (67) möglich. <?page no="284"?> 284 8. Pragmatischer Wandel (67) viel Neglein / Zucker / vnd geriebene Muscatennusse drein / vnd las es einen guten sod thun / biß es wil schwartz werden (Deckhardt, Kochbuch, 1611, DTA ) (68) Der muß Auguſtus ſein / der hie wil Cæſar werden (Czepko, Triumph Bogen, 1641, DTA ) (69) wann die Baumwollen bl uͤ het / gewinnet ſie Kn oͤ pffe / wann ſie wil Reiff werden / thut ſie ſich auff (Gottfried, Newe Welt, 1631, DTA ) Das Modalverb sollen indes kann z. B. in (70) als zukunftsbezogen verstanden werden. (70) Ach du betrogener falſcher Chriſt / das hat dich nie Gottes Wort gelehret / daß du alſo ſoll ſelig werden (Arndt, Christenthumb, 1610, DTA Die Konstruktion werden + Infinitiv, die sich im Fnhd. zur Futurmarkierung durchsetzt (vgl. Bogner 1996: 99), wurde möglicherweise aus der im Ahd. und Mhd. gut bezeugten Konstruktion werden + Partizip Präsens reanalysiert. Beispiele für diese Konstruktion finden sich in (71) und (72). (71) inti nu uuirdist thu suiginti ‚und nun wirst du schweigend‘ (Tatian 2, 9, zit. nach Szczepaniak 2011: 144) (72) er wirt mich gerne sehende (Gottfried von Straßburg, Tristan, zit. nach Paul 2007: 153) In diesen beiden Beispielen zeigt sich wieder deutlich eine inchoative bzw. ingressive Semantik 6 , wie sie uns oben bereits bei wollen in (69) begegnet ist. Mit uuirdist thu suiginti wird ein Zustandswechsel ausgedrückt: vom Zustand „nicht schweigend“ zum Zustand „schweigend“. Während die werden + Partizip Präsens-Konstruktion im Ahd. zumeist einen „abrupten“ Zustandswechsel zum Ausdruck bringt, wandelt sich die Konstruktion zum Mhd. hin dahingehend, dass sie eher den Prozess des Zustandswechsels in den Fokus nimmt (vgl. Mortelmans 2004b: 37). Fritz (1997: 88) spricht hier auch von einem „langsamen werden“. Da dieses „langsame“ werden auch einen länger andauernden 6 Die Begriffe inchoativ und ingressiv werden in der Literatur z.T. austauschbar benutzt (z. B. Comrie 1976), z.T. aber auch differenziert. So unterscheidet Szczepaniak (2011: 145) ingressives bzw. „schnelles“ werden mit abruptem Zustandswechsel im Ahd. von inchoativem bzw. „langsamem“ werden im Mhd., das einen länger andauernden Veränderungsvorgang bezeichnen kann. <?page no="285"?> 285 8.2 Pragmatischen Wandel untersuchen Veränderungsvorgang bezeichnen kann (vgl. Szczepaniak 2011: 145), kann der Endpunkt dieses Vorgangs durchaus in der etwas ferneren Zukunft liegen statt zu einem unmittelbar bevorstehenden Zeitpunkt. Damit bietet sich die Konstruktion zum Ausdruck von Zukünftigem geradezu an. Dass sich statt werden + Partizip Präsens die werden + Infinitiv-Konstruktion durchsetzte, könnte man mit Bech (1901) auf phonologische Abschleifungsprozesse zurückführen (sehende > sehen). Diese Hypothese wird jedoch in der aktuellen Forschung als unplausibel zurückgewiesen, da eine solche Abschleifung des Dentals allenfalls im Niederdeutschen stattgefunden hat (vgl. Diewald & Habermann 2005: 237). Stattdessen geht man davon aus, dass Analogieprozesse die entscheidende Rolle spielten, und zwar entweder mit soln / wollen + Infinitiv oder aber mit inchoativen Verben wie beginnen (vgl. Schmid 2000; Diewald & Habermann 2005). Zum Weiterlesen Einen Überblick über verschiedene Theorien zur Genese des werden-Futurs bietet Westvik (2000). Eine kontrastive Studie zu Futurkonstruktionen im Schwedischen, Englischen und Deutschen, die zwar eher synchron ausgerichtet ist, aber auch Seitenblicke auf die Grammatikalisierung der jeweiligen Muster enthält, ist Hilpert (2008). 8.2 Pragmatischen Wandel untersuchen 8.2.1 Sprache im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit In Kap. 8.1.1 habe ich die Vermutung geäußert, dass wir Flüche und Beschimpfungen wahrscheinlich eher sprechen als schreiben- - und auch sonst gilt für pragmatische Phänomene, dass wir sie eher in der unmittelbaren Interaktion antreffen. Aus früheren Sprachstufen liegen uns allerdings nur schriftliche Quellen vor. Können wir also überhaupt Aussagen über historische Pragmatik treffen, wenn wir doch keine authentischen Daten gesprochener Sprache haben? Zwei eng miteinander verknüpfte Auswege aus diesem Dilemma bieten sich an. Erstens finden sich auch in älteren Texten Reflexe gesprochener Sprache, wie beispielsweise in literarischen Dialogen (vgl. z. B. Grosse 1998: 1392). Zweitens können auch Texte, in denen keine unmittelbare Dialogwiedergabe erfolgt, der gesprochenen Sprache relativ nahe stehen. Dieser Einsicht trägt das Modell der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Rechnung, dem wir uns nun zuwenden. <?page no="286"?> 286 8. Pragmatischer Wandel Sprache der Nähe - Sprache der Distanz Wie in Kap. 1 (Infobox 1) bereits erwähnt, neigen wir gelegentlich dazu, Sprache mit Schriftsprache gleichzusetzen. Gegenüber der gesprochenen Sprache ist Schriftsprache allerdings sekundär-- sie ist vergleichsweise jung, und viele der Sprachen, die auf der Welt gesprochen werden, werden bis heute nicht verschriftlicht. Allerdings existieren gesprochene und geschriebene Sprache nicht unabhängig voneinander. So kann im Deutschen davon ausgegangen werden, dass die zunehmende Literarizität die Herausbildung einer überregionalen Norm maßgeblich beeinflusst hat (s. u. Kap 9). Daher ist es auch folgerichtig, dass wir bis heute „die“ Schriftsprache-- soweit man von einer solchen sprechen kann- - als maßgebliche Instanz für „richtiges“ und „gutes“ Deutsch heranziehen. Tendenziell assoziieren wir geschriebene Sprache mit einem höheren Maß an Förmlichkeit: In einem Brief z. B. schreiben wir anders, als wir im Gespräch reden. Allerdings bedeutet „geschrieben“ nicht gleich „formell“ und „gesprochen“ nicht gleich „informell“. Auch das wissen wir aus unserem Alltag: In einem Bewerbungsgespräch z. B. werden wir tendenziell formeller reden, als wir in Facebook, Skype oder WhatsApp schreiben. Dieser Diskrepanz tragen Koch & Oesterreicher (z. B. 1985) mit ihrem Modell der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Rechnung. Statt von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit spricht man manchmal auch von „Sprache der Nähe“ und „Sprache der Distanz“. Dieses Modell, das sich in der germanistischen Linguistik als enorm einflussreich erwiesen hat (vgl. z. B. Feilke & Hennig 2016), international jedoch bislang kaum rezipiert wurde, verortet sprachliche Kommunikation auf einer Skala von Nähezu Distanzsprache, die prinzipiell vom Medium der Kommunikation (mündlich vs. schriftlich) unabhängig ist, auch wenn es natürlich starke Korrelationen und Tendenzen gibt. So ist eine Verwaltungsvorschrift medial und auch konzeptionell schriftlich. Ein Vortrag hingegen ist medial mündlich, nähert sich konzeptionell aber stärker der Schriftlichkeit an. Ein abgedrucktes Interview ist zwar medial schriftlich, gibt aber zumindest teilweise den konzeptionell mündlichen Charakter der Gesprächssituation wieder. Als mögliche Parameter, in denen sich „Sprache der Nähe“ und „Sprache der Distanz“ unterscheiden, schlagen Koch & Oesterreicher (2007: 351) die folgenden vor: <?page no="287"?> 287 8.2 Pragmatischen Wandel untersuchen Sprache der Nähe Sprache der Distanz Privatheit - Öffentlichkeit Vertrautheit der Kommunikationspartner - Fremdheit der Kommunikationspartner starke emotionale Beteiligung - geringe emotionale Beteiligung Situations- und Handlungseinbindung - Situations- und Handlungsentbindung referenzielle Nähe - referenzielle Distanz raum-zeitliche Nähe (face-to-face) - raum-zeitliche Distanz kommunikative Kooperation - keine kommunikative Kooperation Dialogizität - Monologizität Spontaneität - Reflektiertheit freie Themenentwicklung - Themenfixiertheit Prototypische Beispiele für Sprache der Nähe und Sprache der Distanz nach diesem Kriterienkatalog, der sich natürlich noch ergänzen und fortführen ließe, wären z. B. ein Freundesgespräch einerseits und ein Gesetzestext andererseits. Fig. 45 ordnet (in Anlehnung an Koch & Oesterreicher 2007: 349) eine Reihe von Textsorten bzw. Kommunikationsformen auf dem Kontinuum von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit an, wobei oberhalb des Pfeils geschriebene Texte stehen (graphisches Medium), unterhalb des Pfeils mündliche Kommunikationsformen (phonisches Medium). Natürlich sind die Positionen nicht absolut-- es sind z. B. durchaus informell gehaltene Presseinterviews denkbar, die konzeptionell mündlicher sind als ein sehr formelles Vorstellungsgespräch, und auch ein frei gehaltener wissenschaftlicher Vortrag kann durchaus sehr viel „mündlicher“ sein, als es seine Platzierung auf dieser Skala suggeriert. Auch im Blick auf das Medium sind viele Textsorten und Kommunikationsformen variabel-- eine Predigt oder ein wissenschaftlicher Vortag können auch in geschriebener Form veröffentlicht und ein Gesetzestext kann auch laut verlesen werden. Auch wenn das Modell von Koch & Oesterreicher einige Fragen offen lässt, trägt es doch dazu bei, „dass Bezeichnungen wie ‚geschrieben‘, ‚gesprochen‘, ‚schriftlich‘, ‚mündlich‘ reflektiert(er) verwendet werden“ (Tophinke 2016: 308). Die Einsicht, dass bestimmte Texte bzw. Textsorten der gesprochenen Sprache näher stehen (können), kann gerade bei Korpusuntersuchungen helfen zu erklären, warum sich Innovationen bisweilen in einzelnen Texten quasi ballen, während andere eher konservative Züge tragen. So bietet es sich in vielen Fällen <?page no="288"?> 288 8. Pragmatischer Wandel Gespräch unter Freunden wissenschaftlicher Vortrag Vorstellungsgespräch Predigt Leitartikel Gesetzestext Privatbrief Chat unter Freunden Presseinterview graphisch phonisch konzeptionell schriftlich konzeptionell mündlich Fig. 45: Kontinuum der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, ergänzt nach Koch & Oesterreicher (z. B. 2007). an, die Textsortenannotation von Korpora zu nutzen, um zu überprüfen, ob das Phänomen, das man untersucht, möglicherweise in konzeptionell eher mündlichen bzw. nähesprachlichen Texten prominenter ist als in konzeptionell schriftlichen oder umgekehrt. Suchen wir beispielsweise im GerManC-Korpus nach dem Lehnwortbildungsmuster [V-(a)tion], z. B. Kreation, Resolution, so zeigt sich, dass es in Dramen, narrativen Texten und Predigten als konzeptionell etwas „mündlicheren“ Textsorten deutlich seltener vorkommt als in geistes- oder naturwissenschaftlichen, juristischen oder Zeitungstexten, die eher dem konzeptionell schriftlichen Pol zugeordnet werden können (vgl. Hartmann 2016: 259). Über ein solches Vorgehen lässt sich indes kontrovers diskutieren, da erstens eine pauschale Zuordnung einer Textsorte zum konzeptionell schriftlichen oder mündlichen Pol immer problematisch ist und zweitens die Textsortenkategorisierung bei jedem Korpus, das Textsorten unterscheidet, kritisch hinterfragt werden kann. Beispielsweise umfasst die Kategorie „Gebrauchsliteratur“ im Deutschen Textarchiv so unterschiedliche Textsorten wie Kochbücher und Leichenpredigten. Hier gilt wie bei vielen anderen potentiellen Problemen, die wir bereits diskutiert haben, dass sie die Analyse nicht entwerten, aber bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden sollten. Neuere Ansätze versuchen, Texte mit Hilfe computationaler Verfahren direkt aus den Daten (induktiv) in Kategorien einzuteilen. So versuchen Bildhauer <?page no="289"?> 289 8.2 Pragmatischen Wandel untersuchen & Schäfer (2017a, b), die Texte des DECOW -Korpus mit Hilfe von Textklassifikations-Algorithmen bestimmten Themenbereichen, sog. Topikdomänen, zuzuordnen und mit Hilfe der Verteilung lexikogrammatischer Eigenschaften standardnahe und standardferne Texte zu identifizieren. Diese lexikogrammatischen Merkmale sind im DECOW -Korpus als Annotationen verfügbar (unter dem Namen „ COR eX features“), z. B. die relative Frequenz klitisierter Indefinitartikel (n, ne oder nen statt ein, eine, einen) oder von Emoticons. Dieser datengeleitete Ansatz hat den Vorteil, dass keine a-priori-Kategorisierungen vorgenommen werden, sondern Muster in den Daten selbst auf Text(sorten)unterschiede hinweisen, die man dann im Blick auf konzeptionelle Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit interpretieren kann. Inwiefern sich vergleichbare Ansätze möglicherweise auch gewinnbringend für historische Daten einsetzen lassen, bei denen wir derzeit noch nicht auf Tokenmengen zurückgreifen können, die in die Milliarden gehen 7 , ist noch eine offene Frage. Dass aber auch explorative Analysen historischer Daten auf Grundlage induktiver Methoden interessante Ergebnisse zeitigen können, soll der nächste Abschnitt zeigen. 8.2.2 n-Gramme und Sprachgebrauchsmuster Paul Celans „Schwarze Milch der Frühe“, Lewis Carrolls „Jabberwocky“ oder auch Käthe Hamburgers als Beispielsatz immer wieder gern verwendetes „Morgen war Weihnachten“-- dies sind literarische Beispiele dafür, wie man kreativ mit Sprache umgehen kann. Die Möglichkeit, mit einem endlichen Inventar ein Zeichen eine potentiell unendliche Menge an Äußerungen zu bilden, wird oft als eines der bemerkenswertesten Merkmale von Sprache hervorgehoben (vgl. z. B. Hauser et al. 2002; für eine kritische Diskussion dieser Hypothese der sog. „discrete infinity“ vgl. Pullum & Scholz 2009). Wenn wir uns allerdings unseren alltäglichen Sprachgebrauch vor Augen führen, fällt uns auf, dass wir zumeist auf vorgefertigte Phrasen zurückgreifen-- was keineswegs so negativ gemeint ist, wie es angesichts der negativen Konnotation des Worts Phrase im Alltagsgebrauch klingen mag. Dieser Aspekt des formelhaften Sprechens hat gerade in gebrauchsbasierten Ansätzen wie z. B. der Konstruktionsgrammatik in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erfahren; man spricht hier gelegentlich auch von prefabs (‚prefabricated phrases‘, vgl. z. B. Bybee 2010). Typische Beispiele für 7 Möglicherweise mit der Ausnahme von GoogleBooks, das allerdings nur sehr eingeschränkt als linguistisches Korpus nutzbar ist. <?page no="290"?> 290 8. Pragmatischer Wandel prefabs sind etwa auf gut Glück, auf freiem Fuß sein, meiner Meinung nach oder Gruß- und Abschiedsformeln wie Grüß Gott, mach’s gut, bis später, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Formelhafte Sprache begegnet uns auf Schritt und Tritt (q.e.d.). Aber nicht bei allen Mustern, die wir verwenden, handelt es sich um so festgefügte Phrasen wie bei den eben angeführten Beispielen. Oftmals handelt es sich um sehr variable Muster, z. B. so etwas wie [sich durch / in NP V-en], vgl. sich durch viele Akten wühlen, sich in ein Thema einlesen. Solche Muster entstehen in aller Regel nicht als Muster. Vielmehr ergibt sich die Musterhaftigkeit aus wiederholtem Gebrauch. Beispielsweise stößt man-- wie in der Aufgabe zu Kapitel 6.2.2 erwähnt- - in der Pressesprache gelegentlich auf das Muster [kein NP , nirgends], das aus dem Titel der Novelle Kein Ort, nirgends reanalysiert ist. Bei der allerersten Abwandlung des Buchtitels ist es wohl noch zu früh, um von einem Muster zu sprechen; eher könnte man sagen, dass es sich zu diesem Zeitpunkt noch um eine Anspielung auf den Titel der Novelle handelt. Bemerkenswerterweise lautet der früheste im DeReKo auffindbare Beleg, der den Titel der Novelle abwandelt, keine DDR , nirgends und kann somit noch als relativ direkt auf die Novelle und ihren Entstehungskontext Bezug nehmend gedeutet werden. Die reine Anspielung auf den Titel, völlig unabhängig von der Novelle und ihrem Inhalt, wird jedoch im Laufe der Zeit häufiger aufgegriffen und wird produktiv, denn im N-Slot tauchen immer neue Substantive auf, z. B. kein Kiez, nirgends; kein Amt, nirgends. Mit der Zeit entsteht also ein Muster bzw. eine Konstruktion (s. o. 6.2.3). Beim Muster [kein N, nirgends] kann man klar ein Vorbild erkennen, nämlich den Titel der Novelle-- das ist allerdings bei den wenigsten Mustern der Fall. Oft verfestigen sich Zeichenkombinationen einfach durch häufiges gemeinsames Auftreten, ohne dass erkennbar wäre, welche Instanzen ursprünglich als Vorbilder fungiert haben (vgl. Bubenhofer 2009: 24). Auf einer sehr abstrakten Ebene kann man z. B. auch syntaktische Muster wie „Subjekt-- Prädikat-- Objekt“ als solche Konstruktionen sehen, die durch einen Prozess der Konventionalisierung entstanden sein müssen. Bubenhofer (2009) nutzt n-Gramm-Analysen, um Sprachgebrauchsmuster an der Textoberfläche zu erkennen und auf diese Weise wiederkehrende Strukturen in spezifischen Diskursen oder Textsorten zu identifizieren. Wie in Kap. 7.2.2 dargelegt, sind n-Gramme Zeichenfolgen, die aus n Einheiten (hier: Wörtern) bestehen, z. B. aus einem Wort (Unigramm), aus zwei Wörtern (Bigramm) oder aus drei Wörtern (Trigramm). <?page no="291"?> 291 8.2 Pragmatischen Wandel untersuchen Bubenhofer nutzt diese Methode, um typische Sprachgebrauchsmuster in Texten zu bestimmen Themengebieten oder in spezifischen Textsorten herauszuarbeiten, z. B. im Themenbereich „Kampf gegen den Terror“ oder in Leserbriefen. Bubenhofer & Scharloth (2012) und Bubenhofer & Schröter (2012) identifizieren mit Hilfe von n-Grammen typische Muster in der Sprache der 68er-Bewegung bzw. im Jahrbuch des Schweizer Alpenclubs im 19. und 20. Jh. Im Folgenden zeige ich an einem einfachen Beispiel, wie man explorative n-Gramm-Analysen nutzen kann, um typische Muster nicht in einem bestimmten Diskurs oder einer bestimmten Textsorte, sondern in Exklamativsätzen herauszuarbeiten. Da die Analyse nur Illustrationszwecken dient, nutze ich einen stark simplifizierenden Ansatz. Das beginnt schon damit, dass ich Exklamativsätze rein graphematisch anhand der Interpunktion operationalisiere: Als Exklamativsatz gilt somit ein Satz, der mit einem Ausrufezeichen endet. Mit Hilfe der heruntergeladenen und für die Corpus Workbench aufbereiteten XML -Dateien des Deutschen Textarchivs ( DTA ) habe ich mit der CQP -Suchanfrage [word="\.|\? |! "][]*[word="! "] alle Belege extrahiert, in denen zwischen einem Ausrufezeichen (rechts) und einem satzabschließenden Interpunktionszeichen (links) eine beliebige Anzahl an Tokens steht. Mit der komplementären Suchanfrage [word="\.|\? |! "][]*[word="\.|\? "] wurde zudem ein Datensatz mit Aussage- und Fragesätzen extrahiert. Im Folgenden nehme ich auf die Belege für Exklamativsätze als Zieldatensatz Bezug, auf die Belege mit Aussage- und Fragesätzen als Vergleichsdatensatz. Insgesamt besteht der Zieldatensatz aus 258.297 Belegen, der Vergleichsdatensatz aus 5.112.686 Sätzen. Bei der n-Gramm-Analyse geht es nun darum, herauszufinden, welche n-Gramme im Zieldatensatz gegenüber dem Vergleichsdatensatz überzufällig häufig auftreten. Dazu verwendet man-- ähnlich wie bei der Kollostruktionsanalyse (s. o. 6.2.3)-- statistische Mehrfeldertests. Zunächst aber gilt es, die Daten in n-Gramm-Listen zu zerlegen, was wichtige Vorentscheidungen mit sich bringt: ▶ Soll man mit Unigrammen, Bigrammen, Trigrammen oder n-Grammen mit noch höherem n arbeiten? ▶ Soll man mit den Rohdaten (also den reinen Tokens) arbeiten oder, falls verfügbar, zusätzlich Annotationen wie Lemmata oder POS -Tags nutzen? ▶ Welches statistische Assoziationsmaß soll genutzt werden? Zunächst zur ersten Frage: Im Folgenden werde ich mit Trigrammen arbeiten, weil diese Spanne einerseits groß genug ist, um Muster zu erkennen, die über die Einzelwortebene hinausgehen, andererseits aber klein genug, dass mit <?page no="292"?> 292 8. Pragmatischer Wandel statistischen Assoziationstests nicht nur extrem festgefügte Wendungen wie Sprichwörter und Phraseologismen identifiziert werden können, sondern tatsächlich Muster im oben diskutierten Sinne. Allerdings kann es sich durchaus lohnen, mehrere n-Gramm-Varianten durchzuspielen. Anders als bei hypothesengeleiteten Ansätzen, bei denen die Hypothese und auch die Methode zu ihrer Überprüfung im Vorhinein festzulegen sind, spricht beim induktiv-explorativen Arbeiten nichts dagegen, so lange herumzuprobieren, bis man zu interessanten Ergebnissen gelangt-- oder auch zu dem Ergebnis, dass die Resultate nicht wirklich interessant sind. Zur zweiten Frage: Bei den DTA -Daten arbeite ich nicht mit den reinen Tokens, sondern mit den Lemmata, auf die hin das DTA annotiert ist. Die Lemmatisierung mag zwar nicht einwandfrei sein (das ist sie in keinem Korpus), allerdings hat die Nutzung von Lemmata statt Tokens den Vorteil, dass man Muster, die in verschiedenen (Flexions-)Varianten vorkommen, besser erkennen kann (z. B. was für ein X! / was für eine X! ). Mit POS -Tags, die ich hier nicht berücksichtige, um den Rechenaufwand geringer zu halten, könnte man evtl. noch abstraktere Muster identifizieren; so finden Bubenhofer & Scharloth (2012: 247) in ihrem 68er-Korpus z. B. das Muster „dann-- finites Verb-- Personalpronomen-- Adverb“ (dann liegt es doch, dann würden wir quasi). Zur Frage nach dem statistischen Assoziationsmaß: Ähnlich wie bei der Kollostruktionsanalyse bieten sich hier u. a. Chi-Quadrat-Test, Fisher Exact Test und Log-Likelihood-Ratio an. Bubenhofer (2009: 137-147) diskutiert unterschiedliche Verfahren und kommt zu dem Schluss: „Um Ranglisten unterschiedlich starker Signifikanzen zu erstellen, eignen sich die Tests-[…] fast alle mehr oder weniger gut; Unterschiede gibt es in der Gewichtung von geringen bzw. hohen Frequenzen“ (Bubenhofer 2009: 144). Ich verwende im Folgenden den Chi-Quadrat-Test, allerdings kann es sich auch hier- - wie bei der Wahl der Größe der n-Gramme-- lohnen, verschiedene Varianten auszuprobieren. Ein Blick auf die Ergebnisse in Tab. 34 zeigt zunächst einmal, dass sich unter den als signifikante Muster identifizierten Trigrammen tatsächlich viele finden, die wir so in Ausrufesätzen erwarten würden: In der Tat! , Um Gottes willen! Das signifikanteste Muster ist jedoch die sein eine, wobei das Lemma die im DTA generisch für der, die, das verwendet wird, wenn sie als Pronomen, nicht als Artikel eingesetzt werden (für den bestimmten Artikel gibt es das Lemma d, das wir ebenfalls mehrfach in Tab. 34 finden). eine indes steht generisch für den unbestimmten Artikel sowohl im Femininum als auch im Maskulinum. Konkrete Instanzen der Lemmafolge die sein eine im DTA sind z. B. Das iſt ein <?page no="293"?> 293 8.2 Pragmatischen Wandel untersuchen Sonntag! , Das iſt ein Feſttag! , Das iſt ein ſpaßiger Mann! Ich vermute, dass man hier im heutigen Deutschen eher zu Konstruktionen wie Was für ein(e) oder Welch ein(e) greifen würde. Diese und ähnliche Vermutungen könnte man anhand gegenwartssprachlicher Daten überprüfen, was auch zeigt, wie induktiv-exploratives Arbeiten als Ausgangspunkt zur Hypothesenbildung und damit quasi als Sprungbrett für deduktiv-hypothesengeleitete Folgeuntersuchungen dienen kann. Trigramm χ 2 die sein eine 4922.61 die sein d 4065.89 was für eine 3277.18 es sein eine 3236.38 die sein ja 2651.65 es sein d 1713.37 in d Tat 1699.77 ich sein eine 1618.18 im Name Jesu 1550.19 Geliebte in Christo 1536.59 Christo d Herr 1495.79 in Christo d 1495.79 um Gott Willen 1482.19 es leben d 1441.40 in d Welt 1427.80 Jesu Geliebte in 1414.20 Name Jesu Geliebte 1400.61 Herr mein Herr 1359.81 Leben sie wohl 1278.22 du sein eine 1264.62 mein Herr mein 1251.03 ich können nicht 1223.83 es sein nicht 1196.63 sie sein eine 1196.63 <?page no="294"?> 294 8. Pragmatischer Wandel was sein die 1183.03 ich sein d 1142.24 es sein ja 1128.64 Gott im Himmel 1128.64 so sein es 1128.64 Tab. 34: Die 30 gegenüber den Vergleichsdaten signifikant häufigsten Trigramme in Exklamativsätzen im DTA . Auffällig, wenn auch wenig überraschend, ist weiterhin, dass viele Ausrufe aus dem christlich-religiösen Bereich als typische Muster identifiziert werden. Hier wäre zu vermuten, dass sich der Schwerpunkt in gegenwartssprachlichen Daten eher verschoben hat. Um einen Vergleich mit gegenwartssprachlichen Daten zu ziehen, habe ich die gleiche Analyse noch einmal mit Daten aus dem Webkorpus DECOW 16A durchgeführt, diesmal allerdings mit zufällig generierten Stichproben von „nur“ 15.000 Ausrufesätzen und 15.000 sonstigen Sätzen. 8 Die 30 als typischsten Muster identifizierten Trigramme finden sich in Tab. 35. Tatsächlich gibt es hier keine Ausrufe mit religiösem Bezug mehr, allerdings ist auch die Ausrichtung insgesamt eine völlig andere. Die Sprechakttypen, die in den DECOW -Daten repräsentiert sind, scheinen tendenziell ganz andere zu sein als in den DTA -Daten, was sicherlich auch mit den darin vertretenen Textsorten zusammenhängt. So gibt es im DTA viele belletristische Texte, und in den dort enthaltenen Dialogen finden sich folgerichtig häufig überraschte, entsetzte oder auch flehende Ausrufe. Im DECOW hingegen finden sich z. B. sehr viele Einträge aus Internetforen, was erklärt, warum hier andere expressive Sprechakte prominenter vertreten sind, z. B. „danken“, „Vorfreude ausdrücken“ oder „Glück / Erfolg wünschen“. Das häufigste Trigramm aus den DTA -Daten, die sein eine, findet sich- - entgegen der oben formulierten Erwartung- - aber auch hier wieder auf den vorderen Rängen, die konkreten Instanzen scheinen sich aber von denen im DTA zu unterscheiden, z. B. das ist ein ganz besonderer! , Das war ein geiles Gefühl! , das ist eine Sache zwischen mir und deiner Mutter! Hier könnte eine weiterführende Studie ansetzen, die überprüft, ob sich im Gegenwartsdeutschen bzw. in früheren Sprachstufen des Deutschen eine [Das SEIN X]-Exklamativsatz-Konstruktion (oder mehrere Konstruktionen, die das 8 Suchanfragen: <s/ > [word="! "] bzw. [word! ="! "] <s/ > . <?page no="295"?> 295 8.2 Pragmatischen Wandel untersuchen Muster teilen) sinnvoll ansetzen lässt und man ggf. einen diachronen Wandel oder eine diachrone Auffächerung dieser Konstruktion feststellen kann. Ein zunächst merkwürdig erscheinender Ausreißer in den Daten in Tab. 35 ist original schreiben von- - dieses Trigramm scheint nicht so recht zu den übrigen Mustern zu passen. Ein Blick in die Rohdaten zeigt, dass die dazugehörigen Instanzen z. B. lauten: Original geschrieben von Murderdoll Also ich weis wo was wie abgeht! oder Original geschrieben von Wayne Spaß verstehe ich im Punko Rangers nicht mehr! Hier werden also in Foreneinträgen vorherige Beiträge zitiert, wobei „Original verfasst von“ zu jenen wiederverwendbaren Textbausteinen gehört, die eigentlich bei der Korpuserstellung entfernt worden sein sollten (sog. Boilerplate-Texte). Aber natürlich kann selbst die beste Software nicht jeden dieser Boilerplate-Texte automatisch entfernen. Dennoch ist die Tatsache, dass das Muster als für Exklamativsätze signifikant erkannt wird, durchaus interessant, denn auch daraus lassen sich wieder Hypothesen ableiten: Möglicherweise werden (a) Exklamativsätze in Foren häufiger verwendet als anderswo und / oder (b) Exklamativsätze häufiger direkt über die Zitierfunktion in Foren von anderen Nutzerinnen und Nutzern aufgegriffen. Trigramm χ 2 Dank für die 98.94 wir freuen wir 74.91 auf jede Fall 65.01 viele Dank für 62.19 die sein eine 60.77 die sein die 59.36 die sein ja 59.36 und die sein 53.70 ich haben die 46.64 die haben ich 45.22 was für eine 45.22 freuen wir auf 43.81 ich finden die 36.74 die in die 35.33 ich freuen ich 33.92 <?page no="296"?> 296 8. Pragmatischer Wandel aber die sein 31.09 viele Spaß bei 31.09 ich sein die 28.26 die sein auch 26.85 danken für die 25.44 haben ich auch 25.44 mein Meinung nach 25.44 original schreiben von 25.44 wir auf ihr 25.44 die mit die 24.02 die sein doch 24.02 haben ich die 24.02 haben ich ich 24.02 nicht in die 24.02 sein ich die 24.02 Tab. 35: Die 30 gegenüber den Vergleichsdaten signifikant häufigsten Trigramme in Exklamativsätzen in DECOW 16A. Alles in allem sagt die hier vorgestellte explorative Analyse teilweise mehr über die Zusammensetzung der zugrundeliegenden Daten aus als über den eigentlichen Forschungsgegenstand, nämlich Exklamativsätze. Dennoch dürfte deutlich geworden sein, dass es sich um eine auch für historische Texte vielversprechende Methode handelt, die helfen kann, wiederkehrende Muster zu erkennen und dadurch möglicherweise auch Konstruktionen im konstruktionsgrammatischen Sinne auf die Spur zu kommen, also Paaren aus Form und Funktion, die durchaus auch sehr abstrakt sein können. Zudem zeigen gerade die DTA -Daten, wie Sprachgebrauchsmuster im Sinne Bubenhofers (2009), also wiederkehrende Muster an der Sprachoberfläche, auch Rückschlüsse auf den kulturellen Kontext zulassen, aus dem die Daten stammen. Auch die DECOW -Daten kann man prinzipiell so interpretieren: Zum Beispiel könnte man aus der Vielzahl an Begriffen aus dem Wortfeld „Spaß / Freude“ in den n-Grammen sowie am häufigen Vorkommen von ich den Schluss ziehen, dass die Daten aus einem stärker individualistisch-hedonistisch geprägten kulturellen Zusammenhang stammen. Allerdings gilt auch hier, dass man sich vor <?page no="297"?> 297 8.2 Pragmatischen Wandel untersuchen vorschnellen Schlüssen ebenso hüten muss wie vor der Versuchung, allzu viel in die Daten, die teilweise auch von Zufallsfaktoren verzerrt sein können (vgl. original schreiben von), hineinzuinterpretieren. Zum Weiterlesen Zusätzlich zur Diskussion der n-Gramm-Analyse wurden in diesem Kapitel zwei theoretische Aspekte kurz angeschnitten, aber nicht vertieft, nämlich Konstruktionsgrammatik und Sprechakttheorie. In die Konstruktionsgrammatik führen z. B. Ziem & Lasch (2013) und Hilpert (2014) ein, wobei beide Einführungen recht unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Zum Einstieg in die Sprechakttheorie empfehle ich eine Einführung in die Pragmatik, z. B. Meibauer (2008) oder Finkbeiner (2015). Die in diesem Kapitel vorgestellte Methode wird in Bubenhofer (2009) ausführlich diskutiert. Aufgaben 1. Überlegen Sie (oder diskutieren Sie mit KommilitonInnen), wo Sie folgende Texte / Textsorten / Kommunikationsformen, ggf. mit Hilfe der genannten Nähe-Distanz-Parameter, auf dem Kontinuum in Fig. 45 einordnen würden: a) eine E-Mail an Ihren Dozenten oder Ihre Dozentin, b) eine Polit-Talkshow, c) dieses Buch. 2. Nutzen Sie das im digitalen Begleitmaterial verfügbare R-Skript, um die in Kap. 8.2.2 diskutierte Analyse auf Grundlage der DECOW -Daten mit 2-Grammen und 4-Grammen zu wiederholen. (Achtung: Lange Rechenzeiten sind möglich! ) Die Konkordanzen stehen im Begleitmaterial zur Verfügung, im Skript selbst finden sich auch einige Erläuterungen. Vergleichen Sie die Ergebnisse mit denen, die auf Grundlage der Trigramme gewonnen wurden, und erörtern Sie auf dieser Grundlage die Möglichkeiten und Grenzen der n-Gramm-Analyse. <?page no="299"?> 299 9.1 Graphematischen Wandel verstehen 9. Graphematischer Wandel 9.1 Graphematischen Wandel verstehen Kopf (2014: 24) weist darauf hin, dass im Alltagsdiskurs Sprache und Schrift oft gleichgesetzt werden-- ein Fehlschluss, wie bereits in Kap. 1 deutlich wurde: Wie mehrfach erwähnt, steht z. B. das Graphem <d> in Hun<d> und des Hun<d>es einmal für einen stimmlosen, einmal für einen stimmhaften Plosiv. Der Digraph <ch> kann für [ ç ] oder für [ χ ] stehen, vgl. Mär<ch>en vs. Bu<ch>. Es liegt also keine 1: 1-Korrespondenz von Graphem und Phonem vor. Prinzipiell handelt es sich zwar beim Deutschen um ein phonographisches Schriftsystem, also eines, das Laute abbildet (im Gegensatz etwa zu einem logographischen, das Wörter abbildet; vgl. z. B. Powell 2009). Es handelt sich aber ferner um ein sog. tiefes Schriftsystem (vgl. Eisenberg 1996). Im Gegensatz zu flachen Schriftsystemen, die die Lautung möglichst genau wiedergeben, enthalten tiefe Schriftsysteme auch bspw. semantische, grammatische und pragmatische Informationen. Ein eindrückliches Beispiel hierfür bieten die Prinzipien der Groß- und Kleinschreibung im Deutschen. Im Gegenwartsdeutschen werden zunächst Text- und Satzbeginn groß geschrieben-- die Majuskel (also der Großbuchstabe) erfüllt hier also textstrukturierende Funktion und markiert Satzgrenzen. Darüber hinaus-- und hier nimmt das Deutsche (zusammen mit dem Luxemburgischen) eine Sonderstellung ein 1 (vgl. z. B. Bergmann 1999: 59)- - werden Nomina im Deutschen auch satzintern groß geschrieben. Hier werden grammatische Informationen kodiert, während etwa die optionale Großschreibung des Du in der Anrede einem pragmatischen Prinzip folgt: Die Großschreibung kann als Respektsbekundung verstanden werden. Auf die diachrone Entwicklung der satzinternen Großschreibung werden wir in Kapitel 9.1.1 zurückkommen. 1 Das Deutsche ist jedoch keineswegs die einzige germanische Sprache, deren Schriftsystem im Laufe seiner Geschichte die satzinterne Großschreibung entwickelt hat. So existierte die satzinterne Großschreibung auch im Dänischen und Norwegischen, wurde dort jedoch 1948 durch eine Rechtschreibreform abgeschafft (vgl. Bredel et al. 2017: 68). Im Englischen stieg die Gebrauchshäufigkeit satzinterner Majuskeln im 17. Jh. deutlich an, um jedoch schon im 18. Jh. wieder abzuebben (vgl. Gramley 2012: 147). Im Deutschen dagegen wurde zeitweilig die Einführung der gemäßigten Kleinschreibung diskutiert, die die Majuskelsetzung nur für Satzanfänge, bestimmte Nominalgruppen (v. a. Eigennamen) und das Anredepronomen Sie vorsieht; dieser Reformvorschlag wurde jedoch als zu radikal abgelehnt (vgl. Ewald & Nerius 1997). <?page no="300"?> 300 9. Graphematischer Wandel Die Komplexität des deutschen Schriftsystems zeigt sich auch in den unterschiedlichen Verschriftungsprinzipien, die in der Literatur herausgearbeitet wurden (vgl. z. B. Rahnenführer 1980; Nübling et al. 2013: 212-229; Fuhrhop 2015) und die in der Infobox 17 knapp zusammengefasst sind. Für eine ausführlichere Erörterung der Prinzipien sei auf Nübling et al. (2013) sowie auf Fuhrhop (2015) verwiesen. Ein Beispiel, an dem sich die Koexistenz unterschiedlicher Verschriftungsprinzipien illustrieren lässt, stellt die Auslautverhärtung dar. Vom Ahd. zum Mhd. wurden die stimmhaften Plosive / b / , / d / und / g / im Wortauslaut zu den entsprechenden stimmlosen Plosiven / p / , / t / und / k / verhärtet. Noch im Mhd. zeigt sich dies auch in der Schreibung-- die Verschriftung im Mhd. folgt hier also einem phongraphischen Prinzip, das die einzelnen Laute wiedergibt: (73) der i vͦ de quā do gelovfin v n̄ nā den ſtap indie hant. ‚Der Jude, der da gelaufen kam, nahm den Stab in die Hand‘ (Mitteldeutsche Predigten, um 1200, REM ) (74) …-wene er ce rome geloufin was z vͦ ſime huſ mit ſime ſtabe. ‚als / wenn er nach Rom gelaufen war zu seinem Haus mit seinem Stabe.‘ (Mitteldeutsche Predigten, um 1200, REM ) Die Nominativform stap ‚Stab‘ wird in (73) mit <p> geschrieben, da der Plosiv im Wortauslaut steht und daher die Auslautverhärtung stattfindet. In der Dativform stabe in (74) hingegen unterbleibt die Auslautverhärtung, da dem Plosiv noch ein Vokal folgt und er dann im Silbenanlaut steht. Im Nhd. wird diese Alternanz nicht mehr verschriftet: Wir schreiben <Stab> und <des Stabes>, <Hund> und <des Hundes>. Hier greift das sog. morphologische Prinzip: Durch die Schreibung zeigen wir an, dass es sich um unterschiedliche Wortformen des gleichen Lemmas handelt. Im Gegenwartsdeutschen ist die Rechtschreibung (Orthographie) in hohem Maße normiert und kodifiziert, d. h. in Regelwerken festgehalten. Daher gibt es z. B. in pressesprachlichen Texten relativ wenig Variation in der Schreibung. So wird ein Wort wie Beweis immer <Beweis> geschrieben, nicht *<Bewaiß> oder *<beWeisz>. Wo doch eine abweichende Schreibvariante auftritt, identifizieren wir sie schnell als Fehler. Eine amtliche Orthographie gibt es im Deutschen erst seit 1902- - vorangegangen waren allerlei Normierungsversuche und teils regional stark voneinander abweichende Kodifizierungen 2 (s. Kapitel 9.1.2). 2 Einen ersten Überblick in tabellarischer Form bietet http: / / www.duden.de/ ueber_duden/ geschichte-der-rechtschreibung (zuletzt abgerufen am 12. 04. 2017). <?page no="301"?> 301 9.1 Graphematischen Wandel verstehen Daher finden sich z. B. im Deutschen Textarchiv für Beweis die Schreibungen <Beweiß>, <Beweiſ>, <Beweiſs> und <beweyß>. Unsere Schreibkonventionen sind also das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses, und auch wenn die feste Normierung unserer Orthographie ein anderes Bild vermitteln mag, sind graphematische Konventionen, wie Sprache an sich, dynamisch. Auch heute noch können sich diese Konventionen ändern. Im Gegensatz zu den allermeisten Wandelprozessen, die wir in diesem Buch besprechen, kann es sich dabei auch um Änderungen „von oben“ handeln. Die vieldiskutierte Rechtschreibreform in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts etwa wurde vom Rat für deutsche Rechtschreibung konzipiert. Doch auch im Bereich der Schreibung kann es vorkommen, dass von der Norm abweichende Schreibungen sich hartnäckig halten und letztlich kodifiziert werden. Ein Kandidat hierfür könnte aus dem Bereich der Interpunktion das sog. Vorfeldkomma sein, das meist, wie in (75), einer Präpositionalphrase folgt. Hier steht entgegen der orthographischen Norm gehäuft ein Komma zwischen dem Vorfeld-- also dem Teil des Satzes, der dem finiten Verb vorangeht (vgl. Wöllstein 2014: 21)-- und dem finiten Verb. (75) Nach dem Tod des betagten Hausherrn, bezieht sein Sohn die Residenz. ( DECOW 16A) Auch wenn dieses Phänomen derzeit in lektorierter Sprache noch recht selten auftritt, beobachten etwa Berg & Fuhrhop (2017), dass es sich ausbreitet und mittlerweile auch in redigierten Texten zu finden ist. Ob es sich durchsetzt und ob es in den einschlägigen Regelwerken kodifiziert wird, bleibt freilich abzuwarten. Im Folgenden wollen wir uns ein konkretes Beispiel graphematischen Wandels näher anschauen, nämlich die Entwicklung der Substantivgroßschreibung, um dann die Entstehung der Orthographie genauer unter die Lupe zu nehmen. Infobox 17: Verschriftungsprinzipien ▶ Phonographisches Prinzip: Verschriftung von Lauten. Anders als z. B. ein sog. logographisches Schriftsystem, in dem ein Schriftzeichen für ein Wort bzw. Morphem steht (vgl. Dürscheid 2002: 76), verschriftet ein phonographisches Schriftsystem Laute. Oft werden dabei Phoneme, nicht deren Allophone, verschriftet; so steht <ch> im Deutschen für [ ç ] und [ χ ] (vgl. Nübling et al. 2013: 212). <?page no="302"?> 302 9. Graphematischer Wandel ▶ Silbisches Prinzip: Einige Schreibungen lassen sich nicht auf der Ebene des einzelnen Phonems, sondern auf der Ebene der Silbe erklären (vgl. Fuhrhop 2015: 14). So ist die Silbenstruktur mit ausschlaggebend dafür, ob der Verschriftung eines Langvokals ein Dehnungszeichen folgt oder nicht. Nehmen wir als Beispiel das Dehnungs-<h>, für dessen Setzung sich kaum feste Regeln, aber durchaus Tendenzen formulieren lassen (vgl. Hahn, aber Kran). Auffälligerweise kommt es selten in Wörtern mit komplexem Silbenrand vor, also Wörtern, bei denen dem Vokal mehr als ein Buchstabe vorangeht: *Quahl, *schahl. Darin kann eine Tendenz gesehen werden, die Silbenlänge optisch konstant zu halten (vgl. Nübling et al. 2013: 215). Auch die Doppelkonsonantschreibung etwa bei Ebbe oder Mutter wird oft silbisch interpretiert: Der Doppelkonsonant zeigt nicht nur an, dass der vorangehende Vokal kurz ist, sondern auch, dass es sich um ein sog. Silbengelenk handelt. Der Konsonant gehört zu beiden Silben; man spricht daher auch von ambisilbischen Konsonanten. Das silbische Prinzip interagiert mit dem morphologischen Prinzip: Weil die Pluralformen Kämme, Männer, Blätter ambisilbische Konsonanten aufweisen, wird der Konsonant auch in der Singularform verdoppelt, wo dies nicht der Fall ist: Kamm, Mann, Blatt (vgl. Fuhrhop 2015: 19). ▶ Morphologisches Prinzip: Das morphologische oder Morphemkonstanzprinzip lässt sich mit der Faustregel zusammenfassen: „Gleiche Morpheme (Bedeutungsträger) sollen auch möglichst gleich bzw. ähnlich verschriftet werden“ (Nübling et al. 2013: 219). Ein Paradebeispiel hierfür ist die bereits erwähnte Tatsache, dass die Auslautverhärtung nicht (mehr) verschriftet wird: mhd. stap > nhd. Stab. Im Zuge der Rechtschreibform 1998 wurde das morphologische Prinzip teilweise gestärkt: So wurde behende zu behände (wegen Hand), einbleuen zu einbläuen (wegen blau). ▶ Lexikalisches Prinzip: Auch wenn das Deutsche kein logographisches Schriftsystem ist (s. o.), so spielt das Wort dennoch eine zentrale Rolle-- das wird schon darin deutlich, dass wir Wortgrenzen durch Spatien (Leerzeichen) hervorheben. Das ist keineswegs selbstverständlich: Einige althochdeutsche Sprachdenkmäler sind noch in scriptura continua, also ohne erkennbare Worttrennung, überliefert (vgl. Ruge 2005). <?page no="303"?> 303 9.1 Graphematischen Wandel verstehen 9.1.1 Die Entwicklung der Substantivgroßschreibung Beispiel (76) stammt aus einem kirchlichen Text aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. (76) Es ist kein anfechtung so geschwindt vnnd gefehrlich/ denn (wie die alten vnnd fuernemesten Doctores lehren) das der Mensch wil sein selbst Gott sein/ Das er meynet/ vnnd nicht anders wil/ denn er hab selbst vermuegen/ sein leben vor vnglueck zu bewaren. (Mz- Fnhd, NOBD -1560- KT -046) Denkpause Was fällt auf, wenn man die Groß- und Kleinschreibung in Beispiel (76) mit der heutigen orthographischen Norm vergleicht? Welche Wörter sind groß geschrieben? Das Beispiel zeigt, dass die satzinterne Großschreibung von Substantiven, wie wir sie in der Orthographie des heutigen Deutschen flächendeckend finden, sich zur Entstehungszeit des Textes noch nicht durchgesetzt hat. Die Substantive anfechtung, vermuegen und vnglueck sind klein geschrieben; hingegen findet sich die Großschreibung bereits bei Mensch, Gott und Doctores. Dieses-- zugegebenermaßen handverlesene- - Beispiel kann als repräsentativ für die Prinzipien gelten, von denen man annimmt, dass sie bei der Durchsetzung der satzinternen Großschreibung eine zentrale Rolle spielten. Bezeichnenderweise referieren die groß geschriebenen Substantive in (76) auf menschliche und übermenschliche Personen bzw. Entitäten, während sich die klein geschriebenen auf abstrakte Konzepte beziehen. Die Faktoren der Belebtheit und der Konkretheit können hier als entscheidend gelten. Belebtheit wurde bei einer Reihe von Sprachwandelprozessen als Steuerungsfaktor herausgearbeitet, etwa beim Konjugations- und Deklinationsklassenwechsel (vgl. Dammel & Gillmann 2014 für eine Überblicksdarstellung). In einigen Sprachen entscheidet Belebtheit sogar darüber, welche Kasusmarkierung gewählt wird (vgl. z. B. Croft 2001: 167), was die Relevanz dieser kognitiven Kategorie zusätzlich untermauert. Belebtheit interagiert mit Konkretheit und Individuiertheit. Maximal belebte Entitäten-- also Personen-- sind konkret und individuiert. Abstrakte Konzepte <?page no="304"?> 304 9. Graphematischer Wandel wie Frieden oder Freiheit indes sind Massennomina ( ? zwei Freiheiten 3 ) und unbelebt. 4 In den 90er-Jahren wurde die Entwicklung der satzinternen Großschreibung in einem Projekt an den Universitäten Bamberg und Rostock untersucht. Die Ergebnisse dieses Projekts sind in Bergmann & Nerius (1998) ausführlich zusammengefasst, eine Kurzzusammenfassung bietet Bergmann (1999). Das in diesem Projekt zusammengestellte Korpus bestand aus 145 belletristischen, kirchlichen und Sachtexten aus den Jahren 1500 bis 1710. Auf Grundlage ihrer Daten konnten Bergmann & Nerius (1998) zeigen, dass die Majuskelsetzung zu Beginn ihres Untersuchungszeitraums vor allem (sozio-)pragmatisch gesteuert war: Wie Fig. 46 zeigt, erfasst die satzinterne Großschreibung von Substantiven zunächst Eigennamen und sog. Nomina sacra wie etwa Gott. Es folgen Personenbezeichnungen sowie Nomen, die auf konkrete Objekte referieren. Erst allmählich setzt sich indes die Großschreibung von Abstrakta durch. 3 Solche Verwendungsweisen sind natürlich prinzipiell möglich, prototypischerweise wird Freiheit aber nicht in einer solchen stärker individuierten Lesart verwendet. 4 Einen notorisch problematischen Fall stellt die Personifizierung abstrakter Konzepte dar. Wenn abstrakte Konzepte als Menschen konzeptualisiert werden, gelten sie dann als abstrakt oder als konkret, als unbelebt oder als belebt? Yamamoto (2008: 131) etwa zählt personifizierte Abstrakta zur Kategorie „Personen“. Während das Korpus von Bergmann & Nerius (1998) aus gedruckten Texten besteht, vergleicht Moulin (1990) gedruckte Texte mit handschriftlichen Texten, genauer: verschiedene Drucke der Lutherbibel mit Luthers deutschen Briefen. Auf Grundlage dieser Daten zeigt sie, dass die Entwicklung der Großschreibung in Drucken und handgeschriebenen Texten ähnlich verläuft, in letzteren jedoch zeitlich leicht versetzt. Dies mag damit zusammenhängen, dass gedruckte Texte mit größerem Planungsaufwand und stark leserorientiert produziert wurden-- schließlich werden Drucke auch mit kommerziellen Absichten hergestellt. Die satzinterne Großschreibung kann dabei als leserfreundliche Dekodierungshilfe gesehen werden. So berichtet Johann Rudolph Sattler, ein Grammatiker des 17. Jahrhunderts, zur Frage, warum in gedruckten Texten häufig satzintern Majuskeln (Großbuchstaben) benutzt werden: Als ich etliche alte erfahrne und geübte Schriftsetzer / warumben solches geschehe / befragt / sagten sie mir / es seye der Teutschen Sprach ein zierd / und könne es der einfeltige desta besser verstehen (Sattler [1617] 1975: 17 f.). <?page no="305"?> 305 9.1 Graphematischen Wandel verstehen 0% 25% 50% 75% 100% 1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710 Jahr Anteil Großschreibung Nomentyp Eigennamen Nomina sacra Personenbezeichnungen Konkreta Abstrakta Entwicklung der Großschreibung nach Nomentyp (nach Bergmann & Nerius 1998) Fig. 46: Entwicklung der satzinternen Großschreibung von Substantiven nach Bergmann & Nerius (1998: 834, 851). Auch in handgeschriebenen Texten setzt sich die satzinterne Großschreibung durch. Auf Basis eines Korpus aus handschriftlichen Hexenverhörprotokollen aus dem 15./ 16. Jh., einer Zeit also, in der die satzinterne Großschreibung noch nicht gefestigt ist und sehr viel Variation in diesem Bereich beobachtet werden kann, zeigen Barteld et al. (2016), dass neben der Belebtheit auch die Frequenz des jeweiligen Lexems in der Wahl der Schreiber zwischen Groß- und Kleinschreibung eine Rolle zu spielen scheint. Wie genau der Zusammenhang zwischen Frequenz und Großschreibung aussieht, ist jedoch derzeit noch eine offene Frage, zumal das Korpus, mit dem Barteld et al. (2016) arbeiten, recht klein ist und kaum Types enthält, die wirklich als frequent bezeichnet werden können. Unter 9.2.1 werden wir noch einmal auf diese Studie zurückkommen. <?page no="306"?> 306 9. Graphematischer Wandel 9.1.2 Von der Graphie zur Orthographie: Die Geschichte der deutschen Rechtschreibung Die Reform der deutschen Rechtschreibung, die Ende 1995 als Entwurf vorgelegt, 1996 verabschiedet wurde und 1998 in Kraft getreten ist, löste seinerzeit geradezu einen Kulturkampf aus. Durchforstet man beispielsweise das Online-Archiv des „Spiegel“ (www.spiegel.de) nach Beiträgen zur Rechtschreibreform aus den Jahren 1996 bis 1998, stößt man unter anderem auf die Titelgeschichte „Rettet die deutsche Sprache! “ und Überschriften wie „Unsinnige Umstellung“, „Gräulich belämmert“ oder „Ihr spinnt ja“. Die Reform führte gar zu Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht, die Johnson (2002: 556-566) ausführlich diskutiert. Dabei ist die Orthographie, also die normierte Rechtschreibung, eine recht junge Entwicklung. Erst 1901 wurde bei der sog. Zweiten Orthographischen Konferenz eine für Schulen und Behörden verbindliche Normierung für Deutschland, Österreich und die Schweiz erreicht. Die Idee einer einheitlichen Rechtschreibung ist jedoch schon weitaus älter. Einen guten Überblick bieten die Beiträge in Nerius & Scharnhorst [Hrsg.] (1992) sowie Nerius (2007), an denen sich die folgende knappe Darstellung orientiert. Das Streben nach einer einheitlichen Orthographie ist eng verknüpft mit dem Ziel, zu einer überregionalen Standardbzw. Literatursprache zu finden. Die Herausbildung einer überregionalen Standardsprache wird oft in Zusammenhang mit Martin Luther und der Reformation gesehen; deren Rolle wird jedoch bisweilen etwas überschätzt. Unwichtig war sie trotzdem keineswegs, gerade im Blick auf die Tatsache, dass die Reformation die Bibel und andere theologische Texte ausdrücklich Laien zugänglich machen wollte und damit zumindest indirekt zur Alphabetisierung breiterer Bevölkerungsschichten beitrug. Zudem steht ein Großteil der literarischen Neuproduktionen im Gefolge der Reformation „im Dienste der Meinungsbildung und Massenbeeinflussung“ (Objartel 1980: 717), was überregionale Verständlichkeit umso notwendiger macht. Die eigentliche Voraussetzung für die Reformation hatte jedoch Johannes Gutenberg durch die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern geschaffen, die einen „geradezu epochalen Schub in der Schriftlichkeitsgeschichte“ zur Folge hatte (Nerius 2007: 299). Nerius & Scharnhorst (1992: 1) stellen fest, dass im 15. Jh., nach Erfindung des Buchdrucks, vier eng miteinander verwandte Literatursprachen als überlandschaftliches Kommunikationsmittel gebraucht wurden: a) die mittelniederländische Literatursprache („das Dietsch“, Vorläufer des heutigen Nieder- <?page no="307"?> 307 9.1 Graphematischen Wandel verstehen ländisch), b) die mittelniederdeutsche Literatursprache (Sprache der Hanse), c) das „Meißnische Deutsch“ im ostmitteldeutschen Raum und d) das „Gemeine Deutsch“ im Süden des deutschen Sprachgebiets. Während sich das Mittelniederländische allmählich zu einer eigenen, vom Deutschen unabhängigen Literatursprache entwickelte und das Mittelniederdeutsche durch den Niedergang der Hanse an Einfluss verlor, konnte sich in Norddeutschland v. a. durch den Einfluss der Reformation die ostmitteldeutsche Literatursprache durchsetzen. Ungefähr in die Zeit der Reformation fallen auch die „Anfänge der Kodifizierung“ (Nerius 2007: 301) von Grammatik und Orthographie. Wesentliche Faktoren, die zur Entstehung erster normativer Werke führen, sind das steigende Interesse am Erlernen des Schreibens und des Lesens, das hiermit verbundene Bedürfnis nach einem muttersprachlichen Unterricht sowie die Ausdehnung einer möglichst normierten, überlandschaftlich verständlichen Schriftsprache in den verschiedensten Bereichen der Kommunikation, allen voran dem Kanzleiwesen. (Nerius 2007: 302) Da es keine allgemein anerkannte normgebende Instanz gab, gestaltete sich die Suche nach Prinzipien der Grammatik und der Orthographie als ein Ringen um die „rechte deutsche sprach“ (Frangk [1531] 1979), wie etwa Moulin (1992) an Grammatiken und Orthographielehren des 17. Jh. zeigt. Dabei arbeitet sie zwei Hauptrichtungen in der Konzipierung der Norm heraus: Einerseits solle die vorbildliche, normgebende deutsche Sprache über den Dialekten stehen-- andererseits herrscht gerade bei Meißnern und Schlesiern die Auffassung, dass der dortige ostmitteldeutsche Sprachgebrauch als vorbildlich zu betrachten sei. Ein Großteil der Sprachgelehrten schließt sich jedoch dem erstgenannten Ideal an, insbesondere der bedeutende Grammatiker Justus Georg Schottel alias Schottelius (vgl. Nerius 2007: 315). Im Ringen um eine regionenübergreifende Norm kommt auch den Sprachgesellschaften wie der 1617 gegründeten „Fruchtbringenden Gesellschaft“ eine zentrale Rolle zu. Dort wurde nämlich vornehmlich die Diskussion um das Wesen der Hochsprache und der sprachlichen Norm geführt, was dann auch neue Impulse bei der Suche nach orthographischen Prinzipien mit sich brachte. Gardt (1999) zeigt, dass die Sprachgesellschaften in hohem Maße kulturpatriotisch, ja sprachnationalistisch geprägt waren. Die bis heute im sprachpuristischen Diskurs teilweise präsente „Übereinblendung- […] der Bereiche des Sprachlichen mit denen des Kulturellen (Sprache-- Volk, Kultur, Nation etc.)“ (Gardt 1999: 109) hat unter anderem hier ihre Wurzeln. Der Nationalismus <?page no="308"?> 308 9. Graphematischer Wandel trieb dabei teilweise bemerkenswerte Blüten: Zu den Vorschlägen, die in der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ kontrovers diskutiert wurden und sich nicht durchsetzen konnten, zählten radikale graphematische Eindeutschungen, etwa <Zizero> statt <Cicero> oder <Kwintilian> statt <Quintilian> (vgl. Gardt 1998: 341). Im Mittelpunkt der Normierungsdebatten steht, wie kaum anders zu erwarten, das Verhältnis zwischen Phonem und Graphem (vgl. z. B. Moulin 1992; Grubmüller 1998: 305)-- auch wenn man diese Begriffe in den zeitgenössischen Texten natürlich nicht gebraucht. So sieht etwa Rudolf Sattler (frühes 17. Jh.) die Aufgabe der Rechtschreibung darin, daß nicht etwan ein Buchstaben der zu einem Wort nothwendig erfordert wird/ außgelassen/ oder einer dessen es nichts bedörfft/ vberflüssig darein gesetzt werde: daß auch nicht ein Buchstab für den andern geschrieben/ vnd die Wörter recht abgetheilet werden. (zit. nach Moulin 1992: 29) Ganz ähnlich fordert auch Georg Philipp Harsdörffer (Mitte 17. Jh.), „daß ein jedes Wort/ mit seinen eigentlichen Buchstaben/ und mit derselben keinem zu wenig oder zu viel verfasset werde“ (zit. nach Moulin 1992: 29). Es ist daher naheliegend, dass zu den graphematischen Varianten, die sukzessive ausgeschaltet werden, die zahlreichen Konsonantenhäufungen des Fnhd. gehören (vgl. Grubmüller 1998: 306). Sucht man im Bonner Frühneuhochdeutschkorpus nach Wortformen, in denen mindestens 5 Konsonanten aufeinanderfolgen 5 , findet man beispielsweise <sampcztag> ‚Samstag‘, <vierundzcweinczigis> ‚vierundzwanzigstes‘ oder <früntzschanft> ‚Freundschaft‘, Schreibvarianten also, die dem Ideal „Kein Buchstabe zu viel! “ teilweise ganz und gar nicht entsprechen. Neben dem phonographischen Prinzip, das sich unter anderem bei Schottelius findet („weil der Buchstaben Amt und Eigenschaft eigentlich diese ist/ den Laut und Tohn der wol ausgesprochenen Wörter/ deutlichst und vernemlichst zubilden und auszuwirken“, zit. nach Moulin 1992: 40), werden in den zeitgenössischen Grammatiken und Rechtschreiblehren noch weitere Prinzipien benannt, etwa Gewohnheit und Gebrauch; eine Systematisierung dieser Prinzipien findet allerdings laut erst im 18. Jh. bei Hieronymus Freyer statt, der sie in vier Kategorien einteilt: „Pronuntiation“ (Aussprache- - vgl. phonographisches Prinzip), „Derivation“ (Ursprung- - vgl. morphologisches Prinzip), 5 Natürlich kann man streng genommen nicht nach Konsonanten suchen, sondern nur nach Buchstaben, die für Konsonanten stehen. <?page no="309"?> 309 9.1 Graphematischen Wandel verstehen „Usus scribendi“ (Gebrauch) und „Analogie“. Eine ähnliche Einteilung der Prinzipien findet sich auch in Johann Christoph Adelungs „Grundgesetz der Deustschen Orthographie“ (1782a), das drei Grundregeln postuliert (vgl. Ewald 1992: 67-81): ▶ Die „allgemeine beste Aussprache“: Auch bei Adelung kommt dem phonographischen Prinzip das höchste Gewicht zu. „Man schreibe wie man spricht, aber der allgemeinen besten Aussprache gemäß“ (zit. nach Ewald 1992: 68), die sich laut Adelung in Obersachsen und besonders in Meißen findet. ▶ Die „erweisliche nächste Abstammung“: In manchen Fällen, so beobachtet Adelung, greift das Prinzip der allgemeinen besten Aussprache nicht. „Wenn der eine ermlich, der andere ermlig, und der dritte ärmlig schreiben würde, so würden- […] alle drey der besten Hochdeutschen Aussprache gemäß schreiben“ (Adelung 1782a: 67). Daher kommt zusätzlich ein etymologisches Prinzip ins Spiel: Im Falle von grab (statt grap) oder kindlich (statt kintlich) etwa zeigt die Schreibung die Zusammengehörigkeit mit anderen Wortformen an-- wie Freyers oben erwähnte „Derivation“ nimmt Adelung hier also das morphologische Prinzip vorweg. Allerdings-- und hier grenzt sich Adelung teilweise von Zeitgenossen ab, die das etymologische Prinzip weiter treiben wollten-- darf dieses Prinzip nach Adelung nicht auf entferntere Etymologien, die Schreibenden nicht mehr transparent sind, ausgedehnt werden (vgl. Ewald 1992: 72). Auch dürfen etymologische Schreibungen nach Adelung nicht so weit getrieben werden, dass sie mit der Aussprache interferieren: „Es ist nicht erlaubt, Mägdchen,-[…] Knopflauch u.s.f. zu schreiben.“ (Adelung 1782a: 69) ▶ Der „allgemeine Gebrauch“: Adelung wendet seine Prinzipien der allgemeinen besten Aussprache und der erweislichen nächsten Abstammung teilweise recht inkonsequent an und nutzt sie vor allem, um den bestehenden Usus zu rechtfertigen. Von daher ist es nur konsequent, dass die dritte Grundregel der allgemeine Gebrauch ist, der bei Adelung „im Grunde als entscheidende orthographische Leitgröße fungiert“ (Ewald 1992: 74). Adelung begründet dies damit, dass der Sprachgebrauch auch in anderen Bereichen, etwa bei unregelmäßigen Flexionsformen, ausschlaggebend sei-- schließlich konjugiere man ja auch fallen-- ich fiel aus keinem anderen Grund so, als weil es sich im allgemeinen Sprachgebrauch so durchgesetzt habe: „[I]ch sehe nicht ein, warum der Gebrauch in der Orthographie <?page no="310"?> 310 9. Graphematischer Wandel verächtlicher und unrechtmäßiger seyn sollte, als in anderen Theilen der Sprache.“ (Adelung 1782a: 72) Auch ohne eine feste, allgemein anerkannte Normierungsinstanz setzten sich so im Laufe dieses „Ringens“ um die Rechtschreibung allmählich Schreibkonventionen durch, obwohl es durchaus noch viele Varianten in der Schreibung gab, z. B. <Gehilfe> vs. <Gehülfe>, <Brod> vs. <Brot> und <Brodt>, <Ereigniß> vs. <Ereignis> u.v.m. (vgl. Nerius 2007: 333 f.). Ein heftiger Kritiker der sich herausbildenden Konventionen war Jacob Grimm, dessen Idealvorstellung offenbar eine 1: 1-Entsprechung von Buchstaben und Lauten gewesen ist. Folgerichtig macht Grimm im „Deutschen Wörterbuch“ auch Vorschläge für eine Orthographiereform, indem er bei einigen Lemmata zusätzlich zur etablierten Schreibweise noch eine weitere Variante in eckigen Klammern angibt, die er für die Zukunft empfiehlt. Unter anderem war Grimm die Uneinheitlichkeit der Vokallängenmarkierung ein Dorn im Auge: schmal (Langvokal wird nicht markiert) vs. kahl (Langvokal wird durch <h> markiert) vs. Aal (Langvokal wird durch Verdopplung des Graphems bezeichnet). Folgerichtig schlägt er als zukünftige Schreibungen für Aal <al> vor, für Ähre <äre> etc. (vgl. Scharnhorst 1992: 114 f.). Grimms Vorschläge wurden heftig und kontrovers diskutiert (vgl. Nerius 2007: 336). Für eine stark am phonographischen Prinzip orientierte Orthographie setzte sich auch ein Schüler und Freund Jacob Grimms, Rudolf von Raumer, ein, der die Verhandlungsgrundlage für die sog. 1. Orthographische Konferenz im Oktober 1876 konzipierte (vgl. Nerius 2007: 338 f.; Möller 1992). Auch wenn die Beschlüsse dieser Konferenz nicht umgesetzt wurden, da sich in der Öffentlichkeit starker Widerstand gegen die Ergebnisse erhob, kommt Raumer damit eine zentrale Position in der deutschen Orthographiegeschichte zu. Erfolgreicher als die erste verlief die 2. Orthographische Konferenz am 17. Juni 1901 in Berlin, an der unter anderem Wilhelm Wilmanns und Konrad Duden teilnahmen; erklärtes Ziel war die Kodifizierung einer einheitlichen deutschen Orthographie auf Grundlage des Regelbuchs der preußischen Schulorthographie. Gegenüber den dort fixierten Normen wurden allerdings doch einige Veränderungen vorgenommen, die Nerius (2007: 349) wie folgt zusammenfasst: ▶ die gänzliche Eliminierung des h nach t in heimischen Wörtern, d. h. auch in der bisher noch gebräuchlichen Verwendung in Anfangsstellung (Tal, Ton, Tor, Tür, Tat, tun); <?page no="311"?> 311 9.1 Graphematischen Wandel verstehen ▶ die weitergehende graphische Integration von Fremdwörtern, vor allem die relativ konsequente Ersetzung von c durch k oder z entsprechend der Lautung, oft allerdings über die Zulassung beider Schreibungsvarianten; ▶ die generelle Trennbarkeit von pf und dt sowie die generelle Nichttrennbarkeit von st bei der Worttrennung am Zeilenende; ▶ die Veränderung einer Reihe von Einzelwortschreibungen (Efeu, gibt, Literatur). Mit der 2. Orthographischen Konferenz wurde erstmals eine offiziell kodifizierte Einheitsorthographie eingeführt. Ungeachtet einiger kleiner Änderungen an dieser Norm dauerte es bis zur „erstmaligen faktischen Durchführung einer Orthographiereform“ (Nerius 2007: 376) 95 Jahre- - nämlich bis zur bereits erwähnten Rechtschreibreform, die 1996 beschlossen wurde. Unter anderem wurde die Reform mit einer Vereinfachung der Lehr- und Lernbarkeit der deutschen Orthographie begründet. Die Änderungen dieser jüngsten Rechtschreibreform betrafen unter anderem ▶ Phonem-Graphem-Beziehungen: <ß> wird nach Kurzvokal zu <ss> und bleibt nur nach Langvokal <ß>, z. B. daß > dass, Faß > Fass, aber saßen; ▶ Getrennt- und Zusammenschreibung: Ausweitung der Getrenntschreibung, v. a. bei Verben oder Adjektiven / Partizipien als Bestimmungsglied, z. B. gefangennehmen > gefangen nehmen; festhalten > fest halten. Wurde 2006 teilweise wieder zurückgenommen (oder zurück genommen? ), sodass in diesen Fällen Getrennt- und Zusammenschreibung möglich sind. ▶ Groß- und Kleinschreibung: Substantive in bestimmten präpositionalen und adverbialen Fügungen sowie festen Wendungen werden jetzt groß geschrieben: in bezug auf > in Bezug auf, im allgemeinen > im Allgemeinen, heute abend > heute Abend. ▶ Interpunktion: Viele Kommaregeln wurden gelockert und die Prinzipien der Worttrennung am Zeilenende geändert; u. a. wurde die 1901 festgelegte generelle Nichttrennbarkeit von s und t aufgehoben. (nach Nerius 2007: 399 f.) Auch in der Linguistik wurde die Rechtschreibreform nicht nur wohlwollend aufgenommen. So beklagt Munske (2005), es sei ein elementarer Fehler, von der Illusion auszugehen, dass man Sprachentwicklung durch eine behördliche Verordnung lenken könne. Auch kritisiert er das „Bestreben, möglichst viel verbindlich zu regeln“ (Munske 2005: 108) und plädiert stattdessen dafür, genug <?page no="312"?> 312 9. Graphematischer Wandel Spielraum zu lassen, um unterschiedlichen Ausdrucksabsichten (nicht öffentlich wird anders betont als nichtöffentlich, und man kann argumentieren, dass es zumindest in Nuancen auch eine andere Bedeutung hat) ebenso Rechnung zu tragen wie Lexikalisierungsprozessen (das lexikalisierte Adjektiv-Verb-Kompositum freisprechen bedeutet nicht das gleiche wie frei sprechen). Aufgabe Verschaffen Sie sich mit Hilfe eines Online-Zeitungsarchivs oder eines Zeitungskorpus einen Überblick, wie die neue Rechtschreibung in den Medien diskutiert wurde und wird. Lassen sich hier Veränderungen feststellen? 9.2 Graphematischen Wandel untersuchen 9.2.1 Gedruckte vs. handschriftliche Texte Die meisten sprachwissenschaftlichen Korpora, die Texte des Frühneuhochdeutschen und des Neuhochdeutschen in linguistisch aufbereiteter Form zugänglich machen, beruhen auf gedruckten Texten. Diese bieten offensichtliche Vorteile: Erstens sind sie leichter in maschinenlesbare Form zu bringen, etwa durch automatische Zeichenerkennung (optical character recognition, kurz OCR ). Zweitens ist davon auszugehen, dass gedruckte Sprache in höherem Maße standardisiert ist, und in den weitaus meisten Fällen sind wir mehr an sprecherbzw. schreiberübergreifenden Tendenzen als an Beobachtungen zu individuellen Sprecherinnen oder Schreiberinnen interessiert. Gerade für Fragestellungen zum Einfluss kognitiver Faktoren im Sprachwandel können sich jedoch handschriftliche Texte als aufschlussreich erweisen, denn für sie ist „eine geringere Planungszeit und damit ein stärker ausgeprägter ,online‘-Charakter in der Produktion anzunehmen“ (Szczepaniak & Barteld 2016: 45). Daher nutzen etwa Barteld et al. (2016) in ihrer Untersuchung zu grammatischen und kognitiven Faktoren in der Entwicklung der satzinternen Großschreibung ein Korpus aus frühneuhochdeutschen Hexenverhörprotokollen, kurz Si GS -Korpus (für „Satzinterne Großschreibung“). Zuvor hatte bereits Moulin (1990) handschriftliche Texte zur Untersuchung der Substantivgroßschreibung in deren Entstehungsphase herangezogen und mit dem Befund aus gedruckten Texten verglichen. Konkret stützt sich ihre Studie auf Luthers deutsche Briefe im Vergleich zu seinen gedruckten Texten. Auf Grundlage dieser Daten konnte sie zeigen, dass die Entwicklungsschritte im Aufkommen der satzinternen Großschreibung <?page no="313"?> 313 9.2 Graphematischen Wandel untersuchen in handschriftlichen Texten zwar die gleichen sind wie in gedruckten, dass sie aber tendenziell mit leichter Verzögerung auftreten. Während die Daten von Barteld et al. (2016) keine eindeutigen diachronen Tendenzen zeigen können, weil Datenmenge und Zeitspanne etwas zu klein sind, die Varianz zwischen den einzelnen Texten hingegen sehr groß, lassen sich damit doch interessante Erkenntnisse gewinnen. Das Si GS -Korpus, das auf der Edition von Macha et al. (2005) beruht, ist zwar derzeit (Stand Juni 2017) noch nicht öffentlich verfügbar; weil aber immerhin die Konkordanz, auf der die Studie von Barteld et al. (2016) basiert, über das Repositorium TROLL ing zugänglich ist 6 , wollen wir uns die Daten im Folgenden näher ansehen. Im digitalen Begleitmaterial findet sich auch ein R-Skript, das erklärt, wie die im Folgenden berichteten Analysen genau durchgeführt wurden. Zunächst einmal zeigen die Daten, dass auch im Si GS -Korpus Belebtheit in hohem Maße mit Großschreibung korreliert. Dabei wurde eine relativ feingliedrige Belebtheitsannotation gewählt, die u. a. bei der Kategorie „menschlich“ zwischen verschiedenen Belebtheitsstufen unterscheidet („menschlich“, z. B. Mann; „übermenschlich positiv“, z. B. Gott oder Jesus; „übermenschlich Teufel“, z. B. Satan, Dämon). Wie die Auswertung in Fig. 47 zeigt, ist der Anteil an satzintern groß geschriebenen Substantiven bei Konkreta noch relativ niedrig, bei Tieren schon etwas höher und bei Menschen zwischen 57 % bei „menschlich“ und 75 % bei „übermenschlich positiv“. Auffällig ist der relativ hohe Anteil an Großschreibung bei Abstrakta, die man ja auf der Hierarchie von Individuiertheit und Belebtheit eher unter den Konkreta verorten würde. Gerade die Kategorie „abstrakt Maß“ ist ein deutlicher Ausreißer. Ein genauerer Blick auf die Tokens, die zu dieser Kategorie gehören, offenbart, dass 67 der 147 Belege auf das Lemma Jahr entfallen, das fast immer (in 63 von 67 Fällen) groß geschrieben wird. Das legt die Vermutung nahe, dass die Großschreibung zunächst bestimmte sehr häufige Wörter erfasst. Wenn die Substantivgroßschreibung, wie oben dargelegt, der Hervorhebung von Wörtern dient, ergäbe das sehr viel Sinn: Denn was für uns relevant und wichtig ist, darüber reden (und schreiben) wir auch oft, und dementsprechend häufig kommt es in Texten vor. Und was soll man hervorheben, wenn nicht das, was relevant und wichtig ist? Zudem liegt die Annahme nahe, dass häufige Wörter im Laufe der Zeit eine feste graphematische Gestalt entwickeln-- d. h. wenn sich die Großschreibung 6 http: / / dx.doi.org/ 10.18710/ SJ4OQE, zuletzt abgerufen am 20. 05. 2017. <?page no="314"?> 314 9. Graphematischer Wandel hier einmal durchgesetzt hat, so die Annahme, dann bleibt sie auch erhalten, und der Schreiber wechselt nicht mehr ad-hoc zwischen den beiden Varianten hin und her. Es lohnt sich also, die Hypothese, dass auch die Gebrauchsfrequenz eines Types die Wahl zwischen Groß- und Kleinschreibung beeinflusst, näher unter die Lupe zu nehmen. Eine Möglichkeit, das zu tun, ist, das Verhältnis von Types und Tokens in den einzelnen Belebtheitskategorien zu bestimmen, um einen Überblick darüber zu gewinnen, in welchen Kategorien einige wenige Lemmata dominieren und in welchen wir viele verschiedene Types finden. Die Idee dahinter ist folgende: Wenn wenig frequente Types eher klein geschrieben werden und sich die Großschreibung zunächst eher bei häufig gebrauchten Lemmata durchsetzt, dann ist zu erwarten, dass in Belebtheitskategorien, die wenige verschiedene Types aufweisen, diese wenigen, aber frequenten Types den Anteil der Großschreibung nach oben treiben-- so wie es Jahr in der Kategorie „abstrakt Maß“ tut. In diesen Fällen liegt eine geringe Type-Token-Ratio vor. Bei „abstrakt Maß“ kommen 24 Types auf 147 Tokens, was einer Type-Token-Ratio von 0,16 entspricht. Bei „konkret“ hingegen kommen immerhin 269 Types auf 580 Tokens, was einem Verhältnis von 0,46 entspricht. In der letzteren Kategorie finden sich also deutlich mehr verschiedene Lemmata, von denen das häufigste (Feuer) 16-mal vorkommt, also sehr viel seltener als Jahr in der Kategorie „abstrakt Maß“ mit einer deutlich geringeren Grundgesamtheit. Das deutet darauf hin, dass wir in der Kategorie „konkret“ mehr seltene Types finden, was erklären könnte, warum der Anteil der Großschreibung hier so gering ist. Über die unterschiedlichen Belebtheitskategorien hinweg lässt sich zeigen, dass tatsächlich gilt: Je höher die Type-Token-Ratio, desto höher auch der Anteil an satzinternen Majuskeln. Allerdings geht die Gleichung „hohe Frequenz-= mehr Großschreibung“ keineswegs in allen Fällen auf. So ist schon beim zweithäufigsten Lemma nach Jahr, Frau, die Kleinschreibung deutlich häufiger als die Großschreibung (43 von 70 Belegen). Auch bei Rang 3, Name, dominiert die klein geschriebene Variante mit 40 zu 17 Belegen. Während bei Name als Abstraktum die Kleinschreibung erwartbar ist, überrascht sie bei Frau, da das Lemma nicht nur hochfrequent ist, sondern auch eine belebte, ja eine menschliche Entität bezeichnet. Daher liegt die Annahme nahe, dass auch soziopragmatische Faktoren die Majuskelsetzung beeinflussen: Beim Lemma Mann nämlich sind 35 von 40 Vorkommnissen groß geschrieben. <?page no="315"?> 315 9.2 Graphematischen Wandel untersuchen Fig. 47: Korrelation zwischen Belebtheit und satzinterner Großschreibung im Si GS -Korpus. Schon eine oberflächliche Analyse der Daten zeigt zudem, dass zwischen den einzelnen Texten, egal aus welchem Sprachraum und aus welchem Jahr sie stammen, erhebliche Unterschiede bestehen-- einige Schreiber nutzen die Majuskelsetzung kaum, andere sehr intensiv. Auch das ist ein Faktor, den man bei der Untersuchung so variationsträchtiger Phänomene in einem Kontext, der noch keine normierte Schreibung kennt, berücksichtigen muss. Insgesamt zeigt diese Fallstudie, dass handschriftliche Texte eine wertvolle und wichtige Ergänzung zu gedruckten Dokumenten darstellen können. Im konkreten Fall der Großschreibung in Hexenverhörprotokollen mag der teils <?page no="316"?> 316 9. Graphematischer Wandel „chaotische“ Eindruck, den die Daten vermitteln, auch darauf beruhen, dass es sich eben um Protokolle, also um spontan geschriebene Texte handelt (auch wenn es sich bei einigen der Quellen um Abschriften handelt, bei denen nachträgliche, bewusst vorgenommene Änderungen nicht ausgeschlossen werden können). Trotz der deutlichen Unterschiede zwischen einzelnen Schreibern lassen sich aber klare Tendenzen aufzeigen, die einerseits weitere Evidenz für die in der bisherigen Forschung angenommenen Einflussfaktoren liefern, andererseits darauf hindeuten, dass es noch weitere Aspekte gibt, die genauer unter die Lupe genommen werden sollten. Zum Weiterlesen In diesem Kapitel wurde zwar relativ viel Theoretisches über Handschriften gesagt, aber wenig Praktisches über Handschriftenkunde; eine Einführung in dieses hier vernachlässigte Gebiet bietet z. B. Schneider (2014). Aufgabe Suchen Sie im Deutschen Textarchiv nach Gott, Seele, Teufel, Baum. Finden Sie heraus, wie man über reguläre Ausdrücke gezielt nach groß oder klein geschriebenen Belegen suchen kann und wie man die Suche auf eine bestimmte Zeitspanne einschränkt. Hat sich die satzinterne Großschreibung von Substantiven in den frühen DTA -Texten schon durchgesetzt? Tipp: Mit dem regulären Ausdruck / [^[: punct: ]]/ finden Sie Instanzen, die kein Interpretationszeichen enthalten. Damit und mit dem Wortabstandsoperator #0 können Sie die o. g. Lemmata in Kontexten suchen, in denen ihnen kein Interpunktionszeichen vorangeht. 9.2.2 Levenshtein-Distanz und graphische Variation Ein in der Computerlinguistik häufig verwendetes Maß, das sich im Umgang mit graphischer Variation als sehr hilfreich erweisen kann, ist die Levenshtein-Distanz. Im Folgenden stelle ich dieses Maß kurz vor und zeige ein etwas unkonventionelles, aber effektives Anwendungsbeispiel aus einer authentischen Studie. Das von Levenshtein (1966) vorgeschlagene Maß basiert auf einer sehr einfachen Grundidee: Es misst die Anzahl der Hinzufügungen, Löschungen und Ersetzungen einzelner Zeichen, die mindestens notwendig sind, um einen <?page no="317"?> 317 9.2 Graphematischen Wandel untersuchen Zeichenstrang in einen anderen zu überführen. Um z. B. Haus in Maus zu überführen, muss ich genau eine Ersetzung vornehmen (<H> durch <M>). Die Levenshtein-Distanz wird i. d. R. relativ zur Gesamtzahl der Zeichen gemessen (bei unterschiedlich langen Strings: relativ zur Gesamtzahl des längeren Zeichenstrangs); man spricht dann von normalisierter Levenshtein-Distanz. Bei Haus und Maus hat jeder String vier Zeichen. Weil genau eine Ersetzung vorgenommen wird, beträgt die normalisierte Levenshtein-Distanz also 1 / 4-= 0,25. Mit Hilfe der Levenshtein-Distanz kann man ähnliche Wörter ausfindig machen, was den Vorteil hat, dass man neben Minimalpaaren wie Haus und Maus auch unterschiedliche Schreibvarianten desselben Wortes finden kann. Gerade bei älteren Texten mit viel graphematischer Variation kann sich das als hilfreich erweisen. Aber auch für andere Zwecke kann man die Levenshtein-Distanz einsetzen. Für eine Korpusstudie zu den Gradmodifikatoren ein wenig und ein bisschen (Neels & Hartmann im Ersch.) musste eine Reihe von Dubletten getilgt werden, die sich dadurch ergeben hatten, dass zwei verschiedene Korpora, das Deutsche Textarchiv und das HIST -Archiv des DeReKo, kombiniert wurden. Wie der Ausschnitt aus der Konkordanz in Tab. 36 zeigt, ist ein automatisches Entfernen der Dubletten nicht möglich, da es zwischen den Belegen minimale Unterschiede in der Graphie gibt-- möglicherweise, weil verschiedene Auflagen des jeweiligen Textes (im Beispiel: „Der grüne Heinrich“ von Gottfried Keller) verwendet wurden. Zum Beispiel ist in der DTA -Variante bisschen mit <ss> geschrieben, in der DeReKo-Variante mit <ß>. Zudem unterscheidet sich der Umfang des Kontexts. Eine mögliche Herangehensweise wäre nun, die Konkordanz nach dem rechten Kontext alphabetisch zu sortieren, was die Suche nach Dubletten schon erheblich erleichtert, weil davon auszugehen ist, dass die Dubletten bei dieser Sortierung in den meisten Fällen direkt aufeinanderfolgen. Allerdings ist das gerade bei einem sehr umfangreichen Datensatz erstens mühsam, zumal es viele Wörter gibt, mit denen bisschen relativ häufig kollokiert (z. B. bisschen besser, bisschen Geld), sodass bei der manuellen Prüfung häufig auch der linke Kontext mitgelesen werden muss, was schnell zeitaufwändig werden kann. Zweitens ist nicht auszuschließen, dass einige Dubletten eben doch nicht direkt aufeinanderfolgen, weil z. B. eine Variante zu Beginn des rechten Kontexts ein Interpunktionszeichen, etwa einen Spiegelstrich, hat und die andere nicht. <?page no="318"?> 318 9. Graphematischer Wandel Kontext links Keyword Kontext rechts Heinrich warf immer mehr Gold aus , und dasselbe wanderte von Hand zu Hand über die ganze Brücke und über dieselbe hinaus über das Land ; Jeder gab es emsig weiter , nachdem er es besehen und ein bischen an seinem eigenen Golde gerieben hatte , wodurch sich dieses verdoppelte , und bald kehrten alle Goldstücke Heinrich's in Gesellschaft von drei bis vier anderen wieder zurück , und zwar so , daß die ursprüngliche Münze , auf welcher der alte Schweizer geprägt war , die übrigen anführte mit einem Gepräge aus aller Herren Länder . weiter, nachdem er es besehen und ein bißchen an seinem eigenen Golde gerieben hatte, Tab. 36: Auszug aus der Konkordanz von Neels & Hartmann (im Ersch.): Oben der Beleg aus dem DTA , unten der Beleg aus DeReKo- HIST . Fett gedruckt sind die Wörter, die in die Levenshtein-Analyse eingingen. Deshalb wurde für die Korpusrecherche folgendes Vorgehen gewählt: Zunächst wurden mit einer R-Funktion in jeder Zeile die letzten fünf Wörter im linken Kontext und die ersten fünf Wörter im rechten Kontext extrahiert (in Tab. 36 fett gedruckt). Dabei wurden nur alphanumerische Zeichen berücksichtigt, also keine Interpunktionszeichen. Bezeichnen wir diese Wortfolgen der Einfachheit halber als „Kurz-Kontext“. Die Tabelle wurde anschließend alphabetisch nach der Kombination aus linkem und rechtem Kurzkontext sortiert. Dann wurde für jede Zeile die Levenshtein-Distanz zwischen der Kombination aus linkem und rechtem Kurzkontext in der aktuellen und der darauffolgenden Zeile berechnet. Die Levenshtein-Distanz wurde von 1 subtrahiert, sodass ein hoher Wert eine große Ähnlichkeit aufzeigt (am Beispiel Haus und Maus: 1-0,25- = 0,75). Die Tabelle wurde daraufhin exportiert und in einem Tabellenkalkulationsprogramm geöffnet, wo mit Hilfe einer bedingten Formatierung die Zeilen, in denen der Levenshtein-Wert über 0,8 liegt, hervorgehoben wurden. 7 Eine Auswahl der Zeilen, für die ein hoher Ähnlichkeitswert festgestellt wurde, ist in Tab. 37 abgedruckt. Der Ähnlichkeitswert in der rechten Spalte bezieht sich jeweils auf die vorhergehdende Zeile (bei den Werten, die kleiner als 0,8 und nicht hervorgehoben sind, also auf eine Zeile, die hier nicht abgedruckt, aber in der vollständigen Tabelle vorhanden ist). Es zeigt sich, dass die normalisierte Levenshtein-Distanz tatsächlich ein sehr guter Indikator für das 7 Auf die bedingte Formatierung wird auch in den Abschnitten zu Tabellenkalkulationsprogrammen in den Tutorials im digitalen Begleitmaterial eingegangen. <?page no="319"?> 319 9.2 Graphematischen Wandel untersuchen Auffinden von Dubletten ist. Zudem zeigen die Beispiele, wie groß die Unterschiede zwischen den einzelnen Varianten desselben Textes teilweise sind (z. B. Fleischbrühe vs. Fleischbrüh, Ei vs. Pfui. Beim ersten und letzten Beleg in der Tabelle kann man freilich nicht mit völliger Sicherheit entscheiden, ob es sich wirklich um Dubletten handelt oder ob wir es nur zufällig mit genau den gleichen Formulierungen (möglicherweise mehrfach in demselben Text) zu tun haben. Das ließe sich überprüfen, indem man die entsprechenden Strings noch einmal im Korpus selbst sucht. Für die ersten beiden Belege lässt sich so herausfinden, dass die Passage offenbar aus einem in einer Sammlung von Mörike-Texten mehrfach auffindbaren Gedicht stammt, es sich also um eine echte Dublette handelt. Linker Kontext Keyword Rechter Kontext 1 - Lev HK 3 treiben's in dem Saale Da guck ich wohl ein wenig 'nein - Ei, stößt den Kopf an harten 0,39 HK 3 treiben's in dem Saale. Da guck ich wohl ein wenig 'nein! - Pfui, stößt den Kopf an 0,92 5. Oder / Man siedet das Kalbfleisch nicht zu weich / thut es in einen Hafen mit sauren Milchrahm und Butter / schneidet Limonien daran / Jngwer / Pfeffer / Muscatenblühe und Cardomömlein und Fleischbrühe / lässet alles untereinander fein dicklicht einsieden .6. Oder / Man thut das gesottene Kalbfleisch in einem Tiegel / hacket frischen Speck klein / thut Jngwer / Pfeffer / Saffran / Muscatenblüh und ein wenig Fleischbrühe daran / lässet es sieden / daß es ein dickes Brühlein bekommet .7. Das Kalbfleisch zu ziemlichen Stücklein zerhauen / und mit Wein oder mit halb Wein und halb Wasser / oder mit Wasser und ein wenig Essig gesotten / sauber verschaumt / und alsdann mit ein wenig gebrannten Meel / Saltz / Jngwer und Pfeffer ausgemacht / und vollends kochen lassen . 0,23 Siede das Kalbfleisch / wie es bräuchlich ist / wann es gesotten auf den halben Theil / so nimm halb Wein und halb Brühe / gilbs / thue Weinbeer / Jngwer / Zimmet / Zucker / und drey hartgesottene Eyerdottern / in der Brühe zerrieben / daran / lasse es einsieden / daß nicht viel Brühe mehr ist / richte es dann über das Kalbfleisch .Oder / Thue das gesottene Kalbfleisch in einen Tiegel / hacke frischen Speck klein / thue Jngwer / Pfeffer / Saffran / Muscatenblühe und ein wenig Fleischbrüh daran / laß sieden / daß es ein dickes Brühlein bekommet .Oder / Siede das Kalbfleisch nicht zu weich / thue es in einen Hafen mit Milch- Rahm und Butter / schneide Limonien daran / Jngwer / Pfeffer / Muscatenblühe und Fleischbrühe / lasse es alles unter einander fein dicklicht einsieden . 0,87 <?page no="320"?> 320 9. Graphematischer Wandel 27. Ein gutes Brühlein über eine Zunge .Man solle ein Meel zimlich braun in dem Schmaltz rösten / daran Wasser und Essig giessen / darnach mit Zucker oder Safft süß machen / und ein wenig Roßmarin / Zimmet und Negelein-Stüpp darzu thun und sieden lassen / dann über die Zunge / so zuvor gesotten und auf dem Rost abgebräunt ist / giessen .28. Ein gutes Brühlein über Capaunen und Rehe-Schlegel . 0,27 Ein gutes Süppel über ein Zung . MA n soll ein Mehl zimblich braun in dem Schmaltz rösten / daran giessen Wasser vnd Essig / darnach mit Zucker oder süssen Safft süß machen / vnd ein wenig Rosmarin / Zimmet / vnd Näglstup darzu thun / vnd sieden lassen / vnd über die Zung so zuvor gesotten / vnd auff dem Rost abbräunt ist / giessen .Rosmarin-Süppel . 0,86 . . .Ich habe dich noch nicht unterbrochen sagte der Lord und stand ein wenig . Inzwischen fuhr der Sohn fort , wat' ich mit größter Lust zur Austerbank hinab . . O mein theurer Vater , wie könnt' ich nicht gehen ? 0,38 HK 3 unterbrochen, sagte der Lord und stand ein wenig still. Inzwischen, fuhr der Sohn 0,88 Tab. 37: Auszug aus der Konkordanz für ein wenig. Die nicht hervorgehobenen Ähnlichkeitswerte beziehen sich auf die hier nicht abgedruckte, in der Original-Konkordanz vorangehende Zeile. Eine Erweiterung der Levenshtein-Distanz, die für die Untersuchung graphischer Variation ebenfalls sehr nützlich ist, ist die Damerau-Levenshtein- Distanz, die zusätzlich zu Hinzufügungen, Weglassungen und Ersetzungen auch Permutationen berücksichtigt, also das Austauschen von Zeichen. Dieses Verfahren wurde zum Auffinden von Schreibfehlern entwickelt und kann fürs Englische bis zu 81 % der Schreibfehler korrekt identifizieren (vgl. Damerau 1964: 176). Der Vorteil gegenüber der „reinen“ Levenshtein-Distanz zeigt sich, wenn man z. B. die Eigennamen Kristin und Kirstin vergleicht: Die Levenshtein-Distanz zwischen diesen beiden Strings beträgt 2, da man ja sowohl das <r> als auch das <i> ersetzen muss. Normalisiert auf 7 Zeichen, ergibt sich eine Levenshtein-Distanz von 0,29. Die Damerau-Levenshtein-Distanz hingegen beträgt 1, da sie ja Permutationen berücksichtigt und man in Kristin nur das <i> und <r> permutieren, also austauschen, muss, um zu Kirstin zu gelangen. Normalisiert auf 7 Zeichen, ergibt sich ein Wert von 0,14, der deutlich geringer ist als die „reine“ Levenshtein-Distanz und somit die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den beiden Strings besser reflektiert. <?page no="321"?> 321 9.2 Graphematischen Wandel untersuchen Die Anwendungsdomänen für diese und viele weitere, teils noch viel komplexere Methoden sind nahezu unbegrenzt und reichen von der Erkennung von Schreibvarianten bis zur Quantifizierung von Textähnlichkeiten und weit darüber hinaus. Suchmaschinen wie Google nutzen solche Methoden (natürlich als Grundlage weit komplexerer Algorithmen), um bspw. Tippfehler zu korrigieren und auch dann noch gute Ergebnisse zu liefern, wenn man statt historische Sprachwissenschaft aus Versehen hysterische Spruchwisserschaft eingibt. Aber auch in der historischen Sprachwissenschaft spielen die sogenannten „Digital Humanities“ eine immer größer werdende Rolle-- und somit auch Methoden, die bislang weitgehend nur in der Informatik und Computerlinguistik Verwendung fanden. Zum Weiterlesen Zur Arbeit mit Textdaten in R vgl. Gries (2016), für elaborierte quantitative Methoden vgl. Silge & Robinson (2017), auch kostenlos online unter http: / / tidytextmining.com/ (zuletzt abgerufen am 30. 05. 2017). Wer statt mit R (oder zusätzlich dazu) mit Python arbeiten möchte, dem sei das „Natural Language Toolkit“ ans Herz gelegt; die dazugehörige Einführung, die kostenlos unter http: / / www.nltk.org/ book/ verfügbar ist (zuletzt abgerufen am 30. 05. 2017), wartet mit einer Menge guter Beispiele auf. Aufgabe Überlegen Sie, wie man die Levenshtein-Distanz einsetzen könnte, um in einem gegenwartssprachlichen Korpus umlautbezogene Zweifelsfälle (z. B. Wagen vs. Wägen, grober vs. gröber) zu untersuchen. Worauf ist zu achten? <?page no="323"?> 323 9.2 Graphematischen Wandel untersuchen 10. Fortsetzung folgt: Sprachwandel gestern, heute und morgen Sprache ist nichts Statisches, sondern in stetem Wandel begriffen, und nur tote Sprachen wandeln sich nicht mehr: Auch wenn diese Aussage längst ein Gemeinplatz ist, handelt es sich um eine wichtige Erkenntnis gerade für Studienanfängerinnen und Studienanfänger. Der schulische Grammatikunterricht ebenso wie laienlinguistische „Sprachverfalls“-Debatten erwecken oft den Eindruck, dass es eine Grammatik des Deutschen als feste, unveränderliche Größe gebe, die klar festlegt, was „richtig“ und was „falsch“ ist, was als „gutes Deutsch“ gilt und was nicht. Das ist teilweise unvermeidlich: So muss man gerade im schulischen Kontext oft präskriptiv mit klaren (Rechtschreib- und Grammatik-) Regeln arbeiten. Aber auch im gesellschaftlichen Bereich ist es unvermeidlich, dass Zeichen, seien es sprachliche Zeichen oder nichtsprachliche Symbole wie z. B. der Mercedes-Stern oder eine Landesflagge, mit bestimmten (positiven oder negativen) Konnotationen aufgeladen werden. Linguistisch spricht man hier auch von Indexikalisierung. Im laienlinguistischen Diskurs werden neuere Formen oft stigmatisiert, also negativ indexikalisiert (vgl. z. B. Davies & Langer 2006). Ob und inwieweit der sprachkritische Diskurs Sprachwandel möglicherweise „verlangsamen“ kann, ist eine offene Frage, die empirisch noch kaum untersucht wurde. Unumstritten dürfte aber sein, dass sich Sprachwandel dadurch nicht aufhalten lässt. Zahlreiche Beispiele in den vorangegangenen Kapiteln haben gezeigt, dass Sprachwandel ein gradueller Prozess ist. Es ist also in aller Regel nicht so, dass eine jüngere Form eine alte quasi sprunghaft ablöst. Vielmehr erstreckt sich dieser Prozess oft über mehrere Jahrhunderte. So kommt es, dass auch im Gegenwartsdeutschen teilweise mehrere Formen parallel existieren. Dann kann es zu sog. sprachlichen Zweifelsfällen kommen, die Klein (2003: 7) wie folgt definiert: Ein sprachlicher Zweifelsfall (Zf) ist eine sprachliche Einheit (Wort / Wortform / Satz), bei der kompetente Sprecher (a.) im Blick auf (mindestens) zwei Varianten (a, b…) in Zweifel geraten (b.) können, welche der beiden Formen standardsprachlich) (c.) korrekt ist (vgl. Sprachschwankung, Doppelform, Dublette). Die beiden Varianten eines Zweifelsfalls sind formseitig oft teilidentisch (d.) (z. B. dubios / dubiös, lösbar / löslich, des Automat / des Automaten, Rad fahren / rad fahren / radfahren, Staub gesaugt/ staubgesaugt / gestaubsaugt). <?page no="324"?> 324 10. Fortsetzung folgt: Sprachwandel gestern, heute und morgen Zu Zweifelsfällen kann es auf allen Ebenen des Sprachsystems kommen, von der Phonologie (König [ ˈkøːnɪk ] oder König [ ˈkøːnɪç ]? ) über die Morphologie (die Wagen oder die Wägen? ) bis hin zur Syntax (Es lässt sich oder Es lassen sich eine Reihe von Problemen feststellen, Die FDP als Koalitionspartner oder als Koalitionspartnerin? ). Auch in der Graphematik gibt es Zweifelsfälle; hier führt z.T. die nicht mehr ganz so neue Rechtschreibung noch immer zu Unsicherheiten bei Schreibenden (Zusammen- oder Getrenntschreibung, Worttrennung etc.). Sprachliche Zweifelsfälle sind oft ein Zeichen für Sprachwandel im Vollzug (vgl. z. B. Nübling 2011). Sie bieten sich zudem hervorragend als Ausgangspunkt für empirische Fallstudien an. So kann man z. B. die Konkurrenz zwischen Parallel- und Wechselflexion (mit gutem französischem Wein vs. mit gutem französischen Wein, vgl. Nübling 2011, Peter 2013) korpusbasiert diachron oder diatopisch untersuchen oder Informanten befragen, welche Form sie verwenden würden. Die Zweifelsfälle selbst können natürlich nur mittelbar Auskunft über die sprachlichen Wandelprozesse geben, durch die sie zustandekommen. Um sie zu erklären, muss man auch diachrone Daten hinzuziehen. So kann man herausfinden, welche Variante die ältere, welche die jüngere ist und wie sich die Verteilung der konkurrierenden Formen im Laufe der Zeit ändert. Daraus lassen sich in vielen Fällen Hinweise auf mögliche Steuerungsfaktoren des jeweiligen Wandelprozesses ableiten. So kann man die Variation zwischen Parallel- und Wechselflexion damit erklären, dass die Adjektivflexion im vermutlich älteren Muster, der Wechselflexion, semantisch gesteuert ist, während sich mit der Wechselflexion eine morphologische Steuerung durchsetzt: Bei einer Phrase wie mit neuem technischen Konzept wird davon ausgegangen, dass neu die NP technisches Konzept modifiziert (sog. Einschließungsregel). Hingegen modifizieren bei mit neuem(,) technischem Konzept sowohl neu als auch technisch das Substantiv Konzept. Diese semantische Steuerung, so die Interpretation von Nübling (2011: 190), wird durch eine grammatische Steuerung abgelöst: Durch die Nutzung der Wechselflexion auch dann, wenn beide Adjektive gleichwertig nebeneinanderstehen und keine „Einschließung“ vorliegt, wird das klammernde Verfahren gestärkt, da der Kasus nur einmal zu Beginn der NP markiert werden muss. Zusätzliche Evidenz für diese Interpretation sieht Nübling (2011: 191) in Einzelbelegen, in denen dessen und deren vor einem Adjektiv (normwidrig) stark flektiert wird, z. B. [mit [dessem kleinen Bruder] NP ] PP -- auch hier wird die Information „Dativ“ nur einmal, zu Beginn der Nominalklammer, kodiert. <?page no="325"?> 325 10. Fortsetzung folgt: Sprachwandel gestern, heute und morgen Andere Zweifelsfälle ergeben sich z. B. im Bereich der Pluralbildung, bei nativen wie bei nicht-nativen Substantiven (Wagen oder Wägen? Pizzas oder Pizzen? Oktopusse, Oktopi oder Oktopoden? ), oder auch bei der Kasusrektion (wegen Umbaus geschlossen oder wegen Umbau geschlossen? ) und in vielen weiteren Domänen. Sehr viele dieser Zweifelsfälle lassen sich sprachgeschichtlich erklären. Auch viele andere sprachliche Phänomene, die auf den ersten Blick chaotisch und unregelmäßig erscheinen, lassen sich durch einen Blick in die Sprachgeschichte erklären-- etwa die Koexistenz Dutzender Flexionsparadigmen. Zugleich sind wir in den vergangenen Kapiteln aber auch einigen Entwicklungen hin zu mehr Regelhaftigkeit und Systematizität begegnet, etwa bei der Funktionalisierung des Umlauts. Es sind also nicht nur die unregelmäßigen, unsystematischen Aspekte, die sich anhand der Sprachgeschichte erklären lassen. Sie sind es allerdings oft, die die Dynamizität von Sprache besonders deutlich aufzeigen. Sprache ist fundamental dynamisch- - und auch die Sprachgeschichtsforschung ist keine Disziplin, die mit dem immer gleichen Methodenrepertoire immer gleiche Themen untersucht. Gerade die Verfügbarkeit großer Korpora und die Hinwendung zu quantitativen Methoden haben mittlerweile auch die germanistische Sprachgeschichtsforschung tiefgreifend verändert. Manche mögen befürchten, dass dieser Paradigmenwechsel dem eigentlichen Erkenntnisinteresse der Sprachgeschichtsforschung abträglich ist, da über Zahlen, Daten, n-Grammen und semantischen Vektoren der Blick auf die Sprache selbst verloren gehe. Die vorangegangenen Kapitel konnten hoffentlich zeigen, dass solche Befürchtungen unbegründet sind. Zum einen schließen quantitative Methoden und philologische Sorgfalt einander nicht aus. Im Gegenteil: Die besten quantitativen Ergebnisse können wenig aussagen, wenn sie nicht einer qualitativen Interpretation unterzogen werden. Zum anderen sind quantitative Ansätze nie Selbstzweck, sondern dienen dem Erkenntnisgewinn im Sinne der wissenschaftlichen Methode. So wie es in der Gegenwartssprache gerade die unregelmäßigen, schwankungsanfälligen, bisweilen chaotisch anmutenden Aspekte sind, durch die sich die Auseinandersetzung mit Sprache besonders reizvoll gestaltet, so sind es auch in der (historischen) Sprachwissenschaft die Umbrüche, die Erschließung neuer Methoden und neuer Horizonte, die das Studium der Sprachgeschichte heute vielleicht spannender machen denn je. Dies umso mehr, als die straffen Grenzen zwischen verschiedenen Disziplinen wegbrechen. Man kann Sprachgeschichtsforschung heute unter kognitions- oder kulturwissenschaftlichem Vorzeichen betreiben, kann linguistische und literaturwissenschaftliche Fragestellungen <?page no="326"?> 326 10. Fortsetzung folgt: Sprachwandel gestern, heute und morgen kombinieren, sprachvergleichende Perspektiven einbeziehen und auch nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichensystemen fragen, auch im Blick auf diachrone Wandelprozesse. Die deutsche Sprachgeschichte muss erst noch geschrieben werden. Und im Idealfall kann uns dieser fortdauernde Prozess der Sprachgeschichtsschreibung nicht nur zeigen, wie die deutsche Sprache wurde, wie sie ist, sondern auch helfen, allgemeine Prinzipien der Sprachentwicklung vor dem Hintergrund kognitiver und kultureller Faktoren besser zu verstehen. Es ist dieses übergreifende Erkenntnisinteresse, das die Sprachgeschichtsforschung recht eigentlich zur Wissenschaft macht. Und wenn Sie jetzt über dieses vielleicht etwas verstaubt anmutende recht eigentlich gestolpert sind und, neugierig geworden, eine Korpusuntersuchung zu seiner diachronen Häufigkeitsentwicklung und seiner Textsortendistribution durchführen wollen-- dann hat dieses Buch sein vielleicht wichtigstes Ziel erreicht. <?page no="327"?> 327 Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-)Arbeit schreibt Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-) Arbeit schreibt Erfahrungsgemäß fällt es vielen Studierenden schwer, ihre erste sprachwissenschaftliche Hausarbeit zu schreiben, und allzu häufig werden die gleichen vermeidbaren Fehler gemacht. Dieser Leitfaden soll helfen, diese Klippen zu umschiffen und eine möglichst gute Arbeit zu schreiben-- sei es eine einfache Seminararbeit oder eine Bachelorbzw. Masterarbeit. Das Wichtigste zuerst: Es soll sich um eine wissenschaftliche Arbeit handeln. Im Idealfall fällt die Arbeit so aus, dass man sie in dieser Form auch in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift abdrucken könnte. Sollten Sie also eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen und dabei in die Verlegenheit kommen, einen Aufsatz für eine Fachzeitschrift oder einen Sammelband zu schreiben, gelten die gleichen Regeln- - und umgekehrt gilt: Wenn Sie viele Fachpublikationen lesen, bekommen Sie schnell ein Gefühl für Aufbau und Stil wissenschaftlicher Aufsätze. Wenn Sie sich daran orientieren, können Sie eigentlich wenig falsch machen. Grundsätzlich gilt aber natürlich: Wenn Sie eine Seminararbeit schreiben, sollten Sie sich zunächst an den Vorgaben Ihrer Dozentin / Ihres Dozenten (bzw. Ihrer Universität oder Ihres Fachbereichs) orientieren. Wenn Sie einen wissenschaftlichen Aufsatz für eine Publikation schreiben, informieren Sie sich, ob die Zeitschrift bzw. der Verlag ein Style Sheet hat, an dem Sie sich orientieren sollten. Aufbau Die Arbeit beginnt mit einer Einleitung, in der Fragestellung und Ziel der Studie klar formuliert werden. Auch sollte hier der Rahmen der Arbeit klar abgesteckt werden-- das ist besser, als im Hauptteil immer wieder Themen kurz anzureißen, nur um dann festzustellen, dass eine ausführlichere Behandlung den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Sinnvoll und leserfreundlich ist es, in der Einleitung auch einen Überblick über die Gliederung der Arbeit zu geben. Es folgt der Hauptteil. Hier bietet es sich an, zunächst einen Forschungsüberblick zu geben, der die wichtigsten Erkenntnisse und offenen Fragen aus der bisherigen Literatur knapp zusammenfasst. Bei empirischen Studien sollte ein Methodenteil folgen, in dem die Herangehensweise klar beschrieben wird, ehe die Ergebnisse dargestellt werden. Tabellen und Grafiken sind dabei sehr <?page no="328"?> 328 Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-)Arbeit schreibt willkommen. Zentral ist das Kriterium der Nachvollziehbarkeit: Die Leserin oder der Leser soll genau erkennen können, was Sie wie gemacht haben und welche Ergebnisse Sie dabei erzielt haben, und prinzipiell in die Lage versetzt werden, Ihre Studie selbst zu replizieren. Bei rein theoretischen Arbeiten ist es empfehlenswert, in der Einleitung eine oder mehrere These(n) zu formulieren, die im Hauptteil dann auf Grundlage der einschlägigen Fachliteratur verteidigt wird / werden. Dabei ist es sinnvoll, die Argumente verschiedener Autorinnen und Autoren einander gegenüberzustellen, sie abzuwägen und zu einer (begründeten! ) eigenen Position zu finden. Der Hauptteil kann dazu verführen, zu „mäandern“ und von einem Thema zum nächsten zu kommen-- das sollte vermieden werden: Der Bezug zur Fragestellung darf nicht verlorengehen. Am Ende der Arbeit sollte ein Fazit stehen, das die Ergebnisse zusammenfasst und gerne mit einem Ausblick einhergehen darf, in dem Desiderata für zukünftige Studien aufgezeigt werden. Häufige Fehler Inhalt ▶ Die Ermutigung, in Hausarbeiten eine eigene Meinung zu vertreten, wird bisweilen missverstanden. Rein subjektive Meinungen haben in einer wissenschaftlichen Arbeit keinen Platz: Wenn Sie für oder gegen einen bestimmten Standpunkt argumentieren, müssen Sie sich auf intersubjektiv nachvollziehbare und überprüfbare Fakten stützen. Formulierungen wie „Meiner Meinung nach“ erübrigen sich daher auch weitestgehend. ▶ Auch bei Arbeiten, die sich eher auf gegenwartssprachliche Daten beziehen (z. B. zu Zweifelsfällen), sollte die Perspektive in aller Regel eine klar deskriptive sein. Es geht nicht darum, zu bestimmen, was „richtiges Deutsch“ ist oder wie „sinnvoll“ es ist, diese oder jene Konstruktion zu gebrauchen. Vielmehr geht es um die Beschreibung des Sprachgebrauchs und-- idealerweise-- darum, daraus Schlussfolgerungen über die Mechanismen und Prinzipien zu ziehen, die Sprache und Sprachwandel zugrundeliegen. ▶ Da es sich um eine wissenschaftliche Arbeit handelt, sollte sie auch von der wissenschaftlichen Methode Gebrauch machen. In studentischen Arbeiten finden sich oft Formulierungen wie einen Beweis für etw. erbringen oder <?page no="329"?> 329 Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-)Arbeit schreibt eine Hypothese verifizieren. Denken Sie daran, dass beides nicht möglich ist-- weder können wir die Richtigkeit einer Theorie oder einer Hypothese endgültig „beweisen“, noch können wir Hypothesen mit absoluter Sicherheit als richtig anerkennen. Infobox 18: Untersuchung und Untersuchungsgegenstand Eine überraschend häufige Fehlerquelle in Seminararbeiten besteht darin, dass Untersuchungsprozess bzw. -methode und Untersuchungsgegenstand vermischt werden. Das mag teilweise daran liegen, dass einige Begriffe diesbezüglich doppeldeutig sind: Wir haben zu Beginn dieses Buches gesehen, dass Begriffe wie Phonologie und Morphologie sowohl sprachliche Phänomene bezeichnen können als auch die sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen, die sich mit ihnen beschäftigen. Derlei Mehrdeutigkeiten ergeben sich häufig, wenn zwischen Konzepte eine enge logische oder sachliche Verbindung besteht (Metonymie): So kann sich die Universität auf das Gebäude oder auf die Institution beziehen. Es ist jedoch sehr wichtig, sich klarzumachen, dass das, was wir untersuchen - also unser Untersuchungsgegenstand - nicht damit gleichzusetzen ist, dass oder wie wir es untersuchen. Das mag trivial erscheinen, aber viele studentische Seminararbeiten zeigen, dass dieser Unterschied oft nicht gemacht wird: Da heißt es dann beispielsweise, dass der am-Progressiv „in der germanistischen Sprachwissenschaft etwa seit dem Jahr 1500“ existiere oder dass „die Grammatikalisierungstheorie“ das werden-Futur hervorbringe. Solche Ungenauigkeiten sind teilweise wohl auch auf das klassische Dilemma der Sprachwissenschaft zurückzuführen, dass wir mit Sprache über Sprache reden. Eine wichtige Erkenntnis, die dieses Buch vermitteln will, ist diese: Wissenschaft hilft uns, die Dinge in der Welt zu verstehen, und zwar durch Kategorisierung und Modellbildung. Kategorisierung heißt, dass wir das, was wir beobachten, salopp gesagt, in Schubladen stecken. Diese Schubladen können beispielsweise „Nomen“, „Verb“, „Adjektiv“ heißen oder „Phonologie“, „Morphologie“, „Syntax“. Ein solcher Kategorisierungsprozess ist zugleich ein Beispiel für wissenschaftliche Modellierung. Modellbildung kann beschreibend und erklärend sein, wobei sich beide Funktionen oft überschneiden (vgl. Frigg & Hartmann 2017). Wenn wir z. B. Wörter in Wortartenkategorien einteilen, erarbeiten wir auf Grundlage bestimmter Beobachtungen - z. B., dass Verben <?page no="330"?> 330 Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-)Arbeit schreibt Stil ▶ In vielen Fällen versuchen Studierende, einen möglichst originellen Einstieg in ein Thema zu finden, indem sie etwa ein Sprichwort, eine Begebenheit oder sogar ein eigenes Erlebnis als „Aufhänger“ verwenden. Nur in den wenigsten Fällen gelingt dies. Halten Sie Ihre Einleitung lieber knapp, präzise und schnörkellos. Vergessen Sie nicht: Ihre Leserinnen und Leser sind Nerds, deren Aufmerksamkeit man mit einem Einstieg wie „Diese Arbeit befasst sich mit der diachronen Entwicklung des Rezipientenpassivs.“ viel nachhaltiger gewinnen kann als mit einer langwierigen Anekdote darüber, wie Sie einst über die Formulierung stutzten, dass Ihre Freundin „das Fahrrad geklaut kriegte“. ▶ Dieser „journalistisch“ angehauchte Stil ist auch in anderer Hinsicht weit verbreitet: So neigen manche Studierende dazu, möglichst viele Synonyme für ein und denselben Begriff zu finden. Gerade bei Fachbegriffen sollte das aber vermieden werden. ▶ Oft wird dazu geraten, das „Ich“ in wissenschaftlichen Arbeiten zu vermeiden, was dazu führt, dass man bisweilen haarsträubende Passivkonstruktionen liest. Eher vermeiden sollte man Reflexivkonstruktionen im Passiv wie Nun wird sich dem nächsten Thema zugewandt. Generell ist gegen eine sparsame Verwendung des „Ich“ nichts einzuwenden. Eine gute Lösung ist nach Person und Tempus, Nomen nach Kasus und Numerus flektiert werden - ein Modell darüber, wie die Sprache, die wir untersuchen, organisiert ist. Oft wollen wir aber auch über unsere Beobachtungen hinausgehen und beispielsweise erklären, wie ein System, das wir heute beobachten können, zustande gekommen ist. So gibt es in der Sprachwissenschaft verschiedene Modelle, die zu erklären versuchen, wie sich die germanischen Sprachen entwickelt haben, etwa die Stammbaumtheorie und die Wellentheorie (vgl. dazu Seebold 1998; Schmid 2013: 6). Weil Theorien und Modelle immer Ergebnisse menschlicher Interpretation sind, ist es wichtig, sie nicht mit Fakten zu verwechseln. Modelle können falsch sein, Fakten nicht. Man kann es auch schärfer formulieren: „All models are wrong but some are useful“ (Box 1979), oder: „Models are lies that lead us to the truth“ (Atkinson & Gray 2006: 94). <?page no="331"?> 331 Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-)Arbeit schreibt oft auch, die Arbeit selbst oder einzelne Teile davon in der Subjektposition zu verwenden: Diese Arbeit befasst sich mit der Entwicklung des Passivs im Deutschen; Abschnitt 5 widmet sich der qualitativen Analyse repräsentativer Korpusbeispiele. ▶ Ein weiterer Grund, warum Passivkonstruktionen in studentischen Hausarbeiten bisweilen überstrapaziert werden, ist vermutlich, dass sie als Merkmale eines typisch wissenschaftlichen Stils gelten. Gleiches gilt für Fremdwörter, Funktionsverbgefüge, ung-Nominalisierungen u. ä. Das verführt dazu, diese Elemente viel zu häufig, an den falschen Stellen oder schlicht falsch anzuwenden. Um ein Beispiel zu geben, das dem authentischen Anfang einer Seminararbeit nachempfunden ist: In mündlichen und schriftlichen Diskursen der deutschen Sprache ist konstatiert, dass der am-Progressiv häufig von Gebrauch ist. Abgesehen davon, dass das Funktionsverbgefüge *von Gebrauch sein im Deutschen nicht wirklich in Gebrauch ist, wird hier nicht klar, von welchen Diskursen die Rede ist und warum diese für das Thema relevant sind. Besser und schnörkelloser wäre z. B.: Wie zahlreiche neuere Studien zeigen, wird der am-Progressiv sowohl im gesprochenen als auch im geschriebenen Gegenwartsdeutschen häufig gebraucht (vgl. van Pottelberge 2004; Flick & Kuhmichel 2013; Flick 2016). ▶ Der Konjunktiv wird in studentischen Arbeiten oft überstrapaziert. Wenn bspw. über eine Präposition wie nach oder laut kenntlich gemacht wird, wer die dargestellte Ansicht vertritt, steht üblicherweise der Indikativ: Laut Szczepaniak (2007) hat sich das Deutsche von einer Silbenzu einer Wortsprache entwickelt, nicht: *Laut Szczepaniak (2007) habe sich das Deutsche von einer Silbenzu einer Wortsprache entwickelt. Stephany & Froitzheim (2009: 77) raten dazu, den Konjunktiv nur in sehr kurzen Textpassagen zu verwenden. ▶ Ebenso wie ein bemüht hochgestochener Stil sollten allzu umgangssprachliche Elemente vermieden werden. Dazu gehört z. B. das Aufspalten von Haupt- und Nebensatz in zwei Sätze: *Noam Chomsky gilt als bedeutendster Linguist des 20. Jahrhunderts. Wobei seine Theorien jedoch nicht unumstritten sind. Auch Sätze, die mit der Konjunktion denn verbunden sind, oder zwar-aber-Sätze sollten i. d. R. nicht aufgespalten werden (außer wenn beide Teilsätze extrem lang sind): Bei sekundären Präpositionen kommt es oft zu Zweifelsfällen, denn sie schwanken zwischen Genitiv- und Dativrektion, nicht *Bei sekundären Präpositionen kommt es oft zu Zweifelsfällen. Denn sie schwanken zwischen Genitiv- und Dativrektion. <?page no="332"?> 332 Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-)Arbeit schreibt Wie zitiere ich richtig? In der Linguistik ist es üblich, Quellenangaben zu direkten und indirekten Zitaten direkt in den Text einzuflechten; indirekte Zitate werden durch vgl. gekennzeichnet: Sprachwissenschaftler wie Franz Bopp oder Jacob und Wilhelm Grimm begründeten die sog. historisch-vergleichende Sprachwissenschaft (vgl. Schmidt 2007: 158). Fußnoten erübrigen sich durch diese Vorgehensweise weitestgehend. Diese Zitierweise sollte vom ersten bis zum letzten Zitat konsequent durchgehalten werden-- es ist nicht nötig, beim ersten Zitat die komplette Literaturangabe zu geben oder den Vornamen des Autors / der Autorin zu nennen, denn diese Informationen finden sich ja im Literaturverzeichnis am Ende der Arbeit. Vermeiden Sie unbedingt journalistische Umschreibungen wie Die Münsteraner Sprachwissenschaftlerin Kristin Kopf bemerkt dazu in ihrem Aufsatz oder Die Sprachwissenschaftlerin Hadumod Bußmann schreibt in ihrem „Lexikon der Sprachwissenschaft“… Solche Formulierungen sind in einem populärwissenschaftlichen Text für Laien angebracht, nicht in einem Fachtext. Bei der ersten Erwähnung eines Textes benutzen Sie einfach Nachname und Jahr, z. B. (Kopf 2016), bei anaphorischer Referenz auf den Autor / die Autorin verwenden Sie am besten einfach er oder sie, keine Umschreibungen wie der Sprachwissenschaftler, die Autorin o. ä. SO BITTE NICHT ! So ist es besser Der Sprachwissenschaftler Dr. Stefan Hartmann von der Universität Bamberg schreibt in seiner Einführung „Deutsche Sprachgeschichte“, erschienen 2018 im Francke Verlag, dass dieser Satz albern ist. Laut Hartmann (2018) ist dieser Satz albern. Dem schließt sich auch Hartmann an (vgl. Hartmann, Stefan 2018: Deutsche Sprachgeschichte. Tübingen: Francke.) Dem schließt sich auch Hartmann (2018) an. Auch sonst sollte man umständliche Umschreibungen in wissenschaftlichen Texten lieber vermeiden, fährt der 32-jährige in seinem Einführungswerk „Deutsche Sprachgeschichte“ (2018) fort. Umständliche Umschreibungen sollten in wissenschaftlichen Texten generell vermieden werden (vgl. Hartmann 2018). Hartmann (2018) weist darauf hin, dass man umständliche Umschreibungen vermeiden sollte. Diese Auffassung vertritt der Sprachwissenschaftler auch für den Bereich der anaphorischen Referenz. Hartmann (2018) weist darauf hin, dass man umständliche Umschreibungen vermeiden sollte. Diese Auffassung vertritt er auch für den Bereich der anaphorischen Referenz. <?page no="333"?> 333 Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-)Arbeit schreibt Für die Zitate im Fließtext gilt: Wenn ein Werk zwei Autorinnen hat, werden beide genannt, also zum Beispiel: (vgl. Nübling & Szczepaniak 2011). Hat ein Werk drei oder mehr Autorinnen, kann man nach dem ersten Autorennamen ein et al. setzen, z. B. (vgl. Bergmann et al. 2016). Die weiteren Autoren sollten aber auf keinen Fall „unterschlagen“ werden-- zitieren Sie also bitte Bergmann, Moulin & Ruge nicht als „Bergmann 2016“ und Nübling, Dammel, Duke & Szczepaniak nicht als „Nübling 2013“. Im Literaturverzeichnis werden dann alle Autorinnen und Autoren genannt. Für die Formatierung des Literaturverzeichnisses empfehle ich das „Unified Style Sheet for Linguistics“ 1 , für das Mark Dingemanse auch ein CSL -Stylesheet entwickelt hat, das man beispielsweise mit dem Open-Source-Literaturverwaltungsprogramm Zotero oder mit kommerziellen Programmen wie Citavi verwenden kann. 2 Zitieren von Online-Dokumenten Im Zuge der Digitalisierung ist es immer häufiger notwendig, Online-Ressourcen zu zitieren, etwa die Webseiten von Korpora oder Zeitschriften, die nur online erscheinen wie beispielsweise „Linguistik online“. Dazu Folgendes: ▶ Ganz wichtig: Online ist nicht gleich online! Der Umgang mit wissenschaftlichen Zeitschriften hat sich in den letzten Jahren enorm verändert. Während meines Studiums war es noch üblich, sich Aufsätze ganz altmodisch aus der Druckausgabe der Zeitschrift zu kopieren. Heute sind die meisten Zeitschriften sowohl gedruckt als auch online verfügbar, wobei die Online-Ausgabe immer mehr zum Standard wird. Das PDF der Online-Ausgabe und die Druckausgabe sind jedoch in aller Regel identisch. Daher werden Online-Ausgaben von Zeitschriften wie gedruckte Zeitschriften zitiert, also z. B.: Bloomfield, Leonard (1928): A note on sound change. Language 4(2), 99-100. und nicht, wie man es manchmal in Seminararbeiten sieht: Bloomfield, Leonard: A note on sound change. http: / / www.jstor.org/ stable/ 408791 (abgerufen am 23. 09. 2017) 1 http: / / celxj.org/ downloads/ USS-NoComments.pdf (zuletzt abgerufen am 03. 04. 2017). 2 http: / / www.zotero.org/ styles/ unified-style-linguistics (zuletzt abgerufen am 30. 04. 2017). <?page no="334"?> 334 Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-)Arbeit schreibt Um sicherzustellen, dass ihre Arbeiten breit zugänglich sind, stellen viele Forscherinnen und Forscher ihre Aufsätze als Preprints auf ihrer Homepage oder in sogenannten Repositorien (kommerzielle wie academia.edu oder ResearchGate oder nicht-kommerzielle wie arXiv). Verlage unterscheiden sich darin, in welchem Maße sie eine solche sog. Selbstarchivierung erlauben: Bei einigen Verlagen darf die Autorin nach kurzer Verzögerung das Original- PDF auf ihre Homepage stellen, bei anderen nur ein Manuskript. Generell gilt: Wo immer möglich, konsultieren Sie bitte die Verlagsversion, um sicherzustellen, dass Sie tatsächlich die finale Version des Aufsatzes mit den Original-Seitenzahlen verwenden. So stellen Sie sicher, dass Ihre Angaben auch dann nachprüfbar sind, wenn die Autorin plötzlich ihre Preprints offline nimmt-- und Nachprüfbarkeit ist das A und O jeder wissenschaftlichen Arbeit. ▶ Dann gibt es allerdings, wie gesagt, Zeitschriften, die nur online erscheinen. Auch publizieren viele „klassische“ Zeitschriften Aufsätze ahead of print (manchmal auch „Online First“ genannt). Das heißt, dass ein Aufsatz online zugänglich ist, bevor er in eine Druckausgabe der Zeitschrift aufgenommen wird. Solche Online-Ressourcen erkennt man meist daran, dass es keine fortlaufende Seitennummerierung gibt, sondern die Seitenzählung bei jedem Aufsatz wieder mit 1 beginnt oder gar keine Seitenzahlen vorhanden sind. In solchen Fällen zitieren Sie bitte, sofern vorhanden, den Digital Object Identifier, kurz doi. Beispiel: Roberts, Seán / Winters, James (2013): Linguistic Diversity and Traffic Accidents: Lessons from Statistical Studies of Cultural Traits. PL oS One 8(8). doi: 10.1371 / journal.pone.0 070 902. ▶ Bei Online-Ressourcen ohne doi geben Sie bitte den Link an, gefolgt vom Datum, an dem die Ressource abgerufen wurde, also z. B. Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache, www.dwds.de (abgerufen am 23. 09. 2017). Bei vielen Korpora und anderen Ressourcen ist es so, dass Sie laut Nutzungsbedingungen nicht unbedingt die Online-Ressource selbst im Literaturverzeichnis angeben müssen, dafür aber einen bestimmten Aufsatz zitieren sollen, in dem das Korpus oder die Ressource vorgestellt wird. Hier sollten Sie jeweils den Hilfe-Bereich und / oder die Nutzungsbedingungen der jeweiligen Online-Plattform konsultieren. <?page no="335"?> 335 Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-)Arbeit schreibt Was ist zitierfähig? Zu den Schlüsselkompetenzen in der Wissenschaft gehört es, seriöse wissenschaftliche Literatur zu erkennen und von pseudowissenschaftlichen Ergüssen oder auch gut gemeinten, aber nicht immer wissenschaftlich profunden Bemühungen von Laien zu unterscheiden. Das ist nicht immer ganz einfach. Als Faustregel kann man aber festhalten: Zitierfähig ist Literatur, die ein wissenschaftliches Begutachtungsverfahren (peer-review) durchlaufen hat. Das können Aufsätze in Zeitschriften mit peer-review sein oder auch Aufsätze in Sammelbänden sowie Monographien, die in renommierten Fachverlagen erschienen sind. Nicht zitierfähig ist z. B. Wikipedia. Hüten Sie sich auch vor Verlagen, die sich auf die Veröffentlichung von Hausarbeiten spezialisiert haben und deren Publikationen bei vielen GoogleBooks-Recherchen (sonst eigentlich ein guter erster Schritt, um Literatur zum jeweiligen Thema zu finden) dazu führen, dass man die wenigen seriösen Publikationen zwischen Unmengen an Seminararbeiten suchen muss. Das heißt wohlgemerkt nicht, dass Seminararbeiten zwangsläufig schlecht oder gar unwissenschaftlich seien. Ganz im Gegenteil! Aber wer eine gelungene Seminararbeit geschrieben hat und sie nicht in der Schublade verschwinden lassen möchte, sollte sie entweder kostenlos auf der eigenen Homepage oder einschlägigen Portalen zur Verfügung stellen oder aber den Weg des wissenschaftlichen Begutachtungsverfahrens nicht scheuen. „Vorbilder“ finden - Konventionen erkennen Überspitzt könnte man sagen, wie eingangs angedeutet, dass es beim Schreiben einer wissenschaftlichen Arbeit vor allem auf gekonntes Nachahmen ankommt. Mit „Nachahmen“ meine ich natürlich nicht „Plagiieren“-- dass Plagiate unmoralisch, unwissenschaftlich und im schlimmsten Fall strafbar sind, muss hier nicht eigens erwähnt werden. Aber Aufbau und Struktur einer wissenschaftlichen Arbeit sowie gängige Konventionen der sprachlichen Gestaltung einer solchen Arbeit lernt man am besten, indem man wissenschaftliche Aufsätze liest, im Idealfall möglichst viele. Wenn man mehrere Fächer studiert oder regelmäßig mit mehreren Teildisziplinen desselben Fachs in Berührung kommt (z. B. Linguistik und Literaturwissenschaft in der Germanistik), entwickelt man mit der Zeit auch ein Gespür dafür, welche Konventionen in welchem (Teil-) Fach gelten. An den einschlägigen „Vorbildern“ kann man sich dann für die eigene wissenschaftliche Arbeit orientieren. <?page no="336"?> 336 Anhang: Wie man eine sprachgeschichtliche (Seminar-)Arbeit schreibt Bitte beachten Sie aber auch, dass sich eine Einführung wie das Buch, das Sie gerade lesen, in mancher Hinsicht von einem wissenschaftlichen Aufsatz unterscheidet und daher nur bedingt als Vorbild geeignet ist. So erkläre ich in diesem Buch viel Grundlegendes, was in einer wissenschaftlichen Arbeit bereits vorausgesetzt werden kann. Studierende tun das in Hausarbeiten manchmal unnötigerweise auch. Bitte denken Sie daran: Nur weil eine Hausarbeit im Seminar „Wortbildung“ geschrieben wird, braucht nicht jede Hausarbeit, die in diesem Seminar entsteht, ein Kapitel darüber, was eigentlich Wortbildung ist. Ein anderer Punkt, in dem sich diese Einführung von einem wissenschaftlichen Aufsatz unterscheidet, ist, dass ich gerade beim Grundlagenwissen darauf verzichte, jede einzelne Aussage zu belegen. In einer Seminararbeit geht das nicht: Hier müssen Sie jede Behauptung, die Sie machen, mit Literaturangaben (oder mit einer eigenen Studie) belegen. Darüber hinaus ist auch mein Stil in dieser Einführung manchmal etwas flapsiger, als es in einer wissenschaftlichen Arbeit angemessen wäre. Deshalb legen Sie dieses Buch jetzt bitte weg und lesen Sie etwas Vernünftiges. <?page no="337"?> 337 Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Vorstufen des Deutschen Ie. Indoeuropäisch (=-Indogermanisch) Germ. Germanisch Wg. Westgermanisch Sprachstufen des Deutschen Ahd. Althochdeutsch (ca. 750-1050) Mhd. Mittelhochdeutsch (ca. 1050-1350) Fnhd. Frühneuhochdeutsch (ca. 1350-1650) Nhd. Neuhochdeutsch (ca. 1650-heute) Weitere indoeuropäische Sprachen Ags. Angelsächsisch Engl. Englisch Frz. Französisch Got. Gotisch Gr. Griechisch Nd. Niederdeutsch Nl. Niederländisch Korpora und Quellen DECOW DECOW -Korpus (Corpora from the Web) DeReKo Deutsches Referenzkorpus DTA Deutsches Textarchiv FnhdC Bonner Frühneuhochdeutschkorpus GerManC GerManC-Korpus MWB Mittelhochdeutsches Wörterbuch (http: / / mhdwb-online.de) MWV Mittelhochdeutscher Wörterbuchverbund (woerterbuchnetz.de) <?page no="338"?> 338 Abkürzungsverzeichnis MzFnhd Mainzer Frühneuhochdeutschkorpus REA Referenzkorpus Altdeutsch REM Referenzkorpus Mittelhochdeutsch <?page no="339"?> 339 Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis 1 Software IMS Stuttgart (o. J.). Corpus Workbench. http: / / cwb.sourceforge.net/ index.php. R Core Team (2017). R. A language and environment for statistical computing. 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Diphthongierung, fnhd. 105 Diphthongwandel, ahd. 94 Diphthongwandel, fnhd. 105 Distributionale Semantik 259 duality of patterning 111 EEigennamen 80, 122, 157, 186 ff., 203, 227, 299, 304, 320, 364, 373 Personennamen 187, 228 Entlehnung 23, 36, 161, 240-244 Epistemisches weil 281 Ersatzdehnung. Siehe-Nasalschwund und Ersatzdehnung im Wg. Exklamativsätze 291, 295 f. FFace (Brown & Levinson) 276 Falsifikationismus 29 f. Flexion 22 Fluchen 266 ff., 356, 363 Fragebogenstudie 72, 75, 188 Frühneuhochdeutsch 104 GGemination 92 Genitivstellung 185 f., 188, 201, 205, 207, 210 f. Glottisverschlusslaut, Aufkommen des 100 Grammatikalisierung 195, 197, 247, 278, 283, 285, 349, 352 f., 361, 370 Grammatischer Wechsel 120 Graphematik 23 Graphie 137 H <?page no="374"?> 374 Index Hapax Legomenon 170-174, 176 ff., 195 f. Hebung e>i vor Nasal+Konsonant im Wg. 91 Hebung, wg. 126 Holismus 25 Homographie 137 Homonymie 103 Homophonie 137 Hypothese 32 IIndexikalisierung 323 Infinitivnominalisierung. Siehe-Nominalisierter Infinitiv Invisible-hand-Theorie. Siehe-Unsichtbare Hand Isoglosse 123 i-Umlaut, ahd. 127 JJespersen-Zyklus 104 KKasusnivellierung 107 Kasussynkretismus 98 Kettenwirkungen. Siehe-Schub- und Sogwirkungen Klammer. Siehe-Klammerndes Verfahren Klammerndes Verfahren 98, 104, 190 ff., 218 Kognat 36 Kollostruktionsanalyse 221-224, 226, 228 f., 291 f. Komparative Methode 34, 111 komplexes adaptives System, Sprache als 27 Konnotation 246 Konsonantengemination, wg. 92 Kontiguität 250 Konversationelle Implikatur 265 Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit 286 Kürzung, fnhd. 106 L Lautgesetz 111 Lautverschiebung, erste 89, 117, 119 Lautverschiebung, zweite 94, 121, 124 Lautwandel, kombinatorischer 134 Lehnwort 36, 44, 89, 177, 242 f., 345 Levenshtein-Distanz 316 ff., 320 Lexik 23 Lexikalisierung 153, 162, 241 Lexikon 240 MMaskulina, schwache 150 f. Metapher 251 f. Metonymie 249 ff. Minimalpaar 100 Modularismus 24 Monophthongierung, ahd. 94 Monophthongierung, fnhd. 105 Morphologie 22 NNasalschwund und Ersatzdehnung im Wg. 92 Negationswandel 104 Neutralisation im Auslaut. Siehe-Auslautverhärtung n-Gramme 256 f., 289-292, 296, 325 Nominalflexion Maskulina, schwache 107 Nominalisierter Infinitiv 162, 167 Nominalklammer 190 f., 324, 366 Nullhypothese 31 Numerusprofilierung 107 f. OOccam’s razor 33, 138 Ockhams Rasiermesser. Siehe-Occam’s razor Onomasiologie 255 PPalatalisierung von [s] zu [ ʃ ] im Fnhd. 106 Parallel- und Wechselflexion 324 <?page no="375"?> 375 Index Phonem 111 Phonemspaltung 95 f. Phonetik 22 Phonologie 22 Polysemie 250 POS-Tagging 201 Präteritaler Numerusausgleich 108, 136, 143-146 Präteritumschwund 109 Precision 205, 207 prefabs 289 Primärberührungseffekt 90, 92 Primärumlaut. Siehe-i-Umlaut, ahd. Produktivität 133, 156, 159, 166-172, 174, 176 ff., 182, 267, 349, 368 potentielle Produktivität 172 f., 178 Protosprache 34 Prototypentheorie 148 f. RRecall 205 Rechtschreibreform 299, 301, 306, 311, 344 Rechtschreibung 300, 310 f., 350, 353, 361 f., 365 ff. Reduktion der unbetonten Nebensilben 97, 99, 102, 107 Reguläre Ausdrücke 51, 65, 202, 224 Relevanz (Bybee) 145 Rheinischer Fächer 123 Rhotazismus, wg. 91, 120 Rückbildung 159 Rückumlaut 102, 108 SSchub- und Sogwirkungen 95, 119, 125 schwache Substantivdeklination. Siehe-Substantiv, Flexionsklassen schwache Verben, Entstehung 90 Sekundärumlaut 127 Datierung 128 f., 137 Semantik 23 Semantische Prosodie 228 Semasiologie 255 Senkung, wg. 126 Spirantenschwächung 121 f. Sprachfamilie 34 Sprachgebrauchsmuster 289 ff., 296, 346 Sprachtabu 247, 268 Sprechakt 294 Störvariable 236 Subjektivierung 283 Subjektpronomen, Obligatorizität 97 Substantiv Flexionsklassen 148 Substantivgroßschreibung 79 f., 244, 299, 301, 303 f., 312 f., 344, 353 Swadesh-Listen 41 Synkope 106 Synonymenvermeidung 242 Syntaktische Funktionen 183 syntaktische Kategorien 183 Syntax 22 UUmlaut 126, 137 Morphologisierung 130 f. Phonologisierung 130 Pluralumlaut 107, 133 ung-Nominalisierung 153 ff., 160 ff., 164, 166, 171 f., 176-179, 349 Unsichtbare Hand 28 Urheimat 87 VVentus-Wind-Gesetz. Siehe-Hebung e>i vor Nasal+Konsonant im Wg. Verbklassen, ahd. 102 ēn -Verben 102 jan-Verben 102, 108 ōn -Verben 102 Vernersches Gesetz 89, 120 W <?page no="376"?> 376 Index werden-Futur 282 f. werden-Futur, Herausbildung des 109 Westgermanisch 91 Westgermanische Hebung. Siehe- Hebung, wg. Westgermanische Konsonantengemination. Siehe-Konsonantengemination, wg. Westgermanischer Rhotazismus. Siehe-Rhotazismus, wg. Westgermanische Senkung. Siehe- Senkung, wg. wissenschaftliche Methode 29, 325 Wortbildung 22 Wortbildungsbeschränkungen 154 ff., 161 Wortformen 90 Wortstellung 98 ZZweifelsfall, sprachlicher 133, 323 <?page no="377"?> ,! 7ID8C5-ceicdj! ISBN 978-3-8252-4823-9 Stefan Hartmann Deutsche Sprachgeschichte Grundzüge und Methoden Sprache ist nichts Statisches, sondern in stetem Wandel begriffen. Um zu verstehen, wie die deutsche Sprache wurde, was sie ist, muss man sich daher mit ihrer Geschichte auseinandersetzen. Diese Einführung bietet einen umfassenden, verständlichen und zeitgemäßen Überblick über die Geschichte der deutschen Sprache. Zugleich gibt sie Studierenden und Lehrenden zahlreiche Methoden an die Hand, selbst historische Sprachwissenschaft zu betreiben. Von der klassischen komparativen Methode über Korpuslinguistik bis hin zu quantitativen Methoden der Datenanalyse wird das Methodenrepertoire der aktuellen germanistischen Sprachgeschichtsforschung kompakt und verständlich dargestellt. Zahlreiche Beispiele und Übungsaufgaben sowie umfangreiches digitales Begleitmaterial machen das Buch zu einem idealen Begleiter in Studium und Lehre. Sprachwissenschaft Deutsche Sprachgeschichte Hartmann Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 48239 Hartmann_M-4823+.indd 1 23.01.18 09: 48