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Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten

1113
2017
978-3-8385-4829-6
978-3-8252-4829-1
UTB 
Matthias Luserke-Jaqui

Das Buch führt in zentrale Fragestellungen der Epochen der deutschen Literaturgeschichte seit Beginn des Buchdrucks am Beispiel von 10 repräsentativen Texten ein. Die 10 behutsam geführten Schritte, die überschaubar und zügig zu lernen sind, vermitteln Wissenskompetenz (literaturgeschichtliches Wissen) ebenso wie Deutungskompetenz (Interpretieren historischer literarischer Texte). Das Konzept eignet sich daher ebenso zur Einführung ins Studium wie zur Examensvorbereitung.

<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-ceicjb! ISBN 978-3-8252-4829-1 Matthias Luserke-Jaqui Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten Das Buch führt in zentrale Fragestellungen der Epochen der deutschen Literaturgeschichte seit Beginn des Buchdrucks am Beispiel von 10 repräsentativen Texten ein. Die 10 behutsam geführten Schritte, die überschaubar und zügig zu lernen sind, vermitteln Wissenskompetenz (literaturgeschichtliches Wissen) ebenso wie Deutungskompetenz (Interpretieren historischer literarischer Texte). Das Konzept eignet sich daher ebenso zur Einführung ins Studium wie zur Examensvorbereitung. Literaturwissenschaft Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten Luserke-Jaqui Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 48291 Luserke-Jaqui_M-4829.indd 1 09.10.17 13: 13 <?page no="2"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 0000 UTB (M) Impressum_17.indd 1 08.11.16 14: 37 U T B 4 8 2 9 <?page no="3"?> Matthias Luserke-Jaqui ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der TU Darmstadt und hat bei utb bereits die Bücher Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft (utb 2309), Eduard Mörike (utb 2530) und Friedrich Schiller (utb 2595) veröffentlicht. <?page no="4"?> Matthias Luserke-Jaqui Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten A. Francke Verlag Tübingen <?page no="5"?> Umschlagabbildung: © photogl / shutterstock.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany utb-Nr. 4829 ISBN 978-3-8252-4829-1 <?page no="6"?> 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert Frühe Neuzeit: Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) . . . . . . . 21 2. Schritt - 17. Jahrhundert Barock: Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3. Schritt - 18. Jahrhundert Aufklärung: Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4. Schritt - 18. Jahrhundert Sturm und Drang: Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5. Schritt - 18. Jahrhundert Frühromantik: Friedrich Schlegel Lucinde (1799) . . . . . . . . . . . 105 6. Schritt - 19. Jahrhundert Weimarer Klassik: Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 7. Schritt - 19. Jahrhundert Biedermeierzeit: Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 8. Schritt - 19. Jahrhundert R ealismus: Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) . . . . . . . . . . . . 171 9. Schritt - 20. Jahrhundert Klassische Moderne: Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 <?page no="7"?> 6 Inhalt 10. Schritt - 20. Jahrhundert Moderne: Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) . . . . . . . . . . 221 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 <?page no="8"?> Vorwort Diese Einführung in die Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten ist aus der langjährigen Arbeit mit Studierenden in Vorlesungen, Seminaren und Prüfungsvorbereitungen entstanden. Das Buch will drängende Fragen aufgreifen, die sich zum Beginn des Studiums stellen und die auch am Ende kurz vor dem Examen plötzlich wieder auftauchen können. Die Texte haben sich in der praktischen Arbeit immer wieder als Generaleinführungen in Epochenzusammenhänge bewährt. Dass sich die deutsche Literaturgeschichte selbstverständlich nicht in den gewählten Textbeispielen erschöpft und dass sich ebenso selbstverständlich auch ein anderer ‚Bauplan‘ zeichnen ließe, mag heutigentags ein notwendiger Hinweis sein. Am Ende des Buches findet sich eine kleine Empfehlung (keine Rezeptur) für zwei weitere Durchgänge durch die deutsche Literaturgeschichte, die sich jede Leserin und jeder Leser eigenverantwortlich aneignen kann. Dieser Literaturgeschichte liegt als konzeptueller Rahmen die Idee zugrunde, dass ein mehrmaliger Durchgang durch die deutsche Literaturgeschichte jenes Verständnis (und Wissen) generiert, das für ein erfolgreiches Studium unabdingbar ist. Die Literaturgeschichte soll nicht mehr fortlaufend, gewissermaßen seriell erarbeitet werden, sondern in wiederholten Anläufen, die historisch stets vom Beginn des Buchdrucks (mit Ausnahme des zweiten Durchgangs) bis zur Gegenwart ausgreifen. Jeder weitere Durchgang kann das bereits vorhandene Grundwissen festigen und ausbauen. Das ist Literaturgeschichte in Gestalt einer Helix, jede weitere Drehung um den Kern schraubt das Wissen der Studierenden auf einen höheren Kenntnisstand. Dieses Buch ist zunächst eine Einführung in die Neuere deutsche Literaturgeschichte. Das betrifft also den Zeitraum vom Beginn des Buchdrucks bis in die Gegenwart. Eine eigene Einführung in die mediävistische Literatur enthält das Buch nicht, hier wird summarisch auf die entsprechenden Lehrwerke der Mediävistik oder auf den zweiten, eigenständigen Durchgang (s. Anhang) hingewiesen. Mein herzlicher Dank für die Vorbereitung und Druckbegleitung dieses Buchs gilt meinen Mitarbeiterinnen Laura Löbig, Eva Mengler und Lisa Wille, M. A., sowie den Inklusionskräften Tommi Fuhrmann und Nadja Willy. Dr. Grit Dommes (Berlin) hat eine wertvolle Außenkorrektur geleistet und die Register erstellt. Ihnen allen bin ich für ihre Mithilfe und ihre Wertschätzung sehr verbunden! Darmstadt / Kusel, 1. März 2017 <?page no="10"?> Einleitung Dieses Buch ist eine Einführung in die Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten. Es wendet sich an Studienanfänger der Neueren deutschen Literaturwissenschaft oder Germanistik und an Studierende, die kurz vor dem Examen nochmals wesentliche Aspekte wiederholen und zusammenfassen wollen. Gleichzeitig ist das Buch durchaus auch geeignet, neugierige Leser und Leserinnen an die Frage heranzuführen, wie sich ein erster Überblick über die deutsche Literaturgeschichte gestalten könnte. Im Vordergrund steht die Absicht, diesen ersten Überblick über ein undurchdringbar scheinendes Dickicht der Literaturgeschichte zu bewältigen. Dabei liegt es auf der Hand, dass dies nur ein Anfang sein kann und weitere Durchgänge durchaus sinnvoll sind und geboten scheinen. Deshalb finden sich auch am Ende dieses Buchs die Lektüreempfehlungen für zwei weitere Durchgänge durch die Literaturgeschichte. Natürlich ist mir bewusst, dass man jeden Durchgang durch die Literaturgeschichte auch mit einer anderen Textauswahl überzeugend begründen kann, denn eine solche Reihung ist nicht nur mit diesen Texten möglich. Selbstverständlich könnten auch andere exemplarische Texte gewählt werden, doch ich habe mich aus gutem Grund für diese entschieden. Aus ihnen lassen sich, nach meiner Erfahrung und langjährigen Arbeit mit Studierenden, die Fülle und Besonderheiten der deutschen Literaturgeschichte anschaulich ableiten. Zusätzlich finden sich am Ende eines jeden literaturgeschichtlichen Schritts weitere Lektüreempfehlungen. Diese ersetzen natürlich keine Literaturgeschichte in Buchform. Ihre Intention ist es, in einem ersten Zugriff für das literaturgeschichtliche Studium wichtige Autoren und Texte zu benennen, um sie dem Selbststudium zu empfehlen. Entscheidend ist für dieses Buch, dass es sich bei der Textauswahl an folgenden Leitkriterien orientiert: Was sagen die ausgesuchten Werke über die jeweilige literaturgeschichtliche Epoche oder Strömung (Periode)? Und was sagen die ausgesuchten Texte über den jeweiligen Autor oder die jeweilige Autorin? Als Einführung in die deutsche Literaturgeschichte vermeidet dieses Buch jegliche Faktenhuberei, es produziert keine Datenmüllhalden und huldigt keinem Namedropping. Der Schlüsselbund, an dem diese Schlüsseltexte der deutschen Literaturgeschichte aufgehängt sind, besteht aus Themen, die in je unterschiedlicher Gewichtung in nahezu allen diesen Texten wiederkehren und sich als zentrale Themen der Literatur erweisen. Das sind hauptsächlich die Reflexionen über Liebe, bürgerliche Ordnung, Individualität, Moral, Gesellschaft, Antibürgerlichkeit, Familie, Utopie. <?page no="11"?> 10 Einleitung Wozu Literatur? Das klassische Diktum „aut delectare aut prodesse“, die Literatur solle erfreuen und nützen, wie es Horaz (65-8 v. Chr.) in seiner Ars poetica formuliert, hat nichts von seiner Aktualität verloren. Mehr denn je gilt, dass Literatur nicht nur einen Nutzen haben, sondern auch Vergnügen bereiten solle. Dagegen ist die Ansicht der Aufklärung, die Aufgabe der Literatur sei es, den Verstand aufzuklären und das Herz zu verbessern, historisch geworden-- zumindest, was die Besserung des Herzens betrifft. Aufklärung in jeder Hinsicht durch Literatur ist weiterhin ein hehres, aber ungebrochen wünschenswertes Ziel vieler Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Die zentrale Frage für ein Germanistikstudium heißt deshalb zunächst nicht „Was ist Literatur? “, sondern „Was will Literatur? “ Um sich einer Antwort auf diese Frage zu nähern, ist es unumgänglich, ausgewählte Texte der Literaturgeschichte einer genauen und das heißt interpretativen Lektüre zu unterziehen. Man lernt also in diesem Buch nicht nur den Rahmen der deutschen Literaturgeschichte kennen, sondern wird auch in die Interpretation von exemplarischen historischen Texten eingeführt. Literaturwissenschaft erfordert das Gespräch über Texte. Wenn nicht mehr dieselben Texte gelesen werden, sind ein Meinungsaustausch oder die Vermittlung literaturgeschichtlichen Wissens oder der Streit um die überzeugendste Deutung und das bessere Argument nicht mehr möglich. Insofern sollte man bei der Diskussion um Sinn oder Unsinn von Leselisten und um die Nachteile sogenannter kanonisierter Literatur stets zugutehalten, dass eine solche Leseliste oder ausgewählte Literatur eine beiden Seiten dienliche Lesegrundlage stiftet. In diesem Sinne kann ein Kanon als minimale Kommunikationsgrundlage verstanden werden. Die zehn Schritte, die in diesem Buch vorgeschlagen werden, beziehen sich auf die Literatur des 15./ 16. Jahrhunderts (1. Schritt: Frühe Neuzeit), des 17. Jahrhunderts (2. Schritt: Barock), des 18. Jahrhunderts (3. Schritt: Aufklärung, 4. Schritt: Sturm und Drang, 5. Schritt: Frühromantik), des 19. Jahrhunderts (6. Schritt: Weimarer Klassik, 7. Schritt: Biedermeierzeit, 8. Schritt: Realismus) und des 20. Jahrhunderts (9. Schritt: Klassische Moderne, 10. Schritt: Moderne). Die ausgewählten Texte und Themen sind in der Lage, ein sinnvolles literaturgeschichtliches Gespräch zu garantieren und Prüfungswissen zu generieren. Der Wahlspruch der Aufklärung: sapere aude- - habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen-- muss heutzutage variiert werden, denn für das Studium wie für das Leben mag nun gelten: legere aude-- habe Mut zu lesen. In diesem Sinne: nur Mut! <?page no="12"?> 11 Einleitung Wozu Literaturgeschichte? Eine Antwort auf den Spuren Schillers Der Dichter, Historiker, Essayist, Philosoph und Dramatiker Friedrich Schiller (1759-1805) hält am 26. und 27. Mai 1789 an der Universität Jena seine Antrittsvorlesung, womit er seine Tätigkeit als Professor der Geschichte aufnimmt. Das Thema dieser Vorlesung lautet: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Unter Universalgeschichte versteht Schiller eine allgemeine Menschheitsgeschichte. Nur wenige ahnen, dass dieser Menschheit in Europa grundlegende gesellschaftliche und politische Änderungen bevorstehen, die nur zwei Monate später durch die Französische Revolution ausgelöst werden. Der Sturm auf die Bastille erfolgt bekanntlich am 14. Juli 1789. Schiller befasst sich mit der Frage, wie die Beschäftigung mit Geschichte wissenschaftlich begründet und gelehrt werden kann und welche Aufgaben für die Erforschung von Geschichte daraus resultieren können. Es geht ihm also um zwei Aspekte, nämlich um die Geschichte und um die Geschichtsforschung. Zu Beginn meiner Einführung in die Literaturgeschichte möchte ich auf Schillers Anliegen in seiner Jenaer Antrittsvorlesung zurückgreifen. Allerdings soll der Term Geschichte etwas variiert werden. Ich werde nämlich im Folgenden Schillers eigene Begriffe von Geschichte und Universalgeschichte durch das Wort Literaturgeschichte ersetzen. Damit erzeuge ich einen fiktiven Dialog zwischen Schillers Text und uns heutigen Lesern und gewinne auf diese Weise eine fiktive Antwort von Friedrich Schiller auf die sehr reale Frage: Was ist Literaturgeschichte? Das schließt die etwas weiterführende Frage mit ein, weshalb wir uns heute am Beginn des 21. Jahrhunderts überhaupt mit Literaturgeschichte beschäftigen sollen? Und weshalb Literaturgeschichte studieren? Schiller appelliert an seine Studenten und an uns heutige Leser: Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Literaturgeschichte nicht etwas wichtiges zu sagen hätte; alle noch so verschiedenen Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüpfen sich irgendwo mit derselben; aber Eine Bestimmung teilen Sie alle auf gleiche Weise mit einander, diejenige, welche Sie auf die Welt mitbrachten-- sich als Menschen auszubilden-- und zu dem Menschen eben redet die Literaturgeschichte. Die Literaturgeschichte redet also nicht zu Büchern, sondern zu Menschen. Sie befasst sich mit der kulturellen Entwicklung des Menschen, mit den Problemen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Überlieferung, indem sie über Bücher spricht. Literaturgeschichte erklärt uns die Geschichtlichkeit der Gegenwart durch die Gegenwärtigkeit der Geschichte. (Zitat, Paraphrase und Collage nach Schiller: Frankfurter Ausgabe Bd. 6, S. 411-431, hier S. 412 ff.) <?page no="13"?> 12 Einleitung Am Ende seiner Rede steht bei Schiller der Appell an die Zuhörer: „Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet-- etwas dazu steuern können Sie alle! “ (Ebd., S. 431) Aus diesen Worten können wir das Wissen ableiten, dass die Frage ‚Warum Literaturgeschichte? ‘ stets auch die unausgesprochene Frage ‚Wozu Literatur? ‘ impliziert. Schiller antwortet auf diese Frage Jahre später mit einer Gegenfrage. Sein Xenion-- das ist ein meist knapper, im Versmaß des Daktylus verfasster Zweizeiler-- bringt dies präzise auf den Punkt: Wozu nützt denn die ganze Erdichtung? Ich will es dir sagen Leser sagst du mir erst, wozu die Wirklichkeit nützt. (Schiller: Frankfurter Ausgabe Bd. 1, S. 712) Literaturgeschichtliche Grundkenntnisse sind unverzichtbar, um Literaturwissenschaft studieren und historische Entwicklungen und Zusammenhänge erkennen und deuten zu können. Allerdings sollte man den Begriff der Geschichte nicht zu knapp fassen. Literaturgeschichte studieren heißt auch, sich im Selbststudium mit der Gegenwartsliteratur zu beschäftigen, obwohl keineswegs klar ist, welchen Texten einmal Dauer beschieden ist und welche immer wieder gelesen und interpretiert werden, welche Texte die meiste Kraft aufbringen, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen und so eine Epochensignatur aufweisen können (zum Nachfolgenden vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 2., überarbeitete u. ergänzte Aufl. Göttingen 2007 [utb 2309]). Schiller hat einen sehr kritischen Blick auf den Umgang mit der Literaturgeschichte seines Weimarer Klassikerkollegen Johann Gottfried Herder (1744-1803), der sich als einer der Ersten überhaupt mit den Fragen einer Literaturgeschichtsschreibung befasst. Schiller ist Herders Verfahren aber nicht geheuer. In einem Brief an Goethe vom 20. März 1801 übt er scharfe Kritik und spricht vom „erbärmliche[n] Hervorklauben der frühern und abgelebten Litteratur, um nur die Gegenwart zu ignorieren oder hämische Vergleichungen anzustellen! “ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 31, S. 20). Wenn wir den fiktiven Dialog fortsetzen wollen, kann uns das heute zu der grundsätzlichen Infragestellung führen, ob Literaturgeschichte zu lehren und zu lernen immer das Geschäft einer ‚hämischen Vergleichung‘ sein muss. Drei Basisfragen sollen uns dabei helfen, nicht hämisch zu vergleichen, sondern einen Kompass zu finden, mit dem wir das unübersichtliche Terrain der Literaturgeschichte sicher beschreiten können. Literaturgeschichte zu ver- <?page no="14"?> 13 Einleitung stehen bedeutet, bei jeder Lektüre diese drei grundlegenden Fragen an die Texte zu stellen. Die erste Frage heißt: Welche Bedeutung und welche Wirkung hatte der einzelne Text in seiner Zeit? Dies ist die Frage nach dem zeitgenössischen Stellenwert eines Textes. Die zweite Frage lautet: Welche Bedeutung und welche Wirkung hatte der Text in der Geschichte? Dies ist die Frage nach dem rezeptionsgeschichtlichen Stellenwert eines Textes. Und schließlich die dritte Frage: Welche Bedeutung und welche Wirkung hat der Text für uns heute? Dies ist die Frage nach dem aktuellen Stellenwert eines Textes. Wenn man Literaturgeschichte als den Ausdruck von historischen Entwicklungen begreifen will, müssen diese drei Basisfragen an die Texte gerichtet werden. Die Gewichtung der Fragen kann sich natürlich je nach den historischen, gesellschaftlichen, politischen oder individuellen Erkenntnisinteressen verschieben und je nach den unterschiedlich formulierten Ansprüchen an Literatur und Literaturgeschichte natürlich auch ändern. Was für uns heute historische Bedeutung erlangt, mag morgen schon nebensächlich geworden sein. Deshalb sollte man sich stets klar machen, es gibt keine Universalgeschichte der Literatur. Literaturgeschichte ist immer auch eine Geschichte von Bewertungen. Alle drei Basisfragen verfolgen je unterschiedliche historische und gegenwartsbezogene Interessen. Eine Literaturgeschichte, die auswählend versucht, eine provisorische Karte der literaturgeschichtlichen Topographie zu erstellen, also einen gangbaren Weg durch ungangbar scheinendes Gelände anzulegen, orientiert sich an der Maßgabe der dritten Fragestellung: Welche Bedeutung haben historische Texte für uns heute (noch)? Mit einer Europakarte kann man aber nicht wandern und mit einer Wanderkarte nicht Europa bereisen. Mit einem Kompass in der Hand lässt sich freilich beides tun. Diesen Kompass zu finden und den sicheren und souveränen Umgang mit ihm auszubilden, ist Ziel des Studiums der Literaturgeschichte. Kategorien des Textverstehens Literaturgeschichte zu studieren heißt also, nach der Geschichte in der Gegenwart und der Gegenwärtigkeit von Geschichte zu fragen. Die Geschichte der deutschen Literatur zu verstehen bedeutet auch, die Geschichtlichkeit von Texten zu verstehen, also die Bedingungen der Entstehungsgeschichte, der Verbreitungsgeschichte und der Rezeptionsgeschichte eines Textes in der Deutungsarbeit mit zu berücksichtigen. Diese klassische sozialgeschichtliche Trias der Produktion, der Distribution und der Rezeption eines Textes ist ent- <?page no="15"?> 14 Einleitung scheidend zu ergänzen durch eine vierte, kulturgeschichtliche Kategorie, die Transformation von Literatur. Diese vier Kategorien bedingen unser Textverstehen. Produktion, Distribution, Rezeption und Transformation eines Textes kennzeichnen die Bedingungen, unter denen ein Text beschrieben und gedeutet wird. Dringend zu empfehlen ist dabei die wiederholende Lektüre historischer Texte, stets aufs Neue sollte ein Gesamtdurchgang durch die Literaturgeschichte versucht werden, mit jeweils anderen, neuen Leitfragen und mit anderen Texten und möglicherweise auch mit anderen Erkenntnisinteressen. Jede der drei oben genannten Basisfragen nach dem zeitgenössischen, dem rezeptionsgeschichtlichen und dem aktuellen Stellenwert eines Textes sollte also immer kombiniert werden mit den Fragestellungen einer sozial- und kulturgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft der Produktion, Distribution, Rezeption und Transformation von Literatur. Die Produktion betrifft die Entstehungsgeschichte eines Textes und die individuelle Geschichte des Autors sowie die gesellschaftlichen, politischen, religiösen, sprachlichen, ideologischen Bedingungen und Besonderheiten von Geschichtlichkeit. Biographisches kann dabei ebenso eine Rolle spielen wie ästhetikgeschichtliche Faktoren, etwa die Frage, welche Gattung gerade modern oder verpönt ist. Die Distribution betrifft die Verbreitung von Literatur, die Buchhandelsgeschichte und Bibliotheksgeschichte ebenso wie die Lesergeschichte und die Literaturkritik. Dabei interessieren die Fragen: Wie wird in welcher Form wann über welche Literatur gesprochen? Wird die Literatur gedruckt oder handschriftlich oder mündlich verbreitet? Film, Fernsehen, mediale Präsentationsformen von Literatur und Literaturkritik entscheiden mit über den Kauf und die Bewertung von Literatur. Die Rezeption betrifft die Frage nach den Aufnahmebedingungen von Literatur wie etwa: Wer konnte überhaupt lesen (Alphabetisierung der Bevölkerung), wer durfte welchen Text lesen (Zensurgeschichte), welche Texte wurden an welchem Ort rezipiert (stille, meditative Lektüre oder öffentliche Rezeption wie im Theater)? Die Transformation schließlich betrifft den Medienwechsel, beispielsweise von der Oralität (Mündlichkeit) zur Schriftlichkeit (Literalität) oder von der Schrift zu anderen Zeichensystemen wie Film, Fernsehen, Theater, Internet. Der für die Literaturwissenschaft zentrale Begriff der Fiktionalität wird hier ergänzt durch denjenigen der Virtualität. Die Transformation von Literatur bezieht sich also sowohl auf die Umwandlung der Materialität der Zeichen (beispielsweise von der Materialität der Druckzeichen in die Materialität von Bildzeichen) als auch auf die Umwandlung des kulturell bedingten Umgangs mit Literatur (also die <?page no="16"?> 15 Einleitung kulturell bedingte Umwandlung von Praktiken, Techniken und Strategien im Umgang mit Literatur). Die Transformation betrifft die Einschreibung von Literatur in ein anderes Zeichensystem, das textlich oder nicht-textlich sein kann. Epochen und Perioden der Literaturgeschichte Sind diese systematischen Voraussetzungen reflektiert, gelangen wir sehr schnell zur Frage nach der Periodisierung und Epochisierung von Literatur. Das ist ein zentrales Thema der Literaturgeschichtsschreibung, dessen Zentrum die Frage ergründen will, wann eine bestimmte literaturgeschichtliche Periode oder Epoche beginnt und wann sie endet. In dieser Fragestellung entfaltet sich der heuristische, also behelfsmäßige Unterschied zwischen der Makrostruktur und der Mikrostruktur von Literaturgeschichte. Diese begriffliche Differenzierung erlaubt es, die historische Gleichzeitigkeit von inhaltlich Ungleichzeitigem zu bewahren und nicht eine falsche Epochenabfolge zu rekonstruieren. Man kann unterscheiden zwischen der historischen Großkategorie der Epoche, die stets etwas Großräumiges meint, und der Kleinkategorie der Periode, die Teil der Epoche ist, Epochenmerkmale erst eigentlich hervortreibt, sie aber auch umkehrt, kritisiert, parodiert oder gar beseitigt. So gesehen kann man von sechs literaturgeschichtlichen Epochen im Sinne von historischen Makrostrukturen innerhalb der deutschen Literaturgeschichte sprechen: 1. Mittelalter (handschriftliche Überlieferungen bis zum Buchdruck) 2. Frühe Neuzeit (vom Beginn des Buchdrucks ca. 1450 bis ca. 1600 / 1624) 3. Barock (ca. 1600 / 1624 bis ca. 1720 / 30) 4. Aufklärung (ca. 1720 / 30 bis ca. 1800) 5. 19. Jahrhundert (1800-1900) 6. Moderne (1900 bis Gegenwart) Als literaturgeschichtliche Perioden erscheinen dann beispielsweise Frühbarock, Spätbarock, Frühaufklärung, Sturm und Drang, Spätaufklärung, Weimarer Klassik, Frühromantik, Vormärz, Junges Deutschland, Biedermeierzeit, Realismus, Naturalismus, klassische Moderne, Dadaismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Postmoderne usw. Epochenbegriffe sind fragwürdig, sofern man von ihnen eine objektive Dauer und Gültigkeit ableiten will. Sie sind aber dann hilfreich, wenn sie tatsächlich dazu dienen, Literaturgeschichte zu strukturieren und Entwicklungslinien zu erkennen. Das heißt, jede Epochisierung und Periodisierung ist anfechtbar und <?page no="17"?> 16 Einleitung zu jedem Argument für dieses Modell gibt es mindestens ein Gegenargument. Vergleicht man aber verschiedene Literaturgeschichten miteinander, dann zeigt sich, dass die Unterschiede oft nicht so fundamental sind. Die Differenzen liegen meistens in der Festlegung auf präzise Anfangsdaten und Endpunkte. Um ein Beispiel zu nennen: Wann die Periode des Realismus in der Epoche 19. Jahrhundert endet, ob dies das Jahr 1900 ist oder das Jahr 1896 oder früher, ist strittig. Aber niemand käme auf die verwegene Idee zu behaupten, dass die literaturgeschichtliche Periode des Realismus die Literatur vor 1800 meine. Textauswahl Damit sind wir bei der drängenden Frage nach einer entsprechenden Textauswahl, die das gesamte literaturgeschichtliche Studium begleitet. Dabei geht man der Frage nach, welche Texte als repräsentativ für eine historische Epoche oder für eine Periode angesehen werden. Man fragt nach den Kriterien, nach denen diese Texte ausgewählt werden, wer sie auswählt und welche Rolle dabei etwa Bildungskonventionen spielen. Das berührt zentral das Problem der Kanonisierung von Literatur, also das Thema eines verbindlichen Lektürebestandes. Dabei ist auf die Auswahl von Texten der sogenannten Höhenkammliteratur zu achten, also jener Literatur, die durch Bildung, Werbung, durch kulturelle und historische Prozesse als normbildend für andere Texte und Autoren anerkannt wurde. Als Gegenbegriff gilt die Trivialliteratur und Gebrauchsliteratur. Literaturgeschichtsschreibung Die Theorie einer Literaturgeschichtsschreibung klärt, welchem Theoriemodell eine Literaturgeschichte der deutschen Literatur folgt und welche Erkenntnisinteressen der literaturgeschichtlichen Darstellung zugrunde liegen. Sie kann beispielsweise linear-progressiv sein oder statistisch-quantifizierend oder soziologisch oder positivistisch oder hermeneutisch. Ein sozial- und psychohistorisches Modell ist zum Beispiel bemüht, die Geschichte des Buchmarkts und der Alphabetisierung der Bevölkerung in einem bestimmten Zeitraum in einer Sozialgeschichte der Literatur und die allgemeinen kulturgeschichtlichen Faktoren wie Bedingungen, Einflüsse, Hervorbringungen von Literatur zu berücksichtigen. Die Auswahl der Texte, die Bewertung ihrer historischen Bedeutung sowie die Vernetzungsstruktur- - also die Verbindung mit synchronen und diachronen Themen, Motiven, Personen, Werken-- fallen je nach <?page no="18"?> 17 Einleitung zugrunde liegendem Theoriemodell der literaturgeschichtlichen Darstellung unterschiedlich aus. Reflektiert man die Grundlagen der Literaturgeschichte, dann denkt man auch über Fragen der Literaturgeschichtsschreibung nach, also jener Disziplin, die klären will, wie man Literaturgeschichte darstellen kann. Der große Autor der literarischen Moderne Franz Kafka (1883-1924) notiert einmal in sein Tagebuch: „Die Literaturgeschichte bietet einen unveränderlichen vertrauenswürdigen Block dar, dem der Tagesgeschmack nur wenig schaden kann“ (Franz Kafka: Gesammelte Werke. Hgg. v. Max Brod: Tagebücher 1910-1923. Frankfurt a. M. 1983, S. 152). Heute müssen wir bezweifeln, ob eine solche Aussage tatsächlich Dauer hat, denn die Schwankungen auf der Rezipientenseite, was also gelesen wird und was immer wieder gelesen wird und was schließlich Eingang in einen wie auch immer gearteten Literaturkanon findet-- diese Schwankungen sind abhängig von Geschmacksfragen und dem Verhalten der Kulturindustrie. Die Literaturgeschichtsschreibung ist ein virtueller Raum, der sich auch fortwährend verändert. Wir bewegen uns darin in dem Wissen, dass Anordnungen und Beobachtungen, Lesarten und Interpretationen auch durchaus anders ausfallen können. Und ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik zeigt, dass je nach Methodendiskussion, je nach individuellen und politischen Maßstäben, die Deutungen desselben Textes in den vergangenen 150 Jahren höchst unterschiedlich ausgefallen sind. Die folgenden Leitfragen geben Kriterien an die Hand, mit deren Hilfe die Texte der Literaturgeschichte auf ihren historischen und ihren aktuellen Aussagewert hin befragt werden können. Die Bedeutung eines Textes oder eines Autors oder eines Themas der Literaturgeschichte lässt sich über diese vier Kriterien definieren: 1. Die Innovationsfähigkeit. Ein Text / Autor / Thema kann in formaler und ästhetischer Hinsicht innovativ sein, insofern er / es formale und ästhetische Entwicklungen in Gang setzt oder entscheidend vorantreibt oder sich auffällig vom herrschenden Zeitgeschmack absetzt. Die Innovationsfähigkeit eines Textes kann aber auch auf der thematischen Ebene zu finden sein, indem der Autor ein Thema aufgreift, das bis dahin nicht als literaturfähig galt, indem er also mit thematischen und formalen Konventionen bricht. Die Innovationsfähigkeit eines Textes ist insgesamt gekennzeichnet durch den Normverstoß gegen tradierte produktions- und rezeptionsästhetische Erwartungsmuster. <?page no="19"?> 18 Einleitung 2. Der Dokumentarcharakter. Ein Text / Autor / Thema kann auch eine wichtige Entwicklung innerhalb des gesellschaftlichen-historischen Prozesses dokumentieren. Dies können politische, gesellschaftliche, religiöse, mentalitätsgeschichtliche, ästhetische oder kulturelle Entwicklungen sein. 3. Die Individualsignatur eines Textes. Ein Text kann deshalb bedeutend sein, weil er typische Schreibmerkmale seines Verfassers dokumentiert. Diese Individualsignatur ist dann repräsentativ entweder für das Gesamtwerk des Autors oder aber für einen bestimmten Lebens- und Entwicklungsabschnitt. 4. Die Epochensignatur. Ein Text / Autor / Thema kann typische Epochen- und Periodenmerkmale tragen (etwa eine barocke Schreibweise oder eine typisch romantische oder typisch expressionistische etc.). Damit ist er repräsentativ für einen bestimmten Zeitabschnitt der Literaturgeschichte. Viele Modelle der Literaturgeschichtsschreibung verfolgen mehr oder weniger offen ein teleologisches Selbstverständnis, das bedeutet, dass nach dieser Auffassung die Entwicklung der deutschen Literatur auf einen bestimmten Punkt hin zuläuft, also auf ein Ziel hin ausgerichtet ist, und in einem Werk, einem Autor oder einer Epoche ihren krönenden Abschluss findet. Diese Art von literaturgeschichtlicher Teleologie findet sich vor allem in der ältesten und in der auch am meisten verbreiteten Form einer literaturgeschichtlichen Darstellung, das ist die geistesgeschichtliche Literaturgeschichtsschreibung. Danach wird in der Literaturgeschichte die Entwicklungsgeschichte des Geistes erkannt, ein verschwommener Begriff, der demzufolge auch sehr unklar bleibt und in der Regel eine nationalistische Intention miteinschließt. Die materialistische oder marxistische Literaturgeschichtsschreibung hingegen wertet, entsprechend der marxistischen Gesellschaftstheorie, die Literaturgeschichte als ein Dokument der Geschichte des Klassenkampfes zwischen dem Proletariat (oder dessen Vorformen) und der jeweils herrschenden Klasse (Adel, Bourgeoisie). Die sozialgeschichtliche Literaturgeschichtsschreibung bindet die Literaturgeschichte in die Darstellung einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung ein, um damit das geistesgeschichtliche Problem der Loslösung ästhetischer Wandlungen von sozialen Prozessen zu überwinden. Die strukturalistische Literaturgeschichtsschreibung verfolgt zeitlose Strukturen über Epochen, Ländergrenzen und kulturelle Differenzen hinweg. Eine systemtheoretische Literaturgeschichtsschreibung versteht Literatur als ein gesellschaftliches Subsystem mit eigenen Interaktions- und Kommunikationsregeln. Die genderspezifische oder genus- <?page no="20"?> 19 Einleitung theoretische Literaturgeschichtsschreibung verfolgt die Darstellung der historischen Entwicklung einer kulturell, gesellschaftlich und politisch bedingten Differenz zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht. Eine kulturgeschichtliche Literaturgeschichtsschreibung favorisiert einen textualistischen Kulturbegriff, wonach die Literaturgeschichte als eine exemplarische Kulturgeschichte betrachtet wird und die Literatur einen besonderen Text des großen Textes Kultur darstellt. Insgesamt spiegeln also die Themen und Modelle der Literaturgeschichtsschreibung den jeweiligen Stand von Methoden und Theorien in der Literaturwissenschaft wider. Weiterführende Hilfsmittel: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Von Wolfgang Beutin, Klaus Ehlert, Wolfgang Emmerich u. a. 8., aktualisierte u. erweiterte Aufl. Stuttgart 2013. Peter Nusser: Deutsche Literatur. Eine Sozial- und Kulturgeschichte. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Darmstadt 2012. Bd. 2: Vom Barock bis zur Gegenwart. Darmstadt 2012. Geschichte der deutschen Literatur. Hgg. v. Bengt Algot Sørensen. 3., durchgesehene Aufl. 2 Bde. München 2010 / 2012. Peter J. Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom ‚Ackermann‘ zu Günter Grass. 3., überarbeitete u. erweiterte Aufl. Tübingen 2011. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hgg. v. Joachim Heinzle. 3 Bde. 2., durchgesehene Aufl. 1994-2004. Königstein / Ts. 2010. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet v. Helmut de Boor u. Richard Newald. 12 Bde. München 1949-2009. Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung. Hgg. v. Otto F. Best u. Hans-Jürgen Schmitt. Bd. 1-17. Stuttgart 1976-2007. Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hgg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 1-10. Reinbek b. Hamburg 1980-1999. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hgg. v. Rolf Grimminger. 12 Bde. München 1980-1999. Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hgg. v. Viktor Žmegač. Bd. 1-3. Königstein / Ts. 1978-1984. Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begründet v. Wilhelm Kosch. Hgg. v. Heinz Rupp u. Carl Ludwig Lang. 3., völlig neu bearbeitete Aufl. Bern 1999-2017. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. 3. Aufl. München 2011. <?page no="21"?> 20 Einleitung Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hgg. v. Bernd Lutz. 4., aktualisierte u. erweiterte Aufl. Stuttgart, Weimar 2010. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller u. Jan-Dirk Müller hgg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York. Bd. 1 [A-G] 1997, Bd. 2 [H-O] 2000, Bd. 3 [P-Z] 2003 (Nachdruck als Broschurausgabe 2010). Volker Meid: Metzler Literatur Chronik. Werke deutschsprachiger Autoren. 3., erweiterte Aufl. Stuttgart, Weimar 2006. Hansjürgen Blinn: Informationshandbuch Deutsche Literaturwissenschaft. 4., völlig neu bearbeitete u. stark erweiterte Ausgabe. Mit Internetu. CD - ROM -Recherche. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Hgg. v. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 1-8. Stuttgart 1988-1994. Literatur Lexikon. Autoren und Werke in deutscher Sprache. Hgg. v. Walther Killy. 15 Bde. München 1988-1993. <?page no="22"?> 21 Frühe Neuzeit: Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert f rühe n euzeit : Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) Die Zeit vom Beginn des Buchdrucks in den 1450er Jahren bis zum Erscheinen der Deutschen Poeterey von Martin Opitz im Jahre 1624 wird in der Literaturwissenschaft inzwischen als eine durchaus definierbare makrogeschichtliche Einheit gesehen, genannt die Frühe Neuzeit. Um 1450 ist der Einfluss der italienischen Renaissance vorherrschend, vermittelt unter anderem durch Autoren wie Enea Silvio Piccolomini (1405-1464), dem späteren Papst Pius II . Dieser schreibt und veröffentlicht 1444 seine Novelle Euryalus und Lucretia. Darin wird die Liebe auf den ersten Blick als eine große und leidenschaftliche Liebe beschrieben. Dies ist singulär in der Literatur der Frühen Neuzeit. Die Novelle gilt deshalb nicht ohne Grund als eines der bedeutendsten Zeugnisse der Renaissanceliteratur. Bis 1500 erscheinen über 70 verschiedene Ausgaben, darunter auch zahlreiche nationalsprachliche Übersetzungen. Niklas von Wyle (1410-1479) etwa überträgt den Text bereits 1462 ins Deutsche und trägt so maßgeblich zu dessen Bekanntheit bei. Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (1395-1456) übersetzt die ersten Romane aus dem Französischen, die nach 1500 gedruckt werden. Niklas von Wyle, Albrecht von Eyb (1420-1475), der vor allem durch sein Ehebüchlein Ob einem manne sey zunemen ein eelichs weyb oder nicht (1472) bekannt ist, und Heinrich Steinhöwel (1412-1482) legen die ersten Übersetzungen aus dem Lateinischen und dem Italienischen vor. Und schließlich revolutioniert die Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg (um 1400-1468) in Mainz die Literaturgeschichte. In den Jahren 1450 bis 1480 werden vor allem lateinische Bibeln gedruckt, ephemere Schriften, einfache Gebrauchstexte, Grammatiken und Wörterbücher. Nach 1480 beginnt der Druck humanistischer Schriften, und antike Texte werden ediert. Der Begriff Humanismus, der gelegentlich noch zur Kennzeichnung dieser Frühphase des Buchdrucks gebraucht wird, ist erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt worden. Die humanistischen Autoren beschäftigen sich vor allem mit klassisch-antiken und mit christlichen Texten. Die Antike gilt diesen Autoren als rhetorischer, ästhetischer und thematischer Fixpunkt für ihr eigenes Schaffen. Der Begriff der Renaissance, der durchaus <?page no="23"?> 22 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert wörtlich genommen eine Wiedergeburt antiken Geistes in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts meint, konkurriert mit dem Begriff des Humanismus. Die Literatur der Frühen Neuzeit zwischen etwa 1450 und 1600 ist geprägt von der Vielfalt literarischer Formen und ihren Inhalten. In den Kanon der deutschen Literaturgeschichte ist davon nur wenig eingegangen: einige Werke etwa von Hans Sachs (1494-1576), wenige Volkslieder und Kirchenlieder und natürlich die Bibelübersetzung Martin Luthers. Ein weit verbreiteter Irrtum ist es anzunehmen, dass Luther als Erster eine deutschsprachige Bibelübersetzung vorgelegt hätte. In den Jahren 1466 bis 1522, also bis zum Erscheinen der ersten Auflage von Luthers Bibelübersetzung, gibt es bereits 18 andere Bibelübersetzungen bzw. Bibeldrucke, davon 14 in hochdeutscher und 4 in niederdeutscher Sprache. Die entscheidende Frage, die uns die Literatur seit Beginn des Buchdrucks bis zum Ende der Frühen Neuzeit mitgibt, heißt also kurz und präzise: Was ist Literatur? Diese Frage führt uns zurück zum Problem der Kanonisierung von Literatur. Wer entscheidet wann darüber, was als fester Bestandteil eines literaturgeschichtlichen Kanons zu gelten hat? Ferner wirft die Literatur der Frühen Neuzeit die Frage auf, ob sich die heute gängige Unterscheidung zwischen Höhenkammliteratur und Trivialliteratur tatsächlich auch historisch bestätigen lässt. Um diese Fragen sorgfältig diskutieren und beantworten zu können, wäre es notwendig, die Entstehung des zeitgenössischen Buchmarkts genau zu analysieren und in eine allgemeine Kulturgeschichte der Literatur zu integrieren. Dabei müssten im Detail die Bedingungen der Produktion, Distribution, Rezeption und Transformation eines Textes untersucht werden. Das führt uns schließlich zu dem, was seit einem halben Jahrhundert in der Forschung als der erweiterte Literaturbegriff bezeichnet wird. Literatur wird demnach nicht mehr über den Grad ihrer Fiktionalität definiert. Somit ist es möglich, die Differenzierung von Höhenkamm- und Trivialliteratur aufzuheben und auch die sogenannte Gebrauchsliteratur gleichwertig neben den durch die Rezeption kanonisierten Texten als Forschungsgegenstand zu bewahren. Für die Literatur der Frühen Neuzeit bedeutet dies, dass neben einem Werk wie Piccolominis Euryalus und Lucretia auch religiöse, grammatische, philosophische und pragmatische Gebrauchstexte ihren gleichwertigen Rang in der Literaturgeschichte finden. Die ersten Jahre des Buchdrucks sind mit einem neuzeitlichen Medienwechsel verknüpft. Es vollzieht sich der Sprung von der Handschriftlichkeit mittelalterlicher und antiker Textüberlieferung zur Druckschriftlichkeit des Buchdrucks. Ein vergleichbarer Medienwechsel vollzieht sich in unserer Mo- <?page no="24"?> 23 Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) derne im Verhältnis von Buch und Digitalisierung der Arbeits- und Lebenswelt. Mutmaßlich ist aber die Rede vom Ende der sogenannten Gutenberg-Ära mindestens ebenso verfrüht, wie der blinde Glaube an die unerschöpflichen Kapazitäten der Digitalisierung gleichermaßen euphemistisch wie euphorisch ist. Ulrich von Hutten (1488-1523), Ritter, Dichter und enthusiastischer Anhänger der Reformation, findet in einem Brief vom 25. Oktober 1518 an den Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer (1470-1530) die begeisternden Worte und bringt damit dieses Gefühl einer Zeitenwende zum Ausdruck: „o seculum, o litterae“, „O Jahrhundert, o Wissenschaft! Es ist eine Lust zu leben, wenn auch nicht in der Stille. Die Studien blühen, die Geister regen sich-[…] Barbarei, nimm einen Strick und mach dich auf Verbannung gefaßt“ (zitiert nach: Pirckheimer-Jahrbuch, 1988, S. 11). Was ist das für ein Jahrhundert, das zu solchen Begeisterungsstürmen Anlass gibt? Um das Jahr 1380 ist der Holzschnitt als Drucktechnik entwickelt worden, insbesondere für die weit verbreiteten Spielkarten und die sogenannte religiöse Kleingraphik wie beispielsweise Andachtsbilder. Die daraus entstehenden Serien von Einzeldrucken werden in Blockbüchern zusammengefasst, die in der Regel nur auf einer Seite bedruckt und von Hand angemalt sind. Sie dienen der niederen Geistlichkeit sowie den Laienbrüdern in den Klöstern, die kaum oder gar nicht lesen und schreiben können. Erst nach und nach werden auch kurze Texte, die ebenfalls in Holz geschnitzt sind, in die Bildfolgen eingefügt. Das Moment der Visualisierung des Textes, diese frühe Form der Intermedialität, dient als entscheidende Brücke zwischen dem Bildverständnis und dem Textverständnis. Heute stammen die ältesten noch erhaltenen Blockbücher aus der Zeit um 1430 / 1440. Der Mainzer Johannes Gutenberg revolutioniert die Drucktechnik und führt den Medienwechsel herbei. Gutenberg wird zwischen 1394 und 1404 als Sohn eines Mainzer Patriziers geboren, er stirbt 1468. Zwischen 1434 und 1444 hält er sich in Straßburg auf. In der Forschung wird vermutet, dass Gutenberg in Straßburg den Donat gedruckt hat, eine lateinische Grammatik, die im 15. Jahrhundert weiteste Verbreitung gefunden hat. Verfasser ist der im 4. Jahrhundert lebende Aelius Donatus, sein Werk über die lateinische Sprache gilt in der Spätantike, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit als grammatisches Standardwerk. Man schätzt heute, dass dieses Buch etwa 10 000 Mal gedruckt wird. Es ist also ein Massenartikel, der das Zeitalter des Buchdrucks einleitet. Unter ökonomischen Gesichtspunkten bedeutet dies: eine sichere wirtschaftliche Grundlage steht am Beginn der Medienrevolution. <?page no="25"?> 24 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert Gutenbergs Druckerei wird als Mainzer Uroffizin bezeichnet. Dort wird Ende 1454 auch der Türkenkalender gedruckt, das ist eine politische Propagandaschrift, sie gilt als das älteste vollständig, nämlich in einem Exemplar erhaltene und noch datierbare Buch. Gutenberg begibt sich mit seiner neuen Druckkunst unmittelbar in Konkurrenz zur handschriftlichen Kunstfertigkeit der klösterlichen Schreib- und Kopierstuben. Um konkurrenzfähig bleiben zu können, muss er das grundlegende Werk seiner Zeit drucken und zwar so, dass es in ästhetischer Hinsicht qualitativ neben der Kunst der Handschriftlichkeit bestehen kann. Gutenberg wählt die Bibel, die ja in allen Klöstern und Pfarreien gebraucht wird. Zusammen mit dem Mainzer Kaufmann und Geldverleiher Johann Fust (ca. 1400-1466) schafft er die finanziellen Rahmenbedingungen, um seine Druckvorhaben starten zu können. So entsteht in den Jahren zwischen 1452 und 1454 der 42zeilige Bibeldruck. Diese Bibel kostet so viel, wie in etwa ein Goldschmied im Jahr verdient. Gutenbergs Druckerfindung beruht auf zwei technischen Innovationen. Zum einen ist es das Handgießinstrument. Damit kann ein Prägestempel mit Matrizen (Hohlformen) hergestellt werden, mit deren Hilfe nahezu beliebig viele identische Buchstaben gegossen werden können. Die einzelnen Buchstaben und Wörter bleiben völlig gleichmäßig, technische Fehler können sofort korrigiert werden. Ist der Druck abgeschlossen, können die aus Blei bestehenden Buchstaben wieder eingeschmolzen und die Materialien so wiederverwendet werden. Für den Bibeldruck lässt Gutenberg 290 Einzeltypen prägen, aus denen dann tausende Buchstaben gegossen werden. Die andere technische Innovation Gutenbergs besteht in der Erfindung der Druckerpresse. Jetzt wird es möglich, einen Text sehr exakt zu vervielfältigen. Es gibt keine durch unterschiedliche Handschriften bedingten Abweichungen mehr. Gutenbergs Ideal ist es, möglichst die Ästhetik einer professionellen Handschrift zu erreichen. Die neue und revolutionäre Erfindung des Buchdrucks beginnt also mit der Imitation des Bestehenden-- allerdings in einer technisch innovativen Form. Buchdruckergesellen aus Mainz bringen die neueste Technik 1459 nach Straßburg und Bamberg. Die neuen Druckereien entstehen in den Handelszentren, 1465 in Köln, 1467 in Eltville und in Basel, 1468 in Augsburg, 1470 in Nürnberg, 1472 in Ulm. Bis zum Jahr 1470 sind 17 Druckorte entstanden, bis 1480 121, bis 1490 204 und bis 1500 sogar 252. 62 davon liegen in dem Territorium des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Deutsche Drucker gehen auch in andere europäische Länder und verbreiten so nachhaltig das technische Wissen um die Buchdruckerkunst. Man kann davon ausgehen, dass bis zum Jahr 1500 <?page no="26"?> 25 etwa 27 000 Drucke mit einer Gesamtzahl von bis zu 20 Millionen Exemplaren erschienen sind. Ein bis zum 1. Januar 1501 mit der neuen Technik der beweglichen Metalllettern hergestelltes Druckwerk nennt man einen Wiegendruck (Inkunabel). Die differenzierte Unterscheidung zwischen Inkunabel und Nichtmehrinkunabel ist nicht immer leicht und nicht immer überzeugend. Doch ob die Wahl dieses Datums historisch und inhaltlich nachvollziehbar ist, ist nicht entscheidend. Vielmehr dient die Jahrhundertwende 1500 / 1501 in erster Linie als ein praktisches Hilfsmittel. Ein bedeutendes Unterscheidungsmerkmal zwischen einer Inkunabel und einem Druckwerk aus den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten liegt darin, dass die Inkunabel noch stark dem handschriftlichen Vorbild verpflichtet ist, der Imitationscharakter also deutlicher zu erkennen ist. Gutenberg und die Drucker der ersten Stunde waren bemüht, die Ästhetik der Handschrift nachzuahmen. So fehlt beispielsweise bei den Inkunabeln in der Regel das Titelblatt und die Drucktypen sind sehr individuell (Rotunda, Antiqua), eine Normierung beginnt erst nach 1480. Die Kursive wird 1501 von dem berühmten venezianischen Drucker Aldus Manutius (1449-1515) für den Druck seiner mustergültigen Ausgaben griechischer und lateinischer Klassiker entwickelt. Drei Viertel der Wiegendrucke werden in lateinischer Sprache gedruckt, die restlichen in den jeweiligen National- oder Fachsprachen (Deutsch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch, Englisch, Griechisch, Hebräisch, Kirchenslawisch). Die durchschnittliche Auflagenhöhe von Büchern steigt von bis zu 200 Stück in den 1470er Jahren auf bis zu 500 und erreicht bis zum Jahr 1500 die Zahl von bis zu 1000 Exemplaren. Diese Auflagenhöhe wird erst 200 Jahre später, nämlich nach 1700, überboten. Viele Wiegendrucke sind aber spurlos verschwunden, möglicherweise betrifft dieser Verlust bis zu zehn Prozent aller Inkunabeln. Die Einzelblattdrucke, die für den kirchlichen Gebrauch (z. B. Beichtzettel) bestimmt sind, können schon um 1480 in Auflagen von mehreren Tausend gedruckt worden sein. Das sind allerdings Schätzungen, denn erhalten geblieben ist kein einziger. Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) Der promovierte Jurist und Theologe Sebastian Brant (1457-1521) veröffentlicht 1494 in Basel ein Buch, das bis heute seinen festen Platz in der Literaturgeschichte bewahrt hat und dem kollektiven Gedächtnis gegenwärtig ist, Das Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="27"?> 26 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert Narrenschiff. Äußerlich betrachtet ist das Narrenschiff eine auf eine lange literarische Tradition zurückgreifende Morallehre, worin es um die Erziehung und Besserung des Menschen ebenso geht wie um die rhetorisch flammende Abwehr des allgemeinen Sittenverfalls. Wenn wir also vom Neuen des Narrenschiffs sprechen wollen, so meint dies nicht den Inhalt. Die euphorische Zustimmung, die das Buch unmittelbar nach Erscheinen erfährt, ist nicht von den Gescholtenen selbst, den Narren, überliefert, sondern von denen, die sich wohl von vornherein auf der Seite der im Buch als idealer Menschentypus skizzierten Weisen wähnen. Johannes Trithemius (1462-1516) beispielsweise nennt das Narrenschiff eine „divina satira“, eine göttliche Satire. Der Straßburger Prediger Johann Geiler von Kaysersberg (1445-1510) behandelt das Thema Narrenschifffahrt und christliche Botschaft in mehr als 100 Predigten, in denen er auf Brants Buch Bezug nimmt. Literatur wird so zur Grundlage homiletischer Praxis. Jakob Wimpfeling (1450-1528) empfiehlt das Narrenschiff als Lehrbuch für den Schulunterricht. Das sind natürlich Stimmen und Zustimmungen nur aus der Gelehrtenrepublik. Wie die sogenannten einfachen, ungebildeten Menschen, die weder schreiben noch lesen können, wie also die eigentlichen Adressaten des Buchs dachten, wissen wir nicht. Hier ist und bleibt Literaturgeschichte einseitig. Skepsis muss dann angebracht sein, wenn das Narrenschiff als eine Art Generationenbuch verstanden wird, das allen Lesenden Auskunft über das Wesen ihrer Epoche gibt. Obwohl sich Brants Narrenschiff erkennbar ebenso von der höfischen Tradition der Literatur wie von einer klerikal-kirchlichen Lebensanleitung unterscheidet, bleibt doch eine theologische Zielrichtung erhalten. Außerdem ist Brant rhetorisch bestens geschult. Sein poetikgeschichtlicher Referenztext ist die Ars poetica des Horaz (65-8 v. Chr.). In Kapitel 22 lässt Brant die Weisheit im Ton der neutestamentlichen Seligpreisungen sprechen: Sellig ist der gat vff mym w aͤ g Wer mich findt / der fyndt heil vnd glück (S. 182). Sein Buch sei geschrieben, wie es in der Vorrede heißt, Z uͤ nutz vnd heylsamer ler / verma= nung vnd ervolgung der wyßheit (S. 107). Brant entfaltet eine „nutzlich ler“ (S. 110), alle sollten in diesen Spiegel, nämlich sein Buch, schauen und sich als Narren erkennen. Sein Ziel sei „verachtung / vnd stroff der narrheyt“ (S. 511). Kann man das ernst nehmen oder sind dies <?page no="28"?> 27 Schutzbehauptungen? Der Autor selbst will sein Buch als eine Satire verstanden wissen. Das eröffnet ihm die Möglichkeit, den Ernst und die Drastik des Themas immer wieder mit dem Verweis auf die Lizenz zur Übertreibung zu bedecken, die ihm diese Textgattung einräumt. Ist das Ziel des Narrenschiffs tatsächlich die „Selbsterkenntnis der Narrheit“ (Das Narrenschiff, hgg. v. Hans-Joachim Mähl, S. 497)? Die „vorred“, also das Vorwort, beginnt jedenfalls mit einer klaren Anweisung, wie dieses Buch zu rezipieren ist: Zum Nutzen und zur heilsamen Lehre sei es geschrieben, zur Ermahnung zur Weisheit, Befolgung von Weisheit und Strafe und Verachtung der Narrheit, schreibt Brant. Die Straßen und Gassen seien voller Narren, obwohl überall die Bibel und andere religiöse Schriften verbreitet seien. Das ist sicherlich ein Reflex auf die neue Drucktechnik. Das Werk bleibt auf seine Art moralisch-didaktisch, denn es redet ja den Lesern in 109 Varianten mit 411 Beispielen ins Gewissen, wer alles ein Narr ist-- und das ist nach Brants Lesart jeder. Und es appelliert immer wieder an einen Sinneswandel, der darin besteht, die eigene Narrheit zu erkennen. Man solle sein Buch als einen Spiegel verstehen, in den jeder Mensch schauen könne, um sich als Narr erkennen zu können. Neben diesem moralischen Aspekt kokettiert der Autor demnach auch mit seinem Selbstbewusstsein, auf unbestechliche Weise die Menschen in Narren und Nicht-Narren unterscheiden zu können. Nicht-Narren sind demnach nicht nur die Weisen, derer es nur wenige gibt, sondern auch alle, die sich nicht im Narrenschiff beschrieben finden. Die Allegorie des Schiffs, das durch den Text segelt und sich Seite um Seite mit Narren füllt, dient als Leitthema. Dreh- und Angelpunkt ist Brants Reflexion darüber, was den Menschen als Menschen ausmacht und wie daraus die Erkenntnis für richtiges Handeln abgeleitet werden kann. Brant geht es also nur vordergründig um die Darstellung und Geißelung menschlichen Fehlverhaltens im Sinnbild des Narren. Ihm liegt wesentlich mehr daran, die anthropologischen Wurzeln eben dieses Fehlverhaltens auszuloten und zur Anschauung zu bringen. Ihm als Juristen und als Theologen wird wohl kaum etwas Menschliches fremd gewesen sein. Anders als die meisten Bücher seiner dichtenden Kollegen schreibt Brant sein Narrenschiff auf Deutsch anstatt auf Latein. Er entzieht sich damit dem humanistischen Zwang zur Codierung für eine Elitekultur. Das entspricht auch dem Adressatenkreis des Buchs, alle Menschen sind gemeint, Gelehrte und Ungebildete. Die zahlreichen Holzschnitte vermögen den Inhalt eines jeden Kapitels prägnant zu verbildlichen, so dass das bloße Betrachten und das Hören des Textes, wenn er laut vorgelesen wird, die rezeptive Erkenntnis, auf die Brant Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="29"?> 28 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert setzt, befördern. Zur zweiten Auflage von Jakob Lochers lateinischer Übersetzung des Narrenschiffs (1498) steuert Brant selbst eine Art Deutungsvorgabe bei: „Quod inordinatio causa fuerit destructionis omnium rerum“-- Unordnung hat Zerstörung zur Folge, also dient sein Buch der Erhaltung der Ordnung. Der Autor spricht von sich in der ersten Person Singular, das poetische Subjekt bekennt sich als Autorsubjekt und erklärt für jeden Leser nachvollziehbar, aus welchen Gründen er dieses Buch geschrieben hat. Mehr noch, Brant wendet sich ausdrücklich auch an die nicht alphabetisierten Menschen, denen allenfalls der Text vorgelesen werden könnte. Sie sollten sich die Bilder genau anschauen (vgl. Kap. 1, Z. 26 ff.), dann könnten sie sich darin wiedererkennen. Diese Holzschnitte stammen übrigens von dem jungen Albrecht Dürer (1471-1528). Gleichgültig, ob man das Narrenschiff selbst lesen könne, es vorgetragen bekomme oder die Bilder anschaue, das Buch sei ein „narren spiegel“ (ebd., Z. 31). Wer auf die richtige Weise in diesen Spiegel blickt, der lernt, dass er sich nicht für weise halten soll. Brant fordert, alle Menschen sollten in diesen Spiegel schauen (vgl. ebd., Z. 107 f.), als eine ‚nützliche Lehre‘ bewirbt er sein Buch (vgl. ebd., Z. 81). Und wer diese Selbstrelativierung versteht, also sich als moralisches Subjekt durchaus auch im theologischen Sinn als erlösungsbedürftig begreift, der ist auf dem Weg weise zu werden. Der Narr wird damit zur Figur der anthropologischen Selbstrelativierung: Dann wer sich für ein narren acht Der ist bald z uͤ eym wisen gmacht (S. 108). Nachdem sich Brant in seiner Autorfunktion bekannt hat, spricht er mehrfach von seinem Narrenschiff als ‚diesem Büchlein‘ oder ‚seinem Gedicht‘ (vgl. Kap. 1, Z. 46, 54, 84, 87, 105). Erst am Ende des Kapitels verzichtet er auf die Diminutivform und nennt das Narrenschiff ‚Buch‘ (vgl. ebd., Z. 130), um dann gleich das nächste und eigentlich erste Textkapitel mit der Überschrift Von unnützen Büchern zu beginnen. Ist das eine selbstironische Überleitung? Eine Selbstrelativierung, die er nun als Autor so vollzieht, wie er sie eben von den Rezipienten gefordert hat? Nach dieser Lesart wäre dann Brants Narrenschiff eines von jenen Büchern, die als unnütz tituliert werden könnten. Dahinter verbirgt sich sicherlich auch die individuelle Anverwandlung einer aus der klassischen Rhetorik stammenden captatio benevolentiae, wonach zu Beginn eines Vortrags oder einer Lektüre der Autor bzw. Redner sich darum bemüht, die Gunst des Lesers oder Zuhörers zu gewinnen, oft auf spielerische oder schmeichlerische Weise. Außerdem spielt der rhetorisch versierte Brant augenblicklich mit der <?page no="30"?> 29 Autorfunktion, denn das Ich des ersten Kapitels kann auf ihn als Verfasser des Narrenschiffs ebenso bezogen werden wie auf ein wahrscheinlicheres fiktives Ich. Damit gilt der gemeinhin als besonders weise betrachtete Gelehrte als der erste Narr in diesem Narrenschiff. Der vermeintlich Weise ist der eigentliche Narr, der viele Bücher besitzt, aber kaum oder gar nicht darin liest und sie auch nicht versteht. Die unausgesprochene Frage steht nun im Raum: Was sind die nützlichen Bücher? Brant karikiert ja nicht das Wissen seiner Zeit an sich oder die mediale Präsentation dieses Wissens in Gestalt einer Bibliothek, sondern er prädiziert den Umgang mit diesem Wissen als Narrheit, weil es nicht genutzt wird. Brant spricht damit sehr deutlich das horazische prodesse an, also den Nutzen-Faktor, den jede Literatur zeitigen muss, um als gute Literatur vor den strengen Augen eines Kunstrichters bestehen zu können. Mehr noch, Horaz spricht in der Ars poetica nicht nur vom Nutzen der Literatur, sondern auch vom delectare, Literatur muss Vergnügen bereiten: aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idonea dicere vitae (V. 333 f.). Zu Deutsch: „Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen“ (Horaz: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch u. deutsch. Übersetzt u. mit einem Nachwort hgg. v. Eckart Schäfer. Stuttgart 1972, S. 25). Dieses Vergnügen sichert Brant seinem Text durch die Form der Satire. Der Mensch aber bleibt erlösungsbedürftig. Denn Gott verlange, dass die Menschen sich zur Weisheit kehrten, nur so könnten sie Erlösung finden (vgl. Kap. 11, Z. 21 f.). Fast wörtlich nimmt Brant dieses Motiv in Kapitel 22 (Die Lehre der Weisheit) wieder auf. Wer die Weisheit hört und lernt und sich zu ihr bekennt, der wird der christlichen Erlösung teilhaftig. Das heißt aber nichts anderes, als dass es Menschen geben muss, die lern- und wandlungsfähig sind, die ihre Selbstrelativierung überwinden und durch den Glauben weise werden können, denn Narren werden bestraft werden (vgl. Kap. 22, Z. 29). Im 78. Kapitel weist Brant darauf hin, dass es viele Narren in seinem Buch gebe: „Vil narren sint jn disem druck“ (S. 376). Die Drucker selbst werden als Narren bezeichnet, weil sie buchstäblich alles drucken würden. Brant wendet dies am Ende des Kapitels ins grundsätzlich moralische Handeln, denn derjenige sei ein Narr, der das Gute sehe, aber dem Bösen nachstelle (vgl. S. 378). Im 48. Kapitel setzt er dem neuen Gewerbe des Buchdrucks sogar ein eigenes literarisches Denkmal. Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="31"?> 30 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert Das 111. Kapitel nennt sich entschuldigung des dichters, darin grenzt sich Brant gegen eine willentliche Missdeutung seines Buchs ab. Er vergleicht sein Gedicht mit einer Blume, die wohl duftet und Bienen anlockt, aber auch giftige Spinnen anzieht. Und wer nichts Gutes in seinem Buch erkennen will, der wird auch nichts Gutes darin finden, wer nicht gerne etwas über Weisheit erfahren will und wie man sie erlangen kann, der wird umso öfter über den Autor klagen. Brant nennt sich am Ende dieses Kapitels auch selbst mit seinem bürgerlichen Namen, versteckt sich nicht hinter einem anonymen Autor-Ich. Er habe nun viele Formen der Narrheit kennengelernt und fühle sich in der Lage sich zu bessern. Er könne allen Menschen nur zur Weisheit raten. Das Motto zu diesem Kapitel relativiert allerdings Brants Emphase, denn demnach war es ein Leichtes, die Narrheiten aufzuführen, wer es aber tatsächlich mit der Weisheit versuchen wolle, der werde doch sehr daran gehindert. Folgt man der Lesart von Kapitel 67, dann ist es eine Eigenschaft der Narren, sich selbst für weise zu halten, es gäbe viele Narren, die viel von Weisheit erzählen. Das wirft natürlich die Frage auf: Wenn ein Mensch weise ist, wer prädiziert dies? Wer entscheidet, ob man Weiser oder Narr ist? Halte ich mich für weise, so bin ich nach diesem Kapitel sicherlich ein Narr. Gibt es also überhaupt ein Entkommen aus dieser Narrenschleife? Das Narrenschiff erweist sich an diesem Punkt der argumentationslogischen Reflexion als Kind seiner Zeit, der Text bleibt inkonsistent. Denn Weisheit gibt es eben nur in Gott. Außerhalb dieses Erlösungsmotivs gibt es kein Entrinnen vor der Narrheit. Ein Weiser ist also derjenige, der sich als Narr erkannt hat. Das Narrenschiff wird damit auch als eine versteckte Satire auf die eigene Zunft, die Gelehrten und Weltweisen lesbar. Das fällt auf den Autor zurück. Auch er ist ein Weiser, also ein Narr, weil er sich als Narr erkannt hat. Darf demzufolge das, was er über die Narren sagt, tatsächlich ernst genommen werden oder ist es nicht auch eine augenzwinkernde Morallehre, die genau dies, Morallehre zu sein, aufs Korn nimmt? Sebastian Brant beschreibt in seinem Narrenschiff die verschiedensten Laster und Untugenden seiner Zeit. Er spricht damit das Kaleidoskop menschlicher Verhaltensweisen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft an und er verfolgt damit durchaus eine moraldidaktische Absicht. Insgesamt sind es 112 einzelne Kapitel von unterschiedlicher Länge in Reimform. Jedem Kapitel ist ein meist dreizeiliges, gelegentlich auch vierzeiliges Motto vorangestellt, das prägnant die Aussage des Kapitels zuspitzt und zusammenfasst. Danach ist ein Holzschnitt eingefügt, der das Motto visualisiert. Dann folgt das jeweils einem anderen Thema gewidmete Gedicht, das in unrunden vierhebigen Jamben <?page no="32"?> 31 (Paarreimen nach dem Muster aa bb cc usf.) auf Frühneuhochdeutsch verfasst ist.Der Themenbogen ist weit gespannt. Nach den unnützen Büchern folgen: die Habsucht, die Mode, die rechte Kindererziehung, keinen guten Ratschlägen folgen, schlechte Umgangsformen, wahre Freundschaft, die Verachtung der Heiligen Schrift, Völlerei, unnützer Reichtum, von der Weisheit, von der Überschätzung des Glücks, vom Sorgen, vom Borgen, vom unnützen Studieren, von der Selbstgerechtigkeit, vom Ehebruch, vom Eigensinn, vom Lärm in der Kirche, vom schlechten Beispiel der Eltern, von Neid und Hass, von Undankbarkeit, von Selbstgefälligkeit, vom Tanzen, vom Betteln, vom Versuch kein Narr sein zu wollen, keinen Spaß verstehen, von Streit- und Prozessierlust, von Gotteslästerung, von Vater- und Mutterehre, vom Schenken, von der Trägheit und Faulheit, von schlechten Tischsitten, von Wollust, vom unnützen Jagen und von Gottesverachtung, von Verführung am Feiertage, vom Antichrist und von schlechten Sitten ist da die Rede. Und immer wieder wird natürlich das Thema des Narren und der Narrheit aufgegriffen. Angesichts der Aufzählung dieser keineswegs vollständigen Themenwahl wird deutlich, dass die Themen bunt gemischt sind. Mit dem Kapitel Von unnützen Büchern wird der Text eröffnet und der Leser fragt sich, ob darin nicht auch ein Schuss Selbstironie zu sehen ist, fällt also das Narrenschiff selbst etwa unter die weniger nützlichen Bücher? Es kann der Eindruck entstehen, als sei das gesamte Panorama spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Tugend- und Lasterkataloge ausgebreitet. Ein Narr sei derjenige, der weise sein will, schreibt Brant im achten Kapitel. Das setzt voraus, dass er es nicht ist. Wer also ein Narr ist-- und das sind wir alle-- und weise sein will, der bleibt ein Narr. Versucht man die wesentlichen Argumentationsschritte des Textes logisch zu rekonstruieren, so ergeben sich folgende Gesichtspunkte: Erstens, der Vielzahl der erwähnten Narrheiten nach zu urteilen gibt es kaum eine menschliche Verhaltensweise und keine kulturelle Technik, die sich nicht per se dem Narrheitsverdacht aussetzt. Nahezu alles ist narrenverdächtig. Alle Menschen sind also Narren, einige vielleicht ein bisschen mehr als andere. Zweitens, Selbsterkenntnis ist auch dem Narren möglich. Da jeder Mensch ein Narr ist, ist jeder Mensch der Selbsterkenntnis fähig und damit grundsätzlich befähigt, ein Weiser zu sein. Wer Mensch ist, ist Narr, wer sich als Narr erkennt, ist weise, wer sich als weise erkennt, hat sich als Narr erkannt, erkannte sich also als Mensch. Der eigentliche Narr ist somit jener Weise, der nicht um seine Narrheit weiß. Darin verbirgt sich natürlich-- wenn man strenge Maßstäbe anlegt-- eine Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="33"?> 32 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert inflationäre Begriffsverwendung und damit eine inhaltliche Entleerung des Narrenbegriffs. Denn wenn wir alle Narren sind, weshalb bedarf es dann noch der begrifflichen Differenzierung zwischen Narren und Weisen? Und drittens, im 54. Kapitel heißt es: O narr gedenck zů aller fryst Das du eyn mensch / vnd t oͤ tlich [= sterblich] bist (S. 284). Auch der Weise ist sterblich und menschlich und müsste demzufolge bedenken, dass er ein Narr ist. Wer also in diesen Spiegel schaut, sei er Narr oder Nicht- Narr, erkennt sich immer als Narr, wird zumindest als solcher tituliert. Das führt letztlich zu der Frage, wie wörtlich und damit wie ernst können wir heute diesen Text nehmen, der in der Hochburg der süddeutschen Fastnacht geschrieben und gedruckt wurde? Die Diskussion um Brants Narrenschiff sollte sich mindestens auf zwei Ebenen bewegen. Einmal ist das Narrenschiff als Allegorie eine Anti-Odyssee, zum anderen setzt es ein poetologisches Programm ins Werk, das nur als Satire getarnt den Gefahren des Schematismus einer Laudatio-vituperatio-Poetik (Lob- Tadel-Poetik) entgeht. Demnach wird das Lob in der Textform der Tragödie, der Tadel in der Textform der Komödie angesprochen. Die Tragödie ist ‚ars laudandi‘ (Kunst des Lobens), die Komödie ist ‚ars vituperandi‘ (Kunst des Tadelns). Dass diese Zuweisung auf einem durch die lange Überlieferungsgeschichte der aristotelischen Poetik bedingten philologischen Missverständnis beruht, ist dabei nicht entscheidend. Lob als das Korrespondenzwort zum ursprünglichen Tragödienbegriff bei Aristoteles soll zur Tugendhaftigkeit anleiten. Tadel, dem ursprünglichen Komödienbegriff zugeordnet, soll vor Untugend abschrecken. Damit wurden- - historisch gesehen- - dem poetologischen Diskurs normstabilisierende und normbildende gesellschaftliche, moralische und didaktische Funktionen eingeschrieben. Das Narrenschiff versucht eine eigene Mischform von Tadel und Lob. Es entwickelt im 108. Kapitel zudem den Charakter einer Anti-Odyssee. Brant schildert Vorkommnisse aus dem homerischen Epos von Odysseus, der nach langer Irrfahrt schließlich glücklich zu Hause landet, und setzt dem bewusst seine Themen entgegen. Denn sein Narrenschiff wird nicht glücklich landen, sondern untergehen: Homerus hatt diß als erdacht Do mit man hett vff wißheyt acht (S. 494). <?page no="34"?> 33 Brant nutzt im Motiv der Schifffahrt den Appell, sich nicht leichtfertig der Narrheit auszusetzen. Bei ihm geht es nicht um die Schilderung von Abenteuern und Mythen wie bei Homer. Vielmehr kann das Motiv des Narrenschiffs nun auch kulturgeschichtlich gewendet werden. Dann kann man darin eine Allegorie der kulturellen Bedeutung von Lesen und Büchern erkennen und es ginge um die Unwissenheit derer, die sich der Aufklärung und Bildung durch Literatur überlassen. Bei Brant steht nicht so sehr der reale Narr im Vordergrund, der historisch wirklich sich unbotmäßig Benehmende, der gegen Tischzucht und gute Sitten verstößt, der Ehebruch begeht oder Gott lästert, sondern es geht stets um dessen literarisches Abbild. Folgt man dieser Lesart, dann erweist sich die Narrensatire als der frühe Versuch einer neuzeitlichen Dichtungs- und Kulturkritik. Nicht der Narr ist dumm, sondern derjenige Leser, der nicht zu unterscheiden vermag zwischen dem wirklichen Narren und seinem literarischen Ebenbild, der die literarische Schilderung von Narrheit als Freibrief zum Narrentum begreift. Das Narrenschiff ist als Warnung zu verstehen, sich der Literatur, dem Buch, vorbehaltlos zu überlassen, denn alles Wissen (womit nun auch das Narrenschiff selbst gemeint ist) ist närrisch. Darauf kann auch der letzte Hinweis des Buches verweisen, wenn Brant schreibt, sein Buch sei in Basel gedruckt „vff die Vasenaht“ (S. 511). Das Buch als Schiff zu verstehen ist eigentlich zutiefst antizivilisatorisch, da dann Literatur vom verlässlichen Festland wegführt. Brants Narrenschiff ist also eine ebenso raffinierte wie vehemente Absage an die neuen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Drucken. Wenn Brant schreibt, Homer habe sich das alles ausgedacht und hervorhebt, dass im Gegensatz dazu sein Narrenschiff keineswegs sicher landen, sondern untergehen wird, dann hebt er sich selbst als Verfasser dieser Narrensatire und diese als Anti-Odyssee hervor. Die Analogie greift nun auf der Autorebene: So wie Homer sich seine Odyssee nur ausgedacht hat, so hat auch er, Sebastian Brant, sich seine Narren-Anti-Odyssee ausgedacht. Er beschreibt damit also nichts Wirkliches, sondern etwas Fiktives. Brant entwickelt in seinem Buch das Narrativ des anthropologischen Scheiterns. Er verlangt aber von seinen Zeitgenossen, dass sie dieses Spiel mit der Fiktionalität von Literatur durchschauen. Literatur hat die Möglichkeit etwas darzustellen, was in der Lebenswirklichkeit ihrer Leser nicht existent ist. Mehr noch, die Rezipienten können sich selbst darauf hin befragen, ob das, was sie in Brants Narrenschiff lesen, hören oder sehen, auch tatsächlich mit dem übereinstimmt, was sie selbst als Lebenswirklichkeit erfahren. Das Narrenschiff schärft also auf eine sehr eigenwillige, aber scharfsinnige Weise den Verstand und das Verständnis für Literatur. Und das zu Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="35"?> 34 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert einem Zeitpunkt, wo die Geschichte der deutschen Literatur als eine Entwicklungsgeschichte von Fiktionalität recht eigentlich erst beginnt, da sie sich erstmals an ein breites Publikum wendet, nämlich an alle Menschen, unabhängig von Stand und Geschlecht. In der Vorrede zu seinem Buch schreibt Brant: Jn disen spiegel sollen schowen All gschlecht der menschen man vnd frowen. (S. 111). In die Richtung dieser Lesart deutet schon der Poetikprofessor Joachim Vadianus (1484-1551), der in seiner Wiener Literaturvorlesung von 1513 / 14 Sebastian Brant mit seinem Narrenschiff als Beispiel gekonnter Gegenwartsliteratur hervorhebt. Brant habe mit großer metrischer und sprachlicher Kunstfertigkeit „gegen alle erdenklichen Laster voll Eifer“ geschrieben, „denn überall wallen die lastergerichteten Ruder des Ithakäers Odysseus“ (zitiert nach: Brant: Das Narrenschiff. Studienausgabe, S. 88). Brant gilt als Initiator dieser besonderen Textform der Narrenliteratur. Zahlreiche Nachahmungen folgen dem Narrenschiff. Das Lob der Torheit (1511) des Humanisten Erasmus von Rotterdam (um 1466-1536) gehört zu den bedeutendsten dieser Art. Zu Lebzeiten Brants erscheinen sechs weitere Auflagen seines Narrenschiffs. Was Sebastian Brants Narrenschiff für uns heute noch so interessant macht, ist das Spiel mit dem Merkmal von Literatur, der Fiktionalität. Brant lässt es dem Leser offen, ob er dieses Spiel ernst nehmen und als moralische Botschaft verstehen oder als grandiose Literatur rezipieren will. Textgrundlage: Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Studienausgabe. Hgg. v. Joachim Knape. Stuttgart 2011 (=-Reclam UB 18333). Nach dieser Ausgabe wird zitiert. Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Übertragen v. H. A. Junghans. Durchgesehen u. mit Anmerkungen sowie einem Nachwort neu hgg. v. Hans-Joachim Mähl. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2012 (=-Reclam UB 899). Lektüreempfehlungen: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten. Lateinisch / Deutsch. Ausgewählt, übersetzt u. erläutert v. Harry C. Schnur. 3., durchgesehene, bibliografisch u. um ein Nachwort v. Hermann Wiegand ergänzte Aufl. Stuttgart 2015 (=-Reclam UB 19289). Hans Sachs: Meistergesänge, Fastnachtsspiele, Schwänke. Johann Fischart: Geschichtklitterung (1575) <?page no="36"?> 35 Einführende wissenschaftliche Literatur: Andreas Keller: Frühe Neuzeit. Das rhetorische Zeitalter. Berlin 2008. Kai Bremer: Literatur der Frühen Neuzeit. Reformation-- Späthumanismus-- Barock. Paderborn 2008. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. 2. Aufl. München 1999. Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="38"?> 37 Barock: Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) 2. Schritt - 17. Jahrhundert B Arock : Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) Vier Beispiele: 1. Beispiel-- Georg Rodolf Weckherlin: An das Teutschland. Sonnet (Druck: 1641) ZE rbrich das schwere Joch / darunder du gebunden / O Teutschland / wach doch auff / faß wider einen muht / Gebrauch dein altes hertz / und widersteh der wuht / Die dich / und die freyheit durch dich selbs uͤberwunden. Straf nu die Tyranney / die dich schier gar geschunden / Und l oͤ sch doch endlich auß die (dich verz oͤ hrend) glut / Nicht mit dein eignem schwaiß / sondern dem b oͤ sen blut Fliessend auß deiner feind und falschen br uͤ dern wunden. Verlassend dich auf Got / folg denen F uͤ rsten nach / Die sein gerechte hand will / (so du wilt) bewahren / Zu der Getrewen trost / zu der trewlosen raach: So laß nu alle forcht / und nicht die zeit hinfahren / Und Got wirt aller welt / daß nichts dan schand und schmach Des feinds meynayd und stoltz gezeuget / offenbahren. (aus: Gedichte des Barock, S. 12 f.) 2. Beispiel-- Andreas Gryphius: Threnen des Vatterlandes / Anno 166 (Druck: 1643) Wir sindt doch nunmehr gantz / ja mehr den gantz verheret! Der frechen voelcker schaar / die rasende posaun Das vom blutt fette schwerdt / die donnernde Carthaun Hatt aller schweis / und fleis / und vorraht auff gezehret. Die tuerme stehn in glutt / die Kirch ist umbgekehret <?page no="39"?> 38 2. Schritt - 17. Jahrhundert Das Rahthaus ligt im graus / die starcken sind zerhawn. Die Jungfrawn sindt geschaendt / und wo wir hin nur schawn Ist fewer / pest / und todt der hertz undt geist durchfehret. Hier durch die schantz und Stadt / rint alzeit frisches blutt. Dreymall sindt schon sechs jahr als unser stroeme flutt Von so viel leichen schwer / sich langsam fortgedrungen. Doch schweig ich noch von dem was aerger als der todt. Was grimmer den die pest / undt glutt undt hungers noth Das auch der Selen schatz / so vielen abgezwungen. (aus: Echtermeyer. Deutsche Gedichte, S. 150 f.) 3. Beispiel-- Andreas Gryphius: Es ist alles eitel (Druck: 1637 / 1663) Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein, Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein, Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden. Was itzund prächtig blüht, soll bald zutreten werden. Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein; Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein. Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden. Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn. Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn? Ach, was ist alles dies, was wir vor köstlich achten, Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind, Als eine Wiesenblum, die man nicht wiederfind’t. Noch will, was ewig ist, kein einig Mensch betrachten. (aus: Echtermeyer. Deutsche Gedichte, S. 149) <?page no="40"?> 39 Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) 4. Beispiel-- Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: An Lauretten (Druck: 1695) LA urette bleibstu ewig stein? Soll forthin unverkn uͤ pffet seyn Dein englisch-seyn und dein erbarmen? Komm / komm und oͤ ffne deinen schooß Und laß uns beyde nackt und bloß Umgeben seyn mit geist und armen. Laß mich auff deiner schwanen-brust Die offt-versagte liebes-lust Hier zwischen furcht und scham geniessen. Und laß mich tausend tausendmahl / Nach deiner g uͤ ldnen haare zahl / Die geister-reichen lippen k uͤ ssen. Laß mich den ausbund deiner pracht / Der sammt und rosen nichtig macht / Mit meiner schlechten haut bedecken; Und wenn du deine lenden r uͤ hrst / Und deinen schooß gen himmel f uͤ hrst / Sich zucker-s uͤ sse lust erwecken. Und solte durch die heisse brunst / Und deine hohe gegen-gunst Mir auch die seele gleich entfliessen. So ist dein zarter leib die bahr / Die seele wird drey viertel jahr Dein himmel-rundter bauch umschliessen. Und wer alsdenn nach meiner zeit Zu lieben dich wird seyn bereit / Und h oͤ ren wird / wie ich gestorben / Wird sagen: Wer also verdirbt / Und in dem zarten schoosse stirbt / Hat einen sanfften tod erworben. (aus: Gedichte des Barock, S. 278 f.) <?page no="41"?> 40 2. Schritt - 17. Jahrhundert Um die Wende zum 17. Jahrhundert kann man von einer Stagnation in der Geschichte der deutschen Literatur sprechen. Die Namen der Dichter des 15. und 16. Jahrhunderts sind meist vergessen. Das hat natürlich auch mit den Bedingungen der Distribution von Literatur zu tun, mit den Verbreitungsmöglichkeiten und der Verbreitungsintensität der Literatur. Überblickt man den Zeitraum der Jahre 1450 bis 1600 summarisch, dann lässt sich feststellen, dass außer Luthers Bibelübersetzung, außer einigen seiner programmatischen Reformationsschriften, außer wenigen Werken von Hans Sachs und außer einigen Volks- und Kirchenliedern kaum etwas in den Bildungskanon der deutschen Literatur eingegangen ist. Das führt unmittelbar zu der Frage, wer diesen Kanon macht und was die historischen Bedingungen der Kanonbildung sind (s. Einleitung). Das 17. Jahrhundert ist geprägt von einer Veränderung des Buchmarkts. Der Messe- und Tauschhandel beginnt, die ersten Kataloge für die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt werden zusammengestellt. Vorsichtig geschätzt gibt es von diesen Büchern heute noch etwas mehr als 260 000 Exemplare. Allein in dem Jahrzehnt zwischen 1610 und 1620 erscheinen mehr als 1600 neue Titel, die meisten davon in lateinischer Sprache. Die durchschnittliche Auflagenhöhe beträgt 1500 bis 2000 Exemplare. Diese Zahl ist insofern bemerkenswert, als sie erst wieder im Jahr 1768 erreicht wird (vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 83 f.). Der Begriff Barock zur Kennzeichnung einer literaturgeschichtlichen Epoche hat sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchgesetzt. Im allgemeinsten Sinne meint Barock als Epochenbegriff die Literatur des 17. Jahrhunderts, wird aber auch als stilgeschichtliche Beschreibungskategorie in der europäischen Kunstgeschichte verwendet. Kennzeichen der Literatur des Barock ist ihre kulturelle Funktionszuschreibung, die in der Verknüpfung mit gesellschaftlichen, mit politischen und mit religiösen Themen besteht. Dies betrifft die Bedingungen der literarischen Produktion (der Anlass des Schreibens, der Auftrag an den Dichter, die Maßnahmen der Zensur etc.) sowie ihren rhetorischen Charakter, der stets auf Öffentlichkeit zielt. Gesellschaft, Politik und Religion sind zentrale Themen barocker Literatur. Diese Literatur gibt vor, was zu tun und was zu lassen ist, sie erarbeitet also restriktive Handlungsnormen in einem moraldidaktischen Zusammenhang. Mit Theobald Hocks (1573 bis nach 1624) deutschsprachigem Gedichtband Schönes Blumenfeld von 1601 beginnt im eigentlichen Sinne die frühbarocke Literatur. Hock schreibt in seiner Muttersprache Deutsch und er bedient sich <?page no="42"?> 41 eines Formenschatzes, der sich deutlich von der bis dahin dominierenden neulateinischen Dichtung der Humanisten unterscheidet. Allerdings wird er schnell vergessen, die späteren Barockdichter kennen ihn bereits nicht mehr. Die Autoren sind fast ausnahmslos Angehörige der Gelehrtenschicht, sie haben studiert und sind als Mediziner, Geistliche oder Juristen gut ausgebildet. Von den Honoraren für ihre Dichtung können sie nicht leben. Deshalb betätigen sich die meisten von ihnen auf dem Gebiet der Gelegenheitsdichtung (Kasualpoesie), die zu einem bestimmten Anlass geschrieben wird und einen Auftraggeber hat. So entstehen zahlreiche Hochzeits-, Tauf-, Geburtstags- und Sterbegedichte; einer der fleißigsten Kasualdichter ist Simon Dach (1605-1659) mit mehr als 1000 Einzeldrucken. Zu diesen Gelegenheitsdichtungen gehört auch die Vielzahl der sogenannten Figurengedichte (carmina figurata) unterschiedlicher Autoren, die versuchen, den Inhalt des Gedichts optisch durch die Textformung (das Layout) wiederzugeben, also beispielsweise die Vergänglichkeit des Lebens in der Form einer Sanduhr darzustellen, die durch die Textanordnung visuell erkennbar ist. Oder ein Weinglas, ein Kreuz, einen Torbogen-- der Gestaltungsmöglichkeiten sind dieser, aus der Antike stammenden Gattung kaum Grenzen gesetzt. 1624 erscheint ein schmales Büchlein, das bis heute unser Bild von der Barockliteratur entscheidend prägt, das Buch von der Deutschen Poeterey von Martin Opitz (1597-1639). Es ist die erste deutschsprachige Poetik. Opitz sieht die deutsche Sprache durch Barbarismen bedroht, er will das Deutsche zu einer neben Latein und Französisch konkurrenzfähigen Sprache der gelehrten Literatur aufwerten. Die deutsche Sprache ist nun- - europäisch gesehen- - literaturfähig geworden. Das wird von den Zeitgenossen als starker Impuls eines Modernisierungsschubes der deutschen Literatur verstanden. Nun kann auch der gelehrte Autor in Deutsch schreiben und der Leser auf Deutsch lesen, sofern bestimmte inhaltliche und formale Bedingungen erfüllt sind. Diese entwickelt Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey. Da das Latein als Zeichen großer Gelehrtheit nun wegfällt, muss der Dichter seine Bildung in der Wahl der Themen und deren kunstvoller Gestaltung unter Beweis stellen. Opitz verlangt, dass ein Dichter eine Synthese darstellen solle aus natürlicher Begabung, aus Inspiration und aus handwerklichem Wissen (den rhetorisch-humanistischen Kenntnissen). Die Kenntnis der antiken Vorbilder ist dabei ebenso unverzichtbar wie die Kenntnis aller bedeutenden Wissenschaften. Der Dichter ist Universalgelehrter, ein poeta doctus (gelehrter Dichter). Die Dichtung selbst ist für Opitz keineswegs zweckfrei, im Gegenteil. Dichtung verhilft zur Ausbildung guter Sitten, sie dient der Affektbeherrschung und sie leitet zum praktischen Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="43"?> 42 2. Schritt - 17. Jahrhundert Handeln an. Dichtung vermittelt Lehrsätze der praktischen Philosophie mit Hilfe von sinnlicher Anschauung, von Allegorien und Metaphern und von Beispielen. Opitz weist der Dichtung eine moraldidaktische Funktion zu. Wegweisend ist seine Forderung nach der Kongruenz von Wortakzent und Versakzent. Das lyrische Sprechen soll die natürliche Betonung eines Wortes widerspiegeln. Jambus (besonders der sechshebige Alexandriner mit einer Zäsur nach der dritten Hebung) und Trochäus sind die favorisierten Versmaße. Die barocke Literatur bedient zahlreiche Gattungen, im Drama etwa die Oper, das Oratorium, das Jesuitendrama, das Schuldrama, die hohe Tragödie, die Märtyrertragödie und die Komödie. In der Prosa sind zu nennen der höfische Roman, der Abenteuerroman, der Schäfer- und Picaroroman. Doch die eigentliche Stärke der Barockliteratur liegt in der Lyrik, so etwa im weltlichen Lied (politische Dichtung, Liebeslied, erotische Dichtung) und im geistlichen Lied (katholisches Kirchenlied, evangelisches Kirchenlied, mystische Dichtung). Die bevorzugten lyrischen Ausdrucksformen sind die Ode, das Sonett, das Epigramm, die Elegie, das Rätselgedicht, das Figurengedicht (carmen figuratum), das Lehrgedicht. Die sehr beliebte Emblematik als eine spezifisch barocke Sonderform der Lyrik vereint intermediale Überschneidungen von Bild und Schrift und setzt diese von Sebastian Brants Narrenschiff her bekannte Form der Literatur fort. Opitz’ poetologische Forderungen werden von den meisten zeitgenössischen Dichtern angenommen. Simon Dach (1605-1659) wird der Wortführer einer Art eigenen opitzschen Dichterschule, dem Königsberger Dichterkreis. Für Paul Fleming (1609-1640) ist Opitz nicht nur Lehrer, sondern er tituliert ihn in seinem Gedicht Über Herrn Martin Opitzen auff Boberfeld sein Ableben (gedruckt 1646) auch als Pindar, Homer und Vergil in einer Person. Die Epigramme des Friedrich von Logau (1604-1655) entsprechen weitgehend der Vorgabe von Opitz, wonach das Epigramm eine knappe Satire sein muss, auch wenn ihre Kürze und Scharfsinnigkeit nicht immer ausbalanciert sind. Andreas Gryphius (1616-1664) erfüllt weitgehend die Forderungen der Deutschen Poeterey. Er lockert aber die starre Versform, die den meisten Gedichten der Opitz-Schule eigen ist, durch Zäsuren und die Kunst des Enjambements (Zeilensprung) sowie durch eine antithetische Grundstruktur auf. Der bedeutendste Gegenspieler zu Opitz ist Georg Rodolf Weckherlin (1584-1653), er verwirft die strengen Regeln und geht einen eigenen Weg als Lyriker (vgl. sein Gedicht An das Teutschland, 1641), der die politischen Wirren und die gesellschaftlichen Folgen des Dreißigjährigen Kriegs (1618-1648) immer wieder thematisiert. <?page no="44"?> 43 Für die Tradition der mystischen Barockdichtung steht der katholische Angelus Silesius (1624-1677), der eigentlich Johannes Scheffler heißt; sein Gedichtband Cherubinischer Wandersmann (1657) hat die mystische Dichtung mit seinen Epigrammen, Rätselgedichten und Sentenzen nachhaltig geprägt. Paul Gerhardt (1607-1676) gilt als der bedeutendste Vertreter des evangelischen Kirchenlieds, dessen zahlreiche Lieder heute noch Teil der musikalischen Liturgie in den Gottesdiensten sind und die unter anderem von Johann Sebastian Bach (1685-1750) vertont wurden. Mit den Gedichten von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679) klingt die Phase der Dominanz barocker Ausdrucksformen in der Lyrik aus. Die oft als galante Dichtung bezeichnete Lyrik Hoffmannswaldaus, die erst in seinem Todesjahr gedruckt wird, geht über den petrarkistischen Lobpreis weiblicher Schönheit weit hinaus, sie kann durchaus als eine eigenständige Form der erotischen Lyrik verstanden werden. 1. Beispiel - Georg Rodolf Weckherlin: An das Teutschland. Sonnet (Druck: 1641) Das Gedicht An das Teutschland von Georg Rodolf Weckherlin entsteht mitten im Dreißigjährigen Krieg. Allerdings ist Weckherlin Emigrant, er dient seit 1619 in England, dort zunächst als Gesandter des württembergischen und später des pfälzischen Hofes, und tritt im Jahr 1626 in englische Dienste. Er wird Sekretär für auswärtige Angelegenheiten des englischen Staatssekretärs. Ab 1638 beschäftigt er sich mit der Vorbereitung zur Drucklegung eines Gedichtbandes, der 1641 in Amsterdam unter dem Titel Gaistliche vnd Weltliche Gedichte erscheint. An das Teutschland eröffnet darin den zweiten Teil mit den weltlichen Gedichten. Das hat für den Leser eine Signalfunktion, die ein programmatisches Verständnis beansprucht. Schon in der Vorrede des Bandes hat Weckherlin sich gegen die von Opitz betriebene Hinwendung zu antiken Vorbildern gewandt und nimmt für sich eine versifikatorische Freiheit in Anspruch. Weckherlin orientiert sich in Gattung und Metrik vornehmlich an französischen Vorbildern. Er vertritt das Prinzip der freien Akzentuierung, also eine Ausdrucksrhythmik, die von opitzschen Mustern erheblich abweicht. Weckherlin ist der erste Dichter, der die deutsche Sprache zur Sprache der Kunstdichtung-- jenseits der reinen Gebrauchslyrik-- erhebt. Das „Teutschland“, das Weckherlin vor Augen hat, ist ein geschundenes und zerschlagenes Land, das es als Einheit nicht gibt. Dieser Adressat ist für Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="45"?> 44 2. Schritt - 17. Jahrhundert Weckherlin eine Denkfigur, die einen überzeugten Kulturpatriotismus mit der Parteilichkeit für die protestantische Sache verknüpft. Dabei bedient er sich eines durchaus auch aggressiven Tons. Zerbrechen, aufwachen und Widerstand leisten sind die Kernverben der ersten Strophe des Sonetts. Obwohl das entsprechende Ausrufezeichen fehlt, kann das gesamte erste Quartett als ein politischer Imperativ in sechshebigen Jamben verstanden werden. Erst in der vierten Zeile tritt eine metrische Irritation auf, denn stur jambisch gelesen fallen Wortakzent und Versakzent auseinander. Zudem weisen die erste Virgel nach „Die dich“ sowie das Substantiv „freyheit“ auf einen metrischen Wechsel hin. Freiheit enthält, wie das Titelwort „Teutschland“ auch, zwei Längen und muss als ein Spondeus gelesen werden. Der Wortakzent fällt dabei auf die erste Silbe. Das bedeutet, dass nach „dich / “ das „und“ betont werden und „freyheit“ mit zwei Längen gelesen werden muss, danach geht es jambisch weiter. Die Antithese zur Freiheit ist die „Tyranney“ zu Beginn des zweiten Quartetts. Der Appell bewegt sich auf der Grenze zum Imperativ. Weckherlin beschwört einen Mut, den Deutschland vor dem Krieg gehabt haben soll, „dein altes hertz“ ist die Chiffre für den Zustand der vorkonfessionellen Entzweiung, peilt also die Wiederherstellung alter Zustände vor dem politisch-konfessionellen Krieg an (immerhin hatte sich Luthers Thesenanschlag von 1517 ein Jahr vor Beginn des Dreißigjährigen Kriegs zum 100. Mal gejährt). Wie sich das der Autor genau vorstellt, bleibt unklar. Denn seine Parteinahme für die protestantische Sache macht eine konsensuelle Friedenslösung selbst im Modus des lyrischen Sprechens unmöglich. Zugleich wird Deutschland eine Mitschuld am Krieg attestiert, die Freiheit ist „durch dich selbs u e berwunden“. Der appellative Ton wird erst mit der ersten Zeile des ersten Terzetts ergänzt, „Verlassend dich auf Got“. Mit Gottvertrauen soll dieses „Teutschland“ seinen (protestantischen) Fürsten folgen. Das Partizip Präsens Aktiv unterstreicht die präsentische Bedeutung dieses Appelles, demnach ist „Teutschland“ schon dabei, sich auf Gott zu verlassen und seinen Fürsten zu folgen. Durch die grammatikalische Struktur und das Vorziehen des Partizips an den Zeilenbeginn verschafft sich die Dringlichkeit (und vielleicht auch die Schärfe) dieses Appells Gehör. Dieses „Teutschland“ fungiert als persönlicher Adressat, stellt also eine Personifikation dar. Der Text zielt auf eine fingierte nationale Einheit, die es so nicht gegeben hat, und ruft zum politischen Handeln auf. Das zweite Quartett führt diesen politischen Imperativ fort, der fast schon aggressiv im Ton wird. „Teutschland“ leidet unter einer „Tyranney“, die ausgelöscht werden muss mit dem Blut „deiner feind und falschen brüdern wunden“. Wer aber sind Deutsch- <?page no="46"?> 45 lands Feinde in den 1630er Jahren? Hier kommt der konfessionelle Aspekt von Weckherlins Gedicht zum Tragen-- und damit die Einäugigkeit seiner Parteinahme. Denn die Feinde des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sind aus seiner Sicht die Katholiken mit ihren politischen Verbündeten. Das Vertrauen auf Gott, wie es zu Beginn des ersten Terzetts angesprochen wird, gepaart mit der unbedingten Gefolgschaft gegenüber den absolutistischen, protestantischen Fürsten sollen Weckherlins „Teutschland“ schließlich obsiegen lassen. Darin drückt sich die Hoffnung aus, dass der Konfessionskrieg zugunsten der protestantischen Kriegspartei entschieden wird. Weckherlins Gedicht ist also beileibe kein Friedensgedicht, auch kein Klagegedicht über die politischen Verhältnisse in Deutschland oder Ausdruck einer Friedenssehnsucht, sondern ein politisches Gedicht, das von außen zum militärischen Widerstand gegen die Katholiken aufruft, es ist Ausdruck einer tiefen Frustration angesichts der realen politischen Verhältnisse. In diesem Gedicht enthält sich der Autor zwar gänzlich eines polemischen Untertons, aber Weckherlin bedient durch seine klare Parteinahme für die protestantische Sache Vorurteile und Ressentiments und beschwört ein Feindbild, das zu überwinden gerade Voraussetzung für einen dauerhaften politischen und konfessionellen Frieden wäre. 2. Beispiel - Andreas Gryphius: Threnen des Vatterlandes / Anno 1636 (Druck: 1643) Anders Gryphius, der als unmittelbar Betroffener das Leid des Glaubenskrieges am eigenen Leib erfährt. Sein Gedicht Threnen des Vatterlandes (1636; gedruckt 1643) dokumentiert auf erschütternde Weise diese Betroffenheit. Es kann als ein Gegenstück zu Weckherlins Gedicht An das Teutschland gelesen werden. In Bildern von nahezu apokalyptischem Ausmaß beschreibt er die Zerstörungen durch den Krieg und die Folgen für die Bevölkerung. Städte sind verheert und abgebrannt, Vorräte sind geplündert. Bereits 18 Jahre dauere diese Katastrophe. Das ist ein durchaus politisch-programmatischer Ton, doch wendet Gryphius dann die Außenperspektive nach innen: „Doch schweig ich noch von dem was aerger als der todt. [/ ] Was grimmer den die pest / undt glutt undt hungers noth [/ ] Das auch der Selen schatz / so vielen abgezwungen.“ Tod, Pest, Feuer und Hungersnot sind nicht zu vergleichen mit dem größten Verlust durch den Krieg, dem „Selen schatz“. Das ist das Seelenheil der Menschen, ihr Glauben, der verlorengegangen ist. Dieser Verlust beruht auf den gewaltsamen Ereignissen des Krieges, die Menschen haben entweder aktivisch ihren Glauben verloren oder Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="47"?> 46 2. Schritt - 17. Jahrhundert sie wurden passivisch dazu gezwungen, ihren Glauben im Sinne ihrer Konfession aufzugeben und sich der je anderen Glaubenspartei anzuschließen, also eine Form von Glaubensverrat zu begehen. Der Text lässt für beide Lesarten genügend Spielraum. Gryphius verbindet mit der Eindringlichkeit der Schilderung die politische Situation mit der persönlichen Betroffenheit. Der Autor ergreift nicht Partei für die eine oder andere Seite, er erwähnt lediglich die Umstände, die zu solch einer katastrophalen Lage geführt haben. Um die Qualität der lyrischen Sprache und die Intensität der Sprachbilder von Gryphius ermessen zu können, sollten zum Vergleich das umfangreiche Trostgedicht In Widerwertigkeit Deß Kriegs (1638) von Martin Opitz oder von Wencel Scherffer von Scherffenstein (1598 / 1599-1674) das Gedicht Teutschland (1652; vgl. Gedichte des Barock, S. 153) und von Henrich Hudemann (um 1595-1628) Teutschland. Emblema (1625; vgl. Gedichte des Barock, S. 37) gelesen werden. 3. Beispiel - Andreas Gryphius: Es ist alles eitel (Druck: 1637 / 1663) Das Gedicht Es ist alles eitel von Andreas Gryphius wird erstmals in seinen Freuden und Trauer-Spiele auch Oden und Sonnette von 1663 gedruckt. Allerdings ist dies bereits die zweite Fassung eines Gedichts, das er unter dem Titel Vanitas, Vanitatum, et omnia vanitas schon 1637 in seinem Gedichtband Sonnete veröffentlicht hatte. Die Unterschiede zwischen beiden Fassungen, die ja doch über ein Vierteljahrhundert auseinander liegen, sind im Wortlaut oder in der Schreibung nur marginal. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Gryphius die Perspektive der unmittelbaren Ichbetroffenheit weitet zu einem allgemeinen Lebensgefühl, das mit dem „du“ als erstem Wort der zweiten Fassung jeden Menschen anspricht. Die erste Fassung verwendet noch die erste Person Singular, „ IC h seh’, wohin ich seh“ (Gedichte des Barock, S. 123). Das bedeutet also, Gryphius hat das Gedicht Es ist alles eitel während des Dreißigjährigen Kriegs (1618-1648) geschrieben und im Nachhinein als die Beschreibung des damaligen Lebensgefühls verstanden wissen wollen. So wird das Gedicht auch heute rezipiert. Es bringt das barocke Lebensgefühl in all seiner Düsternis und Todesbedrohung auf den Punkt. Der Wechsel im Titel von Vanitas, Vanitatum, et omnia vanitas (1637) zu Es ist alles eitel (1663) bedeutet keinen inhaltlichen oder thematischen Wechsel. Denn das lateinische Wort vanitas heißt Eitelkeit im alten Wortsinn, nämlich Vergänglichkeit, Vergeblichkeit, Nichtigkeit. Der Titel Vanitas, Vanitatum, et omnia vanitas ist die wörtliche Übernahme aus <?page no="48"?> 47 der lateinischen Übersetzung des hebräischen Alten Testaments (Vulgata). In der Bibelübersetzung Martin Luthers, die der Jurist und Protestant Andreas Gryphius sicherlich nutzte, heißt Prediger Salomonis 1, 2: „Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, ganz eitel“, und Prediger Salomonis 12, 8: „Es ist alles ganz eitel, spricht der Prediger, ganz eitel“. Der Titel des Gedichts von Gryphius Es ist alles eitel bildet also ein wörtliches Bibelzitat. Dieses urbiblische und urchristliche Motiv, an die Vergänglichkeit des Lebens zu erinnern, wird auch in einem bis heute in der Gottesdienstliturgie verwendeten barocken Kirchenlied festgehalten (vgl. Evangelisches Kirchengesangbuch [= EKG ] Nr. 528). Der Bäcker und Lehrer Michael Franck (1609-1667) hat es 1652 gedichtet und die Melodie komponiert, von Johann Sebastian Bach wurde es in einer Motette ( BWV 26) im Jahr 1724 vertont. Dort heißt es in der achten Strophe: Ach wie nichtig, ach wie flüchtig / sind der Menschen Sachen! / Alles, alles, was wir sehen, / das muß fallen und vergehen. / Wer Gott fürcht’, wird ewig stehen. ( EKG 528) Nebenbei macht dies deutlich, dass zur barocken Lyrik auch die evangelischen und katholischen Kirchenlieder gehören, die nicht nur zeitgenössisch eine starke Wirkung entfaltet haben. Die opitzsche Sprach- und Literaturreform hat unter anderem zum Ziel, die deutsche Sprache als durchaus konkurrenzfähige europäische Poesiesprache aufzuwerten. Auf Deutsch zu dichten sollte nun wünschenswert sein. Daneben ist für Gryphius von Bedeutung, dass Opitz die Übereinstimmung der natürlichen Betonung eines Wortes nach dem Sprachgebrauch mit der metrisch notwendigen Betonung des Wortes nach den Regeln der Metrik und des Versakzents fordert (Kongruenz von Wortakzent und Versakzent). Und schließlich ist die Bevorzugung der beiden Metren Jambus (immer die zweite Silbe wird abwechselnd betont nach dem Muster xx´) und Trochäus (immer die erste Silbe wird abwechselnd betont nach dem Muster x´x) hervorzuheben, die für Opitz und seine Schule Grundmetren der deutschsprachigen Poesie werden. Trotz der Dominanz der opitzschen Schule mit ihren Reformforderungen gibt es in der Barocklyrik Dichter, die einen eigenen Weg gehen und dabei durchaus innovativ wirken, wie beispielsweise Georg Rodolf Weckherlin. Einige lateinische Formeln neben vanitas vanitatum, die das Barockgefühl wiedergeben und die zum Verständnis der Barockliteratur unverzichtbar sind, Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="49"?> 48 2. Schritt - 17. Jahrhundert lauten memento mori (denke an den Tod; bedenke, dass du sterblich bist), carpe diem (nutze, genieße den Tag, denn man weiß nicht, was morgen ist) und horror vacui (das blanke Entsetzen vor der Leere, vor dem Nichts). Natürlich sind diese Beschreibungsformeln für das Leben und die Einstellungen dazu stets theologisch abgefedert. Das bedeutet dann, dass memento mori auf Psalm 90, 12 verweist, der lautet: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“; carpe diem wird religiös umgedeutet und bedeutet nicht ein hedonistisches Verhalten, also Genießen um jeden Preis, sondern heißt demnach: nutze den Tag in einem gottesfürchtigen Sinne; und schließlich bedeutet der horror vacui nicht eine allgemeine Seinsverlorenheit, sondern das Wissen um das Nichts, wenn man dem nicht ein Leben in Gott entgegensetzt- - in der barocken Malerei etwa die Angst vor einer leeren, unbemalten Fläche. Das wiederum berührt das neostoizistische Constantia-Ideal, welches die Beständigkeit im Glauben zum Ausdruck bringt. Dem Nichts und dem Schrecken davor wird der christliche Glauben entgegengesetzt, der sich in einem Leben in Beständigkeit und voller Anfechtungen aber bewähren muss. Das aus der antiken Lehre der Stoa übernommene Verhaltensideal der Ataraxie, der Seelenruhe, der Freiheit von Affekten und der emotionalen Unerschütterlichkeit, wird auf diese Weise neuzeitlich anverwandelt und christlich umgedeutet. Dieses Ideal ist erstrebenswert. Die Jenseitsperspektive ist dabei das Merkmal aller barocken Dichtung. Das Gedicht Es ist alles eitel bringt dieses barocke Lebensgefühl in Gedichtform komprimiert auf den Punkt. Ein sechshebiger Jambus (der Alexandriner genannt wird), mit einer Mitteldiärese (dem Einschnitt in der Mitte des Verses), strukturiert metrisch das gesamte Gedicht. Dieses ist als ein klassisches Sonett angelegt und orientiert sich dabei an dem europäischen Vorbild der Sonette des Italieners Francesco Petrarca (1304-1374), wonach zunächst zwei Quartette mit jeweils vier Versen folgen, danach zwei Terzette mit jeweils drei Versen. Insgesamt sind es also 14 Verse oder Zeilen. Das Reimschema folgt in den beiden Quartetten einem umschließenden Reim nach dem Muster abba abba, in den Terzetten weicht es vom petrarkistischen Muster ab, erweitert es und nutzt ein Schema mit ccd im ersten Terzett und eed im zweiten Terzett. Sprachlich greift die lyrische Sprechweise der Barockdichter generell auf rhetorische Erfahrungen und Prägungen zurück. Das betrifft unter anderem die Lehre von den genera dicendi (Stilarten), also den Aussageweisen. Diese sind das genus humile (niederer Stil), genus mediocre (mittlerer Stil) und genus sublime (hoher Stil), und sie entsprechen der rhetorischen Lehre von <?page no="50"?> 49 der Funktion einer Rede. Diese soll entweder docere (belehren) oder delectare (erfreuen, unterhalten) oder movere (emotional berühren, überzeugen). Wer also beispielsweise mit seiner Rede die Zuhörer emotional aufwühlen will, der muss sich des Stils genus sublime, also einer hohen Ausdrucksform bedienen. Diese aus der antiken Rhetorik stammenden Muster werden von Martin Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey explizit auf die Dichtung resp. die Literatur übertragen, „so muß man auch nicht von allen dingen auff einerley weise reden; sondern zue niedrigen sachen schlechte / zue hohen ansehliche / zue mittelm aͤ ssigen auch m aͤ ssige vnd weder zue grosse noch zue gemeine worte brauchen“ (Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hgg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2013, S. 43). Die erste Zeile des Gedichts von Gryphius endet mit einem Punkt. Demnach kann der Wortlaut als eine in sich geschlossene Aussage gelesen werden: „Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden“ (ich zitiere nach der modernisierten Textfassung in: Echtermeyer. Deutsche Gedichte, S. 149. Leider sind durch die Modernisierung die für die barocke Zeichen- und Sinnsetzung wesentlichen Virgel-Schrägstriche, neudeutsch slash, verloren gegangen). Mit dem ersten Wort wird ein „Du“ angesprochen. Damit ist jeder Leser oder Hörer dieses Gedichts gemeint. Allgemeiner gesagt kann in dem an exponierter Stelle stehenden „Du“ jeder angesprochen sein. Diese erste Zeile birgt also einen zutiefst appellativen Charakter. Dieser Appell drängt, ja bedrängt, denn wohin man sieht, man sieht „nur“ Vergänglichkeit, Tod. Die Grenze zwischen einem Appell und einem Imperativ im Sinne von ‚Schau dich um! Überall nur Tod‘ wird fließend. Zugleich verweist das Verb sehen, das in einem Parallelismus aufgenommen wird („Du siehst-[…] du siehst“), auf die Bedeutung der Wahrnehmung. Verknüpft mit der appellativ-imperativischen Grundstruktur dieser ersten Zeile bedeutet das dann: ‚Nimm endlich dieses Elend wahr! Das musst du doch sehen! ‘ Das einschränkende „nur“ erlaubt keinerlei Ausnahme, „nur Eitelkeit auf Erden“, sonst nichts. Dieser zweite Teil des Verses nimmt den Titel auf, Es ist alles eitel, nichts entgeht dieser Vergänglichkeit, „alles“ ist ihr unterworfen. Diese Grundbotschaft wird also in ein gängiges Format barocker Lyrik gepackt im Metrum des sechshebigen Jambus. Dadurch wird das Gedicht rezipientenfreundlicher. Die Erde ist die Chiffre für die Diesseitigkeit, ihr Gegenbegriff ist die Ewigkeit als Chiffre für die Jenseitigkeit. Das bedeutet also, was in diesem Gedicht mit dieser durchaus brutalen Direktheit gesagt wird, gilt nur für das Diesseits, es hat keine Geltung für das Jenseits. Diese versteckte antithetische Struktur-- denn die Jenseitigkeit wird ja nicht begrifflich genannt-- entwickelt Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="51"?> 50 2. Schritt - 17. Jahrhundert sich ab der zweiten Zeile zu einer offenen Antithese. Diese ist personal, temporal und anthropologisch im Sinne einer menschlichen Handlung strukturiert. Personal durch das Begriffspaar „dieser“ und „jener“, temporal durch „heute“ und „morgen“ und anthropologisch durch „baut“ und „reißt-[…] ein“. Das wirft Fragen auf: Wer baut? Die Antwort lautet „dieser“. Wer reißt ein? Die Antwort lautet „jener“. Und wer sind „dieser“ und „jener“? Menschen sind damit gemeint. Menschen bauen heute und Menschen reißen morgen ein. Aber es sind verschiedene Menschen, das garantiert die Antithese „dieser“- - „jener“. Dieser und Jener wird also zur Repräsentanz allgemeinen menschlichen Verhaltens in diesen Kriegszeiten, als pars pro toto (als Teil fürs Ganze) stehen sie für Menschengruppen, für eine bestimmte Art von Menschsein. Das Bauen impliziert eine planvolle Handlung, das Einreißen zeugt von Destruktivität und Aggressivität. Mit Blick auf den zeitlichen Kontext lassen sich dahinter die kriegführenden Konfessionen der Protestanten und der Katholiken erkennen. Die dritte Zeile wird mit einer Alliteration des Buchstabens „W“ eröffnet und bringt eine weitere Antithese neben der temporalen Antithese Gegenwart („itzund“) und Zukunft („wird-[…] sein“) ins Spiel, nämlich „Städte“ und „Wiese“. Die Wiese gilt als Metapher für das Land als einen Gegenort zu den Gefahren der Städte. Dabei bewahrt sich der Begriff „Wiese“ eine Ambivalenz. Er kann zum einen verstanden werden als Synonym für das Endergebnis der Zerstörung. Denn wo alles zerstört ist und es weder von Menschen gemachte Bauten noch natürliche landschaftliche Besonderheiten mehr gibt, da herrscht tabula rasa, gähnende Leere, eine öde Landschaft. Zum anderen lässt sich im Begriff „Wiese“ aber auch ein utopischer Rest, eine Art Hoffnungsrest erkennen. „Wiese“ wird so gesehen zum Synonym für einen Naturzustand, in den der Mensch noch nicht planerisch oder zerstörend eingegriffen hat. Diese Sicht würde aber einen gewissen Widerspruch zum Gedichttitel implizieren, denn wenn tatsächlich alles eitel, also vergänglich ist, dann müsste dies auch für die „Wiese“ gelten, denn die „Wiese“ ist ja auch der Ort, wo neues Leben entsteht. Diese Spannung bleibt am Ende der dritten Zeile zunächst noch erhalten. Das Wort „eine“ vor „Wiese“ kann-- folgt man dem streng alternierenden Metrum-- nicht nur als Indefinitpronomen im Sinne von irgendeine, sondern auch als ein Zahlwort gelesen werden. Demnach handelt es sich um eine einzige Wiese, die am Ende übrigbleiben wird. Viele oder vielleicht sogar alle Städte werden durch den Krieg zerstört werden, aber eine einzige Wiese wird übrigbleiben. Bemerkenswert ist, dass nicht von Wüste, sondern von Wiese gesprochen wird. Die Zerstörung ist also nicht der Schlusspunkt dieser Perspektive. Vielmehr bewahrt <?page no="52"?> 51 der utopische Rest in „Wiese“ den Blick auf einen möglichen Neubeginn. Denkbar ist es, dass politische und konfessionelle Divergenzen dann keine Rolle mehr spielen werden unter dem Aspekt der allgemeinen Vergänglichkeit. Alles wird am Ende, also im Blick einer jenseitigen Betrachtung, zu einer Einheit verschmelzen (‚eine einzige Wiese‘), der Wahnsinn der militärischen Austragung konfessioneller Unterschiede wird aufhören, weil dieser Glaubenskrieg unter dem Aspekt der allgemeinen Vergänglichkeit völlig irre ist. Am Ende spielt all dies überhaupt keine Rolle mehr, am Ende steht eine einzige Wiese als Symbol für die allgemeine christliche Einheit. Und es ist nicht der Blick in einen Garten Eden, in ein Paradies, der den christlichen Horizont eröffnet, sondern die „Wiese“, die nach und nach mit pflanzlichem, tierischem und menschlichem Leben besiedelt wird. Gryphius formuliert eine zarte, fast zögerliche Hoffnung auf Einheit. Die vierte Zeile unterstreicht die bisherige Deutung, die zeigt, dass Gedichtanalyse immer auch Mikroanalyse des Textes ist. Das „Schäferskind“ ist nicht christologisch zu deuten, wonach damit das Jesuskind angesprochen wäre. Vielmehr verweist dieses Bild auf die barocke Codierung erotischen Sprechens. Der Schäfer ist der Inbegriff für die Liebenden, er ist also derjenige, der in Liebe entbrannt ist. In der traditionellen antiken und neuzeitlichen Schäferdichtung liegt die Geliebte-- als Schäferin kostümiert-- meist auf einer blumenreichen Wiese, ein Bächlein murmelt und ein Baum spendet Schatten. Diese Codierung ist so dicht, dass sie heutzutage nur schwer aufzubrechen ist. Nun ist bei Gryphius aber nicht die Rede von Schäfer und Schäferin, von Mann und Frau, sondern von einem „Schäferskind“. Und es ist auch nicht die Rede von einem einzelnen Schaf, was eine christliche Ikonographie implizieren würde, sondern von einer ganzen „Herde“. Wie ist das zu deuten? Das „Schäferskind“ kann als ein Kind der Liebe verstanden werden, wenn man die erotische Codierung übernimmt. Diese wird aber sofort geblockt, es ist nur von einem Kind die Rede. Gryphius beschwört damit einen friedvollen und liebevollen Zustand in der Zukunft, der mit dem Begriff der „Wiese“ und dem Kind der Liebe konnotiert ist. Die Schafherde lenkt die erotische Codierung ab und verweist nun auf den Naturzustand, sie ist wie die „Wiese“ Synonym und Symbol für das Landleben als einem Ort im fast infantilen Naturzustand, in den der Mensch noch nicht zerstörend eingegriffen hat. Zugleich wird mit diesem Bild auch ein bäuerlicher Hintergrund aufgerufen, der dadurch an Bedeutung gewinnt, dass der Dreißigjährige Krieg von massiver Hungersnot, Zerstörung der Ernten und Plünderung des Saatguts begleitet ist. Diese agrarischen Fragen gewinnen also Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="53"?> 52 2. Schritt - 17. Jahrhundert an Bedeutung. Und dennoch ist der Bauer gegenüber dem Städter im Vorteil, da er für sich selbst sorgen kann. Auf den zweiten Blick lässt sich die Schafherde doch auch theologisch deuten. Freilich muss dabei beachtet werden, dass nicht von einem Lamm, sondern vom „Schäferskind“ die Rede ist. Christus ist das Lamm Gottes, die Schafe sind die Gläubigen. Der Begriff der „Herde“ ist zutiefst theologisch konnotiert. Damit würde der politischen Ereignisgeschichte eine Glaubenserfahrung entgegengestellt werden, die die Hoffnung auf Frieden nicht aufgibt. Die Zeilen fünf und sechs spannen wieder Antithesen auf und unterstreichen nochmals dieses wichtige und starke Strukturmerkmal des Gedichts, „itzund“-- „bald“, „prächtig blüht“-- „zutreten“, „itzt“-- „morgen“, „pocht“, „trotzt“-- „Asch und Bein“. Pochen und trotzen können als Verben der militärischen Zerstörung und des Kampfes gelesen werden. „Asch“ verweist auf die vielen Feuersbrünste, die mit dem Krieg verbunden sind, „Bein“ bedeutet Gebein, wird also zur Metapher für den Tod. In der zweiten Hälfte des zweiten Quartetts ab der siebten Zeile wird eine für das barocke Weltbild fundamentale Haltung ausgesagt. „Nichts ist, das ewig sei“, das heißt, nichts ist für die Ewigkeit, alles ist vergänglich. Nichts von dem, was ich sehe-- man denke an das „du siehst“ des ersten Verses-- ist ewig. Aber wo liegt die Grenze dieses Nichts? Der appellativ-imperativische Ton wird hier wieder in Form einer starken Behauptung aufgegriffen und so entsteht eine Klammer zwischen der ersten Zeile und der siebten Zeile, eine Binnenklammer. Nichts von dem, was wir für ewig halten an materiellen Gütern oder was ewig sein soll (man beachte den Konjunktiv „sei“), ist ewig. „Erz“ und „Marmorstein“ sind Chiffren für Militär und aristokratische Prachtbauten. Möglicherweise hat Gryphius auch an die üppige katholische, barocke Kirchenarchitektur gedacht. Also weder die Militärs noch die Adligen und Herrschenden können auf Dauer ihre Herrschaft sichern und ausüben, auch sie sind dem Vergänglichkeitsdiktum unterworfen. Diese Textstelle impliziert damit eine eminent politische Aussagekraft und macht das Sonett-- neben der Repräsentativität für ein barockes Vanitas-Gedicht-- auch zu einem politischen Gedicht. Diese politische Perspektive wird in der achten Zeile ergänzt durch eine Erweiterung ins grundsätzlich Anthropologische. „Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden“ verweist direkt nach innen, weg von der politischen Außenperspektive der siebten Zeile, und legt schonungslos in einer temporalen Antithese („Itzt“-- „bald“) in der zweiten und der dritten Antithese „lacht“- - „donnern“ und „Glück“- - „Beschwerden“ den Verfall des mensch- <?page no="54"?> 53 lichen Lebens offen. Auch das kurze menschliche Glück ist der Vergänglichkeit unterworfen, es ist eben nichts „ewig“. Empfindet man jetzt Glück, so ist dieses Gefühl in Kürze verloren. Der Text holt die Außenperspektive nun ein, denn im Innern „donnern die Beschwerden“. Was in der Lebenswelt als Destruktion erfahren wird, ereignet sich auch am eigenen Körper, und zwar an jedem Körper, ohne Ausnahme. Diese Körpererfahrung gleicht also einem Kriegszustand, einem im Wortsinne leib-haftigen Krieg. „Der hohen Taten Ruhm“ wird mit einem „Traum“ verglichen, der vergeht. Das Bild unterstreicht aber auch, dass die militärischen oder die persönlichen Erfolge, wenn man so den Tatenruhm verstehen will, im Grunde genommen nur Fiktion sind, nichts Wirkliches, auf das man eine Zukunft gründen könnte. Die Erfolge sind genauso vergänglich- - hier kommt wieder die Generalaussage des Gedichttitels ins Spiel-- wie alles andere. Erfolg bleibt nicht bestehen. Gryphius nimmt damit eine Perspektive ein, die bereits auf die Jenseitigkeit verweist. Vor Gott zählen nicht die persönlichen oder die kollektiven Erfolge, sie müssen angesichts der Ewigkeit Gottes vergehen. Das „muss“ der neunten Zeile betont die Notwendigkeit dieses Vorgangs, es gibt kein Entweichen daraus. Die zehnte Zeile, die zugleich die erste Zeile des ersten Terzetts ist, stellt die Frage, ob denn „das Spiel der Zeit, der leichte Mensch“ bestehen soll. Der Text lässt offen, ob es sich dabei um eine rhetorische Frage handelt, die keine Antwort erwartet, oder um eine echte Frage, die drängend gestellt wird und ebenso drängend einer Antwort bedarf. Wenn diese Frage als Frage ernst gemeint ist, dann bedeutet sie: Wie soll denn der Mensch angesichts all dieser Vergänglichkeit überhaupt bestehen können? Damit würde das explizite Bewusstsein von Vergänglichkeit als Leidensdruck hervorgehoben. Insofern bewahrt sich dieser Vers eine Ambivalenz, die nicht eindeutig zu klären ist. Zwar sind beide Lesarten möglich, jedoch ist der elegische Ton, der Klageton, der immerhin mit einem seufzenden „Ach“ eingeleitet wird, darin nicht zu verkennen. Und wenn schon solch schwere materiellen Güter wie „Erz“ und „Marmorstein“ vergehen werden, dann „muss“ dies umso mehr auch für den Menschen gelten, der als leicht attribuiert wird. Diese Einsicht gibt eine barocke Glaubenssicht wieder, wonach der Mensch zutiefst erlösungsbedürftig ist. Die „Nichtigkeit“ in Zeile zwölf zu Beginn des zweiten Terzetts greift wieder auf die Titulatur zurück: Es ist alles eitel, alles vergänglich, alles nichtig. Vergänglichkeit und Nichtigkeit oder lateinisch vanitas sind Synonyme. „Schatten“, „Staub“ und „Wind“ nehmen das religiöse Vokabular des Alten Testaments auf, es gehört zum topologischen Inventar barocker Lyrik, und sind fast schon Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="55"?> 54 2. Schritt - 17. Jahrhundert theologische Allgemeinplätze. Die „Wiesenblum“ der Zeile 13 greift auf die Wiesenmetapher der dritten Gedichtzeile zurück und bildet damit eine zweite Binnenklammer. Der utopische Rest, der oben geltend gemacht werden konnte, hat nun gewurzelt, die „Wiese“ ist tatsächlich jener Ort eines Naturzustands, in den der Mensch noch nicht zerstörerisch eingegriffen hat. Extrinsisch aber muss auch diese Hoffnung sterben, das Vanitasdiktum gilt unverändert, am Ende ist der Mensch eine „Wiesenblum, die man nicht wiederfind’t“. Und die vierzehnte, letzte Zeile des Gedichts beschwört wieder den temporalen Aspekt durch das „Noch“. Das bedeutet in dieser Lesart, zur Zeit gilt noch, dass sich kein Mensch auf die Vergänglichkeit einstellt und jenseitsorientiert lebt. Denn das, „was ewig ist“, ist die Ewigkeit Gottes. Diese gilt es zu beachten und sich von der Diesseitigkeit zu lösen. Allerdings bleibt auch ein pessimistischer Rest erhalten, denn dort, wo der Mensch neu wurzelt, wird er auch wieder seine zerstörerische Kraft entfalten, der Kreislauf beginnt aufs Neue. Aus dieser tragischen Verstrickung in das Elend dieser Welt kann nur der Glaube erretten. Das „Noch“ bewahrt die Utopie und die Gewissheit, dass dieser Kreislauf beendet werden kann. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem sich die Menschen nach der Ewigkeit ausrichten werden. Das Gedicht entfaltet hiermit eine intrinsische und eine extrinsische Lesart, die Einsicht der Menschen wird eines Tages erfolgen, und sie werden die Ewigkeit Gottes „betrachten“. 4. Beispiel - Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: An Lauretten (Druck: 1695) Mit dem Gedicht An Lauretten von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679), das 1695 erstmals erscheint, liegt das Beispiel eines barocken erotischen Gedichts vor. Die Barocklyrik bedient sich- - besonders am Ende der Epoche- - einer bis dahin nicht gekannten Freiheit des erotischen Sprechens, wenn man dies streng von der pornografischen, nicht minder kunstvollen Lyrik eines Pietro Aretino (1492-1556) und seinen Sonetten I Modi (1524 / 25) [dt. Die Stellungen, 1999] abgrenzen will. Der Codierungszwang aus Gründen der Schicklichkeit und Konvention ist bei Hoffmannswaldau nahezu getilgt. Insofern kann An Lauretten durchaus auch als die Variation eines Liebesgedichts gelesen werden. Dies drängt sich besonders dadurch auf, dass der Autor einen hochliterarischen Namen für seine fiktive oder tatsächliche Geliebte wählt. Laurette ist die französisierte Namensform von Laura. Damit wird das europäische Vorbild streng codierter Liebeslyrik schlechthin zitiert, nämlich <?page no="56"?> 55 Francesco Petrarcas (1304-1374) Laura. In den Canzoniere (erstmals 1470 gedruckt) besingt er in Sonetten die unerwiderte Liebe zu Madonna Laura, die 1348 stirbt. Petrarca prägt damit eine europäische Tradition der Liebeslyrik, die sich in je verschiedenen Spielarten des Petrarkismus auf ihn beruft. Hoffmannswaldau verwendet eine softe Form der Codierung, z. B. „ oͤ ffne deinen schooß“. Er bedient sich einiger Signalwörter, die das Gedicht sofort als erotische Dichtung erkennen lassen. Neben „schooß“ sind dies „nackt und bloß“, „schwanen-brust“, „liebes-lust“, „geniessen“, „lippen k uͤ ssen“, „ausbund deiner pracht“, „lenden r uͤ hrst“, „schooß gen himmel f uͤ hrst“, „zucker-s uͤ sse lust“, „heisse brunst“, „dem zarten schoosse“. Die besungene Laurette kann als die Platzhalterin für eine konkrete historische Person verstanden werden, genauso gut aber beansprucht das Gedicht eine Allgemeingültigkeit, die Aussagen über die sexuelle Verfügbarkeit der Frau trifft. Danach kann Laurette auch als Platzhalterin für das Objekt männlichen Begehrens gelesen werden und Laurette wird die Denkfigur einer imaginierten sexuellen Begegnung. In der literarischen Tradition des Petrarkismus ist Laura der Inbegriff der Unnahbaren geworden. Zugleich verknüpft sich mit dieser Figur ein literarisches Format und strenges Schema, auf eine bestimmte Art und Weise eine Frau körperlich zu beschreiben. Dieses petrarkistische Frauenlob, das in der Barocklyrik seinen literaturgeschichtlichen Höhepunkt findet, wird in Teilen auch in Hoffmannswaldaus Gedicht abgerufen. Der Frauenkörper wird von oben nach unten beschrieben, regelrecht gescannt, von den Haaren über die Stirn zu den Augen, Nase, Wangen, Mund, Hals, Brüste, Bauch, Schoß, Schenkel, Beine. Die gedoppelte Eingangsfrage „bleibstu ewig stein? [/ ] Soll forthin unverkn uͤ pffet seyn [/ ] Dein englisch-seyn und dein erbarmen? “ fällt mit der Tür ins Haus und reduziert das literarisch-kunstvolle Vorbild Petrarca auf eine nahezu triviale Direktheit. Hoffmannswaldaus erotische Liebeslyrik ist dort anti-petrarkistisch, wo sie mit der Konvention des Frauenlobs spielt. Das Englischsein beschwört die Engelhaftigkeit der begehrten Frau und ist Ausdruck eines Restes jenes Frauenlobs, das die Frau überhöht und sie mit einem Engel vergleicht. Wenn Engelsgleichheit und „erbarmen“ eigentlich verknüpft gehören, dann bezeugt das die Auffassung, dass sich die Frau ihr Wesen auch in der körperlichen Liebe bewahren kann. Die anfängliche Doppelfrage versteckt nur unschwer diesen Appell zum Vollzug. Die „scham“, von der die zweite Strophe spricht, kann durchaus den kulturell geprägten Verhaltensstandard des sich Schämens meinen, ist aber ebenso gut deutbar als Sitz sexueller Begierde. Demnach bezieht Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="57"?> 56 2. Schritt - 17. Jahrhundert sich die „furcht“ auf die verstandesmäßige Kontrolle durch Ich und Überich und die „scham“ auf das körperliche Begehren. Der Aufruf zum „geniessen“-- womit nicht der gemeinsame Genuss, sondern nur der männliche Genuss gemeint ist- -, ist zutiefst anti-petrarkistisch. Die Kussmetaphorik greift sehr oberflächlich auf die europäische Vorstellung zurück, wonach sich beim Küssen die Seelen der Küssenden vereinen, es sich gleichsam um einen symbolischen sexuellen Akt handelt. Der Genuss soll, dies macht die Zahlenangabe deutlich, um ein Vielfaches gesteigert und wiederholt werden. Der „ausbund deiner pracht“ bezieht sich auf die gesamte Körpererscheinung der Frau oder noch weniger, auf den ganzen Körper. In der vierten Strophe bedient sich Hoffmannswaldau der barocken literarischen Standards von Tod und Vergänglichkeit, allerdings werden auch diese Themen hier sexualisiert. Wenn „dein zarter leib die bahr“ ist, dann setzt dies voraus, dass das männliche Ich auf der Frau liegt und der Geschlechtsverkehr vollzogen worden ist. Sprachlich wird das zwar noch durch den Konjunktiv Präsens abgemildert, doch die Imagination hat das vollzogen, wovon die ersten drei Strophen fantasierten. Die Drastik, mit der Hoffmannswaldau nun die Schwangerschaft der Frau beschreibt, hat nichts mehr vom Ton der hohen Liebeslyrik an sich. Dies ist die trivialisierte Schwundform des Vanitasmotivs. Die Vergänglichkeit der körperlichen Liebe wird durch die Vorstellung einer neuen Zeugenschaft kompensiert. Diese vertreten sowohl das Kind im Mutterleib als auch die späteren Liebhaber der Frau, die allesamt die sexuelle Tat des Kindsvaters loben und einen solchen Tod „in dem zarten schoosse“ als einen „sanfften tod“ feiern werden. Welches Frauenbild hierin zum Ausdruck kommt, liegt genderkritisch gesehen auf der Hand, und es bleibt schlussendlich die Frage, ob der Text gegen Ende hin nicht auch gegen sich selbst eine unfreiwillig parodistische Haltung einnimmt. Das Gedicht bleibt intentional ungebrochen, die Direktheit der Ansprache, der Beschreibung des Körpers und der Aufforderung zum Sex überschreitet die Grenze einer petrarkistischen Codierung. Literaturgeschichtlich gesehen muss man diese Direktheit und Offenheit als Zugewinn an Modi des lyrischen Sprechens begreifen, die erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Umfeld der Französischen Revolution wieder genutzt werden. <?page no="58"?> 57 Textgrundlage: Gedichte des Barock. Hgg. v. Volker Meid. 2., überarbeitete Aufl. Stuttgart 2014 (=-Reclam UB 19100). Echtermeyer. Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Auswahl für Schulen. Hgg. v. Elisabeth K. Paefgen u. Peter Geist. 20. Aufl. Berlin 2010. Lektüreempfehlungen: Gedichte u. a. von Paul Fleming, Paul Gerhardt, Andreas Gryphius, Friedrich von Logau, Angelus Silesius. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hgg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2013 (=-Reclam UB 18214). Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. Mit einem Nachwort v. Volker Meid. Durchgesehene u. bibliografisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2013 (=-Reclam UB 761). Christian Weise: Masaniello. Trauerspiel. Hgg. v. Fritz Martini. Stuttgart 2012 (=-Reclam UB 9327). Einführende wissenschaftliche Literatur: Volker Meid: Barocklyrik. 2., aktualisierte u. erweiterte Aufl. Stuttgart 2008. Dirk Niefanger: Barock. Lehrbuch Germanistik. 3., aktualisierte u. erweiterte Aufl. Stuttgart, Weimar 2012. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. 2. Aufl. München 1999. Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="60"?> 3. Schritt - 18. Jahrhundert A ufklärung : Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) Die Epoche der Aufklärung umfasst in der Literatur das gesamte 18. Jahrhundert. Spricht man explizit von einer literaturhistorischen Periode der Spätaufklärung, dann muss man auch noch die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts dazurechnen, obwohl 1798 / 1799 bereits die wichtigsten Textzeugnisse der Frühromantik vorliegen. Daneben sind dies die Jahre, in denen sich das Ensemble an Texten und Personen konstituiert, das unter dem Namen Weimarer Klassik in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Eine Abgrenzung zwischen dem Epochenbegriff der Aufklärung und den Periodenbegriffen Empfindsamkeit und Sturm und Drang ist weder möglich noch sinnvoll. Denn die Mischformen überwiegen. Autoren, die streng aufgeklärt auftreten, haben empfindsame Merkmale, empfindsame Autoren bedienen sich aufgeklärter Merkmale und Autoren des Sturm und Drang greifen sowohl auf aufgeklärte als auch auf empfindsame Merkmale zurück. Gleichwohl lassen sich in Texten Präferenzen erkennen und erlauben auf diese Weise eine Epochen- oder Periodenzuordnung. Empfindsamkeit und Sturm und Drang sind jedenfalls Teil der Aufklärung. Wird das 18. Jahrhundert als die Epoche der Aufklärung bezeichnet, so sind Empfindsamkeit und Sturm und Drang deren Perioden. Die Empfindsamkeit-- oder auch empfindsame Tendenz genannt-- erlebt ihren Höhepunkt in den 1750er Jahren, der Sturm und Drang in den 1770er Jahren. Während die empfindsame Tendenz ein europäisches Phänomen mit Schwerpunkten in England, Frankreich und Deutschland darstellt, ist der Sturm und Drang ein nahezu ausschließlich deutsches und deutschsprachiges Ereignis. Sturm und Drang und Empfindsamkeit sind so verstanden unveräußerliche Bestandteile aufgeklärter Literatur in gleichen und in unterschiedlichen historischen Phasen. Datiert man die erste Phase der empfindsamen Tendenz auf die Zeit von 1740 bis 1750 mit einem ersten Höhepunkt in den 1750er Jahren, so fällt die zweite Phase mit der Literatur des Sturm und Drang in den 1770er Jahren zusammen. In England hat die empfindsame Tendenz bereits nach 1700 eingesetzt, in Frankreich sogar schon ab 1650, am bekanntesten ist allerdings Jean-Jacques <?page no="61"?> 60 3. Schritt - 18. Jahrhundert Rousseaus (1712-1778) Roman Nouvelle Heloïse von 1761. In beiden Ländern sind Adelige und Bürgerliche gleichermaßen Träger der Empfindsamkeit. Um 1760 tauchen die Wörter Empfindsamkeit und empfindsam als Übersetzungen aus dem Englischen in Deutschland auf. Lessing prägt zwar nicht den Begriff, macht ihn aber bekannt, er empfiehlt den Titel von Laurence Sternes Roman Sentimental Journey (1768) als ‚empfindsame Reise‘ zu übersetzen (1768 / 69), was in der Folge zu einer Reihe von Nachahmungen in Deutschland führt. Der Einfluss der englischen moral-sense-Theorie (u. a. Shaftesbury, Hutcheson und Hume) auf die Empfindsamkeit ist beträchtlich. Nach diesem Verständnis ist der Mensch von Natur aus gut. Ihm wohnt ein moralisches Gefühl inne, das wie eine innere Stimme zwischen Gut und Böse zu unterscheiden weiß. In der deutschen Literatur verbürgt der Autor Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) die literarische und literaturgeschichtliche Verbindung von Sturm und Drang und Empfindsamkeit. Sein Name wird sogar zu einem zeitgenössischen Codewort, durch dessen Gebrauch die verwandten empfindsamen Seelen ihre Gleichgestimmtheit erkennen, ohne weitere Worte verlieren zu müssen. Der berühmteste literarische Beleg hierzu findet sich in Goethes Werther- Roman im Brief vom 16. Juni 1771. Dort berichtet Werther über eine Begegnung mit der von ihm begehrten Lotte: „Sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte-- Klopstock! Ich versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Loosung über mich ausgoß“ (S. 52). In Deutschland wird Empfindsamkeit zuerst von Bürgerlichen als Verhaltensnorm bestimmt und eingeübt und erst allmählich vom Adel übernommen. Die Geselligkeits- und Gruppenkultur der Empfindsamen umfasst Lektüreabende (bevorzugt werden Briefe gelesen), gemeinsames Gedichteschreiben und gemeinsame Unternehmungen. Daneben wird auf ästhetischem Gebiet für die Empfindsamkeit die Wirkungsästhetik der Aufklärung bedeutsam. Die Betonung des nicht nur tragischen Mitleids geht weit über die literarische Affektenlehre hinaus, sie gipfelt in Lessings Wort, „der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden-[…] der aufgelegteste“ (Trauerspielbriefwechsel, Brief an Friedrich Nicolai vom November 1756). Dies bedeutet einen enormen Verinnerlichungsschub, affektive Energien werden gebunden und in sozial verträgliche Tugenden umgewandelt. Die Literatur der Empfindsamkeit liefert die Vorbilder solcher Sublimierungszwänge und führt auch das Scheitern ihrer Helden vor Augen (wie z. B. im Werther). <?page no="62"?> 61 Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) Anfänglich bezeichnet Empfindsamkeit allgemein die moralische Zärtlichkeit, freundschaftliche Affekte der Zuneigung bis hin zur Liebe. Propagiert wird diese Denk- und Lebenshaltung vor allem in den Moralischen Wochenschriften des frühen 18. Jahrhunderts. Daneben ist aber auch die soziale Komponente von Empfindsamkeit bedeutsam, sie meint eine moralische Empfindsamkeit des tugendhaften Handelns. Statt Geburtsadel ist im Bürgertum des 18. Jahrhunderts nun von Seelenadel die Rede, der die tugendhaften Menschen auszeichnet und nicht von Geburt an vorhanden ist, sondern durch das Einhalten sozialer Regeln erworben werden kann. In der Literatur erfasst die Empfindsamkeit zwischen 1750 und 1770 alle Gattungen, sie wird regelrecht zur Mode und erreicht in den 1770er Jahren einen weiteren Höhepunkt. Erst nach 1778 tauchen abwertende Begriffe wie Empfindelei und Sentimentalität als Folge einer übertriebenen Empfindsamkeitswelle auf. Sophie von La Roche (1730-1807) schreibt mit der Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) einen der bedeutendsten empfindsamen Romane. Friedrich Leopold von Stolbergs (1750-1819) Prosahymnus Über die Fülle des Herzens (1777) gilt als empfindsamer literarischer Katechismus, in dem es um Liebe, Freundschaft, das Verhältnis zur Natur, um Religion, Tierliebe, Wissenschaft und Seelenadel geht. Der empfindsame Gefühlswortschatz hat zweifelsohne eine protestantisch pietistische Prägung. Die Betonung des Gefühls im pietistischen Selbstverständnis fördert die empfindsame Tendenz in Deutschland, doch kann nicht von der Empfindsamkeit als einer säkularisierten Form des Pietismus gesprochen werden. Die empfindsame Wirkungsästhetik der Aufklärung, wonach die Wirkung von Literatur im Mittelpunkt steht und nicht so sehr deren Produktion, erfährt durch Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) eine wesentliche Erweiterung. Die Aufgabe der Tragödie als höchster literarischer Gattung besteht seit Aristoteles in der Reinigung der Leidenschaften. Diese Reinigung definiert Lessing als die „Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten“ (Hamburgische Dramaturgie, 78. Stück, 1768) und formuliert damit einen unauflösbaren (und utopischen) Zusammenhang zwischen Literatur und gesellschaftlicher Verantwortung. Affekte sollen sozialverträglich diszipliniert oder kanalisiert werden. 1783, also am Ende der Aufklärung, wird jene Frage öffentlich gestellt, die damit das gesamte Jahrhundert der Aufklärung bilanziert: „Was ist Aufklärung? “ An dieser Debatte nehmen neben Kant unter anderem auch Wieland, Mendelssohn und Herder teil. Wenn Kant im darauf folgenden Jahr die Frage mit dem Satz beantwortet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstver- <?page no="63"?> 62 3. Schritt - 18. Jahrhundert schuldeten Unmündigkeit“ (Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Hgg. v. Ehrhard Bahr. Stuttgart 1983, S. 9, im Original kursiv), so zeigen die Dramen von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) schon einige Jahre zuvor, dass diese Unmündigkeit nicht selbstverschuldet, sondern gesellschaftlich gewollt und bedingt ist. Die sogenannten unmündigen Individuen- - sowohl das weibliche Individuum als auch der junge männliche Bürgerliche-- werden unmündig gemacht. Darauf haben bereits schon Zeitgenossen hingewiesen, wie etwa ein Brief von Johann Georg Hamann (1730-1788) vom 18. Dezember 1784 belegt, worin er über Kant und seinen Aufsatz bemerkt: „Was hilft mir das Feyerkleid der Freyheit, wenn ich daheim im Sclavenkittel.-[…] Die selbst verschuldete Unmündigkeit ist ein ebenso schiefes Maul, als er dem ganzen schönen Geschlecht macht, und das meine 3 Töchter nicht auf sich sitzen laßen werden“ (ebd., S. 22). Was also der Philosoph Kant als Antwort formuliert, entspricht dem Blick vom Ende der Epoche her und kann nur bedingt auf das Selbstverständnis des gesamten Jahrhunderts zurückprojiziert werden. Demgegenüber muss die zeitgenössische Formel für die Aufklärung in Anschlag gebracht werden, die vom Beginn des Jahrhunderts an allerorten wiederholt wird und lautet: ‚Aufklärung des Verstandes und Besserung des Herzens‘. Das ist das Programm der Aufklärung, Herz und Verstand in eine Balance zu bringen, die den allmählichen Prozess der Vervollkommnung der Menschen (zeitgenössisch als Perfektibilität bezeichnet) voranbringt. Lessing ist einer jener Literaten der Aufklärung, die sich sowohl in ihrem essayistisch-theoretischen Werk als auch in ihren fiktionalen Werken, vornehmlich dem Drama, dieser Frage und Herausforderung stellen. Als Thomas Morus (1478-1535) im Jahr 1516 seinen Gesellschaftsentwurf Utopia veröffentlichte und im Kapitel Vom Verkehr der Utopier untereinander im zweiten Buch das gesellige urbane Leben beschrieb, hatte er sicherlich auch die Praxis der Ess- und Trinkgewohnheiten seiner Zeit, die dunklen Londoner Kneipen und Spelunken vor Augen. Denn er umreißt mit seinem utopischen Gegenentwurf- - in seinen Worten- - „die soziale Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft“ (Thomas Morus: Utopia. Übersetzt v. Gerhard Ritter. Nachwort v. Eberhard Jäckel. Stuttgart 1985, S. 73) als ein literarisches Wunschprodukt. Diese Gesellschaftsform ist so streng organisiert und in sich so hermetisch strukturiert, dass es als historisches Gegenstück strenger Disziplinierung gegen den atropischen Raum der Kneipen gelesen werden kann. Sogenannte Syphogranten, welche die Vorsteher von 30 Haushalten sind, repräsentieren danach <?page no="64"?> 63 die staatliche und bürgerliche Ordnung. Essen, Trinken und Vergnügen werden so diszipliniert, dass Digressionen nicht möglich sind. In Morus’ Utopia wird jede Mahlzeit „mit Vorlesen irgendeines Textes von moralischem Inhalt“ (ebd., S. 78) eröffnet und stellt sich damit in eine mönchische Tradition strenger Observanz. Die Tischgesellschaft soll durch Musik, Süßspeisen, Leckereien, Räucherkerzen und duftende Essenzen erheitert werden. Das Fazit lautet: „So gestaltet sich das gesellige Leben in der Stadt“ (ebd.). Der Gasthof wird damit zum Entwurf eines historischen Gegenraums bürgerlicher Ordnung. Lessings Miss Sara Sampson (1755) kann als ein Initiationstext der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert gelesen werden, wenn man ihn in diesen großräumigen literatur- und kulturgeschichtlichen Horizont stellt. Die Eingangsszene des Stücks spielt in einem Gasthaus, das vom aristokratischen Vater schon mit seinen ersten Worten als Wirtshaus sprachlich und kulturtopologisch diskreditiert wird. Zugleich dient dieser Ort aber auch der Vergegenwärtigung der nomadischen Unbehaustheit des bürgerlichen Individuums innerhalb des Emanzipationsprozesses des Bürgertums im 18. Jahrhundert. Versteht man diese literarische Sequenz als eine Spiegelung der Selbstreflexion und Merkmalsbestimmung von bürgerlicher Modernität, dann können von hier aus durchaus Perspektiven auf die postmoderne Diskussion in den Kneipenromanen der Gegenwartsliteratur gezogen werden (vgl. etwa Tom Liehrs Idiotentest von 2005, Katinka Buddenkottes Betreutes Trinken von 2012 oder Ju Innerhofers Die Bar von 2013). Denkt man literatur- und kulturhistorisch weiter zurück, so ist die Bedeutung des fingierten Kneipenraums oder zumindest der Kneipenfiguration schon in Platons Symposion gegenwärtig. Johann Fischarts Geschichtklitterung (1575) hält jene berühmte rabelaissche trunkene Litanei bereit, die in der deutschen Literatur in einem frühneuzeitlichen Barockroman eine Kneipenfiguration inszeniert und dies sprachlich widerspiegelt. Das könnte unter anderem als ein entscheidendes Differenzmerkmal zu den postmodernen Kneipenromanen der Gegenwart, die überhaupt nicht erst versuchen, alkoholinduziertes Sprachwirrwarr abzubilden, verstanden werden. Lessings Drama Miss Sara Sampson erscheint im Frühjahr 1755. Zwischen Januar und März dieses Jahres soll der Autor den Text geschrieben haben, am 10. Juli 1755 erfolgt die Uraufführung. Alles in allem deutet dies darauf hin, dass das Drama schnell entstanden ist und ebenso schnell gedruckt und aufgeführt wird. Lessing liegt offensichtlich daran, mit diesem Stück seinen Beitrag zu einer aktuellen zeitgenössischen Debatte zu leisten. Diese Debatte erschließt sich aus dem Untertitel des Dramas, der Gattungsbezeichnung „bürgerliches Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="65"?> 64 3. Schritt - 18. Jahrhundert Trauerspiel“. Zwei Jahre, nachdem die erste deutsche Übersetzung der aristotelischen Poetik erschienen ist und damit das entscheidende dramentheoretische Regelwerk für alle lesbar vorliegt, veröffentlicht Johann Gottlob Benjamin Pfeil (1732-1800) ebenfalls 1755 seine theoretische Abhandlung mit dem Titel Vom bürgerlichen Trauerspiele. Ob Lessing diesen Essay, der erstmals im deutschen Sprachraum über die theoretische Begründung dieser neuen Gattung reflektiert, gekannt hat, ist zweifelhaft, mutmaßlich handelt es sich um einen jener geschichtsträchtigen Zufallsmomente. Nach Pfeils Vorstellung soll ein Trauerspiel Tugend und Laster gleichermaßen zur Darstellung bringen. Das Ziel oder der „Endzweck“ einer Tragödie sei es, „die Tugend verehrungswürdig und beliebt und das Laster verächtlich und verabscheuungswürdig zu machen“ (zitiert nach: Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart, Weimar 1995, S. 147). Das Theater würde damit einer Sittenschule noch ähnlicher. Pfeil grenzt in seiner sozialdistinkten Argumentation den Adel von den Bürgerlichen und die Bürgerlichen von dem Pöbel ab. Während Bürgerliche derselben Leidenschaften fähig seien wie die adligen Helden auf der Bühne, sei der Pöbel „zu einer großen Tugend zu dumm, und zu einem großen Laster, wie es auf der Schaubühne vorgestellt werden muß, wenn es einen Eindruck machen soll, zu verzagt“ (zitiert nach: ebd., S. 148). Daher bieten Charaktere aus den unteren und untersten Gesellschaftsschichten keine geeigneten Projektionsflächen, um die erforderliche Disziplinierung der Leidenschaften beim bürgerlichen Publikum zu erzielen. Der emanzipatorische Gestus, mit dem Pfeil zu Beginn seiner Abhandlung die eingespielte Gattungsdistinktion aufbricht, wonach das Trauerspiel nur Helden aus der oberen Gesellschaftsschicht zuließ, führt auf der anderen Seite im gesellschaftlichen Bezugsfeld Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Abgrenzung nach unten. Die Emanzipation des eigenen, bürgerlichen Standes wird durch die Sozialdistinktion dem Pöbel gegenüber gesichert. Von Pfeil wie auch zeitgleich von Lessing wird der Anspruch vorgetragen, dass die Bürgerlichen einer neuen, schichtenspezifischen Diskursform bedürfen, und das ist das bürgerliche Trauerspiel. Diese Dramenform dient der bürgerlichen Selbstreflexion, also der Verständigung darüber, was wir Menschen als Bürgerliche sind, was uns ausmacht, was wir können. Pfeil sagt unmissverständlich, wie der Bürger anders als der Adlige spreche, „so wird sich der Bürger anders als der Pöbel ausdrücken“ (zitiert nach: ebd., S. 148), und das bedeutet den Verzicht auf Versifikation im bürgerlichen Trauerspiel. Pfeil erklärt die Fähigkeit einer Disziplinierung von Leidenschaften als ein genuin bürgerliches Vermögen. „Man wähle die <?page no="66"?> 65 handelnden Personen niemals aus dem Pöbel“, warnt er, „kein Schneider, kein Schuster ist einer tragischen Denkungsart fähig“ (zitiert nach: ebd., S. 149). Wer Gelegenheit hatte, seinen Verstand aufzuklären oder sein Herz zu bessern (also das zentrale Programm der Aufklärung zu erfüllen! ), gehöre zu jenem „Mittelstand zwischen dem Pöbel und den Großen“, aus dem sich die tragischen Charaktere bilden, und das seien die Bürgerlichen. „Aus dieser Klasse müssen wir die Charaktere der handelnden Personen hernehmen. Diese Leute sind jederzeit desjenigen Grades der Tugend und des Lasters fähig, den die tragische Schaubühne erfodert, wenn sie ihre Absicht erreichen will“ (ebd.). Am Anfang von Lessings Stück steht die Gattungsbezeichnung als Untertitel: „Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel, in fünf Aufzügen“, und am Ende des Stücks heißt es „Ende des bürgerlichen Trauerspiels“ (Zitatbelege zur Sara Sampson, sofern sie sich nicht selbst erschließen, nur mit Akt- und Szenenangabe). Lessing will also sein Drama als einen Beitrag verstanden wissen zu dieser aktuellen Debatte in der zeitgenössischen Literatur: was ist ein bürgerliches Trauerspiel? Das Drama The London Merchant (1731; dt. 1752) des Engländers George Lillo (1691-1739) war überhaupt das erste bürgerliche Trauerspiel in der Literaturgeschichte. Lessing legt, vor allem wenn man die Wirkungsgeschichte seines Stücks bis heute berücksichtigt, den wichtigsten Referenztext in der deutschen Literatur vor. Erst im Nachdruck von 1772 lässt er das entscheidende neue Adjektiv bürgerlich weg, das ihm seit 1749 bekannt ist. Auch in der Einleitung zu seinen Übersetzungen Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele (1754) kommt er auf die neue Gattungsbezeichnung beiläufig zu sprechen. Und im sogenannten Trauerspielbriefwechsel (1756 / 57) mit Moses Mendelssohn (1729-1786) und Friedrich Nicolai (1733-1811) wird es ausführlich um die Bestimmung der Funktion und Wirkung eines (bürgerlichen) Trauerspiels gehen. Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) Lessings Sara Sampson wird nach seinem Erscheinen viel gelesen, viel gespielt, viel diskutiert. Was die Vorlagen und Quellen zum Stück, zur Motiventfaltung (wie etwa das Verführungsmotiv, das Motiv des Meineids, das Motiv der Musterfamilie) und zur Figurenrede betrifft, hat die Forschung zahlreiche Referenzstellen aus der einschlägigen zeitgenössischen Literatur ausgemacht. So sind etwa alle Personennamen des Stücks englischen Dramen oder Romanen entnommen. Lessing geht frei und großzügig mit seinen Vorlagen um. Man Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="67"?> 66 3. Schritt - 18. Jahrhundert könnte heute fast schon von einem Cross-over-Stück sprechen, in dem Lessing seine eigenständige Poetik des Mitleids zur Anschauung bringt. Die Personen sind dem Reservoir des englischen Landadels entnommen. Das erstaunt zunächst, soll es sich doch um ein bürgerliches Trauerspiel handeln, worin bürgerliche Verhaltensstandards und Bewusstseinsformen, Denkweisen und Gepflogenheiten zur Anschauung gebracht werden. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man das als Erklärungsschlüssel hinzuzieht, was Lessing selbst als die „Regel des Contrasts“ (Vom weinerlichen oder rührenden Lustspiel, in: Lessing: Werke und Briefe. Frankfurt a. M. 2003, Bd. 3, S. 280) bezeichnet. Um eine Tragödie besonders eindrucksvoll zu gestalten, muss beispielsweise neben der Tugend auch die Untugend dargestellt werden. Übertragen auf die soziale Herkunft der Figuren und den Spielort des Stücks heißt dies, dass bürgerliche Verhaltensweisen und Werte sowie die Reflexionen darüber am Beispiel adliger Repräsentanten exponiert werden. Ein ähnliches Verfahren wählt auch Friedrich Schiller noch ein knappes halbes Jahrhundert später in seiner Tragödie Maria Stuart (1800), wo er in einer sehr intimen Szene die Königin von Schottland Maria und die Königin von England Elisabeth aufeinander prallen lässt und ihre Verhaltensweisen als genuin bürgerliche Verhaltensweisen entlarvt, obwohl die beiden Frauen Repräsentantinnen des europäischen Hochadels sind. In Lessings Stück dient der Gasthof also als Ort der symbolischen Veranschaulichung der Heimatlosigkeit des Bürgertums, das seine soziale, schichtendistinkte Identität zu dieser Zeit innerhalb der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts noch nicht gefunden hat. Auch der Hinweis in der Regieanweisung darauf, dass Sir Sampson und sein Diener Waitwell die erste Szene noch in Reisekleidern betreten, hebt diesen Eindruck einer noch nomadischen Existenz von Bürgerlichkeit hervor. Die durch die Figuren dargestellten bürgerlichen Auffassungen und Verhaltensweisen werden doziert und agiert, das Stück schwankt dann zwischen einem starren, figurierten Traktat über die Richtigkeit moralischen Handelns und einer dynamischen, sentenzorientierten Tragödie. Sara ist seit neun Wochen auf der Flucht. Die Zahl neun ist vielleicht ein dezenter Hinweis auf eine denkbare, zu erwartende Schwangerschaft, sofern der Vater sie nicht finden kann. Denn dass es sich um eine Verführung seiner Tochter handelt, wird sofort thematisiert. Allerdings ist es der unterschichtige Diener Waitwell, der diesen Sachverhalt unverstellt und uncodiert als das bezeichnet, was es ist: Sara ist „so verführt“ (I / 1). Ein breites Arsenal empfindsamer Sprache und empfindsamer Denkfiguren wird in dieser Eingangsszene entfaltet. Das Gewissen wird angesprochen, der Vater weint, die Tränen fließen, <?page no="68"?> 67 die ersten „Achs“ von über 60 weiter folgenden gleichen Interjektionen werden geseufzt, die väterliche Zärtlichkeit wird als Schwachheit angesprochen und exponiert das Schema der Selbstanklage. Tugendhaftigkeit und Liebe sind als bürgerliche Verhaltenswerte sprachlich markiert, und schließlich stellt der Vater Sampson die bürgerlichen Moralvorstellungen in Frage, indem er das Verhalten Saras rechtfertigt. Er verteidigt ihre Verführbarkeit und ihre Flucht, das sei „besser als erzwungene Tugenden“ (I / 1). Der Autor Lessing ermöglicht dadurch die Reflexion darüber, inwiefern die Rigorosität und Normativität der bürgerlichen Moralvorstellungen überhaupt gerechtfertigt sind und wo im Spannungsfeld von Gesellschaft und Gewissen die Alternativen dazu liegen. Der Vater bringt diese Haltung jenseits einer affektiven Reaktion auf den Punkt, indem er ausführt, lieber von einer lasterhaften Tochter als von gar keiner geliebt zu werden. Tugendhaftes Handeln muss demnach authentisch sein und nicht nur in der Befolgung starrer Normen und Regeln erkannt werden. Der Vater entfaltet damit einen utopischen Horizont, vor dem das weitere Agieren der Figuren gesehen werden muss, und der weit weg ist von der gesellschaftlichen Wirklichkeit der 1750er Jahre. In der dritten Szene wird wiederum von einem Diener, dieses Mal ist es Mellefonts Diener Norton, eine zentrale Denkfigur bürgerlicher Selbstbestimmung eingeführt, es ist der Begriff des Mitleidens. Mitleid als eine dramentheoretische Wirkungskategorie ist bereits in der aristotelischen Poetik (vgl. 1449 b 24-27; Kap. 6) fest verankert, sie bestimmt den abendländischen poetologischen Diskurs maßgeblich und wird nun bei Lessing zum zentralen und exklusiven Bestimmungs- und Erkennungswort von Bürgerlichkeit. Denn Mitleid ist demnach dasjenige Verhaltensmerkmal, das weder die Unterschichtigen noch die Adligen entfalten können, sondern das allein die Bürgerlichen auszeichnet. Das Mitleid und die Furcht sind tragische Leidenschaften, die die Wirkung einer Tragödie bestimmen. Beides sind Affekte, die durch die Tragödie bei den Zuschauern oder Lesern ausgelöst werden sollen und Affekte, die in der Tragödie zur Darstellung gelangen, um bei den Zuschauern einen Identifikations- oder Gegenidentifikationsprozess in Gang zu bringen. Furcht bedeutet die Furcht des Rezipienten, bei gleichem Handeln ein ähnliches tragisches Schicksal zu erleiden wie der Protagonist auf der Bühne. Mitleid bedeutet die Anteilnahme am tragischen Schicksal dieser Person. Eine Tragödie soll nach der aristotelischen Tragödienlehre Furcht (heutzutage übersetzt mit Schaudern) und Mitleid (heutzutage übersetzt mit Jammer) erwecken und die Zuschauer von derartigen Erregungszuständen reinigen (Aristoteles nennt dies Katharsis). Darin Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="69"?> 68 3. Schritt - 18. Jahrhundert besteht das der Tragödie eigentümliche Vergnügen. Im 18. Jahrhundert setzt im Zuge des bürgerlichen Emanzipationsprozesses eine breite dramentheoretische Diskussion ein, in der Furcht und Mitleid zeitweise eine zentrale Rolle spielen. Johann Christoph Gottsched (1700-1766) hält in seinem gewichtigen Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) zwar noch an der ursprünglichen moralisch-didaktischen Funktion der Tragödie fest, wobei Schrecken und Mitleiden elementare Bestandteile sind. Lessing deutet aber in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767 / 69) Aristoteles um, indem er die Furcht dem Mitleid unterordnet. Furcht sei „das auf uns selbst bezogene Mitleid“ (75. Stück) heißt es dort, er integriert es in die neue Gattung des bürgerlichen Trauerspiels als letztlich einzige tragische Leidenschaft. Mitleid wird im Sinne der Empfindsamkeit als Sozialtugend verstanden. „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“, schreibt Lessing an Nicolai (s. o., Trauerspielbriefwechsel). Lessing entwickelt eine regelrechte Mitleidsästhetik oder auch Poetik des Mitleids genannt, die im Zusammenhang der empfindsamen Tendenz des 18. Jahrhunderts gesehen werden muss. Das Ziel der Tragödie heißt nun: „Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten“ (s. o., Hamburgische Dramaturgie, 78. Stück). Der Diener Norton ist es im Stück, der den Verführer Mellefont auf das fehlende Mitleid mit Sara stößt, denn Mellefont ertrinkt in Selbstmitleid. Zugleich verknüpft Mellefont die Denkfigur des Mitleids mit der Instanz des individuellen Gewissens. Nur wer ein Gewissen hat, kann Mitleid empfinden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, wer gewissenlos ist, ist mitleidlos. Zu diesem Zeitpunkt trifft dies auf Saras Geliebten zu, denn zum einen sieht er sich selbst als Opfer, das von Frauen verführt wurde, zum anderen unterstellt er jenen Frauen, die er selbst verführt hat, dass sie auch verführt werden wollten (vgl. das Ende von I / 3). Und schließlich wird in dieser Szene der Begriff der Tugend mit dem Begriff der Unschuld, und das bedeutet in diesem Kontext der sexuellen Unschuld, verknüpft. Seine Unschuld bewahren heißt, tugendhaft bleiben und sich selbst als beispielhaft bürgerlich exponieren. Davon berichten alle bürgerlichen Trauerspiele. Mellefont hat Sara ein Heiratsversprechen gegeben, dessen Einlösung er wieder und wieder verschiebt. Sara beginnt an der Ernsthaftigkeit und Wahrheit des Versprechens zu zweifeln, Mellefont weiß sie immer wieder zu beruhigen und zu vertrösten. Dann taucht Mellefonts ehemalige Geliebte Marwood auf, mit der er eine gemeinsame Tochter hat. Die Trennung von ihr verlief sehr unschön und keineswegs einvernehmlich, so dass Marwood nun ihm nachreist und auf Rache sinnt. Doch zunächst schickt Sara ihre Dienerin Betty zu <?page no="70"?> 69 Mellefont, um ihr Erscheinen anzukündigen. Die Frage, weshalb die beiden Geliebten so förmlich miteinander umgehen, stellt sich auf der Textebene nicht. Mellefont ist so aufgeregt, da er nicht weiß, wie er sich verhalten soll, und so nervös, dass er nun einen Halbsatz spricht, der sich als Interpretament des Textes erweisen wird: „Wie schlägt mir das Herz -“ (I / 5). Der Anakoluth als Stilfigur, also das Auslassen dessen, was eigentlich noch gesagt werden sollte, offenbart natürlich einen Einblick in die physiologische und in die psychische Dimension der unmittelbar bevorstehenden Begegnung mit Sara. Sara wird diesen Halbsatz ebenfalls gebrauchen, wortwörtlich spricht sie ihn in IV / 1: „Wie schlägt mir das Herz -“. Sie fügt aber ein Wort hinzu, das 16 Jahre später durch Goethe einen Meilenstein in der deutschen Literaturgeschichte markieren wird. Sara spricht: „Wie schlägt mir das Herz- -- […] geschwind“. Goethe wird eines seiner sogenannten Sesenheimer Gedichte, die er an die angebetete Friederike Brion aus Sesenheim richtet, im August 1771 mit den Worten eröffnen: „Es Schlug mein Herz, geschwind-[…]“, später in der Druckfassung 1775 geändert in: „Mir schlug das Herz; geschwind“ (Goethe: Münchner Ausgabe, Bd. 1.1, S. 160 bzw. 834). Natürlich zitiert er hier nicht absichtsvoll Lessing, dazu ist diese Aussage viel zu allgemein und alltagssprachlich. Sondern etwas anderes ist bedeutend, Lessing wie Goethe (und viele andre Autoren) verwenden diesen Halbsatz, um die Dichte und Komplexität dieser psychischen Situation sprachlich zu fassen, nämlich die Begegnung der beiden Geliebten oder eben ihre Trennung, wie sie bei Goethe markiert ist. Der Herzschlag ist der Takt des Lebens, auch im Gedicht. In I / 6 ist erstmals Sara zu sehen und zu hören. Ihr erstes Wort ist ein „Ach“, womit sie sogleich die Bühne empfindsamer Selbstdeutung betritt. Die genderspezifischen Verhaltensweisen sind eingeübt und greifen auch sofort. Mellefont erklärt Sara für schwach, woraufhin sie sich setzt. Für ihr Insistieren auf einer bürgerlichen Heirat macht sie ihre „weibliche Denkungsart“ (I / 7) verantwortlich. Ihr Herz und ihr „inneres Gefühl“ (ebd.)- - womit sie die moral-sense- Haltung zitiert-- wehren sich gegen eine Rationalisierung und damit gegen das Verständnis von Mellefonts vorgeblichen Beweggründen. Sara macht damit ihre Intuition stark, die sie vor der Gefahr warnt, die von ihrem leichtlebigen Geliebten ausgeht. Mellefonts Vernunft ist eine instrumentelle Vernunft, die sogar verkennt, dass seine „vernünftige Sara“ (ebd.) keineswegs vernünftig ist. Saras Ängste erklärt er schlichtweg als Einbildungen. Sara bittet sogar um „Erbarmen“ (ebd.)-- ein an die christliche Mitleidsethik gemahnender Begriff, der Mellefont aber fremd ist. Sie erzählt ihm von ihrem Traum, der ihre Ver- Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="71"?> 70 3. Schritt - 18. Jahrhundert lustängste realisiert. Sie lässt es offen, ob es Liebe oder Verführung war, die sie Mellefont folgen ließen, zugleich aber bezeichnet sie es als Ehre ihn lieben zu dürfen. Sara macht sich also klein, unterwirft sich Mellefonts zweckorientiertem Handeln. Sie will ihr Gewissen beruhigen und wehrt sich dagegen, als tugendhaft zu gelten. Wenn Tugendhaftigkeit aber als jenes Handeln verstanden wird, das nur seinem Gewissen und dem inneren Differenzierungsvermögen für gut und schlecht folgt, dann ist Sara natürlich der Inbegriff für Tugend. Lessing führt in der Figur der Sara diese Ambivalenz vor Augen: Was als sozial untugendhaft gilt, kann individuell durchaus tugendhaft sein. Damit wird der bürgerliche Tugenddiskurs insgesamt fragwürdig, wie auch der weitere Verlauf des Stücks zeigt. Ein Brief erreicht Mellefont, worin das Erscheinen seiner Exgeliebten Marwood angekündigt wird, die ihn zudem auch sprechen will. Der zweite Akt zeigt Marwood, die in einem anderen Gasthof nächtigt. Im Eingangsgespräch mit ihrer Bedienten Hannah offenbart sie ihre wirklichen Absichten, sie sinnt auf Rache dafür, dass sie von Mellefont sitzen gelassen und gegen Sara ausgetauscht wurde. Diese Kränkung kann sie nicht überwinden. In II / 3 begegnen sich beide und begrüßen sich mit den epochenspezifischen Interjektionen von Ha und Ach. Mellefonts Gefühlslage wird in der Regieanweisung als wild beschrieben, während Marwood sich hinter dem empfindsamen Seufzer verbirgt. Sie versucht die Liebe Mellefonts zu Sara klein zu reden, sie als ein Produkt seines Begehrens darzustellen, die „Begierden“ solle man-- das bedeutet in dieser Lesart Mann-- sich „austoben lassen“ ( II / 3). Interessanterweise spiegelt sie damit lediglich Mellefonts Einstellung ihr selbst gegenüber. Ihre Empfehlung, die Leidenschaften würden am ehesten überwunden, wenn man ihnen freien Lauf ließe, wiederholt also nur dasjenige Verhalten, das sie vor kurzem als schändliche Untreue durch ihn erfahren hat. Mellefont verteidigt Sara, für ihn ist sie der Inbegriff von Tugendhaftigkeit, und durch sie habe er selbst erst den Unterschied zwischen Liebe und Wollust (das zeitgenössische Wort für Sex) unterscheiden gelernt. Für Marwood ist der weibliche Tugenddiskurs nichts anderes als Teil einer raffinierten Verführungsstrategie. Schließlich bringt sie jenen Begriff ins Gespräch ein, mit dem Sara kurz zuvor Mellefont zur Einsicht bewegen wollte: Erbarmen. Er solle mit ihr Erbarmen haben, da sie für ihn alles aufgeopfert habe, „Geschlecht, Ansehen, Tugend und Gewissen“ ( II / 3). Erbarmen heißt für Marwood aber ausschließlich, Mellefont als Geliebten zurück und als Mann dauerhaft zu gewinnen. Das bedeutet, dass die beiden Frauen Marwood und Sara gleichermaßen den mitleidsethischen Begriff des Erbarmens instrumentalisieren, um den Mann in eine bürgerlich <?page no="72"?> 71 beglaubigte Partnerschaft, also in eine Ehe zu zwingen. Als Marwood merkt, dass Mellefont sich gegen diesen Zugriff wehrt, lässt sie die gemeinsame Tochter Arabella herein bitten. Nun unterscheidet Marwood ihr eigenes Erbarmen von demjenigen Mellefonts. Sie empfinde ein „wahres Erbarmen“ ( II / 4) gegenüber ihrer Tochter, die ihren Vater erstmals kennenlernt, während Mellefont nur über ein „eigennütziges, weichherziges Erbarmen“ (ebd.) verfüge, das sich der Vaterpflicht entzieht und nur seiner „Lust“ (ebd.) folgt. Marwood bemerkt nebenbei, dass sie auch Saras Vater den Aufenthaltsort seiner Tochter und ihres Geliebten mitgeteilt habe, und offenbart damit ihre eigentliche Intention. Sie will durch die Kraft der Intrige eine bürgerliche Familienordnung konstituieren. Die eigentliche Intrige Marwoods besteht also darin, dass sie die zerstörte Schrumpffamilie Sampson- - denn die Mutter Saras ist bei ihrer Geburt gestorben, sie fühlt sich an ihrem Tod schuldig und bezichtigt sich als Muttermörderin, sie ängstigt sich sogar, auch noch eine vorsätzliche Vatermörderin zu werden (vgl. IV / 1)-- wiederherzustellen gedenkt, indem sie dem Vater den Aufenthaltsort der Tochter mitteilt und zugleich der Rivalin den Geliebten wegnehmen will. Marwood will also zwei Familien konstituieren, einmal die Familie Sampson durch die Rückkehr Saras zu ihrem Vater, zum anderen die Familie Marwood- Mellefont durch die Rückkehr des Geliebten und Vaters ihres Kindes Arabella. Die Frage nach der Familie und die Frage nach den Bindungsbedingungen bürgerlicher Partnerschaft erweisen sich somit als die zentralen Themen dieser Tragödie. Und für den Zuschauer bleiben die Entwicklung dieses Konfliktes und seine Lösung am Ende das eigentlich spannende Thema. Die Rivalität zwischen zwei Frauen indes gehört zum literarischen Repertoire kulturellen Wissens. Der Streit zwischen Marwood und Mellefont, der zwischenzeitlich vergessen lässt, dass Sara Sampson die eigentliche Hauptfigur (und Titelfigur) des Stücks ist, gipfelt in dem barbarischen Ausruf Marwoods: „Sieh in mir eine neue Medea! “ ( II / 7) Was meint sie damit, was versteckt sie hinter ihrem vieldeutigdrohenden Satz, Mellefont werde sie verstehen? Lessing betreibt an dieser Stelle die Aufklärung der eifersüchtigen und enttäuschten Medea-Frau, weit über die Figur der Marwood hinaus. Lessings Marwood will zunächst den ehemaligen Geliebten erdolchen, der ihr aber in den Arm fällt. Immerhin ist zu diesem Zeitpunkt das gemeinsame Kind Arabella schon einige Jahre alt, von einem Kindermord-- als Merkmal eines Medea-Diskurses-- im herkömmlichen Sinn der Tötung eines Neugeborenen unmittelbar nach der Geburt kann also nicht gesprochen werden. Marwood wird diese Tat auch nicht begehen, der Autor hat die Gewaltfantasien der Figur nur beschrieben, er hat sie diskursiviert, er hat Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="73"?> 72 3. Schritt - 18. Jahrhundert zur Sprache gebracht das, was der Medea-Mythos für ihn beinhaltete, nämlich die grausame Mutter. Die Integration dieser Medea-Figur in ein bürgerliches Trauerspiel durch Lessing holt das nach, was sich realhistorisch längst vollzogen hat. Kindsmord ereignet sich auch in der bürgerlichen Schicht und ist kein Unterschichtenphänomen. Schon wenige Jahre später werden junge Autoren des Sturm und Drang genau an diesem Punkt anknüpfen, vorneweg Goethes Gretchen-Figur im Urfaust (1772 / 75) und Heinrich Leopold Wagner (1747-1779) in seiner Kindermörderin (1776). In der darauffolgenden Szene bereut Marwood bereits ihre Worte. „Wer bringt mich zu so unnatürlichen Ausschweifungen? Sind Sie es nicht selbst? Wo kann Bella sicherer sein, als bei mir? Mein Mund tobet wider sie, und mein Herz bleibt doch immer Mutter. Ach, Mellefont, vergessen Sie meine Raserei, und denken, zu ihrer Entschuldigung, nur an die Ursache derselben“ ( II / 8). Marwood macht den Mann ursächlich für ihre Gewaltfantasien verantwortlich und benennt damit ein Tatmotiv für einen möglichen Kindsmord, das in der nicht-fiktionalen Literatur nur selten von den Frauen geäußert wird. Es ist die Enttäuschung über oder der Hass auf den Kindsvater. Meist liegt dem ein nicht eingehaltenes Eheversprechen zugrunde. Die Schwangere sieht sich plötzlich mit familiären und sozialen Problemen allein gelassen, die zu lösen ihre individuellen Möglichkeiten übersteigt. Marwoods Gewaltfantasie macht deutlich, dass die Frau nicht nur aus Vorsatz tötet, sondern im Kind auch oder gerade den Vater töten will. Eine Verschiebung des Aggressionsobjekts vom Vater auf das Kind gilt als ein wesentliches, kriminologisch und psychoanalytisch erklärbares Tatmotiv. Der als Trauma erfahrene Verlust des Partners durch Trennung drängt die Kindsmörderin, den Partner im gemeinsamen Kind zu rächen. Im Kind wird der Kindsvater getötet. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, wie Lessing das Selbstbewusstsein und die Selbstdarstellung des Kindsvaters gestaltet. Schon im ersten Akt behauptet Mellefont ja von sich, „ich ward öfter verführet, als ich verführte, und die ich selbst verführte, wollten verführt sein“ (I / 3). Erst in der letzten Szene des Stücks bekennt sich Mellefont als ein Verführer, allerdings nicht als Marwoods Verführer, obwohl er dies objektiv ist, sondern als Sara Sampsons Verführer. Ob das nun tatsächlich als binnenpsychologische und damit figurenlogische Selbsteinsicht gedeutet werden darf oder nicht auch ein Zugeständnis an die Erwartungen eines empfindsamen bürgerlichen Trauerspiels ist, bleibt offen. Die überhöhte, empfindsame Frau stirbt, ihr Verführer zeigt sich einsichtig und reuig und wird zuletzt sogar vom Vater Saras im Tod mit seiner Tochter vereint. <?page no="74"?> 73 Im dritten Akt versucht der Vater Kontakt zu seiner Tochter herzustellen. Zunächst brieflich, der Diener Waitwell, mit dem Sir Sampson angereist ist, soll Sara den Brief aushändigen. Der Vater bezichtigt sich, für Saras Unglück und damit auch für seine eigene Situation verantwortlich zu sein. Auch er bastelt an einer bürgerlichen Wunschfamilie, er will den „Verführer“ ( III / 1) Mellefont zu seinem Sohn machen. Waitwell soll in Saras „Gesichte lesen“ (ebd.), wie ihre Reaktion ausfällt. Sampson verlangt also physiognomische Kenntnisse von seinem Diener. Dazwischen schiebt Lessing das Gespräch zwischen Sara und Mellefont, das im Zimmer Saras geführt wird. Der Blick der Intimisierung als ein Attribut von Bürgerlichkeit bleibt erhalten. Waitwell tritt nun auf und übergibt Sara den väterlichen Brief. Sie beschuldigt sich, ihre Tugend aufgegeben zu haben, sie entwickelt in III / 3 eine regelrechte Selbstbestrafungsfantasie. Waitwell versichert sie der „Liebe und Vergebung“ ( III / 3) ihres Vaters. Er lenkt Saras Aufmerksamkeit darauf, dass sie die Gelegenheit, ihr Fehlverhalten wiedergutzumachen, auch ergreifen und sich der Lektüre des Briefes aussetzen müsse. Saras Monolog in III / 4 reflektiert nicht nur ihre eigene Befindlichkeit, sondern thematisiert auch grundsätzlich die Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens. Der äußerliche Anlass ist die Tatsache, dass sie nicht weiß, was sie ihrem Vater brieflich antworten soll. Sie setzt sich zum Schreiben nieder, wie es in der Regieanweisung heißt, sie hat bereits die Schreibfeder in der Hand, um sich dann die entscheidende Frage zu stellen: „Weiß ich aber auch schon, was ich schreiben soll? Was ich denke; was ich empfinde. -“ ( III / 4) Sie befragt sich danach, was die allgemeinen sozialen, kommunikativen und affektiven Standards des Handelns in einem vergleichbaren Fall sind. „Was denkt man“ und „was empfindet man“ (ebd.). Sara versucht sich daran zu orientieren, wie diese allgemeinen definierten Standards aussehen. Nach einem langen Gedankenstrich, der in einer Aufführung des Stücks durch eine entsprechende Pause im Monolog realisiert wird, erkennt sie, dass sie sich nicht an dem orientieren darf, was gesellschaftlich gefordert wird, sondern sie besinnt sich auf die Selbstbezüglichkeit ihres Schreibens: „- Ich muß doch schreiben-- Ich führe ja die Feder-[…]“ ( III / 4). Darin liegt die eigentliche Bedeutung dieses Monologs in III / 4, dass Sara ihre bürgerliche Identität-- sie ist alphabetisiert und beherrscht die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens-- und ihre Geschlechtsidentität entdeckt und stark macht. Damit wertet sie sowohl den Akt des Schreibens als eine bürgerliche Kompetenz als auch ihre eigene Bedeutung als ein weibliches, bürgerliches Individuum auf. Nach einer weiteren kurzen Denkpause-- in der Regieanweisung heißt es, sie denke ein wenig nach-- beginnt sie zu schreiben, Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="75"?> 74 3. Schritt - 18. Jahrhundert streicht das Geschriebene aber sofort wieder durch, da sie nicht mit einem Bezug auf die väterliche Liebe, sondern mit der Darstellung ihres „Verbrechen[s]“ (ebd.) beginnen will. Die Selbstreflexion schließt sie mit einer verstörenden Bemerkung ab: „Ich darf mich nicht fürchten, in Übertreibungen zu geraten, wenn ich auch schon die gräßlichsten Züge anwende“ ( III / 4). Dieses Bekenntnis zur hyperbolischen Selbstdarstellung greift auf Techniken der rhetorischen Tradition zurück. Sara wird sich in ihrem Brief der Mittel der Übersteigerung, der Zuspitzung und der Übertreibung bedienen. Die Absicht ist offensichtlich: Je grässlicher sie ihre Verbrechen darstellt, desto größer wird die liebevolle Reaktion des Vaters und seine Bereitschaft zur Verzeihung sein. Sara gibt sich an dieser Stelle des Stücks als eine berechnende Tochter zu erkennen, obwohl sie bereits im Brief des Vaters dessen Versöhnungsangebot erhalten hat (vgl. III / 5). Vom Text her bleibt unklar, weshalb sie sich genötigt sieht, sich solcher Übertreibungen zu bedienen. Es ist die andere berechnende Frau, die sie beim Schreiben unterbricht. Mellefont und Marwood erscheinen. Die Szene deckt auf, dass Sara mutmaßlich schwanger ist, denn Marwood spricht von den „Früchte[n] ihrer Liebe“ ( III / 5) und bestätigt damit etwas, was Sara selbst kurz zuvor, als Waitwell ihr den väterlichen Brief bringt, mit Blick auf ihr „Verbrechen“ so beschrieben hatte: „Die Folgen desselben vor seinen Augen fortdauren zu sehen“ ( III / 3), könne sie dem Vater nicht zumuten. Worauf Waitwell nur antwortet, er wisse nicht, ob er das richtig verstehe. Damit erklärt sich auch, weshalb Sara mit solcher Vehemenz darauf besteht, dass Mellefont sie heiratet. Auch der exponierte Hinweis auf die Zahl Neun, nämlich darauf, dass die Dienerin Betty seit neun Wochen in Saras Diensten steht und Sara seit neun Wochen auf der Flucht ist, kann als verstecktes Signal auf eine neunmonatige Schwangerschaft gelesen werden. Und schließlich spricht Marwood in IV / 8 von „diesen Umständen“, in denen sich Sara befinde. Zumindest doppeldeutig ist dies, und von der Bühnendezenz her gesehen wäre es für Lessing völlig unmöglich gewesen, mehr als nur andeutungsweise davon zu sprechen. Sara gibt den Brief ihres Vaters auch der Marwood zu lesen. Damit sind deren intrigante Pläne zunächst durchkreuzt. Denn wenn Sir Sampson Sara vergibt und Mellefont als seinen Sohn annehmen will, dann kann sie nicht mehr darauf hoffen, dass dieser mit ihr und Arabella eine Familie gründet. Am Ende der Szene will Sara ihren begonnenen Antwortbrief fortsetzen und wird wieder unterbrochen. Nun erscheint ihre Dienerin Betty, und am Ende beschließt Sara, den Brief gemeinsam mit Mellefont zu schreiben. Szene III / 7 <?page no="76"?> 75 beschwört für einen kurzen Moment die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft, wenn Sir Sampson sich von Waitwell Saras Reaktion auf seinen Brief berichten lässt und den Diener mit den Worten belohnt, dass er von nun an eben nicht mehr sein Diener sei. „Ich will allen Unterscheid [! ] zwischen uns aufheben“ ( III / 7), bekennt er. Das Herrschaftsverhältnis zwischen Mellefont und seinem Diener Norton hingegen ist der Kontrast dazu, denn Mellefont empfindet Norton nur als Störung (vgl. IV / 3). Sir Sampson bastelt also nicht nur an einer Ersatzfamilie, indem er Mellefont als Sohn zu akquirieren versucht, sondern er versucht sich auch an einer ständefreien Gesellschaft. Das ist eine bemerkenswerte Haltung und ein außergewöhnliches bürgerliches Selbstverständnis, das Lessing auf diese Figur projiziert. IV / 1 zeigt einen Mellefont, der sich schuldig bekennt am Verbrechen, Sara verführt zu haben. Doch das Gespräch zwischen ihm und Sara entwickelt sich in eine andere Richtung, ein regelrechter Wettbewerb zwischen den beiden um die größte Schuld beginnt. Mellefont äußert seine Absicht, Saras Vater auch einen Brief schreiben zu wollen, um sie zu beruhigen. Er will letztlich Saras „kleinen innerlichen Sturm“ ( IV / 1) und damit sie selbst stillstellen. Die letzten leisen Zweifel an der großzügigen Liebe des Vaters, die den Verführer an Sohnes statt anzunehmen bereit ist, zerstreut Mellefont mit einem zweckrationalen Diskurs. Das „rebellische Etwas“ ( IV / 1), wie es Sara nennt, das sich gegen ein absolutes Vertrauen in das väterliche Vergebungsangebot wehre, sei nichts anderes als „eine natürliche furchtsame Schwierigkeit, sich in ein großes Glück zu finden“ ( IV / 1). Mit anderen Worten, es sei ganz natürlich, dass Sara noch zögere, sie solle vertrauen, was Sara auch mit der Begründung tut, weil er es sage und sie es sich wünsche, wolle sie es glauben. Die Eingangsworte Mellefonts zur nächsten Szene entlarven seine rationale Erklärung als Teil einer Strategie. Die Aussicht Sara heiraten zu können und der Erbe eines mutmaßlich beträchtlichen Vermögens zu werden (das dann an die Stelle jenes familiären Erbteils rückt, auf dessen Auszahlung Mellefont angeblich wartet), haben ihn zu dieser Erklärung verleitet. Denn er wundert sich über sich selbst, „was für ein Rätsel bin ich mir selbst! “ ( IV / 2) Er schwankt in der Analyse zwischen Dummheit und krimineller Energie. Am Ende dieses Monologs bezichtigt er sich als ein Ungeheuer, dem Sara ihre von der Gesellschaft als Tugend anerkannte Jungfräulichkeit geopfert habe. Und während Sir Sampson seinen Diener in die soziale Gleichheit entlassen und als Freund geadelt hat, empfindet Mellefont das Auftreten seines Dieners Norton in IV / 3 nur als Störung. Unbeeindruckt weist Norton aber darauf hin, dass Mellefont die spezifischen Verhaltensstandards Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="77"?> 76 3. Schritt - 18. Jahrhundert und Bewusstseinsformen-- zeitgenössisch heißt dies „Denkungsart“ ( IV / 3)-- eines Aristokraten fehlten. An dieser Stelle wird nochmals deutlich, dass der beschriebene soziale Stand für das Drama nicht entscheidend ist, sondern es sind die den Figuren auferlegten Handlungsweisen und Reflexionsformen. Denn Mellefont handelt im Grund wie ein Aristokrat, er lebt unehrenhaft und promisk und repräsentiert damit eine Haltung, die von den Bürgerlichen vehement kritisiert wurde. Mellefont ist im Stück tatsächlich Vertreter eines aristokratischen Lebensstils, während Sara und ihr Vater hingegen Vertreter von zutiefst bürgerlichen Wertevorstellungen sind. Die nächsten Szenen dienen der Vorbereitung des tragischen Endes. Marwood trachtet Sara nach dem Leben und sucht nach einer List, wie sie sie unbemerkt umbringen kann. Denn sie hat inzwischen erkannt, dass Mellefont nicht mehr zu ihr zurückkehren wird. Folgerichtig kommt es zu einer Begegnung zwischen Sara und Marwood. Zunächst versucht sie den Zwang zur weiblichen Solidarisierung aufzubauen, indem sie sagt: „Wir Frauenzimmer sollten billig jede Beleidigung, die einer einzigen von uns erwiesen wird, zu Beleidigungen des ganzen Geschlechts und zu einer allgemeinen Sache machen“ ( IV / 8). Natürlich ist dies von ihr eigennützig gedacht, denn als sie merkt, dass Sara die Liebe Mellefonts zu ihr nicht in Zweifel zieht, konfrontiert Marwood sie mit dem ironischen Ausdruck „Miß Sampsons Sittenlehre“ ( IV / 8), als diese von den Schranken spricht, welche die Tugend der Liebe setze. Die Warnung, Mellefont sei ein höchst gefährlicher Mann, beantwortet Sara mit ihrem empfindsamen und in diesem Fall wohl auch ironischen „Ach“. Marwood erwähnt nun, dass sie mit Mellefont eine gemeinsame Tochter habe, dass er sie noch liebe, sie führt die verflossenen Liebhaberinnen Mellefonts namentlich auf und bringt Sara zunehmend in einen Zustand höchster innerer Erregung. Sie bricht zusammen und erkennt die tödliche Gefahr, Marwood will sie vernichten. Ihre Dienerin Betty verabreicht ihr ein Stärkungsmittel, das ihr Marwood in die Hand gedrückt hatte-- nicht ahnend, dass dies das Gift ist, das Sara ihr Leben kosten wird. Marwood wird zur Mörderin, sie beichtet dies in einem Brief. Die Einsicht Sir Sampsons, dass er durch sein Verhalten, und das bedeutet durch das Beharren auf der Einhaltung eines bürgerlichen Wertecodes, Sara erst eigentlich zur Flucht gezwungen hat (vgl. V / 9), ist beispiellos in der zeitgenössischen Literatur und geht weit über die eher traditionelle Schuld- und Vergebungsgeste eines Vaters im bürgerlichen Trauerspiel hinaus. Sara gibt gleichsam auf dem Totenbett Mellefonts Tochter Arabella einen moralischen Imperativ mit. Hat sie eben noch ihre Liebe zu dem Mann und <?page no="78"?> 77 damit den Verstoß gegen die moralische Konvention verteidigt, so appelliert sie nun an Arabella, sie solle lernen, „gegen alle Liebe auf ihrer Hut zu sein“ (V / 10) und ihr eigenes Schicksal zum lehrreichen, abschreckenden Beispiel zu nehmen. Das ist eine bemerkenswerte Forderung, hat sie sich selbst doch aufgrund der väterlichen Vergebung ‚Absolution‘ erteilt. Sie spricht noch über die „bewährte Tugend“, die sich von der „schwache[n] Tugend“ (V / 10) abhebe und als Beispiel diene, die schwache Tugend hingegen eher von Gott gerettet würde. Diese letzten Worte Saras sind argumentationslogisch nur schwer zu beurteilen. Sara stirbt, Mellefont bekennt sich als ihr „Verführer“ (V / 10) und beschuldigt sich in einem dreifachen Mea culpa, die Ursache der Verführung, die Ursache der Trennung vom Vater und der Flucht sowie die Ursache ihres Todes zu sein-- er ersticht sich. Der Vater stiftet eine neue bürgerliche Kleinfamilie, Tote oder besser Untote beschicken diese Szene, der tote Mellefont wird als Sohn angenommen, Sara ist tot, „ein Grab soll beide umschließen“ (V / 11), Arabella dient als lebende Tochter. Lessing schließt die Tragödie mit dem entscheidenden Satz ab: „Ende des bürgerlichen Trauerspiels“. Die Toten und das Scheitern einer glücklichen Liebesbeziehung, der Verlust der bürgerlichen Kleinfamilie, mithin also die Schwierigkeiten oder gar die Unmöglichkeit eines selbstbestimmten bürgerlichen Handelns sowie die Utopie der Aufhebung von Standesgrenzen-- all das sind wesentliche Merkmale einer öffentlichen Debatte über die Selbstbestimmung der Bürgerlichen in den 1750er Jahren. Diese Selbstreflexion findet zum größten Teil in der Literatur statt, und Lessings Drama Miss Sara Sampson ist das erste und beredte Zeugnis eines historischen Prozesses, an dessen Ende die Herausbildung einer eigenen sozialen, nämlich nun bürgerlichen Schicht steht. Textgrundlage: Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Anmerkungen v. Veronica Richel. Stuttgart 2012 (=-Reclam UB 16). Lektüreempfehlungen: Lyrik des 18. Jahrhunderts (u. a. Barthold Hinrich Brockes, Johann Christian Günther, Albrecht von Haller, Friedrich von Hagedorn, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Friedrich Gottlieb Klopstock) Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="79"?> 78 3. Schritt - 18. Jahrhundert Christian Fürchtegott Gellert: Leben der Schwedischen Gräfin von G*** (1747 / 48) Johann Jakob Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke (1755) Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon (1766 / 67) Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772), Nathan der Weise (1779) Einführende wissenschaftliche Literatur: Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Vierte, aktualisierte u. erweiterte Aufl. Stuttgart 2016. Wolfgang Albrecht: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart 1996. Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. 6. Aufl. Stuttgart 2006. <?page no="80"?> 79 Sturm und Drang: Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) 4. Schritt - 18. Jahrhundert s turm und d rAng : Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) In der Literaturgeschichte versteht man unter Sturm und Drang die Literatur zwischen 1770 und 1780, deren Autoren sich selbst als Genies begreifen. Der Sturm und Drang ist als literaturgeschichtliche Periode auf das deutsche Sprachgebiet begrenzt (einschließlich Elsass und Schweiz) und erlangt im Unterschied zur Empfindsamkeit ausschließlich literarische Bedeutung. Die Vorbilder sind für die jungen Autoren Shakespeares Dramen, Rousseau, Ossians Dichtungen (die sich erst wesentlich später als Fälschungen herausstellen), die Volksliedtradition in der deutschen Literatur und vor allem die Lyrik Klopstocks. Sturm und Drang ist jene Literatur, die formal und inhaltlich von den bewährten Mustern der aufgeklärten Literatur der 1760er Jahre abweicht. Sie ist zwar politisch sensibilisiert und sucht neue Themen wie z. B. Kindsmord, Volkslieder, Genieästhetik, Shakespeareanismus, Kraftgenie, und sie figuriert auch alte Themen neu wie z. B. Liebe, Sexualität, Standesunterschiede, sie ist aber nicht revolutionär. Religiöse, literarische und soziale Bindungen werden im Sturm und Drang zwar kritisch hinterfragt, nicht aber grundsätzlich in Frage gestellt. Die Rollenzuweisungen in Drama und Lyrik werden ignoriert, das je eigene Erleben (etwa in Goethes Sesenheimer Liedern) und die je eigene Pein werden zum Gegenstand der Beschreibung. Der Sturm und Drang verleiht der Literatur einen enormen Individualisierungsschub. Diese Literatur bedient sich auch eines neuen Tons in der Ästhetik, der philosophischen Reflexion und der Literaturkritik (am bekanntesten ist der Jahrgang 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen, woran u. a. Goethe, Merck, Herder und Schlosser mitarbeiten). Sturm und Drang wird allgemein als „Dynamisierung und Binnenkritik der Aufklärung“ (Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe Bd. 1.1, S. 756) verstanden, oder kurzgefasst kann man Sturm und Drang als Aufklärung der Aufklärung bezeichnen. Dabei lassen sich drei historische Phasen voneinander unterscheiden: Erstens, als der Beginn des Sturm und Drang kann die Begegnung zwischen Goethe und Herder im September 1770 in Straßburg betrachtet werden, wo sich Herder bis April 1771 aufhält. <?page no="81"?> 80 4. Schritt - 18. Jahrhundert Demnach sind die bis 1770 erschienenen Schriften von Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (Ugolino 1768), Herder, Hamann und den Schweizern Lavater, Hess und Füssli Vorläufer des Sturm und Drang. Zweitens, der Prozess der Gruppenbildung von Autoren in Straßburg, Frankfurt, Darmstadt und Göttingen (etwa die Lyriker des Göttinger Hain [1772 / 75] mit den Autoren Hölty, Miller, Stolberg und Voß) kennzeichnet eine intensive Hochphase des Sturm und Drang, in der auch die wichtigsten literarischen Werke erscheinen: Goethe Götz von Berlichingen (1773) und Werther (1774), Lenz Hofmeister (1774) und Soldaten (1776), Wagner Kindermörderin (1776), Leisewitz Julius von Tarent (1776). Diese Phase reicht also bis in das Jahr 1776. Einen deutlichen Einschnitt erfährt der Sturm und Drang durch Goethes Amtsantritt in Weimar im Januar 1776. Drittens, die Spätphase dauert nur kurz, bereits 1778 ist der Sturm und Drang ein historisches Phänomen. Karl Philipp Moritz’ Drama Blunt oder der Gast (1780), Schillers Dramen Die Räuber (1781), Fiesko (1783) und Kabale und Liebe (1784), Schubarts Sämtliche Gedichte (1785 / 86) und Heinses Ardinghello (1787) bilden eine zweite Schreibgeneration von Sturm-und-Drang-Autoren, die im Stil des Sturm und Drang schreiben und sich auf Referenztexte der Autoren der ersten Generation beziehen können. 1777 veröffentlicht Friedrich Maximilian Klinger sein Drama Sturm und Drang, das dieser literaturgeschichtlichen Periode ihren Namen gibt. Die Herkunft der Begriffe Sturm und Drang aus dem religiösen Wortschatz der Zeit ist offensichtlich. Sturm kann demzufolge die Anfechtung von außen wie auch die Prüfung durch Gott bedeuten. Drang wiederum kann im Sinne von äußerer Bedrängnis, aber auch als inneres Drängen verstanden werden. Dieses religiös gefärbte Verständnis wird in der Literatur des Sturm und Drang mit neuen Inhalten versehen, die religiöse Bedeutung tritt in den Hintergrund. Die in vielen Schriften gegenwärtigen, zentralen Begriffe von Genie und Originalität greifen eine Diskussion auf, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England geführt wird (Shaftesbury, Addison, Young). Bereits Julius Scaliger hat in seiner Renaissancepoetik von 1561 den Dichter als „alter deus“, als einen anderen Gott bezeichnet. Der englische Moralphilosoph Earl of Shaftesbury (1671-1713) spricht nun vom Dichter als einem „second maker“ (Soliloquy, 1710, dt. 1738). Die jungen Autoren der 1770er Jahre, die sich selbst als literarische Avantgarde verstehen und mit den Traditionen der aufgeklärten Literatur brechen wollen, beanspruchen ein neues Selbstverständnis als Dichter. Die Produktionsästhetik wird gegenüber der Darstellungs- und Wirkungsästhetik der Aufklärung radikal aufgewertet. Die theoretische Grundlage hierfür <?page no="82"?> 81 Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) bieten Youngs Conjectures on Original Composition (1759, dt. 1760). Der englische Dichter Edward Young (1683-1765) grenzt das Genie vom Handwerker ab und verwirft poetologische Regeln. Als Leitfiguren nennt er Pindar und Shakespeare. Er wendet den Geniebegriff nach innen, das Genie stammt vom Himmel und sei ein Gott in uns. Der gottähnliche Dichter erzeugt originale Kunstwerke nur durch Nacheiferung der vorbildhaften Genies. Youngs Reflexionen über das Genie sind in nahezu allen ästhetischen Schriften des Sturm und Drang in einer eigenwilligen Vermischung mit anderen Geniekonzeptionen gegenwärtig. Das Genieverständnis des Zürcher Theologen Johann Caspar Lavater (1741-1801) bildet einen Höhepunkt dieser Diskussion. Das Genie bekommt bei ihm eine profan-religiöse Erlöserrolle. Lavater unterscheidet in seinen einflussreichen Physiognomischen Fragmenten (4 Bde., 1775 / 78), worin er den jungen Goethe als Inbegriff eines zeitgenössischen Genies darstellt, zwischen Genie haben und Genie sein. Genie hat derjenige, der nur Sprachrohr Gottes ist. Dieser Vorstellung liegt unverkennbar die theologische Auffassung der Verbalinspiration zugrunde, wonach Gott als Autor die Heilige Schrift den Schreibern als Medium diktierte. Genie ist derjenige, der selbst spricht, Genie ist ein „propior Deus“, ist gottgleich. Im Selbstverständnis der Sturm-und-Drang- Autoren ist Shakespeare das größte Genie der Literatur, das keine Regel gelten ließ. Für Gerstenberg, der die entscheidende Vermittlungsarbeit zwischen dem bewunderten englischen Vorbild und den jungen deutschen Autoren leistet, ist Shakespeare das „Lieblings-Genie der mütterlichen Natur“. In der dritten Sammlung seiner Briefe Über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1767) gelangt er zu der wegweisenden Definition, „wo Genie ist, da ist Erfindung, da ist Neuheit, da ist das Original; aber nicht umgekehrt“. Johann Gottfried Herder behauptet in seinem Shakespear-Aufsatz aus Von deutscher Art und Kunst (1773), dass poetologische Regeln keine Gültigkeit mehr haben für das Drama des Sturm und Drang, denn es orientiere sich an Shakespeare. Auch die Bedeutung der poetologisch-normativen Einheiten von Ort und Zeit wird verneint. Herder verwirft die strengen Gattungsgrenzen zwischen Tragödie und Komödie und die gattungstypologischen Grenzen zwischen philosophischer, historischer und dramatischer Schreibintention. Damit trägt er nachhaltig zur Aufweichung der strengen Gattungsnormen in den 1770er Jahren bei. Das Entscheidende eines Dramas, so schreibt er in seinem Essay Shakespear (1773), sei ein „völliges [! ] Grösse habendes Eräugniß einer Weltbegebenheit, eines Menschlichen Schicksals“ (Herder, Goethe, Frisi, Möser: <?page no="83"?> 82 4. Schritt - 18. Jahrhundert Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. Hgg. v. Dietrich Irmscher. Stuttgart 1988, S. 90). Goethe schildert die literarische Begegnung mit Shakespeare in seinem kleinen Text Zum Schäkespears Tag (1771) als eine Art Epiphanie. Hier schlägt Kritik, die aus dem Geist der Aufklärung die individuelle Freiheit des Autors sucht, in Kritik an der Aufklärung um. In den Figuren der shakespearschen Dramen sieht Goethe, was er an der Literatur seiner Zeit vermisst: „Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen“. Diese Literatur beschreibt die Selbstbestimmung des Menschen literarisch und führt damit Ideale der Aufklärung und ihr Scheitern gleichermaßen konsequent vor Augen. Sturm und Drang kann letztlich als der erste Versuch verstanden werden, ein Misslingen der Aufklärung zu denken und den Vollkommenheitsanspruch des aufgeklärten Menschenbilds (den Gedanken der zeitgenössisch so genannten Perfektibilität, der Vervollkommenbarkeit) mit den Unzulänglichkeiten der gesellschaftlich-historischen Wirklichkeit zu konfrontieren. Zugleich wendet diese Literatur den Blick nach innen, sie beschreibt den Aufstand gegen Vaterinstanzen als eine Binnenrebellion. Deshalb wird das Thema der feindlichen, sich befehdenden und schließlich einander umbringenden Brüder (Leisewitz: Julius von Tarent, 1776; Klinger: Die Zwillinge, 1776; Schiller: Die Räuber, 1781) im Sturm und Drang zum Thema der Selbstzerstörung des Individuums. Brudermord, Vatermord (Goethe: Prometheus-Ode, entstanden 1773, gedruckt 1785) und Kindsmord (Wagner: Die Kindermörderin, 1776; Lenz: Zerbin, 1776) erweisen sich als die Themenbereiche, in denen die neue Literatur ihre entschiedenste Darstellung findet und zwar in der Radikalität, mit welcher diese Themen als die zentralen Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts beschrieben werden. Die bedeutendsten Werke des Sturm und Drang schreiben Lenz, Goethe und Wagner. Der Werther (1774) wird für eine ganze Generation junger Autoren norm- und stilbildend. Für das Drama des Sturm und Drang sind Goethes Götz von Berlichingen (1773) und die Soldaten (1776) von Lenz richtungsweisend. Die Lyrik des Sturm und Drang findet vor allem in den an dem hohen Stil von Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) orientierten Gedichten des Göttinger Hain (teilweise mit einer pathetischen Hinwendung zu Alltagsgegenständen) und in Goethes und Lenz’ expressivindividueller Liebeslyrik aus dem Umkreis der Sesenheimer Lieder ihren spezifischen Ausdruck. Theoretische Überlegungen werden von den Autoren oft in essayistischer Textform niedergeschrieben. So zählen etwa die Anmerkungen übers Theater <?page no="84"?> 83 (1774) von Lenz, welche eine programmatisch-poetologische Schrift über das zeitgenössische Theater und die Rolle der jungen Autoren darstellt, oder Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst (1772), der als Prosahymnus auf den Dombaumeister des Straßburger Münsters Erwin von Steinbach (gest. 1318) konzipiert ist und der in die Essaysammlung Von deutscher Art und Kunst (1773) aufgenommen wird, als Programmschriften des Sturm und Drang. Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) Im Februar 1774 beginnt Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) mit den Arbeiten an seinem Roman, im Mai schickt er das Manuskript an seinen Verleger und zur Michaelismesse (September) 1774 erscheint sein erster Roman Die Leiden des jungen Werthers. Das historische Vorbild von Goethes Werther- Figur ist Karl Wilhelm Jerusalem, der am 30. Oktober 1772 Selbstmord begeht, gerade erst 25 Jahre jung. Als Legationssekretär und Kollege Goethes ist er am Wetzlarer Reichskammergericht tätig. Berufliche Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten und eine unerfüllte Liebe zu einer verheirateten Frau stürzen ihn in eine tiefe Depression. Goethe erhält darüber im November 1772 von Johann Christian Kestner, mit dessen Pistole sich Jerusalem erschießt, einen umfassenden Bericht. Goethe folgt im Werther in etlichen Details diesem Bericht, doch ist die Exaktheit in der Darstellung der psychischen Verwicklungen Produkt von Goethes Einbildungskraft. Hinzu kommt ein weiteres biografisches Detail. Kestner ist in Wetzlar Hannoveraner Gesandtschaftssekretär und mit Charlotte Buff verlobt. Goethe lernt sie auf einem Ball am 9. Juni 1772 kennen und verliebt sich in sie. Am 11. September 1772 verlässt er Wetzlar wegen der auftretenden Spannungen. Auf der Rückfahrt nach Frankfurt stattet er der Schriftstellerin Sophie von La Roche (1730-1807) in Koblenz einen Besuch ab. Nun verliebt er sich in deren Tochter Maximiliane. Im Januar 1774 heiratet der um 21 Jahre ältere Frankfurter Kaufmann Brentano Maximiliane von La Roche. Die andauernden Besuche Goethes bei Maximiliane wecken die Eifersucht ihres Mannes. Es kommt zu einer verbalen Auseinandersetzung, die Besuche unterbleiben von nun an. Man kann also davon ausgehen, dass in die dichterische Imaginationskraft die Erfahrungen aus diesen verwickelten Liebesbeziehungen in den Roman mit einfließen. Der Werther ist ein Briefroman. Goethe bedient sich damit einer Gattung, die sich in den 1750er und 1760er Jahren außerordentlicher Beliebtheit erfreut. Durch den Anspruch Privates öffentlich zu machen, wie es in persönlicher Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="85"?> 84 4. Schritt - 18. Jahrhundert Korrespondenz Niederschlag findet, wird der Briefroman zu einem wichtigen literarischen Medium der bürgerlichen Selbstvergewisserung in der Aufklärung. In England ist es Samuel Richardson (1689-1761) und in Frankreich Jean- Jacques Rousseau (1712-1778), die mit ihren Briefromanen als große Vorbilder auch auf deutsche Autoren wirken. Christian Fürchtegott Gellerts (1715-1769) Leben der Schwedischen Gräfin von G*** (1747) ist der am meisten verbreitete deutsche Briefroman vor dem Werther. Sophie von La Roches empfindsamer Roman Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) ist ein populäres Muster des deutschen Briefromans, das dem Werther unmittelbar vorangeht. Der traditionelle Briefroman lebt vom Dialog, von dem Wechsel von Brief und Gegenbrief und er transportiert die Botschaft von Moral und Tugendhaftigkeit. Erzählerisch notwendige Verstöße werden durch den Kommentar im Text geahndet. Der Briefroman soll zum guten Beispiel anhalten, das Schlechte will er als verwerflich darstellen. Damit übernimmt der aufgeklärte Briefroman wichtige Funktionen der Moralischen Wochenschriften. Den Briefroman zeichnet die Bedeutung von Kommunikativität als Merkmal bürgerlicher Umgangsformen aus. Doch ähnlich wie im Falle des Götz von Berlichingen missachtet Goethe auch in seinem Werther elementare poetologische Regeln des Briefromans, um zu provozieren. Schon der Wechsel der Textsorte vom Drama zur Prosa unter Beibehaltung desselben typisierten Charakters eines Selbsthelfers zeigt an, dass Goethe nicht daran denkt, einen herkömmlichen Briefroman zu schreiben. Werthers Briefe sind Monologe, welche die soziale und kommunikative Vereinzelung als Folge einer radikalen Subjektivität vor Augen stellen. Die vom Autor konsequent betriebene Intimisierung der Figur Werther im Roman verhindert eine kommunikative-dialogische Anlage des Textes. Die Form wird so zum adäquaten Ausdruck der psychischen Befindlichkeit der Textfigur. Die Gegenwartsnähe des Themas und die Anlage der Figur als Projektionsfläche für bürgerliche Aufklärungskritik, die junge Leser zur unmittelbaren Identifikation regelrecht einlädt, tragen maßgeblich dazu bei, dass der Werther als Text eine solche Wirkung entfalten kann. Für den zeitgenössischen Leser bedeutet der Name des jungen Autors Goethe ein Synonym für das ‚Phänomen Leidenschaft‘. Was dem Sturm-und-Drang-Autor Goethe gelingt und seinen Erfolg sichert, misslingt aber der Sturm-und-Drang-Figur Werther. Dessen Leidenschaftskompetenz ist zum Scheitern verurteilt. Der Werther avanciert zu einem Modelltext, in dem das Unbehagen an der Aufklärung so thematisiert wird, dass nur eine Identifikation oder eine Gegenidentifikation als Rezeptionshaltung möglich ist. Dieses Modell basiert auf dem Zusammenhang von Leiden und Leidenschaft <?page no="86"?> 85 im Roman. Die Autoren des Sturm und Drang schreiben gegen den Versuch der Aufklärung an, Leidenschaften zu pathologisieren, sie als heilbare Krankheitssymptome einer ungesunden Entwicklung auszuweisen. Sie kündigen das Modell einer empfindsamen Balance zwischen Vernunft und Leidenschaft, zwischen Kopf und Körper auf. Ihr Ziel ist die Befreiung des Individuums von den Zwängen der Vergesellschaftung, wozu auch die Emanzipation der Leidenschaften gehört. Dieser Denkfigur folgt Goethes Werther. Bereits der Titel des Romans benennt den Zusammenhang von Leiden und Leidenschaft, er dient als Provokation. Der Leidensbegriff verweist auf eine christologische Bedeutungsebene, die den Begriff eng an die christliche Passionsgeschichte bindet. Im Titel Die Leiden des jungen Werthers stehen die Leiden Christi und die Leiden Werthers gleichwertig nebeneinander. Der Leidensbegriff wird auf diese Weise desakralisiert und dem verweltlichten Vokabular des Sturm und Drang einverleibt, wie dies auch schon bei den Begriffen Sturm und Drang selbst sowie beim Begriff Genie geschehen ist. Dieses Wechselspiel von christlicher Leidensmetaphorik und bürgerlich-weltlicher Krankheitsgeschichte der Leidenschaft durchzieht den Text von Beginn an, bereits im Titel wird dies deutlich angezeigt. Im Text wird die religiöse Ikonographie für das Leiden und Sterben Werthers ausgeschöpft, so z. B. das Abendmahlssymbol des Weins bei der Vorbereitung des Selbstmords, der ja keineswegs überstürzt und planlos ausgeführt, sondern regelrecht inszeniert wird. Werthers Tod erscheint als ein Opfertod, an Lotte schreibt er, dass er sich für sie opfern wolle. Und schließlich scheint sich Werther kurz nach Mitternacht erschossen zu haben, der Bediente findet ihn morgens um sechs Uhr, die eigentliche Todesstunde fällt in die Zeit „um zwölfe Mittags“ (S. 274), der Leser kann also unschwer eine Parallele zum neutestamentlichen Bericht über Kreuzigung und Tod Jesu ziehen (vgl. Matthäus 27, 45 ff.). Mit diesen offensichtlichen Analogien zwischen der weltlichen Romanfigur und religiösen Zeugnissen hebt Goethe die Bedeutung von Werthers Geschichte als Passionsgeschichte im doppelten Wortsinn hervor, als die Geschichte von Leiden und von Leidenschaften. Leidenschaft bringt also nicht nur Leiden hervor, Leidenschaft ist Leiden. Damit wird vom Autor auch klargestellt, dass es in seinem Roman nicht um körperliches Leiden, sondern um psychisches Leiden, um die Innenansicht eines leidenden Subjekts der Aufklärung geht, das mit den gesellschaftlichen Bedingungen der Selbstbändigung seiner Leidenschaft nicht mehr zu Rande kommt. Die Bedeutung dieser psychischen Binnenperspektive des Textes wird im Titel den Lesern mit auf den Weg gegeben. Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="87"?> 86 4. Schritt - 18. Jahrhundert Über den Bedeutungshorizont des christologischen Leidensbegriffs hinaus hat der Titel noch in einer weiteren Hinsicht die Funktion eines provokanten Signals, Goethe lässt nämlich ein junges Subjekt („jungen Werthers“) aus Leidenschaften leiden. Dies kommt einer Verweigerung des jungen bürgerlichen Subjekts gegenüber den Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft gleich. Werthers Forderung nach einer Emanzipation der Leidenschaften bedeutet für diese Gesellschaft dann Bedrohung insofern, als sie den Verlust eines tätig werdenden jungen Subjekts nicht zuletzt auch als Arbeitskraft und Wirtschaftsfaktor darstellt. Wer jung ist und leidet, arbeitet nicht und geht der Gesellschaft somit verloren. Und schließlich kann man auch eine Provokation des Titels im Namen des Protagonisten erkennen. Während die beiden anderen Hauptfiguren, die von Werther geliebte Lotte und deren Verlobter Albert ihre Vornamen tragen, wird Werther nur mit seinem Nachnamen genannt. Darin kann man Distanzierung und Gewichtung gleichermaßen sehen, entscheidend ist indes, dass Werther auch als zweisilbiger Komparativ zum grammatischen Positiv wert zu verstehen ist. Werther ist demnach derjenige, der werter im Sinne von mehr wert ist als ein anderer. Auf die Figurenkonstellation des Romans übertragen bedeutet dies, Werther ist mehr wert als Albert, und zwar trotz seines im Titel exponierten Leidens. Der Versuch einer Emanzipation von Leidenschaften, wie sie Werther lebt, ist mehr wert als deren Bändigungsbemühen durch den disziplinierten Albert. Dieser Versuch ist freilich nur als literarisches Experiment möglich, eben als Roman. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Werther ist auch für Lotte mehr wert als Albert, der beginnt, „das Elend ihres Lebens zu machen“ (S. 234), während es von Werther an gleicher Stelle heißt: „Ein geheimer Zug hatte ihr ihn vom Anfange ihrer Bekanntschaft theuer gemacht“ (S. 234). So wie Lotte zu Werther über ihre Mutter sagt, „sie war werth, von ihnen gekannt zu seyn“ (S. 122), ist Lotte werter, von Werther als von Albert geliebt zu werden. Und schließlich erkennt Werther seinen Eigenwert erst in Lottes von ihm fantasierter Liebe zu ihm, also in der narzisstischen Selbstbespiegelung: „Und wie wert ich mir selbst werde! - […]- - wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt“ (diese Textpassage ist erst in den Ausgaben ab 1775 zu finden; zitiert nach: Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe Bd. 1.2, S. 226). Selbst der Ort, an dem sich Lotte aufhält, erfährt durch die begehrte Frau für Werther eine enorme psychische Aufwertung und einen regelrechten mythisierenden Mehr-Wert. So heißt es im Brief vom 12. Mai schon gleich zu Beginn des Romans vom städtischen Brunnen: „Da ist gleich vor dem Orte ein Brunn’ ein Brunn’, an den ich gebannt <?page no="88"?> 87 bin wie Melusine mit ihren Schwestern“ (S. 12). Und nach einem Spaziergang mit Lotte ist dieser Ort für Werther ein „Brunnen, der mir so werth ist, und nun tausendmal werther ward, als Lotte sich auf ’s Mäuergen sezte“ (S. 70). In die Leidenschaftsgeschichte des Textes ist die Geschichte eines Leidens eingeschrieben, die Themen Leiden und Leidenschaft halten den Text wie eine Klammer zusammen. In Briefen an den Freund Wilhelm und an Lotte berichtet Werther von seinen Leiden und von seinen Leidenschaften. Die Form der Darstellung dieser Leidens- und Leidenschaftsgeschichte ist die Schrift, es sind die Briefe oder die Berichte. Sein Begehren bändigt Werther in der und durch die Schrift, bis schließlich auch dieser Versuch scheitern muss. Werthers Versuch der Affektkontrolle wird wiederum von dem Kommentar des Herausgebers begleitet, Herausgeber und Wilhelm sind jedoch nicht identisch. Der fiktive Herausgeber wird die Rolle des Kommentators von Werthers Leidenschaftsgeschichte im zweiten Teil des Buchs übernehmen. Nach der Bestimmung des Herausgebers soll „das Büchlein“ die Funktion erfüllen, Freund des Lesers zu werden, es soll Trost aus Werthers „Leiden“ (S. 6) spenden. Was im Text selbst Werther unmaskiert als Leidenschaft bezeichnet, nennt der Herausgeber bezeichnenderweise „Drang“ (ebd.). Er stellt damit den Roman und seine Geschichte in den Kontext der avantgardistischen Literatur des Sturm und Drang. Die Funktion dieser dem Roman vorangestellten fiktiven Leseranrede des Herausgebers besteht darin, dass die Leser sich durch Werthers Leiden trösten lassen sollen, wenn sie dieselben Leidenschaften bei sich feststellen. Dies setzt voraus, dass mit diesen Leidenschaften der Liebe und des Begehrens nicht anders als maßvoll selbstregulativ umgegangen werden kann. Der Text wird gleichsam als Gegengift gegen den übermäßigen Anspruch einer Emanzipation der Leidenschaften empfohlen. Doch der Autor umgeht gewitzt diese Empfehlung, die als aufgeklärte Lesehaltung verstanden werden kann, indem er Werther gegen den erzwungenen Selbstverzicht und seine Folgen anschreiben lässt. Als literarische Figur entwickelt Werther ein Gegenmodell zur erzwungenen Selbstbändigung. Damit ist die zentrale Frage des Textes berührt: Können Leidenschaften diszipliniert werden, indem sie verschriftlicht werden? Das Medium von Werthers Versuch der Selbstbändigung sind Papier, Wörter, Texte, die von ihm wiederholt beschworen werden. Das Papier ist das Medium der Verdinglichung, Werthers erfahrene Leidenschaften werden der Verkörperlichung im Text zugeführt. Die Verbindung zwischen Schrift und Seele stellt Werther ungebrochen und unverkürzt dar. Das Papier ist der Körper, der als Objekt der Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="89"?> 88 4. Schritt - 18. Jahrhundert Verschriftlichung, nämlich Werthers Bericht, das tun kann, was Werther als schreibendem Subjekt gesellschaftlich nicht erlaubt ist. Die grundsätzliche Unzulänglichkeit der Kunst, die zu Beginn des Buchs gleich thematisiert wird, und damit auch die Unzulänglichkeit des Schreibers Werther erweist sich für ihn am Ende als Unmöglichkeit der schreibenden Regulierung seiner Leidenschaften. Das Papier, der Text und Werthers Schreiben gehören zu einer Form der Selbstkontrolle, die er als Sozialnorm der bürgerlichen Gesellschaft nicht erlernen will. Dabei nimmt Werther die Rolle eines gescheiterten Prometheus an. Als Schöpfergott will er dem Papier Leben „einhauchen“ und das, was „so voll, so warm“ (S. 12) in ihm lebt, in Schrift überführen und damit Odem spenden. Und zugleich nimmt er die Rolle eines Richtergottes an, er entscheidet über Leben und Tod. Den Diskurs, also das Schreiben und Reden zu beenden, bedeutet für Werther, auch seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Unterstrichen wird die Bedeutung dieser Verschränkung von Leben spenden und Leben beenden durch den nachfolgenden Anakoluth: „Mein Freund-- Aber ich gehe darüber zu Grunde“ (S. 12). Im Roman heißt es, Albert sei im Gespräch mit Werther „sehr tief in Text“ (S. 92) geraten, aber Werther hört ihm gar nicht mehr zu. Denn Albert vertritt die Rationalität der Aufklärung, und Werther verweigert sich diesem Zugriff des aufgeklärten Diskurses, dessen Ziel es ist, die Leidenschaften selbst disziplinieren zu können. Lotte, die das Objekt von Werthers Begehren darstellt und die empfindsame Tendenz repräsentiert, beginnt von etwas anderem zu sprechen, um Werther „nicht tiefer in den Text kommen zu lassen“ (S. 182). Aber der Abstand zu den Vernünftigen und Aufgeklärten wie Albert wird für Werther zunehmend größer, die Kluft zwischen ihm als einem typischen Sturm-und-Drang-Individuum und dem aufgeklärten Albert schier unüberwindlich. Nicht Werther beherrscht das Objekt, dem seine Leidenschaft gilt, vielmehr beherrscht ihn das Objekt. Deshalb kann Lotte mit ihm „machen was sie will“ (S. 182). Als Werther dies erkennt, dass es Lotte gelingt-- anders als ihm selbst-- ihr Begehren zu kontrollieren, verläuft die psychische Entwicklung der Beiden auseinander, aus den Ansätzen einer empfindsamen Paargemeinschaft wird Werthers fantasierte Paaridentität, eine Solidarität in Leidenschaft und eine Gemeinsamkeit im Leiden gibt es nicht. Werther ‚versingelt‘ zunehmend, er kommuniziert mehr und mehr mit sich selbst und dem Papier. Wie beschreibt nun Werther das Modell einer Affektkontrolle in der bürgerlichen Gesellschaft? Die Sublimierung seines Begehrens ist ihm schon zu Beginn des Textes nicht mehr in jeder Form möglich, so kann er beispielsweise schon bald nicht mehr zeichnen. Stattdessen sublimiert er durch die Schrift. <?page no="90"?> 89 Auch wenn er die Unzulänglichkeit dieses Versuchs und die Unmöglichkeit betont, Papier zum Spiegel der Seele zu machen, so zwingt er doch die beabsichtigte Tat der Leidenschaft einer entfesselten Liebe zu Lotte in die Schrift und erst im Tod erlischt diese Schrift. Im Brief vom 26. Mai 1771 wählt Werther ein „Gleichniß“ (S. 26) als Kontrastfolie, um zu veranschaulichen, wogegen sich seine Weigerung einer konsequenten Selbstdisziplinierung richtet. Zunächst schildert er eine ländliche Szene. In dem Dorf Wahlheim beobachtet er zwei spielende Kinder. Er beginnt zu skizzieren und nach einer Stunde ist „eine wohlgeordnete sehr interessante Zeichnung verfertigt“ (S. 24 f.). Sein anfängliches Unvermögen, nämlich nicht mehr zeichnen zu können, wird nun durch die Zeichnung selbst widerlegt. Werther nimmt diese Erfahrung zum Anlass, sich zukünftig ausschließlich an die Natur zu halten, „sie allein ist unendlich reich, und sie allein bildet den großen Künstler“ (S. 26). Die Natur gilt als die ungebändigte, regellose und unbezwungene Schöpfungskraft, und Werther unterliegt dieser Gewalt der Naturempfindung. Regeln hingegen sind kulturell und gesellschaftlich geformte, historisch kontingente Normen, sie bilden das Instrumentarium eines Beherrschungs- und Bezwingungswillens und sind Ausdruck einer instrumentellen Vernunft. In dieser Engführung von regelloser Natur und instrumentellen Regeln stellt Werther die Last einer Verknüpfung von individueller Affektkontrolle und sozialer Kontrolle, wie sie gesellschaftlich verlangt wird, heraus. Übertragen auf den Diskurs der ästhetischen Regeln heißt dies für Werther, ästhetische Regeln zu befolgen ist gleichbedeutend mit dem gesellschaftlichen Erfordernis, der Affektkontrolle zu entsprechen. Ableiten, abwehren, beschneiden, brauchbar, einschränken, dämmen, modeln-- das sind die Wörter, mit denen Werther sein Gleichnis kommentiert. Sie nehmen die Sprache der Affektkontrolle (einschränken, einsperren, gefangen sein, stumm machen) aus dem Brief vom 22. Mai wieder auf. Regel bedeutet für Werther demnach Regulierung, eine künstlerisch-ästhetische Regel wie etwa die Natur abzubilden oder nur das Schöne in der Kunst darzustellen, heißt für ihn Leidenschaften zu regulieren, sie zu bändigen. Regeln, so führt Werther weiter aus, zerstören das wahre Gefühl und den wahren Ausdruck von der Natur, es sei damit „wie mit der Liebe“ (S. 26). Werther führt nun das Beispiel eines Philisters an. Dieser verlange von den Menschen mit Leidenschaften, den Liebenden, eine maximal sozial verträgliche Einteilung der Zeit in Arbeitszeit und Freizeit. „Lieben ist menschlich, nur müßt ihr menschlich lieben! Theilet eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet eurem Mädchen“ (S. 26). Befolgt der Liebende Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="91"?> 90 4. Schritt - 18. Jahrhundert aber, so kommentiert Werther, diese Regel, „so giebts einen brauchbaren jungen Menschen“ (ebd.) und die Brauchbarkeit dieses Menschen bedeutet allein seine Nützlichkeit für das gesellschaftliche Arbeitsleben, nur mit der Liebe und der Leidenschaft, mit dem Begehren „ist’s am Ende“ (S. 26). Ist der Liebende zudem ein Künstler, dann erlischt mit der Leidenschaft auch seine Kunst. Werther spricht von sich selbst. Das Gleichnis verdeutlicht, dass sich die Leidenschaften nicht beherrschen und nicht dämmen lassen, ohne dabei den Anspruch auf Selbstbestimmung und Individualität als den beiden wesentlichen Handlungsmerkmalen eines Sturm-und-Drang-Typus aufzugeben. Damit erfährt eine Position des Sturm und Drang durch den Aufweis ihrer Grenzen eine entscheidende Korrektur. Maßlose Leidenschaft und vollkommene Individualität sind nach Maßgabe der Gesellschaft unvereinbar. Diese Unvereinbarkeit deckt die Entfremdung des selbstbestimmten Individuums von seiner Triebnatur auf. Werther beschreibt im Brief vom 12. August ein Gespräch mit Albert, worin er auf die Grenzen der menschlichen Natur hinweist. Freude, Leid und Schmerzen könnten nur bis zu einem bestimmten Grad ertragen werden. Für den Menschen gelte, dass er den Leidensdruck nur bis zu einem gewissen Maß aushalten könne. Legt man hier die Lesart der Titelvorgabe von Goethes Roman zugrunde, dann muss dies auch für die Leidenschaften gelten, wonach das Maß des Leidens auch das Maß der Leidenschaften darstellt. Die vielzitierte „Krankheit zum Todte“ (S. 98) hat ihre Ursache in dem Leidensdruck, den die nicht kontrollierten und nicht zu kontrollierenden Leidenschaften auslösen. In seinem vorletzten Brief an Wilhelm vom 8. Dezember verschränkt Werther die binnenpsychische Natur der Leidenschaften mit der außerweltlichen Natur. Dadurch gelingt es dem Autor Goethe, die Natürlichkeit und das heißt die Unzivilisierbarkeit von Leidenschaften herauszustellen. Die Natürlichkeit ist deren Natur, die sich überhaupt nur durch verstümmelnde Eingriffe bändigen lässt. „Manchmal ergreift mich’s- […]! es ist ein inneres unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreissen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe! Wehe! “ (S. 198), schreibt Werther. In der Nacht zuvor hatte sich eine Naturkatastrophe ereignet. Werther rennt im Dunkeln in die Natur hinaus, als er von der Überschwemmung des Wahlheimer Tales erfährt. Wahlheim ist der Ort, wo er in einsamer Homer-Lektüre und in ausgiebigen Naturstudien anfänglich noch sein seelisches Gleichgewicht gefunden hatte, es ist für ihn auch der Ort seiner Wahl- Heimat. Dieser Fluchtpunkt der äußeren Identität ist nun bedroht. „Mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund, und athmete hinab! hinab, und verlohr <?page no="92"?> 91 mich in der Wonne, all meine Quaalen all mein Leiden da hinab zu stürmen, dahin zu brausen wie die Wellen“ (S. 200), so beschreibt er seinen inneren, aufgewühlten Zustand. Die Zerstörung der äußeren Natur wird zum Sinnbild für die Zerstörung der inneren Natur Werthers als Folge ihrer nicht beherrschten Natürlichkeit. So, wie er seine äußere Heimat verliert, so geht ihm auch seine innere Heimat verloren, auf gewalttätige, eruptive und unbeherrschbare Weise. Nicht die Leidenschaften selbst und nicht der Anspruch auf Emanzipation der Leidenschaften zerstören das Individuum, sondern allein das Unvermögen, mit ihnen anders als disziplinierend umzugehen in einer Gesellschaft, welche diese Bändigung zur Selbststabilisierung und zu ihrem Selbstverständnis dem Einzelnen abverlangt. Hier zeigt der Sturm und Drang eine zutiefst gesellschaftskritische Ausrichtung. Die Bedeutung des gesprochenen Worts für das geschriebene Wort im Roman hebt eine andere Gesprächssituation hervor, als „der Diskurs auf Freude und Leid in der Welt roulirte“ (S. 64). Werther räumt ein, dass das körperliche Wohlbefinden einen unmittelbaren Einfluss auf die Affektlage des Menschen habe. Als ein Beispiel für einen nicht ausgeglichenen Affekthaushalt wird üble Laune genannt. Nach Werthers Vorschlag solle dieser Befund als eine „Krankheit“ (S. 64) verstanden werden, für die nun im Gespräch ein Heilmittel gesucht wird. Lotte antwortet daraufhin spontan mit einem Hinweis auf ihre persönliche Erfahrung. „Wenn mich etwas nekt, und mich verdrüßlich machen will, spring ich auf und sing ein paar Contretänze den Garten auf und ab, gleich ist’s weg“ (S. 64). Werther kann Lottes Erfahrung nur bestätigen, „das war’s was ich sagen wollte“ (ebd.). Lotte hat nun für Werther gesprochen. Als Frau gelingt ihr das lebenssituativ umzusetzen, was die Männer des Sturm und Drang in theoretischen Schriften fordern, nämlich individuelles Empfinden und Fühlen sind Voraussetzung, um verlässlich urteilen zu können. Lottes persönliche Erfahrung umgeht die medizinische und psychologische Regelapparatur der Aufklärung. Die Rückkehr zur Natürlichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang auch eine Rückkehr zum unverbildeten, gesunden Menschenverstand. Mit dieser bemerkenswerten Textstelle wird eine Form der Leidenschaftsäußerung dadurch aufgewertet, dass sie als Mittel der Affektmodellierung zugelassen ist. 1771 ist das Tanzen, auf das Lotte anspielt, noch keinesfalls Ausdruck eines emanzipativen bürgerlichen Bewusstseins. Der Tanz gilt bis weit in das 18. Jahrhundert hinein als genuines kulturelles Ausdrucksmittel des Adels. Daran orientieren sich die Bürgerlichen und weniger an den Bauern- und Volkstänzen. Dem einflussreichen Ästhetiker Johann Georg Sulzer (1720-1779) Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="93"?> 92 4. Schritt - 18. Jahrhundert etwa dienen Gesellschaftstänze zur Ausbildung und Einübung zivilisatorischer Standards, wie beispielsweise Ehrfurcht der Jugend vor dem Alter, Bescheidenheit, Mäßigung, Mut und Standhaftigkeit-- so legt er dies in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771 / 74) unter den Artikeln Tanz und Tanzkunst dar. Lotte argumentiert im Werther also fortschrittlich im Stil des Sturm und Drang. Sie bestätigt durch eigene Erfahrung und ohne auf das Reglement vernünftigen Argumentierens zu achten die affektregulierende Wirkung des Tanzes auf die Leidenschaften. Dies knüpft an eine frühere Textstelle an, die jetzt im Nachhinein eine Erklärung findet. Im Brief vom 16. Juni berichtet Werther: „Das Gespräch fiel auf das Vergnügen am Tanze. Wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist, sagte Lotte, so gesteh ich ihnen gern, ich weis nichts über’s Tanzen“ (S. 44). Tanzen ist eine Leidenschaft, die Vergnügen bereitet, auch Werther wird dieses Vergnügen zuteil. Denn im Tanz mit Lotte erfährt er diese Frau als Objekt seiner Leidenschaft: Nun giengs, und wir ergözten uns eine Weile an mannchfaltigen Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie sich! -[…] Nie ist mir’s so leicht vom Flekke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben, und mit ihr herum zu fliegen wie Wetter, daß alles rings umher vergieng und- - Wilhelm, um ehrlich zu seyn, that ich aber doch den Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen [= Walzer tanzen] sollte, als mit mir, und wenn ich drüber zu Grunde gehen müßte, du verstehst mich. (S. 46) Weit davon entfernt, Leidenschaften schlechthin zu verteufeln, bedeutet Lotte durch ihre Äußerung dem leidenschaftlichen Werther, dass es durchaus Leidenschaften gibt, die ihre Billigung finden, die ihr sogar Vergnügen bereiten. „Und wenn ich was im Kopfe habe, und mir auf meinem verstimmten Klaviere einen Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut“ (S. 44). Diese Erfahrung der besänftigenden und bändigenden Wirkung von Musik vereint Lotte und Werther. Im Brief vom 16. Juli schreibt dieser, Lotte habe eine Melodie auf dem Klavier gespielt „mit der Kraft eines Engels, so simpel und so geistvoll, es ist ihr Leiblied, und mich stellt es von aller Pein, Verwirrung und Grillen her, wenn sie nur die erste Note davon greift“ (S. 78). Werther ruft hiermit das Inventar empfindsamer Ausdrucksformen ab. Dazu gehören die Stilisierung der Geliebten als Engel und das Singen und Spielen von empfindsamen Melodien. Nebenbei macht diese Textstelle einmal mehr deutlich, dass sich auch ein Text des Sturm und Drang wie der Werther-Roman empfindsamer Verständigungsstrukturen <?page no="94"?> 93 und empfindsamer Kommunikationsmodelle bedient. Lottes Musik wirkt also in Zeiten von Depression und großer Selbstmordgefährdung, „oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor’n Kopf schiessen möchte“ (S. 78), auf Werthers Leidenschaft mäßigend und heilt vorübergehend sein Leiden. In dieser psychischen Verwirrung, von der Werther spricht, empfindet er seinen Körper als einen „Kerker“ (S. 22), und nur Lotte kann ihn daraus befreien. Freiheit ist für Werther nur noch ein Gefühl. So wird diese Frau mit einem Anspruch konfrontiert, der sie zwangsläufig überfordern muss, da nur Werther sich selbst helfen kann. Darin liegt ein bemerkenswerter Unterschied zum Selbsthelfertypus des Götz in Goethes gleichnamigem Drama. Freiheit wird im Werther radikal psychologisiert, das ursprünglich äußere Gefängnis (in dem Götz von Berlichingen stirbt) kehrt sich nach innen, verzweifelt wird um das Verstehen psychischer Binnenkonflikte gerungen, die Außenwelt erfüllt nur noch gelegentlich die Aufgabe einer Kulisse, so wie die äußere Natur unmittelbar Werthers innere Natur widerspiegelt. Im Zusammenhang der letzten Begegnungen zwischen Lotte und Werther kommt der Autor nochmals auf die affektbindende Wirkung von Musik zurück. In der Rolle des Erzählers und versteckt hinter der Fiktion des Herausgebers, kommentiert er Lottes Versuch einer empfindsamen Bändigung ihrer Leidenschaften. Lotte beginnt beim Gedanken an die unglückliche Partnerschaft mit Albert und an ihre Einsamkeit zu weinen, sie wird melancholisch. Nach der Lesart des Briefs vom 13. Mai ist der Übergang „von süsser Melancholie zur verderblichen Leidenschaft“ (S. 14) fließend und außerdem gefährlich schnell vollzogen. Lotte befindet sich im Zustand hochgradiger Leidenschaftsfähigkeit, Werthers Leiden scheint auch ihr bevorzustehen. Sie gerät jetzt in jenen Zustand, den er bereits hinter sich hat. Ihre psychische Erregung äußert sich körperlich („wie schlug ihr Herz“, S. 236), als Werther, den sie eigentlich nicht mehr sehen wollte, sie besucht und sie seine Stimme hört. Wieder ist es ein akustisches Signal, das unmittelbar in den Affekthaushalt eingreift. Lotte spielt Klavier, um ihre aufgewühlte Seele zu beruhigen. Erst danach vermag sie sich neben Werther aufs Kanapee zu setzen. Nun ist Werther die Klaviatur, auf der sie zu spielen versucht, doch der eintretende Effekt ist katastrophal. In der gemeinsamen Lektüre Ossians, eines Signaltextes des Sturm und Drang, schaffen sich beide unwissentlich die Voraussetzung für den endgültigen Gefühlsausbruch. Die „Gewalt“ (S. 252) der Schrift ebnet der Tat den Weg, Lotte und Werther fassen sich an. „Die Welt vergieng ihnen, er schlang seine Arme um sie her, preßte sie an seine Brust, und dekte ihre zitternde stammelnde Lippen mit Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="95"?> 94 4. Schritt - 18. Jahrhundert wüthenden Küssen“ (S. 254). Wenn Werther über Lotte schon früh schreibt: „Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart.-[…], es ist als wenn die Seele sich-[…] umkehrte“ (S. 78), so gleicht dies syntaktisch und vom Sprachmodus her gesehen einer Zustandsbeschreibung. Doch in Wirklichkeit meint Werther damit, Lotte soll heilig sein, das Begehren soll schweigen. Aus diesem Sollen wird im Laufe der Textentwicklung eine klare apodiktische Aussage, Lotte muss heilig sein, das Begehren muss schweigen. Und das meint nichts anderes als: Lotte muss heilig sein, damit das Begehren verstummt. Wenn etwas aber schweigen soll, dann hat es zuvor gesprochen. Die Umkehrung der Seele, die Werther nennt, bedeutet dann nicht die gelungene Affektkontrolle, sondern gerade den Verlust der Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung. Dieses Versagen des Ansichhaltens ist bei der Ossian-Lektüre (der Referenztext der vorbildlichen Alten, nämlich Homer, wird nicht mehr gelesen) handgreiflich im buchstäblichen Sinne geworden. Mit Albert tritt in das Ensemble der Diskutanten des Werthers ein dritter Beteiligter ein. In einem Streitgespräch mit Werther, worin es um die Sittlichkeit des Selbstmords als freier Willensentscheidung geht, bezieht Albert die Position des aufgeklärt Argumentierenden. Für ihn steht im Mittelpunkt der moralischen und juristischen Beurteilung einer Tat nicht die Tat selbst oder das Tatmotiv, sondern allein der Täter. Werther führt in seiner Entgegnung unter anderem zwei Fragen an, die sich mit der Verletzung von Sexualitätstabus befassen. Er wechselt dabei unmerklich von einer aufgeklärten zu einer aufklärungskritischen Position: „Wer hebt den ersten Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren nichtswürdigen Verführer aufopfert? Gegen das Mädgen, das in einer wonnevollen Stunde, sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert? “ (S. 94) Bei der ersten Frage nach dem Schuldvorwurf gegen den Ehemann bei erwiesener ehelicher Untreue der Frau argumentiert Werther so wie Albert kurz zuvor und was Werther zu dem gleichermaßen emphatischen wie auch als Empörung gedachten Ausruf verleitet hat: „Daß ihr Menschen,-[…] gleich sprechen müßt: Das ist thörig, das ist klug, das ist gut, das ist bös! “ (S. 94) Werther wendet sich sehr entschieden gegen moralische Werturteile, wenn es um die Beurteilung einer Sache, einer Handlung bzw. einer Tat geht. Und gerade mit solch wertenden Epitheta bezieht er nun Position gegen die ungebändigte Leidenschaft. In der ersten Beispielfrage ergreift er also Partei für eine reglementierte, unfreie Sexualität. Er argumentiert hier noch aus der Sicht des betrogenen Ehemanns, um dies in der zweiten Beispielfrage nach der Schuldfähigkeit nicht einer verführten Frau, sondern nach <?page no="96"?> 95 der moralischen Schuld des einvernehmlichen Sexes sofort zu widerrufen. Jetzt argumentiert er aus der Perspektive der Frau, die nicht mehr in der Lage oder willens ist, ihre Leidenschaften zu kontrollieren. Werther rechtfertigt nun aufklärungskritisch eine emanzipative Haltung den Leidenschaften gegenüber. Nicht die Tat der vor- oder außerehelichen Sexualität ist verwerflich, sondern die moralische Beurteilung und Verurteilung der Liebenden durch die Gesellschaft. Dieser Perspektivenwechsel vollzieht sich plötzlich und zwar innerhalb von zwei Sätzen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand, denn Werther rechtfertigt damit im Vorgriff auf die weitere Entwicklung das von ihm begehrte Verhältnis zu Lotte. In demselben Gespräch verteidigt Werther schließlich auch den Selbstmord. Als Beispiel dient der Fall eines Mädchens, das vom begehrten Mann verlassen wird und sich deshalb umbringt. Indem Werther den Selbstmord der Frau verteidigt, rechtfertigt er seine eigene Position gegenüber Lotte. „Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muß sterben“ (S. 102), sagt er zu Albert. Doch auch die Zivilisation ist nicht imstande, einen Ariadnefaden zu spinnen, der aus diesem Labyrinth herausführen könnte. Was die aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft dem Einzelnen abverlangt, überfordert dieses aufklärungskritische, auf Autonomie und Freiheit pochende Individuum. Zwischen diese beiden Positionsbestimmungen Werthers, der Rechtfertigung der freien Sexualität und der Verteidigung des Selbstmords, ist eine heftige Kontroverse zwischen Albert und Werther über den Zusammenhang von Leidenschaft und Wahnsinn gestellt. Albert entgegnet Werther, dass der Tabubruch der vorehelichen Sexualität aus Liebesleidenschaft und der Handlung im Affekt (die Werther in seinem Beispiel vom betrogenen Ehemann anführt) mit der phasenweisen minderen Zurechnungsfähigkeit der Handelnden zu erklären sei. Mit diesem medizinisch-psychiatrischen Argument versucht der aufgeklärt denkende Albert, das unbedachte Handeln aus Leidenschaften wieder einzufangen und in ein bürgerliches Bewertungssystem zu überführen. Handeln ist hier nicht mehr jenes politisch-gesellschaftliche Handeln eines Götz von Berlichingen, sondern eine ausschließlich aus dem psychischen Binnenleben des Individuums herrührende Selbstbetätigung. Der Begriff des Handelns erfährt im Werther eine starke Intimisierung und verdeutlicht damit einen zivilisatorischen Prozess, der die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert maßgeblich mitbestimmt. Ein Mensch, „den seine Leidenschaften hinreissen“ (S. 94), verliert jedwede Kontrolle über seine Handlungen, er ist unzurechnungsfähig und wird Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="97"?> 96 4. Schritt - 18. Jahrhundert deshalb als „Trunkener, als ein Wahnsinniger angesehen“ (S. 94). Hinter diesem Argument versteckt sich unschwer das aufgeklärte Bemühen, Leidenschaften als Teil einer Krankengeschichte, als Krankheitssymptome zu begreifen. Die Medizin des Aufklärungszeitalters ordnet nahezu jegliche Verhaltensauffälligkeit oder körperliche Abweichung dem Ursachenkomplex Leidenschaften zu: Fieber, Wechselfieber, Typhus, Hirnwut, Zahnweh, Podagra, Ausschlagsfieber, Pest, Blutstürze, Gebärmutterblutstürze, Blutfluss zum Abortieren, Nervenkrankheiten, schlafsüchtige Zufälle, Schlagfluss, Entkräftung, Schwachheiten, Ohnmacht, Hypochondrie, Bleichsucht, Krämpfe, krampfartige Krankheiten, anhaltende Zusammenziehung besonderer Teile, krankhafte Engbrüstigkeit, zufälliges Schlucken, das hysterische Übel, Melancholie, Raserei, Skorbut, Gelbsucht und Heimweh-- all das kann Folge von Leidenschaften sein. So lautet die Auflistung in der zeitgenössisch populären und preisgekrönten medizinischen Abhandlung über den Einfluß der Leidenschaften auf die Krankheiten des Körpers (1789) von William Falconer (1741-1805). Werther wehrt sich in seiner Antwort auf Albert entsprechend heftig: Ach ihr vernünftigen Leute! -[…] Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! -[…] Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, und meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinne, und beydes reut mich nicht, denn ich habe in meinem Maasse begreifen lernen: Wie man alle ausserordentliche Menschen, die etwas grosses, etwas unmöglich scheinendes würkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreien müßte. (S. 94 f.) Leidenschaften als Wahnsinn zu deklarieren ist Ausdruck einer Diffamierungspraxis, deren Ziel die Unterdrückung von Leidenschaften ist. Dagegen setzt sich das selbsthandelnde Individuum Werther zur Wehr und reklamiert eine grundlegende Position des Sturm und Drang für sich. Wie schon zuvor Lotte, so greift auch Werther an dieser Stelle auf seine subjektive Erfahrung zurück. Es geht ihm um den unverkürzten Anspruch einer Emanzipation der Leidenschaften, die den sozial notwendigen und gesellschaftlich erforderlichen Mechanismen der Bändigung entgegensteht. Während Albert gesellschaftlich argumentiert, argumentieren Lotte und Werther individualistisch, eben vom betroffenen Individuum aus. Der Brief vom 30. November 1771 enthält Werthers Bericht von der Begegnung mit dem wahnsinnigen Heinrich. Der Ort der Begegnung ist die Natur, die nun nicht mehr schön ist, sondern als öd und nasskalt, der herbstlichen Stimmung entsprechend, charakterisiert wird. Heinrich, den Werther einen <?page no="98"?> 97 glücklichen Unglücklichen nennt (vgl. S. 196), war Sekretär bei Lottes Vater gewesen, bis eine „unglükliche Leidenschaft“ (S. 196) zu ihr zum Verlust der Stelle führte. Die Leidenschaft wird zur Ursache des unfreiwilligen sozialen Abstiegs. Zunächst noch idealisiert Werther den Zustand des Wahnsinnigen, doch wird ihm mit dessen Schicksal zugleich bewusst, dass es in der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft der 1770er Jahre keinen Raum für eine Emanzipation der Leidenschaften gibt. Wer leidenschaftlich und nicht standesgemäß liebt, fällt aus der bürgerlichen Ordnung. Da Werther Heinrichs Weg der gesellschaftlichen Isolation und der psychiatrischen Verwahrung nicht wählen wird, bleibt ihm nur der freiwillige, aber ebenso unumkehrbare Tod. In Werthers Geschichte spiegelt sich die Geschichte der zunehmend isolierten Individuen des Sturm und Drang so wider, wie Werther in Heinrichs Geschichte seine eigene Geschichte wiederfindet. Goethe stellt damit neben der elementaren Forderung des Sturm und Drang nach Individualität und Einzigartigkeit dessen drohende Überforderung durch gesellschaftliche und psychische Isolation und Versingelung dar. Auf diese Weise werden Hoffen und Scheitern im Wechselspiel von Figur und Autor zum doppelten Charakter des Sturm und Drang. Werther macht gegenüber Albert ein Modell der Entstehung von Leidenschaften geltend, das auf die Vorstellung hinausläuft, das Individuum habe weder Macht über noch Einfluss auf seine Leidenschaften. Damit spricht sich Werther von jeder Verantwortung für sein psychisch bedingtes Handeln frei, er will sich gleichsam im Vorgriff Absolution von Albert für sein Verhalten erteilen lassen. Doch Albert lässt dies nicht gelten. Der aufgeklärte Mensch, der ein „Mensch von Verstande“ (S. 102) sei, könne sich durchaus selbst disziplinieren, also bändigen. Aufklärung von Leidenschaften bedeutet in dieser Lesart Bändigung von Leidenschaften. Damit bringt Albert ein Argument in die Diskussion ein, das der Autor Goethe fast unverändert von Karl Wilhelm Jerusalem übernommen hat. In dessen Philosophischen Aufsätzen (1776), die von Lessing später als Buch herausgegeben wurden und die nach dem Bericht Kestners vom 2. November 1772 an Goethe bei Jerusalems Selbstmord auf seinem Pult neben Lessings bürgerlichem Trauerspiel Emilia Galotti (1772) gelegen haben, stellt Jerusalem die Frage: „Worin besteht die Tugend? Was ist sie? “ und gibt selbst die Antwort, „sie ist die Beherrschung unserer Leidenschaften durch die Vernunft“ (zitiert nach: Lessing: Werke und Briefe. Frankfurter Ausgabe Bd. 8, S. 147 f.). Im Werther macht Albert geltend, dass der aufgeklärte Mensch durchaus in der Lage zur Selbstbeherrschung ist, die als empfindsame Tugendhaftigkeit die gesellschaftliche Anerkennung findet. Doch Werther schließt die Möglichkeit Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="99"?> 98 4. Schritt - 18. Jahrhundert einer empfindsamen Balance zwischen Verstand und Gefühl aus und unterstreicht damit seine aufklärungskritische Position. Am Ende des Gesprächs wird sein Handeln selbst zum unmittelbaren Ausdruck seiner Ratlosigkeit, wie in der aufgeklärten Gesellschaft mit Leidenschaften anders als disziplinierend umzugehen ist, indem er das Gespräch abbricht und den Ort verlässt: Der Mensch ist Mensch, und das Bißgen Verstand das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wüthet, und die Gränzen der Menschheit einen drängen. Vielmehr-- ein andermal, davon sagt ich, und grif nach meinem Hute. O mir war das Herz so voll-- Und wir giengen auseinander, ohne einander verstanden zu haben. Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht. (S. 102) Der Abbruch des Gesprächs kehrt stilistisch als Anakoluth wieder, der Gedankenstrich markiert die Trennung der Gesprächspartner und die Unvereinbarkeit der beiden Standpunkte. Was in Werthers Lebenswirklichkeit aber als Abbruch und als Versagung auftritt, erscheint nun in nächtlichen Träumen als Wunscherfüllung. Denn Werther fantasiert Lotte. Im Brief vom 21. August 1771 beschreibt er dies: „Umsonst streke ich meine Arme nach ihr aus, Morgens wenn ich von schweren Träumen aufdämmere, vergebens such ich sie Nachts in meinem Bette, wenn mich ein glüklicher unschuldiger Traum getäuscht hat“ (S. 108 f.). Fast ein Jahr lang hält diese Fantasievorstellung der vollzogenen Partnerschaft und Paaridentität mit Lotte an. Am 29. Juli 1772 schreibt Werther emphatisch: „Ich ihr Mann! -[…] Sie meine Frau! -[…]-- Es geht mir ein Schauder durch den ganzen Körper, Wilhelm, wenn Albert sie um den schlanken Leib faßt“ (S. 158 f.). Der Impuls, nach dem begehrten Objekt zu greifen, es sich im buchstäblichen Sinn handgreiflich einzuverleiben, ist für Werther kaum mehr zu unterdrücken. Die Unmöglichkeit der Selbstbändigung und Selbstbeherrschung, die er Albert gegenüber zunächst allgemein beschrieben hatte, erfährt er nun selbst am eigenen Leib sehr konkret. Am 30. Oktober 1772 schreibt er in einem kurzen Brief über Lotte, sprachlich schon merklich von der Stillage der anderen Briefe abgesetzt: „[…], so viel Liebenswürdigkeit vor sich herumkreuzen zu sehn und nicht zugreifen zu dürfen. Und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit“ (S. 180). Am 17. Dezember 1772 gesteht er schließlich ein, dass sich seine Leidenschaft nicht mehr kontrollieren lasse. „Diese Nacht! Ich zittere es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an meinen Busen gedrükt und dekte ihren lieben lispelnden Mund mit unendlichen Küssen“ (S. 200 f.). Noch sind es nächtliche Träume, auch wenn dies vom Text her gesehen nicht zweifelsfrei und eindeutig ist, in denen er sich diesen <?page no="100"?> 99 Wunsch erfüllt. Doch schon wenig später versagt auch die nächtliche Traumarbeit als letzter Mechanismus der Selbstdisziplinierung. Werther erfüllt sich nun in der Realität, was ihm verwehrt geblieben war, und steuert damit in die Katastrophe. „Und mit mir ist’s aus! Meine Sinnen verwirren sich.-[…] Mir wärs besser ich gienge“ (S. 202). Werther unterläuft also absichtsvoll die gesellschaftlichen Bändigungsgebote. Lottes Ausruf: „Werther,- […] mässigen Sie sich. O! warum mußten Sie mit dieser Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft für alles, das Sie einmal anfassen, gebohren werden“ (S. 226), appelliert an den zivilisatorischen Verhaltensstandard der Selbstbeherrschung, der Selbstzucht oder der verinnerlichten Bändigung von Leidenschaften. Dass dieser Appell notwendig ins Leere läuft, ist ihr nicht bewusst. Vielmehr tut sie das, was Werther aufgrund seines Ehephantasmas notwendigerweise überfordern muss, denn sie berührt den Mann, der zuletzt nur noch von der unmittelbaren körperlichen Berührung mit Lotte fantasiert hat. Lotte stellt eigeninitiativ den körperlichen Kontakt mit Werther her, nimmt ihn „bey der Hand“ (S. 226) und wiederholt ihren Mäßigungsappell. Man kann am Text sehr genau verfolgen, wie das uneigentliche Sprechen das eigentliche Sprechen verstellt. Die Gesten sind so codiert, dass sie der Gesprächspartner nicht mehr verstehen kann. Lotte fordert fast im Ton eines Imperativs: „Seyn Sie ein Mann“ (S. 226) und das ausgerechnet von dem Mann, der genau diese Erwartung Mann zu sein nicht erfüllen kann. Denn Lotte spricht uneigentlich, sie meint nicht das, was sie sagt, sondern meint das, was sie nicht sagt. Sie erwartet von Werther ein den bürgerlichen Schicklichkeitsstandards der Zeit gehorchendes Verhalten. Werther hingegen kann Lottes Aufforderung ein Mann zu sein nur wörtlich, also im eigentlichen Wortsinn verstehen und das heißt für ihn, gerade nicht diesen zivilisatorischen Erfordernissen zu gehorchen. Lotte rät Werther zu einer empfindsamen Lösung, die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gelingen kann. „Suchen Sie, finden Sie einen werthen Gegenstand all Ihrer Liebe, und kehren Sie zurük, und lassen Sie uns zusammen die Seligkeit einer wahren Freundschaft genießen“ (S. 226). Werther verweist diese Empfehlung in das Reich der Ratgeberliteratur. Er fängt „einen unbedeutenden Diskurs an“ (S. 228). Das Eigentliche, das Bedeutende, die Tat selbst weicht in der Folge in die Schrift zurück. Am nächsten Morgen teilt Werther Lotte brieflich seinen Entschluss mit, aus dem Leben zu gehen. Das Medium, welches bislang zur Darstellung von Werthers Leben und Leidenschaften und damit der verschriftlichten Bändigung der Leidenschaften diente, Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="101"?> 100 4. Schritt - 18. Jahrhundert wird nun zum Medium der Mitteilung auf deren finalen Verzicht: der Brief. Der Romankommentar spricht von der subversiven Macht von Werthers Leidenschaften, die das friedvolle Zusammenleben zwischen Albert und Lotte regelrecht untergraben habe. Diese Metapher knüpft wieder an jene Beschreibung an, die Werther selbst im Brief vom 26. Mai 1771 gegeben hat. Was er bei dem wahnsinnigen Heinrich festgestellt hatte, wird nun durch den Kommentar bei ihm selbst diagnostiziert. Die im Titel angezeigte Leidensgeschichte erfasst jetzt auch Lotte und Albert, sie beginnen unter Werthers Leiden zu leiden. Eine provokantere Brechung könnte das empfindsame Gebot des Mitleidens kaum erfahren. Mitleiden ist am Ende des Romans keine bürgerliche Sozialtugend mehr im Gegensatz zum mitleidslosen und mitleidsunfähigen Adel. Vielmehr wird das Leiden des anderen als eine Krankheit beschrieben, die infektiös zu wirken beginnt, Lotte wird „zulezt selbst mit angestekt“ (S. 204). Werthers Leidenschaft bedroht die patriarchale Ordnung der Zweierbeziehung, sie gefährdet Alberts Rechte gegenüber Lotte, die dieser geltend macht. Innerhalb weniger Zeilen wechselt der Autor Goethe von der bisherigen Monoperspektive Werthers zu deren Korrektiv, dem Kommentar. Die Leidenschaftsgeschichte als Leidensgeschichte wird darin noch weiter verschärft zur Krankengeschichte. Leidenschaften sind ein unheilbares, ansteckendes Fieber, sie sind eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung, wenn sie außer Kontrolle geraten. Goethe beschließt seinen Kommentar, nämlich die Mitteilung „Der Herausgeber an den Leser“ (S. 204), mit folgender Bemerkung über Werther: „[…] das stürmende Abarbeiten seiner Kräfte, ohne Zwek und Aussicht, drängten ihn endlich zu der schröklichen That“ (S. 208). Diese Formulierung ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Zum einen bestätigt sie auf der Ebene der Diskurs- und Epochengeschichte eine Diffamierungspraxis der Aufklärung gegenüber dem Sturm und Drang; das zweck- und ziellose Handeln eines Autonomie beanspruchenden Individuums muss zwangsläufig in eine Tat münden, die das Gemeinwohl gefährdet. Zum anderen bringt sie auf der Ebene der literaturgeschichtlichen Selbstreflexion aber auch unverfälscht das Selbstverständnis von Sturm und Drang als Aufklärungskritik zum Ausdruck. Dass Goethe dieses Selbstverständnis dem aufgeklärten Romankommentar unterlegt, mag eine Pikanterie sein, hat aber ihre literaturhistorische Bedeutung gerade darin, dass es die Zusammengehörigkeit von Aufklärung und Sturm und Drang trotz aller Kritik und trotz aller Unterschiede hervorhebt. Hier ist das Verständnis von Sturm und Drang als Chiffre einer verdeckten Opposition zur Aufklärung in Goethes Werther gegenwärtig. <?page no="102"?> 101 Im Schlussteil des Romans unterbricht der fiktive Herausgeber von Werthers Briefen dessen eigenen Bericht durch Kommentare. Dass dies schreibstrategisch notwendig ist, bestätigt die zeitgenössische Rezeption, denn der Roman (und mit ihm sein Autor) wird entweder vollständig abgelehnt und publizistisch attackiert oder die Identifikation mit der Werther-Figur reicht so weit, dass der Text insgesamt als ein authentisches Lebensdokument begriffen wird. Diese heftigen Attacken auf Autor und Buch reichen bis hin zu Zensurmaßnahmen. Im katholischen Wien wird das Buch ebenso auf den Index gesetzt wie im protestantischen Leipzig. Die Theologische Fakultät der Universität befürchtet, dass der Roman besonders weibliche Leser zu freizügigerem Handeln verführen könne. Außerdem wird Goethes Buch als Empfehlung zum Selbstmord missverstanden, was theologisch nicht zu rechtfertigen sei. Der Rat der Stadt Leipzig folgt dem Antrag und verfügt am 30. Januar 1775 ein Druck- und Verkaufsverbot. Das umgehen die Studenten und interessierten Leser, indem sie außerhalb der Stadtmauern den Roman erwerben. Trotz dieser Behinderungen erfahren Autor und Roman innerhalb kurzer Zeit eine unvergleichliche Popularität, die bis zur Herstellung von Merchandise-Produkten mit eigener Wertschöpfung führt, wie etwa dem Werther-Fächer, der die Szenen abbildet ‚Lotte bei Werthers Grab‘ und ‚Lotte in Ohnmacht mit Albert‘, Gürtelanhängern, Werther-Tassen aus Meißner Porzellan und natürlich der typischen Werther- Kleidung, die auch der Autor selbst getragen hat, bestehend aus blauem Frack, gelber Weste und gelber Hose. Das Verbot wird übrigens angesichts der großen illegalen Verbreitung des Buchs bald aufgehoben. Zu den erklärten Gegnern des Romans gehören die Vertreter einer orthodoxen Aufklärung, unter anderem der Literaturkritiker Friedrich Nicolai (1733-1811) und der Hamburger Pastor Johann Melchior Goeze (1717-1786), mit dem auch Lessing heftige Differenzen austrägt. Diese Kritiker erkennen im Roman das Plädoyer für eine Emanzipation der Leidenschaften und verurteilen dies moralisch. So schreibt beispielsweise der einflussreiche schweizerische Kritiker Johann Jakob Bodmer (1698-1783) kurz nach Erscheinen des Werthers: „Die Jünglinge finden in Göthens Werk Sophismen für die ausschweifendste Leidenschaft“ (zitiert nach: Der junge Goethe im zeitgenössischen Urteil. Bearbeitet u. eingeleitet v. Peter Müller. Berlin 1969, S. 155). Zustimmung erfährt der Roman von dem überzeugten Aufklärer Christoph Martin Wieland (1733-1813), dessen Liberalität ohnehin sprichwörtlich ist. Das Lager der Sturm-und-Drang- Autoren bejubelt den Werther. Er wird zum maßgeblichen Referenztext dieser Autorengruppe. Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791), Gottfried Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="103"?> 102 4. Schritt - 18. Jahrhundert August Bürger (1747-1794) und viele andere schreiben in privaten Briefen und öffentlichen Stellungnahmen enthusiastisch über den Roman. Zu den engagiertesten Verteidigern gehört Goethes Freund Lenz. Er verfasst zehn Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers (1774 / 75). Zu Lebzeiten wird dieser Essay allerdings nie gedruckt, erst 1918 erscheint er. Dennoch geben diese Briefe einen Eindruck davon, mit welcher Verve der Werther auch verteidigt wird. Lenz beispielsweise tritt vorbehaltlos für Goethes Roman ein. Er unterscheidet zwischen der Moralität eines Textes und dem moralischen Endzweck, also der moralischen Botschaft, die ein Dichter mit seinem Text verfolgt. Wenn ein Text wie der Werther das Herz der Leser erreiche, könne er nur moralisch gut wirken und damit das Herz bessern, was bekanntlich eine elementare aufgeklärte Funktionsbestimmung der Literatur sei. Das Herz bessern könne Literatur aber nur, wenn zuvor heftige Leidenschaften im Leser erregt würden. „Eben darin besteht Werthers Verdienst daß er uns mit Leidenschaften und Empfindungen bekannt macht, die jeder in sich dunkel fühlt, die er aber nicht mit Namen zu nennen weiß. Darin besteht das Verdienst jedes Dichters“ (Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden Bd. 2, S. 682). In einem privaten Brief vom 10. Mai 1775 wird Lenz noch deutlicher: „Was sagen Sie zu all dem Gelärms übern Werther? Ist das erhört einen Roman wie eine Predigt zu beurteilen. O Deutschland mit deinem Geschmack! “ (Ebd. Bd. 3, S. 318) Goethes Werther hatte zweifelsohne eine ambivalente Wirkung. Der Roman erzählt von einer epochalen Tabuverletzung, er entfaltet die Pathographie oder das Narrativ einer nichtsublimierten Sexualität, er bietet das gescheiterte Gegenmodell zur Selbstdisziplinierung, das auf der Forderung nach einer maßlosen Emanzipation der Leidenschaften beruht. Dieser Tabubruch wird zusätzlich noch verstärkt durch die Thematisierung und Rechtfertigung des gesellschaftlich diskriminierten Selbstmords. Goethe wertet das bürgerliche Subjekt insofern auf, als er nachdrücklich herausstreicht, dass es fundamentale Leidenschaften zu entwickeln und zu äußern in der Lage ist. In diesem Punkt der Darstellung bricht Goethe ein Tabu, da er das Problem der Leidenschaften und des Scheiterns ihrer restlosen, aber vom Sturm und Drang für unverzichtbar gehaltenen Befreiung in der bürgerlichen Gesellschaft gezielt aufwirft. Insofern ist der Werther ein Text über die Unmöglichkeit des Ansichhaltens und verletzt gerade in der drastischen Offenlegung dieses Scheiterns ein Tabu. <?page no="104"?> 103 Textgrundlage: Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Studienausgabe. Paralleldruck der Fassungen von 1774 und 1787. Hgg. v. Matthias Luserke. Stuttgart 1999 (=-Reclam UB 9762). Lektüreempfehlungen: Lyrik des 18. Jahrhunderts (u. a. Johann Wolfgang Goethe, Jakob Michael Reinhold Lenz, Matthias Claudius, Gottfried August Bürger, Gedichte des Göttinger Hain, Friedrich Hölderlin) Johann Wolfgang Goethe: Götz von Berlichingen (1773) Herder, Goethe, Frisi, Möser: Von deutscher Art und Kunst (1773) Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister (1774), Die Soldaten (1776) Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin (1776) Friedrich Maximilian Klinger: Sturm und Drang (1777) Friedrich Schiller: Kabale und Liebe (1784) Immanuel Kant (u. a.): Was ist Aufklärung? (1784) Karl Philipp Moritz: Anton Reiser (1785 / 90) Rudolph Zacharias Becker: Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute (1788) Einführende wissenschaftliche Literatur: Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren-- Texte-- Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2010 (=-Reclam UB 17602). Handbuch Sturm und Drang. Hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit v. Vanessa Geuen u. Lisa Wille. Berlin, Boston 2017. Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="106"?> 5. Schritt - 18. Jahrhundert f rühromAntik : Friedrich Schlegel Lucinde (1799) In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verändert sich die Kulturtechnik Lesen entscheidend. Es entsteht ein Leseverhalten, das von den Zeitgenossen als Lesewut bezeichnet wird. Ein neues Lesepublikum ist entstanden, nicht mehr Adlige oder Geistliche allein sind des Schreibens und Lesens mächtig, sondern nun ist es größtenteils ein bürgerliches Lesepublikum. Um diese Lesewut zu steuern, werden zwei Institutionen geschaffen, die Lesegesellschaften und die Leihbibliotheken, die zugleich auch eine Kontrolle über den Lesestoff erlauben. Während die Lesegesellschaften Non-Profit-Organisationen sind, verfolgen die Leihbibliotheken durchaus kommerzielle Interessen. Die Lesegesellschaften können durchaus als eine frühe Form bürgerlichen Vereinswesens betrachtet werden, denn sie müssen Statuten ausarbeiten, einen Vorstand wählen, Räume organisieren, Finanzen verwalten, Mitgliedschaften prüfen und die Bücher und Zeitschriften anschaffen, die gemeinsam gelesen werden sollen. Information, Kommunikation und Stärkung der sozialen Bindungen stehen im Zentrum ihrer Tätigkeit. Frauen haben in der Regel keinen Zutritt zu ihnen. Bis zum Jahr 1760 gibt es erst fünf Lesegesellschaften, bis 1780 sind es schon 50 und um 1800 bereits mehr als 200. Meist sind sie in ihrem Aktivitätsradius regional begrenzt. Die gesellige Konversation in den Lesegesellschaften, die durchschnittlich bis zu 100 Mitglieder haben, folgt durchaus demokratischrepublikanischen Vorstellungen von Kommunikation, die auch entsprechend eingeübt werden, doch bleibt diese Art von Mitbestimmungstraining innerhalb dieser Gesellschaften, sie entfaltet keine politischen und praktischen Auswirkungen. Im Gegenteil, etliche Lesegesellschaften haben durchaus mit der Obrigkeit zu kämpfen. Lesegesellschaften gelten als Diskussionsforen und als Multiplikatoren der Lesewut, da sie systematisch eine extensive Lektüre einüben und nicht mehr der memorierenden intensiven Lesehaltung folgen. Die Mitglieder der Lesegesellschaften kommen vor allem aus dem bürgerlichen Mittelstand wie Handwerksmeister, adlige Militärs und Geistliche. Ausgeschlossen sind Studenten und Handwerksgesellen, Frauen und Hofmeister, Schreiber <?page no="107"?> 106 5. Schritt - 18. Jahrhundert und nichtadlige Militärs. Diese suchen umso mehr die Leihbüchereien auf. Sie entstehen vor allem in den Jahren zwischen 1770 und 1820. Am Ende des 18. Jahrhunderts sind sie in fast allen kleineren Städten oft mehrfach vertreten. Allein Frankfurt am Main hat zu diesem Zeitpunkt 18 Leihbibliotheken. Eine fehlende Kaufkraft und auch mangelnde Kaufmotivation machen die Leihbüchereien sehr beliebt und steigern die Umsatzzahlen. Sehr zum Verdruss der Buchhandlungen, denn wer leiht, kauft nicht. Der zeitgenössische Buchhandel klagt über Auflagenzahlen, die sich um mehr als die Hälfte verringern. Um 1800 sind dies bei einer Durchschnittsauflage eines Buches noch etwa zwischen 500 und 750 Stück. Was die Zahl der Neuerscheinungen betrifft, so sind für das Jahr 1805 insgesamt 4181 neue Bücher gezählt. Infolge der Napoleonischen Kriege gehen die Zahlen dann zurück, und erst 1843 wird ein Spitzenwert mit insgesamt 14 039 Neuerscheinungen erlangt. Ein eindrückliches literarisches Beispiel von der Einrichtung und dem Selbstverständnis einer solchen Leihbibliothek, wenngleich auch pointiert überspitzt, gibt Heinrich von Kleist (1777-1811). Er berichtet in einem Brief vom 14. September 1800 an seine Braut Wilhelmine von Zenge (1780-1852) von folgendem Dialog mit dem Mitarbeiter einer Würzburger Leihbibliothek: Nirgends kann man den Grad der Kultur einer Stadt und überhaupt den Geist ihres herrschenden Geschmacks schneller und doch zugleich richtiger kennen lernen, als-- in den Lesebibliotheken. Höre was ich darin fand-[…]. ‚Wir wünschen ein paar gute Bücher zu haben.‘-- Hier steht die Sammlung zu Befehl.-- ‚Etwa von Wieland.‘-- Ich zweifle fast.-- ‚Oder von Schiller, Goethe.‘-- Die möchten hier schwerlich zu finden sein.- - ‚Wie? Sind alle diese Bücher vergriffen? Wird hier so stark gelesen? ‘-- Das eben nicht.-- ‚Wer liest denn hier eigentlich am meisten? ‘-- Juristen, Kaufleute und verheiratete Damen.-- ‚Und die unverheirateten? ‘-- Sie dürfen keine fordern.- - ‚Und die Studenten? ‘- - Wir haben Befehl ihnen keine zu geben.- - ‚Aber sagen Sie uns, wenn so wenig gelesen wird, wo in aller Welt sind denn die Schriften Wielands, Goethes, Schillers? ‘-- Halten zu Gnaden, diese Schriften werden hier gar nicht gelesen.-- ‚Also Sie haben sie gar nicht in der Bibliothek? ‘-- Wir dürfen nicht.-- ‚Was stehn denn also eigentlich für Bücher hier an diesen Wänden? ‘-- Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern, links ohne Gespenster, nach Belieben.-- ‚So, so.‘-- - (Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hgg. v. Helmut Sembdner. München 1985, Bd. 2, S. 562 f.) <?page no="108"?> 107 Friedrich Schlegel Lucinde (1799) Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist der Bedeutungszuwachs der Leihbüchereien gegenüber den Lesegesellschaften so groß, dass man von einem Individualisierungs- und zunehmenden Anonymisierungsprozess des extensiven Lesens sprechen kann. Romantik als Epochenbezeichnung findet sich in nahezu allen europäischen Kunstformen wieder. Neben der Musik und der Bildenden Kunst ist vor allem die Literatur das Medium romantischer Identitätsstiftung. In den einzelnen Nationalliteraturen bezieht sich der Epochenbegriff Romantik mit ihren Früh-, Hoch- und Spätphasen auf je unterschiedliche Zeiträume des ausgehenden 18. und des frühen 19. Jahrhunderts. Die deutsche Frühromantik kann als ein Ensemble von Kleingruppen beschrieben werden, die sich dreimal in unterschiedlichen Personenkonstellationen und an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten treffen und literarisch wirken. Im Juni 1797 geht Friedrich Schlegel von Jena nach Berlin. Dort begegnet er dem Theologen Friedrich Schleiermacher (1768-1834) und Dorothea Veit (1764-1839), einer Tochter des Philosophen Moses Mendelssohn, die selbst schreibt und das Vorbild für die Lucinde ist. Später kommt auch Ludwig Tieck dazu. Friedrich Schlegel wird der Mittelpunkt und die treibende Kraft dieser sogenannten ersten Berliner Romantik (erste Phase). 1799 stößt der Philosoph Fichte, aus Jena kommend, hinzu. Diese Berliner Phase dauert bis Spätsommer 1799. In der Zwischenzeit begegnen sich im Juli und August 1798 Friedrich Schlegel, der Bruder August Wilhelm (1767-1845) und dessen Frau Caroline Schlegel (1763-1809) sowie Novalis, Fichte und Schelling in Dresden (zweite Phase). Die Jenaer Romantik bezeichnet eine dritte Phase, die vom September 1799 bis ca. April 1800 dauert. August Wilhelm Schlegel und seine Frau Caroline sind bereits 1796 nach Jena gezogen, nun folgen 1799 sein Bruder Friedrich Schlegel und seine Frau Dorothea, Tieck, Schelling und vorübergehend Novalis. „Die Dichter sind ein unschädliches Völkchen, mit ihren Träumen und Entzückungen und dem Himmel voll griechischer Götter, den sie in ihrer Phantasie mit sich umhertragen“ (Bonaventura: Nachtwachen. Hgg. v. Wolfgang Paulsen. Stuttgart 2014, S. 65 f.), so heißt es in den Nachtwachen des Bonaventura (1804) des frühromantischen Theaterdichters August Klingemann (1777-1831). Dieses Zitat markiert deutlich den Riss zwischen den Dichtern der Weimarer Klassik und der Frühromantik. Das Thema des Buchs ist eine nihilistische Weltdeutung, die Menschheit habe, so heißt es im Text, seit ihren Anfängen gar nichts zustande gebracht. Der Ton ist bissig satirisch, die Absage an ein lineares <?page no="109"?> 108 5. Schritt - 18. Jahrhundert Erzählen ist deutlich zu erkennen, klassische Maßgaben und Regeln werden verworfen. Für die literaturgeschichtliche Periode der Frühromantik sind die 1797 erschienenen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-1798) und Ludwig Tieck (1773-1853), die zwei Jahre später ebenfalls in Koautorschaft geschriebenen Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst (1799) sowie der Roman Lucinde von Friedrich Schlegel (1772-1829) prägend. Die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders sollen eine Art Manifest der Frühromantik werden. Von Tieck allein stammen 4 Texte, die restlichen von insgesamt 18 Texten hat Wackenroder beigesteuert. Die Vorstellung von einer romantischen- - und das soll meist heißen idealen- - Koproduktion gehört rezeptionsgeschichtlich gesehen zum Mythos dieses Buchs. Es geht darin um nichts Geringeres als um die Stiftung einer frühromantischen Kunstreligion. Kunst wird mehr als nur Religionsersatz, sie wird selbst zur Religion, und der Künstler wird insofern zum Priester, zum Geweihten, der allein über das nötige Wissen verfügt, um als Mittler zwischen Religion (Kunst) und Gläubigen (Rezipienten) fungieren zu können. Ein Mönch, fiktiver Verfasser, erinnert sich seiner jugendlichen Kunstbegeisterung. In kurzen theoretischen Einschüben, in fiktiven Briefwechseln und in einigen Künstlerbiographien italienischer Maler der Renaissance legt er seine Kunstanschauungen dar. Die ästhetische Erfahrung wird mit Begriffen des religiösen Sprachgebrauchs und des religiösen Erlebens beschrieben. Die Denkfiguren von Liebesreligion und Kunstreligion werden hier schon in einem frühromantischen Sinn vorbereitet. In der Erzählung Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger, die den Schluss des Buchs bildet, wird die Grundspannung und der Konflikt zwischen Künstler und Gesellschaft entfaltet. Die Gestaltung der Musikercharakterisierung hat Auswirkungen auf die Künstlererzählungen der Romantik bis zu den Romanen von Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) und Robert Schneider Schlafes Bruder (1992). Die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel bilden eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, an der gelegentlich auch Friedrich Schleiermacher mitwirkt. Sie gründen die entscheidende Literaturzeitschrift der Frühromantik, das Athenäum, das sie in den Jahren 1798 bis 1800 herausgeben und das mehr ist als ein literaturkritisches Journal, sondern vielmehr die wesentlichen frühromantischen Reflexionen in Form von Aphorismen enthält, die sogenannten Athenäums-Fragmente, geschrieben von den Brüdern Schlegel und Schleiermacher. Sie wollen damit ein Forum für die Diskussion und Verbreitung romantischen <?page no="110"?> 109 Denkens und Schreibens schaffen. Ihr Anspruch ist kein geringer. Friedrich Schlegel schreibt am 31. Oktober 1797 an seinen Bruder: Denk Dir nur den unendlichen Vortheil, daß wir alles thun und lassen könnten, nach unserm Gutdünken.- […] Ein andrer großer Vortheil dieses Unternehmens würde wohl seyn, daß wir uns eine große Autorität in der Kritik machen, hinreichend, um nach 5-10 Jahren kritische Dictatoren Deutschlands zu seyn, die Allgemeine Litteratur-Zeitung zu Grunde zu richten, und eine kritische Zeitschrift zu geben, die keinen andren Zweck hätte als Kritik. (Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe Bd. 24, S. 31 f.) Im Athenäums-Fragment Nr. 116 prägt Schlegel den Begriff der „progressiven Universalpoesie“, der mehr besagt als ein unendliches Fortschreiten der Dichtung. Die Gattungen sollen in der Literatur wieder zusammengeführt werden, Poesie, Philosophie und Rhetorik sollen wieder vereint werden. Diese „romantische Dichtart ist noch im Werden“, bemerkt Schlegel, ihr eigentliches Wesen ist es, nie vollendet sein zu können. Der Dichter ist keinem ästhetischen oder anders gearteten „Gesetz“ unterworfen, allein die romantische Dichtung ist „frei“. So kommt Schlegel zu der Forderung, es solle „alle Poesie romantisch sein“. Fasst man dieses Fragment knapp zusammen, muss man feststellen, dass der Verfasser so allgemein formuliert und zugleich so berauscht ist von seinen Reflexionen, dass eine Übersetzung in ein literaturtheoretisch tragfähiges Konzept bis heute schwerfällt. Dem entspricht auch Schlegels Selbstdarstellung in einem Brief an seinen Bruder August Wilhelm ca. vom 1. Dezember 1797, worin er schreibt: „Meine Erklärung des Worts Romantisch kann ich dir nicht gut schicken, weil sie-- 125 Bogen lang ist“ (Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe Bd. 24, S. 53). Und 125 Bogen entsprächen 2000 Druckseiten. Nimmt man das Fragment Nr. 116 wörtlich, dann ist Literatur alles. Noch allgemeiner: Dann ist alles Text. Und das würde an ein modernes textualistisches Weltverständnis rühren, wonach alles (wie ein) Text ist-- und das wäre in der Tat genial unzeitgemäß. Liest man das Fragment auf der Folie des literaturhistorisch Gleichzeitigen, nämlich der Weimarer Klassik, dann relativiert sich diese überbordende Textenergie. Schlegel schreibt nämlich auch gegen den metrischen Regelklassizismus, gegen das schillersche Pathos und gegen die strikte Gattungsdistinktion der Weimarer Klassik, wonach die Tragödie die höchste Form der Dichtung ist. Im Athenäums-Fragment Nr. 216 äußert sich Friedrich Schlegel zur Französischen Revolution. Diese und Fichtes Wissenschaftslehre bzw. Philosophie und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre sind für ihn die drei Marker der Moderne, Schlegel nennt sie „die größten Tendenzen des Zeitalters“. Politik, Philosophie und Li- Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="111"?> 110 5. Schritt - 18. Jahrhundert teratur sind hier, wie in Fragment Nr. 116 gefordert, zusammengenommen. In späteren Jahren haben der zum Katholizismus strenger Observanz konvertierte Friedrich Schlegel und andere Frühromantiker einen strikten Wertekonservatismus entwickelt, der nichts mehr gemein hat mit dem Aufbruchsimpuls der Frühromantik. Novalis (1772-1801), das ist Friedrich Freiherr von Hardenberg, erweitert das frühromantische Programm des schlegelschen Ansatzes, dass alle Poesie romantisiert werden müsse, durch die Formel: „Die Welt muß romantisirt werden“ (Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Bd. 2, S. 334, Nr. 105). Das Verfahren scheint einfach: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es“ (ebd.). Die „Poësie ist die Basis der Gesellschaft“ (ebd. Bd. 2, S. 323, Nr. 37), heißt es 1798 in den Fragmenten zur Poesie. Novalis will nichts Geringeres als die „Poëtisirung der Welt“ (ebd. Bd. 1, S. 397), wie er in den Materialien zu seinem Roman Heinrich von Ofterdingen (1802) einmal notiert. Er fordert aber ebenso leicht, dass die Wissenschaften poetisiert werden müssen (so im Brief an August Wilhelm Schlegel vom 24. Februar 1798) und er spricht sogar von einer ‚Poetisierung der Finanzwissenschaften‘ (vgl. Vorarbeiten zu seinen Fragmentensammlungen von 1798, Nr. 471). Die Poetisierung der Welt erfolgt also durch das Medium der Fiktionalität und Imagination. Und Literatur leistet in der Fiktion diese Sicht, diesen Akt der Poetisierung der Welt. Es liegt auf der Hand, dass bei diesem literarischen Programm der Textsorte des Märchens eine große Bedeutung zukommt. Und Novalis’ Roman lebt davon, dass Märchen- und Traumwelt mit der erlebten und erzählten Realität der Figuren verschränkt werden. 1802 erscheint der Roman Heinrich von Ofterdingen. Auch dieser Text bleibt Fragment, nur der erste Teil ist abgeschlossen. Novalis geht es um die Apotheose der Poesie, er wendet sich gegen Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795 / 96). Der Roman wird aus der Gegenwart zurückverlagert ins Mittelalter. In einem Traum, der durch die Erzählungen eines Fremden ausgelöst wird, erfährt die Hauptfigur Heinrich in der blauen Blume die Offenbarung der Poesie, durch den Traum wird er zum Dichter berufen. Doch erst die Liebe zu Mathilde, der Tochter des Dichters Klingsohr, macht ihn selbst zum Dichter, er erkennt das Gesicht der Geliebten in der Blüte der blauen Blume. Die blaue Blume wird zum Symbol für Poesie und Liebe. Die Liebe bleibt ohne die Poesie stumm. Man kann also von der Stiftung einer Dichtungsreligion im Ofterdingen <?page no="112"?> 111 sprechen. Novalis erkennt selbst die Schwächen seines Buchs. Er schreibt an Friedrich Schlegel am 18. Juni 1800: „Deinen Tadel fühl’ ich völlig-- diese Ungeschicklichkeit in Übergängen, diese Schwerfälligkeit in der Behandlung des wandelnden und bewegten Lebens ist meine Hauptschwierigkeit. Geschmeidige Prosa ist mein frommer Wunsch“. Eine ferne literaturgeschichtliche Wirkung hinterlässt Novalis bei den französischen Symbolisten und den Klassikern der Moderne wie Thomas Mann, Stefan George, Gottfried Benn, Hermann Broch und Robert Musil. Definiert man den Zeitraum der literarischen Romantik von 1795 bis 1825, dann müssen neben den genannten Autoren noch erwähnt werden Clemens Brentano (1778-1842), Achim von Arnim (1781-1831), Joseph von Eichendorff (1788-1857) und Zacharias Werner (1768-1823). Eigentlich aber markiert erst Eichendorffs Tod im Jahr 1857 das definitive Ende der Spätromantik. Die literaturgeschichtlichen Perioden der Biedermeierzeit oder des Vormärz etc. überblenden sich also mit jenem Schreib- und Weltverhalten, das wir als Romantik begreifen. Als Solitäre in der deutschen Literaturgeschichte stehen zwischen Klassik und Romantik Heinrich von Kleist, Friedrich Hölderlin (1770-1843) und Jean Paul (1763-1825). Friedrich Schlegel Lucinde (1799) 1799 erscheint der Debütroman von Friedrich Schlegel mit dem schlichten Titel Lucinde. Ein Roman. Dieser Text evoziert unterschiedliche Lesarten. Man kann in ihm das frühe Zeugnis der Frauenemanzipation sehen, von einem männlichen Verfasser geschrieben. Man kann aber auch den Text platonisierend lesen, ihm gewissermaßen seine Körperlichkeit entziehen und in ihm das Manifest der Liebesreligion ebenso feiern wie die Fiktionalisierung autoreigener philosophischer Reflexionen mutmaßen. Der Roman ist aber nicht das Dokument eines ästhetischen Programms seines Autors. Vielmehr ist es der Versuch, den Begriff der Liebe wieder ins Recht zu setzen und dem entspricht ein eigenwilliges frühromantisches Affektmodell. Den Bemühungen, die Lucinde ausschließlich als ein formalästhetisches oder philosophisches Experiment zu begreifen, und den Ansichten, der Roman müsse im Kontext einer Philosophie des Autors selbst gelesen werden, steht eine Bemerkung Friedrich Schlegels aus den Jahren 1800 / 1801 entgegen. Er schreibt in den Fragmenten zur Poesie und Litteratur, die Lucinde sei „eine erotische Dichtung / Liebe, Lust und die alten Götter müssen darin herrschen“ (Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel- Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="113"?> 112 5. Schritt - 18. Jahrhundert Ausgabe Bd. 16, S. 354, Nr. 102). Diese Notiz bringt Schlegels Urteil über seinen Roman auf den Punkt. Damit erweist es sich als problematisch, den Roman transzendentalphilosophisch aufzuladen. Auf die Zeitgenossen hat dieser Text unverschämt provozierend gewirkt, das Spektrum reicht von vorbehaltloser Zustimmung bis hin zum Vorwurf der literarischen Pornografie. Schiller beispielsweise hat überhaupt kein Verständnis für diesen Roman. Er urteilt in einem Brief an Goethe vom 19. Juli 1799: „Schlegels Lucinde- […] ist der Gipfel moderner Unform und Unnatur- […]“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 30, S. 73). Friedrich Schlegel wagt es, dem Lesepublikum mit der Lucinde das Modell einer „großen Liebe“ (S. 106) vorzustellen, das dem Großteil der zeitgenössischen Leser als unverhüllte Pornografie erscheint. Die Frau Lucinde ist gleichermaßen lustvolles Objekt und Subjekt einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung. Das frühromantische Programm einer progressiven Universalpoesie erfährt hier die unvergleichliche Karriere einer progressiven Universalerotik. Noch Heinrich Heine (1797-1856) wünscht sich in seiner Romantischen Schule (1836), dass diejenigen, denen der Roman gefalle, verhaftet gehörten. Er beklagt die unzüchtige Nichtigkeit, Lucinde sei keine Frau, sondern „eine unerquickliche Zusammensetzung von zwei Abstraktionen, Witz und Sinnlichkeit“ (Heine: Sämtliche Schriften Bd. 5, S. 40). Man kann also davon ausgehen, dass der Text zeitgenössisch als programmatischer Emanzipationstext im Sinne einer Kritik an der von Männern dominierten Gesellschaft verstanden wird. Aus heutiger Sicht plädiert der Roman aber weder historisch noch aktuell für weibliche Autonomie. Er erscheint vielmehr als der Versuch, Emanzipation fiktional abzublocken, indem das Phantasma der scheinbar selbstständigen Frau entworfen wird. Der Text erfordert also eine geschlechterdifferente Lektüre, die nach der literarischen und kulturellen Konstruktion von Weiblichkeit im Text fragt. Der Roman ist folgendermaßen aufgebaut (der Originaltext enthält keine Kapitelzählung, diese wird hier behelfsmäßig in eckigen Klammern angegeben): Die Erzählung kreist im Wesentlichen um die beiden Hauptfiguren Lucinde und Julius. Er beginnt mit einem kleinen Prolog [Kap. 1], danach folgen die Bekenntnisse eines Ungeschickten, was so viel bedeutet wie die Bekenntnisse eines in der Liebe unerfahrenen Mannes. Diese Bekenntnisse sind als erster Gesamtteil des Romans angelegt. Zunächst folgt ein fingierter Brief von Julius an Lucinde [Kap. 2]. Der erste Brief wird durch eine knappe erzählerische Reflexion des Julius unterbrochen, die man auch als einen tagebuchartigen Eintrag lesen kann. Das nächste Kapitel mit dem Titel Dithyrambische Fantasie über <?page no="114"?> 113 die schönste Situazion [Kap. 3] ist eine Antwort von Julius auf einen nicht mitgeteilten Brief Lucindes. Auch diese Fantasie wird am Ende mit einem knappen Briefkommentar oder einer Tagebuchnotiz des Julius abgeschlossen. Allerdings sollte man bei der gattungstypologischen Differenzierung des Textes bedenken, dass Julius von Beginn an ein „Büchelchen“ (S. 19) im Blick hat, er will seine Notizen der Öffentlichkeit zugänglich machen. Dies gilt es bei der Lektüre der intimen Brief- oder Tagebuchnotizen zu berücksichtigen. Die Charakteristik der kleinen Wilhelmine [Kap. 4] folgt, sowie die Erzählung eines Tagtraums mit dem Titel Allegorie von der Frechheit [Kap. 5]. Sie schließt ab mit dem emphatischen Ausruf, die Sprache der Liebe „sey frey und kühn“ (S. 37). Eine Idylle über den Müssiggang [Kap. 6] und Treue und Scherz [Kap. 7] folgen. Die Adressatin ist stets Lucinde. Die anschließenden Lehrjahre der Männlichkeit [Kap. 8] stellen den ersten Erzählerkommentar dar, insofern kommt ihnen nicht nur vom Titel her gesehen eine besondere Bedeutung zu. Im Stil eines personalen Erzählers schafft der Autor erstmals Distanz zu seiner Figur. Zu vergleichen ist dies etwa mit dem fiktiven Herausgeberkommentar am Ende von Goethes Werther. Die Lehrjahre werden durch den plötzlichen Perspektivenwechsel in die Ich-Form des Julius beendet. Um seine Liebe weiter zu erklären, leitet Julius in die „Metamorphosen des liebenden Gemüths“ (S. 87) über und nennt dieses Kapitel entsprechend Metamorphosen [Kap. 9]. Dann folgen Zwey Briefe [Kap. 10], wobei der erste Brief nicht tituliert ist. Julius nennt diese Textstücke zwar selbst Briefe, in denen „alles recht bunt durch einander“ (S. 96) geht, doch können oder wollen sie ihren selbstreflexiven Tagebuchcharakter nicht verbergen. Der Zweyte Brief [Kap. 11] ist die exakte Entgegensetzung zum ersten, denn nun wählt Julius einen ruhigen, durchdachten und ausgebildeten Stil einer Erzählung ohne Unterbrechung. Danach folgt das Kapitel Eine Reflexion [Kap. 12], die überleitet zu Julius an Antonio [Kap. 13], das sind zwei kleine Briefe an Julius’ Freund Antonio über das Wesen der Freundschaft. Ein völliger Themen- und Perspektivenwechsel schließt sich in Sehnsucht und Ruhe [Kap. 14] an. Schlegel kehrt kurz wieder zum personalen Erzählen zurück, bevor sich der Text dialogisch strukturiert. Rede und Gegenrede, Frage und Gegenfrage zwischen Julius und Lucinde werden wiedergegeben. Das Kapitel Tändeleyen der Fantasie [Kap. 15], worin Julius hymnisch-assoziativ die „Harmonie der Liebe“ (S. 119) besingt, beendet den Roman, der nie eine Fortsetzung fand, obwohl Schlegel dies geplant hatte. In der Lucinde decodiert Schlegel den Liebesdiskurs radikal. Von seinen Zeitgenossen wird dies als ein Tabubruch gewertet. Denn im Buch wird nicht in der Rede metaphorisch-religiöser Inbrunst argumentiert wie beispielsweise Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="115"?> 114 5. Schritt - 18. Jahrhundert in den Hymnen an die Nacht (1800) von Novalis, dort noch mit künstlerischen Sublimationsleistungen. Sondern es geht Schlegel schlicht um den Zusammenhang von Liebe, Lust und Literatur. Die Sprache der Liebe solle „frey und kühn“ (S. 37) sein, heißt es im Text. Die Darstellung der körperlichen Liebe erfordert demnach eine andere, eine neue kulturelle Mitschrift. Der Anspruch dieses neuen Tons, der neuen Schrift, wurde zwar von den Zeitgenossen erkannt, nicht aber honoriert und schon gar nicht fortgesetzt. Die weibliche Hauptfigur Lucinde ist nicht verheiratet, sie hat ein uneheliches Kind und lebt in einer wilden Ehe, einer Liebesgemeinschaft mit der männlichen Hauptfigur Julius zusammen. Allein diese Konstellation ist für die Gesellschaft und das Lesepublikum um 1800 eine Provokation. Gleichwohl hat auch dieses Modell einen geschichtlichen, nämlich mittelalterlichen Vorläufer in der Liebesbeziehung zwischen Abaelard und Heloïsa. Heloïsa selbst ist es, die ihren Geliebten als ihren Gatten bezeichnet. Verheiratet, also nach damaligem Recht mit dem kirchlichen Sakrament gesegnet, sind die beiden nicht. Heloïsa schreibt: „Du bist mein Zeuge, nicht meine Lust, nicht mein Wille war je mein Ziel, nein, nur Deine volle Befriedigung. In dem Namen ‚Gattin‘ hören andere vielleicht das Hehre, das Dauernde; mir war es immer der Inbegriff aller Süße, Deine Geliebte zu heißen, ja- - bitte zürne nicht! - - Deine Schlafbuhle, Deine Dirne“ (Abaelard. Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa. Übertragen u. hgg. v. Eberhard Brost. Neuausgabe. Heidelberg 1979, S. 81). Die große Liebe und die Lust gelten Heloïsa als adäquater Eheersatz. Und Abaelard pflichtet ihr darin bei, dass sie eine lustvolle Beziehung führten. „In unserer Gier genossen wir jede Abstufung des Liebens, wir bereicherten unser Liebesspiel mit allen Reizen, welche die Erfinderlust ersonnen“ (ebd., S. 21). In Schlegels Roman Lucinde wird weibliche „Prüderie“ (S. 34), also das zivilisatorische, das kulturell erworbene Ansichhalten der Frau, als „unnatürlich“ (ebd.) verworfen. Der Text imaginiert dadurch die befreite, die lustspendende und die lustempfangende Frau. Nicht die individuelle Frau Lucinde ist die Adressatin des männlichen Schreibers und Erzählers, sondern ihm geht es um Weiblichkeit schlechthin. Zugleich weiß der Leser aber über Julius und dies steht diesem auch deutlich vor Augen: „Die Frauen kannte er eigentlich gar nicht“ (S. 53). Historisch gesehen hat sich Friedrich Schlegel mit einer protestantischen Auffassung von Liebe auseinanderzusetzen, die durchaus repressiv ist. Greift man auf die diskursprägenden Eheschriften Martin Luthers zurück, dann wird die emanzipative Kraft der Lucinde deutlich. Luther unterscheidet bekanntlich zwischen der falschen Liebe, der ehelichen und der natürlichen. „Aber über die <?page no="116"?> 115 alle geht die eheliche Liebe, das ist eine Brautliebe, die brennet wie das Feuer und sucht nicht mehr denn das ehliche Gemahl, die spricht: ‚Ich will nicht das deine, ich will weder Gold noch Silber, weder dies noch das, ich will dich selber haben, ich will’s ganz oder nichts haben‘“ (Martin Luther: Ein Sermon von dem ehlichen Stand-[…], in: Ders.: Vom ehelichen Leben und andere Schriften über die Ehe. Hgg. v. Dagmar C. G. Lorenz. Stuttgart 1994, S. 5). Aber die Liebe ist nach diesem Verständnis nicht rein, vielmehr mischt sich etwas bei und „fälscht diese Liebe“ und das ist die „sündlich Lust“ (ebd., S. 5). Die empfindsame Liebesauffassung des 18. Jahrhunderts mit ihrem strengen Sublimationsgebot steht gleichsam zwischen Luther und Schlegel, die zivilisatorische Metapher des Selbstzwangs und des Ansichhaltens hat nun endgültig die Literatur als ihr Multiplikations- und Kommunikationsmedium erobert. Berücksichtigt man dies alles, dann wird vollends die provokative oder emanzipative Kraft erkennbar, die die Lucinde auszeichnet. Friedrich Schlegels Modell einer romantischen Liebe am Ende des 18. Jahrhunderts bedeutet also eine konsequente Abkehr von empfindsamer Selbstbeherrschung, die zum Wohle einer verstandesorientierten Partnerschaft in der Liebe und Ehe gedacht war. Sein Modell einer romantischen Liebe rehabilitiert die Lust. Liebe bedarf einer besonderen sprachlich-textuellen Darbietung, um als eine große und besondere Liebe erkannt und verbürgt zu werden. Dies markiert zugleich ein Paradoxon zum Anspruch dieser Liebe, dass Worte nicht ausreichen oder gar versagen, um sie mitzuteilen. Darin mag das Romantische von Schlegels Liebesmodell zu erkennen sein, dass er dem Liebesdiskurs als Text die größtmögliche Authentizität des Gefühls einräumt und dies unabhängig von jedweder gattungstypologischen Diskussion. Damit greift Friedrich Schlegel das auf, was Friedrich Schiller im Don Karlos (1787) schon auf den Begriff gebracht hatte: „Liebe, der schönste Text“ (Vers 1596). Sprach Hegel von der Beredsamkeit der Leidenschaft, so Friedrich Schlegel nun von der „Rhetorik der Liebe“ (S. 31). Liebe wird als kulturelles Muster verstanden, das die Sprache als Geschlechter- und Liebesordnung ebenso regelt wie es sie in Unordnung bringen kann. Dieser Ordnungsbegriff spielt im Text eine wichtige Rolle. Die Lucinde führt im Untertitel die gattungstypologische Bezeichnung „Roman“. Im Text selbst greift der Autor dreimal diese Zuordnung auf: „Und sollte dir ja dieser kleine Roman meines Lebens zu wild scheinen: so denke dir, daß er ein Kind sey- […]“ (S. 23). An anderer Stelle heißt es: „Übrigens wollte ich eigentlich davon reden, welchen Eindruck dieser fantastische Roman auf die Frauen machen würde, wenn der Zufall oder die Willkühr ihn fände und öffent- Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="117"?> 116 5. Schritt - 18. Jahrhundert lich aufstellte“ (S. 35). Autor und Figur sprechen immer wieder von ihrem Text als einem Roman. Im Stil der erotischen Literatur des 18. Jahrhunderts fingiert Schlegel seinen Roman als „Bekenntnisse“ (o. S. [= S. 9]), was wiederum die Charakterisierung als ‚wilder‘ und ‚fantastischer‘ Roman legitimieren hilft. Als Roman folgt der Text aber der frühromantischen, programmatischen Gattungsvermischung-- durchaus im Sinne von Friedrich Schlegels Postulat einer progressiven Universalpoesie. Dem eigentlichen Text ist der Prolog [= Kap. 1] vorangestellt, der mehr enthält als nur die literaturhistorischen Referenzen auf die Italiener Francesco Petrarca (1304-1374) und Giovanni Boccaccio (1313-1375) sowie den Spanier Miguel de Cervantes (1547-1616). Das ist mehr als nur eine pflichtschuldige Verneigung vor diesen Größen, auch wenn man darin durchaus die rhetorische Funktion einer klassischen, aber im frühromantischen Sinne eben auch ironischen captatio benevolentiae erkennen kann, die den unbekannten Autor noch kleiner und die aufgerufenen Größen noch unerreichbarer macht. Die drei großen Namen der europäischen Literaturgeschichte, die mit Petrarca auch den Begründer eines der wichtigsten europäischen Liebesdiskurse aufruft, werden mit einer mythologiegeschichtlichen Referenz verknüpft. Es ist der griechische Mythos von Leda und dem Schwan, wonach der Göttervater Zeus Leda begehrt, die seine Zuneigung aber nicht erwidert. So verwandelt er sich in einen Schwan und vollzieht in der Tierkostümierung mit der unwissenden Leda den Geschlechtsakt. Bei Friedrich Schlegel dient dieses mythologische Bild zunächst der Abwehr möglicher Kritiken. Der Adler, der als Sinnbild unangreifbarer Dichtergröße gelten kann, und der Schwan kümmern sich nicht um das „Gekrächz der Raben“ (o. S. [= S. 7]), womit die Literaturkritik tituliert ist. Dem Schwan geht es um nichts anderes, „als daß der Glanz seiner weißen Fittiche rein bleibe. Er sinnt nur darauf, sich an den Schooß der Leda zu schmiegen, ohne ihn zu verletzen; und alles was sterblich ist an ihm, in Gesänge auszuhauchen“ (o. S. [= S. 7]). Die Bedeutung der Schoßmetaphorik ergibt sich aus den zahlreichen Parallelstellen. An diesen insgesamt neun Textstellen ist die Rede vom weiblichen Schoß, vom Schoß der Natur und vom Schoß als Ort der Paaridentität (vgl. etwa S. 30, S. 33 u. S. 39). Die Berufung auf das mythologische Sinnbild der Leda und ihren Schoß dient der Rechtfertigung der erzählerischen Darstellung weiblicher Sexualität im Roman. Die Sublimierung des männlichen Begehrens erfolgt in den Gesängen, was hier als Sammelbegriff für ein Kunstwerk oder für eine poetische Darstellung verstanden werden kann. Aber auch explizit weist der Autor darauf hin, dass der nachfolgende Roman als ein „romantisches Gemäl- <?page no="118"?> 117 de“ (o. S. [= S. 7]) betrachtet werden soll, was nochmals den Kunstcharakter und die frühromantische Programmatik der Gattungsvermischung hervorhebt. Literatur wird demnach das Sublimationsprodukt eines fiktiv angenommenen, weil mythologisch evozierten Begehrens. Die Fiktion in Gestalt der Literatur stellt sich als Ergebnis eines fiktiven Begehrens in Gestalt eines Mythologems dar. Oder anders formuliert, Literatur modelliert Begehren, ihr kommt eine große Gestaltungsmöglichkeit dieser Triebkraft zu. Die Lucinde insgesamt ist der Beleg dieses Umwandlungsprozesses. Damit wiederholt Schlegels Text im Prolog, was für die Ebene der Autorwirklichkeit ohnehin gilt. Im ersten Bekenntnis eines Ungeschickten mit dem Titel Julius an Lucinde [= Kap. 2] geht es um die Opposition von Natur und Liebe, die Liebe wird als ein Naturzustand erklärt. Julius steht am Fenster und fantasiert die Gegenwart seiner Geliebten, es sind Tagträume. Die Liebe stürzt ihn in eine „romantische Verwirrung“ (S. 12), die er sich erklären will. In der Lesart dieses ersten Briefes von ihm an Lucinde ist Liebe nicht ein kulturelles Produkt. Erst die kulturelle Überformung macht aus der natürlichen Liebe ein unnatürliches Verhaltensmuster. Liebe offenbart „einen tiefen Blick in das Verborgne der Natur“ (o. S. [= S. 11]). Im Sinne einer Antitheodizee geht es nicht mehr darum, die Ordnung der Dinge und die bestehende Welt als die beste oder nützlichste aller möglichen Welten zu rechtfertigen, wie es der klassischen Theodizee entspräche, sondern Julius fragt, was die „schönste“ (o. S. [= S. 11]) Welt sei. Ist dies geklärt, dann ist die nächste Frage, was die schönste Situation in dieser schönsten Welt ist. Bis zu diesem Punkt hat Julius die Erfahrung gemacht, dass Liebe alles ästhetisiert, sie ästhetisiert die Wahrnehmung, sie ästhetisiert die realen Dinge und sie ästhetisiert das individuelle Verhalten. Auch wenn sich für Julius sein Zustand „leicht aus der Psychologie“ (S. 13) erklären ließe, so bleibt doch jene ‚romantische Verwirrung‘ der Liebe, jener flüchtige Moment, den es als Erinnerung, Fantasie oder Wirklichkeit festzuhalten gilt. In diesem Zustand der seelischen und körperlichen Verwirrung spricht Julius sein Begehren unmissverständlich aus. „Ich bat sehr, du möchtest dich doch einmal der Wuth ganz hingeben, und ich flehte dich an, du möchtest unersättlich seyn“ (S. 12). Die Wut, von der er spricht und die auch über ihn als die „Wuth seiner Liebe“ (S. 81) an späterer Stelle ausgesagt wird, ist im Wortsinn des 18. Jahrhunderts die Liebeswut oder sexuelle Lust, im zeitgenössischen medizinischen Diskurs wird sie auch als Mutterwut, Liebesfieber, furor uterinus oder febris amatoria bezeichnet. Über sie ist in einem der populärsten Wörterbücher der Zeit zu lesen: „Artet der Trieb zum Beyschlafe in Wuth und Unsinn aus, so wird er auch wohl Liebeswuth Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="119"?> 118 5. Schritt - 18. Jahrhundert genannt“ (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der deutschen Mundart-[…]. Wien 1808, Tl. 2, Sp. 2059). Über Wesen und Inhalt der schönsten Welt nachzudenken, bedeutet für Julius, dass auch über die „schönste Situazion in dieser schönsten Welt“ (S. 15) gesprochen und geschrieben wird. Das setzt aber voraus, dass man die „Ordnung“ (S. 14) der Welt, die Beschreibungsregulative einer „bürgerlichen und gesellschaftlichen Ordnung“ (S. 69) verlässt, sie gar vernichtet, und ihnen die Unordnung der Liebe entgegensetzt, deren Darstellung die Unordnung des Textes ist. Damit wird schon deutlich, dass der Liebe und dem Begehren eine expressiv emanzipative Kraft zur gesellschaftlichen Einflussnahme zugesprochen wird. In dem genannten Wörterbuch von Adelung wird dieser Aspekt von Ordnung und Unordnung regelrecht und das heißt regelgerecht kodifiziert. Im engsten Wortsinn sei Liebe „die Leidenschaft, oder das zu einer Fertigkeit gewordene Verlangen nach dem Besitze oder Genusse einer Person andern Geschlechtes, da sie denn so wohl rechtmäßig und geordnet, als unrechtmäßig und ungeordnet seyn kann“ (Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der deutschen Mundart-[…], Tl. 2, Sp. 2058). Julius formuliert seine Erkenntnis in einem Paradox, das „schönste Chaos“ (S. 14) ist diese Unordnung der Liebe. Um dies literarisch angemessen darzustellen, muss der Autor Schlegel wie auch seine Figur Julius, der sich selbst als „gebildeter Liebhaber und Schriftsteller“ (S. 14) bezeichnet, auf ein kohärentes Erzählen verzichten. Unordnung wird so zum literarischen Verfahren, die Ordnung des Textes ist nicht mehr gesichert. Der Text vereint eine Vielzahl unterschiedlicher Gattungstypen. An diesem Punkt steht Schlegels Roman am Beginn einer romanpoetischen Moderne. Folgerichtig fügt sich als nächstes Kapitel die Dithyrambische Fantasie über die schönste Situazion [= Kap. 3] an. Ein Dithyrambus feiert in der antiken griechischen Literatur den Gott Dionysos, den Gott der Heiterkeit, des Weins, des Rausches und der Lust. Die Hymnen auf ihn sind als Dithyramben einer strengen Architektonik unterworfen, wer sich also um 1800 auf diese lyrische Ausdrucksform bezieht, der muss sich mit ihrer Gattungsgeschichte auseinandersetzen. Friedrich Schlegel macht das nicht, er wischt die gesamte Tradition einschließlich der innovativen lyrischen Anverwandlungen bei Klopstock oder dem jungen Goethe in der deutschen Literatur beiseite und entscheidet sich zunächst einmal für eine erzählerische Ausdrucksweise. Diese Prosa ist aber auch nicht hymnisch in ihrer Ausdrucksweise, etwa aufgeladen mit einem großen Sprachpathos wie in der Dichtung der Weimarer Klassik, sondern erzählend. Diese Art von Erzählung ist für Julius wie ein „Spiegel“ (S. 15) seiner selbst und <?page no="120"?> 119 mehr noch, wie ein Spiegel, worin sich die „ganze Menschheit“ (S. 15) spiegelt. Das ist gewissermaßen der Anknüpfungspunkt, an dem die frühromantische Literatur kompatibel bleibt mit der Literatur der Weimarer Klassik. Im Einzelnen das Ganze, im individuellen Menschen die gesamte Menschheit zu sehen, ist davon programmatischer Ausdruck. Julius greift diesen Gedanken am Ende der Dithyrambischen Fantasie nochmals auf, wenn er erklärt, „eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit“ (S. 19) im Rollentausch der Geschlechter zu erkennen. Nur muss man dabei beachten, dass Julius nicht die Auflösung der Geschlechter propagiert, sondern den Rollentausch bei gleichbleibendem biologischem Geschlecht. Dem geht aber die Erklärung eines Kernpunktes frühromantischer Literatur voraus, es ist die „Religion der Liebe“ (S. 18), die verkündet wird. Liebe erlangt einen religiösen Weihestatus, und das macht die Liebenden zu ihren Hohepriestern und wandelt die Literatur zu ihrem hostiengleichen Medium. Geht es bei Wackenroder und Tieck um die Kunstreligion, bei Novalis um die Dichtungsreligion, so geht es bei Friedrich Schlegel um die Liebesreligion als den zentralen Punkt seines Romans. Dieses Kapitel endet also mit der Einsicht, die schönste Situation der Liebe bestehe darin, „die Rollen [zu] vertauschen“ (S. 19). Der Text benennt das Begehren nach der Dauer der Erfüllung. Das schließt die Gültigkeit und Dauer des Augenblicks nicht aus. „Die Liebe-[…] ist auch der heilige Genuß einer schönen Gegenwart“ (S. 88). In dieser Fantasie, die Julius sucht, soll es „sich endlich erfüllen und endlich Ruhe finden“ (S. 16). „Lust und Liebe“ (S. 17) kennzeichnen diesen Zustand, gar von einem großen Karneval der Lust und Liebe spricht Julius später (vgl. S. 29). Im Zusammenhang dieser Fantasie fällt auch erstmals das Wort von der Ehe, die beide Personen miteinander verbinde. Damit ist nicht das bürgerliche Institut oder ein religiöses kirchliches Sakrament oder ein konfessioneller Akt gemeint, auch wenn Julius wenig später von der Religion der Liebe spricht, denn bei Friedrich Schlegel sind die Grenzen zwischen der vollendeten Liebe und der bürgerlichen Ehe aufgehoben. Wenn Julius von „unsrer Ehe“ (S. 17) redet, dann meint er damit, formuliert aus seiner männlichen Perspektive, den Zustand der Verschmelzung von weiblichem Ich und männlichem Ich. Ausgestattet wird dieser Zustand mit einem Allmachtsanspruch, der jegliche Vergänglichkeit ausschließt. Zu einer echten Ehe gehöre ewige Liebe. „Ich kann nicht mehr sagen“, schreibt er, „meine Liebe oder deine Liebe; beyde sind sich gleich und vollkommen Eins, so viel Liebe als Gegenliebe“ (S. 17; vgl. auch S. 91). Ewigkeit, Einheit und Harmonie sind die wiederholt Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="121"?> 120 5. Schritt - 18. Jahrhundert genannten Anspruchskriterien, die dieses Ehemodell kennzeichnen. Friedrich Schlegel propagiert mit seiner Lucinde die erfüllte Lust in einer monogamen Beziehung, die gesellschaftlich nicht legitimiert ist, die aber von den Liebenden als Ehe begriffen und geführt wird. Anders dagegen Schlegels Zeitgenosse Novalis, er fühlt sich vor die Wahl zwischen Liebe und Ehe gestellt, „die Ehe bezeichnet eine neue, höhere Epoke der Liebe-[…]“ (Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Bd. 2, S. 770). Die Geliebte Lucinde ist für Julius erfahren, sie gewährt ihm die körperliche und seelische Erfüllung, und er fantasiert sie als „unersättlich“ (S. 12). Er genießt nicht nur die Erfüllung seiner Wünsche und Sehnsüchte, sondern er genießt auch den Genuss selbst. Das Superlativische von Lust und Liebe kennzeichnet diese Verbindung von Beginn an, und nur so ist zu verstehen, wenn Julius sich selbst als Priester und Prophet im Namen der Geschlechterliebe begreift, der „das hohe Evangelium der ächten Lust und Liebe“ (S. 37) zu verkündigen habe. Das geht nur, wenn man zuvor die Liebe zur Religion erklärt hat. Die schönste Situation, von der das dritte Kapitel spricht, meint also die sexuelle Erfüllung in der Liebe. Das wirft unweigerlich die Frage nach der Moral der literarischen Darstellung einer solchen Liebe auf. Schlegel lässt diese Frage seine beiden Hauptfiguren ausagieren, sie thematisieren genau dies, wenn Lucinde einwirft, wie könne man das schreiben wollen, „was kaum zu sagen erlaubt ist, was man nur fühlen sollte? “ (S. 20), und Julius antwortet, man dürfe, was man fühle, auch sagen und was man sagen wolle, dürfe man auch schreiben. Allein die Authentizität des Gefühls legitimiert die Darstellung ‚des Schönsten‘. Wie Leser auf diese Offenheit und die Verwerfung aller bisherigen gültigen moralischen Schreib- und Lesestandards reagieren, ist bekannt. Julius spricht von der „beneidenswürdige[n] Freyheit von Vorurtheilen“ (S. 23) und davon, dass man sich „über alle Vorurtheile der Cultur und bürgerlichen Conventionen“ (S. 30) hinwegsetzen solle, oder wie es in den Lehrjahren der Männlichkeit heißt: „Es ward Grundsatz bey ihm, die gesellschaftlichen Vorurtheile, welche er bisher nur vernachlässigte, nun ausdrücklich zu verachten“ (S. 65). Ein anti-bürgerlicher Impuls ist also offensichtlich. Der Autor Friedrich Schlegel verzichtet auf kulturelle Inszenierungsmuster, die im Gegenteil als Vorurteile und als falsche Scham gebrandmarkt werden. Der Verstoß gegen kulturelle Codes, gegen soziale Regeln und religiöse Rücksichtnahmen und der Anspruch, „in schöner Anarchie“ (S. 23) die Vollendung von Lust und Liebe zu leben, enthält eine klare Absage an tradierte Verhaltens- und Verständnisordnungen. Man kann darin durchaus auch einen literarisch-konzeptuellen Reflex auf die Französische Re- <?page no="122"?> 121 volution von 1789 erkennen. Einen vergleichbaren anti-bürgerlichen Impuls findet man etwa bei Schlegels Schriftstellerkollegen Wilhelm Heinse (1746-1803), der in vorrevolutionärer Vorwegnahme in seinem Roman Ardinghello (1787) über den kulturellen Zwang zur monogamen Paarintimität schreibt: Und ist eine junge Schönheit nicht imstande, ihrer viele zu vergnügen? Verliert der eine etwas, wenn der andre auch von der Quelle trinkt, woran er schon seinen Durst gelöscht hat? In einer guten bürgerlichen Gesellschaft sollte platterdings auch gesellschaftliche Liebe und Freundlichkeit sein; allein wir können uns von dem Krebsschaden der Vorurteile vieler Jahrtausende noch nicht heilen. Eins und eins ist wahrlich nicht viel mehr als einsiedlerisch und gegen die Natur- […]. (Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseligen Inseln. Kritische Studienausgabe. Hgg. v. Max L. Baeumer. Stuttgart 1985, S. 225) In einer Ergänzung zu dieser Textstelle schmückt Heinse die Erklärung sogar noch drastischer aus (vgl. ebd., S. 412), allerdings bleibt diese Notiz zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht. Schlegel gebraucht in der Lucinde ein kleines Adjektiv, mit dem er seinen Roman als anti-bürgerlich kennzeichnet. Dieser könne, lässt er Julius sagen, ob seiner erotischen Assoziationsmöglichkeiten zu „wild“ (S. 23) erscheinen. Mit dieser Charakterisierung greift er diskurshistorisch betrachtet eine Sprachregelung auf, die Friedrich Schiller in Kabale und Liebe (1784) immerhin zur Bestimmung sexuellen Begehrens ins Spiel gebracht hat. Louise Miller bringt dort eine Unordnung in die Liebe, da sie deren Triebnatur erkennt. Ob sie diese Kenntnis aus der Literatur bezogen hat, wie der Vater mutmaßt, bleibt im Stück dahingestellt. Sie artikuliert „wilde Wünsche“, die sich für sie als Bedrohung darstellen, ihr Geliebter Ferdinand wird zum „Feuerbrand“ (Schiller: Kabale und Liebe, I / 4), der wütet und den Mann sprachlos macht. Die Sprachlosigkeit bleibt auch gegenüber Lady Milford bestehen, sie spiegelt jeweils seine Fassungslosigkeit angesichts der distinkten Aussagen der beiden Frauen Louise und Lady Milford. Die aristokratische männliche Sprachbeherrschung versagt vor der sprachgewandt artikulierten Autonomie des weiblichen Ichs. Louises wilde Wünsche werden von Lady Milfords „wildere[n] Wünsche[n]“ (Schiller: Kabale und Liebe, II / 1) überboten. In einem regelrechten Wettbewerb der Leidenschaften versuchen sich die beiden Frauen ständedistinkt zu positionieren. Dabei tritt eine erstaunliche Umkehrung der Verhaltensstandards bürgerlicher und aristokratischer Ordnung zu Tage. Während Lady Milford sexuell exzessiv gelebt hat und nun ihre Sehnsucht nach einer verlässlichen Partnerbeziehung artikuliert Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="123"?> 122 5. Schritt - 18. Jahrhundert und dies für sie wildere Wünsche sind als je ihre Lebensweise zuvor, ahnt die unerfahrene Louise, dass ihre Liebe zu Ferdinand nicht körperlos bleiben wird, sondern auf eine sexuelle leidenschaftliche Beziehung zielt, ihre Wünsche also wild, leidenschaftlich, ungeordnet und nicht mehr disziplinierbar werden. Am Ende wird Ferdinand den Superlativ wilder Wünsche vollenden. Als er an der Aufrichtigkeit von Louises Liebe zweifelt, ruft er sich selbst in Erinnerung, dass seine „wildesten Wünsche schwiegen“ (Schiller: Kabale und Liebe, IV / 2), obwohl er Louise gerade geküsst hatte. Begehrensfrei und körperlos war ihre Liebe. Allerdings dient ihm diese Erinnerung nicht dazu, die geliebte Frau zu entlasten und sein verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, sondern er prädiziert damit eine Kosten-Nutzen-Reflexion, die seinen Verzicht und damit seinen Verlust in den Mittelpunkt rücken, und er eröffnet dadurch eine Rechnung bürgerlicher Ökonomie. Über die gesellschaftlichen Auswirkungen einer auf dem im schlegelschen Sinne Evangelium von Lust und Liebe basierenden Partnerschaft ist sich Louise Millerin im Klaren, sie erkennt, dass mit ihrem Liebesprojekt „die Fugen der Bürgerwelt auseinander treiben, und die allgemeine ewige Ordnung zu Grund stürzen würde“ (Schiller: Kabale und Liebe, III / 4). Die Funktion des nächsten Textstücks mit dem Titel Charakteristik der kleinen Wilhelmine [= Kap. 4] in Schlegels Roman liegt darin, dass am Beispiel der zweijährigen Wilhelmine das Thema kindliche Unbefangenheit abgehandelt wird. Die Selbstzufriedenheit und Ironie des Kindes lasse sie alles in „romantischer Verwirrung“ (S. 21) durcheinander bringen. Die gesamte Natur sei für sie belebt. Julius nennt seine Charakteristik ein „Ideal“ (S. 22), er beruft sich damit auf ein kindliches Verhalten, um sein eigenes literarisches Verhalten zu rechtfertigen und um die Freiheiten und Frechheiten, die er in seinem Buch noch in Anspruch nehmen wird, im Vorhinein zu legitimieren. Darin liegt der eigentliche Hauptzweck dieser knappen Charakteristik. Julius lenkt zum zentralen Begriff der Freiheit über und appelliert emphatisch an seine Freundin: O beneidenswürdige Freyheit von Vorurtheilen! Wirf auch du sie von dir, liebe Freundin, alle die Reste von falscher Schaam, wie ich oft die fatalen Kleider von dir riß und in schöner Anarchie umherstreute. Und sollte dir ja dieser kleine Roman meines Lebens zu wild scheinen: so denke dir, daß er ein Kind sey und ertrage seinen unschuldigen Muthwillen mit mütterlicher Langmuth und laß dich von ihm liebkosen. (S. 23) Die Analogie liegt also darin, dass Julius eine bürgerliche Kleinfamilie fantasiert, so wie der Roman ein Produkt seiner ‚romantischen Fantasie‘ ist, in der <?page no="124"?> 123 er selbst die Rolle des Vaters, Lucinde die Rolle der Mutter und der Text die Rolle des Kindes einnimmt. Dem Kind ist alles zu verzeihen, also dem Roman ist alles nachzusehen, wenn er nun die moralischen Lesestandards seiner Zeit überwindet. Neben diese geforderte Freiheit, die Julius für sich in Anspruch nimmt und aus der Kindanalogie ableitet, stellt er die Frechheit. Das ist ein Begriff, der genau diese Grenzüberschreitung als literarisches Verfahren zum Ausdruck bringt, modern formuliert könnte man ihn mit dem Wort Provokation wiedergeben. Folgerichtig nennt Schlegel denn auch das nächste Kapitel eine Allegorie von der Frechheit [= Kap. 5], die er auch als einen Tagtraum bezeichnet. Darin lässt Julius verschiedene Frauen- und Männergestalten auftreten, die unter anderem die öffentliche Meinung, die anakreontische Schäferlyrik, die Frechheit und Delikatesse, die schöne Seele, womit er Schiller aufs Korn nimmt, und Sittlichkeit, die Bescheidenheit und Dezenz sowie die „allmächtige Fantasie“ (S. 27) repräsentieren. Letztlich läuft dieser Allegorienreigen auf die Opposition von Frechheit und Delikatesse oder modern formuliert auf die Opposition von Provokation und Anpassung hinaus. Die Fantasie bringt Julius dazu, dass ihm ein „neuer Sinn“ (S. 29) aufgeht, es ist der „Kunstsinn der Wollust“ (S. 31), den nur die Liebe lehrt. Bricht man die uneigentliche Sprechweise der Allegorie auf, dann wird deutlich, dass nur Lucinde der Sinn dieser „Liebeskunst“ (S. 31) sein kann. Julius nimmt nun in der Exponierung seiner Liebe zu Lucinde eine entscheidende Steigerung vor. Es geht ihm nicht mehr um die individuelle Frau, sondern vielmehr um die Weiblichkeit schlechthin: „Laß mich’s bekennen, ich liebe nicht dich allein, ich liebe die Weiblichkeit selbst. Ich liebe sie nicht bloß, ich bete sie an, weil ich die Menschheit anbete.-[…] Es ist die älteste kindlichste einfachste Religion, zu der ich zurückgekehrt bin“ (S. 34 f.). Das zweimal wiederholte Verb anbeten und das Stichwort Religion konturieren weiter eine profanreligiöse Textpassage, an deren Ende ein neues Evangelium gelehrt wird, was als frühromantisches Konzept der Liebesreligion zu verstehen ist. Begonnen hat diese Passage damit, dass dem protestantisch-lutherischen sola scriptura (allein die Heilige Schrift sei Maßstab unseres Handelns) Schlegel kurz zuvor ein sola natura (vgl. S. 29) entgegensetzt, allein die Natur zählt. Danach lässt die Stimme der Fantasie Julius wissen, er solle die Welt bilden, erfinden, verwandeln und erhalten. „Verhülle und binde den Geist im Buchstaben“ (S. 30), verlangt die Fantasie. Der echte Buchstabe sei allmächtig und der eigentliche Zauberstab, mit dem die Zauberin Fantasie das Chaos der gesamten Natur berührt und in Worten ordnet und erfasst. Das Wort wird somit zum Spiegel Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="125"?> 124 5. Schritt - 18. Jahrhundert des göttlichen Geistes. Darin kann man eine Anspielung auf den Anfang des Johannes-Evangeliums erkennen, wo es heißt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott-[…]“ (Joh 1, 1). Dass der Geist im Buchstaben gebunden werden solle, wie die Fantasie von Julius fordert, mag auf den . Korintherbrief des Paulus anspielen: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2. Kor 3, 6). Und in der Aufgabe die Welt zu verwandeln, kann man die Anspielung auf das christliche Abendmahlsverständnis mit seiner Verwandlungsmetapher (oder je nach konfessioneller Bindung auch die Transsubstantiation) von Brot und Wein erkennen. Friedrich Schlegel grenzt sich damit deutlich von Schleiermacher ab. „Was oft Liebe genannt wird“, meint dieser in einem von ihm verfassten Aphorismus der Athenäums-Fragmente, „ist nur eine eigne Art von Magnetismus. Es fängt an mit einem beschwerlich kitzelnden en rapport Setzen, besteht in einer Desorganisation und endigt mit einem ekelhaften Hellsehen und viel Ermattung. Gewöhnlich ist auch einer dabei nüchtern“ (Athenäums-Fragment Nr. 340). Immerhin gibt der Philosoph und Theologe Schleiermacher in einer „Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen“ diesen den Rat mit: „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen für die Männer; du sollst ihre Barbarei nicht beschönigen mit Worten und Werken“ (Athenäums-Fragment Nr. 364). Und was Friedrich Schlegel etwa über Jean Pauls Frauenfiguren meint, lässt sich ohne weiteres auf eine Vielzahl von Frauengestalten in der Literatur beziehen. Dessen Frauen seien „Gliederfrauen zu psychologischmoralischen Reflexionen über die Weiblichkeit“ (Athenäums-Fragment Nr. 421). Dem steht also Schlegels Liebesreligion mit seinem Evangelium der echten Lust und Liebe konträr gegenüber. Julius betet in der Weiblichkeit die Menschheit schlechthin an, obwohl er weiß, „kein Weiser hat die Weiblichkeit ergründet“ (S. 33). Dies ist ex negativo formuliert, aber es formuliert genau den Anspruch, den „dieses tolle kleine Buch“ (S. 32) seines Romans erhebt. Er fordert Lucinde auf, ihn zum „Priester“ (S. 35) der Weiblichkeit zu weihen. Nur so ist die in der sich anschließenden Idylle über den Müssiggang [= Kap. 6] geprägte Formel vom hohen Evangelium der echten Lust und Liebe zu verstehen. Julius erhält die „Priesterwürde“ (S. 35) und wird ein Priester dieser neuen Liebesreligion. Er nimmt für sich einen biblischen Messianismus in Anspruch, wenn er nicht ohne Stolz hervorhebt, der Witz selbst (also der scharfsinnige Verstand) habe durch eine Stimme vom Himmel herab zu ihm gesprochen: „‚Du bist mein lieber Sohn an dem ich Wohlgefallen habe‘“ (S. 35). Ein wörtliches Zitat aus dem Markus-Evangelium, als Jesus getauft wird (vgl. Mk 1, 11). Julius geht es darum, die Objektivität <?page no="126"?> 125 seiner Liebe, die Liebe als Naturzustand, festzustellen und dies mit aller profanreligiösen Autorität auszusprechen. „Diese Objektivität und jede Anlage zu ihr bestätigt und bildet ja eben die Magie der Schrift-[…]. Die Liebe selbst sey ewig neu und ewig jung, aber ihre Sprache sey frey und kühn-[…]“ (S. 36 f.). Schlegels textualistisches Liebesverständnis, wonach also die Schrift und die Sprache der Liebe ihre Objektivität verbürgen, ist an ihre Ästhetisierung gekoppelt. Diese Ästhetik der Wollust wird an das Durchschreiten einer dreistufigen Liebeskunst gebunden. Deren erste Stufe ist das körperliche Begehren. Während Männer diesen ersten Grad der Liebe lernen müssen, eignet er den Frauen von Natur aus, „jede hat die Liebe schon ganz in sich“ (S. 33). Die Liebe ist für den Mann „nur ein Wechsel und eine Mischung von Leidenschaft, von Freundschaft und von Sinnlichkeit“ (S. 82), während Frauen „mitten im Schooß der menschlichen Gesellschaft Naturmenschen geblieben sind“ (S. 80). Die zweite Stufe der Liebeskunst entspricht einem Ideal, nämlich der Erfüllung und Befriedigung des weiblichen Verlangens. Für den Mann heißt dies Fantasie aufzubringen und die „Allmacht der Fantasie“ (S. 99) auch zu ertragen, um diesen Grad der „intensive[n] Unendlichkeit, Unzertrennlichkeit ohne Zahl und Maaß“ (S. 32) zu erreichen. Die dritte Stufe ist „das bleibende Gefühl von harmonischer Wärme“ (ebd.). Begehren, Fantasie und Harmonie werden als die drei Stufen einer großen Liebe beschrieben. Das Plädoyer für den Müßiggang lehnt die Triebfedern einer modernen Gesellschaft vehement ab. Eile, Zeitnot, Effizienzdenken oder ökonomisches und soziales Maximierungsstreben sind mit der Unordnung der Liebe unvereinbar, die gerade auf ihre Zeitvergessenheit und Sorglosigkeit verweist. Schlegels Ästhetik der Liebe gründet sich auf die Annahme, „alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigne Kraft“ (S. 39). In diesem Zusammenhang fällt der Begriff des Sturm und Drang: Schlegel stellt damit einen literaturgeschichtlichen Kontext her, der die Bedeutung der Leidenschaften für den Menschen in Erinnerung ruft, und dessen die romantische Liebe nicht bedürfe, da sie nur in der „heiligen Stille der ächten Passivität“ (S. 40) stattfinde, die wiederum durch die Frau personifiziert sei. Das Kapitel Treue und Scherz [= Kap. 7] fingiert auf dialogische Weise eine Begegnung zwischen den Liebenden. Rede und Gegenrede werden in knappen Fetzen hingeworfen. Ziemlich schnell wird die Verführungssituation in einem Pavillon beschrieben. Julius hat sich Lucinde bereits körperlich genähert. Gegen diese Bedrängnis stellt Lucinde ihr „ich will nicht“ (S. 45), das schließlich in eine Selbstanklage wegen ihrer Willensäußerung übergeht. Folgerichtig mündet der Dialog in eine Reflexion über die Bedeutung des menschlichen Willens, über Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="127"?> 126 5. Schritt - 18. Jahrhundert Eifersucht, Treue, Freundschaft und Leidenschaft. Alles dies sei in der Liebe, resümiert Julius. Die Lehrjahre der Männlichkeit [= Kap. 8] kann man als das Kernkapitel des Romans bezeichnen. Über die wilde Jugend von Julius wird ausführlich berichtet. Das Kapitel liefert seine Entwicklungsgeschichte bis zu dem Punkt nach, an dem Lucinde und er eine gemeinsame Paaridentität entwickeln. Zunächst aber brennt in ihm eine Leidenschaft ohne Ziel. „Und so verwilderte er denn immer mehr und mehr aus unbefriedigter Sehnsucht“ (S. 53). Er verabscheut „die entfernteste Erinnerung an bürgerliche Verhältnisse, wie jede Art von Zwang“ (S. 55) und pflegt diesen anti-bürgerlichen Gestus. Er will ein befreundetes Mädchen verführen, was kläglich scheitert. Er zieht in eine andere Stadt, begibt sich in schlechte Gesellschaft, lernt die ehemalige Schauspielerin Lisette kennen, „die beynah öffentlich“ (S. 61) ist. Sie erhält vom Erzähler jene Attribute, mit denen Julius auch Lucinde auszeichnet, „wild, ausschweifend und unersättlich“ (S. 63). Dann wird sie schwanger. Julius leugnet die Vaterschaft, will sich trennen, wird zurückgebeten und findet Lisette tot, sie hat sich erstochen. Julius wendet sich nun Männerbekanntschaften zu, doch auch dies befriedigt ihn nicht. Sein gesellschaftliches Auftreten wird grenzwertig, da es den Wahnsinn („Verrückung“, S. 68) streift, er entwickelt Suizidgedanken. Da lernt er eine Frau kennen und verliebt sich in sie. Die Namenlose ist allerdings mit seinem Freund (vielleicht Antonio? ) liiert, so dass sich Julius immer mehr zurückzieht. Er meidet menschliche Gesellschaft, lebt nun viele Jahre ganz seiner künstlerischen Bestimmung als Maler. „Darum drängte er alle Liebe in sein Innerstes zurück, und ließ da die Leidenschaft wüthen, brennen und zehren“ (S. 70 f.). „Die Vergötterung seiner erhabenen Freundin“ (S. 72) aber bleibt fester Mittelpunkt seines Denkens. Diese Textstelle findet ihre Parallele in einer ähnlichen Formulierung, als Schlegel auf den literarhistorischen Periodenbegriff des Sturm und Drang rekurriert. Um den Zusammenhang von Begehren und dem Drang zu dessen Diskursivierung zu verstehen, lässt er Julius bekennen: „Es brannte und zehrte in meinem Mark; es drängte und stürmte sich zu äußern. Ich griff nach Waffen, um mich in das Kriegsgetümmel der Leidenschaften, die mit Vorurtheilen wie mit Waffen wüthen, zu stürzen und für die Liebe und die Wahrheit zu kämpfen-[…]“ (S. 30). Diese Frau bleibt viele Jahre lang das Objekt seiner Idealisierung. Erst allmählich macht er wieder Frauenbekanntschaften, geht mal lockere, mal festere Beziehungen ein, bis er eine „junge Künstlerin“ kennenlernt, „welche das Schöne gleich ihm leidenschaftlich verehrte, die Einsamkeit und Natur eben so zu <?page no="128"?> 127 lieben schien“ (S. 77). Sie hatte mit dem Malen bloß „aus Lust und Liebe“ (ebd.) begonnen. Mit dieser Alliteration, die ja bereits aus dem Kapitel 6 vertraut ist, werden nun erzähltechnisch aus der Rückschau der Liebesdiskurs und der Kunstdiskurs im Roman zusammengebracht. Über die Kunst findet Julius zur Liebe, über die Lust und Liebe zur Kunst sichert er sich eine Ausdrucksmöglichkeit für das echte Evangelium der Lust und Liebe. Kunst kann Liebe zum Ausdruck bringen und das bezieht sich nicht nur auf die bildende Kunst, sondern auch auf die poetische Kunst. Für den Autor Schlegel wie für seine Figur Julius bedeutet dies, dass Liebe bzw. die Liebesreligion durch Literatur ausgedrückt und gestaltet wird (das entspricht dem Bilden). Die frühromantische Kunstreligion begegnet nun in der Liebesreligion ihrer höchsten Form. Julius findet also über die Kunst zur großen Liebe. Die junge Künstlerin ist Lucinde. Die zweijährige Entwicklungsgeschichte der Liebe zwischen Lucinde und Julius nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Beobachtung, dass Lucinde einen „entschiednen Hang zum Romantischen“ (S. 78) habe. Die Antwort darauf, was romantisch bedeutet, gibt der Text selbst, wenn es über Lucinde heißt: „Auch sie war von denen, die nicht in der gemeinen Welt leben, sondern in einer eignen selbstgedachten und selbstgebildeten“ (S. 78). Romantisch bedeutet also ein absolutes, vorbehaltloses Plädoyer für Fantasie und zugleich eine Fluchtbewegung weg von der Wirklichkeit, mit der Maßgabe, andere, neue Wirklichkeiten zu entdecken oder zu konstruieren. Romantisch bezeichnet zunächst eher eine Bewegung, eine Richtung, als einen Inhalt. Julius versteht darunter die Ablehnung von kulturell codierten Vorurteilen und bürgerlichen Ordnungsmustern. Lucinde kann ohne Rücksichtnahmen frei und unabhängig leben. Julius erkennt in der Geliebten eine „wunderbare Gleichheit“ (S. 78). Nur er und sie vermögen „in der heiligen Schrift der schönen Natur“ (S. 85) zu lesen. Diese schöne Natur ist in einem einzigen Wort gebündelt, „er hatte das Wort gefunden- […] Liebe“ (S. 83 f.). Die große Liebe macht die Menschen erst „zu wahren vollständigen Menschen“ (S. 93). Julius modifiziert mit dieser Äußerung die Anthropologie der Aufklärung um ein entscheidendes Stück. Gilt dort die Einsicht, dass der Mensch ein Triebwesen sei und erst die Disziplinierung der Leidenschaften und die Affektmodellierung ihn zum Menschen mache, so ist es nun die Rückkehr in den Naturzustand der Liebe ohne kulturelle und gesellschaftliche Überformung. Dies führt letztlich zu einer freien Republik der Liebenden, oder wie Julius sagt, zu einer „allgemeine[n] Brüderschaft aller Einzelnen“ (S. 92). Julius spricht hier ganz offensichtlich für seinen Autor. Das geht aus folgender Notiz Friedrich Schlegels hervor: „Nur durch die Liebe und Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="129"?> 128 5. Schritt - 18. Jahrhundert durch das Bewußtsein der Liebe wird der Mensch zum Menschen“ (Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). KFSA Bd. 2, S. 264 [= Nr. 83]). Hingegen ist über Julius in der Lucinde zu lesen: „Wie seine Kunst sich vollendete-[…] so ward ihm auch sein Leben zum Kunstwerk“ (S. 83). Damit wird konsequent ein frühromantischer Programmpunkt umgesetzt, nämlich das Romantisieren des Lebens oder in Novalis’ Worten die „Poëtisirung der Welt“. Wenn das Leben zum Kunstwerk gerät und wenn Liebe der erhabenste Kunstsinn ist, dann erschließt Liebe die wahre Bedeutung des Lebens, Liebe ist „das Leben des Lebens“ (S. 93)-- das ist Friedrich Schlegels Argumentation in der Lucinde. Das nächste Kapitel Metamorphosen [= Kap. 9] ist ein kurzes Prosastück und besingt im elegischen Ton Liebe und Gegenliebe und die harmonische Einheit beider. Die beiden nachfolgenden, in etliche tagebuchartige Sequenzen gestückelten Kapitel Zwey Briefe [= Kap. 10 und Kap. 11] wählen die Ich-Form des Briefschreibers Julius, die Adressatin ist Lucinde, die vorübergehend von Julius getrennt ist. Julius hat soeben erfahren, dass Lucinde ein Kind erwartet. Woher Julius allerdings weiß, dass es ein Junge wird, bleibt unklar. Anzunehmen ist, dass er sein genderspezifisches Nachwuchsdenken auf das ungeborene Kind projiziert. Auf Drängen Lucindes will auch Julius bürgerlich werden, ein Haus kaufen und es einrichten, seine nomadische gesellschaftliche Existenz aufgeben. Er lobt das Landleben und kehrt sich von den gesellschaftlichen Randexistenzen urbanen Lebens ab. Was zunächst wie eine radikale Abkehr von den Problemen der beginnenden Industrialisierung erscheint, wendet Julius plötzlich zu einer bemerkenswert selbstkritischen Einsicht. Er sinniert, „es sollte eigentlich nur zwey Stände unter den Menschen geben, den bildenden und den gebildeten“ (S. 92), und beide Stände sollten in jener ‚allgemeinen Brüderschaft aller Einzelnen‘ aufgehen. Das ist Friedrich Schlegels unmittelbarer Reflex auf die Französische Revolution und ihre politische Parole der Fraternité, trotz der zwischen diesen Jahren 1789 und 1799 (als dem Erscheinungsdatum der Lucinde) liegenden jakobinischen Schreckensherrschaft. Einsichten, in denen Kritik an Feudalismus und Absolutismus geübt wird, bleiben im Text allerdings aus. Die Selbstreflexionen umkreisen das Thema der Veränderung, Julius fühlt eine Veränderung bei sich und auch von Lucinde fordert er eine Veränderung, eine „neue Ordnung der Dinge“ (S. 96) habe nun begonnen, die auch die Herausbildung einer „Ökonomie-[…] im allegorischen Sinn“ (ebd.) verlange. Damit meint Julius, dass Lucinde mit allem planender, berechnender, umsichtiger umgehen muss. Auch für ihre Liebe bedeutet dies einen Wandlungsprozess, der <?page no="130"?> 129 zu einer noch größeren Tiefe führt. Im Zweyten Brief [= Kap. 11] berichtet Julius von der „Allmacht der Fantasie“ (S. 99), die er im Traum als angsterregend erlebt hat. Julius erfährt von einer ernsten Krankheit, von der Lucinde befallen ist. Er hat Todesangst und durchleidet schlimme Vorstellungen, Einsamkeits- und Todesfantasien peinigen ihn. Erst als er von Lucindes Gesundung erfährt, bessert sich auch sein Zustand. Er „vergöttre“ (S. 104) Lucinde und das sei gut so, denn sie seien beide eins. Dieser zweite Brief mündet nahtlos in das Kapitel Eine Reflexion [= Kap. 12]. Julius erweitert seinen Reflexionshorizont auf das grundsätzlich Menschliche hin und fragt nach der Bestimmung des Menschen, die er darin erkennt, „bestimmt zu werden und zu bestimmen“ (S. 105). Was das Bestimmende ist und was das Bestimmte oder allgemeiner das Bezeichnende und das Bezeichnete, was Signifikant und was Signifikat des Seins, koppelt er an die Geschlechterstereotypie. Er räsoniert über Männlichkeit und Weiblichkeit als die beiden treibenden Seinsgründe. Diese Reflexion bleibt etwas kryptomythologisch, die Julius denn auch selbstironisch beendet. Er schickt, um diese Reflexionen zu illustrieren, Lucinde die beiden Briefe an Antonio, das Kapitel ist mit Julius an Antonio [= Kap. 13] überschrieben. Das Thema der Briefe ist die Freundschaft. Julius teilt seine Entscheidung mit, mit einem gewissen Eduard, der an dieser Stelle zum ersten Mal genannt wird, zusammenleben zu wollen, sie wollen „im brüderlichen Bunde vereint wirken und handeln“ (S. 111). Ob damit eine Alternative zum eheähnlichen Lebensmodell von Julius und Lucinde genannt werden soll oder ob der Autor Friedrich Schlegel hier sehr deutlich seine eigene Lebenssituation im Blick hat, bleibt offen. Denn er selbst und seine spätere Frau Dorothea Veit, die unschwer zu erkennen das autobiographische Vorbild für die Lucinde ist, und der Bruder August Wilhelm mit seiner Frau Caroline leben in Jena in einer Wohngemeinschaft zusammen. Der zweite Brief an Antonio verfolgt den Aspekt der Freundschaft weiter. Julius unterscheidet nun zwischen zwei Arten von Freundschaft, die erste ist unersättlich, je mehr sie bekommt, desto mehr begehrt sie, eine edle Kraft treibt sie an und Julius nennt sie unverblümt sein Ideal von Freundschaft. Die zweite Art hingegen ist innerlich, reingeistig, mystisch, die Menschheit ist im Innern zu fühlen, Ruhe und Demut sind ihre Kennzeichen. Eine solche Freundschaft sei ein Geschenk der Götter, gleichwohl zart und vergänglich. Der erste Satz des nächsten Kapitels Sehnsucht und Ruhe [= Kap. 14] kann als eine direkte Anspielung auf Goethes Werther gelesen werden, denn er steht jener Klopstock-Szene diametral entgegen, in der Werther und Lotte Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="131"?> 130 5. Schritt - 18. Jahrhundert das Spektakel eines sommerlichen Gewitters verfolgen und nur dieses eine empfindsame Codewort ‚Klopstock‘ sprechen, an dem sie ihre gegenseitige Zuneigung erkennen. Bei Schlegel hingegen wird die Szenerie in ein positives Licht gerückt, Sonne, Vogelgezwitscher und Tagesanbruch untermalen die aufleuchtende Liebe: „Leicht bekleidet standen Lucinde und Julius am Fenster im Pavillon, erfrischten sich an der kühlen Morgenluft und waren verloren im Anschaun der aufsteigenden Sonne, die von allen Vögeln mit munterem Gesang begrüßt ward“ (S. 113). Es ist vom Text her gesehen nicht ganz klar, ob der genannte Pavillon derselbe ist, der auch im Kapitel Treue und Scherz als Ort der leidenschaftlichen Liebesbegegnung genannt wird und insofern Kapitel 14 erzählerisch auf Kapitel 7 zurückverweist. Dann würde die erzählte Zeit direkt an den darauffolgenden Morgen anschließen. Dieser erzählerische Beginn geht schnell in eine dialogische Struktur über, die sogar einen hymnischen Ton erfährt. Lucinde korrigiert Julius’ Liebesreligion, wenn sie darauf hinweist, dass nicht sie objektiv heilig sei, sondern dies eine „Wunderblume Deiner Fantasie“ (S. 114) ist. Die romantische Liebe ist Ergebnis eines Projektionsverhältnisses, das aber dennoch in Übereinstimmung und Harmonie mündet. Für Julius ist klar: „Du bist die Priesterin der Nacht“ (S. 114). Ob dies eine Anspielung auf die Königin der Nacht im Priestergewand aus Mozarts Zauberflöte (1791) ist? Allerdings bedeutet der Name Lucinde immerhin das Gegenteil von Nacht, nämlich die Strahlende, die Leuchtende. Lucinde reflektiert über den Tod: „So wird einst ewig kalter ernster Tag des Lebens warme Nacht zerreißen, wenn Jugend flieht und wenn ich Dir entsage wie Du der großen Liebe größer einst entsagtest“ (S. 115). Rätselhaft bleibt es, was mit dem Begriff der Entsagung gemeint sein soll und weshalb die beiden Liebenden eines Tages der großen Liebe entsagen müssen, wenn sie doch Bestand hat über den Tod hinaus. Literarische Weihen bekommt der Begriff erst mit Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften von 1809. Und rätselhaft bleibt auch der Hinweis von Julius auf „die unbekannte Freundinn“ (S. 115), die er Lucinde nicht zeigen darf, und deren literarische Identität im Dunkel bleibt, obwohl einiges dafür spricht, in ihr jene unbekannte Frau zu erkennen, wie sie im Kapitel Lehrjahre der Männlichkeit beschrieben wird, zu der Julius in heftiger Liebe entbrannt ist, bevor er Lucinde trifft. Erfüllung und damit Ruhe findet die Sehnsucht, von der die Kapitelüberschrift spricht, in der einen „große[n] Liebesnacht“ (S. 116), die als Metapher für den Tod gelesen werden kann. Lucinde erhebt den Anspruch auf unverstellte Identität-- „wenn ich seyn darf wie ich bin“ (ebd.)-- und verknüpft dies mit der Erfüllung der Sehnsucht und dem Wiederfinden der Ruhe im <?page no="132"?> 131 Geliebten. Romantische Projektion und Identität kommen hier in die Balance. Das zu erkennen bleibt der Frau Lucinde vorbehalten. Im abschließenden Kapitel Tändeleyen der Fantasie [= Kap. 15] geht es noch einmal um das schon aus dem Kapitel Idylle über den Müssiggang bekannte Evangelium von Lust und Liebe, dessen Hohepriesterin Lucinde ist. Schnell wird klar, dass dies ein Bekenntnistext von Julius ist, der dann in die Ich- Form übergeht. Die Seele versteht nun den „heiligen Sinn des Lebens wie die schöne Sprache der Natur“ (S. 118). Dieser Sinn des Lebens war zu Beginn des Romans als Alliteration von Lust und Liebe, von Leben und Lieben beschrieben worden. Nun findet alles seine Erfüllung und Vollendung in einer umfassenden Harmonie, die „Harmonie der Liebe“ (S. 119) kann nicht mehr gestört werden. Friedrich Schlegel hat den Gedanken der progressiven Universalpoesie an dieser Stelle sehr dicht und bildreich umschrieben. Die Liebe von Julius und Lucinde bleibt fragil und flüchtig, obwohl sie den dritten und höchsten Grad der Liebeskunst, die Harmonie, erreicht hat. Was ihr Dauer verbürgt, ist allein der Text. Darin liegt das Geheimnis einer Ästhetik von Lust und Liebe als Lebensform und als Schreibhaltung in der Lucinde. Und in diesem Willen zur Beständigkeit kann das Gegenprogramm zum augenblicklichen Genuss und zum Gebot der plötzlichen Erfüllung gesehen werden. Eine neue Ordnung der Dinge, von der im Roman gesprochen wird, basiert auf der Unordnung der Liebe, sie intendiert ein Kommunikations- und Handlungsmodell, das die Gleichheit der Liebenden proklamiert und die Geschlechterdifferenz festigt. Die Unordnung der Liebe findet ihren angemessenen Ausdruck in der Unordnung des Textes, die Liebe ästhetisiert die Wahrnehmung, die Dinge, das Verhalten, sie verändert also, auch und gerade die Vorstellung, dass ein Roman gattungstypologisch lediglich aus narrativen Strecken besteht. Die frühromantische Vermischung der Gattungen, wie sie die Lucinde dokumentiert, ist Programm. In dieser veränderten Perspektive ist auch „die Gesellschaft-[…] ein Chaos“ (S. 51). Während der Mann Julius sich zur Gottvollkommenheit entwickelt, vervollkommnet sich die Frau Lucinde, „gleich der Natur als Priesterin der Freude das Geheimniß der Liebe leise zu offenbaren“ (S. 96). Die Hierarchie der Geschlechter bleibt zwar bestehen, doch verbürgt die Textur der Liebe die Gleichheit der Liebenden. Denn die große Liebe wandelt „die Natur im Menschen zu ihrer ursprünglichen Göttlichkeit“ (S. 98). Während der Mann also gottähnlich wird, wird die Frau gottgleich. Und diese Wandlung vollzieht das „heiligste Wunder der Natur“ (ebd.), die Wollust. Friedrich Schlegel ruft somit emphatisch das Begehren als jenen Ort der Verwandlung auf, der Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="133"?> 132 5. Schritt - 18. Jahrhundert die Umkehrung der Geschlechterrollen und deren Aufhebung verbürgt- - für das Jahr 1799 ist das ein wirklich kühnes Gedankenexperiment. Mit der Lucinde erschließt Friedrich Schlegel einen textualistischen Liebesbegriff. Die Liebe wird als Text verstanden, dessen richtiges Verstehen von der entsprechenden hermeneutischen Schulung der Liebenden, also dem Textschreiber und zugleich dem Textleser, abhängt. Die Lucinde reflektiert über die Möglichkeiten einer Liebesreligion als frühromantisches Programm der Einheit von Literatur und Leben. Der Roman zeigt, Liebe ist ein Naturzustand und nichts kulturell Generiertes, sie ist in diesem Sinne eine anthropologische Notwendigkeit. Textgrundlage: Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman. Studienausgabe. Kritisch hgg. u. mit Begriffs-Repertorium, Bibliographie u. Nachwort versehen v. Karl Konrad Polheim. Revidierte u. erweiterte Ausgabe. Stuttgart 2011 (=-Reclam UB 320). Lektüreempfehlungen: Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente (1798 / 1800) Novalis: Blüthenstaub-Fragmente (1798), Hymnen an die Nacht (1800), Heinrich von Ofterdingen (1802) Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796), Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst (1799) Bonaventura [= August Klingemann]: Nachtwachen (1804) Einführende wissenschaftliche Literatur: Friedrich Schlegel-Handbuch. Leben-- Werk-- Wirkung. Hgg. v. Johannes Endres. Stuttgart 2017. Lothar Pikulik: Frühromantik. Epoche-- Werke-- Wirkung. Zweite, bibliographisch ergänzte Aufl. München 2000 (= Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte). <?page no="134"?> 133 Weimarer Klassik: Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) 6. Schritt - 19. Jahrhundert W eimArer k lAssik : Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) Spricht man von Weimarer Klassik als einer nur wenige Autoren betreffenden, aber wirkungsmächtigen literaturgeschichtlichen Periode zwischen 1794 und 1805 im engeren Sinn, so sind damit vor allem die entsprechenden Werke von Moritz, Schiller, Goethe, Herder und Wieland gemeint. Die Grundlage einer zeitgenössischen theoretischen Reflexion zur Weimarer Klassik liefert Karl Philipp Moritz (1756-1793). Er entwirft ein ästhetisches Denken, das unter dem Begriff der Autonomieästhetik Eingang in die Literaturgeschichte gefunden hat. In seiner Schrift Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785) charakterisiert er den Zustand der ästhetischen Erfahrung. Er schreibt über das Schöne im Kunstwerk, man könne es dann rein und unvermischt ästhetisch erfahren, wenn man es „als etwas betrachte, das bloß um sein selbst willen hervorgebracht ist, damit es etwas in sich Vollendetes sei.-[…] Ein Ding kann also nicht deswegen schön sein, weil es uns Vergnügen macht, sonst müßte auch alles Nützliche schön sein; sondern was uns Vergnügen macht, ohne eigentlich zu nützen, nennen wir schön“ (Karl Philipp Moritz: Werke. 2 Bde. Hgg. v. Horst Günther. Frankfurt a. M. 1981, Bd. 2, S. 545). Friedrich Schiller (1759-1805) wird einige Jahre später in einem Brief vom 22. Januar 1802 die Formel prägen, ein poetisches Werk müsse „ein in sich selbst organisirtes Ganze“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 31, S. 94) sein. Ob damit gesagt ist, dass in der ästhetischen Autonomie- - wie sie Moritz darlegt und wie sie in den poetischen Texten von Schiller und Goethe aufgegriffen wird- - bereits die Antizipation einer allgemeinen gesellschaftlichen Autonomie aufscheint, auf die jene gleichsam vorbereiten soll, ist umstritten, allein von Schillers klassischen Dramen her gesehen prinzipiell aber zu rechtfertigen. Trotz der kunstästhetisch und philosophisch reflektierenden Essays von Moritz und Schiller kann man aber nicht von einem geschlossenen ästhetischen Programm oder einem poetischen System der Weimarer Klassik sprechen. Wohl haben Schiller und Goethe, Wieland, Herder und Wilhelm von Humboldt, Hölderlin und Körner sich zu poetischen und allgemein ästhetischen Fragen geäußert. Schillers eigene philosophische Abhandlungen erörtern zwar durchaus auch Probleme einer idealistischen <?page no="135"?> 134 6. Schritt - 19. Jahrhundert Ästhetik, doch ist dieses Denken stets auch Selbstzweifeln, Korrekturen, Widersprüchen und überbordenden Assoziationen unterworfen. Literarische Konkretisierung findet das ästhetische Programm der Weimarer Klassik vor allem in der klassischen Lyrik Schillers und Goethes, in dessen Iphigenie (Versfassung von 1786) und in Schillers klassischen Dramen, dazu zählen die Wallenstein-Trilogie (1800), Maria Stuart (1801), Die Jungfrau von Orleans (1801), Die Braut von Messina (1803) und das bis heute wohl am populärsten gebliebene Stück Wilhelm Tell (1804). Die gattungstypologischen Zuordnungen reichen von Geschichtsdrama, Schicksalsdrama, Festspiel und Mysterienspiel bis hin zu Charakterdrama, wobei sich eine eindeutige typologische Identität nur schwer zusprechen lässt. Diese Werke sind nach Abschluss der philosophisch-ästhetischen Reflexions- und Schreibphase und nach Schillers prägender Kant-Lektüre in den 1790er Jahren entstanden und veröffentlicht. Im Februar 1791 hatte diese intensive Phase der theoretischen Reflexion begonnen, Ende 1795 ist sie abgeschlossen. Schiller selbst schreibt in einem Brief vom 17. Dezember 1795 an Goethe, es sei „hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 28, S. 132). Schiller reaktiviert am Ende der Aufklärung und zu Beginn des 19. Jahrhunderts nochmals die aus der aristotelischen Poetik sich herleitende poetologische Affektenlehre. Diesem Programm des künstlichen Pathos, das durch das vernünftige Rezipieren überschritten wird und so die Freiheit, die Erhabenheit des Menschen über die Sinnlichkeit vor Augen stellt, sind Schillers klassische Dramen verpflichtet. Allerdings hatte schon Körner als ein kritischer Zeitgenosse in einem Brief an Schiller vom 17. März 1804 offen über die Dialogführung des Wilhelm Tell geäußert, dass sie „weniger geschmückt“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 40 / I, S. 186) sei als in seinen früheren Werken, also weniger pathetisch, weniger künstlich und dadurch besser wirke. Die Rezeptionsgeschichte des Stücks gibt ihm Recht. Das Drama der Weimarer Klassik will ein Höchstmaß an Konzentration auf das Wesentliche, das in den Texten verhandelt werden soll. Diese Konzentration auf das Wesentliche wird in der Lesart der Weimarer Klassik durch die Rhythmisierung der Verssprache gewährleistet. Prosodie und Rhythmus als konstitutive Merkmale der Form scheiden das Unwesentliche des Stoffes aus. Als Schiller daran geht, den Wallenstein in Jamben zu schreiben, teilt er Goethe am 24. November 1797 folgende Überlegung mit: „Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetische=rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz andern Gerichtsbarkeit als vorher-[…]“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 29, <?page no="136"?> 135 Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) S. 159). Der Rhythmus zwinge die Leser, sich auf das ‚rein Menschliche‘ zu konzentrieren. „Alles soll sich in dem Geschlechtsbegriff des Poetischen vereinigen, und diesem Gesetz dient der Rhythmus sowohl zum Repraesentanten als zum Werkzeug, da er alles unter Seinem Gesetze begreift. Er bildet auf diese Weise die Atmosphaere für die poetische Schöpfung, das gröbere bleibt zurück, nur das geistige kann von diesem dünnen Elemente getragen werden“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 29, S. 160). Schon in dem Essay Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) hat Schiller im 22. Brief geschrieben, dass die Form den Stoff vertilgen müsse, „in einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun“, darin läge das „eigentliche Kunstgeheimnis“ (Schiller: Frankfurter Ausgabe Bd. 8, S. 641). Übrig bliebe so ein Kondensat des Geschichtlich-Menschlichen, das dann in der gezielten ästhetischen Profilierung, dem Akt der Idealisierung, als Fluchtpunkt der freien Vernunfthandlung diene. Die einzelnen dramatischen oder literarischen Figuren begreift Schiller als „symbolische Wesen“, wie es in einem Brief an Goethe vom 24. August 1798 heißt, die „immer das allgemeine der Menschheit darzustellen und auszusprechen haben“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 29, S. 266). Der Dichter müsse sich von der Wirklichkeit entfernen und dabei stets an diesen Idealisierungsprozess erinnern. Dies kann er vor allem durch eine ausgedehnte, pathetische, versifizierte Sprache seiner Figuren. Weimarer Klassik bedeutet in diesem Sinne also symbolhafte sprachliche, rhetorische, allegorische, metrische und dramaturgische Verdichtung der Menschheitsgeschichte. Die Tragödie als die repräsentative Textgattung kann nur einzelne außergewöhnliche Momente der Menschheit beispielhaft fixieren. Dies ist ihre Aufgabe und dies tut sie mit Hilfe eines Maximums an sprachlichem, rhythmischem und inhaltlichem Pathos. Schiller ist sich der Gefahr bewusst, die aus einem solchen Gestaltungswillen resultieren kann, dass nämlich am Ende nur figurierte, leere, abstrakte Sentenzen und Worthülsen herauskommen. Das Ideal der Kunstautonomie der Weimarer Klassik ist eine konsequente Absage an den Publikumsgeschmack. Die klassischen Dramen sind eine Attacke auf das Illusionstheater der Zeit und seine Aufführungspraxis mit dem Hang ins Opernhafte und Pompöse. Die Forderung, der Dichter müsse die Wirklichkeit verlassen, bedeutet die bewusste Destruktion der ästhetischen Illusion beispielsweise durch die freie Handhabung historischer Fakten wie in der Maria Stuart und der Jungfrau von Orleans, durch die Einführung des Chors und der Überzeichnung des Pathos der Sprache wie in der Braut von Messina, durch die häufigen Sentenzen wie im Wilhelm Tell. Nur durch die Aufdeckung der Fiktionalität <?page no="137"?> 136 6. Schritt - 19. Jahrhundert des Dargebotenen kann die emotionale und intellektuelle Freiheit des Einzelnen bewahrt bleiben und als Voraussetzung für gesellschaftliche Freiheit dienen. Die Illusion, also die Künstlichkeit der Kunst, muss für die Zuschauer erkennbar bleiben, Kunst darf das Dargestellte nicht als Wirklichkeit vortäuschen. In den klassischen Dramen wird die Einsicht gewonnen und gefestigt, dass Kunst künstlich ist, um dadurch einen Darstellungs- und Wahrheitswert zu erringen, den nur Kunst-- und nicht etwa Natur oder Naturnachahmung-- birgt. Schillers Interesse gilt nicht dem kleinen realistischen Detail, sondern der großen Linie des Geschichts- und Menschheitsprozesses, dem anthropologischen Fundament des Weltgeschehens. Die Mittel, um die Illusion von Wirklichkeit zu zerstören, sind die stilisierte Sprache, die metrische Diktion, die Reimschemata, die Verssprache mit dem häufigen Wegfall der Hilfsverben und der Gedanke der Stilisierung als Kunstprinzip. Weimarer Klassik ist Publikumsschelte und insofern bedient ihre Literatur nur ein kleines Publikum. Diese Kritik reicht von Goethes Aufsatz Literarischer Sanscülottismus (1795), wo vom großen Publikum ohne Geschmack die Rede ist, bis hin zu Schillers brieflichen Äußerungen, dass er sich weigere, sich am herrschenden Geschmack des Publikums zu orientieren. Weimarer Klassik kann als einer der letzten Versuche gelten, den anthropologischen Grundauftrag von Dichtung, die Suche nach einem besseren Menschen, zu bewahren. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte werden vor allem Schillers klassische Dramen sehr schnell für zitierfähig gehalten, der Autor selbst wird zum Klassiker geadelt. Den Rest besorgen Bildungsbürgertum und politische Konstellationen im 19. Jahrhundert, die dem Dichter, seinem Werk wie der Weimarer Klassik insgesamt die Fähigkeit zur Bildung einer deutschen Nationalidentität unterschieben. Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie (1801) Schillers Tragödie Die Jungfrau von Orleans ist zwischen dem 1. Juli 1800 und dem 16. April 1801 entstanden. Die Uraufführung erfolgt am 11. September 1801 in Leipzig. Schiller kümmert sich sehr penibel um alle Details des Drucks. Er wählt das Titelkupfer aus, bestimmt die Auswahl des Papiers und der Schrifttypen sowie das Format. Das Drama erscheint im Oktober 1801 im Kalender auf das Jahr 180 des Berliner Verlegers Johann Friedrich Unger (1753-1804). Der Stoff der Jungfrau von Orleans ist der Geschichte entnommen und verweist auf das Leben und Wirken der historischen Jeanne d’Arc (1412-1431), die den Franzosen zum entscheidenden Sieg über die Engländer im Hundertjährigen <?page no="138"?> 137 Krieg verhalf und Karl VII . nach Reims zur Krönung führte. Sie wurde später gefangen genommen und in Rouen verbrannt. In der katholischen Kirche wird sie bis heute als Heilige verehrt. Schiller studiert einschlägige historische Werke. Trotz dieses intensiven Quellenstudiums ist die Jungfrau von Orleans kein Geschichtsdrama, obwohl der Untertitel „eine romantische Tragödie“ im zeitgenössisch modernen Sinn sicherlich mit dieser Vorannahme kalkuliert. Damit kann gemeint sein, dass Schiller sich den Stoff des Dramas aus dem späten Mittelalter borgt, das Stück spielt immerhin im Jahr 1430. Noch an einer weiteren Textstelle verwendet Schiller das Epitheton ‚romantisch‘. In I / 2 fügt er eine erklärende Fußnote zur Figur des Königs René ein, der in „romantischem Geist“ sich zum Schäfer gemacht habe und als Beispiel für Weltflucht gelte. ‚Romantisch‘ bedeutet demnach hier der Bezug zum Mittelalter. Der Untertitel „romantische Tragödie“ kann aber auch heißen, dass das Stück Elemente enthält, die zeitgenössisch als romantisch verstanden werden, so etwa der Wunderglauben, die Religion, die Elemente des mittelalterlichen Katholizismus oder die umstrittene Figur des schwarzen Ritters. Mit dem Begriff ‚romantisch‘ verbindet sich dann der inhaltliche Hinweis auf die romantisierenden Stil- und Darstellungsformen im Stück. Das Wort ‚romantisch‘ kann auch den Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts intendieren, wonach damit das Romanhafte, das Sonder- und Wunderbare des Dramas bezeichnet werden soll. In der Wahl des Untertitels kann ferner ein deutliches Signal der Entgegensetzung zu dem um 1800 durchaus noch bekannten Drama La Pucelle d’Orléans (1752) von Voltaire (1694-1778) erkannt werden, worin er Jeanne d’Arc als tragische Heldin darstellt. Schiller war mit Voltaires Arbeit vertraut. Schließlich kann ‚romantisch‘ aber auch als eine Art von Signalwort verstanden werden. In diesem Sinn spielt der Untertitel und damit das Stück insgesamt absichtsvoll auf die bis 1801 erschienene zeitgenössische romantische Literatur an. Nicht ganz nebensächlich ist es dann, dass die Jungfrau von Orleans von jenem Drucker und Verleger Johann Friedrich Unger ins Programm genommen wird, bei dem nicht nur von Goethe Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795 / 96) erschienen sind, sondern 1797 die für die Frühromantik prägenden Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-1798) und Ludwig Tieck (1773-1853) sowie Tiecks Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798). Wenn ein Verleger gerade im Jahr 1801 den schillerschen Untertitel ‚romantisch‘ favorisiert, dann hat das natürlich auch marktstrategisch verkaufsfördernde Momente. Allein dieses Beispiel macht schon deutlich, wie wichtig es ist, bei der Frage nach Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="139"?> 138 6. Schritt - 19. Jahrhundert der Periodisierung von Epochen und Strömungen die Gleichzeitigkeit von historisch Unterschiedlichem mitzudenken. Spätaufklärung, Frühromantik und Weimarer Klassik als literaturgeschichtliche Perioden durchkreuzen und überschneiden sich. Bereits die erste Regieanweisung im Prolog zur Jungfrau von Orleans entfaltet die Problematik zwischen heidnischem Wunderglauben und christianisierter Anverwandlung. Dort ist zu lesen, vorne rechts an der Bühne sei ein Heiligenbild in einer Kapelle zu sehen, während links eine hohe Eiche stehe. Damit sind die beiden Pole genannt, zwischen denen sich Johanna d’Arc- - Schiller gebraucht den deutschen Vornamen-- bewegen, zwischen denen sie hin- und hergerissen wird. Ihre göttliche Inspiration und ihren politischen Auftrag erhält sie nämlich unter diesem Baum, der volkstümlich im Stück als Zauberbaum geheimnisvoll umwittert und negativ besetzt ist. Weiter exponiert Schiller im Prolog bereits in den Eingangsversen des Vaters einen genderspezifischen Aspekt, der das gesamte Stück in einer regelrechten Architektur der Umkehrung von Geschlechterrollen durchzieht. Thibaut d’Arc will seine drei Töchter verheiraten, er ist der Ansicht, dass Frauen besonders in Kriegs- und das bedeutet in Krisenzeiten des männlichen Schutzes bedürfen. Thibaut gehört keineswegs zur armen Landbevölkerung, sondern er wird im Verzeichnis der Dramatis personae von Schiller ausdrücklich als ein „reicher Landmann“ beschrieben. Insofern ist auch Johannas späteres soziales Argument, sie sei „nur eines Hirten niedre Tochter“ (V. 1048), das sie dem Erzbischof von Reims gegenüber anführt, nicht aufrichtig. Man kann dies bereits als Johannas Versuch werten, sich selbst als unterschichtige Frau zu inszenieren und den christlichen Glauben an die arme Geburt Jesu Christi auf ihre eigene Herkunft zu übertragen. Will man dies so verstehen, dann würde sich darin bereits sehr früh im Text ein Signal ihrer sich sukzessiv abzeichnenden Hybris und ihres späteren Rollenkonflikts zwischen Sendungsauftrag und Sendungsbewusstsein erkennen lassen. Johannas Vater denkt sozioökonomisch, er versteht die Verheiratung seiner Töchter als Verwandlung (und damit als Parallele zur christlichen Eucharistie) des symbolischen Kapitals der Töchter in das ökonomische Kapital des Landbesitzes. Durch die Heiraten vermehrt sich der familiäre Grundbesitz, denn jede Tochter bekommt 30 Acker Land, eine eigene Herde sowie einen eigenen Hof mit in die Aussteuer (vgl. V. 25 u. 36 f.). Allerdings ist es auch der Vater, der jenes Signalwort als Erster im Text im Munde führt, das später Johannas Handeln und Sterben prägen wird: Herz. Mit diesem der Empfindsamkeit verpflichteten Terminus nimmt Schiller ein dominantes soziales und literarisches <?page no="140"?> 139 Thema der Aufklärung variierend auf. Johannas Abneigung, gar Verweigerung, den verständigen Raimond zu heiraten, kann sich der Vater nur als eine „schwere Irrung der Natur“ (V. 62) erklären. Johanna verstößt, indem sie sich der Ordnung der Geschlechter entzieht, gegen die natürliche Ordnung und das positioniert sie von Beginn an auch außerhalb der politischen Ordnung. Später wird König Karl feststellen, dass Johannas Wundertaten „nicht in dem Laufe der Natur“ (V. 999) seien. Johannas Digression wird deshalb nur so lange von der männlichen politischen Ordnung toleriert, wie diese benötigt, um sich wieder zu stabilisieren. Dulden aber kann diese Ordnung ein solches Verhalten nicht. Das ist Johanna von Beginn an bewusst, dass in ihren Auftrag zugleich auch ihr Untergang eingeschrieben ist. Johanna scheint „was höh’res zu bedeuten“ (V. 78), das ahnt bereits Raimond, noch bevor sich Johanna ihrer Familie offenbart. Wie die Erfüllung einer unheilvollen Prophezeiung liest sich, was der Vater rhetorisch fragt, ob er sein eigenes Kind anklagen solle (vgl. V. 146). Genau diese Anklage des Vaters wird am Ende ursächlich zu Johannas Verlust der bürgerlichen Rechte und zu ihrem Tod führen. Johanna bedarf aber zum Handeln stets der äußeren Zeichen. So tritt im dritten Auftritt des Prologs der Bauer Bertrand mit einem Helm auf, den er auf dem Markt von einer Zigeunerin erhalten haben will. Dieses dramatische Dingsymbol vermag immerhin Johanna zu ihren ersten Worten zu bewegen. Sie fordert den Helm für sich, greift nach ihm und entreißt ihn schließlich Bertrands Händen. Sie erhebt Besitzanspruch und wird darin von Raimond unterstützt, der zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig weiß wie der Leser oder Zuschauer. Er liefert aber den Schlüssel zum weiteren Verstehen. Ein männliches Verhalten kennzeichne Johanna, ihr Herz sei „ein männlich Herz“ (V. 196). Damit ist nun im Prolog eine tragische Konfliktlinie festgelegt, um die herum Schiller den dramatischen Knoten schürzen wird. Johanna trägt in sich einen Geschlechter- oder Rollenkonflikt aus. Als Frau beansprucht sie männliche Verhaltensweisen und Attribute der Macht, die in der kulturellen Ordnung des späten Mittelalters eben ausschließlich männlich prädiziert sind. Diese Festschreibungen der Geschlechterdifferenz, die mit väterlicher Autorität beschworen werden (vgl. V. 293), wenden später Johannas Handeln ins Tragische. Mit dem Ausruf: „Der Retter naht“ (V. 303) und dem Hinweis, Wunder würden noch geschehen, beansprucht Johanna endgültig die Fähigkeit zur Prophezeiung und reklamiert für sich die alleinige Deutungshoheit. Sie spricht von sich selbst in der dritten Person Singular, sie weist darauf hin, dass eine Jungfrau Gott verherrlichen und den bedrohten König, mithin die politische Ordnung Frankreichs retten wird. Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="141"?> 140 6. Schritt - 19. Jahrhundert Im Stil einer rhetorisch geschickt strukturierten Klimax mit einer regelrechten anaphorisch gestalteten Fragenkette vermischt sie ihren politischen Auftrag mit dem kulturellen Wissen ihrer Zeit in einem psalmodischen Hymnus (vgl. V. 344-365). Die bisherigen Blankverse in fünfhebigen Jamben wandeln sich nun in Johannas Monolog im vierten Auftritt in ein fünfhebiges, jambisches Reimschema nach dem Muster abababcc. Dieses deutliche Signal der kunstvollen Form unterstreicht den Inhalt der Rede Johannas. Sie verabschiedet sich von ihrer Herkunft in dem Wissen, dass sie nie mehr wiederkehren wird. Zudem erklärt sie, dass die Stimme Gottes aus der (heidnischen) Eiche zu ihr gesprochen und ihr einen eindeutigen Auftrag erteilt habe. Sie solle kämpfen und nicht lieben und dem König zur Krönung verhelfen. Der politisch-militärische Imperativ sowie die Neutralisierung ihres Begehrens sind also die zentralen Momente dieses Auftrags. Versprochen wird ihr für dessen Erfüllung ihre Verklärung, womit Schiller wiederum einen alten religiösen Begriff anführt, der einen Zustand größter Gottesnähe in der Stunde des Todes meint. Johanna weiß aber auch, dass sie die Ausführung dieses Auftrags nicht überleben wird. Dieser Monolog dient ihr nochmals zur Selbstreflexion, ja zur Selbstvergewisserung, dass sie auch tatsächlich einen Sendungsauftrag hat, nach dem sie handelt, und ihr Handeln nicht nur Resultat eines Sendungsbewusstseins ist. Zugleich verbirgt sich dahinter auch ein dramaturgischer Trick, der es Schiller erlaubt, dass seine Hauptfigur und die Zuschauer bzw. Leser nun über dasselbe Wissen um Johannas Auftrag verfügen, im Gegensatz zu den anderen Figuren des Stücks. Um Zeichen und Wunder hat Johanna den Himmel gebeten, nun ist sie selbst das Wunder, der Helm ist das Zeichen. Dass Schiller damit einen genuin biblischen Topos profaniert und variiert (vgl. etwa Dan 6, 28; Joh 4, 48; Apg 2, 43 u. 4, 30), betont den prophetisch-messianischen Anspruch Johannas, und für Schillers Zeitgenossen mag dies provokanter gewirkt haben, als es uns heute erscheint. Johanna beginnt also im Prolog bereits mit ihrer Selbstinszenierung als Sendungsbeauftragte. Sie unterliegt außerdem einem strengen Liebestabu. „Nicht Männerliebe darf dein Herz berühren“ (V. 411), heißt es schon im Prolog. Dies ist ein wörtliches Zitat von Johannas Berufungsgeist, auch in Vers 2204 ist zu lesen: „Und keinem Manne kann ich Gattin sein“. Später variiert sie dies etwas: Eine reine Jungfrau Vollbringt jedwedes Herrliche auf Erden, Wenn sie der ird’schen Liebe widersteht (V. 1087 ff.). <?page no="142"?> 141 Hier ist es ein wörtliches Zitat der Muttergottes. Karl, Dünois und La Hire wirft sie in III / 4 vor, in ihr „nichts als ein Weib“ (V. 2254) sehen zu wollen. Johanna verwahrt sich gegen ihre Geschlechtsidentität. Überhaupt mangelt ihr aus der Sicht ihrer Mitmenschen Identität. Der Vater wertet es als Irrung der Natur, dass sie sich trotz ihrer körperlichen Schönheit nicht für Männer interessiere. Der Verstoß gegen die natürliche Ordnung wird als Verstoß gegen die väterliche Ordnung gewertet und als Verstoß gegen die göttliche Ordnung begriffen, wie auch Johanna später bekräftigen wird: „Weil es vom Vater kam, so kam’s von Gott“ (V. 3150). Wenn sich Johanna also dem Druck des Ordnungsdenkens, das patriarchalautoritär strukturiert ist, widersetzt, dann verstößt sie damit gegen das gesellschaftliche Selbstverständnis des ausgehenden Mittelalters ebenso wie gegen das bürgerliche Selbstverständnis zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Insofern muss der Konflikt, den Johanna austragen wird, stets ein tragischer sein, da er keine Versöhnung zulässt. Die Geschlechterdifferenz mit ihren kulturellen Codierungen erweist sich als Ausgangspunkt des tragischen Geschehens. Es ist der Vater, der bereits in den ersten Zeilen des Stücks diese Differenz beschwört, indem er sich auf seine väterliche Autorität beruft und seine drei Töchter verheiraten will. Im ersten Akt begegnet dem Leser der königliche Hofstaat. Noch geht König Karl VII . davon aus, dass seine Geliebte Agnes Sorel diejenige Frau sein wird, mit deren Hilfe er zum König von Frankreich gekrönt werden wird. „Hier steht die Heldin, die nach Rheims [! ] mich führt, / Durch meiner Agnes Liebe werd’ ich siegen! “ (V. 659 f.) Schiller stellt damit Sorel als die unmittelbare Gegenfigur zu Johanna vor. Sorel ist denn auch diejenige, die Karl gegenüber die Geschlechterdifferenz beschwört und ihn zu männlichem Verhalten auffordert. Er solle seine Absetzung als König durch das Parlament „männlich fassen“ (V. 774) und dagegen kämpfen. Umgekehrt wird Sorel später auch sehr genau wissen, wie sich eine Frau innerhalb der Geschlechterordnung zu positionieren hat, wenn sie von Johanna verlangt, sie solle sich wie eine Frau verhalten, dann werde sie „Liebe fühlen“ (V. 2643). Von Agnes Sorel geht also zunächst der politische Impuls zum militärischen Handeln aus und nicht von Johanna. Auch weissagt Agnes Sorel dem König, dass er die nationale Identität stiften wird (vgl. V. 795), lange bevor Johanna mit dem König das erste Wort gewechselt hat. Das bedeutet für die Textinterpretation, dass Johannas politische Argumente an Stichhaltigkeit verlieren und dies wiederum die Glaubwürdigkeit der Objektivität ihres Sendungsauftrags zu erschüttern vermag. Erst im neunten Auftritt wird von der Koinzidenz, wonach Johanna zeitgleich zu den Exilüberlegungen des Königs erste militärische Erfolge erzielt, die Rede sein. Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="143"?> 142 6. Schritt - 19. Jahrhundert Der Ritter Raoul berichtet von einem seltsamen Wunder und löst mit diesen Worten Johannas Versprechen aus dem Prolog ein, dass noch Wunder geschehen werden (vgl. V. 315). Eine junge Frau habe plötzlich das Schlachtfeld betreten und, wie eine antike Kriegsgöttin gewandet, den Sieg herbeigeführt, indem sie die französischen Truppen mit fünfundzwanzig Worten ansprach. In diesem knappen Bericht wird die Ambivalenz von Sendungsbewusstsein und Sendungsauftrag deutlich. Während Raoul eine glänzende Erscheinung himmlischer Verklärung für möglich hält, sind es in Wirklichkeit lediglich Johannas blonde Haare, die ihr „in goldnen Ringen“ (V. 958) um den Nacken fallen. Die Feinde fliehen und werden von den französischen Truppen niedergemetzelt, die selbst ohne Verluste bleiben. Dieser Bericht leitet direkt auf die zentrale Frage hin, die Agnes Sorel stellt: „Wer ist sie? “ (V. 987) Mehrmals wird diese Frage variiert, weil stets die Identität Johannas und der Widerspruch der Geschlechterdifferenz, den sie ausagiert, Rätsel aufgeben. So werden sie der König fragen, wer sie sei und woher sie komme (vgl. V. 1032), ebenso der Erzbischof (vgl. V. 1044), Talbot (vgl. V. 1542) und Lionel (vgl. V. 2487). Auf diese leitmotivische Frage gibt es unterschiedliche Antworten. Zunächst aber erfährt Johanna durch die höchste weltliche Macht des Königs ihre Beglaubigung. Karl anerkennt, dass Johanna von Gott geschickt wurde und bekennt sich damit zu einem objektiven Sendungsauftrag Johannas (vgl. V. 1043). Johanna reagiert auf diese moralische Nobilitierung durch den König mit einer Unwahrheit. Sie erklärt dem Erzbischof, sie sei „eines Hirten niedre Tochter“ (V. 1048). Der Widerspruch zu ihrer tatsächlichen sozialen Herkunft lässt sich nur so erklären, dass Johanna nun bereits ihre eigene Biographie der messianischen Geburtsgeschichte Jesu anpasst und dadurch den religiösen Anspruch ihres politischen Auftrags unterstreicht. Macht Johanna selbst die Geschlechterdifferenz zum Kern ihres religiös motivierten politischen Auftrags und setzt sich damit in Widerspruch zur bestehenden Ordnung der Geschlechter, so beruft sie sich dabei auf die Muttergottes, die eben dies von ihr verlangt, nämlich dem Begehren zu entsagen (vgl. V. 411 u. 1089). Sie ist es, die ihr im Traum erscheint und ihren Auftrag formuliert, die zürnt, als Johanna zögert, und sie verleiht ihren Worten mit dem Appell an die Geschlechterdifferenz Nachdruck: Gehorsam ist des Weibes Pflicht auf Erden, Das harte Dulden ist ihr schweres Los, Durch strengen Dienst muß sie geläutert werden, Der hier gedienet, ist dort oben groß. (V. 1102 ff.) <?page no="144"?> 143 Dies ist die zweite Textstelle im Stück, wo Johanna ihren Auftrag zitiert. Der Wortlaut weicht zwar von der ersten Nennung im Prolog ab, jedoch ist der berichtete Auftragsinhalt der gleiche: Johanna soll gehorchen, das Begehren negieren, den militärischen Sieg davontragen und den König zur Krönung nach Reims führen. Erst nach dem Hinweis auf ihre Gehorsamspflicht als Frau erfährt sie auch die „Beglaubigung“ (V. 1111) durch die Instanz der kirchlichen Macht des Erzbischofs. Galt bis dahin den politischen und militärischen Akteuren Johanna als ein seltsames Mädchen, das Wunder vollbringt, so erfährt sie zu Beginn des zweiten Aktes erstmals die Kriminalisierung ihres Handelns. Von dem noch auf Seiten der Engländer kämpfenden Herzog von Burgund wird sie als Teufel bezeichnet, später auch von Talbot so genannt. Auch Karls Mutter Königin Isabeau, die als militärisch handelnde Frau eine direkte Gegenspielerin Johannas darstellt, verteufelt die Tochter eines reichen Landmanns. Isabeau erhebt sogar denselben Anspruch wie Johanna, wenn sie im Gespräch mit dem englischen Generalstab die Führung des Heeres beansprucht: „Ich will das eure führen, ich will euch / Statt einer Jungfrau und Prophetin sein“ (V. 1377 f.). Sowohl Talbot als auch Montgomery erfahren Johannas Verstoß gegen die Geschlechterordnung als Provokation (vgl. II / 5 und II / 6). Montgomery wird dies mit dem Tod bezahlen. Denn Johannas Sendungsauftrag beinhaltet auch einen Tötungsauftrag, sie solle alle Soldaten töten, die ihr in den Schlachten begegnen (vgl. V. 1601). Diesen „Vertrag“ (V. 1600) macht sie auch in der Begegnung mit dem für England kämpfenden Montgomery geltend. Während dieser ihre Schönheit und ihren sanften Blick beschwört, verweist sie auf ihre vermeintliche Geschlechtslosigkeit. Damit evoziert sie das Bild eines Engels, der als geschlechtslos gilt, und hebt wiederum ihren objektiven göttlichen Sendungsauftrag hervor. Diese subjektive Aufhebung der Geschlechterdifferenz steht darüber hinaus auch in deutlichem Widerspruch zur Regieanweisung zu Beginn von II / 4, wo die männlichen militärischen Insignien wie Fahne, Helm und Brustharnisch zwar angeführt sind, ansonsten aber ausdrücklich ihre weibliche Kleidung hervorgehoben wird. Johanna verschont zunächst lediglich den burgundischen Herzog, der sich auf ihren Zuspruch hin auf die Seite der Franzosen schlägt. Diese Szene zeigt Johanna, wie sie durch Rede einen Menschen überzeugen kann, nicht durch vernünftiges Argumentieren, sondern durch eine leidenschaftliche Ansprache. Ansonsten besticht sie durch die Überzeugungskraft ihrer Taten. Selbst als sie schwer beschuldigt und der Hexerei verdächtigt wird, schweigt sie. Der Kraft Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="145"?> 144 6. Schritt - 19. Jahrhundert des Wortes wird in der Jungfrau von Orleans die Macht der Tat entgegengesetzt. Nicht durch Vernunft oder vernünftige Argumente vermag Johanna ihre Mitmenschen von ihrem Sendungsauftrag zu überzeugen, sondern allein, indem sie die Herzen berührt, ihre Rede also affektiv wirkt, am deutlichsten in dieser Burgund-Szene, oder indem sie eben durch Taten überzeugt. Durch sein Herz fühlt Burgund beglaubigt, dass Johanna tatsächlich „die Gottgesandte“ (V. 1764) ist, als die sie sich bezeichnet. Nach seiner Konversion zeigt Johanna erstmals menschliche Züge, sie umschlingt Burgund „mit leidenschaftlichem Ungestüm“ (Regieanweisung nach V. 1811). Mit dieser affektiven Regung macht sie deutlich, dass sie ein Mensch ist und als solcher in der Geschlechterordnung steht. Alle Versuche, dies zu leugnen, werden von nun an das tragische Geschehen erheblich beschleunigen. Das eigentliche Problem Johannas, der Beginn ihrer Bestimmung zum Tode und damit der heimliche Höhepunkt im Stück, liegt im dritten Akt, als sie vom männlichen Begehren kolonisiert wird. Zwar hat sie schon in ihrem Dorf die Anträge des Bauern Raimond drei Jahre lang erfolgreich abgewehrt, doch nun versuchen Dünois und Lionel sie als Braut zu gewinnen. Aber Johanna wehrt sich entschieden dagegen. Damit wird deutlich, dass in der Ablehnung der Geschlechtsidentität der Grund für ihren sozialen und politischen Fall zu sehen ist, sie will Jungfrau bleiben. Das biologische und das kulturelle Geschlecht sowie die Erwartungen, die daran geknüpft sind, kollidieren miteinander. Zugleich verschiebt sich aber auch die Legitimation von Johannas militärischem Auftreten, ihrem Sendungsauftrag. Galt bislang, dass sie so lange kämpfe, bis König Karl wieder rechtmäßig im Amt sei, so beschwört sie nun die Einheit des Landes, sie kämpfe, bis der letzte Engländer aus dem Land vertrieben sei. Das Ziel der politischen Einigung wird sukzessive ersetzt durch ein Ziel militärischen Interesses. An diese Szenen schließt sich unmittelbar Johannas Begegnung mit dem schwarzen Ritter an. Dieser tritt mit dem Auftrag auf, sie vor den Folgen der Hybris zu warnen. Johannas Prozess der Vermenschlichung, der wiederum unabdingbare Voraussetzung für ihre Apotheose ist-- denn nur, was menschlich ist, kann vergöttlicht werden--, wird besonders in diesem dritten Akt deutlich, der mit Dünois’ Bekenntnis seiner Liebe zu Johanna eingeleitet wird. König Karl, der als Landesvater in der Ordnung der Vaterautoritäten unter der Autorität von Gottvater an zweiter Stelle steht, reklamiert nun die Vaterautorität des eigentlichen Familienvaters. Auch er will, wie schon ihr leiblicher Vater zu Beginn des Stücks, in völliger Verkennung der Situation Johanna mit Dünois verheiraten und ahnt dabei nicht, dass er damit Johannas Geschlechtervertrag <?page no="146"?> 145 verletzt. Dieser symbolische Vertrag besteht darin, dass Johanna ihr Begehren negiert und sexuell unschuldig bleibt, um so dem Anspruch politisch-militärischer Führung gerecht werden zu können. Johanna wiederholt den Inhalt des Vertrags: Berufen bin ich zu ganz anderm Werk, Die reine Jungfrau nur kann es vollenden. Ich bin die Kriegerin des höchsten Gottes, Und keinem Manne kann ich Gattin sein. (V. 2201 ff.) Der Erzbischof allerdings beruft sich auf die natürliche Ordnung der Geschlechter und mahnt Johanna zu einer Paarbeziehung. Unverkennbar erweist sich der Geschlechterkonflikt zunehmend als die eigentliche Sollbruchstelle des dramatischen Geschehens, aus dem heraus der tragische Knoten geschürzt wird. Johanna verwahrt sich dagegen, sie als Frau in die anthropologische Ordnung von Macht und Gehorsam einbinden zu wollen: „Der Männer Auge schon, das mich begehrt, / Ist mir ein Grauen und Entheiligung“ (V. 2263 f.). Die eigentliche Versuchung, die durchaus auch als eine profane Parallele zur Versuchung Christi in der Wüste gelesen werden kann, erfährt Johanna in dieser Begegnung mit dem schwarzen Ritter. Zugleich ist dies aber auch eine der rätselhaftesten Szenen in Schillers Werk. In III / 9 tritt dieser namenlose Ritter in schwarzer Rüstung und mit geschlossenem Visier auf, er wird von Johanna verfolgt. Bei der Deutung dieser Figur kann man sich auf eine Äußerung Schillers aus dem Jahr 1801 stützen, die 1838 durch die Mitteilung von Karl August Böttiger (1760-1835) in Umlauf kommt: Der schwarze Ritter soll dazu dienen, um mit einem neuen Band an die romantische Geisterwelt zu knüpfen, da hier immer zwei Welten miteinander spielen. Eigentlich dachte sich Schiller den Geist des kurz vorher verschiedenen, als Atheist der Hölle zugehörigen, Talbot. Immer sind die Menschen auf der höchsten Spitze stehend gefallen. Das widerfährt von dieser Scene an auch der Johanna (Schiller: Frankfurter Ausgabe Bd. 5, S. 656). Im Figurenverzeichnis spricht Schiller lediglich von der „Erscheinung eines schwarzen Ritters“. Deshalb bleibt es offen, ob Schiller diese Figur tatsächlich als gespensterhafte Erscheinung oder als reale Figur inszeniert sehen will, wie dies ja auch das Versinken bei seinem Abgang offenlässt. Donnerschlag, Nacht und Blitz, die den Abgang des Ritters begleiten, müssen nicht notwendigerweise in Analogie zum Donnerschlag in der Kathedrale zu Reims gesetzt werden (vgl. Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="147"?> 146 6. Schritt - 19. Jahrhundert IV / 11), der dort zweifelsfrei die Bedeutung eines göttlichen Zeichens annimmt. Auch ist dies kein ausschließliches und spezifisch romantisches Attribut des Textes wie in V / 1, als die Donnerschläge im wilden dunklen Wald Johannas Weg zu den Köhlerhütten in Dunkelheit, heftigem Blitzen, Stürmen und Donnern flankieren. Der englische, also gegnerische Feldherr Talbot misstraut der Rede von Johanna als einer Gottgesandten, die übernatürliche Fähigkeiten besitze und siegreich das Heer der Franzosen anführe, er bezeichnet das als Gerede, als grobes Gaukelspiel (vgl. V. 2336). In Wahrheit sei die Überlegenheit Johannas Ausdruck der eigenen „Dummheit“ (V. 2319) seiner Soldaten. Talbot nennt Johanna im Laufe seiner wenigen Auftritte unter anderem „Furchtbild der erschreckten Einbildung“ (V. 1469) und „jungfräulichen Teufel“ (V. 1480). Er bezeichnet sie als „eine Gauklerin, die die gelernte Rolle / Der Heldin spielt“ (V. 1546 f.). Talbot vermag in Johanna keine satanische Erscheinung zu sehen. Was die anderen Soldaten Teufel nennen, sei der „Teufel unsrer Narrheit“ (V. 1247). Er versucht also, über die Strategien der Diffamierung und Dämonisierung der Frau zu einer analytischen Vernunfterklärung zu gelangen und Johanna als Fantasieprodukt auszuweisen. Wenn nun Talbot als Repräsentant der Aufklärung gelesen und der schwarze Ritter als dessen Geisterscheinung interpretiert werden, dann lässt das die symbolische Deutung zu, dass die Aufklärung in der Figuration Talbots zwar untergeht, sich aber in der Romantik in der Figuration des schwarzen Ritters fortsetzt. Diesen literaturgeschichtlichen Epochenumbruch kann man am Textverlauf verfolgen. In Szene III / 7 stirbt Talbot, in III / 9 erscheint der schwarze Ritter und in III / 10 ist die Peripetie des Stücks, der klassische Umschlagpunkt vom Glück ins Unglück, erreicht, wie ihn Aristoteles im elften Kapitel seiner Poetik beschreibt. Zugleich fällt die Peripetie mit einer Variante der klassischen Anagnorisis (Wiedererkennung) zusammen. Johanna erkennt nämlich, dass sie durchaus menschlich ist. Sie verliebt sich in den Engländer Lionel und gefährdet damit ihren Sendungsauftrag oder zumindest ihr starkes Sendungsbewusstsein. Ebenso lässt sich aber auch mit guten Argumenten im schwarzen Ritter Johannas ins Übersinnliche transponiertes Sendungsbewusstsein erkennen, triebtheoretisch gewendet kann die Figur als Ergebnis ihrer extremen Verdrängungsleistung gedacht werden oder man sieht in ihr die Verkörperung von Johannas Berufungsgeist- - letztendlich bleibt es wohl eine Gemengelage unterschiedlicher Motivationen der interagierenden Figuren. Die Farbe Schwarz des Ritters jedenfalls dient der plakativen Kontrastierung zur weißen Farbe von Johannas Fahne (vgl. V. 1157). Zudem ist Weiß die Farbe der Unschuld und Jung- <?page no="148"?> 147 fräulichkeit, während Schwarz als die Farbe der Bedrohung und des Todes gilt. Außerdem sind es nur zwei Figuren, die schwarz gekleidet im Text auftreten, wodurch nochmals die Bedeutung der Szene mit dem schwarzen Ritter betont wird. In IV / 8 tritt Johannas Vater wie der schwarze Ritter, nämlich „schwarz gekleidet“ (Regieanweisung vor V. 2829), auf. Johanna stellt dem schwarzen Ritter die Frage, die sie selbst unentwegt hört, „wer bist du? “ (V. 2414) Darin kommt das ungläubige Staunen darüber zum Ausdruck, dass die Erscheinung rational nicht zu fassen ist. Sie verlangt von dem Ritter, was sie selbst am Ende verweigert, nämlich er solle reden. Der schwarze Ritter aber gehört zu den Unsterblichen, er vermag mit einer Handberührung Johanna unbeweglich zu machen und fordert sie auf, nur Sterbliche zu töten (vgl. V. 2445). Auch in der darauf folgenden Szene erstarrt sie, als sie Lionel anblickt und sich verliebt. Und in jener Diffamierungsszene im vierten Akt ist insgesamt viermal in den Regieanweisungen die Rede davon, dass Johanna unbeweglich steht und auf die Vorwürfe, sie sei im Bund mit dem Teufel, nicht antwortet. Mit Johannas Unbeweglichkeit als Körperreaktion und psychische Reaktion korrespondiert ihre Unbeweglichkeit in der Angelegenheit ihres Auftrags. Sie will ihn zu Ende bringen, wissend, dass dies ihren eigenen Untergang bedeutet. Den schwarzen Ritter erklärt sie sich selbst als ein Bild der Hölle (vgl. V. 2446 f.), sie deutet damit das Phänomen just in der Weise, wie sie selbst von Talbot und anderen gedeutet und dämonisiert wird. In der Szene mit dem schwarzen Ritter vollziehen sich zweierlei entscheidende Änderungen von Johannas Vertrag. Zum einen ändert Johanna ihr politisches Ziel, denn nun heißt ihr oberstes militärisches Gebot nicht mehr die Krönung König Karls, sondern die restlose Vertreibung der Engländer aus Frankreich (vgl. V. 2433). Zum anderen geht sie aus der Begegnung mit der übermenschlichen Erscheinung des schwarzen Ritters selbst als Mensch hervor, sie kann von nun an nicht länger ihr Begehren negieren. Als Johanna in der darauffolgenden Szene III / 10 wild und entschlossen mit Lionel ficht, schlägt sie ihm das Schwert aus der Hand, ringt mit ihm und reißt ihm den Helm vom Kopf. In dem Moment, wo sie ihm ins Gesicht blickt, wird sie wieder von einer Unbeweglichkeit erfasst und erfährt eine Tötungshemmung. Johanna ist also nicht grundsätzlich unempfänglich für das Begehren. Sie fordert Lionel auf zu fliehen, ja sogar sie selbst zu töten. Sie ist durchaus affizierbar, ihr Herz gewinnt die Macht über ihren Willen, Pflicht und Neigung liegen so sehr im Widerstreit, dass die Sinnlichkeit über die Sittlichkeit, der Trieb über die Vernunft siegt. Erst als sie das Gesicht abwendet, findet Johanna wieder die Kraft, einen Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="149"?> 148 6. Schritt - 19. Jahrhundert weiteren Tötungsversuch zu unternehmen. Doch auch dieser scheitert in dem Augenblick, wo sie Lionel, den Mann und den Feind, anblickt. Raimond gegenüber wird sie später gestehen, dass sie „das Unsterbliche mit Augen / Gesehen“ (V. 3191 f.) habe. Die sinnliche Wahrnehmung siegt über die Vernunftarbeit. Johanna hat sich verliebt, sie erkennt, dass ihr Vorhaben Frankreich zu einen bedroht ist (vgl. V. 2483). Dieses Mal überzeugt sie durch den Verzicht auf Rede und auf Tat. Lionel entreißt ihr schließlich das Schwert. Was als Liebespfand gedacht ist, bedeutet Johannas symbolische Entmachtung und den Beginn ihres Untergangs. Der Eingangsmonolog zum vierten Akt zeigt Johanna schuldbewusst. Ihr Herz, das bislang glühend für König und Vaterland schlug, wird nun zum Ort kritischer Selbstbefragung und zur moralischen Instanz anthropologischer Selbstbestimmung. Nun erkennt auch Johanna selbst den Zusammenhang von Geschlechterordnung und Selbstreflexion. „Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war? “ (V. 2567), fragt sie sich. Sie erkennt, dass Mitleid wesentlich zur Selbstbestimmung gehört. Doch der tragische Knoten ist bereits geschürzt, er kann nicht mehr gelöst werden. Denn angenommen, Johanna verhält sich mitleidsvoll, verstößt sie damit gegen ihren Vertrag und Auftrag. Handelt sie hingegen mitleidslos, muss dies mit der anthropologischen Ordnung der Geschlechter ebenso kollidieren wie mit der politischen Ordnung der Macht. Johanna wird so tatsächlich zu einem „Phantom des Schreckens“ (V. 1478), wie sie Talbot prädiziert hatte. Während der Krönungsfeierlichkeiten in Reims tritt Johannas Vater auf, um sein Kind zu retten. Er beschwört eine väterliche Autorität, die zuvor schon der schwarze Ritter (in III / 9) und Lionel (in III / 10) beansprucht hatten. Der Vater wirft Johanna den Verstoß gegen die göttliche Ordnung vor und ignoriert damit als Einziger im Stück ihren Sendungsanspruch. Sie habe sich von Gott entfernt, ihm sogar abgeschworen und sich der „Teufels Kunst“ (V. 2976) bedient. In Thibaut d’Arc und Johanna prallen zwei konträre Gottesvorstellungen aufeinander, die maßgeblich von den je verschiedenen individuellen Vorstellungen über Geschlechter- und Menschenordnungen geprägt sind. Aufgrund der Anschuldigungen ihres Vaters beginnen auch der König und alle Umstehenden an Johannas objektivem Sendungsauftrag zu zweifeln. Trotz mehrmaligen Befragens bleibt sie stumm und verweigert die Antwort auf die Frage, ob die Anschuldigungen zu Recht vorgebracht würden. Johannas Schwester Louison verlangt ein „Erkenne dich“ (V. 2920) und wiederholt damit unwissend denselben Appell, den Agnes Sorel kurz zuvor vorgetragen <?page no="150"?> 149 hatte: „Erkenne dich, du siehst nichts wirkliches! “ (V. 2739) Die beiden Frauen Louison und Agnes Sorel verlangen also von Johanna, die Wirklichkeit nicht länger mit einem Traum zu verwechseln. Ihr Verlobter Raimond bleibt der einzige Mensch, der Verständnis für sie aufbringt und ihr vertraut. So kommt es zum letzten Wunder als Zeichen von Johannas objektivem Sendungsauftrag. Als der König mit seinen Truppen in weiteren Schlachten eine Niederlage nach der anderen hinnehmen muss, besinnt man sich der militärischen Wunder Johannas und bedauert ihren Weggang. In diesem Moment tritt Raimond auf und berichtet dem königlichen Lager, dass Johanna durch die Königinmutter Isabeau gefangen genommen worden sei. Es kommt zur Schlacht und Johanna gelingt es, ihre dreifachen Ketten zu sprengen und in das Schlachtgeschehen einzugreifen. Wie durch ein Wunder siegen die Franzosen, Johanna hingegen wird tödlich verwundet. Das Stück endet schließlich mit ihrer Apotheose. Die Jungfrau von Orleans stellt keine Flucht in die Geschichte dar, sondern die Geschichte dient als Brennglas, die Konflikte und die Befindlichkeit des gesellschaftlichen Lebens um 1800 zu bündeln und aus der Historie in die Gegenwart zurückzuverweisen. Insofern ist die Frage durchaus berechtigt, ob es sich am Ende des Stücks auch tatsächlich um eine Apotheose Johannas handelt und nicht vielmehr um eine Selbsterhöhung. Unstrittig ist, dass Johanna von der Apotheose Marias berichtet (vgl. V. 1106 ff.) und mit ihrem Bericht, welcher auch der Legitimation ihres eigenen Auftrags dienen soll, bei König Karl, Agnes Sorel, dem Erzbischof und Dünois große Rührung auslöst. Doch während in dieser Szene Schiller über Maria schreibt: „Und goldne Wolken trugen sie hinauf “ (V. 1109), spricht Johanna in der Schlussszene am Ende des Stücks diese Verse: Wie wird mir-- Leichte Wolken heben mich-- Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide. Hinauf-- hinauf-- die Erde flieht zurück-- Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude! (V. 3541 ff.) Während Johanna also subjektiv die Erfahrung macht, in den Himmel gehoben zu werden, gleitet sie objektiv zu Boden. Ihr Körper bleibt erdverhaftet, sie erfährt keine Himmelfahrt, sondern sie „sinkt tot“ (Regieanweisung) nieder und bleibt am Boden liegen. Auch in dieser Szene sind die umstehenden König Karl, Agnes Sorel und der Herzog von Burgund gerührt (vgl. die Regieanweisung), diesmal allerdings sprachlos gerührt. Johanna werde sich verklären, hatte ihr die Muttergottes im Prolog verheißen, und vom „verklärte[n] Geist“ (V. 3515) Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="151"?> 150 6. Schritt - 19. Jahrhundert Johannas spricht auch König Karl in der Schlussszene. Dieser Aspekt der Verklärung eröffnet eine kontroverse Debatte darüber, ob die Jungfrau von Orleans Johanna tatsächlich einen objektiven Sendungsauftrag erhalten hat oder ihr nur ein subjektives Sendungsbewusstsein zugestanden werden kann. Vom Text her gesehen muss diese Entscheidung offen bleiben, zu komplex ist das Gebilde einer „reinen Tragödie“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 30, S. 173), wie Schiller die Jungfrau von Orleans genannt hat. Zu dieser Komplexität gehört, dass das Stück als ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Weimarer Klassik und Romantik gelesen werden kann. So gesehen führt Schillers Drama einen feinsinnigen, gleichwohl kritischen Dialog mit Positionen der Aufklärung, mit der Kunstautonomie der Weimarer Klassik und mit frühromantischen Kunst- und Literaturtheoremen. Die Jungfrau von Orleans ist also auch eine Epochenmarkierung, die den Dialog mit romantischen Schreibhaltungen sucht, zugleich aber auf Positionen klassischer Programmatik beharrt. Während Schillers Don Karlos den Schritt vom Sturm und Drang zur Weimarer Klassik markiert, vollzieht die Jungfrau von Orleans den Schritt von der Weimarer Klassik zur Romantik, ohne darin vollständig aufzugehen. Anders als Schillers klassische Dramen Wallenstein oder Maria Stuart unterliegt die Jungfrau von Orleans einer grundlegend veränderten dramatischen Konzeption. Der Konflikt, welcher das tragische Potenzial entfaltet, entwickelt sich nicht mehr zwischen Held oder Heldin und Gegenspieler oder Gegenspielerin. In der Jungfrau von Orleans ist diese dramatische Konstellation in die Hauptfigur selbst hineingelegt, Johanna trägt den tragischen Konflikt in sich aus. Insofern sucht man in diesem Stück vergeblich nach der Klarheit eines Geschichtsdramas oder dem Mystizismus eines religiösen Festspiels. Die Jungfrau von Orleans ist eine deutliche Absage an solche Deutungsversuche, denen es ausschließlich um eine religiöse Transzendenz oder um eine geschichtliche Immanenz des Textes geht. Johanna ist trotz der geschichtlichen Realien, die Schiller natürlich integriert, kein historisches Abbild, sondern eine künstliche Projektionsfigur, sie ist ebenso überzeichnet, wie es die Pathos geladene Sprache des Dramas ist. Aber diese Überzeichnung ist bei Schiller Programm, sie dient als Bedeutungsträger für die Darstellung der dramatischen Absicht. Johanna ist auch keine heldenhafte Rebellin, die gegen Feudalaristokratie und Herrschaftswillkür kämpft und eine Zeit lang politische Akzeptanz erfährt. Das Drama ist eher ein Stück des Widerspruchs, ein Stück, das Widerspruch produziert und Widersprüche transportiert. Johanna unterliegt einem göttlichen Auftrag, der als solcher vom Text her aber undeutlich und das bedeutet nur durch Johanna <?page no="152"?> 151 selbst vermittelt bleibt, er ist nicht als objektive Tatsache autorisiert. Deshalb sollte zwischen Johannas Sendungsauftrag und ihrem Sendungsbewusstsein unterschieden werden. In der Jungfrau von Orleans werden Bewusstseinsformen vorgestellt, die nicht nach Richtigkeit und Wahrheit befragt werden können, sondern nach Echtheit und Ernsthaftigkeit. Entscheidend ist nicht, ob Johanna tatsächlich einen göttlichen Auftrag zu erfüllen hatte, sondern ausschlaggebend ist, dass sie handelt und spricht im Bewusstsein der Tatsächlichkeit dieses Auftrags. Schiller geht es um die Darstellung eines mit allen Schwächen behafteten Menschen. Nicht von ungefähr rückt der Autor in den Mittelpunkt der poetischen Motivik seiner Tragödie einen zentralen Begriff der Empfindsamkeit, denjenigen des Herzens. In seinem berühmten Brief an den Verleger Georg Joachim Göschen (1752-1828) vom 10. Februar 1802 bemerkt Schiller: „Wie angenehm war es mir, mein lieber Freund, was Sie mir über meine Jungfrau von Orleans schrieben. Dieses Stück floß aus dem Herzen und zu dem Herzen sollte es auch sprechen. Aber dazu gehört, daß man auch ein Herz habe und das ist leider nicht überal der Fall“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 31, S. 101). Dieser Absicht, bei Lesern und Zuschauern Affekte zu erregen-- Schiller schreibt über die spezifischen Regularien der Affekterregung unter anderem in seiner Schrift Über die tragische Kunst (1792) Näheres--, kommt Johannas komplexer Charakter entgegen. Ihm wohnt ein Wille zur Macht und nationaler Chauvinismus ebenso inne wie religiöse Inbrunst und der Glaube, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Schillers Johanna kennt aber-- im Unterschied etwa zur historischen Jeanne d’Arc-- keine Tötungshemmung. Vielmehr besteht für sie ein direkter Zusammenhang zwischen Tötungsgebot und Liebesverbot. „Tödlich ist’s, der Jungfrau zu begegnen“ (V. 1597), sagt sie zu Montgomery und verweigert kurz darauf ihre Geschlechtsidentität: „Nenne mich nicht Weib“ (V. 1609), und „schließ ich mich an kein Geschlecht / Der Menschen an“ (V. 1610 f.). Der Psychomachie in Johannas Innerem, dem „Streit in meiner Brust“ (V. 3172), in der sich nach Raimonds Worten ein männliches Herz verschließt (vgl. V. 196), entspricht der reale Kampf auf dem Schlachtfeld. Die Inszenierung von äußerlicher, historischer Gewalt korreliert mit der binnenperspektivischen Gewalt, dem Seelenkampf der Hauptfigur. Denn Schillers Johanna versteht sich als „Seherin und Gott- / Gesendete Prophetin“ (V. 989 f., vgl. auch V. 1764), die notwendigerweise mit den Bedingungen von Mensch und Gesellschaft zusammenstoßen muss. Johanna ist aber nicht nur die schweigende Dulderin, die im Bewusstsein der Rechtmäßigkeit ihrer Sendung handelt. Sie wird von Schiller auch als leidenschaftliche Frau Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="153"?> 152 6. Schritt - 19. Jahrhundert charakterisiert. „Mit leidenschaftlichem Ungestüm“ (Regieanweisung nach V. 1811) umarmt sie den Herzog von Burgund, an anderer Stelle begleitet sie den teichoskopischen Bericht eines Soldaten „mit leidenschaftlichen Bewegungen“ (Regieanweisung vor V. 3459). Johanna ist also Mensch, sie ist Frau, doch muss sie um des Bewusstseins ihrer Sendung willen ihre menschliche, ihre gesellschaftliche und ihre geschlechtliche Identität verleugnen. Schiller inszeniert damit in historischem Rahmen auch einen klassischen Rollenkonflikt. In den Regieanweisungen wird immer wieder die ausgesprochen starke Körper- und Gefühlsdynamik hervorgehoben. Umso krasser rückt diese Dynamik Johannas Unbeweglichkeit ins Licht. Die innere Erstarrung ist Ausdruck der verlorenen Identität. Schiller zeichnet also einen Frauencharakter, der nicht mehr in allen Punkten dem Bild der selbstdisziplinierten Frau des bürgerlichen Trauerspiels und der bürgerlichen Gesellschaft entspricht. Nach der Begegnung mit dem schwarzen Ritter und daran anschließend mit Lionel fühlt sich Johanna „verwandelt und gewendet“ (V. 2536), sie gesteht sich in IV / 1 sogar ihre Liebe ein. War bislang der Traum in Gestalt ihrer Prophezeiungen für Johanna Wirklichkeit, so wird nun die Wirklichkeit für sie „Traum“ (V. 2861). „War das alles nur / Ein langer Traum und ich bin aufgewacht? “ (V. 2905 f.), fragt sie sich. Auch wenige Augenblicke vor ihrem Tod wird sie die Frage stellen: „Wo bin ich? “ (V. 3519) Traum und Wirklichkeit nähern sich bereits einem Mischungsverhältnis, das literaturhistorisch gesehen Merkmal romantischer Literatur ist. Johanna versucht eine anthropologische Negation und scheitert daran. Sie negiert ihre Geschlechtsidentität und ihre Menschlichkeit, sie begreift sich selbst so lange als geschlechtslos, bis das Begehren in der Lionel-Szene sie zur Verletzung ihres Gelübdes zwingt. Das macht deutlich, dass ein Verstoß gegen die Geschlechterordnung als ein Verstoß gegen die politisch-gesellschaftliche Ordnung gewertet wird. Das tragische Geschehen entwickelt sich aus dem Versuch heraus, das Begehren auszulöschen und damit die Geschlechterordnung, die von Johannas Mitfiguren als natürliche Ordnung erfahren wird, umzuschreiben und die anthropologische Selbstbestimmung ebenso zu leugnen wie die Geschlechterdifferenz. Durch den Verzicht auf Mitleid als einer zentralen anthropologischen Kategorie im Selbstverständnis der Aufklärung verzichtet Johanna auf ihr Menschsein und leugnet ihr Frausein (vgl. V. 2568 f. Welche narrativen Möglichkeiten es gibt, die historische Johanna als Figur der Gegenwart zu begreifen, zeigt Felicitas Hoppe in ihrem Roman Johanna, Frankfurt a. M. 2006). Die Figur der Johanna veranschaulicht also, welche tragischen Konflikte entstehen können, wenn des Menschen Wille ebenso aufgehoben <?page no="154"?> 153 wird wie seine Identität als Geschlechtswesen. Darin liegt ihr exemplarischer Charakter als einem Musterstück der Weimarer Klassik. Textgrundlage: Friedrich Schiller: Klassische Dramen. Maria Stuart, Die Jungfrau von Orleans, Die Braut von Messina, Wilhelm Tell. Hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Frankfurt a. M. 2008. Lektüreempfehlungen: Lyrik des 19. Jahrhunderts (u. a. Schiller, Goethe, Achim von Arnim / Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn, Novalis, Joseph von Eichendorff, Wilhelm Müller) Friedrich Schiller: Wilhelm Tell (1804) Jean Paul: Flegeljahre (1804 / 05) Heinrich von Kleist: Amphitryon (1807), Der zerbrochne Krug (1808), Michael Kohlhaas (1810) Johann Wolfgang Goethe: Faust I u. II (1808 u. 1832), Wahlverwandtschaften (1809) Einführende wissenschaftliche Literatur: Schiller-Handbuch. Leben-- Werk-- Wirkung. Hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit v. Grit Dommes. Stuttgart 2005. Volker C. Dörr: Weimarer Klassik. Paderborn 2007. Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Überarbeitet v. Manuela Runge. Neuausgabe. Weinheim 1998. Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="156"?> 7. Schritt - 19. Jahrhundert B iedermeierzeit : Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) Das Jahr 1804 ist in vielerlei Hinsicht ein symbolträchtiges Jahr für die deutsche Literaturgeschichte. Zum einen ist es Kants Todesjahr, zum anderen wird Eduard Mörike (1804-1875) geboren, das populärste Drama der Weimarer Klassik, Friedrich Schillers (1759-1805) Wilhelm Tell, wird uraufgeführt und einer der Stiftungstexte der literarischen Romantik, nämlich August Klingemanns Nachtwachen des Bonaventura, erscheinen. Der Begriff der schwäbischen Romantik hat sich eingebürgert, er ist mit den Namen Justinus Kerner (1786-1862), Wilhelm Hauff (1802-1827), Gustav Schwab (1792-1850) und Ludwig Uhland (1787-1862) verknüpft. Eduard Mörike bewundert die Repräsentanten der Weimarer Klassik Schiller und Goethe, er steht als Dichter aber zwischen Klassik und Romantik, er ist weder Vertreter der einen noch der anderen literaturgeschichtlichen Periode. Mörike ist neben Friedrich Hölderlin (1770-1843) ein durchaus eigenständiger Vertreter einer schwäbischen Literatur. Wenn man Mörikes Dichtung allerdings in den Kontext des Biedermeiers stellt, dann wird er einer der zentralen Repräsentanten dieser literaturgeschichtlichen Periode. Biedermeier ist ein Sammelbegriff, der als Epochen- oder Periodenbegriff für die Zeit zwischen 1815 und 1848 gebraucht werden kann und der mit Begriffen wie Restauration oder Frührealismus konkurriert. Wenige historische Daten machen deutlich, wie der Biedermeierbegriff kontextualisiert ist. Im Jahr 1815 wird auf dem Wiener Kongress die alte politische Ordnung wiederhergestellt. Restauration ist ein dafür gewonnener zeitgenössischer Begriff. Nach dem Attentat auf den Theaterschriftsteller und Schauspieler August von Kotzebue (1761-1819) fasst im September 1819 der deutsche Bundestag in Frankfurt die Karlsbader Beschlüsse mit ihrer Einschränkung der Pressefreiheit, mit Berufsverboten und mit Zensurmaßnahmen. 1830 ereignet sich in Paris die Julirevolution und ab 1848 in Wien und Berlin die sogenannte Märzrevolution. In der Zeit zwischen 1830 und 1840 sind die Literaten des Jungen Deutschland tätig: Karl Gutzkow (1811-1878), Heinrich Laube (1806-1884), Ludolf Wienbarg (1802-1872), Theodor Mundt (1808-1861), Ludwig Börne (1786-1837) und <?page no="157"?> 156 7. Schritt - 19. Jahrhundert Heinrich Heine (1797-1856), deren Schriften ab 1835 aber verboten werden. Die Jahre bis 1848 bezeichnet man als Vormärz. Zu den bekannteren Autoren dieser Periode zählen Georg Herwegh (1817-1875), August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874), Ferdinand Freiligrath (1810-1876), Georg Büchner (1813-1837) und Christian Dietrich Grabbe (1801-1836). Der Begriff des Biedermeier beinhaltet einen literaturgeschichtlichen und epochenspezifischen Wert, der in seiner übergreifenden Perspektive der historischen Makrostruktur liegt. Biedermeierzeit umfasst damit Werke der Spätromantik ebenso wie die im eigentlichen Sinn konservativ-biedermeierliche Dichtung, das Wiener Volkstheater ebenso wie das Junge Deutschland, den Vormärz ebenso wie die singulären Autoren Büchner und Heine. Unser heutiges Verständnis von Biedermeier ist stark geprägt von der zeitgenössischen Kritik an Biedermeierdichtern oder Biedermeiertexten. 1847 veröffentlicht der Vormärzliterat Ludwig Pfau (1821-1894) das Gedicht Herr Biedermeier, worin er den Typus des bürgerlichen Biedermeiers verspottet: Schau, dort spaziert Herr Biedermeier Und seine Frau, den Sohn am Arm; Sein Tritt ist sachte wie auf Eier, Sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm. Das ist ein Bürger hochgeachtet, Der geistlich spricht und weltlich trachtet; Er wohnt in jenem schönen Haus Und-- leiht sein Geld auf Wucher aus. […] Gemäßigt stimmt er bei den Wahlen, Denn er mißbilligt allen Streit; Obwohl kein Freund vom Steuerzahlen, Verehrt er sehr die Obrigkeit. Aufs Rathaus und vor Amt gerufen, Zieht er den Hut schon auf den Stufen; Dann aber geht er stolz nach Haus Und-- leiht sein Geld auf Wucher aus. […] O edles Haus! o feine Sitten! Wo jedes Gift im Keim erstickt; Wo nur gepflegt wird und gelitten, <?page no="158"?> 157 Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) Was gern sich duckt und wohl sich schickt. O wahre Bildung ohne Spitzen! Nur der Besitz kann dich besitzen-- Anstand muß sein in Staat und Haus, Sonst-- geht dem Geld der Wucher aus. (Zitiert nach: Der deutsche Vormärz. Texte und Dokumente. Hgg. v. Jost Hermand. Stuttgart 1985, S. 233 f.) Das Wort Biedermeier kann in diesem Sinn als ein Anagramm aus „reime bieder“ gelesen werden. Vor dieser Verniedlichung und Verharmlosung eines auch gesellschaftlichen Begriffs hat aber schon Hermann Hesse (1877-1962) gewarnt. 1912 schreibt er in einer Rezension: Die Biedermeierzeit aber bestand nicht aus lauter Porzellan und ovalen Miniaturporträts, sondern hatte noch ein anderes Gesicht: sie war in aller Hemmnis und Bedrückung voll von einer starken, einheitlichen Sehnsucht, und diese Sehnsucht, die sich damals in Burschenmützen, in Turnerhosen und schwarzrotgoldene Banner verkleidete, hat uns nachher das Revolutionsjahr und das neue Deutschland gebracht. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke Bd. 17, Frankfurt a. M. 2002, S. 71) Die wilhelminische Gesellschaft um 1910 ist konservativ-restaurativ, es wird wieder Mode, sich auf Biedermeierstühle zu setzen, Perlenstickereien zu sammeln und Bücher biedermeierlich binden zu lassen. Natürlich kennzeichnen die Abkehr von der gesellschaftlich-politischen Welt, Themen und Gefühle der Resignation und des Weltschmerzes, das Lebensgefühl der eigenen Epigonenschaft, die Schlagwörter von Harmonie und Ordnung als Leitbegriffe auch biedermeierliche Literatur. Und selbstverständlich treten dazu noch allgemeinere Merkmale biedermeierlicher Weltanschauung wie etwa der Vorrang von Ehe und Familie vor einer undisziplinierten Geschlechtlichkeit. Aber die Literatur der Biedermeierzeit erschöpft sich keineswegs nur darin. Die Gesellschaft des Biedermeier ist eine Standesgesellschaft, man kann von einem kleinbürgerlichen, einem bürgerlichen, einem adlig-höfischen und einem geistlichen Biedermeier sprechen. In formal-ästhetischer Hinsicht bevorzugen die Autoren literarische Kleinformen wie die Idylle, das Märchen und Gelegenheitslyrik. Almanache werden geliebt, die Dichtung ist didaktisch-lyrisch, die Romanliteratur unterhaltend, sie kann das Volkstümliche betonen und sich durch Heimatbezogenheit und Naturliebe auszeichnen. <?page no="159"?> 158 7. Schritt - 19. Jahrhundert Der Autor Mörike hat ein unbeschwertes, geradezu spielerisches Verhältnis zur Gattung Märchen. Okkulte Phänomene interessieren ihn brennend. Eine Zeitlang liest er auch intensiv Bücher zu okkultistischen Themen. Zu dieser grundsätzlichen psychologisch-parapsychologischen Offenheit tritt bei Mörike die wissenschaftliche Neugier. Nachhaltig gefördert wird sie durch Justinus Kerner (1786-1862), den schwäbischen Arzt und Dichter. Mörike sammelt Beobachtungen und stellt sie teilweise Kerner gleichsam als empirische Studien zu okkulten Phänomenen zur Verfügung. Beschreibungen von Geisterscheinungen und Traumdeutungen gehen hier fließend ineinander über. Für Mörike fragt Dichtung bzw. Literatur nach dem Wunderbaren und Unheimlichen im wirklichen Leben, für sie ist das Leben selbst wunderbar und unheimlich zugleich. Allerdings verstöre und erschrecke „die kecke Behandlung des Natürlichen in der Kunst“ (Mörike: Werke und Briefe Bd. 12, S. 46) das Publikum, so schreibt er am 5. Oktober 1833. Darin spiegelt sich der Grundsatz von Mörikes Märchenpoetik. Seine Märchen erschöpfen sich nicht in Volks- oder Hausmärchen. Viel zu kunstvoll sind sie mit poetischen Verfahrensweisen verflochten und machen das Erzählen selbst zum Thema. Mörike entschlackt damit gewissermaßen das romantische Erbe der Märchen, zu denken wäre hier an Novalis ebenso wie an Achim von Arnim (1781-1831), an Friedrich de la Motte Fouqué (1777-1843), Ludwig Tieck und den von Mörike bewunderten E. T. A. Hoffmann (1776-1822). Unter dem Aspekt einer Geschichte der Gattungstypologie Märchen bleibt entscheidend, dass Mörike einen völlig anderen Weg geht als beispielsweise sein biedermeierzeitlicher Dichterkollege Ludwig Uhland. Dieser schreibt ein kleines Gedicht mit dem Titel Das neue Märchen (1816) mit folgendem Wortlaut: Einmal atmen möcht’ ich wieder In dem goldnen Märchenreich, Doch ein strenger Geist der Lieder Fällt mir in die Saiten gleich. Freiheit heißt nun meine Feee [! ], Und mein Ritter heißet Recht. Auf denn, Ritter, und bestehe Kühn der Drachen wild Geschlecht! (Ludwig Uhland: Gesammelte Werke. Hgg. v. Hermann Fischer. Bd. 1. Unveränderter reprographischer Nachdruck der Ausgabe 1892. Darmstadt 1977, S. 78) <?page no="160"?> 159 Bei Mörike heißt es dagegen am Ende seiner Erzählung Das Stuttgarter Hutzelmännlein (1853), „also ist es auch lustig, so man mancherlei lieset“ (Werke in einem Band. Hgg. v. Herbert G. Göpfert. 4., durchgesehene Aufl. München, Wien 1993, S. 898). Und dies markiert den deutlichen Unterschied zum politisch ambitionierten Uhland. Zum mancherlei Lesen gehören nach Mörikes Literaturverständnis eben auch Märchen, deren Erfindung, seine Freiheit zum Dichten, sich Mörike nicht nehmen lässt. Mörikes Werk erfüllt eine Vielzahl biedermeierzeitlicher Kriterien. Seine Ästhetik ist konservativ. So zitiert er in einem Brief vom 26. September 1830 aus Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit (1811 / 14 / 33) und bringt damit sein ästhetisches Bekenntnis zum Ausdruck: „Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspective vor uns entwickelt daliegen“ (Goethe: Weimarer Ausgabe, 1. Abteilung, Bd. 28, S. 213 f.). Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) Die Novelle Mozart auf der Reise nach Prag erscheint 1855 in zwei Teilen in der Juli- und der Augustausgabe des Morgenblatts für gebildete Leser. Eine Buchausgabe wird unmittelbar danach veröffentlicht anlässlich von Mozarts 100. Geburtstag im Jahr 1856. Als Mörike am 6. Mai 1855 das nahezu vollständige Manuskript der Novelle an seinen Verleger Georg von Cotta (1796-1863) schickt, bemerkt er im Begleitbrief dazu: Meine Aufgabe bei dieser Erzählung war, ein kleines Charaktergemälde Mozarts (das erste seiner Art so viel ich weiß) aufzustellen, wobei, mit Zugrundlegung frei erfundener Situationen vorzüglich die heitere Seite zu lebendiger concentrirter Anschauung gebracht werden sollte.- […] Das Büchlein könnte als Vorläufer der im Januar 1856 einfallenden Feier des hundertjährigen GeburtsTags Mozarts betrachtet und angekündigt werden-[…]; und versichern darf ich hier, nie etwas mit mehr Liebe und Sorgfalt gemacht zu haben. (Mörike: Werke und Briefe, Bd. 16, S. 205 f.) Mörike wünscht sich von seinem Publikum Heiterkeit und wehmütige Rührung, das sind Begriffe, mit denen eine biedermeierliche Ästhetik bereits umrissen ist. Das Anliegen des Dichters im Text erweist sich als ein doppeltes. Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) <?page no="161"?> 160 7. Schritt - 19. Jahrhundert Zum einen versucht er eine literarische Charakteristik der Person Mozarts zu liefern, zum anderen führt er in der Novelle einen teils unterschwelligen, teils deutlichen ästhetischen Diskurs über Fragen einer angemessenen Rezeption von Kunst. In diesem Zusammenhang geht es selbstverständlich dann auch um das Verhältnis von Künstler und Gesellschaft. Wem die Sympathien des Autors gelten, ist von Beginn an offensichtlich. Auch die Absicht einer Charakteristik Mozarts enthüllt sich dem Leser schnell. Der Erzählung liegt die Mozart-Biographie von Alexander Oulibicheff Mozart’s Leben (deutsche Übersetzung Stuttgart 1847) zugrunde. Das geht aus den fünf Motti hervor, die der Autor dem Zeitschriftenabdruck seiner Novelle voranstellt. Zwei von ihnen sind der Buchvorlage entnommen, die weiteren sind Goethe-, Shakespeare- und Horaz-Zitate. Diese Motti sind in die heute gebräuchlichen Ausgaben nicht übernommen. Aber auch im Text selbst spielt Mörike auf die Tatsache an, dass sich seine literarische Ausgestaltung auf ein anderes Buch stützt, er spricht in einer Parenthese von „dem unserer Darstellung zugrunde liegenden Bericht“ (S. 62). Mörike ist ein Liebhaber mozartscher Musik, schon als Tübinger Student hat er dessen Kompositionen verehrt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich die literarische Charakteristik der Novelle mit dem hohen Ton der „Bewunderung“ (S. 8) für den Tonkünstler Mozart verbindet. Der historische Rahmen der Novelle ist dünn, worin sich wiederum Mörikes klare Absicht einer Charakteristik spiegelt. Literatur ist kein Ersatznarrativ für Geschichtsschreibung. Der historische Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) ist im Oktober 1787 zusammen mit seiner Frau Constanze (1762-1842) auf der Fahrt von Wien nach Prag. Am Ersten des Monats fährt er ab, am Vierten kommt er an. Anlass der Reise ist die Uraufführung seiner Oper Don Giovanni im Prager Nationaltheater am 29. Oktober 1787 unter Mozarts Dirigat. Im Frühjahr dieses Jahres hatte er erst mit der Komposition begonnen. Mörike begibt sich in die Rolle eines auktorialen Erzählers, der über das Innenleben seiner Figuren bestens Bescheid weiß und die einzelnen kleinen Episoden souverän arrangiert. Die Rahmenhandlung besteht in der Schilderung von Mozarts Reiseaufenthalt in einem kleinen böhmischen Dorf und dem dortigen Schloss des Grafen von Schinzberg. Der erzählerische Tempuswechsel in der Eingangspassage der Novelle schafft eine Gegenwärtigkeit des Erzählten, der auf der inhaltlich-thematischen Seite die Unmittelbarkeit ästhetischer Anschauung korrespondiert. Denn der Leser wird Zeuge, wie einige kleine Melodien und musikalische Ideen Mozarts entstehen. Die Gegenwärtigkeit und <?page no="162"?> 161 Unmittelbarkeit verdichten sich schließlich auf einer dritten, der erzählerischen Ebene, indem der Autor gleichmäßig und regelmäßig das Geschehen kommentiert und mit aktuellen Reflexionen über Momente ästhetischer Erfahrung verknüpft. Diese Ruhe der Gegenwart steht in deutlichem Kontrast zur Eile des Lebens, wie sie Mozart erfährt, und zur Rastlosigkeit des Musikgeschäfts. Die Charakteristik Mozarts durch Mörike fällt sehr differenziert aus. Mörike nennt sie eine „schmerzliche Betrachtung“ (S. 8), weil sie bereits die Ursachen für Mozarts Tod mit einschließt. Mozart ist ein zutiefst empfindsamer Mensch, auf der Suche nach dem Inhalt seines Lebens, unbefriedigt, was seine künstlerische Arbeit betrifft, gesellig bis zur Selbstaufgabe, ohne Maß und Ziel. Dazu kommen Schwermut, Trübsinn und Gram, verbunden mit der Ahnung eines frühen Todes. „Allmittelst geht und rennt und saust das Leben hin-- Herr Gott! bedenkt man’s recht, es möcht einem der Angstschweiß ausbrechen“ (S. 8), klagt der Komponist. Im Wort Angstschweiß ist bereits der Verweis auf den Todesschweiß enthalten. Denn der Erzähler interveniert, nennt Mozarts Reflexionen eine „Selbstanklage“ (S. 8) und weist explizit auf dessen frühes Ende hin. Mörike fügt nun ein knappes Psychogramm Mozarts ein und hebt sein Bedürfnis nach Geselligkeit, seine Depressivität, seine Verschwendungssucht und die prekäre ökonomische Situation hervor. Über die Musik Mozarts heißt es, sie sei die durch Fülle und Tiefe gekennzeichnete „lauterste Schönheit“ (S. 11), ein Begriff, der wenig später entscheidend kontrastiert wird. Der Gedanke zu sterben verfolgt ihn „wie eine endlose Schraube“ (S. 12). Die Naturstimmung und das religiöse Gefühl werden durch ein mechanisches Bild abgelöst. Die Kutsche nähert sich dem Schloss des Grafen von Schinzberg und dem dazugehörigen Dorf- - übrigens einem historisch nicht verbürgten Ort und Namen. Die Mozarts steigen im einzigen Gasthof ab, Frau Konstanze-- so die Schreibweise Mörikes- - zieht sich zurück und der Komponist erkundet den gräflichen Schlossgarten. Damit beginnt ein zweiter Teil der Novelle, der nun in Kontrast zum ersten gebracht wird. Mozart geht den kurzen Weg, also zielgerichtet und ohne Umschweife, in den gräflichen Garten. Zuvor im Tannenwald gab es keinen Weg und Mozart ließ sich treiben, ohne Ziel. Nun säumen hohe und alte Linden den Weg, keine Tannen mehr. Unter der Linde wird gemeinhin nicht nur Recht gesprochen und sie ist nicht nur der Baum der Liebenden, sondern auch der Ort des wahren Schönen und der Dichtung. Die volksmythologische Bedeutung dieses Baums ist vielfältig. Am Ende des Wegs steht das Schloss, das im italienischen Stil gebaut ist und damit im Gegensatz steht zur natürlich gewachsenen Vegetation Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) <?page no="163"?> 162 7. Schritt - 19. Jahrhundert des Waldes, der nicht gepflanzt ist und nicht einem architektonischen Willen unterliegt. Das Schloss ist hell gestrichen, der Wald ist dunkel und finster. Auf verschlungenen Pfaden, die an einen kleinen Irrgarten denken lassen, gelangt Mozart schließlich an einen Brunnen, dessen Rauschen ihm den Weg gewiesen hat. Eine tonlose Naturmusik weist ihm den Weg. Das Rauschen wird zum Geplätscher, Mozart lässt sich auf einer Bank nieder und eine lebensgeschichtliche Erinnerung verknüpft sich mit einer „musikalische[n] Reminiszenz“ (S. 19). Traumverloren betrachtet er eine Pomeranze, berührt sie und hat sie schon gepflückt. Aus der situativen Naturmusik wird eine Melodie („Weise“, ebd.), die er still in sich vernimmt. Die Bitterorange zerschneidet er mit einem Taschenmesser, das standesgemäß einen silbernen Griff hat. Geistesabwesend betrachtet er die beiden Hälften, er „trennt und vereinigt sie wieder“ (S. 20). Das Kulturgut Messer trennt das Naturprodukt Frucht und der Mensch fügt beides wieder zusammen, ohne aber die Trennung restlos überwinden zu können. Was der Mensch zerstört, kann nicht wieder in seinen ursprünglichen Zustand gebracht werden. Das äußere Hören der Naturmusik des Plätscherns und das innere Hören einer Melodie wird nun plötzlich abgelöst durch das Hören menschlicher Schritte. Auch hier ist es also wieder der Mensch, der diesen quasiästhetischen Zustand der inneren Ergriffenheit stört und unterbricht. Zugleich weist das Hören auf die Bedeutung dieser Sinneswahrnehmung für Mozart hin, der Musiker hört, bevor er sieht, und mit dem Hören stellt sich bei ihm ein Schuldgefühl „urplötzlich“ (S. 20) ein. Denn er wird sich bewusst, dass er die Frucht nicht hätte pflücken dürfen, er hat gegen ein Verbot verstoßen. Das Durchschneiden und Öffnen der Frucht, also der Blick in das Innere der Dinge, ist aber nur dadurch möglich gewesen, dass Mozart dieses Verbot übertritt. Nun steht der Gärtner vor ihm als Repräsentant der gräflichen Herrschaft und Ordnung. Mozart legt die Pomeranze auf den Gartentisch, sie ist scheinbar unverletzt, doch die Leser wissen, dass sie kurz zuvor von ihm geteilt worden ist. Auf einer symbolischen Deutungsebene wird hier die Bedeutung des Scheins (in diesem Fall die scheinbare Geschlossenheit und Unversehrtheit der Frucht) und die Nichthintergehbarkeit des menschlichen Wissens befragt. Mozart ist sprachlos, er kann lediglich mimisch mit einem Lächeln reagieren. Der Gärtner aber beurteilt Mozart nach seinem Äußeren, das einen geringen sozialen Status suggeriert. Er verdächtigt Mozart des Diebstahls, genauer des Mundraubs. Doch Mozart weist dies empört zurück, er habe die Frucht weder stehlen noch essen wollen. Der Gärtner antwortet darauf mit schlichtem Pragmatismus, er glaube, was er <?page no="164"?> 163 sehe. Der Leser weiß, was der Gärtner sieht, ist nur Schein, die Frucht ist ja bereits zerschnitten, zerstört und für den Verzehr und Genuss vorbereitet. Genuss bedeutet also, Schönheit zu zerstören und sie wieder zusammenzusetzen. Erst die Auseinanderfaltung des schönen Scheins bewirkt, dass die Schönheit vom Schein entschlackt wird und rein übrigbleibt, gegen den Schein der Geschlossenheit und der natürlichen Vollkommenheit, letztlich also gegen die natürliche Schönheit. Was schön ist, bedarf keines Scheins, keines An-Scheins, es muss nicht etwas vorstellen, was es nicht ist. Und die zerteilte Pomeranze ist eine zerteilte Pomeranze, ohne die Zerteilung wäre die Betrachtung ihres inneren Wesens nicht möglich. Entscheidend ist, dass der Künstler sie hinterher wieder zusammenfügt, so dass sie auf den Nichtkünstler geschlossen wirkt. Auf diese zutiefst biedermeierliche Ästhetik verweist die Novelle explizit an dieser und den späteren Textstellen. Sie nimmt zugleich einen subtilen Dialog mit einem der bekanntesten Mörike-Gedichte und dem wohl bedeutendsten Zeugnis biedermeierzeitlicher Lyrik auf, dem Gedicht Auf eine Lampe: Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht, Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form-- Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. (Mörike: Werke in einem Band, S. 85) In diesem Gedicht kommt Mörikes ästhetische Grundhaltung zum Ausdruck. Das Gedicht ist vor dem 30. November 1846 entstanden, also fast zehn Jahre vor der Mozart-Novelle. Der erste Druck erfolgt am 30. November 1846 im Morgenblatt für gebildete Stände. Auf eine Lampe ist ein Dinggedicht, das in einer Reihe mit Conrad Ferdinand Meyers (1825-1898) Gedicht Der römische Brunnen (1882) oder Rainer Maria Rilkes (1875-1926) Panther-Gedicht (1902 / 03 entstanden) gesehen werden kann. Mörike benötigt stets das konkrete Objekt um zu dichten. Insofern fragt er nach der Konkretion und der Funktion des ästhetischen Gegenstandes, selbst beim scheinbar Alltäglichen und selbst beim scheinbar erhabenen autonomen Kunstgebilde. Mörikes ästhetische Grund- Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) <?page no="165"?> 164 7. Schritt - 19. Jahrhundert haltung kann so gesehen am ehesten als eine Ästhetik beschrieben werden, die nach dem Sitz im Leben fragt. Mörikes Dichtung ist fest verwurzelt in unmittelbaren Lebenserfahrungen oder Lebensbeobachtungen. Und insofern taugt in diesem Zusammenhang auch nicht das auf Karl Philipp Moritz (1756-1793) und seine Schrift Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785) zurückgehende Konzept einer Autonomieästhetik oder Kunstautonomie, das ja der Vorstellung anhängt, dass Kunst unabhängig und unbeeinflussbar sei (deskriptives Verständnis) oder zu sein habe (normatives Verständnis) von gesellschaftlichen, politischen, historischen oder anderen Einwirkungen, Kunst demnach also nicht funktional verstanden werden darf. Drohend ist der Anfang, denn es droht das Ende der Lampe. Sollte hier schon die Lampe ein Symbol für die Kunst sein, dann droht demnach das Ende der Kunst. „Kunstgebild“ bedeutet bei Mörike so viel wie Kunsthandwerk in einem emphatischen Sinne. Kunsthandwerk ist der Kunst ebenbürtig und keine Schwundform derselben. Ein „Lustgemach“ dient der Unterhaltung, das reicht von einem Salon, einem Musikzimmer oder etwas frivoler bis zu einem Schlafgemach, in das man sich zurückziehen konnte. Denn Mörike lässt offen, wer die Bewohner dieses Hauses sind, ob es sich um Bürgerliche oder um Adlige handelt. Im Lustgemach wird ein vergessener Raum besungen, die Abhängung der Deckenleuchte, vielleicht ihre Beseitigung, gar Vernichtung, jedenfalls der Verlust ihrer Funktionsbestimmung steht unmittelbar bevor („noch unverrückt“). So gesehen kann sich das „in ihm“ der letzten Zeile auch auf das „Lustgemach“ beziehen. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist weniger, was Mörike unter dem Wort „schön“ versteht, als vielmehr die, was das Wort „selig“ bedeutet. Das Leuchten der Lampe („scheinen“) ist ein nicht beachtetes Leuchten, das nicht der Indienstnahme durch seine Funktion (eben als Deckenlampe) bedarf. Die Lampe ist ein Schmuck, der auch ohne Beachtung ziert. Er bedarf aber der Funktion, das drückt das einschränkende erste Wort des Gedichts „noch“ aus. Wahre Kunst ist demnach schön und nutzt zugleich. Und das ist das Gegenteil von Kunstautonomie, wie sie die Weimarer Klassik vertritt. Auf eine Lampe ist ein poetologisches Programmgedicht. Schon der Titel zeigt, dass Mörike nicht das Leuchten, das Scheinen oder die Schönheit an sich wählt, sondern das Ding, den Alltagsgegenstand, seinen Gebrauch. Ebenso verfährt Mörike bei der ausführlichen Schilderung des Vorfalls, als sich Mozart in den gräflichen Garten begibt und dort gedankenverloren die Pomeranze von einem Bäumchen pflückt, aber auf frischer Tat ertappt und zur Rede gestellt wird; dieser Vorfall dient dem Erzähler im Nachhinein dazu, eine kleine Episode aus dem Leben Mozarts, die dieser selbst erzählt, während des <?page no="166"?> 165 geselligen Beisammenseins einzuschieben. Zugleich wird der Garten aber auch zu einem symbolischen Ort in weiterer Hinsicht. Als gezähmte Natur steht er in Kontrast zum Tannenwald der Berghänge um das Dorf herum, durch den zuvor Mozart mit seiner Frau einen Spaziergang gemacht hatte. Dort war es die wilde Natur, „die grüne Wildnis“, die „Tannendunkelheit“ und die „Finsternis“ (S. 5), wie es Figur und Erzähler nennen. Zugleich wird aber die erfrischende Kühle gegen die spätsommerliche Glut außerhalb des Waldes und in der Kutsche gesetzt. Erst Mozarts Ausruf „man ist als wie in einer Kirche“ (S. 5), macht die hohen Baumstämme zu Säulen einer Kathedrale. Das quasireligiöse Gefühl von Ergriffenheit oder Spiritualität ist zugleich Vorbedingung für den schöpferischen Akt des Komponierens. Mozart pflückt einen Pilz- - der Beschreibung nach ist es ein Giftpilz, er hat einen hochroten Schirm und weißliche Lamellen. Auf der symbolischen Ebene wird damit bereits das schleichende Ende des Komponistengenies Mozart vorweggenommen. Alles, was er nun noch sagt oder komponiert, sagt oder komponiert er gegen die verbleibende restliche Lebenszeit und in der Ahnung eines frühen Todes. Mozart verspürt die Sehnsucht nach einem anderen Leben, das durch Pflichten und Rücksichten verstellt ist und nicht gelebt wird. Erst die Rückkehr in die Naturkathedrale des Waldes lässt Mozart die Last der gesellschaftlichen Zwänge spüren. Insofern nimmt diese Charakterisierung Mozarts in Anspruch, die unverstellte und nicht-gezähmte Beschreibung seiner wahren Natur zu sein. Mörike korreliert die Beschreibung der äußeren Natur mit der Schilderung der inneren Natur der Hauptfigur. Wie dieses Gleichgewicht von innerer und äußerer Natur in Schieflage gerät, schildert der Autor später, als Mozarts Frau über einen Spaziergang ihres Mannes in Wien berichtet: „Die schöne Ruhe der äußern Natur widersprach seinem innern Zustand“ (S. 51). Schließlich wohnt dem gräflichen Garten aber auch die Referenz auf den biblischen Garten Eden inne (immerhin war Mörike Pfarrer), der Text enthält also auch eine theologische Einschreibung, die übrigens die Mozart-Figur selbst in einem Entschuldigungsbriefchen evoziert, er bezeichnet sich selbst darin als Adam. Demnach ist Mozart aus dem Garten Eden vertrieben und nun nomadisch-ruhelos. Allerdings kennt der Mozart der Erzählung das Verbot nicht, und hierin liegt der entscheidende Unterschied zur biblischen Überlieferung, Mozart ist also im Moment des Unrechttuns unschuldig. Daneben symbolisiert auf der Erzählerebene die Pomeranze bzw. das Pomeranzenbäumchen das alte politische Regime, das sogenannte Ancien Régime des vorrevolutionären Frankreich, das für eine repressive und restaurative Politik steht, deren Früchte Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) <?page no="167"?> 166 7. Schritt - 19. Jahrhundert die Französische Revolution jählings zerschneiden wird, so wie es auch der mozartschen Pomeranze ergeht. Der Erzähler Mörike wird das Bäumchen später als ein „lebendes Symbol der feingeistigen Reize eines beinahe vergötterten Zeitalters“ (S. 40) beschreiben. Darüber hinaus symbolisiert die Frucht aber auch, gekoppelt an Mozarts Erinnerung und die Entstehung einer musikalischen Idee, die Musik und die Kunst schlechthin. Da Mörikes Mozart im Moment des Unrechttuns unschuldig ist, bedeutet das, dass seine Kunst, seine Musik unschuldig ist, da nicht funktionalisierbar. Das ist es, was Mörike mit dem Begriff der reinen Schönheit im Text gleich darauf bezeichnen wird. Mit allen Medien der extensiven Sinneswahrnehmung wird die Teilhabe an der wahren Kunst verknüpft. Hören, Sehen, Fühlen, Schmecken und Riechen kennzeichnen Mozarts Umgang mit der Frucht. Die Pomeranze wird zum Dingsymbol der Verklärung als Haltung ästhetischer Erfahrung. Nur in der wahren Verklärung des Rezipienten zeigt sich die wahre Schönheit wahrer Kunst. Diesem Moment der Urplötzlichkeit sinnlicher Wahrnehmung entspricht Mörikes Forderung an den Zustand der ästhetischen Erfahrung eines Kunstwerks. Der Autor schildert dies am Beispiel des Komponisten, der nach dieser Gartenszene- - nun als der große Musiker und „Wundermann“ (S. 28) erkannt und rehabilitiert- - in geselliger Runde im Schloss eine eigene Komposition am Flügel vorträgt. Danach heißt es im Text: Es war eines jener glänzenden Stücke, worin die reine Schönheit sich einmal, wie aus Laune, freiwillig in den Dienst der Eleganz begibt, so aber, dass sie gleichsam nur verhüllt in diese mehr willkürlich spielenden Formen und hinter eine Menge blendender Lichter versteckt, doch in jeder Bewegung ihren eigensten Adel verrät und ein herrliches Pathos verschwenderisch ausgießt. (S. 27) Der Schönheitsbegriff spielt in Mörikes Novelle eine zentrale Rolle innerhalb des ästhetischen Diskurses. Reine Schönheit oder lauterste Schönheit, wie es an anderer Stelle heißt, sind gekennzeichnet von Tiefe und Fülle. Schon bei der Schilderung von Mozarts Aufenthalt in Neapel und dem rokokohaften Festspiel auf dem Wasser äußert die Mozart-Figur, dass es Dinge gebe, die wegen ihrer reinen Schönheit jenseits der Beschreibungsmöglichkeiten lägen, sie seien „schön über alle Beschreibung“ (S. 34). Diese Ansicht wiederholt der Erzähler später, wenn er schreibt, dass es „Dinge“ gebe, die sich nicht erzählen ließen, die nicht wiederholt werden wollten, „weil eben das, was sie an ihrem Ort unwiderstehlich macht, die allgemein erhöhte Stimmung, der Glanz, die Jovialität des persönlichen Ausdrucks in Wort und Blick fehlt“ (S. 44). Und <?page no="168"?> 167 was jenseits aller Beschreibbarkeit schön ist, löst als Rezeptionshaltung „einen Sturm von Begeisterung“ (S. 34) aus. Gegen Ende der Novelle spricht Mörike gar von eigentümlicher Empfindung, von süßer Bangigkeit, von Ehrfurcht vor der vollendeten Kunst, von Wunder, Rührung und Stolz als jenen Momenten ästhetischer Erfahrung, welche das erhabene Kunstwerk-- auch dies ein Begriff Mörikes-- auslöst und einen „Schauer der ewigen Schönheit“ (S. 61) ahnen lässt. Das ist eine durchaus biedermeierliche konservative Ästhetik, die Mörike da vertritt, da sie an Exponenten gekoppelt ist, die selbst wieder diese Ästhetik bedienen, sie aber nicht erweitern, verändern oder umschreiben. In diesem Sinne ist Mörikes ästhetische Anschauung eine bewahrende, im besten Wortsinn konservative. Schönheit und Empfänglichkeit, vermittelt durch den empfindsamen und zugleich genialen Künstler-- das sind die ästhetischen Koordinaten, innerhalb derer Mörike seine eigenen ästhetischen Anschauungen mit den historisch bedingten der Erzählung zu verbinden sucht. Die Produktionsästhetik, die ausschließlich auf das geniale Werk oder den genialen Künstler abhebt, wird in dieser Novelle zusammengeführt mit einer stark gemachten Rezeptionsästhetik, die nach den Aufnahmebedingungen der Zuschauer, Zuhörer oder Leser fragt. So betont der Erzähler auch anlässlich von Mozarts Klaviervortrag: Die Wirkung eines solchen Vortrags in einem kleinen Kreis wie der gegenwärtige unterscheidet sich natürlicherweise von jedem ähnlichen an einem öffentlichen Orte durch die unendliche Befriedigung, die in der unmittelbaren Berührung mit der Person des Künstlers und seinem Genius innerhalb der häuslichen bekannten Wände liegt. (S. 27) Neu ist diese Überlegung, die auf eine Auratisierung der Kunst hinausläuft, innerhalb der Geschichte der Ästhetik natürlich nicht. Der Mangel dieser Denkfigur besteht darin, dass sie nicht nach den individuellen oder gesellschaftlich-historisch bedingten Voraussetzungen ästhetischer Erfahrung fragt, und darin, dass das Gelingen von Kunst sich keineswegs in der Bestätigung von Kunstgenuss erschöpft. Die Novelle Mozart auf der Reise nach Prag wird zu Mörikes ästhetischem Manifest und erlangt als solches ihren biedermeierlichen repräsentativen Charakter. Darüber hinaus trägt die Erzählung auch Spuren einer Autopoetik, die sich, selbst auslegend und erklärend, hinter der Figur des Künstlers Mozart verbirgt und die man freilegen kann. Der Autor reflektiert im Jahre 1855 ästhetische Grundfragen am Beispiel des für ihn unübertroffenen Künstlers Mozart unter den Bedingungen seiner Epochensignatur. Mörike hat sich damit biedermeierlich konsequent gänzlich freigemacht von allen Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) <?page no="169"?> 168 7. Schritt - 19. Jahrhundert politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Vereinnahmungen. Lebensgeschichtlich und werkgeschichtlich gesehen ist dies zugleich aber auch der Zeitpunkt, an dem Mörike als öffentlicher Dichter verstummt. Zuvor aber gibt Mörike am Schluss der Novelle einen entscheidenden Hinweis und unzweideutigen Wink. Der Text endet nämlich mit einem böhmischen Volkslied, natürlich ist dies eine Fiktion des Dichters, denn das Gedicht Denk es, o Seele! war bis spätestens September 1851 entstanden und 1852 unter dem Titel Grabgedanken veröffentlicht worden und ist als Mörikes eigenes Gedicht in die Novelle eingefügt. Unmittelbar ist damit natürlich das nahe Ende Mozarts gemeint, doch trifft der Grundton selbstverständlich auch das Ende der mit Mozart verknüpften und in der Erzählung durch ihn symbolisierten Kunst. Nicht Kunstlied und Oper, sondern das persönliche, das nur für sich gesungene einfache Lied steht am Ende. Man kann dies als ein Zeichen verstehen, dass Mörike bereits auf den Untergang seiner ästhetischen Anschauung hinweist. Im Augenblick höchsten und reinsten Kunstgenusses ist zugleich auch dessen Ende besiegelt. Das Klavier, an dem Mozart gespielt und die Begeisterungsstürme der geselligen Runde ausgelöst hat, wird von Franziska verschlossen, der Schlüssel gar abgezogen. Die Auratisierung der Kunst erreicht darin ihren Höhepunkt, nun schlägt das im buchstäblichen Sinn Konservative um ins Museale. Wahre und reine Kunst kann von nun an nur noch zelebriert werden als Akt antiquarischer Gesinnung. Darin zeigt sich, dass der Gipfel der Kunst zugleich deren Niedergang ist und der Höhepunkt dieser Kunstauffassung erweist sich nun als deren Ende. Mörike setzt also dem vermeintlichen Rückzug in eine privatistische Kunsthaltung die Dauerhaftigkeit einer auf Öffentlichkeit und Privatheit angelegten Kunst entgegen, wie sie eben das Volkslied beispielhaft vertritt. Textgrundlage: Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Novelle. Anmerkungen v. Karl Pörnbacher. Stuttgart 2014 (=-Reclam UB 4741). Lektüreempfehlungen: Lyrik des 19. Jahrhunderts (u. a. Gedichte von Schiller, Goethe, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff, Wilhelm Müller, Heinrich Heine, Nikolaus Lenau, Georg Herwegh, Ludwig Uhland, Eduard Mörike, Gottfried Keller) <?page no="170"?> 169 Friedrich de la Motte Fouqué: Undine (1811) Jacob u. Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1812 / 15) Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) E. T. A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels (1815 / 16), Der Sandmann (1817) Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl (1817) Franz Grillparzer: Die Ahnfrau (1817), Der arme Spielmann (1847) Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild (1818), Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) Wilhelm Hauff: Märchen (1825 / 27) Heinrich Heine: Reisebilder (1826 / 31), Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) Christian Dietrich Grabbe: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung (1827) Georg Büchner: Dantons Tod (1835), Woyzeck (1836), Lenz (1839) Johann Nestroy: Einen Jux will er sich machen (1842) Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) Friedrich Hebbel: Maria Magdalena (1844) Adalbert Stifter: Bunte Steine (1853) Einführende wissenschaftliche Literatur: Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. 3 Bde. Stuttgart 1971, 1972 u. 1980. Mörike-Handbuch. Leben-- Werk-- Wirkung. Hgg. v. Inge Wild u. Reiner Wild. Stuttgart 2004. Norbert Otto Enke: Einführung in die Literatur des Vormärz. Darmstadt 2005. Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) <?page no="172"?> 8. Schritt - 19. Jahrhundert r eAlismus : Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) Nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 / 49 gegen die politische Restauration bildet sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur eine literaturgeschichtliche Periode aus, die als bürgerlicher Realismus (im Hinblick auf sein Lesepublikum) oder als poetischer Realismus (im Sinne seiner Selbstreferenzialität) bezeichnet wird. Der Begriff Realismus gehört zu den schillerndsten Epochenbegriffen in der deutschen Literaturgeschichte und Literaturgeschichtsschreibung. Er wird zwar zeitgenössisch von den Autoren selbst geprägt, wie das Beispiel Otto Ludwigs zeigt, und als klassifikatorischer Begriff ist Realismus um 1900 auch bereits fest eingeführt. Doch verwendet ihn nahezu jeder Autor anders und in der Folge erfährt er zahlreiche Bestimmungsveränderungen durch die Literaturwissenschaft. Als literaturgeschichtlicher Periodenbegriff umfasst Realismus allgemein die Literatur zwischen 1848 und 1900. Der Schriftsteller Otto Ludwig (1813-1865) erklärt in einem Aufsatz mit dem Titel Der poetische Realismus den Begriff folgendermaßen: Der Begriff des poetischen Realismus fällt keineswegs mit dem Naturalismus zusammen; oder mit dem des naturalistischen Realismus der künstlerische.-[…] Es handelt sich hier von einer Welt, die von der schaffenden Phantasie vermittelt ist, nicht von der gemeinen; sie schafft die Welt noch einmal; keine sogenannte phantastische Welt, d. h. keine zusammenhangslose, im Gegenteil, eine, in der der Zusammenhang sichtbarer ist als in der wirklichen, nicht ein Stück Welt, sondern eine ganze, geschlossene, die alle ihre Bedingungen, alle ihre Folgen in sich selbst hat. So ist es mit ihren Gestalten, deren jede in sich so notwendig zusammenhängt als die in der wirklichen, aber so durchsichtig, daß wir den Zusammenhang sehen, daß sie als Totalitäten vor uns stehen; das Handeln in dieser Welt, so greiflich und anschaulich es ist, es ist ebenfalls zugleich durchsichtig, und wir sehen seinen notwendigen Zusammenhang mit der handelnden Gestalt, wir sehen es aus der Totalität der poetischen Person hervorgehen und ebenso wieder auf die betreffende Totalität einer andern wirken. Es ist eine ganze Welt; in Geschlossenheit so mannigfaltig wie das Stück wirklicher Welt, das wir kennen. Raum und Zeit sind nichts als Rahmen, Stetigkeit des Vorganges und <?page no="173"?> 172 8. Schritt - 19. Jahrhundert Mittel dazu. Die Zeit mißt nicht nach abstrakten Minuten, sondern nach erfüllten Momenten; sie hat das Gesetz der Phantasie und des menschlichen Geistes. Eine Welt, die in der Mitte steht zwischen der objektiven Wahrheit in den Dingen und dem Gesetze, das unser Geist hineinzulegen gedrungen ist, eine Welt, aus dem, was wir von der wirklichen Welt erkennen, durch das in uns wohnende Gesetz wiedergeboren. Eine Welt, in der die Mannigfaltigkeit der Dinge nicht verschwindet, aber durch Harmonie und Kontrast für unsern Geist in Einheit gebracht ist; nur von dem, was dem Falle gleichgültig ist, gereinigt. Ein Stück Welt, solchergestalt zu einer ganzen gemacht, in welcher Notwendigkeit, Einheit nicht allein vorhanden, sondern sichtbar gemacht ist. Der Hauptunterschied des künstlerischen Realismus vom künstlerischen Idealismus ist, daß der Realist seiner wiedergeschaffenen Welt soviel von ihrer Breite und Mannigfaltigkeit läßt, als sich mit der geistigen Einheit vertragen will, wobei diese Einheit selbst zwar vielleicht schwerer, aber dafür weit großartiger ins Auge fällt. Dem Naturalisten ist es mehr um die Mannigfaltigkeit zu tun, dem Idealisten mehr um die Einheit. Diese beiden Richtungen sind einseitig, der künstlerische Realismus vereinigt sie in einer künstlerischen Mitte. (Otto Ludwig: Der poetische Realismus, in: Ders.: Werke, hgg. v. Arthur Eloesser, 4. Tl., [1908], S. 319-322, hier S. 319 f.) Der Begriff des poetischen Realismus hat sich zwar schnell in der Literaturwissenschaft eingebürgert. Allerdings war er von Anfang an nicht unumstritten. So wird nach wie vor die Frage diskutiert, ob es nicht zutreffender wäre, von einem bürgerlichen Realismus zu sprechen, da sich die realistische Literatur in erster Linie an ein großbürgerliches und mittelständisches Lesepublikum wendet. Dieser Begriff betont also das bürgerliche Lesepublikum und bezeichnet zugleich die soziologische Herkunft der Autoren. Heute verzichtet man in der Regel auf eine solche Attribuierung und spricht nur noch allgemein von Realismus. Der Schweizer Gottfried Keller (1819-1890) bringt die Schreibhaltung des Realismus in einem Brief an Berthold Auerbach (1812-1882), den Erfinder des realistischen Erzählgenres Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843), vom 25. Juni 1860 auf den Punkt. Es sei die Pflicht eines Dichters (des Realismus), „nicht nur das Vergangene zu verklären, sondern das Gegenwärtige, die Keime der Zukunft soweit zu verstärken und zu verschönern, daß die Leute noch glauben können, ja, so seien sie und so gehe es zu! “ (www.gottfriedkeller.ch / briefe) Und noch zwei Jahrzehnte später spricht Keller in einem Brief vom 27. Juli 1881 an den populären Novellenschriftsteller und Novellentheoretiker Paul Heyse (1830-1914), nach dem der sogenannte heysesche Falke als Novellentheorem <?page no="174"?> 173 Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) benannt ist, von der „Reichsunmittelbarkeit der Poesie“, worunter er das Recht des Autors versteht, „zu jeder Zeit, auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte, das Fabelmäßige ohne Weiteres anzuknüpfen“ (ebd.). Tatsachenschilderung und realistische Beschreibung bedeuten nicht, dass das Fiktionale auf der Strecke bleiben soll. Realismus ist nicht Dokumentarismus. Poetischer Realismus meint schlicht einen fiktionalen Realismus, der die Wirklichkeit immer noch durch einen ästhetischen Filter beschreibt. Die gesellschaftliche Gegenwart oder Wirklichkeit der Autoren soll nicht kopiert, sondern durch die Literatur verstärkt werden. Realismus ist der Versuch, am Ende des 19. Jahrhunderts die Welt noch einmal geschlossen darzustellen. Der Zerfall von Werten und gesellschaftlicher Ordnung findet seine literarische Wiedergabe in der erzählerischen Geschlossenheit der realistischen Romane und Novellen. Die Autoren des Naturalismus und der frühen klassischen Moderne werden demgegenüber gerade die Zersplitterung der Welt betonen und literarisch darzustellen versuchen. Gottfried Keller schreibt in seinem Roman Der grüne Heinrich (1854 / 55) im vierten Band, Kapitel drei: So gewann nun Heinrich, durch die unmittelbare Anschauung solcher Dinge, erst eine lebendige Liebe zu der Geschichte, wie überhaupt die unmittelbare Kenntniß der Faser und der Textur der Wirklichkeit tiefere, nachhaltigere und fruchtbarere Begeisterung erweckt in allen Übungen als alles abstracte Phantasiren. Und selbst diejenigen, welche nur theilweise Kenntniß genommen haben vom Bestehen dieses organisch-nothwendigen Gewebes, dieser Textur der Dinge, werden dem Ganzen ersprießlicher sein durch die erworbene Fähigkeit, sich alles gewaltsamen Raisonnirens zu enthalten und nicht länger eine ungleichmüthige Verwirrung bald feiger, bald übermüthiger Stimmungen und Forderungen über die Dinge auszugießen, die sie nicht begreifen und die sich doch von selbst verstehen und machen. (Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Nach der ersten Fassung von 1854 / 55 hgg. v. Jörg Drews. Stuttgart 2016, S. 717) Diese unmittelbare Kenntnis der Textur der Wirklichkeit ist es, die den Blick realistischen Erzählens prägt. Der deutschsprachige Realismus entwickelt sich im Vergleich etwa zu seinem französischen Pendant eines Gustave Flaubert (1821-1880) verspätet und weniger radikal in seiner Kritik an Politik und Gesellschaft. Die wichtigsten Autoren sind neben Gottfried Keller und Paul Heyse der Österreicher Adalbert Stifter (1805-1868), der Schweizer Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898), die <?page no="175"?> 174 8. Schritt - 19. Jahrhundert Deutschen Theodor Fontane (1819-1898), Wilhelm Raabe (1831-1910), Theodor Storm (1817-1888) und Otto Ludwig, der mit seinem Buch Zwischen Himmel und Erde (1856) über das Leben von Schieferdeckern einen der zeitgenössisch populärsten Romane des deutschsprachigen Realismus vorlegt. Als der Realismus schon fast vorbei ist, erscheint das wohl wichtigste Werk dieser stilbildenden Periode des 19. Jahrhunderts, der Roman Effi Briest von Theodor Fontane. Der Zeitschriftenabdruck erfolgt in sechs Teilen in der Deutschen Rundschau zwischen Oktober 1894 und März 1895, als Buch wird der Roman sogar erst 1895 veröffentlicht. Realismus zielt nicht darauf, die Wirklichkeit in der Dichtung abzubilden, er verzichtet also auf ein mimetisches Prinzip, wonach für die Dichter nicht die Wirklichkeit, wie sie ist, Inhalt ihrer Beschreibungen ist, sondern sie beschreiben die Wirklichkeit so, wie die Dichter wollen, dass sie gesehen wird. Das bedeutet, diese Wahrnehmung und ihre literarischen Ausdrucksformen sind stets einer individuellen symbolsprachlichen Prägung durch ihre Autoren unterworfen. Auf der anderen Seite sollen nicht utopische oder ideale Gegenstandsbezüge dargestellt werden, sondern Tatsachen. Insofern spielen die in der Romantik so stark favorisierten Märchen- und Traumwelten im Realismus keine Rolle. Das bevorzugte Genre dieser literarischen und literaturgeschichtlichen Strömung ist die Erzählprosa als Roman oder als Novelle. Realismus bedeutet auch nicht, dass Fiktionalität und Wirklichkeit gleichgesetzt werden, dass also die literarische Beschreibung bereits die Wirklichkeit ist. Die Figuren bleiben Buchmenschen, ihre Sprache bleibt eine Literatursprache. Höhepunkt und zugleich Ende des Realismus in der deutschen Literatur ist Fontanes Roman Effi Briest von 1894 / 96. Aber längst ist in der europäischen wie auch in der deutschen Literatur die Epoche der klassischen Moderne angebrochen. Literaturgeschichtliche Strömungen wie der Naturalismus, der Symbolismus, der Jugendstil, die Wiener Moderne, die Berliner Moderne und der Impressionismus bringen zeitgleich zu Fontane ihre charakteristischen und je eigenen Referenzwerke hervor. Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) Zur Vorgeschichte des Romans gehört die sogenannte Ardenne-Affäre, „eine Ehebruchsgeschichte wie hundert andre mehr“ (S. 330), dies schreibt Fontane in einem Brief vom 21. Februar 1896 an seinen Schriftstellerkollegen Friedrich Spielhagen (1829-1911). Fontane nennt ihn seinen „Romancierkonfrater“ (ebd.), <?page no="176"?> 175 der durch zahlreiche Romane und Essays zur Romantheorie bekannt geworden ist und der 1897 in seinem Roman Zum Zeitvertreib ebenfalls die Ardenne-Affäre literarisch verarbeitet. Fontane erklärt in diesem Brief die lebensgeschichtlichen Bezüge der Ardenne-Affäre, die maßgeblich das Grundmuster für seinen Roman geliefert hat. Allein die Worte „Effi, komm“ (S. 330) hätten einen solchen Eindruck auf ihn gemacht, dass er aus dieser Keimzelle heraus die Gesamtstruktur des Romans entwirft. Die Romanfigur des Baron Geert von Innstetten verweist auf den realen preußischen Offizier Baron Armand von Ardenne (1848-1919). Die Figur Effi Briest verweist auf Elisabeth, genannt Else von Ardenne (1853-1952), die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch lebt. Er habe, schreibt Fontane, eher beiläufig Ende der 1880er Jahre von der Geschichte des Ehepaars von Ardenne erzählen gehört. Else heiratet nach anfänglichem Widerstand 1873 von Ardenne. Aus der Ehe gehen zwei Kinder hervor. Während von Ardenne eine rasante militärische Laufbahn einschlägt und Karriere macht, ist Else durch die beruflich bedingten ständigen Umzüge herausgefordert. Erst als ihr Mann im Sommer 1881 in Düsseldorf stationiert wird, entwickelt sich Else zum Mittelpunkt eines geselligen Kreises, der Benrather Runde, genannt nach dem Wohnort der von Ardennes. Dort verkehren Künstler und Kunstsinnige, zu denen gehört auch der Richter Emil Hartwich (1843-1886), der ein enger Freund der Familie wird. 1884 muss diese wieder nach Berlin umziehen. Else bleibt in brieflichem Kontakt mit Hartwich, er gibt ihr Ratschläge, wie eine Trennung von ihrem Mann bewerkstelligt werden könnte. Die beiden planen eine gemeinsame Zukunft. Von Ardenne bringt sich in der Nacht vom 24. auf den 25. November 1886 in den Besitz der Liebesbriefe, stellt seine Frau zur Rede, die wiederum die Liebesbeziehung eingesteht. Von Ardenne, der zu diesem Zeitpunkt Adjutant des preußischen Kriegsministers ist, fordert daraufhin den Liebhaber seiner Frau zum Duell. Hartwich wird tödlich getroffen und stirbt. Da das Duellieren in Preußen strafrechtlich zwar verboten, gesellschaftlich aber durchaus als Teil des Offiziersehrenkodex gefordert ist, wird von Ardenne formell zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Doch bereits nach 18 Tagen wird er durch ein kaiserliches Dekret begnadigt. Im März 1887 wird seine Ehe geschieden, die Kinder werden dem Vater zugesprochen, der 1919 stirbt, während Else von Ardenne hochbetagt bis ins Jahr 1952 lebt. 1890 entsteht eine erste Fassung des Romans, die Fontane zu Beginn des Jahres 1892 überarbeitet. Im Herbst 1893 unterzieht er das Manuskript wieder einer Überarbeitung. Der Vorabdruck des Romans beginnt schließlich im Ok- Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="177"?> 176 8. Schritt - 19. Jahrhundert tober 1894 in der Zeitschrift Deutsche Rundschau. Im März-Heft 1895 erscheint der Schluss des Romans und am 17. Oktober 1895 wird das Buch, vordatiert auf 1896, im Buchhandel ausgeliefert. Die Rezeption ist beeindruckend, das Buch wird fast überall besprochen und durchgehend positiv bewertet. Es scheint vom heutigen Standpunkt aus fast so, als habe man damals gemerkt, dass hier ein Jahrhundertwerk vorgelegt wird, das ein ganzes Zeitalter zu bilanzieren vermag. Der Roman wird ein Bestseller. Effi Briest ist in insgesamt 36 Einzelkapitel gegliedert, die teilweise weiter strukturiert, aber nicht beziffert und nur durch einen Trennstrich optisch markiert sind. Diese 36 Kapitel lassen sich durchaus zu unterschiedlichen Kapitelgruppen zusammenfassen, die die Schwerpunkte und Entwicklung der Romanhandlung erkennen lassen. Die Kapitelgruppe 1 umfasst die Kapitel 1 bis 5 und schildert Effis Elternhaus, den Übergang von ihrer Jugend zum Status einer jungen Braut, der Ort ist Hohen-Cremmen. Kapitelgruppe 2 umfasst die Kapitel 6 bis 14 und stellt den Umzug in das Haus Innstettens in Kessin dar, das Thema Spuk im Haus gewinnt Bedeutung und im 13. Kapitel wird die Bekanntschaft Effis mit Major Crampas beschrieben. Kapitelgruppe 3 umfasst die Kapitel 15 bis 22 mit dem folgenschweren Verhältnis zwischen Effi und Crampas sowie der Inszenierung von Innstettens Angstapparatur. Kapitelgruppe 4 umfasst die Kapitel 23 bis 31 mit Innstettens Fund der Liebesbriefe, dem Duell zwischen Crampas und Innstetten, Crampas’ Tod sowie der brieflichen Trennungsmitteilung an Effi. Und Kapitelgruppe 5 umfasst die Kapitel 32 bis 36, drei Jahre sind vergangen, Effi kehrt in ihr Elternhaus zurück, wo sie schließlich auch stirbt und begraben wird. In Kapitel 1 wird bereits eine Textur von Bezügen und symbolsprachlichen Verweisen entworfen, die bis zum Ende des Romans Gültigkeit besitzt. Diese Verweise sind oft in eine Sprecherrolle eingebunden und gelten Effi als Adressatin. So sagt beispielsweise schon in der Eingangsszene ihre Mutter zu ihr: „Effi, eigentlich“ (S. 7). Damit wird deutlich, dass Effi Briest im Modus der Uneigentlichkeit lebt, Uneigentlichkeit ist ihre charakteristische Lebensform. Ihr wird es verwehrt, eine eigene Identität auszubilden und ihre eigentliche Lebensform zu finden. Das Buch beginnt damit, dass sie als Frau genötigt wird, einen Lebenskompromiss einzugehen, indem sie einen Mann heiraten muss, den sie nicht liebt und den sie zudem auch gar nicht heiraten will. Aber aus Sicht der Gesellschaft, die unter anderem durch ihre Eltern repräsentiert wird, dient eine Heirat dazu, den gesellschaftlichen Status zu sichern. Status und Sozialprestige sind die beiden Leitplanken, zwischen denen sich Effi von <?page no="178"?> 177 nun an orientieren muss. Damit sind zwei große Themenhorizonte eröffnet, vor denen sich der Text bewegt. Einmal ist das die Gesellschaftskritik, zum anderen die Genderkritik. Das wiederum verweist allgemein auf Uneigentlichkeit als Lebensmodus von Mädchen und Frauen und Uneigentlichkeit als Lebensform der gesellschaftlichen Eliten der bürgerlichen Gesellschaft des Kaiserreichs. Dabei geht es nicht darum, welche Partei oder Position der Autor Fontane ergreift, sondern der Text liefert diese beiden Diskurse unmissverständlich und zwingt somit die Leserinnen und Leser Stellung zu beziehen, zu reflektieren und zu urteilen. Da diese beiden Themen als Generalthemen der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, zumindest der Gesellschaft nach Beginn der Industrialisierung (nach dem Wiener Kongress 1815 mit seiner restaurativen Neuordnung Europas) oder, wenn man es historisch enger fassen will, nach Gründung des Kaiserreichs (1871) vorgestellt werden, gewinnt der Roman Epochencharakter. Effis eigentliche Lebensweise ist die Uneigentlichkeit des Beinahe, ihre Eigentlichkeit also das Beinahe. Zugleich ist Uneigentlichkeit die Lebensform der bürgerlichen Mitte wie auch der gesellschaftlichen Elite, daran lässt der Roman keinen Zweifel. Jede Figur würde eigentlich gerne ein anderes Leben führen. Effis Uneigentlichkeit ist das Beinahe, es zerfährt ihre Identität, verhindert, dass sie sich selbst konstituiert als gesellschaftliches Individuum. Ob ihre Affäre mit Crampas als Beleg dafür gelten kann, dass sie ihre Geschlechtsidentität findet, darf bezweifelt werden, denn sie muss sich letztlich den Zwängen ihres Mannes und den gesellschaftlichen Konventionen beugen, denen sich sogar ihre Eltern vorübergehend unterwerfen. Der Roman wird durch eine Art diskursive Klammer zusammengehalten, die im ersten Kapitel beginnt und im 34. Kapitel endet. Die Person, die diese Klammer öffnet und damit ihre Bedeutung und Autorität für Effi unterstreicht, ist die Mutter. Ihre ersten Worte im Roman sind an Effi gerichtet, sie kommentiert damit die Wildheit ihrer Tochter: „Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich“ (S. 7). Gegen Romanende hin bilanziert Effi selbst ihr eigenes Leben mit den Worten „ich kann eigentlich von vielem in meinem Leben sagen ‚beinah‘“ (S. 310). Und so ist denn auch das ‚eigentliche‘ Thema des Romans nicht der Ehebruch-- der als solcher auch gar nicht geschildert wird, sondern allenfalls zu mutmaßen oder über die symbolische Bedeutungsebene des Romans zu decodieren ist-- und dessen moralische und religiöse Verurteilung oder dessen strafrechtliche Bewehrung. Denn es geht Innstetten ausschließlich um die Legitimation der gesellschaftlichen Vorstellung von Ehre. Der eigentliche Ehebruch ist in Wahrheit also tatsächlich ein Ehrenbruch. Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="179"?> 178 8. Schritt - 19. Jahrhundert Fontane wird im 10. Kapitel auf die Schwierigkeiten realistischen Erzählens und auf die besonderen Bedingungen eines Erzählanfangs zu sprechen kommen. Insofern können die erzählerischen Ausführungen hierzu auch auf den Romananfang selbst angewendet werden. Innstetten und Effi unternehmen eine winterliche Schlittenfahrt, sie kommen an dem kleinen, separat gelegenen Grab des Chinesen vorbei, des ehemaligen Bediensteten eines Kapitäns, der im Haus gewohnt hatte und der nun für Effi zum Inbegriff des Unheimlichen und Spukhaften geworden ist. Effi bittet ihren Mann, ihr die „Geschichte“ (S. 91) des Chinesen zu erzählen, denn solange sie nicht genau darüber Bescheid wisse, bliebe sie ein Opfer ihrer Fantasie. Effi macht deutlich, dass das Wissen Geschichten und die damit verbundenen Fantasien ausbalanciert, im strengsten Fall sie sogar löscht. Denn wo Wissen herrscht, mangelt Vorstellungskraft. Das ist Effis Wahrnehmung und deshalb fordert sie Innstetten auf: „Erzähle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit kann mich nicht so quälen wie meine Phantasie“ (S. 91), worauf Innstetten antwortet, dass der Anfang immer das Schwierigste sei, „auch bei Geschichten“ (ebd.). Auf der Textebene entwickelt der Autor Fontane aber eine Art Gegenprogramm realistischen Erzählens, das die Wirklichkeit ebenso umfasst wie die Fantasie, denn er berichtet ja ausführlich von Effis quälenden Spukfantasien und ihrer Angst vor dem Unheimlichen. Und Effi wird ihrer Mutter in einem Brief schreiben, sie habe den Chinesen „wirklich gesehen, oder es ist mir wenigstens so vorgekommen“ (S. 109). Die sogenannte Spukgeschichte als Narrativ dient dem Autor also auch dazu, den Horizont realistischen Erzählens zu weiten. Die Gesangskünstlerin Tripelli wird wenig später im Gespräch mit Effi einen einfachen Schlüssel zum Verständnis liefern, nachdem ihr Effi von dem Spukhaften ihres Hauses berichtet hat. Sie stellt klar, was Effi schildert und erlebt hat, sei etwas andres als ein literarisches Produkt oder ein fiktionaler Spuk, denn „das ist ja wirklich oder kann wenigstens etwas Wirkliches sein“ (S. 101). Für Effi ist der Spuk im Haus zutiefst wirklich und so, wie der Erzähler seine Figur diese Wirklichkeit erleben lässt, so beschreibt er sie auch. Von einer Exposition im engeren Sinn, wonach mehr oder weniger umständlich die Handlung vorbereitet und verschiedene Erzählstränge ausgelegt werden, kann nicht gesprochen werden, denn der Roman führt sofort in die zentralen Themen des Textes ein. Neben Effis Uneigentlichkeit als Lebensform tritt das Thema der Entsagung und der Untreue. Eine Liebesgeschichte ohne Entsagung sei keine richtige Liebesgeschichte, meint Effi und antizipiert damit ihr eigenes Schicksal, das entsagungsvoll endet. Es ist nicht das Entsagungs- <?page no="180"?> 179 thema von Goethes Wahlverwandtschaften (1809), aber man kann durchaus darin eine gewollte Anspielung Fontanes auf diesen Roman erkennen. Dort ist es das Modell der Beziehung eines Mannes mit zwei Frauen. Ottilies Entschluss, die von Eduard begehrt wird, ihm zu entsagen, bedeutet für sie die Auslöschung ihres Begehrens. Sie wendet die Macht ihrer Leidenschaft nach innen, übt einen Selbstdisziplinierungsdruck aus, der ihr von der gesellschaftlichen Konvention abgefordert wird und der tödlich endet. Auch Eduard stirbt und erst im Tod sind die Liebenden vereint, sie ruhen nebeneinander. Die allverzeihende Charlotte hat dies initiiert. Eine solche Lösung, die Entsagung als praktikablen Verzicht feiert, ist am Ende des 19. Jahrhunderts für Fontane nicht mehr möglich. Deshalb wird er, um die Tragik und Drastik der Handlung steigern zu können, am Ende die längst beendete Affäre zwischen Crampas und Effi wieder aufleben und Innstetten die berühmten Briefe finden lassen. Im ersten Kapitel wird schließlich auch Geert von Innstetten als zukünftiger Mann Effis eingeführt. Er ist mehr als doppelt so alt wie sie und wird aus dieser Rolle des Erziehers auch nicht mehr herauskommen. Die Worte der Mutter im 2. Kapitel, Effi solle so bleiben, wie sie ist, weisen bereits auf eine Konfliktlinie voraus. Denn bleibt Effi diejenige, die sie ist, dann verharrt sie im Modus der Uneigentlichkeit; ändert sie sich aber, dann hat sie die Chance, ihren eigentlichen Lebensmodus zu finden, aber zum Preis des Verlustes ihrer Identität, denn dann ist sie eine Andere. Das Kapitel schließt mit jenen Worten, die Fontane, als er von der historischen Ardenne-Affäre erfuhr, an diesem Stoff so fasziniert haben: „Effi, komm“ (S. 17 u. 21). An dieser Stelle sind die Worte zwar noch der Ruf der Freundin und gelten als Lockruf, zurück in die Kindheit zu kommen. Doch am Ende des Romans sind es ebendieselben Worte des Vaters Briest, der seiner todkranken, vereinsamten Tochter das Telegramm schickt „Effi, komm“ (S. 308) und somit den Weg ebnet für Effis individuellen Versöhnungsschritt. Um die Hochzeit vorzubereiten, fahren Mutter und Tochter nach Berlin Einkäufe erledigen. Sie werden dort von Effis Vetter Dagobert erwartet. Dagobert umschwärmt Effi, sie besuchen gemeinsam mit der Mutter die Berliner Nationalgalerie und betrachten ein Bild, das im Roman die Insel der Seligen genannt wird. Dabei handelt es sich um ein Bild des symbolistischen Malers Arnold Böcklin (1827-1901), das 1878 von der Nationalgalerie angekauft wurde. Die dargestellte halbnackte Nymphe und die Kentauren provozierten eine gesellschaftliche Empörung. Indem Fontane diese kleine Sequenz in die Er- Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="181"?> 180 8. Schritt - 19. Jahrhundert zählhandlung einbaut, eröffnet er die Möglichkeit zu einer tieferschichtigen Decodierung. Denn das Bild mit dem richtigen Titel Die Gefilde der Seligen (1877), das erhalten ist und nicht, wie gelegentlich zu lesen, verschollen, verweist symbolsprachlich auf den kulturgeschichtlichen Topos der Eleusinischen Gefilde. Die prominenteste Beschreibung findet sich bei Tibull (55-19 / 18 v. Chr.) und man darf annehmen, dass dem Autor Fontane wie auch seiner klassisch gebildeten Hauptfigur Innstetten diese dem klassischen Kanon zugehörige Textstelle vertraut war. Tibull dichtet, die Liebesgöttin Venus selbst werde ihn zu den elysischen Gefilden („in Elysios“, Elegische Gedichte, Erstes Buch, Vers 58) führen, da er dem Liebesgott Amor stets gefällig war. Er beschreibt eine idyllische Landschaft, in der süßer Vogelgesang erklingt, die Felder Früchte tragen und es nach blühenden Rosen duftet. Dann heißt es weiter in Vers 63: „Der den jungen Mädchen zugesellte Reigen der Jünglinge treibt sein Spiel, und fortwährend wird Amor Kämpfe einflechten“ (Albius Tibullus: Elegische Gedichte. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt u. hgg. v. Joachim Lilienweiß, Arne Malmsheimer u. Burkhard Mojsisch. Stuttgart 2014, S. 25). Das ist eine codierte Darstellung davon, dass Elysium auch ein Ort freier Liebesentfaltung ist und als ein solcher Sehnsuchtsort fantasiert wird. Für Effi bedeutet das nun, dass sie jenseits der Anzüglichkeiten ihres Vetters Dagobert mit diesem Ort konfrontiert wird und von nun an schwankt zwischen dem Glauben an eine Utopie der freien Liebeswahl und der gesellschaftlichen Ächtung dieses phantasmagorierten Sehnsuchtsorts, und es bedeutet, ob sie phantasieren oder den Ort in ihrer Lebenswirklichkeit tatsächlich suchen will. Zugleich liefert der Hinweis auf dieses Bild auch einen ungefähren Datierungshinweis auf die erzählte Zeit. Der Roman beginnt etwa im Jahr 1878, schildert also die gesellschaftliche Blütezeit des wilhelminischen Bürgertums. Am 3. Oktober heiraten Effi und Innstetten. Bei der Ausstattung und beim Hausrat zeigt sich Effi wählerisch, gar als „Prinzessin“ (S. 31) erscheint sie. Sie möchte für ihr Schlafzimmer eine Lampe mit rötlichem Licht, was die Mutter durchaus despektierlich ablehnt. Effi begründet ihren Wunsch damit, dass sie alles in einem roten Schimmer habe sehen wollen (vgl. 4. Kap.). Dass Rot als Farbe der Liebe ebenso wie als Symbolfarbe für Leidenschaft und Sexualität zumal im Kontext einer Schlafzimmerbeleuchtung zu deuten ist, liegt auf der Hand. Bemerkenswerter ist aber Effis Verfahren, „alles“ (S. 31) aus dem Antrieb von Liebe und Leidenschaft wahrzunehmen. Die Mutter fängt ihre Tochter mit den Worten ein: „Die Wirklichkeit ist anders“ (ebd.). Auch diese Textstelle unterstreicht Effis Lebensmodus der Uneigentlichkeit und der Selbstentfrem- <?page no="182"?> 181 dung. Die Mutter leitet aus Effis Verzicht die Fantasie einer Musterehe ab, die ihre Tochter führen wird. Doch Effi weist dies zurück, indem sie nun offenlegt, was sie „eigentlich“ (S. 32) will: „ich bin für gleich und gleich und natürlich auch für Zärtlichkeit und Liebe“ (S. 33). Dass ihr sowohl die Gleichstellung als auch die Liebe fehlen werden, scheint sie bereits dunkel zu ahnen. Am Ende des 4. Kapitels muss sie sich eingestehen, dass sie sich vor ihrem eigenen Mann, einem Mann von Charakter und von Prinzipien und von Grundsätzen, wie die Mutter weiß, fürchtet. Die zweite Kapitelgruppe beginnt mit dem 6. Kapitel. Innstetten attestiert seiner Frau, dass sie „nervös“ (S. 51) sei. Fontane präludiert damit den Hysteriediskurs der Wiener Moderne, der bei Autoren wie Psychoanalytikern gleichermaßen seit Sigmund Freuds (1856-1939) und Josef Breuers (1842-1925) gemeinsamer Veröffentlichung Studien über Hysterie (1895) Gegenstand literarischer Darstellung, wissenschaftlicher Arbeit und gesellschaftlicher Diskussion wird. In Effis zwanghafter Angst vor dem Chinesen und dem Spuk im Haus lassen sich durchaus auch Ansätze zur Ausbildung einer Zwangsneurose erkennen. Das Entscheidende dabei ist, dass diese Angst Ergebnis einer patriarchalen Unterdrückungsapparatur ist, Crampas wird dies treffend „Angstapparat aus Kalkül“ (S. 147) nennen. Innstetten selbst fordert und fördert nämlich diese Angst, um im Machtduell mit seiner Frau zu obsiegen. Dieses symbolische Duell wird er ebenso gewinnen wie das tatsächliche Duell mit Crampas. Das Ende ist in beiden Fällen dasselbe, die Duellgegner sind tot. Das 7. Kapitel exponiert Effis Einsamkeit. Im Haus ist alles still um sie herum, während sie im elterlichen Haus stets Unruhe hatte und die Freundinnen als Spiel- und Gesprächspartnerinnen gegenwärtig waren. Innstetten geht seiner Arbeit als Landrat nach und bereitet zielstrebig eine mögliche Kandidatur für den Reichstag vor, Effi muss sich mit dem Spuk auf dem Dachboden auseinandersetzen. Die Erklärung, dass die Geräusche nur von den schleifenden und im Wind wehenden Gardinen herrühren, kann sie nicht beruhigen. Effi verknüpft Geräusche und Fantasie mit dem Bild des toten Chinesen, der weiterhin spukt. Sie findet im Obergeschoss das Klebebildchen eines Chinesen an einer Stuhllehne. Auch wenn Innstetten versichert, das bedeute nichts und sei nur „Spielerei“ (S. 65), so irritiert sie die Ernsthaftigkeit, mit der er dies sagt, als ob es doch etwas bedeute. Wenig später wird Effi von Crampas darüber aufgeklärt, dass Innstetten schon in der Vergangenheit das Bedürfnis nach der Aura des Geheimnisvollen hatte und dies auch als Erziehungsmittel anderen gegenüber einsetzt. Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="183"?> 182 8. Schritt - 19. Jahrhundert Zunehmend mangelt es Effi an Zärtlichkeit und körperlicher Erfüllung, offen spricht das 13. Kapitel davon, dass Innstetten kein Liebhaber ist. Anlässlich einer Schlittenfahrt bemerkt sie, ihr Mann küsse sie nicht einmal, stattdessen sei er „nicht gerührt, frostig wie ein Schneemann“ (S. 72). Die äußerliche, winterliche Kälte symbolisiert die innere Kälte, die Effi zunehmend empfindet, und so wie sie sich mit einem dicken Pelz gegen die äußere Kälte schützt, so wappnet sie sich mehr und mehr mit einem inneren Schutz gegen Einsamkeit, Angst und Verlassenheit. Das „Gefühl der Einsamkeit“ (S. 75), das sie immer wieder beklagt, verstärkt, ja verdoppelt sich. Damit wird- - nach strenger tragischer Skriptur-- im Grunde schon der Boden gelegt für eine verhängnisvolle Entwicklung: Effi ist prädisponiert für die Verführungskünste eines Crampas, in dessen Namen auch eine Anspielung auf den Krampus steckt, eine Sagengestalt aus dem Ostalpengebiet, die das Unheimliche und Dämonische verkörpert. Zu Effis Einsamkeit kommt die zunehmende Angst hinzu, von der Effi im 9. Kapitel berichtet. Dass sie aber auch durchaus Ambitionen auf einen gesellschaftlichen Aufstieg hat, lässt sie Innstetten unverblümt wissen. „Höher hinauf “ (S. 85) wolle sie und bestätigt damit die Einschätzung ihrer Mutter, die an der Natürlichkeit ihrer Tochter ohnehin Zweifel hat. Sie sei prinzessinnenhaft und nicht „so recht eigentlich [! ] auf Liebe gestellt“ (S. 41), vielmehr charakterisiere sie „Vergnügungssucht und Ehrgeiz“ (ebd.). Im 10. Kapitel gesteht sie ihrem Mann, dass sie ihn „eigentlich“ (S. 89) nur aus Ehrgeiz geheiratet habe-- was Effi uneigentlich, also im authentischen Handeln mit sich selbst getan hätte, lässt sich ahnen, und die weitere Entwicklung des Romans wird das bestätigen. Doch zunächst wird Effi schwanger. Sie erfüllt damit eine familiale und soziale Pflicht. Nun wird der Auftritt des 45-jährigen, verheirateten Major von Crampas angekündigt. Er ist nach Kessin versetzt worden. Innstetten und er haben in derselben Einheit gedient, sie kennen sich und für Innstetten ist klar, Crampas ist ein „Damenmann“ (S. 114), der viele Verhältnisse hatte und sich deshalb auch schon duelliert hat. In einer Nebengeschichte begegnet Effi auf einem ihrer einsamen Spaziergänge einer Roswitha, die ohne Lebensperspektive verzweifelt am Grab ihrer eben verstorbenen Herrschaft sitzt. Effi hat Erbarmen und engagiert Roswitha vom Fleck weg als Kinderfrau. Daran ist dreierlei bemerkenswert: Erstens folgt Effi nur ihrem Gefühl, sie entscheidet sich intuitiv und bestärkt damit die Bedeutung der Intuition für ihr Leben, das ist gleichsam die Risslinie zwischen ihrem eigentlichen und ihrem uneigentlichen Lebensmodus. Eigentlich sollte sie das nicht tun, Intuition hat im Hause Innstetten keinen Platz, aber eigentlich tut sie das für sie Richtige. Mit Blick auf die be- <?page no="184"?> 183 vorstehende Crampas-Affäre kann man annehmen, dass auch dies- - obwohl dies Jahre später an ihrem Lebensende widerrufen wird-- die intuitiv richtige Entscheidung für sie war, weil sie Ausdruck ihrer Eigentlichkeit ist. Zweitens zeigt die weitere Roswitha-Handlung, dass sie als Spiegelbild zu Effis eigener Entwicklung gedacht werden kann. Auch Roswitha hatte eine Affäre, wurde schwanger, musste das Kind abgeben und wurde sozial und familial geächtet. Und drittens zeigt Effi ein hohes Maß an sozialer Empathie, die ihr später von ihrem Mann, als die Crampas-Affäre entdeckt worden ist, so konsequent verweigert wird und Innstetten ohne Erbarmen bleibt und halsstarrig und entgegen seiner späten Einsicht, dass er unrecht gehandelt hat, an seinem ideologisierten Ehrbegriff festhält. Effis Empathie steht dem als Eigentlichkeit entgegen und sie stellt sich auch gegen ihre zwanghafte Angst. Am 3. Juli wird die Tochter Annie geboren, und Roswitha ist als Kinderfrau eingestellt. Mit dem 15. Kapitel beginnt die dritte Kapitelgruppe. Effi ist nach einem sechswöchigen Besuch in ihrem Elternhaus in Hohen-Cremmen wieder nach Kessin zurückgekehrt. Sie sitzt mit Innstetten auf der Veranda ihres Hauses in einem Schaukelstuhl. Das Motiv der Schaukel und der schaukelnden Bewegung ist bereits zum Romananfang eingeführt worden. Die Veranda ist an den Seiten durch Leinwände abgeschattet und durch eine Markise nach oben hin geschützt. Sie bietet symbolisch gesehen Effi einen Schutzraum, in dem sie ihr eigentliches Charakteristikum, das Schaukeln, wieder aufnehmen kann, allerdings zivilisatorisch anverwandelt, indem sie nicht mehr auf einer Kinderschaukel sitzt oder steht, sondern sich in einem Schaukelstuhl bewegt. Erklärend heißt es im 15. Kapitel: „Am liebsten aber hatte sie wie früher auf dem durch die Luft fliegenden Schaukelbrett gestanden und, in dem Gefühle: ‚Jetzt stürz ich‘, etwas eigentümlich Prickelndes, einen Schauer süßer Gefahr empfunden“ (S. 129). Das Motiv des Schaukelns ist eine Art Leitmotiv des Romans, es gewährt Bewegung und Dynamik, es stellt sich gegen Erstarrung, es bedeutet Veränderungsbereitschaft und Veränderung, aber auch Unberechenbarkeit und nicht zuletzt Wagnis. Diese Dynamik spiegelt Effis Gefühlslage wider und kehrt auch in den Naturbeschreibungen wieder. Sowohl das Meer mit seinen Wogen als auch die Beschreibung des Schloons und der Schlitten- und Kutschenfahrt werden dieses Motiv aufgreifen. Während sich Effi und Innstetten an diesem 27. September auf der Veranda unterhalten-- unter anderem erwähnt Effi auch, dass Frauen verführerisch sein müssten, da sie sonst keine Bedeutung hätten (vgl. S. 135)--, erscheint Crampas erstmals. Er hat im Meer gebadet-- symbolisch gesehen hat er Effis Bewegung Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="185"?> 184 8. Schritt - 19. Jahrhundert bereits aufgenommen und sich angepasst. Zur Begrüßung küsst er Effis Hand, die sich weiterhin im Schaukelstuhl wiegt. Hier kommen also zwei Bewegungen zusammen und werden eine eigene Erzähldynamik entwickeln: Effi bleibt in ihrem eigentlichen Bewegungszustand, während Crampas Effis Hand berührt und küsst, die später wiederum Objekt seiner Leidenschaft sein wird, dann aber nicht mehr gesellschaftlich legitimiert. Crampas erreicht Effi für einen Moment im Zustand ihrer Eigentlichkeit. Auch er spricht sich für „Leichtsinn“ (S. 142) im Leben aus, der das Leben gerade erst interessant mache. Effis soziale Kontakte in der Stadt sind sehr begrenzt. Lediglich Apotheker Gieshübler, der Effi verehrt, bringt gelegentlich etwas Bewegung in die Erstarrung des Hauses. Und so gelingt es Crampas schnell, Effis Aufmerksamkeit an sich zu binden. Sie ahnt, dass er eine Anziehungskraft entwickelt, die sie nur schwer steuern kann: „Ach, Crampas-[…] Sie sind gefährlich-…“ (S. 145), sagt sie. Die letzten drei Auslassungspunkte sind Bestandteil des Textes, was hier nicht gesagt wird, erweist sich als das Eigentliche. Effi stellt sich dieser Gefahr, obwohl sie als Frau von vornherein verlieren muss. Auch der Erzähler selbst charakterisiert im 17. Kapitel Crampas durchaus als einen zweifelhaften Galan, den nichts dabei störe, einem Freund zu helfen und unmittelbar darauf ihn zu betrügen. Sein Ehrbegriff lässt ein solches Verhalten durchaus zu und setzt sich damit in Opposition zu Innstettens Ehrverständnis, das dem Roman die entscheidende tragische Wendung geben wird. Als Crampas Effi von seinem Lieblingsdichter Heinrich Heine und dessen Gedicht Seegespenst erzählt, nutzt er die Situation zur nonverbalen Kommunikation, es kommt zur ersten körperlichen Berührung außerhalb gesellschaftlich notwendiger Konvention wie dem beschriebenen Handkuss. Der Gedichtvers „deine weichen Lilienfinger“ legitimiert Crampas, Effis Hand „leise“ (S. 151) zu berühren, also nahezu zärtlich, vielleicht etwas flüchtig, unscheinbar, aber doch gewollt und für Effi decodierbar. Crampas geht sogar noch einen Schritt weiter und spricht Effi mit ihrem Vornamen an, wird aber eines strengen Blicks seitens Effis wieder in die konventionelle Anredeform der ‚gnädigsten Frau‘ verwiesen. Hier genügt noch ein Augenausdruck Effis, um die Gefahr zu bannen. Und exakt diese Bedeutung des Augen-Blicks beendet das Kapitel. Vorausgegangen ist die symbolische Besitzergreifung Effis. Denn Crampas besteht darauf, das Trinkglas, das Effi während des Gesprächs benutzt hat, mitnehmen und behalten zu dürfen. Effi gesteht es ihm schließlich zu, sie wehrt sich aber sehr deutlich gegen Crampas’ symbolische Okkupation. Sie erklärt: „Ich mag nicht als Reimwort-[…] herumlaufen“ (S. 156), also nur passiv zu reagieren und <?page no="186"?> 185 sich lediglich den männlichen Vorgaben des Crampas anpassen zu dürfen. Sie droht ihm sogar, ihrem Mann von dem Vorfall zu erzählen. Doch Crampas sagt ihr ins Gesicht, dass sie das nicht tun werde, weil Innstetten nicht der Mann sei, dies alles so zu sehen, wie es gesehen werden soll, mit anderen Worten, Innstetten verfügt nicht über den literarischen und den nonverbalen Code, dessen sich Crampas und Effi bereits bedienen. Darauf folgt eine kulturgeschichtlich bedeutsame knappe Schilderung: „Sie sah ihn einen Augenblick scharf an. Dann aber schlug sie verwirrt und fast verlegen die Augen nieder“ (S. 156). Effis Widerstand ist nach diesem literarischen Zitat und der körperlichen Berührung endgültig gebrochen. Der scharfe und strenge Blick genügt nun beim zweiten Mal nicht mehr, Effi weicht aus in die Bewegung der Unterordnung, Verwirrung und Verlegenheit begleiten ihren Augenniederschlag. Zur geschlechterspezifischen Kulturgeschichte des Blicks gehört, dass es Frauen nicht gestattet ist, einen Mann direkt anzusehen. Dies wird gesellschaftlich bereits als Zeichen sexueller Begierde gedeutet. Deshalb bedeutet den Blick zu senken historisch gesehen die sozial codierte Unterwerfung der Frau unter den Blick des Mannes. Dies wird besonders deutlich am Beispiel der Medea- Figur in der Kulturgeschichte, deren Überlieferung immer zugleich auch eine Überlieferung historischer Frauenbilder ist. „Medea, sevissimum veteris perfidie documentum“, „Medea, das wüsteste Beispiel des Verrats in alten Zeiten“ (Giovanni Boccaccio: De claris mulieribus. Die großen Frauen. Lat./ Dt. Ausgewählt, übersetzt u. kommentiert v. Irene Erfen u. Peter Schmitt. Stuttgart 1995, S. 56 / 57), heißt es in Boccaccios De claris mulieribus (1361 / 75). Boccaccio (1313-1375) zieht die erstaunliche Lehre aus seinem Frauenporträt, „man darf den Augen nicht die Freiheit geben, alles anzusehen“ (ebd., S. 59). Damit sind die weiblichen Augen gemeint. Schamhaftigkeit wird als zivilisierter weiblicher Verhaltensstandard definiert, den Medea verletzt hat. Das Unglück, das von ihr ausging, sei durch diesen Tabubruch zu erklären. Die Augen seien die „Tore des Herzens“ (ebd., S. 61), durch die das Begehren Eingang finde und durch die es sein Objekt suche. Deshalb müsse man die Augen „an hartem Zügel halten“ (ebd.). Wird der Blick nicht kontrolliert, sei alles „verdorben durch die Schamlosigkeit der Augen“ (ebd.). Der Körperteil ersetzt den Körper, das Auge wird kulturgeschichtlich zur Metonymie der Frau. Effi entwickelt einen Schuldkomplex, sie fühlt sich bedrückt und schuldig, da sie merkt, welche Macht Crampas über sie zu gewinnen beginnt. Im 19. Kapitel vollzieht sich denn auch der Wendepunkt des Romans. Auf der Rückfahrt von einer gesellschaftlichen Veranstaltung im Hause des Oberförsters Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="187"?> 186 8. Schritt - 19. Jahrhundert Ring ist Fräulein Sidonie von Grasenabb ihre gesellige Begleitung, sehr zum Verdruss Effis. Effi versucht trotzdem eine Unterhaltung, fragt, ob ihre Begleiterin ebenfalls so etwas wie Musik höre, „ein unendlich feiner Ton, fast wie menschliche Stimme-…“ (S. 173). Sidonie kommentiert dies trocken: „Sie sind nervenkrank“ (ebd.). Plötzlich kommt die Schlittenfahrt ins Stocken, alle drei Schlitten bleiben stehen. Das Wetter und der aufgeweichte Boden machen eine Weiterfahrt im Schlitten unmöglich. Der vor ihnen liegende Schloon, der durchquert werden muss, hat einen tückischen, weichen Untergrund, in dem sich die Pferdeschlitten leicht festfahren, gar versinken können. Effi gerät in eine panische Stimmungslage. Im Winter könne der Schloon zu einem Sog werden. Sie ist äußerst beunruhigt, da sie hier mit geographischen Verhältnissen und Wetterumbrüchen konfrontiert wird, die sie von zu Hause nicht kennt. Sidonie erklärt: „Alles geht nämlich unterirdisch vor sich, und der ganze Strandsand ist dann bis tief hinunter mit Wasser durchsetzt und gefüllt. Und wenn man dann über solche Sandstelle weg will, die keine mehr ist, dann sinkt man ein, als ob es ein Sumpf oder ein Moor wäre“ (S. 175 f.). Symbolisch gesehen bedeutet das, dass es für Effi kein Entkommen mehr aus der beginnenden Affäre mit Crampas gibt. Der Schloon wird zum Sinnbild für Effis Eigentlichkeit. Sie ahnt, dass sie nun über das, was „unterirdisch“ geschieht, keine Macht mehr hat, und am Ende wehrt sie sich auch nicht mehr gegen Crampas’ Übergriff. Der Schloon ist eine alte Bezeichnung für den Schloonsee und wird bei Fontane zu einem symbolträchtigen Fließgewässer, worin sich das erzählerische Bewegungsmotiv widerspiegelt. Hier beginnt das, was sich lediglich aus Crampas’ Briefen an Effi später retrospektiv rekonstruieren lässt. Die Einheimischen haben Furcht vor dem Schloon und pflegen einen Aberglauben, erklärt Innstetten. Er wolle aber die Durchfahrt riskieren. Crampas solle bei Effi in den Schlitten einsteigen, um zu helfen, falls er umkippe. Kruse, der den Schlitten lenkt, solle nochmals Anlauf nehmen und dann die Durchfahrt wagen. Damit wird wieder das Motiv des Wagnisses und der Bewegung aufgenommen. Effi ist aber nun passiv, sie wird bewegt und sie wird in das Wagnis hineingenommen, mehr noch, ihr eigener Mann konstruiert die Situation der Verführbarkeit. Doch in dem Moment, wo die Pferde in den Schloon geraten, sinken sie bis zu den Knöcheln ein und der Schlitten bleibt liegen. Inzwischen sind Kutschen mit großen Rädern, die dem weichen Untergrund kaum nachgeben, angekommen, und die Fahrgäste steigen größtenteils um. Innstetten entscheidet sich nun, mit den drei Schlitten einen Umweg um den Schloon durch die Dünen fahren zu lassen. In der Annahme, der Umweg <?page no="188"?> 187 verhindere ein Versinken und damit den Untergang seiner Ehe, beschwört er gerade die Katastrophe herauf. Effi sitzt mittlerweile alleine im Schlitten, Sidonie ist in eine Kutsche umgestiegen. Und als Crampas dies erkennt, steigt er zu Effi in den Schlitten ein mit den Worten „Ich kann Sie nicht allein lassen“ (S. 177). Er empfiehlt sich damit als ein Mittel gegen das Gefühl der Einsamkeit und des Alleinseins, ein Gefühl, das für Effi ja längst zum Lebensmodus geworden ist. Effi denkt kurz über das Angebot von Crampas nach und macht dann Platz, sie rückt von links nach rechts und Crampas nimmt „links neben ihr Platz“ (S. 177). Es ist anzunehmen, dass es sich bei diesem Schlittenmodell um einen Zweisitzer handelt, so dass Effi und Crampas nun beide in Fahrtrichtung blicken. Sie nehmen also beide dieselbe Blickrichtung ein, sie schauen nämlich beide nach vorne. Diese Synchronie des Blicks steht in Opposition zu Effis niedergeschlagenem Blick, wie er oben beschrieben wurde. Effi ist in ihrer inneren Entwicklung einen entscheidenden Schritt weiter, sie stellt eine Symmetrie zu Crampas’ Begehren her. Zugleich macht Crampas durch sein Verhalten-- denn er steigt auf der linken Seite ein, wissend und sehend, dass Effi bereits auf dieser Seite sitzt-- deutlich, dass er nun Effis Platz okkupiert und dass er in der Lage ist Effi zu steuern. Sie folgt seiner Aufforderung, den Platz zu räumen. Hatte er zunächst lediglich ein Trinkglas, aus dem Effi getrunken hatte, als persönlichen Besitz für sich reklamiert, so demonstriert er nun sehr buchstäblich und sehr symbolträchtig, welche Gewalt er über Effi tatsächlich hat. Die Gespanne bewegen sich dicht am Schloon entlang, an dessen jenseitigem Ufer „dunkle Waldmassen aufragten“ (S. 178). Der Erzähler verweist damit auf Effis exponierte Lage, sie ist allein und sie kann ihr Alleinsein nicht überwinden, da auch am anderen rettenden Ufer nichts als Dunkelheit, Undurchdringlichkeit und Wildheit drohen, fernab jeglicher gesellschaftlicher Ordnung. Ihr droht der zivilisatorische Kontrollverlust über ihre Affekte. Denn Dunkelheit und Waldmasse sind jene narrativen symbolischen Verweise, die Effis Affektleben umstellen, bedrohen und es zu steuern beginnen. Effi „sah hinüber“ (S. 178), sie erkennt also die Gefahr, aber ihr Mann entscheidet sich kurzentschlossen für einen „andern Plan“ (ebd.), er wählt nun einen „schmaleren Weg-[…], der mitten durch die dichte Waldmasse hindurchführte“ (ebd.). Wieder werden innerhalb weniger Zeilen die Waldmassen genannt, nun sind sie nicht nur dunkel, sondern auch dicht, also undurchdringlich für Blicke. Was dort geschieht, geschieht im Dunkeln, keiner wird Zeuge sein dessen, was passiert. Der schmale Weg unterstreicht, dass es keine Rückkehr mehr gibt, den Weg zu verlassen, gar zu wenden, ist nun unmöglich. Als Effi dies erkennt, erschrickt Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="189"?> 188 8. Schritt - 19. Jahrhundert sie. Und dieses Erschrecken zeigt, dass ihr nun bewusst geworden ist, was sie bislang unbewusst ausagiert hat: Es gibt kein Entkommen mehr vor dem, was geschehen wird. Die „dunklen Kronen wölbten sich über ihr“ (S. 178), sie wird regelrecht eingeschlossen, sie kokonisiert in diesem Zustand der Affizierbarkeit. Sie beginnt körperlich-symptomatisch zu reagieren, sie zittert. Angst und Erregung mischen sich in dieser Reaktion. Sie verkrampft ihre Finger, um sich selbst „Halt zu geben“ (S. 178), nichts kann ihr mehr helfen, sie ist allein auf sich gestellt, „Gedanken und Bilder“ (ebd.) jagen sich. In dieser Pein erinnert sie das Gedicht Die Gottesmauer (entstanden 1816) von Clemens Brentano (1778-1842), das nicht nur Ausdruck eines unverbrüchlichen Gottvertrauens ist, sondern zugleich ein Zeugnis darstellt eines elementaren Schutzbedürfnisses des Menschen vor exogener Aggression und auch die Angst ausdrückt, die damit verknüpft ist. Effi hatte Crampas den Inhalt dieses Gedichts während eines halbstündigen Spaziergangs nach dem Kaffeetrinken im Ringschen Haus vorgetragen (vgl. 18. Kap.). Der Erzähler schildert Crampas’ Betroffenheit, der schnell das Thema wechselt. Damit wird die Bereitschaft von Crampas für eine distanzlose Annäherung an Effi zum Ausdruck gebracht, und dass er betroffen reagiert, unterstreicht nur, dass er bereits einen Plan verfolgt, also absichtsvoll handelt. Seine spätere Annäherung an Effi im Schlitten ist daher keinesfalls spontan und situativ, sondern strategisch implementiert. Und betroffen ist er deshalb, weil Effi ihren Widerstand signalisiert. Der Wunsch Effis, eine Mauer um sich zu ziehen und geschützt zu sein, wie es das Gedicht präludiert, steht im Widerspruch zu seiner Absicht. Effi aber lässt ein Gedicht sprechen, um sich selbst zu äußern. Sie spricht, indem sie nicht spricht. Nun im Schlitten bittet sie Gott, eine Mauer um sie her zu bauen, wie es das Gedicht beschreibt. Sie hat den Wunsch unsichtbar zu werden. Doch sie muss erkennen, dass ihre Worte „tote Worte“ (S. 178) sind. Das ist weniger eine Glaubenskritik als vielmehr eine Beschreibung von Effis Zustand, sie hat nun den Bereich der uneigentlichen Worte und der uneigentlichen Diskursivität verlassen und den eigentlichen, nicht-sprachlichen Bereich betreten, sie steht unmittelbar vor dem Zustand der Eigentlichkeit. Die affektive Mischung von Furcht und Faszination, wie sie der Text beschreibt, charakterisiert ihre Bereitschaft, vielleicht auch ihre Entschlossenheit, diesen Bereich zu betreten. Sie fühlt sich „wie in einem Zauberbann“ (S. 178) und will auch nicht daraus heraus. Und dann passiert es. Crampas neigt sich zu ihr nach rechts und flüstert ihr ihren Namen ins Ohr. Verlassen ist die Ebene der gesellschaftlichen Übereinkunft und der zivilisatorischen Disziplinierung, der Verzicht auf die standes- <?page no="190"?> 189 gemäße Anrede bringt dies symbolsprachlich zum Ausdruck. Crampas kehrt also sprachlich an jenen Punkt zurück, an dem er Effi bereits begegnet war, und wo sie sich damals mit einem strengen Blick jegliche Annäherung verbeten hatte. Nun aber im Schlitten vermag sie Crampas’ einzigem Wort nichts mehr entgegenzusetzen. Es ist nicht Gott- - wenn man der biblischen Konnotation dieser Textstelle folgt--, der sie bei ihrem Namen gerufen hat und der spricht „du bist mein“ (Jes 43, 1). Sondern es ist derjenige Mann, der sie begehrt und der sie bei ihrem Namen ruft und einen Besitzanspruch reklamiert, und sie ist diejenige, die folgt. Das geflüsterte crampassche Wort „Effi“ bedeutet in Wahrheit „Effi, du bist mein“. Denn Crampas flüstert nicht nur mit zitternder Stimme Effi ihren Namen ins Ohr, sondern er okkupiert sie auch körperlich. Er löst ihre ineinander verschränkten Finger, löst den Halt, den Effi sich selbst geben will, „und überdeckte sie mit heißen Küssen“ (S. 178). Diese zweite körperliche Berührung hat sich nun jeglicher Schicklichkeitsstandards und jeglichen zivilisatorischen Selbstbändigungsgebotes entledigt. Die „heißen“ Küsse sind leidenschaftliche Küsse, mit denen Crampas sein Begehren offen zur Schau stellt. Bemerkenswert ist Effis Reaktion hierauf, „es war ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an“ (ebd.). Der Text benennt lediglich dieses Als ob und verweist darauf, dass Effi ihre Augen geschlossen hält. Sie ist nicht ohnmächtig, sie fühlt sich ohnmächtig. Der Textsinn switcht hier unmerklich von der buchstäblichen Ebene (das Als ob der körperlichen Ohnmacht) zur symbolischen Bedeutung (sie fühlt sich ohnmächtig und das bedeutet ohne Macht). Effi wird dieses intuitive Handeln später im Gespräch mit Roswitha so beschreiben: „was weiß man nicht alles und handelt doch, als ob man es nicht wüßte“ (S. 194). Als Effi wieder die Augen öffnet, ist der Wald verlassen. Was nun genau im Wald geschehen ist, lässt sich nur mutmaßlich rekonstruieren. Effi und Crampas müssen sich als Paar gefunden haben und die Liebesgeschichte beginnt. Effi wird im Laufe dieser Beziehung Crampas vorschlagen, die jeweiligen Ehepartner zu verlassen und aus Kessin wegzugehen. Allerdings liefert diese Information nur Crampas selbst, wir kennen seinen Gegenbrief an Effi, in dem er auf ihren Vorschlag eingeht. Dieses 19. Kapitel stellt den Höhepunkt des Romans dar. In der klassischen Tragödie wäre es der Wendepunkt, nun kehrt sich das Glück ins Unglück und das tragische Geschehen nimmt seinen Lauf. Der Ehebruch und Ehrenbruch beginnt. Dazwischen liegt aber ein Brief Effis, in dem sie direkt nach dieser Schlittenfahrt auf das Geschehene reagiert und den sie persönlich im Hause Crampas abgibt. Sie schreibt: „[…] dies sind Abschiedszeilen- […] ich komme nicht Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="191"?> 190 8. Schritt - 19. Jahrhundert wieder-… Warum ich nicht wiederkomme, Sie wissen es-… Es wäre das beste gewesen, ich hätte dies Stück Erde nie gesehen. Ich beschwöre Sie, dies nicht als einen Vorwurf zu fassen; alle Schuld ist bei mir.-[…] Meine Schuld ist sehr schwer.- […] Vergessen Sie das Geschehene, vergessen Sie mich. Ihre Effi“ (S. 209). Sie empfindet die Anrede des „Sie“ als befremdlich; das zeigt, dass sich Crampas und Effi auch sprachlich nähergekommen waren, sie haben sich geduzt und damit große Vertrautheit geschaffen. Tags darauf am 29. Dezember warnt Innstetten sie noch einmal vor Crampas, er droht ihr regelrecht. Das neue Jahr beginnt mit einem Sturm, der am 3. Januar, also sechs Tage nach der Schlittenfahrt, ein Schiff vor dem Ortshafen stranden lässt. Der Erzähler schildert nun, wie Effi fasziniert ist von dem Schiffbruch, sie will sich die Bergungsaktion von Seeleuten und Schiff selbst anschauen. Sie empfindet ein „schönes Gefühl“ (S. 185) und fühlt sich beglückt. Schiffbruch mit Zuschauer in verteilten Rollen, das ist die Metapher, und Effi wird Schiffbruch erleiden, der Zuschauer bleibt Innstetten. Symbolisch sind Sturm und Schiffbruch die Metaphern für Effis nächste Schicksalsschritte. Die Faszination einer Gefahr, die nicht uns selbst betrifft, sondern von der wir lediglich hören, lesen oder die wir sehen, und die Effi in ihren Bann zieht ohne zu ahnen, dass sich ihr eigenes Schicksal darin erkennen lässt, ist kulturgeschichtlich bei Lukrez (ca. 99-55 / 53 v. Chr.) verankert. Er beschreibt in seinem Buch De rerum natura (ca. 50 v. Chr.) folgende Situation: Süß, wenn auf hohem Meer die Stürme die Weiten erregen, ist es, des anderen mächtige Not vom Lande zu schauen, nicht weil wohlige Wonne das ist, daß ein andrer sich abquält, sondern zu merken, weil süß es ist, welcher Leiden du ledig. (Titus Lucretius Carus: De rerum natura. Welt aus Atomen. Lat. u. dt. Übersetzt u. mit einem Nachwort hgg. v. Karl Büchner. Stuttgart 2000, 2. Buch, V. 1-4) Für Lukrez ist diese durchaus zivilisatorisch zu nennende Metapher Sinnbild dafür, dass man sich durch die Lehre der Weisen gegen die Niederungen und Gefahren des alltäglichen Lebens wappnen muss. Durch diesen Schutz könne man herabblicken auf andere, die irrend und schweifend nach Ansehen und Ehre, nach Reichtum und Macht streben. Lukrez nennt buchstäblich die Ehre (nobilitas, V. 11)- - und das weist direkt auf Innstettens Ehrenbruch, den der Ehebruch Effis für ihn darstellt. Lukrez klagt weiter und das liest sich nun wie ein Subtext zu Fontanes Effi Briest: <?page no="192"?> 191 O du kläglicher Sinn der Menschen, verblendete Herzen! In welchem Dunkel des Lebens und in wie großen Gefahren wird das bißchen Leben verbracht, was beschieden! (Ebd., V. 14-16) Während also in der historischen Realsituation des Schiffbruchs vor Effis Haustüre alle gerettet werden, gibt es für Effi auf der symbolischen Textebene keine Rettung mehr. Sie bildet einen Schuldkomplex aus, in dem sich die völlige Unterwerfung unter den patriarchalen Besitzanspruch von Crampas ausdrückt. Sie fühlt sich „wie eine Gefangene“ (S. 186), einsitzend im Gefängnis ihrer seelischen Pein, aus dem sie nicht mehr heraus kann. „Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht über sie“ (S. 186) und sie redet sich selbst ein, „Effi, du bist verloren“ (S. 187). Was aber ist verboten, was ist geheimnisvoll? Es ist die Beziehung zu Crampas, die gerade begonnen hat. Effi wird depressiv-- der Text spricht von der schlechten „Seelenstimmung“ (S. 191), in der sich Effi befindet, als einer Folge ihrer Selbstbezichtigungen-- und bekommt vom Arzt ausgedehnte Spaziergänge verordnet. Im Februar oder März wird Crampas nach Stettin berufen, und auch Innstetten muss beruflich nach Berlin reisen. Effi fragt Roswitha: „Wie war es denn eigentlich das erste Mal mit dir? “ (S. 195) Das ist eine für den Roman erstaunlich direkte Frage, denn der Textzusammenhang lässt keinen Zweifel daran, dass Effi Roswithas erste sexuelle Erfahrung anspricht. Diese antwortet, dass sie gleich schwanger wurde, und ihr Vater, der als Dorfschmied arbeitete, mit einer Eisenstange auf sie losging, dann das Kind in einer Scheune zur Welt brachte und ihr am dritten Tag (auch darin kann man eine religiöse Anspielung des Erzählers erkennen) das Neugeborene weggenommen wurde. Roswitha beendet ihre Erzählung mit dem Seufzer: „Ach, gnädigste Frau, die heil’ge Mutter Gottes bewahre Sie vor solchem Elend“ (S. 196). Ist das ein Hinweis auf eine drohende Schwangerschaft Effis, die ihre späteren Fluchtpläne motiviert? Der Text lässt dies im Unklaren. Innstetten wird ins Ministerium nach Berlin versetzt und Effi muss eine geeignete Wohnung in Berlin suchen. Sie verabschiedet sich von Kessin und schreibt in dieser Situation des Abschiednehmens Crampas jenen Brief. Das sind die einzigen Zeilen von Effis Hand zu ihrer Beziehungsgeschichte, die der Text zur Verfügung stellt, der Inhalt der anderen Briefe ist nur aus den Gegenbriefen von Crampas bekannt. Doch statt in Berlin zur Ruhe zu kommen und ein neues Leben zu beginnen, nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Die vierte Kapitelgruppe beginnt mit Effis Verabschiedung in Kessin im 22. Kapitel. Unter den Menschen, die ihr am Hafen die Honneurs machen, ent- Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="193"?> 192 8. Schritt - 19. Jahrhundert deckt sie auch Crampas, der sie ernst grüßt. Effi erschrickt zwar, doch freut sie sich zugleich auch. Das ist wieder jene Gefühlsmischung von Schrecken und Faszination, die ihren Umgang mit Crampas kennzeichnet. Der Erzähler- - und nicht Effi- - berichtet nun, dass in ihrem Auge „etwas Bittendes“ (S. 211) gelegen habe. Worum mag sie mit einem Blick Crampas gebeten haben? Um Verständnis für ihre Entscheidung, Kessin auf diese Weise zu verlassen? Um Verständnis für ihren Abschiedsbrief ? Oder drückt sich darin doch auch ihr Schuldbewusstsein aus, das sie für die Affäre allein verantwortlich erklärt und Crampas entschuldigt? In Berlin trifft Effi ihre Mutter, die sich einer Augenbehandlung wegen dort aufhält. Sie findet eine Wohnung, doch anstatt wie mit Innstetten verabredet noch einmal nach Kessin zurückzukommen und bei den Umzugsvorbereitungen zu helfen, flüchtet Effi in eine Erkrankung. Sie simuliert eine Neuralgie, und der hinzugerufene Hausarzt ihrer Mutter erkennt sofort die Simulantin. Er verordnet ihr Syrupus florum Aurantii, auch als Pomeranzenblütensirup bekannt, das ist ein harmloser Sirup zum Versüßen von Arzneien. Sie solle davon alle zwei Stunden einen halben Teelöffel nehmen. Ihre Mutter ändert seine Einnahmeempfehlung, sie sagt zu Effi, alle drei Stunden solle sie das Medikament einnehmen (vgl. Kap. 23). Das kann eine Ungenauigkeit des Autors sein, das kann eine Unachtsamkeit der Mutter sein, es kann aber, und das scheint am glaubhaftesten, auch ein Textsignal dafür sein, dass es völlig einerlei ist, in welchem Zeitabstand die Medizin eingenommen wird, da Effi ohnehin nur simuliert. Der Arzt Rummschüttel, auch das ein sprechender Name, diagnostiziert insgeheim eine psychosomatische Erkrankung, etwas zwinge Effi so zu handeln, wie sie handle. Als entschieden ist, dass Effi in Berlin bleiben und auf die Ankunft von Innstetten warten wird, bilanziert sie für sich diesen Lebensabschnitt so: „[…] ein neues Leben! Es soll anders werden“ (S. 224). Effi täuscht aber ein neues Leben vor, denn sie nimmt mit in das neue Leben die Last ihres alten. Sie bewahrt die Liebesbriefe von Crampas auf. Nun wird der symbolische Charakter dieser kurzen Krankengeschichte von Effi erkennbar. Wer im Modus des Uneigentlichen verharrt (das entspricht Effis Krankheitssimulation), dem begegnet seine Mitwelt mit flexiblen, utilitätsorientierten Reaktionen (das Verhalten der Mutter). Übertragen auf ihre Ehe heißt dies, da sie sich nicht endgültig von den Liebesbriefen des Crampas trennt, ihn also nicht eigentlich verabschiedet, kann Innstetten nicht anders, als so darauf zu reagieren, wie es nur ihm persönlich nützt. <?page no="194"?> 193 Effi verabschiedet aber auch ihren Glauben an das Spukhafte, mehr noch, sie fürchtet sich nicht mehr. Damit erteilt sie allen Erziehungsplänen ihres Mannes eine klare Absage. Diese „andere Zeit“ (S. 224) offenbart eine selbstbewusste Effi, die in demselben Moment, wo sie sich der Furcht entledigt, sich widerruft, sie wolle Innstetten „mehr zu Willen leben“ (ebd.). Damit definiert sie ihr neues Selbstbewusstsein über die Präsenz patriarchaler Macht in ihrem Lebensmodus des Eigentlichen, der nun wiederum ins Uneigentliche kippt. Diese Schieflage zwischen Eigentlichem (ihre Liebesbeziehung zu Crampas) und Uneigentlichem (ihre Unterwerfung unter Innstettens Karriere) kennzeichnet ihren weiteren Lebensweg bis zu dem Moment, wo sie sterbenskrank in ihr Elternhaus zurückkehren wird. Ihre Mutter bringt es auf den Punkt: „Das Eigentliche bleibt doch zurück“ (S. 237 f.). Das Entweder-oder zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit wird im Kontext des neuen Lebens in der Metropole Berlin nun zu einem Sowohl-als-auch. Effi erkennt, Kessin war ein „Unglück“ (S. 235) für sie. Effi versucht, ihre Affäre mit Crampas zu analysieren. Sie habe zwar Schuld und meint damit, dass sie nach moralisch-gesellschaftlichen Gesichtspunkten der Zeit objektiv Schuld habe, sie empfinde aber keine Schuld. Diese begriffliche und inhaltliche Trennung ist bemerkenswert, denn sie zielt darauf, in Distanz zu kommen zu dem Geschehenen und zu sich selbst. Sie empfinde keine Reue und sie empfinde keine Scham. Dieser Begriff drückt die Internalisierung des gesellschaftlichen Gewissens aus. „Scham über meine Schuld, die hab ich nicht oder doch nicht so recht oder doch nicht genug, und das bringt mich um, daß ich sie nicht habe“ (S. 242). Effi sinniert darüber, dass ihr das richtige moralische Gefühl fehle. Der Roman exponiert sehr eindrücklich an dieser Stelle, was geschieht, wenn eine bürgerliche Frau des ausgehenden 19. Jahrhunderts entschlossen auf ein vorgeblich objektives moralisches Gefühl (durchaus im Sinne der englischen Moralphilosophie eines Adam Smith) verzichtet, das in Wahrheit die Repräsentanz gesellschaftlicher Moral im Gewissen darstellt. Stattdessen lastet auf ihr „Todesangst“ (S. 242) davor, dass die Geschichte ihrer Affäre eines Tages entdeckt wird. Schuld und Scham haben sich in Angst verkehrt, die eigentlich die Angst vor ihrem Mann ist. Im siebten Jahr in Berlin, Effi ist nun 25 Jahre alt, entdeckt Innstetten die Briefe von Crampas. Auf der Suche nach Verbandsmaterial, weil sich ihre Tochter Annie verletzt hat, wird ein verschlossenes Nähtischchen gewaltsam geöffnet und unter Nähzeug, Nadelkissen und Fadenrollen wird „zuletzt ein kleines Konvolut von Briefen, das unter dem dritten Einsatz gelegen hatte, ganz unten, mit einem roten Seidenfaden umwickelt“ (S. 253 f.), gefunden. Von „ganz unten“ Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="195"?> 194 8. Schritt - 19. Jahrhundert wird die Crampas-Geschichte also hervorgeholt, die Intimität der Verwahrung dieser Briefe wird verletzt und zwar gewaltsam verletzt. Der rote Seidenfaden erscheint farblich als Symbol der Liebe wie auch die Materialbeschaffenheit der Seide auf Erotik verweist. Aus dem Briefpaket zieht Innstetten drei hervor und liest sie sich selbst vor. So erfährt der Leser den Inhalt: Sei heute nachmittag wieder in den Dünen,- […] Du mußt Dich nicht um alles so bangen. Wir haben auch ein Recht.-[…] Das Leben wäre nicht des Lebens wert, wenn das alles gelten sollte, was zufällig gilt. Alles Beste liegt jenseits davon. Lerne Dich daran freuen. (S. 257) …- Fort, so schreibst Du, Flucht. Unmöglich. Ich kann meine Frau nicht im Stich lassen,-[…] wir müssen es leichtnehmen, sonst sind wir arm und verloren. Leichtsinn ist das Beste, was wir haben. Alles ist Schicksal. Es hat so sein sollen. Und möchtest Du, daß es anders wäre, daß wir uns nie gesehen hätten? (S. 257 f.) …-Sei heute noch einmal an der alten Stelle.-[…] Ich bin außer mir,-[…] wir müssen schließlich doch die Hand segnen, die diese Trennung über uns verhängt. (S. 258) In diesem 27. Kapitel vollzieht sich die Katastrophe, der tragische Umschlagpunkt des Romans ist erreicht. Innstetten bereitet das Duell mit Crampas vor, er zieht einen befreundeten Kollegen ins Vertrauen, der ihm als Sekundant dient. Er sei zwar unglücklich, unendlich unglücklich und gekränkt, er empfinde aber keinen Hass oder gar Rachegelüste. Er liebe seine Frau und sei sogar geneigt ihr zu verzeihen. Am Ende aber steht seine Entscheidung gegen Effi (und damit gegen Crampas) und für die Gesellschaft. Innstetten fühlt sich unter Zwang, es ist das „tyrannisierende Gesellschafts-Etwas“ (S. 261), das ihm keine Wahl lasse und ihn zu diesem Handeln zwinge. Dann fällt das entscheidende Wort Ehre. Es geht Innstetten ausschließlich um seine Ehre, um seine gesellschaftliche Reputation in einer durch und durch militarisierten Männerwelt. Der eigentliche Ehebruch Effis ist der uneigentliche Ehrenbruch. Der Sekundant Wüllersdorf bilanziert das so und Innstetten bestätigt dies durch ein Kopfnicken: „[…] unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt“ (S. 263). Darin kommt natürlich auch ein Quäntchen Kritik an gesellschaftlichen Normen zum Ausdruck, aber entscheidend bleibt, dass sich Innstetten wider besseres Wissen dieser sozialen Kontrolle unterwirft und seine Ehe aufs Spiel setzt. Innstetten fährt nach Kessin, duelliert sich mit Crampas und tötet ihn. Anschließend fährt er nach Berlin zurück, wo er ordnungsgemäß den Vorfall <?page no="196"?> 195 den Behörden meldet. Er geht noch weiter, er „muß Effi wegschicken und sie ruinieren“ (S. 270) und verbrennt die Liebesbriefe. Effi weilt zu diesem Zeitpunkt zur gesundheitlichen Erholung in einem Sanatorium in Bad Ems. Dort kommentiert ein anderer Kurgast unwissentlich Effis Situation. Dieser narrative Kommentar wird zugleich zum gesellschaftlichen Spotlight. Frau Zwicker sorgt sich im Gespräch um die großstädtischen Lebensverhältnisse mit ihren bedenklichen „Sittlichkeitszuständen“ (S. 279). Hier schlummern ihrer Überzeugung nach die „Keime einer sozialen Revolution. Wenn ich sage soziale Revolution, so meine ich natürlich moralische Revolution- […]“ (S. 280). Der moralische Aufstand kann zum gesellschaftlichen Aufstand werden-- die Übertragung auf die Ehe- und Ehrenbruchgeschichte und damit die kognitive Transferleistung für die Leserinnen und Leser liegt auf der Hand. Hätte Innstetten sich gegen den moralischen Zwang von Duellforderung und Scheidung zur Wehr gesetzt, hätte er damit die Möglichkeit zum gesellschaftlichen Widerstand eröffnet. Und hätte Effi dem moralischen Zwang zur Fortführung ihrer Ehe konsequent widerstanden, hätte sie damit eine gesellschaftliche Revolution für die Emanzipation der Frau ausgelöst. Der Erzähler rekurriert also in dieser Textpassage auf den Zusammenhang von Moral und Gesellschaft, von moralischer Normativität und sozialem Handlungsdruck. Per Brief erhält Effi die Mitteilung, dass Innstetten die Scheidung eingereicht hat. Sie darf nicht mehr in die gemeinsame Wohnung zurück und ihr wird das Kind entzogen. Für Effi beginnt der soziale Abstieg. Die fünfte Kapitelgruppe beginnt mit dem 32. Kapitel, das die sozialen Folgen der Scheidung für Effi zeigt. Drei Jahre sind vergangen, ihre Eltern haben sich von ihr distanziert, da sie verurteilen, was Effi getan hat. Sie hat eine Zweizimmerwohnung mit Küche und einer Stube für Bedienstete in der Nähe ihrer alten Wohnung bezogen. Roswitha ist zu ihr gezogen, die beiden geächteten Frauen zeigen sich untereinander solidarisch. Der Versuch Effis, mit ihrer Tochter wieder in Kontakt zu kommen, scheitert daran, dass Innstetten das Kind zu Antworten programmiert hat, die nicht authentisch sind und die lediglich zeigen, dass Annie keine emotionale Bindung mehr zu ihrer Mutter hat. Die soziale Ächtung Effis geht so weit, dass ihr jegliches ehrenamtliche gesellschaftliche Engagement verwehrt ist, nicht einmal Nachhilfeunterricht darf sie geben. Effi nimmt Malunterricht, um wieder soziale Kontakte knüpfen zu können. Sie schickt sich in ihre Situation, sie bilanziert sogar, „[…] ich will nichts ändern in meinem Leben. Wie es ist, so ist es recht; ich habe es nicht anders gewollt“ (S. 300). Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="197"?> 196 8. Schritt - 19. Jahrhundert In einem Anfall krampfhaften Lachens, in dem sich ihre ganze Anspannung nach diesen drei Jahren löst, bekennt sie: „[…] ich haß euch, auch mein eigen Kind.-[…]-- Ehre, Ehre, Ehre-… und dann hat er [sc. Innstetten] den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord. Und ich schuld.-[…] Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch.“ (S. 305) Der Arzt Rummschüttel wird wieder zu Rate gezogen und er ist es, der den Eltern Effis in einem Brief von ihrem bedenklichen Gesundheitszustand berichtet. Kurz entschlossen schickt daraufhin der Vater Effi ein Telegramm mit den für den Autor Fontane so wichtigen Worten „Effi, komm“ (S. 308). Effi kehrt an den Ort ihrer Kindheit und Jugend nach Hohen-Cremmen zurück. In der erzählten Parallelhandlung wird noch einmal ein Blick auf Innstetten geworfen, der nun sein eigenes Leben als „verpfuscht“ ansieht, „es quält mich seit Jahr und Tag schon, und ich möchte aus dieser ganzen Geschichte heraus“ (S. 318). Aber selbst in dieser Situation dringlichster Einsicht bringt er es nicht fertig sich mit Effi auszusöhnen. Sein Festhalten an einem obsoleten Ehrbegriff ist mehr als Starrsinn, es ist zwanghaft. Effi dagegen ist dem Tode nah, sie stirbt „mit Gott und Menschen versöhnt, auch versöhnt mit ihm“ (S. 347), womit sie Innstetten ebenso meinen kann wie Crampas. Der Text stellt an diesem Punkt keine Klarheit her. Die Frage bleibt unbeantwortet, ob sich Effi mit ihrem Versöhnungswillen nicht selbst entwertet, der ja weit über eine Aussöhnung hinausgeht. Denn sie gesteht Innstetten sogar zu, dass „er in allem recht gehandelt“ (S. 326) hat, Crampas zu töten, die Scheidung einzureichen und sie von ihrem Kind zu trennen. Effi erlebt durch diese Entwertung ein „Gefühl der Befreiung“ (S. 327) und verschafft sich dadurch die nötige seelische Ruhe. Der Roman zeigt, die Frauen sind die Verliererinnen, und es gibt für sie keinen anderen Weg, als die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu bestätigen. Während Innstetten sein Unrecht erkennt, aber aus seiner Zwanghaftigkeit nicht heraus kann, gesteht Effi ihm zu, recht gehandelt zu haben und verlässt ihren Status selbstbestimmter Lebensführung. Sie wechselt nun endgültig und final vom Zustand der Uneigentlichkeit in den Zustand der Eigentlichkeit. Sie nimmt ihre Rolle eines uneigentlichen Lebens als das eigentliche Leben an-- und stirbt. Das ist sicherlich kein Lösungsangebot, das der Roman narrativ ausbreitet und insofern ist der Roman Effi Briest ein resignatives Buch. Denn es ist ein Ach-Roman, insgesamt werden 92-mal auffällig die Ach-Seufzer artikuliert, allein von Effi 48-mal, wobei diese Interjektion sowohl Ausdruck des Bedau- <?page no="198"?> 197 erns als auch Ausdruck eines Schmerzes ist. Effis Leben, so kann man zugespitzt sagen, ist ein Ach-Leben. Und der Roman ist ein Roman über moralischen Zwang und soziale Kontrolle, über die Grenzen eines eigenbestimmten Lebens für Frauen in einer Männerwelt wie der wilhelminischen Gesellschaft, es ist ein Roman über die Möglichkeiten zum Widerstand und Aufstand und über das Scheitern jeglicher Rebellion angesichts der Faktizität gesellschaftlicher Normen. Textgrundlage: Theodor Fontane: Effi Briest. Roman. Berlin 2006 [Taschenbuch]. Lektüreempfehlungen: Lyrik des 19. Jahrhunderts (u. a. Eduard Mörike, Gottfried Keller, Theodor Storm, Conrad Ferdinand Meyer, Stefan George) Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1854 / 55) Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde (1856) Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor (1863 / 64), Stopfkuchen (1891) Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (1883 / 85) Theodor Storm: Der Schimmelreiter (1888) Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel (1888), Die Weber (1892) Arno Holz / Johannes Schlaf: Papa Hamlet (1889) Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891), Lulu (1895) Einführende wissenschaftliche Literatur: Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2006. Fontane-Handbuch. Hgg. v. Christian Grawe u. Helmuth Nürnberger. Stuttgart 2000. Elsbeth Hamann: Theodor Fontane-- Effi Briest. 4., korrigierte Aufl. München, Düsseldorf, Stuttgart 2001 (=-Oldenbourg Interpretationen Bd. 11). Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) <?page no="200"?> 9. Schritt - 20. Jahrhundert k lAssische m oderne : Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) Schon der französische Schriftsteller Charles Baudelaire (1821-1867) hatte erkannt, dass in dem Wort Moderne auch das Wort Mode steckt. In Le peintre et la modernité (Der Maler des modernen Lebens, 1863) schreibt er: „Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist“ (Charles Baudelaire: Sämtliche Werke Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857-1860. München, Wien 1989, S. 226). Erklärend hatte er zuvor über eine geschichtliche Theorie des Schönen bemerkt: „Das Schöne besteht aus einem ewigen, unveränderlichen Element, dessen Anteil äußerst schwierig zu bestimmen ist, und einem relativen, von den Umständen abhängigen Element, das, wenn man so will, eins ums andere oder insgesamt, die Epoche, die Mode, die Moral, die Leidenschaft sein wird“ (ebd., S. 215). Vor Baudelaire hat bereits Karl Gutzkow (1811-1878) im ersten Teil seiner Säkularbilder (1846) einen Text mit dem Titel Die Mode und das Moderne veröffentlicht und diesen Zusammenhang beschrieben. Darin bilanziert er: „Denn auch dies ist eben ein Zeichen des Modernen und ein rechter Beweis dieses sich erst bildenden, noch nicht abgeschlossenen Begriffes, daß das Moderne viel über sich selbst spricht, daß es hundert Fragen ineinander bespricht und aus formeller Dialektik Resultate erlangen zu können sich einbildet“ (Karl Gutzkow: Gesammelte Werke Bd. 1, Frankfurt a. M. 1845, S. 141-158, hier S. 157). Im Wort Moderne steckt aber auch das Wort rede. Die Literatur, die Wissenschaften und die kulturellen Praxen sind im Zeitalter der Moderne gekennzeichnet von einem regelrechten Diskursivierungsschub. Diese Redeexplosion veranlasst den Dadaisten Hugo Ball (1886-1927) am 18. April 1917 zu der Tagebuchnotiz, „die Normaluhr einer abstrakten Epoche ist explodiert“, und zwei Tage später findet sich die Eintragung: „Die Nervensysteme sind äußerst sensibel geworden. Absoluter Tanz, absolute Poesie, absolute Kunst--: gemeint ist, daß ein Minimum von Eindrücken genügt, um außergewöhnliche Bildformen hervorzurufen. Alle Welt ist medial geworden“ (Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit. Hgg. sowie mit Anm. u. Nachwort versehen v. Bernhard Echte. <?page no="201"?> 200 9. Schritt - 20. Jahrhundert Zürich 1992, S. 156). Beschleunigung wird zunehmend als Moment der Wahrnehmung von Modernität benannt und beschrieben. Historisch gesehen wird der Begriff der Moderne durch Eugen Wolff (1863-1929) programmatisch aufgeladen, er prägt auch diesen Begriff. 1886 veröffentlicht er zehn Thesen, in denen es unter anderem heißt: „Unser höchstes Kunstideal ist-[…] die Moderne“ (zitiert nach: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Hgg. v. Gotthart Wunberg u. Stephan Dietrich. 2., verb. u. kommentierte Aufl. Freiburg i.Br. 1998, S. 25). Die deutsche Literatur wird an einem Wendepunkt verortet, von dem aus sich eine neue „Epoche“ (ebd., S. 24) eröffnet. Die moderne Literatur wird aus der Philosophie, der Naturwissenschaft und der „technischen Kulturarbeit“ (ebd., S. 25) geboren. Das Ziel ist nichts weniger als die „Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft“ (ebd., S. 25). Wolff gilt das Großstadtleben als ein Kennzeichen literarischer Moderne und die Großstadt als genuiner Ort von Modernität. Die Zeit zwischen 1880 und 1930 wird auch als die Epoche der klassischen Moderne in der Literatur beschrieben, die demzufolge eine Vielzahl unterschiedlicher literaturgeschichtlicher Strömungen enthält wie Naturalismus, Symbolismus, Dadaismus oder Expressionismus. Im Herbst 1902 beginnt der österreichische Autor Robert Musil (1880-1942) mit der Niederschrift seines Romans Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Der Autor entscheidet sich mit dem Roman für ein Thema, das einer psychologischen und realistischen Erzählweise gleichermaßen entgegenkommt. Musil wählt mit dem Texttyp Internatsroman ein Genre, das bei zeitgenössischen Leserinnen und Lesern beliebt ist. Eine entsprechende publizistische Aufmerksamkeit ist dem Autor also von vornherein sicher. Schul- und Internatsromane sorgen um die Jahrhundertwende für einen regelrechten literarischen Boom. Die bekanntesten Autoren sind Conrad Ferdinand Meyer mit der Erzählung Das Leiden eines Knaben (1883), Arno Holz und Johannes Schlaf mit Der erste Schultag (1889), Ernst von Wildenbruch mit Das edle Blut (1892) und Rilke mit der kurzen Erzählung Die Turnstunde (entstanden 1899, veröffentlicht 1902). Auch Rilke ist ein Zögling desselben Militärinternates in Mährisch-Weißkirchen, das auch der junge Musil besucht hatte. Rilkes Erzählung aus dem Nachlass Pierre Dumont (entstanden 1894, veröffentlicht 1932) gehört ebenfalls in den Kontext dieser Internatstexte. Franziska Gräfin zu Reventlow schreibt den Internatsroman Ellen Olestjerne (1903), Hermann Hesse schildert seine Internatserlebnisse in dem Evangelisch-Theologischen Seminar Maulbronn in dem Roman Unterm Rad (1905), verbunden mit einer substanziellen Kultur- <?page no="202"?> 201 Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) kritik. Und 1909 folgt Robert Walsers Internatsroman Jakob von Gunten, ein Anti-Entwicklungsroman. Musils Törleß steht am Ende dieser literarischen Reihe und bildet zugleich den Höhepunkt. Denn dem Autor gelingt es, drei thematische Ebenen miteinander zu verknüpfen: Die Modernekritik, die Schulkritik und die kritische Darstellung einer individuellen Entwicklung. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß erscheinen im Oktober 1906. Die Reaktion des Lesepublikums wie der Kritiker fällt überwiegend zustimmend aus, Musils Verlag bittet sogar um weitere Manuskripte. Einer der bedeutendsten Literaturkritiker dieser Zeit, Alfred Kerr (1867-1948), rezensiert den Roman, in dem er Meisterhaftes erkennt, der zugleich aber auch bespien und verrufen sein wird. Er erkennt, dass Musil mit diesem Roman ein literarisches Tabu gebrochen hat. Unter anderem darin liegt für uns heute auch sein literaturgeschichtlicher Wert. Im Frühjahr 1902 lernt Musil die Schriften des Physikers und Philosophen Ernst Mach (1838-1916), über den er 1908 promovieren wird, kennen. Das wird auch seine literarische Arbeit nachhaltig prägen. Mach ist einer der Väter des Positivismus. Seine Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen erscheint 1886, aber erst die zweite Auflage aus dem Jahr 1900 wird von Literaten rezipiert. In den Antimetaphysischen Vorbemerkungen erteilt Mach eine klare Absage gegen jedwede Form metaphysischer Philosophie. Mach versteht sich als Empirist und insofern ist ihm das menschliche Ich nicht mehr als ein Elementenkomplex. Und nur diese Elemente, worunter er Empfindungen versteht, seien wirklich, aus ihnen setze das Ich sich zusammen. Mach prägt eine Formel, die für die Literaten der literaturgeschichtlichen Strömung der Wiener Moderne, womit vor allem die Literatur in Wien zwischen 1890 und 1910 gemeint ist, von entscheidender Bedeutung wird: „Das Ich ist unrettbar“. Hermann Broch, Hermann Bahr und Robert Musil sind die profiliertesten Vertreter der Literatur der Wiener Moderne, die diese Formel in ihrer existenziellen Tiefe ausleuchten und in ihre Literatur einbinden. Hermann Broch spricht von der „furchtbaren und unabänderlichen Einsamkeit des Ichs“ (Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe. Frankfurt a. M. 1977, Bd. 10 / 1, S. 243). Und Hermann Bahr schreibt in seinem Dialog vom Tragischen (1904), das Ich diene als vorläufige Orientierung. Als philosophische Substanz habe es ausgedient, insofern sei nicht mehr die Wahrheit einer Wirklichkeitsaussage entscheidend, sondern der Modus der Illusion, der Mensch brauche diese Illusion eines Ichs. In dem 1918 erschienenen Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters erweitert Robert Musil die machsche Formel entscheidend und wird <?page no="203"?> 202 9. Schritt - 20. Jahrhundert damit letztlich ‚das Ich‘ als Erkenntnisobjekt retten. Der Dichter wird darin als diejenige Person beschrieben, der „die rettungslose Einsamkeit des Ich in der Welt und zwischen den Menschen am stärksten zu Bewußtsein kommt“ (Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Reinbek b. Hamburg 1978, Bd. 8, S. 1026). Diese rettungslose Einsamkeit des Ich kann bedeuten, die Einsamkeit macht das Ich rettungslos. Das Ich ist nicht mehr zu retten, da es von Einsamkeit gekennzeichnet ist. Es bedeutet in dieser Lesart nicht, die Einsamkeit sei nicht zu retten und das Ich sei eine Substanz, die prädizierbar bliebe. Sondern das Ich bleibt definitiv einsam. Rettungslos meint nicht hoffnungslos. Und wenn die Einsamkeit nicht mehr zu retten ist, dann vielleicht das Ich? Musils Formulierung bewahrt sich also einen Rest utopischer Hoffnung darauf, dass das Ich vielleicht doch in irgendeiner Form prädizierbar bleibt. Die individuelle Entwicklung des jungen Törleß versinnbildlicht die Entwicklung der Moderne. Seine Entwicklungssymptome sind Symptome der Moderne. Seine Verwirrungen, also Störungen, sind Verwirrungen und Störungen der Moderne. Insofern kann der Name Törleß wie der Roman Törleß insgesamt als eine Allegorie der Moderne gelesen werden. Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) Die vier Hauptfiguren sind Törleß, Basini, Beineberg und Reiting. Die Namen des Romans können als sprechende Namen dechiffriert werden. Danach ist Reiting derjenige, der wie ein Reiter über Basini steht und Macht über ihn ausübt, ihn sinnbildlich reitet, ihn diszipliniert, ihn lenkt, aber auch ihn schlägt. Beineberg ist derjenige, dessen Körperlichkeit (Beine) wie eine schwere Last (Berg) das Opfer Basini drückt. Basini wiederum ist derjenige, der die Basis dieser Machtspiele darstellt. Der Name Törleß kann Torlos bedeuten, er ist einer ohne Tür und Tor. Auf der entwicklungspsychologischen Ebene des Romans bedeutet dies, Törleß kann sich lange Zeit gegen die negativen Einflüsse der anderen Drei zur Wehr setzen. Er schottet sich ab, weil er türlos ist. Die Türlosigkeit kann demnach viererlei bedeuten: Erstens, das Individuum Törleß ist ein geschlossener Raum, in den hinein und aus dem heraus keine Tür führt, so wie sich „das Tor des Institutes unwiderruflich hinter ihm geschlossen hatte“ (S. 9). Zweitens, Türlosigkeit bedeutet frei von Türen zu sein. Törleß ist dann derjenige, der einem offenen Raum gleicht, der gänzlich ohne Türen auskommt, der von allen Erlebnissen und Ereignissen um ihn herum regelrecht durchflutet wird und der sich auch nicht gegen diese hereinstürmenden Ein- <?page no="204"?> 203 drücke zur Wehr setzen kann. Die Außenwelt und die Entwicklung der Außenwelt hätten demnach den Status einer Schicksalshaftigkeit, die zu vermeiden es keine Möglichkeit gibt. Drittens, Torlosigkeit kann auch dechiffriert werden als das Los des Toren, das Schicksal des Narren. Demnach wäre Törleß ein Narr, der sich der im Roman geschilderten Entwicklung nicht entziehen kann. Oder noch mehr: Die psychische Entwicklung eines Jugendlichen in der Zeit des österreichischen Kaiserreichs gleicht immer einer Narrheit, weil eine souveräne, geschützte Entwicklung nicht stattfinden kann. Und viertens, Torlosigkeit kann auch bedeuten frei von Torheiten zu sein, also das Gegenteil von dem, was unter der dritten Dechiffriermöglichkeit ausgeführt wird. Törleß wäre demnach derjenige, der frei von Torheiten ist, seine Entwicklungssymptome also ernst zu nehmen und nicht als Narrheit zu verstehen sind. Dass der Name diese vier Bedeutungsnuancen enthält, unterstreicht seine Ambivalenz oder Polyvalenz. Diese Vieldeutbarkeit bleibt im Text erhalten, der Autor switcht geschickt zwischen den verschiedenen Bedeutungsebenen. Das im Titel mitgelieferte Codewort der Verwirrung meint die psychosexuelle Entwicklung des jungen Törleß ebenso wie seine philosophischen Reflexionen, die das Infragestellen verlässlicher Erkenntnisinhalte zum Gegenstand haben. Der Roman wird mit einem Motto des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck (1862-1949) eröffnet, dessen Einfluss auf die deutsche Literatur der Moderne kaum zu überschätzen ist. Das vorangestellte Zitat ist seinem Buch Der Schatz der Armen (1896) entnommen. Die eklektische Art zu philosophieren hat Musil durchaus kritisch gewürdigt. Die lebensphilosophischen und mystikaffinen Gedanken Maeterlincks spielen zweifelsohne in den Törleß-Roman hinein. Aber es sollte dabei nicht übersehen werden, dass das Maeterlinck-Motto auch die Tür (! ) öffnet für eine Lesart des Romans, welche den Modernediskurs würdigt. Indem also Musil dieses Zitat als Eingang, gewissermaßen als symbolisches Tor zu seinem Roman wählt, dokumentiert er zugleich auch, unter welchem Gesichtspunkt der nachfolgende Text gelesen werden kann. Und da findet sich im Motto der entscheidende Hinweis, denn dort heißt es: „Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam.- […] Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht-[…]“ (S. 7). Der Verlust von Bedeutung, der Verlust des Vertrauens in die Sicherheit der Worte und in die Tragfähigkeit des Sagens sind Merkmale der Moderne. Der Verlust des Echten und Authentischen ist auf der Erkenntnisebene gekoppelt Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) <?page no="205"?> 204 9. Schritt - 20. Jahrhundert mit dem Verlust der sicheren Wahrheiten. Carl Einstein (1885-1940) hat dies in seinem Roman Bebuquin (1907 Teilveröffentlichung, 1912 Buchveröffentlichung) auf der sprachlichen, narrativen und formalen Ebene meisterhaft vor Augen geführt. Musil hingegen versucht mit den Mitteln der narrativen Kohärenz und des bei den Lesern vertrauten Zusammenhangs realistischen Erzählens das zur Darstellung zu bringen. Ein Vergleich etwa mit Marie von Ebner-Eschenbachs (1830-1916) dem Realismus verpflichteter Schulerzählung Der Musterschüler (1898) zeigt dies sehr deutlich. Musils Roman bietet drei Lesarten an. Man kann ihn als das Dokument einer psychosozialen Entwicklung eines jungen Menschen lesen; man kann ihn als das Dokument eines Schul- und Internatsromans lesen, worin die Kritik an schulischer Repression literarisiert wird; und man kann ihn als das Dokument einer Moderne lesen, die Autor und Figur gleichermaßen als die Zeit großer Verunsicherung und des Verlustes verlässlicher Denkgewohnheiten erfahren. Einsamkeit und Sprachlosigkeit werden dabei die vorherrschenden Themen. Der für die Epoche der Moderne exemplarische Charakter liegt darin, dass Musil einen Text anbietet, der die Verschränkung aller drei Diskursebenen thematisiert. Der Roman beginnt mit einer Abschiedsszene. Törleß, Beineberg, Reiting und einige namentlich nicht Genannte begleiten die Eltern des jungen Törleß zum Bahnhof. Die Bahn, am Ende des 19. Jahrhunderts Symbol für industriellen Fortschritt und gesellschaftlichen Wohlstand, verbindet die Residenzstadt und die Metropolen mit der Provinz, wo das Militärinternat liegt. Die Randlage des Internats ist nicht nur eine geographische, sondern auch im Hinblick auf den Ausgang des Ersten Weltkriegs eine soziographische. Die gesellschaftliche Bedeutung des Militärs verändert sich nachhaltig. Die Internatsschüler sind adeliger Herkunft, sie werden nach ihrer Schulausbildung gesellschaftliche oder militärische Führungspositionen einnehmen. Der Erzähler Musil hält sich in der Eingangsszene nicht mit der Beschreibung des Lokalkolorits auf, vielmehr hebt er die Bedeutung der Mutter von Törleß durch den Wechsel vom eigentlichen zum uneigentlichen Schreiben hervor. Als Vergleichsbild dient ihm der Schleier. Die Mutter verbirgt ihren realen Abschiedsschmerz hinter einem „dichten Schleier“ (S. 8), während ihr Sohn „alles nur wie durch einen Schleier“ (S. 9) sieht. Der Verlust der Mutter, der zunächst nur ein äußerlicher, durch die bevorstehende räumliche Trennung markierter Verlust ist, erweist sich für Törleß im weiteren Fortgang des Romans als ein gravierendes, leidvolles Erlebnis, da es auch den Abschied von der sexuell <?page no="206"?> 205 unschuldigen Kindheit bedeutet. Was Törleß für Heimweh nach seinen Eltern, besonders nach seiner Mutter hält, zeigt sich „in Wirklichkeit“ als „etwas viel Unbestimmteres und Zusammengesetzteres“ (S. 10). Der Erzähler ist allwissend, so wird er die Leser durch den Roman führen. Unbestimmt und zusammengesetzt ist zunächst das Begehren nach seinen Eltern, die aber, je bewusster Törleß dieses Begehren wird, mehr und mehr als Objekt des Begehrens verschwinden und durch andere Liebesobjekte ersetzt werden. Diese Substitution des begehrten Gegenstandes dient dem Roman als ein Leitmotiv, es ist von Beginn an vorhanden und taucht nicht erst in der Basini-Episode auf. Dort wird es lediglich zugespitzt auf ein homosexuelles Begehren hin. Die Bedeutung dieser Substitution kann man auch daran erkennen, dass der Autor, der sich bereits als auktorialer Erzähler eingeführt hat, unmittelbar danach die Erzählperspektive wechselt und nun für einen kurzen Moment in der Ich-Form schreibt. Dies ist auch die einzige Stelle im Roman, an der Musil die Ich-Form wählt, was zusätzlich die Bedeutung dieses Perspektivenwechsels unterstreicht. „Ich meine diese gewisse plastische, nicht bloß gedächtnismäßige, sondern körperliche Erinnerung an eine geliebte Person-[…]“ (S. 10). In einer Rückblende, die in die Abschiedsszene eingeschoben wird, erklärt Musil in wenigen Sätzen die jüngste Entwicklung von Törleß. Die Unsicherheit und Ratlosigkeit der Eltern gegenüber ihrem pubertierenden Sohn macht diesem erstmals deutlich, dass er mit bestimmten Erlebnissen und Erkenntnissen alleine ist. Die Eltern erkennen nicht „das Symptom einer bestimmten seelischen Entwicklung“ (S. 12), es ist die „beginnende Geschlechtsreife“ (S. 15), die zu einer Loslösung von Vaterautorität und Mutterliebe führt. Diese Loslösung ist wiederum allegorisch. Denn der Abschied des jungen Törleß von den Eltern ist der Abschied von Vertrautem. Die Herkunft und die alte Zeit werden abgelegt. Zugleich findet der Abschied dort statt, wo die Moderne ihre stärkste Form der Technisierung erfährt, am Bahnhof. Die Eisenbahn steht für die Technisierung, die Beschleunigung der modernen Lebenswelt. Als Kontrast zu der Weite der Welt draußen, die durch die Bahnschienen symbolisiert ist, wird die „Enge des Institutes“ (S. 21) hervorgehoben. Sie symbolisiert sowohl die räumliche Begrenztheit, dem Einzelnen ist kaum Privatsphäre möglich, und die psychische Einengung durch den Unterricht, der eine Unterrichtung verschiedenster Disziplinierungsformen bedeutet. Wenn die Schulglocke läutet, dann kann dies als ein Hinweis des Erzählers darauf gelesen werden, dass das Militärinternat eine Art weltliches Kloster darstellt, denn mönchisch und kaserniert leben dort die Knaben, die weltlichen Novizen Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) <?page no="207"?> 206 9. Schritt - 20. Jahrhundert einer Herrschaftsgemeinschaft, die auf ihre späteren gesellschaftlichen Machtpositionen vorbereitet werden. Neben die Darstellung der psychosexuellen Entwicklung des jungen Törleß tritt also von Beginn an das Thema der Schulkritik. Der Weg ins Internat und seine Isolationsbedingungen führt aber zunächst durch das kleine Städtchen. Der Erzähler geht mit Törleß an den Häusern und den Hütten der Armen vorbei und schildert die Eindrücke, die Törleß dabei empfängt. Dieser beobachtet die Arbeiter- und Bauernfrauen, er registriert ihre nackten Arme, die Kniekehlen und Umrisse der Brüste und begreift sie als Verführungssignale. Während Beineberg und Reiting die Frauen sexuell belästigen, beteiligt sich Törleß nicht an diesem Herrschaftsgebaren. In „geschlechtlichen Sachen“ (S. 22) fühlt er sich unsicher und schüchtern, der spätere Hinweis auf seine regelmäßigen Besuche bei einer Prostituierten widerspricht dem nicht. Das Begehren nach etwas Anderem, auch sein sexuelles Begehren, wird ihm nur sukzessive bewusst. Er vermag es noch nicht in Worte zu fassen. Damit ist ein weiteres zentrales Thema genannt, das der Wortlosigkeit und Sprachlosigkeit. Dieses Thema strukturiert den Diskurs im Roman über die Moderne und erlaubt es, die Verwirrungen des Zöglings Törleß auch als einen bedeutenden Roman der Moderne, als ein Dokument der Moderne zu lesen. Die Sprache reicht nicht mehr aus, das zu beschreiben, was erlebt und erkannt wird. Das „Begehren“ (S. 155), von dem der junge Törleß spricht und das vornehmlich, aber nicht ausschließlich das sexuelle Begehren meint, ist sprachlos. Die im Unterricht gelernte und durch die Schule vermittelte Sprache der Rationalität erweist sich als untauglich bei dem Versuch, diesem Begehren eine Sprache zu verleihen. Törleß wird es in mündlicher und in schriftlicher Diskursform versuchen, er wird dies in Gesprächen mit Reiting, Beineberg, Basini und dem Lehrerkollegium sowie in seinen Tagebuchnotizen versprachlichen und scheitern. Zugleich wird darin auch ein grundsätzliches erzählerisches Problem erkennbar, das dem Autor durchaus bewusst ist: Wie soll es gelingen, als Erzähler etwas zu beschreiben, was der Figur als nicht beschreibbar erscheint, ohne dabei das Schwebende, die nicht festgelegte Bedeutung aufzugeben und sich in die Rolle des allwissenden Erzählers zu flüchten? Wie lässt sich etwas versprachlichen, von dem behauptet wird, dass es keine Sprache habe? Ein Entkommen aus diesem Dilemma scheint es für den Autor nicht zu geben, er wählt eine auktoriale, in dieser Form sehr traditionelle Erzählhaltung. Tradition und Moderne stoßen in diesem Erzählmodus aufeinander, auf der thematischen Ebene entscheidet sich Musil für die Moderne. Das Besondere an Musils Versuch einer Versprachlichung des Begehrens ist darin zu sehen, dass er diese nicht einfach <?page no="208"?> 207 als Figur gestaltet oder wenig authentische Worte den Figuren in den Mund legt. Vielmehr zwingt ihn die Wortlosigkeit von Törleß als Erzähler selbst dazu, den Diskurs über die Versprachlichung und Wortfindung des Begehrens anstelle seiner Figuren zu führen. Damit wahrt er als Erzähler sowohl die Möglichkeit zur Distanzierung als auch zur Korrektur, zur ironischen Brechung und zur Ungenauigkeit und Bildlichkeit der Figurenfantasien. Der spätere Versuch von Törleß, in Anwesenheit des Direktors, des Religions- und Mathematiklehrers die Erklärung seines Verhaltens und seiner Reflexionen selbst zu übernehmen, zeigt die Schwierigkeit und auch Ausweglosigkeit dieses Unterfangens. Der Autor bleibt von Anfang an der verschworene Mitwisser von Törleß’ Verwirrungen. Beineberg und Törleß suchen auf dem Nachhauseweg vom Bahnhof eine Konditorei auf, das ist eine literarische Szene, die an die entsprechende Konditoreiszene in Rilkes Erzählung Pierre Dumont erinnert, die allerdings erst 1934 aus Rilkes Nachlass veröffentlicht wird. Beineberg wird als ein Schüler mit sicherem Herrschaftsinstinkt und Hang zu einer verschrobenen Spiritualität beschrieben. Für ihn heißt das Wissen um die psychische Befindlichkeit einer Person, die Möglichkeit zu besitzen, diese Person zu manipulieren. Er wird damit gleichermaßen zum Abbild wie auch zur Karikatur bürgerlicher Erziehung. Während des Gesprächs mit Beineberg stellt Törleß unvermutet fest, dass sich „etwas Geschlechtliches“ (S. 28) in seine Gedanken mische. Da dies nicht zum ersten Mal geschieht, kann von einer Entwicklungsserie ausgegangen werden. Törleß wird mehr und mehr seine eigene Sexualität bewusst. Bislang galt dieses sexuelle Begehren der Mutter und in Folge deren Ersatz durch ein noch nicht genauer konturiertes Bild von Weiblichkeit. Nun bekommt dieses Begehren eine unzweideutig homosexuelle Ausrichtung. Die Reaktion von Törleß und seine intuitive Abwehr dieses Gefühls sind Abscheu, Ekel und Widerwillen. Er reagiert körperlich, verstärkt durch seinen Schmerz über den durch den Abschied von den Eltern neu vollzogenen Verlust der familialen Sicherheit, er beginnt zu frieren und innerlich zu erkalten und förmlich zu erstarren. Musil verknüpft die Beschreibung dieser Gefühlssituation mit Törleß’ fundamentaler, ja existenzieller Einsicht, dass er nun einsam ist, und verbindet damit das Motiv der Entwicklung eines individuellen Begehrens mit der Entfaltung eines Epochenparadigmas: die Erfahrung von Einsamkeit als ein Merkmal der Moderne. Die Einsamkeit des jungen Törleß versinnbildlicht so gesehen die Einsamkeit des modernen Individuums. Der österreichische Dichter Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) verfasst eine 1902 veröffentlichte kleine Erzählung mit dem Titel Ein Brief; in die Li- Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) <?page no="209"?> 208 9. Schritt - 20. Jahrhundert teraturgeschichte ist dies eingegangen unter dem Titel Brief des Lord Chandos oder Chandos-Brief. Hofmannsthal bringt darin das Gefühl der Autoren der Moderne auf den Punkt. Er lässt die fiktive Figur des Poeten Lord Chandos einen fiktiven Brief mit dem fiktiven Datum 22. August 1603 an den Philosophen Francis Bacon (1561-1626) schreiben. Chandos erklärt, weshalb er zwei Jahre lang geschwiegen habe, und diese Erklärung gleicht einer generalisierten Aussage über die kulturelle Bedeutung der Sprache in der Moderne. Die Worte und Begriffe versagen, sie haben ihre Bedeutung für Chandos verloren. „Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“ (Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden Bd. 7, S. 465). Auch Chandos spricht von einem „Gefühl furchtbarer Einsamkeit“ (ebd., S. 466), das ihn angesichts des Versagens der Sprache überkomme. Die Worte ließen ihn im Stich. Wollte er seinen Zustand beschreiben, so bräuchte er „eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen-[…]“ (ebd., S. 472). Diese Sprach- und Wortlosigkeit, die empfundene Einsamkeit in der Welt sowie das Denken in nicht beschreibbaren Bildern weisen direkt auf Törleß voraus, auf sein Bekenntnis, „die Worte sagten es nicht“ (S. 23). Törleß fragt sogar Beineberg: „Was ist das? Ich fühle es oft wieder. Dieses plötzliche Schweigen, das wie eine Sprache ist, die wir nicht hören? “ (S. 31) Schweigen erweist sich damit als ein ambivalenter Begriff. Zum einen ist er Ausdruck der Wortlosigkeit des jungen Törleß, seines Unvermögens auf den Begriff zu bringen, was er nicht begreift, zum anderen zeigt das Schweigen die Existenz eines Anderen an, das sich Törleß’ momentaner Erkenntnis oder sinnlicher Erfahrung entzieht. Diese Nichtbeschreibbarkeit eines Anderen wird stilistisch durch eine impressionistisch zu nennende Tendenz zur Unschärfe dargestellt, durch das Wortfeld von anders oder etwa auch schreibtechnisch durch die Absatzmarkierungen und Auslassungspunkte im Text. Mit der Einsamkeit korreliert die Sehnsucht des jungen Törleß nach etwas, das er nicht kennt und das er nicht beschreiben kann. Dieser Deprivationszustand, das sprachlose Getrenntsein von dem, was als bedeutend für die eigene Person geahnt wird, kennzeichnet die Figur Törleß. Die Sehnsucht nach der Mutter verstärkt das Einsamkeitsgefühl, denn Einsamkeit hat für ihn „den Reiz eines Weibes-[…]. Er fühlte sie als eine Frau“ (S. 33), und Törleß ahnt, dass das Mutterbild lediglich das dahinter liegende Bild weiblicher Sexualität verdeckt. Um diesen Zustand zu beschreiben, wählt der Erzähler Metaphern der Herrschaftssprache und verschränkt auf diese Weise den Sexualitätsdiskurs mit dem <?page no="210"?> 209 Herrschaftsdiskurs im Roman. Die Einsamkeit wird nun sogar personalisiert, sie tritt auf als „Herrin selbst der schwarzen Scharen“ (S. 33). Diese Scharen sind die „Schatten der Dunkelheit“, die „wie schwarze Eunuchen“ (ebd.) bedrohlich auf Törleß wirken. Überhaupt wählt Musil mit der Farbe Schwarz einen Beschreibungsmodus, der das Uneinsehbare und Unergründliche der Sexualität für Törleß betont. So trägt etwa die Sinnlichkeit einen schwarzen Mantel, mit dem sie Törleß den Kopf bedeckt (vgl. S. 153), also seine Verstandeskontrolle ausschaltet, bevor er sich von Basini verführen lässt. In dieser Bedrohung durch die Dunkelheit wird Sexualität von Törleß selbst als bedrohlich erfahren. Die Einsamkeit hat für Törleß also sowohl den Status der bedrohlichen Verführerin als auch der begehrten Frau. Musil schildert nun den Besuch Beinebergs und Törleß’ bei der Prostituierten Božena. Dieser Name bedeutet Gottesfrau. Vielleicht wurde Musil dazu durch die gleichnamige Erzählung Božena (1876) von Marie von Ebner-Eschenbach angeregt. Natürlich schafft Musil dadurch auch eine intertextuelle Vergleichbarkeit. Doch liegt das Mehr an Erkenntnisgewinn eher darin, dass die Gottesfrau, also die marienähnliche Božena, ausgerechnet eine Prostituierte ist. Betrachtet man das literarische Setting im Roman, dann wird schnell deutlich, dass diese Figur ihre Ambivalenz bewahrt. Sie ist gleichermaßen gütige Mutterfigur wie auch begehrte Frau für die Internatsschüler. Damit wird sie zur Komplementärfigur der Mutter, das unbestimmte Begehren des jungen Törleß beginnt sich nun auf eine konkrete Adressatin hin zu artikulieren. Erzähltechnisch verbindet Musil beide Figuren dadurch, dass er an ihnen die Bedeutung ihres spezifischen Geruchs hervorhebt. Božena ist von bäuerlicher Herkunft, sie hat einen breiten und festen Gang und riecht imaginär nach Kuhstall. Abends liest sie Groschenromane und raucht Zigaretten. Dieser soziologischen Markierung steht die feine Welt der Hofrätin Törleß gegenüber, eine Welt übrigens, die von Božena im Gespräch mit Beineberg treffend karikiert wird. Für Törleß ist der je spezifische Geruch sexuell konnotiert. Der letzte Satz des Romans lautet: „Und er prüfte den leise parfümierten Geruch, der aus der Taille seiner Mutter aufstieg“ (S. 200). Seine zunehmenden Verwirrungen verbinden sich für Törleß mit einem faulen, süßen Geruch (vgl. S. 64), der Basini mit Božena verknüpft. Gottfried Benn (1886-1956) wird dies 1912 in seinem Gedicht D-Zug so formulieren: „Eine Frau ist etwas mit Geruch“. Törleß geht regelmäßig zu Božena, jeden Sonntagabend ist er bei ihr. Er- - und auch andere Schüler des Internats-- suchen die Prostituierte auf, um sich mit ihr zu „unterhalten“ (S. 39). Diese Art von Unterhaltung kann an dieser Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) <?page no="211"?> 210 9. Schritt - 20. Jahrhundert Stelle des Romans als Codierung für bezahlten Sex verstanden werden, aber auch als Form eines Gesprächs oder einfach als diskursive Ablenkung vom Internatsalltag. Entscheidend ist, dass Božena, die selbst am unteren Ende der sozialen Stufenleiter steht, mit ihrer Sexualität Macht gewinnt über die meist adligen Zöglinge, die zu ihr regelrecht gekrochen kommen. Törleß lässt gegenüber Božena seinen Unterwerfungsfantasien freien Lauf, er genießt das „Heraustreten aus seiner bevorzugten Stellung unter die gemeinen Leute; unter sie,-- tiefer als sie! “ (S. 40) In Törleß’ Fantasie ereignet sich jene Erniedrigung, die später Basini real erfährt. Sexualität erweist sich für ihn als eine Möglichkeit, gesellschaftliche Machtverhältnisse umzukehren, er wertet das narzisstisch auf, nämlich als „Kultus der Selbstaufopferung“ (S. 41), was ihm in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der Familie wie in der sozialen Hierarchie des Internats als Amoralismus oder Doppelmoral begegnet. Nachdem seine Mutter nun wieder abwesend ist, besetzt zunächst Božena dieses Bild des Begehrens, sie drängt sich in der Vorstellungswelt von Törleß an die Bedeutung der Mutter heran und verleiht dem Gesicht der Herrin Einsamkeit Kontur. Das Verbotene, das Verruchte und die sozial verstoßene Frau bilden einen Gegenpol zur schulmäßigen Ordnung des Internats und ihrer Repräsentanten. Der Umfang der Abschiedsszene am Bahnhof, der Konditoreiszene und der Božena-Geschichte unterstreicht die Bedeutung dieses Sexualitätsdiskurses. Der Roman kann also einmal auch als eine Geschichte über jugendliche Sexualität gelesen werden. Mit diesem Diskurs ist aber zum Zweiten ein Motiv verknüpft, das den Roman gleichzeitig als ein Dokument der Moderne ausweist. Denn die Božena-Episode endet nämlich damit, dass Törleß völlig unfähig ist etwas zu sagen. Er ist sprachunfähig, als die begehrte Frau ihn berührt und ihn zu einem Kuss nötigt. Törleß’ Antwort auf das Begehren ist Sprachlosigkeit. Die psychosexuelle Entwicklungsstörung wird Törleß überwinden, wie der Roman zeigt, seine sexuelle Orientierungsphase wird er abschließen, aber die Unsicherheit mit der Sagbarkeit des Unsagbaren bleibt. In seiner Verteidigungsrede vor dem Lehrerkollegium wird er ein letztes Mal den Versuch machen das auszudrücken, was unsagbar ist, er lebt „ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt“ (S. 196), und wird damit zum Opponent jener, die an die Technisierung und Industrialisierung der Welt glauben, die den ordnungsgemäßen Verwaltungsvollzug in Militär und Schule leben. Törleß hat die Erfahrung gemacht, dass alles, was geschieht, auch „anders sein kann“ (S. 199), und diese „Wortlosigkeit“ (ebd.) ist für ihn am Ende eine positive Erfahrung, nicht ein Mangel, sondern ein Zugewinn an Erkenntnis. <?page no="212"?> 211 In der geheimen roten Kammer auf dem Dachboden des Internats wird Törleß über die Gelddiebstähle und den möglichen Täter informiert. Die Machtbalance innerhalb des Herrschertriumvirats Reiting, Beineberg und Törleß ist keineswegs stabil. Obwohl sich Törleß am konspirativen Ort unwohl fühlt, bereitet ihm seine Rolle als eine Art „geheimer Generalstabschef “ (S. 57) durchaus Lust. Törleß gehört bis zu seinem Weggang aus dem Internat zu dieser Herrschaftstriade, unter anderem verweigert er auch eine frühzeitige Rettung Basinis. Reiting tritt als Tyrann auf und wird auch so charakterisiert, er will diese Rolle durchaus bewusst auch mit Blick auf die spätere gesellschaftliche Anwendbarkeit im Erwachsenenleben studieren. Basini ist das Opfer. Er hat Beineberg Geld gestohlen und soll dafür exemplarisch bestraft werden. Die Richter sind zugleich die Henker, Musil karikiert hier in historischer Antizipation den Verfall demokratischer Gewaltenteilung und analysiert die Grundlagen der Tyrannis, wie er später auch in seinem Tagebuch schreiben wird. Reiting, Beineberg und Törleß sind diejenigen, die für die Binnenstruktur der Schüler den Sittenkodex und die Regeln erstellen, die willkürlich Recht sprechen und die Bestrafung auch selbst ausführen. Von Törleß kommt die Aufforderung, Basini solle sagen, er sei ein Dieb. Für Törleß mischt sich in die Begegnung mit Basini wieder etwas Sexuelles, das aber zunächst noch ein diffuses Gefühl bleibt. Beineberg und Reiting hingegen missbrauchen Basini in esoterischem Sadismus. Bei einem nächtlichen Treffen in der roten Kammer peitschen Beineberg und Reiting Basini aus. Törleß wird durch die Schmerzlaute Basinis und durch das angestrengte Stöhnen Beinebergs in einen „Zustande geschlechtlicher Erregung“ (S. 99) versetzt. Der Autor Musil changiert hier an den Grenzen dessen, was in der preußisch-wilhelminischen und der k.u.k-josephinischen Gesellschaft möglich ist, um über Sexualität zu sprechen, ohne deren Schicklichkeitsstandards allzu grob zu verletzen. Törleß macht den Vorschlag, Basini solle sich selbst bezichtigen, er solle sagen, dass er ein Dieb sei. Beineberg und Reiting ergänzen diese Forderung, Basini solle sich zum Tier erklären und sagen, er sei ein Tier, ihr diebisches, schweinisches Tier (vgl. S. 102). Damit wird die tierische Sinnlichkeit, von der am Anfang gesprochen wird und die Törleß mit ihren Krallen gepackt hatte, vergegenständlicht. Sie ist nun kein diffuses Gefühl mehr, sondern wird personalisiert in der Animalisierung und Enthumanisierung des Mitschülers Basini. Später muss Basini auch bellen wie ein Hund und grunzen wie ein Schwein (vgl. S. 144). Zur Mitte des Romans führt Musil ein retardierendes Moment ein. In dieser Episode wird erzählt, wie Törleß versucht, sich mit den Mitteln der Vernunft Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) <?page no="213"?> 212 9. Schritt - 20. Jahrhundert Aufklärung über seinen Zustand und über die von diesem ausgehenden Verwirrungen zu verschaffen. Der anonyme Mathematiklehrer-- überhaupt bleiben die Lehrer im Gegensatz zu den Schülern namenlos-- versucht mit den Mitteln der Mathematik der „ungeschulten Vernunft“ (S. 192) des jungen Törleß, wie es am Ende des Romans heißen wird, das Problem mit den irrationalen Zahlen zu erklären. Auch das scheitert, denn zu versprachlichen, was sich nicht sagen lässt, ist unmöglich. Dahinter spannt sich auch der sehr subtile Gegensatz von Rationalität und Sexualität, von Vernunft und Begehren auf. Das wird bereits bei der Beschreibung des Zugangs zur Wohnung des Mathematiklehrers erkennbar. Zur Prostituierten Božena gelangt Törleß über eine Stiege, in die Wohnung des Lehrers über eine Treppe. In den Begriffen Treppe und Stiege drückt sich nicht nur ein soziales Distinktionsmerkmal aus, sondern auf der symbolischen Deutungsebene heißt dies, sowohl Begehren als auch rationale Erkenntnis sind für Törleß nicht ohne Anstrengung zu erlangen. Gleichzeitig kann das Begehen einer Treppe auch auf einen möglichen Erkenntnisfortschritt hindeuten. Und schließlich wird in der Gleichstellung beider Erfahrungs- und Erkenntnisbereiche durch den Erzähler die Aufklärungsarbeit durch die Vernunft, welche sich Törleß zumindest von seinem Besuch bei dem Mathematiklehrer erhofft, in den Diskurs über das Begehren eingeschrieben. Der Lehrer lebt wie in einem „Konkubinat mit der Mathematik“ (S. 106), das ist also eine Liebesgemeinschaft mit der Vernunftwissenschaft. Erst am Ende des Romans begreift Törleß, dass das, was er sucht, nämlich das Begehren, nur wenig mit der Vernunft zu tun hat, und das, was ihm durch Elternhaus und Schule abverlangt worden ist, stets nur instrumentelle Vernunft meinte. Auch in der Begegnung mit dem Mathematiklehrer erfährt Törleß eine existenzielle Wortlosigkeit. Er muss feststellen, dass seine Worte nichts sagen. Der Erzähler bricht die scheinbare Vernünftigkeit des Lehrers augenblicklich ironisch, denn die Aufklärung, um die der Schüler gebeten hat, wird unter einem regelrechten Wortschwall begraben. „Seit er die Tür zufallen gehört hatte, war ihm, daß sich die Worte immer weiter und weiter entfernten“ (S. 109). Auch von der Selbstaufklärung Törleß’ durch eine bildungsbürgerlich aufbereitete Kant-Auswahl rät der Mathematiker ab. Das kann wiederum als ein ironisches Signal des Erzählers verstanden werden, denn ist es doch Kant (1724-1804), der mit seinem Horaz-Zitat ‚sapere aude! ‘ (‚wage es weise zu sein‘ oder ‚habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen‘; nachzulesen in Kants Schrift Was ist Aufklärung? , 1784) die emanzipative Selbstaufklärung nachgerade gefordert hat. Dieses Selbstdenken ist weder in der Schule noch in der Gesellschaft er- <?page no="214"?> 213 wünscht, schon gar nicht von einem Jugendlichen. Die Begegnung mit dem Mathematiklehrer bleibt für Törleß unbefriedigend. Philosophie und Literatur, die Klassiker Goethe und Schiller können ihm nicht helfen, er verbrennt im Anschluss daran seine eigenen poetischen Versuche. Die Poesie erweist sich als untauglich, das Begehren zu versprachlichen und das Andere der buchstäblichen Wortbedeutungen zu erfassen. Törleß erfährt das „Versagen der Worte“ (S. 92), alles ist „etwas Doppelsinniges“ (S. 90), und die Wortseite ist nur eine Seite davon. Törleß träumt sogar von Kant. Doch wieder ist es der Erzähler, der die unmittelbare Deutung mitliefert, denn der Traum wird mit einem erotischen Stoff verglichen, er sei wie eine Decke aus Seide, „die über die Haut eines nackten Körpers hinuntergleitet, ohne ein Ende zu nehmen“ (S. 121). Das Verschwinden der Vernunft entkleidet den Körper seines Schutzes. Zugleich ist Vernunft Bekleidung, also attributiv und nicht wesentlich. Unter der Vernunft liegt das Begehren, und Traum und Fantasie sind Möglichkeiten, sich dem Schutz der Vernunft wie auch ihrer Bevormundung zu entziehen. Musil bietet an den Gelenkstellen seines Romans wiederholt sexualmetaphorische Vergleiche. Die Deckenmetapher etwa taucht wenig später wieder auf, um die körperliche Anziehung, die Törleß durch Basini erfährt, zu beschreiben; es sei, „wie wenn man in der Nähe eines Weibes schläft, von dem man jeden Augenblick die Decke wegziehen kann“ (S. 132). In diesen Vergleich ist aber auch eine männliche Bemächtigungsgeste eingeschrieben, das heißt die Sexualmetapher ist zugleich auch Herrschaftsmetapher. Gewendet auf den Diskurs über die Sprachlosigkeit lässt sich jetzt schon prognostizieren, dass es auch keine herrschaftsfreie Sprache geben kann. Die Schule erweist sich wieder als der Ort, wo die Regularien des Herrschens eingeübt und in Begehren und Sprache implementiert werden. Törleß versucht sich nun anstelle seiner poetischen Versuche in einem wissenschaftlichen Diskurs Klarheit über den Zusammenhang von Sprache, Macht und Begehren zu verschaffen. Er legt ein Heft an mit dem anspruchsvollen Titel ‚De natura hominum‘ (‚Über die Natur des Menschen‘). Er kommt zwar über einige allgemeine Reflexionen nicht hinaus. Doch enthalten die Aufzeichnungen auch das, was man das Bekenntnis des jungen Törleß nennen kann: Welche Dinge sind es, die mich befremden? Die unscheinbarsten. Meistens leblose Sachen. Was befremdet mich an ihnen? Ein Etwas, das ich nicht kenne. Aber das ist es ja eben! Woher nehme ich denn dieses ‚Etwas‘! Ich empfinde sein Dasein; es wirkt auf mich; so, als ob es sprechen wollte. Ich bin in der Aufregung eines Menschen, der Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) <?page no="215"?> 214 9. Schritt - 20. Jahrhundert einem Gelähmten die Worte von den Verzerrungen des Mundes ablesen soll und es nicht zuwege bringt. So, als ob ich einen Sinn mehr hätte als die anderen, aber einen nicht fertig entwickelten, einen Sinn, der da ist, sich bemerkbar macht, aber nicht funktioniert. Die Welt ist für mich voll lautloser Stimmen: ich bin daher ein Seher oder ein Halluzinierter? (S. 126) Bald bleibt er stecken, „die geschriebenen Worte blieben tot“ (S. 131). Am Ende aber steht die elementare Einsicht-- und erzähltechnisch kann man von dem entscheidenden Wendepunkt des Romans sprechen--, von der Törleß geradezu körperlich gepackt wird: „Sind auch die Erwachsenen so? Ist die Welt so? Ist es ein allgemeines Gesetz, daß etwas in uns ist, das stärker, größer, schöner, leidenschaftlicher, dunkler ist als wir? “ (S. 130) Törleß kann diese Frage nun klar bejahen. Demzufolge ist die Liebesszene zwischen Törleß und Basini nur schlüssig. Eines Abends, als Beineberg und Reiting außer Haus sind, wird Törleß von einer „mörderische[n] Sinnlichkeit“ (S. 136) gepeinigt. Fast zwanghaft fühlt er sich im Schlafsaal zu Basini hingezogen. Törleß’ Begehren richtet sich nun ausschließlich auf den Körper seines Mitschülers. Er ist bereits auf dem Weg zu Basinis Bett, da erwacht dieser und steht sofort auf. „Wie ein geschulter Lakai“ (S. 139) geht er voran und macht sich mit Törleß auf den Weg zur Dachbodenkammer. Es ist klar, dass Basinis Verhalten durch die beiden anderen Peiniger eingeübt und mehrfach erprobt ist. Der sexuelle Missbrauch wird von ihm stumm erlitten. Als Basini erstmals nackt vor Törleß steht, wird dieser vom Eindruck der unmittelbaren körperlichen Schönheit regelrecht ergriffen. Nun mischen sich ästhetisches Erleben und sexuelles Verlangen und werden schließlich eins. Als er sich umdrehte, stand Basini nackt vor ihm. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Der plötzliche Anblick dieses nackten, schneeweißen Körpers, hinter dem das Rot der Wände zu Blut wurde, blendete und bestürzte ihn. Basini war schön gebaut; an seinem Leibe fehlte fast jede Spur männlicher Formen, er war von einer keuschen, schlanken Magerkeit, wie der eines jungen Mädchens. Und Törleß fühlte das Bild dieser Nacktheit wie heiße, weiße Flammen in seinen Nerven auflodern. Er konnte sich der Macht dieser Schönheit nicht entziehen. Er hatte vorher nicht gewußt, was Schönheit sei. Denn was war ihm in seinem Alter Kunst, was kannte er schließlich davon? ! Ist sie doch bis zu einem gewissen Alter jedem in freier Luft aufgewachsenen Menschen unverständlich und langweilig! Hier aber war sie auf den Wegen der Sinnlichkeit zu ihm gekommen. Heimlich, überfallend. Ein betörender warmer Atem strömte aus der entblößten Haut, eine weiche, <?page no="216"?> 215 lüsterne Schmeichelei. Und doch war etwas daran, das zum Händefalten feierlich und bezwingend war. (S. 139 f.) War Törleß bislang nicht in der Lage, Worte zu finden für seinen Zustand und das zu versprachlichen (zu ‚erzählen‘), was ihn umtrieb, so zwingt er nun regelrecht Basini dazu, genau dies zu tun. Er verlangt, er solle Worte finden und erzählen, „du mußt mir alles erzählen! “ (S. 141) befiehlt er ihm. Für Törleß bedeutet das Wissen über die sexuellen Handlungen der anderen beiden, Macht zu haben über deren Sexualität. Törleß begreift nun versprachlichte Sexualität als Herrschaftsform, das Wissen bedingt Macht. Basinis Verhör findet im Schlafsaal seine nicht-sprachliche Fortsetzung, er setzt sich auf das Bett von Törleß und presst dann seinen nackten Leib an ihn (vgl. S. 152). Törleß wehrt sich noch gegen Basinis Zudringlichkeit und gegen seine Liebesbekundungen. Doch schließlich gibt er nach, es reißt ihn fort, wie es im Text heißt. Törleß sucht „kein Wort mehr“ (S. 153). Für viele Zeitgenossen ist die Beschreibung dieser homosexuellen Liebesnacht ein Tabubruch. Keiner hatte es bislang gewagt, so offen und leicht dechiffrierbar über jugendliche Sexualität zu schreiben. Der Erzähler stellt aber klar, dass das sexuelle Verlangen nur ein Teil seines Begehrens ist, es wächst über das Liebesobjekt Basini ziellos hinaus. Im Erzählerkommentar heißt es: Aber man darf auch wirklich nicht glauben, daß Basini in Törleß ein richtiges und-- wenn auch noch so flüchtig und verwirrt- - wirkliches Begehren erregte. Es war allerdings etwas wie Leidenschaft in Törleß erwacht, aber Liebe war ganz gewiß nur ein zufälliger, beiläufiger Name dafür, und der Mensch Basini nicht mehr als ein stellvertretendes und vorläufiges Ziel dieses Verlangens. Denn wenn sich Törleß auch mit ihm gemein machte, sein Begehren sättigte sich niemals an ihm, sondern wuchs zu einem neuen, ziellosen Hunger über Basini hinaus.-[…] Dieses übrige des Begehrens war schon längst,-- war schon bei Božena und noch viel früher dagewesen. (S. 154 f.) Nach der Rückkehr Beinebergs und Reitings wird ein letztes sadistisches Experiment an Basini durchgeführt. Seine Seele soll durch Hypnose materialisiert werden. Törleß ahnt, dass nun etwas zu Ende geht und zum Abschluss gekommen ist. Zugleich hat er aber auch die Mechanismen der Macht wiedergefunden und instrumentalisiert, er weist Basinis Bitten um Hilfe brüsk zurück. Für ihn sind die Auflösung von Hierarchien und Machtverhältnissen, der Verzicht auf den Gebrauch der Vernunft und der Verstoß gegen gesellschaftliche Normen nur so lange sinnvoll, wie es ihm nützt. Dass er am Ende in letzter Minute doch Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) <?page no="217"?> 216 9. Schritt - 20. Jahrhundert noch Basini vor der drohenden Bestrafung durch die gesamte Klasse und der Anzeige bei der Schulleitung warnt, ist für Basinis Schicksal unerheblich. Denn dieser ist als Opfer einer Tätergesellschaft stigmatisiert, ohne Möglichkeit zur Rechtfertigung oder Wiedergutmachung. Der letzte Versuch von Törleß sich und seinen Zustand zu erklären, wird vom Erzähler geradezu ins Groteske erweitert. Törleß muss sich vor dem Lehrerkollegium für sein plötzliches Verschwinden aus dem Internat rechtfertigen und sich zum Fall Basini äußern. Jeder Lehrer versucht, das Versagen der Worte-- so beschreibt Törleß ja seinen Zustand, seine ‚Verwirrungen‘-- jeweils unter dem Blickwinkel seines Faches zu erklären. Der Religionslehrer stellt ein theologisches Bedürfnis des Jungen fest, der Mathematiklehrer konstatiert Schwierigkeiten einer „ungeschulten Vernunft“ (S. 192), der Direktor empfiehlt den Wechsel von der öffentlichen Schule in eine Privatschule oder Hausunterricht. Törleß’ Verteidigungsrede fällt in der Tat zweifelhaft aus, ihr fehlt, wie er selbst spürt, die Rückbindung an seine Erfahrungen. Musil bringt an dieser Stelle nochmals das Motto Maeterlincks, das dem Roman vorangestellt ist, ins Spiel, wonach Sprache die Entwertung von Bedeutung darstellt. Törleß verfügt über keine sprachlichen Möglichkeiten mehr das auszudrücken, was er im Laufe seiner psychosozialen Entwicklung erlebt hat. Er verwendet dazu das Bild von den toten und den lebendigen Gedanken: Ja, es gibt tote und lebendige Gedanken. Das Denken, das sich an der beschienenen Oberfläche bewegt, das jederzeit an dem Faden der Kausalität nachgezählt werden kann, braucht noch nicht das lebendige zu sein. Ein Gedanke, den man auf diesem Wege trifft, bleibt gleichgültig wie ein beliebiger Mann in der Kolonne marschierender Soldaten. Ein Gedanke,-- er mag schon lange vorher durch unser Hirn gezogen sein, wird erst in dem Momente lebendig, da etwas, das nicht mehr Denken, nicht mehr logisch ist, zu ihm hinzutritt, so daß wir seine Wahrheit fühlen, jenseits von aller Rechtfertigung, wie einen Anker, der von ihm aus ins durchblutete, lebendige Fleisch riß-… Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur andern Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt. (S. 194 f.) Die Erkenntnis, dass alles geschieht, wie es geschieht, und dass die Dinge die Dinge sind und es auch immer bleiben werden (vgl. S. 196), ist das Eingeständnis, dass eine Veränderung nicht möglich ist. So gesehen bietet der Roman auch keinerlei Ansatzpunkt für eine utopische Lösung. Auf der Suche nach Worten, <?page no="218"?> 217 die das ausdrücken könnten, was er durchlebte, ist Törleß selbst zum Mitläufer, ja zum Mittäter geworden, das zeigt die Basini-Episode. Insofern greift es zu kurz, wenn man nur Beineberg und Reiting als Täter sieht. Das Verhalten von Törleß gegenüber Basini kann als eine Form der Einübung in ein späteres Leben gesellschaftlicher Macht und Reflexionslosigkeit verstanden werden. Die Schule hat die Aufgabe, frühzeitig die jungen Männer auf gesellschaftliche Machtpositionen hin zu konditionieren und den Offiziersnachwuchs zu rekrutieren. Törleß lernt also Vernunft stets nur als instrumentelle Vernunft und Begehren stets nur als instrumentelles Begehren kennen. Hinter der Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit verbirgt sich die von Törleß gesuchte zweite oder andere Wirklichkeit. „Er fühlte sich gewissermaßen zwischen zwei Welten zerrissen: Einer solid bürgerlichen, in der schließlich doch alles geregelt und vernünftig zuging, wie er es von zu Hause her gewohnt war, und einer abenteuerlichen, voll Dunkelheit, Geheimnis, Blut und ungeahnter Überraschungen“ (S. 57). Törleß hat am Ende die Wahl zwischen Sinnkrise und Anpassung. Er entscheidet sich für die Anpassung als dekadenten Lebensstil und repräsentiert damit einen Typus der niederen aristokratischen Gesellschaftsschicht des Vorkriegsösterreich. Seine Erfahrung der Wortlosigkeit stürzt ihn weder in avantgardistische künstlerische Experimente noch in eine Lebenskrise. Sondern er durchläuft und überwindet diese ‚Verwirrungen‘ mit einer pragmatischen Nüchternheit. „Eine Entwicklung war abgeschlossen, die Seele hatte einen neuen Jahresring angesetzt wie ein junger Baum,-- dieses noch wortlose, überwältigende Gefühl entschuldigte alles, was geschehen war“ (S. 187). Die Schule bzw. das Internat ist der Ort, wo die Herrschaftsmechanismen im sozialen wie im sexuellen Umgang miteinander eingeübt werden. Beineberg, Reiting und Törleß üben nur das an Basini aus, was sie selbst auch erfahren. Die Folter des schulischen Erziehungssystems dient der Verinnerlichung von gesellschaftlichen Kontrollinstanzen, die das System benötigt, um selbst wiederum ihre Mitglieder kontrollieren und ihre Herrschaft stabilisieren zu können. Gegen diesen Sozialisationsprozess rebelliert zwar der junge Törleß in seiner Ich-Entwicklung anfänglich, doch obsiegt am Ende das Schulsystem über Beineberg, Reiting, Basini und Törleß. Der Schulroman ist also zugleich das Verlaufsprotokoll der psychosozialen Entwicklung eines Individuums (Törleß) und ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Erkenntnis- und Sprachkrise, in der sich Törleß währenddessen befindet, bündelt das Generalthema der Moderne: den Bedeutungsverlust von Sprache angesichts der Herausforderungen einer modernen Lebenswelt. Törleß ist so gesehen ein junger Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) <?page no="219"?> 218 9. Schritt - 20. Jahrhundert Mensch auf der Suche nach Erlösung, seinen Namen kann man als ‚erlös(ß)t‘ anagrammieren. Es sind die Zweifel, die Verwirrungen, die Erfahrungen mit Sexualität und Rationalität, es ist schließlich die Erkenntnis, dass alles einen zweiten Sinn habe und die Sprache versagt bei dem Versuch, diese zweite Bedeutungsebene der Dinge zu erfassen. Das ist das ‚Chandos-Syndrom‘. Aber anders als Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos, der Sprachlosigkeit oder Wortlosigkeit als Merkmal der Moderne beschrieben hatte, kann Törleß diese Krise nicht sprachlich artikulieren, sondern er bleibt sprachlos. Die Krisenerfahrungen, die Törleß auf dem Gebiet von Sexualität, Erkenntnis und Sprache gemacht hat, kann er selbst nicht in geordnete Rede überführen. Es bleibt ihm letztlich nur der Weggang vom Ort der Sprachlosigkeit. Die Erfahrung von Einsamkeit und Langeweile lassen ihn schon früh erkennen, „Worte sagten es nicht“ (S. 23), er ist unfähig ein Wort zu sagen (vgl. S. 49) und resümiert, „selbst weiß ich nichts zu sagen“ (S. 169). Über die Sprach- und Wortlosigkeit zu sprechen, diese Aufgabe übernimmt der Autor und zwar sehr beredt mit seinem Roman. Nur er ist in der Lage, diese Krise darzustellen. Ob die Figur des Törleß in Musils späterem Jahrhundertroman Der Mann ohne Eigenschaften (1930 / 32) in der Figur des Ulrich seine Fortsetzung findet, ist umstritten. Die Verbindung jedenfalls von der Entwicklung eines Einzelnen, von der Prägung dieses Einzelnen durch ein Schulsystem und von der Erfahrung der Wortlosigkeit durch diesen Einzelnen als Merkmal der Moderne ist in seinem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß meisterhaft dargestellt. Textgrundlage: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. 68. Aufl. Hamburg 2013 (=-rororo 10 300). Lektüreempfehlungen: Lyrik des 20. Jahrhunderts (u. a. von Rainer Maria Rilke, Christian Morgenstern, Dada-Gedichte, expressionistische Lyrik, Kurt Schwitters, Bertolt Brecht, Hermann Hesse, Erich Kästner, Gottfried Benn) Arthur Schnitzler: Reigen (1900), Leutnant Gustl (1900) Thomas Mann: Buddenbrooks (1901), Der Tod in Venedig (1912), Der Zauberberg (1924) Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief (1902), Jedermann (1911) Heinrich Mann: Professor Unrat (1905), Der Untertan (1914 / 18) Robert Walser: Jakob von Gunten (1909) <?page no="220"?> 219 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) Carl Einstein: Bebuquin (1912) Franz Kafka: Die Verwandlung (1915), Der Prozeß (1925), Das Schloß (1926) Gottfried Benn: Gehirne (1916) Ernst Jünger: In Stahlgewittern (1920) Ernst Toller: Masse Mensch (1920) Hermann Hesse: Der Steppenwolf (1927) Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (1930 / 32) Einführende wissenschaftliche Literatur: Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933. Stuttgart, Weimar 1998. Robert-Musil-Handbuch. Hgg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016. Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) <?page no="222"?> 10. Schritt - 20. Jahrhundert m oderne : Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) „Ich komme von der Musik her und habe dieses lauthafte oder lautliche Sprachverfahren entwickelt, das eine Zwischenform zwischen Komponieren und Schreiben darstellt“ (Jelinek auf der Umschlagrückseite ihres Buchs: ende. gedichte von 1966-1968. Lyrikedition 2000. München 2000). Mit diesen Worten umschreibt die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek (geb. 1946) ihre Arbeitsweise. Ihre Texte gelten bis heute oft als schwer lesbar oder als schwer spielbare Literatur. Je nach politischem, moralischem oder ästhetischem Standpunkt werden ihre Bücher als Kampfschriften gegen die Herrschaft des Patriarchats und als Provokation herrschender moralischer und ästhetischer, kurz kultureller Standards gelesen. Wofür die Autorin kämpft, bleibt dabei in der Rezeption meist unklar. Die Beliebigkeit des persönlichen Urteils verdeckt in vielen öffentlichen Debatten die Unfähigkeit oder den Unwillen zu einem fundierten ästhetischen und politischen Urteil. Selbstaussagen der Autorin über ihre Bücher (vgl. zur Übersicht auch ihre Homepage www.elfriedejelinek.com) sind problematisch, denn sie gibt unumwunden zu: „Ich hasse es, über meine Bücher zu sprechen. Ich bin darauf gekommen, daß alles, was ich darüber gesagt habe, falsch ist“ (Interview mit André Müller in: DIE ZEIT vom 22. Juni 1990). Dabei gehört ihr Werk längst zum festen Bestand der modernen deutschsprachigen Literatur und das nicht erst nach der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2004. In der Pressemitteilung des ständigen Sekretärs vom 7. Oktober 2004 zur Begründung der Nobelpreisverleihung heißt es, der Preis werde der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek verliehen „für den musikalischen Fluß von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen“ (www. nobelprize.org / nobel_prizes / literature / laureates / 2004 / press-d.html). Was die großen Autoren der klassischen Moderne in Österreich begonnen haben-- man denke etwa an Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal oder Robert Musil--, das setzt Jelinek konsequent fort: die Dezentrierung des Subjekts, die Demaskierung der Sprache und die Destruktion patriarchaler Gewalt. <?page no="223"?> 222 10. Schritt - 20. Jahrhundert Am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn sind Jelineks Arbeiten geprägt von einem experimentell-sprachkritischen Impuls. Sie sucht in diesen frühen Arbeiten- - ähnlich wie die Autoren der Wiener Gruppe- - nach einer angemessenen experimentellen Form für ihre thematisch-inhaltlichen Anliegen. Das betrifft besonders ihren bukolit-Roman (1968) und den Roman wir sind lockvögel baby! (1970). In beiden Büchern kalkuliert die Autorin noch mit einem aktiven Leser oder einer aktiven Leserin, der oder die sich kreativ in die Lektüre einschalten. In wir sind lockvögel baby! stellt sie ihrem Text eine regelrechte „gebrauchsanweisung“ voran, worin die Lesenden unmissverständlich zur Mitarbeit am Text aufgerufen und gezielt zur ästhetischen „gegengewalt“ (o. S.) als Vorform politischer Veränderbarkeit ermuntert werden. Mit Formen solcher avantgardistischer Experimente in je unterschiedlicher Gewichtung operiert die Autorin bis heute in narrativen, lyrischen oder theatralen Texten auf der Sprachebene. Diese literarisch ambitionierten Projekte, die in anderen Literaturen etwa bei Julio Cortázar (1914-1984) und Raymond Queneau (1903-1976) oder der Gruppe Oulipo (gegründet 1960) prägende Vorbilder entwickelt haben, vollstrecken Aufklärung im konsequenten Sinne und setzen den kreativen, selbstständigen und das heißt letztlich den selbst denkenden Leser voraus. In ihrem Roman Lust (1989) beschreitet Jelinek einen anderen Weg, das Selbstdenken wird hier zum Denken des Selbst, das als männliches identisch und als weibliches nicht-identisch ist. Insofern kann Lust auch als ein Gegenstück zum Roman der Klavierspielerin gelesen werden. Bereits in dem Essay Die endlose Unschuldigkeit (1980) eröffnet sie diesen gesellschafts- und patriarchatskritischen Horizont, er kann durchaus auch als ein Schlüssel zur Textinterpretation der Klavierspielerin herangezogen werden. Die Texte Jelineks zielen insgesamt auf eine radikale Patriarchats- und Herrschaftskritik. Das Medium, das diese Kritik vorträgt und das als Herrschaftsinstrument auch der Kritik unterliegt, ist die Sprache. Insofern ist sexuelle Herrschaft als Herrschaft der Männer über die Frauen stets auch sprachliche Herrschaft. Sprache ist das Instrument der Unterdrückung. Der Mann ist der Bourgeois, die Frau ist die Proletarierin, Sexualität und Sprache sind die instrumentellen Möglichkeiten der Herrschaftspraktik des Mannes über die Frau. In ihrem frühen Essay Die endlose Unschuldigkeit entwickelt die Autorin im expliziten Rückgriff auf die Kritik der Alltagsmythen von Roland Barthes (1915-1980) eine radikale Programmatik für ihre Funktionsbestimmung von Literatur. Sie bedient sich darin einer expositorischen Textsorte, die zwar dieselben handwerklichen Verfahren (Montagetechnik, Assoziationsstil etc.) <?page no="224"?> 223 Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) aufweist wie der im gleichen Jahr erschienene experimentelle Prosatext wir sind lockvögel baby! , sie aber die Möglichkeit einer Fiktionalisierung bewusst nicht wählt. Man kann diesen Essay insofern auch als einen Versuch Jelineks begreifen, ihr Themeninventar in einem nicht-fiktionalen Medium zur Sprache zu bringen. Die Kritik an bestehenden Regel- und Herrschaftszwängen spiegelt der Essay auf der sprachlichen Ebene. Die Autorin bedient sich konsequent der Kleinschreibung, der Buchstabe „y“ wird phonetisch als „ü“ wiedergegeben („mütos“, Die endlose Unschuldigkeit, S. 49), das Bindewort „und“ an entsprechenden Textstellen wird durch „&“ ersetzt (z. B. „die vaterinhalte in kultur & individuum“, ebd., S. 50), die Anwendung der Satzzeichen beschränkt sich auf eine Minimalinterpunktion. Die Autorin montiert Zitate aus der Werbebranche, aus dem Vorabendprogramm des Fernsehens, aus der Trivialliteratur und den Groschenromanen und verbindet sie mit ihrer radikalen Kritik an den sogenannten Alltagsmythen. In diese Kritik arbeitet sie wörtliche und indirekte Zitate des französischen Philosophen und Literaturkritikers Roland Barthes ein. Das Geflecht der Zitatanleihen, in das auch Zitate aus anderen Referenztexten eingegangen sind, ist in diesem Essay sehr dicht. Die Bedeutung der kritischen Programmatik ihres Textes besteht darin, dass Jelinek die Kritik an den Alltagsmythen und ihrer industriell-kapitalistischen Nutzung mit Erkenntnissen und Begriffen der marxschen Gesellschaftsanalyse verschmilzt. In diesem Bezug auf einen dezidierten politischen Standpunkt ist auch der Grund zu sehen, weshalb Jelinek nach Wende und Wiedervereinigung in der Bundesrepublik zunächst zögerlich rezipiert wurde. Anders als beispielsweise für ihren österreichischen Autorenkollegen Thomas Bernhard (1931-1989) bedeutete für Jelinek Gesellschaftskritik auch, deutlich einen parteipolitischen Standpunkt zu beziehen. Die bürgerliche Ideologie, die Jelinek in ihrem Essay der Kritik unterzieht, ist gekennzeichnet durch „blinde wissenschaftsgläubigkeit“ und durch die „fetische der ordnung sauberkeit & moral“ (ebd., S. 56). Die gesuchte und aufdringliche familiale Harmonisierung der Vorabendserien im Fernsehen, die Mythenproduktion in Werbefilmen und Illustriertenromanen bilden „eine art von natürlichkeitsschleim der alles überzieht“ (ebd., S. 56). Diese Trivialmythen von Liebe, Familienglück, umfassender Kommunikationsmöglichkeit und gesellschaftlichem Aufstieg sind „zentrale machtgelenke der gesellschaft“ (ebd., S. 50). Für Jelinek besteht die Funktion des Mythos darin zu deformieren, nicht etwa darin ganz aufzulösen. Das bedeutet, die Mythen werden enthistorisiert, sie verlieren ihre eigene Geschichtlichkeit und werden zu bloßen „gesten“ (ebd., S. 51). Neben die Enthistorisierung des Mythos tritt <?page no="225"?> 224 10. Schritt - 20. Jahrhundert dessen Entpolitisierung durch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft. Der Mythos ist eine entpolitisierte Aussage. So stabilisiert z. B. der „mütos von der gemeinschaftlichkeit aller menschen ihrer gleichheit trotz unterschiedlicher hautfarbe rasse gesellschaftlicher klasse etc.“ (ebd., S. 72 f.) die bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse, anstatt sie zu verändern, da der Mythos stets auf eine bessere Zukunft, eine greifbare Utopie oder das Bessere schlechthin wie etwa in der Werbung zielt. Statt Geschichte liefert der triviale Mythos Natur. Was seine Ursachen in gesellschaftlichen Entfremdungsmechanismen hat, wird als natürlicher Unterschied der Geschlechter ausgegeben, um so die Herrschaft des Mannes über die Frau weiterhin zu sichern, „das familienbestimmende herr-knecht verhältnis zwischen mann & frau der eine tut die arbeit der andre eignet sie sich an“ (ebd., S. 75). Jelineks Schlussfolgerung aus ihrer Analyse der gesellschaftlichen Funktion trivialer Mythen lautet: „der zweck der müten des trivialbereichs ist es daher die welt in ihrer unbeweglichkeit zu halten.- […] das läuft darauf hinaus daß der menschlichen tätigkeit dauernd enge grenzen vorgezeichnet und ins gedächtnis zurückgerufen werden innerhalb derer er sein ‚leiden‘ durchexerzieren darf ohne zu einer revolutionären veränderung zu kommen“ (ebd., S. 82). Fasst man den Essay Die endlose Unschuldigkeit im Hinblick auf die nach 1970 geschriebenen Texte zusammen, so lassen sich aus dem Themeninventar drei Komplexe trivialer Mythen herauslösen, die auch für die Klavierspielerin konstitutiv sind: Erstens der triviale Mythos von Liebe und Sexualität, zweitens der triviale Mythos der Kommunikation, und drittens der triviale Mythos des Klassenaufstiegs. Es zeigt sich, dass Jelineks radikale Patriarchatskritik um diese drei Mythen als deren Zentrum kreist. Die Architektur von Jelineks Schaffen lässt sich in der Klavierspielerin sehr gut erkennen. Sie greift darin Diskurslinien auf, die sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entfalten, sie verschränkt die Themen Sprachkritik, Geschlechterkritik und Herrschaftskritik, aber in einer sprachlich sehr eigenen, konsequenten Weise. Diese Schreibhaltung markiert Jelineks literarisches und essayistisches Schaffen gleichsam als ein Programm von Beginn an. Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) Die Hauptfigur Erika Kohut in Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin, der 1983 veröffentlicht wird, ist eine studierte Pianistin, die an der Musikhochschule in Wien als Klavierlehrerin angestellt ist und vom Klavierunterricht lebt. Da die Mutter von Erika Kohut bereits zu Beginn des Textes als dominant geschildert <?page no="226"?> 225 Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) wird und der Vater nicht mehr Teil dieser kleinbürgerlichen Familie ist, zeichnet sich ab, was erst am Ende des Romans evident wird: Die Infamie des Patriarchats besteht gerade darin, dass es auch dann noch funktioniert, wenn die Männer abwesend sind. Die Konditionierung der Frau als stabilisierende Funktion patriarchaler Macht ist also von Beginn an ein Thema Jelineks. Erika Kohut erfährt eine doppelte Unterdrückung, sie ist Opfer patriarchaler Gewalt als entrechtetes, weibliches Individuum, dem alle Chancen zum sozialen Aufstieg durch die Herrschaftsverteilung in der Gesellschaft verwehrt sind, und sie ist Opfer sexueller Herrschaft des Schülers Walter Klemmer. In der Figur Kohut kommen gesellschaftliche und individuelle patriarchale Herrschaftsmechanismen zur Geltung. Diese doppelte Unterdrückung wird nochmals potenziert durch die Rolle der Mutter, die im Buch die Funktion einer Agentin gesellschaftlicher und das bedeutet patriarchaler Gewalt einnimmt. Diese doppelte Rolle der Frau als Objekt männlichen Begehrens wird im Text durch den intensiven Gebrauch einer Tier- und Jagdmetaphorik hervorgehoben. Erst in dem Augenblick, da Erika ihre Sexualität entdeckt und sich bewusst wird, ein Recht auf eigene Lust zu haben, entwickelt sich die Gejagte (als Sexualobjekt des Patriarchats) selbst zur Jägerin. Die Metaphorik wird bis zum Parabolischen gesteigert, wenn Jelinek an den Schluss des ersten Erzählteils eine Tierparabel anfügt. Das „ehemalige Tier der Wildnis und jetzige Tier der Manege“ (S. 130) ist sowohl eine Metapher für die Figur Erika Kohut als auch für deren sexuelles Begehren. Indem die Tochter und Frau durch die Erziehung der Mutter gefügig gemacht worden ist, ist auch ihre Sexualität ins Verbotene und Angstbesetzte verdrängt worden. Für Erika sind der Unterleib und die Angst „zwei befreundete Verbündete, sie treten fast immer gemeinsam auf “ (S. 105). Ihren Körper legt sie regelrecht still. Mit der Jagd- und Tiermetaphorik korrespondieren technizistische Metaphern, die nicht nur Bestandteil der Sexualsprache ihres Schülers Walter Klemmer sind, sondern die auch dort zur Anwendung kommen, wo generell über Sexualität gesprochen wird, da nach der Lesart des Romans das Schreiben über Sexualität stets ein männliches Schreiben ist. Für Erika Kohut bedeutet Sexualität demzufolge die von Männern normierte Sexualität. Das Begehren wird domestiziert, „sein Herr, der Dompteur, knallt mit der Peitsche! " (S. 130), Sexualität wird mit der Androhung von Gewalt gefügig gemacht. Die Herrschaft des Patriarchats stützt sich auf Angst und Gewalt. Die Vorstellung einer gewalt- und angstfreien Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau ist daher nur ein trivialer Mythos, der als solcher entlarvt werden kann. Bereits in ihrem Roman Die Liebhaberinnen (1975) hatte Jelinek diesen Mythos systematisch destruiert. <?page no="227"?> 226 10. Schritt - 20. Jahrhundert Die Einteilung des Romans in zwei eigenständige Teile folgt nur ungefähr einer inneren Logik. Einzelne Erzählepisoden, die meist den Alltag von Erika Kohut, von der Mutter oder von Walter Klemmer ausleuchten, fügen sich locker aneinander. Die Absatzmarkierungen, die teils eingerückt, teils nicht eingerückt sind, dienen nicht immer der klaren narrativen Struktur. Dies ist aber auch nicht beabsichtigt. Vielmehr geht es in diesem Roman- - und der Untertitel, der diese gattungstypologische Zuweisung darstellt, darf auf keinen Fall überlesen werden- - um die Darstellung eines bis dahin Unvorstellbaren. Insofern wird auch das Zeugma als Stilmittel bewusst eingesetzt. Der Roman ist ein katachrestischer Roman (s. u.). Damit wird deutlich gemacht, dass das individuelle und gesellschaftliche Leben einer Frau in den 1980er Jahren immer noch in extremer Schieflage ist, trotz aller emanzipatorischen Umordnungsversuche. Das zeigt sich auch in der Markierung der beiden Romanteile. Während die erste römische Zahl für den ersten Teil noch mittig, also zentriert ist, rutscht die römische Zahl für den zweiten Teil nach links, die Hauptfigur Erika oder sogar die Konstellation zwischen Erika, Walter Klemmer und ihrer Mutter insgesamt ist aus dem Zentrum gerückt, sie ist aus dem Fixpunkt gesellschaftlicher Kontrolle ent-rückt. Es geht dabei um die Frage nach der Eigenständigkeit weiblicher Identität, darum, Erikas „im Schutt eingegrabener Weiblichkeit nachzuspüren“ (S. 102). Das schließt die Suche nach einer sexuellen Identität ebenso mit ein wie die Suche nach dem Ort innerhalb einer familiären Ordnung mit dem abwesenden, weil verstorbenen Vater (der an 10 Textstellen bis zum Schluss des Romans aber schemenhaft auftaucht) und der überdominanten Mutter. Und schließlich geht es um die Frage nach weiblicher Identität in einer Paarbeziehung. Erika Kohut ist Ende dreißig und lebt ein Leben für die Musik, eingezwängt in ein „hausgemachtes Gerüst von Sicherheiten und Gewöhnungen“ (S. 9), bewacht von der eifersüchtigen Mutter. Autoaggressiv veranlagt, sucht sie nach einer sexuellen Erfahrung, die ihre zwanghafte Schmerzlust und Schaulust mit einem masochistischen Experiment, das ihrem Liebesphantasma genügen kann, verbindet. In ihrem Klavierschüler Walter Klemmer findet sie die entsprechende männliche Person. Der Name ist ein sprechender Name, denn Walter ist derjenige, der waltet, und im Namen Klemmer kommt der Gewaltaspekt, der am Ende des Romans zu sadistischen Auswüchsen führt, zum Ausdruck. Das ist der narrative Rahmen, der nur wenig Raum zu einer individualpsychologischen Entwicklung der Figuren gibt. Ein großes Missverständnis in der zeitnahen Rezeption des Romans lag darin, dass man ihn als einen pornografischen Text <?page no="228"?> 227 Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) oder als eine psychologische Fallstudie über weiblichen Masochismus las. Bei der Verengung auf diese Themen bleibt aber der gesellschaftliche Aspekt auf der Strecke. Immerhin bedeutet der Vorname Erika so viel wie ‚die nach dem Gesetz Herrschende‘, ‚die allein Mächtige‘. Die Mutter verwechselt Zuneigung und Liebe mit Überwachung und Bestrafung, schon am Romanbeginn wird sie als diejenige vorgestellt, die Erika immer wieder für ihre „Gier nach Äußerlichkeiten“ (S. 10) bestraft. Die teils auch gewaltsamen Konflikte zwischen Mutter und Tochter bilden die Basis für Erikas autoaggressives Handeln. Für Erika steht fest, dass sie sich niemals einem Mann unterordnen kann (vgl. S. 16 f.). Doch gerade daran, an der gewollten Unterordnung unter einen Mann im Experiment der masochistischen Liebesbeziehung, findet Erika Gefallen. Der Roman ruft eine stattliche Liste von Komponisten auf, die als Referenz bürgerlicher Musikkultur gelten: Beethoven, Mozart, Haydn, Bruckner, Brahms, Schubert, Schumann, Schönberg, Webern, Bach, Messiaen, Clementi, Czerny, Chopin, Paderewski, Hindemith. Für die „Arbeiterschaft“ (S. 35) dient die Musik als Vehikel zum sozialen Aufstieg. Erika bemängelt aber, dass dieser Aufstieg nicht mit dem Willen zu einer „werkgetreuen Interpretation“ (S. 95), wie es später heißen wird, verknüpft wird. Kompositionen zu interpretieren ist für sie ein Akt des Nachschöpfens, der Interpret ist ein second maker, wie das in der Literaturgeschichte bei dem englischen Philosophen Shaftesbury genannt wurde. Damit fantasiert sich Erika natürlich auch selbst in eine soziale und künstlerische Rolle mit Exklusivitätsmerkmal. Dass sich dies nicht vorbehaltlos auf eine Partnerbeziehung übertragen lässt, merkt sie sehr schnell-- und hält trotzdem an diesem Liebesphantasma fest: dass es eine sexuelle Liebesbeziehung geben kann, die auf Gewalt, Erniedrigung und Unterdrückung basiert. Ihre bisherigen Erfahrungen mit einem Vertreter, einem jungen Juristen und einem jungen Gymnasiallehrer konnten ihr das nicht bieten (vgl. S. 89). Lust und Leidenschaft haben die Männer in Erika geweckt, doch konnte sich dies bei ihr nicht entfalten. „Erika spürt nichts und hat nie etwas gespürt. Sie ist empfindungslos wie ein Stück Dachpappe im Regen“ (S. 91), ihr Geschlecht sei eine „ranzige Ratte“ (S. 101). Daher rührt bei ihr die Überlegung, durch Schmerzsteigerung eine Luststeigerung erzielen zu können. Die erste Selbstritzung wird sehr bald beschrieben. Während eines Sommerurlaubs zieht sich die jugendliche Erika in ihr Zimmer zurück. Aus einem Paket nimmt sie eine Rasierklinge heraus. Die Klinge begleitet sie überallhin, sie wird als der Bräutigam angesprochen, den die Braut freudig erwartet. In diesem <?page no="229"?> 228 10. Schritt - 20. Jahrhundert symbolsprachlichen Ausdruck steckt bereits die Referenz auf den späteren fantasierten Bräutigam Walter Klemmer, den Erika durch ihren Brief (den masochistischen Vertrag) erst ‚auswickeln‘ wird, und der Gewalt und Schmerz mit sich bringen wird. Erika ritzt sich mit der Rasierklinge jenes Organ, mit dem sie die Kunst interpretiert, sie schneidet sich viermal in ihren Handrücken bis es blutet, aber nur so tief, dass keine Sehne verletzt wird. Bemerkenswert ist, dass sich im Roman kein Hinweis darauf findet, wie die Mutter mit dieser Autoaggression und dem hilflosen stummen Schrei umgeht. So wird auch der Roman enden, mit einer Selbstverletzung Erikas. Symbolisch bedeutet das fließende Blut, das nicht zu rinnen aufhört, dass Erika ihr Inneres gewaltsam öffnen muss. Das erhofft sie sich später dann auch von ihrem Brief. Jelinek zitiert aus Franz Schuberts (1797-1828) Komposition Winterreise Nr. 6, nach dem Gedicht Wasserflut (1824) des romantischen Dichters Wilhelm Müller (1794-1827): „Folge nach nur meinen Tränen, nimmt dich bald das Bächlein auf “ (S. 53). Das Gedicht lautet vollständig: Manche Trän’ aus meinen Augen Ist gefallen in den Schnee; Seine kalten Flocken saugen Durstig ein das heiße Weh. Wenn die Gräser sprossen wollen Weht daher ein lauer Wind, Und das Eis zerspringt in Schollen Und der weiche Schnee zerrinnt. Schnee, du weißt von meinem Sehnen, Sag’, wohin doch geht dein Lauf ? Folge nach nur meinen Tränen, Nimmt dich bald das Bächlein auf. Wirst mit ihm die Stadt durchziehen, Munt’re Straßen ein und aus; Fühlst du meine Tränen glühen, Da ist meiner Liebsten Haus. (http: / / gutenberg.spiegel.de / buch / wilhelm-m-2581 / 34) Erika besucht auf der Suche nach ihrer sexuellen Identität eine Peep-Show (vgl. S. 62 ff.), ein typisches Produkt bürgerlicher Großstadtkultur der 1970er und <?page no="230"?> 229 Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) 1980er Jahre, die in Deutschland 1982 zwar verboten wurden, aber vereinzelt sogar noch bis 2014 fortbestanden, während sie in Österreich nach wie vor existent sind. Erika folgt damit ihrer „Schaulust“ (S. 65), sie will nichts von den Darbietungen lernen, sondern sie will ausschließlich ihrer Schaulust frönen, „zu ihrem eigenen Vergnügen.-[…] Sie muß und muß schauen“ (S. 66). Selbsterregung ist für sie tabu. Sie ist eine „verschlossene Betrachterin“ (S. 129). Erikas Zimmer wird als grau und unbehaust geschildert. Sie lebt quasi in einer Parallelwelt aus Sehnsüchten und Phantasmen, die Autorin nennt das einen „Minimundus“ (S. 71) mit eigenen Regeln, Gesetzen, Verboten und Zwängen. Ihr Klavierschüler Walter Klemmer ist zunehmend, aber „heimlich in seine Musiklehrerin vernarrt“ (S. 77). Er wünscht sich, dass sie ihm später einmal gehorchen wird, und zugleich will er tun, was sie sagt. Er will sie körperlich erfahren, sie küssen und „das Rätsel Frau“ (S. 78) ergründen, er will ihr Lehrer werden, mehr noch, er will sie „unterwerfen“ (S. 79). Sie bringen ein gemeinsames Klavierduo zum Vortrag und auf dem Heimweg versucht sich Klemmer erstmals Erika diskursiv und körperlich zu nähern. Zugleich wird Erika aber auch als „ein brennendes Blatt Papier im Ofen der Lust“ (S. 93) beschrieben. Die Figur Erika Kohut ist also äußerst ambivalent, sie will herrschen und sich unterwerfen, sie empfindet nichts und brennt vor Lust. Sie setzt sich mit gespreizten Beinen vor den Rasierspiegel ihres Vaters, der in einer psychiatrischen Klinik verdämmerte, „und vollzieht einen Schnitt, der die Öffnung vergrößern soll, die als Tür in ihren Leib hineinführt“ (S. 103). Sie empfindet dabei aber keinen Schmerz. Auch das gehört zu Erikas Minimundus, in den ein Weg nur über ihre Sexualität hineinführt. Die große weite Welt (vgl. S. 106 ff.) wird in Analogie gebracht zu Erikas kleiner Welt. Jelinek stellt eine Verbindung her zwischen dem Kunstdiskurs und dem Sexualitätsdiskurs. Erika ist sexualisiert, wenn sie über Kunst spricht (vgl. S. 120). Kunst ist ihr zugleich aber das Surrogat für eine unverstellte, authentische Sexualität. Ihr „Wunsch zu gehorchen“ (S. 121) wird größer, er wird nun als ein heftiger Wunsch bezeichnet. Sie überwindet Versagensängste und fantasiert sich in Szenarien der Wunscherfüllung für Bestrafungsriten, sie „verzehrt sich danach, schwierige Aufgaben gestellt zu bekommen, die sie dann schlecht erfüllt. Dafür muß sie bestraft werden“ (S. 121). Bestrafung und Unterwerfung sind Ausdrucksformen ihrer weiblichen Sexualität. Erika nutzt die Macht, die sie als Klavierlehrerin über den Klavierschüler Walter Klemmer besitzt, um sich in die Unterwerfung zu flüchten. Noch ist ihr Wille zur Erniedrigung nicht personalisiert, deshalb heißt es im Stil eines allgemeinen Programms in der <?page no="231"?> 230 10. Schritt - 20. Jahrhundert Romanmitte: „Wer von ihr erreichte, daß sie einem Befehl gehorchte-[…], der könnte ALLES von ihr bekommen“ (S. 122). Das denkt und fantasiert sie, das kommuniziert sie aber nicht verbal dem Schüler. Die Mutter wird ausdrücklich von dieser Herr-Knecht-Konstellation ausgenommen. Im zweiten Teil wächst Erikas Fantasie der beherrschten Unterwerfung. Um sich unterwerfen zu können, muss sie Klemmer dazu bringen, die von ihr gewünschte Rolle zu übernehmen. Das kann sie nur, indem sie ihm eine Art Verlockungsprämie auslobt, die im Besitz ihres Körpers besteht. Deshalb muss sie ihn an den Punkt des willenlosen Gehorsams bringen: „Er soll ihr nachgieren, er soll sie verfolgen, er soll ihr zu Füßen liegen, er soll sie unaufhörlich in seinen Gedanken haben, keinen Ausweg vor ihr soll es für ihn geben“ (S. 137). Aus dem Sollen wird ein Müssen werden, ohne das Erikas Unterwerfungsfantasie sonst nicht greift. Diskursiv bringt sich Erika nun in Stellung, sie erklärt Leidenschaften und Gefühle als ein Surrogat für das Geistige (vgl. S. 141). Redet Erika von Geist, redet Klemmer von Gefühl. Diese Umkehrung tradierter diskursiver Geschlechterrollen macht die Brüchigkeit dieser Konstruktionen deutlich, denn in Wirklichkeit wollen beide Gefühl, Geist dient nur als Vorwand, um an das Gefühl zielstrebig zu gelangen. Für Erika bedeutet Gefühl der Trivialmythos Liebe, für Klemmer bedeutet Gefühl der Trivialmythos Sex. Diese unterschiedlichen Erwartungen müssen zwangsläufig kollidieren, das ist für die Leserinnen und Leser von Beginn des Romans an erkennbar. Für Erika wird Walter Klemmer, je mehr er seine Verliebtheit zu erkennen gibt, zunehmend zu einem Kunstobjekt, das man interpretieren kann. Das „Fehlen jeglichen Geistes in der Interpretation“ (S. 142) kann Lücken reißen, erklärt sie ihm und hat dabei ihr Ziel, den Willen zur Lust auszuleben, vor Augen. Sie verfolgt ihn auf dem Nachhauseweg und am Ende wird ihr klar, dass sich etwas in ihr verändert hat. Das Ergebnis wird dem Leser als Brief bald mitgeteilt. Zuvor aber geht Erika in den Prater. Diese Beschreibung nimmt viel Platz ein, denn hier wird zweierlei zusammengeführt. Einmal geht es um Erikas Schaulust, zum anderen dient es ihr als eine reflexive Basis, um sich über ihre eigenen sexuellen Fantasien klar zu werden. Erikas Sexualität ist autoreflexiv und kommunikationslos. Aus der sicheren Position einer Voyeurin heraus beobachtet sie ein kopulierendes Paar. Das entfesselte, aus dem Käfig gesellschaftlicher und familialer Erziehung ausgebrochene wilde Tier Erika „wittert nervös vorbeugend“ (S. 160). Im Schutz der Dunkelheit stellt Erika scheinbar unbeteiligt ihre „Schausuche“ (S. 167) an. Sie beobachtet das Paar und ans Ende der Beschreibung des Geschlechtsverkehrs stellt die Autorin-- deutlich durch <?page no="232"?> 231 Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) einen Absatz vom Erzähltext abgesetzt-- die Erkenntnis: „Beide Geschlechter wollen immer etwas grundsätzlich Gegensätzliches“ (S. 168). Dieser Autorinnenkommentar beansprucht durch seine Platzierung an dieser Textstelle und im Satzbild eigene Bedeutung. Das grundsätzlich Gegensätzliche ist das Gesetzmäßige des Patriarchats, dessen Machtautomatismen und Machtmechanismen sich in Mythen kleiden. Erika, die im Gebüsch versteckt hockt, wird von dem Mann beinahe entdeckt. Ihre scheinbare Teilnahmslosigkeit entlädt sich im Urinieren (vgl. S. 174). Sie verharrt bewegungslos und willenlos, die ihr zugewiesene Rolle ist die der Beobachterin und nicht die der aktiv Handelnden. „Mit der einen Hand hat Erika Kohut soeben auf dem Klavier der Vernunft, mit der anderen auf dem Klavier der Leidenschaften gespielt“ (S. 176). Mit diesen Worten wird ihr Pratererlebnis bilanziert. Das Musikinstrument, das für Erika mit dem Mythos vom Klassenaufstieg und von internationaler künstlerischer Exzellenz verknüpft ist und das zugleich ihr Arbeitsgerät darstellt, wird nun zum Sinnbild einer gezielten Instrumentalisierung von Vernunft und Begehren. Instrumentelles Denken ist an instrumentalisierte Sexualität gekoppelt und umgekehrt. Dies zeigt der weitere Verlauf des Romans, insbesondere das Verhältnis zwischen Erika und Walter. Als Erika früh morgens nach Hause kommt, wird sie sogleich von der Mutter für ihre Abwesenheit bestraft, sie schlägt auf ihre Tochter ein, die wiederum reißt ihr Haare vom Kopf (vgl. S. 185). Das ist ein Bild, das auch den Romanbeginn umrahmt hat: die Gewalttätigkeit der Mutter gegenüber der Tochter, die schließlich darin endet, dass Erika an dem Haar der Mutter reißt (vgl. S. 10). Etwas später schließt eine Szene in der Toilette an, in der es zu einer ersten sexuellen Begegnung zwischen Erika und Walter kommt. In seiner Vorstellungswelt soll sie „einen Gegenstand aus sich machen“ (S. 207). Erika beherrscht von der sozialen Hierarchie her gesehen den Schüler Klemmer. Die scheinbare Macht und Überlegenheit der Frau über den Mann erfüllt wieder eine entscheidende patriarchale Funktion. Die Macht der Frau dient dem Mann dazu, ihn sexuell zu stimulieren und die Fantasie einer noch größeren, definitiven Macht über die Frau zu realisieren. Je größer die Überlegenheit der Frau über den Mann ist, desto größer ist dessen Wunsch nach Unterwerfung der Frau. Im Patriarchat bedeutet reale Macht stets reale Macht der Männer, die Macht der Frauen dient nur als Stimulans für die Männer oder als Sedativum für die Frauen. So lautet zumindest die Lesart der Klavierspielerin, wenn man die Beziehung zwischen Lehrerin und Schüler zugrunde legt. Konstitutiv für diese Beziehung ist die Sexszene auf der Toilette. Hier wird zum einen exponiert, <?page no="233"?> 232 10. Schritt - 20. Jahrhundert dass sich der Mann Walter Klemmer in die Rolle derjenigen Person stilisiert, über die die Frau Erika Kohut Macht besitzt, gleichwohl im Bewusstsein, dass er der eigentlich Mächtigere ist. Zum anderen suggeriert sich die Lehrerin Kohut selbst eine sexuelle Macht, die ihr in der gesellschaftlichen Realität der Beziehung zwischen Lehrerin und Schüler nicht zukommt. Die Vorstellung von der weiblichen Macht über den beherrschten Mann entlarvt die Erzählerin als Mythos, als jenen trivialen Mythos, der dem Patriarchat die Macht lustvoll macht. Zwischen Männern und Frauen kann es demzufolge immer nur Herrscher und Beherrschte geben. Die Figur Erika Kohut ist aber, um ihre Fantasien zu verwirklichen, sexuell auf Männer angewiesen. Aus diesem Dilemma zu entkommen gelingt keiner von Jelineks Figuren. Dies ist das fast schon biologistisch gedeutete Fundament, an dem die Frauenfiguren aller Jelinek-Texte rütteln. Da in den Texten zudem jede Form von Utopie im Sinne einer besseren Geschlechterbeziehung verweigert wird, wird die Ratlosigkeit der literarischen Figuren seltsam identisch mit der Ratlosigkeit der Lesenden. In der Klavierspielerin scheint es zunächst noch die Möglichkeit einer Umverteilung der Macht zwischen Kohut und Klemmer zu geben, doch wird auch diese Möglichkeit von der Autorin gezielt destruiert. Gegen Ende dieser Szene „belehrt“ Erika den Schüler, „daß sie ihm in Zukunft alles aufschreiben werde, was er mit ihr anfangen dürfe. Meine Wünsche werden notiert und Ihnen jederzeit zugänglich gemacht. Das ist der Mensch in seinem Widerspruch. Wie ein offenes Buch. Er soll sich jetzt schon darauf freuen! “ (S. 214) Bevor es soweit ist, dass Erika ihrem Schüler schriftliche Anweisungen gibt, greift sie noch einmal das Thema Interpretation auf. Es gebe, doziert Erika, in der Interpretation eines Musikstücks „einen gewissen Punkt, wo die Genauigkeit endet und die Ungenauigkeit des eigentlichen Schöpfertums beginnt. Der Interpret dient nun nicht mehr, er fordert“ (S. 220). Wenn sich Erika selbst als ein Musikstück sieht, so will sie nun interpretiert werden. Eine ästhetische Generalisierung liegt nahe, wonach Erika resp. die Erzählerin nicht nur von der Interpretation eines Musikstücks, sondern generell von der Interpretation künstlerischer Arbeiten spricht. Also spricht sie auch von sich selbst und dem Roman-- und sie spricht auch, ohne dies zu verbalisieren, davon, wie ihr Brief zu interpretieren sei. Diese Dialektik des Willens zur Lust vermag Erika nur pianistisch zu erklären, und sie wird schlussendlich beide, Erika und Walter Klemmer, überfordern. In dem Brief an den Schüler vom 24. April „steht, welchen Fortgang eine gewisse Liebe nehmen soll. Erika hat alles aufgeschrieben, was sie nicht sagen will“ (S. 226). Es ist eine Art masochistischer Vertrag, den sie aufgesetzt hat. <?page no="234"?> 233 Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) Damit wird deutlich, dass Erika trotz oder gerade wegen (das bleibt vom Text her gesehen unscharf) der sexuellen Nötigung durch ihren Schüler in der Toilettenszene die Sexualität des Mannes als das Signal zum Beginn einer Liebesbeziehung versteht. Damit hätte der triviale Mythos Liebe endgültig obsiegt, vermag er doch mit der Beschwörung von Liebe das wahre sexuelle Machtverhältnis zu camouflieren. Erika deutet also wiederum das als Wirklichkeit, was in Wirklichkeit Mythos ist, und erfüllt somit eine Erwartung des Patriarchats. Außerdem könnte Erika schon alles sagen, wenn sie wollte, da sie aber nicht will, spricht sie nicht, sondern schreibt. Aus der Sicht des Schülers wird die Tatsache, dass seine Lehrerin ihm einen Brief überreicht hat mit dem Verbot, ihn gleich zu lesen, zum Mysterium. Jelinek spielt hier geschickt mit weiblicher und männlicher Perspektive: Bedeutet der Brief für die Frau etwas zu schreiben, was sie nicht sagen will, so bedeutet er für den Mann etwas zu erfahren, was man nicht sagen kann. „Was man nicht aussprechen kann, davon soll man schreiben. Was man nicht aushalten kann, das sollte man nicht tun“ (S. 231), lässt die Erzählerin ihre Figur Klemmer in einem kurzen inneren Monolog sagen und dabei Wittgenstein parodieren. Dessen Diktum, „wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a. M. 1982 [ 1 1921], S. 115 [Satz 7]) verbannt gerade das Nichtaussprechbare in den kommunikativen Tod, während Jelinek es aus der Tiefe der Verbannung hervorholt und zum Gegenstand von Schrift macht. In der Männerfantasie wird Erikas Entscheidung nicht zu sprechen, sondern zu schreiben, als Eingeständnis gewertet, etwas nicht aussprechen zu können. Dieses Etwas ist die imaginierte Leerstelle, der es sich männlich zu bemächtigen gilt. Um seine Macht wiederzugewinnen-- denn die dominanten sexuellen Erfahrungen mit seiner Lehrerin sowie deren Brief haben Klemmer irritiert--, bedient sich der Schüler des Mythos Liebe. Erika will die patriarchalen Machtverhältnisse und damit auch die sexuelle Macht umkehren. Sie will sich freiwillig und nicht nur metaphorisch in Fesseln legen lassen, ohne sich dabei zu unterwerfen. Damit verlagert sich die Macht der Klavierspielerin ihrem Schüler gegenüber von der Ebene des bürgerlichen Kunstbetriebs auf die Ebene der Sexualität mittels der Macht über das sprachliche Begehren. Der Repräsentant des Patriarchats Walter Klemmer müsste in den Bereichen Beruf (Kunst), Sprache (Kommunikation) und Sexualität die Herrschaft der Frau anerkennen. Diese Textpassage der Klavierspielerin ist eine programmatische und zugleich radikale Infragestellung des Patriarchats. <?page no="235"?> 234 10. Schritt - 20. Jahrhundert Auf den nun folgenden Seiten breitet die Erzählerin die gesamte Tragik des grundsätzlich Gegensätzlichen virtuos aus und verletzt dabei normierte Schicklichkeitsstandards und Schamgrenzen, von manchen Lesern als pornografisch missverstanden. Wie genau sie damit den zentralen Punkt patriarchaler Macht trifft, macht der Blick in ihren Essay Der Sinn des Obszönen deutlich. Jelinek führt darin zum Thema Pornografie und Patriarchat Folgendes aus: In dem, was ich schreibe, gibt es immer wieder drastische Stellen, aber die sind politisch. Sie haben nicht die Unschuldigkeit des Daseins und den Zweck des Aufgeilens. Sie sollen den Dingen, der Sexualität, ihre Geschichte wiedergeben, sie nicht in ihrer scheinbaren Unschuld lassen, sondern die Schuldigen benennen. Die nennen, die sich Sexualität aneignen und das Herr/ Knecht-Verhältnis zwischen Männern und Frauen produzieren.-[…] Das Obszöne ist dann gerechtfertigt, wenn man den Beziehungen zwischen Männern und Frauen die Unschuld nimmt und die Machtverhältnisse klärt. (Der Sinn des Obszönen, in: Frauen & Pornographie. Konkursbuch extra. Hgg. v. Claudia Gehrke. Tübingen o. J. [ca. 1988], S. 101-103, hier S. 102.) Damit ist die Peripetie des Romans erreicht. Erika visiert ihr eigenes Scheitern an, das wird als „ihr letztes, freundlichstes Ziel“ bezeichnet, „Erika gibt ihren Willen ab“ (S. 245). In die Dialektik dieser Gewaltbeziehung ist eingeschrieben, dass je mehr Klemmer Gewalt über Erika erhält, desto mehr wird Erika über ihn als ihren Sklaven herrschen (vgl. S. 246). Erika will „nur Instrument sein, auf dem zu spielen sie ihn lehrt“ (S. 253). Koppelt man diese Textstelle an den Passus über das richtige Interpretieren, dann wird deutlich, dass sich Erika selbst als ein Musikinstrument sieht, das der Interpretation ihres Willens zur Lust dient. Und die richtige Interpretation des Musikstücks ‚Erikas Leib‘ bedarf der Grenzüberschreitung durch Klemmer. Sexuelle Erfahrung wird somit für Erika als ästhetische Erfahrung zelebrierbar. Sie zwingt Klemmer den Brief zu lesen, der anfänglich davor zurückschreckt. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, so schreibt sie, dass Klemmer sie bestrafe (vgl. S. 256). Sie bittet ihn, sie als seine Sklavin anzunehmen und masochistische Handlungen an ihr auszuführen, sie schildert ihm ein „Inventarverzeichnis des Schmerzes“ (S. 258). Sie möchte gefesselt werden mit Stricken, Lederriemen und Ketten, die sie heimlich gesammelt hat, und mit alten Nylonstrümpfen und einem Gummischlauch geknebelt werden. Sie will vollkommen bewegungsunfähig gemacht werden. Allerdings möchte sie selbst festlegen, was im Einzelnen getan und wie gehandelt werden darf. Erika will schriftlich die Anweisungen geben, Klemmer soll sie ausführen. Dieser Form der vollkommenen Macht begegnet der Schüler mit dem Rückgriff auf <?page no="236"?> 235 Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) den Trivialmythos. Sich der Frau auszuliefern würde bedeuten, sich des Schutzes eines Macht garantierenden Mythos zu entäußern. Deshalb beschwört Klemmer seine Liebe zu Erika, „ich liebe dich so sehr,-[…] daß ich dir niemals weh tun könnte, nicht einmal um den Preis, daß du es wünschst“ (S. 262). Doch sie fordert genau dies. Er soll ihr immer exakt beschreiben, was er gerade tut oder zu tun beabsichtigt, ohne es auszuführen. Sie will zu einem Paket verschnürt werden. Er solle sich mit seinem Gesäß auf ihr Gesicht hocken, sie schlagen, er solle in ihren Mund ejakulieren, er solle auf sie urinieren und-- vor allem-- er solle ihrem Flehen nie nachgeben. Für Klemmer ist klar, es handelt sich hier um einen psychopathologischen, „klinischen Fall“ (S. 259). Aber die „Verfügungsgewalt“ (S. 263) über den Frauenkörper lockt ihn. Je mehr er liest, desto affizierter wird er. Die vollkommene Passivität, in die sich Erika mit ihrem masochistischen Vertrag hineinfantasiert hat, findet ihre Entsprechung in der realen Welt bei Klemmer, der nun von sich aus handelt: Er bleibt dem Klavierunterricht fern. Doch Erika will an ihrem Trivialmythos festhalten. Als Klemmer wieder auftaucht, zerrt sie ihn in einen Putzraum und führt an ihm sexuelle Handlungen aus. Erika deutet es „als den tiefsten Liebesbeweis“ (S. 290), dass Klemmer sexuell versagt. Sie übergibt sich. Klemmer äußert seine Verachtung und rät ihr die Stadt zu verlassen. Wieder zu Hause angekommen, quält sich Erika selbst, sie zwickt ihre Haut mit Wäscheklammern und setzt sich unter Tränen Stecknadeln. Sie betrachtet sich im Spiegel und ihr wird bewusst: „sie ist ganz allein“ (S. 298). Die sexuelle Fantasie der Demütigung ist die „Frucht von Erikas jahrelangen stillen Überlegungen“, sie hofft aber zugleich, dass „aus Liebe alles ungeschehen bleibt“ (S. 270). Damit gelingt der Autorin die endgültige Destruktion des trivialen Mythos Liebe. Da es Liebe nicht gibt, können Erikas Wünsche auch nicht ungeschehen bleiben. Und indem sie ausgeführt würden, erwiese sich patriarchale Macht als das, was sie ist, die Herrschaft der Männer auch über die Fantasien der Frauen. Den Wunsch nach Unterwerfung äußert Erika Kohut nur, weil sie geliebt werden will und weil sie an die Liebe glaubt. Und sie muss an den Mythos Liebe glauben, weil sie letztlich auf Männer angewiesen bleibt. Im Finale des Romans verschafft sich Walter Klemmer Zugang zu Erikas Wohnung. Er vergewaltigt sie, schlägt sie, bis Nasenbein und eine Rippe angebrochen sind, quält sie, demütigt und erniedrigt sie. Aber nicht so, wie es sich Erika in ihrem Brief gewünscht hat, sondern in einem Akt ungehemmter Aggressivität. Es ist „Gewalt, die aus zurückgewiesener Liebe entstand“ (S. 317). Wie komplex diese Verwicklung aus Gewalt und Liebessehnsucht ist, zeigt folgender Passus: „Diese Liebe ist im Kern Vernichtung. Sie hofft sehr, Klemmer <?page no="237"?> 236 10. Schritt - 20. Jahrhundert wünscht, daß sie ihn liebt“ (S. 325). Denn auch Klemmer selbst verlangt von ihr, dass sie ihn lieben möge. Er entschuldigt sich nach der Vergewaltigung für seine Tat, doch sein Gehirn, mit dem er all dies zu denken versucht, ist ein „Einweg-Gehirn! “ (S. 328) Am nächsten Tag steckt Erika ein Küchenmesser in ihre Handtasche und macht sich auf die Suche nach Klemmer. Sie bringt aber weder Klemmer um noch realisiert sie ihre Selbsttötungsfantasie, wonach ihr das Messer ins Herz fahren und sich dort drehen solle (vgl. S. 335). Stattdessen sticht sich Erika Kohut in ihre Schulter, und während das Blut aus ihr herausrinnt, geht sie wieder nach Hause. So steht also auch am Ende des Romans ein Akt der Selbstbestrafung. Erika kann sich nicht über die vom Patriarchat gesetzte Grenze hinwegsetzen, sie hat die Unterdrückungsmechanismen gelernt und gegen sich selbst gewendet, erfolgreich unterdrückt sie sich selbst. Jelineks Roman Die Klavierspielerin steht insofern in einer brechtschen Tradition, als auf Seiten der Zuschauer und Leser jegliche Identifikation mit den Handlungsträgern oder der Handlung selbst durch entsprechende sprachliche und strukturelle Mittel verhindert werden soll. Dazu tragen maßgeblich die sprachlichen Besonderheiten bei, die auf diese fortwährende Brechung jeglichen identifikatorischen Leseansatzes abzielen. Besonders auffällig ist der Gebrauch der Katachrese im Text. Die Katachrese ist in der klassischen Rhetorik eine Trope (also eine übertragende Ausdrucksform) und bedeutet die absichtsvolle Verschmelzung zweier differenter Bildbereiche. Ursprünglich wurde dies als ein Mangel rhetorischer und stilistischer Kenntnisse bewertet (umgangssprachlich Stilblüte genannt), jedoch kann die Katachrese- - und dieser Fall liegt bei der Klavierspielerin vor- - auch sehr bewusst als ein ästhetisches Brechungsmittel eingesetzt werden, wobei die Grenze zum Zeugma, zum Oxymoron oder zum Paradoxon fließend werden kann. Eine katachrestische Form liegt vor, wenn Jelinek beispielsweise eine bekannte lyrische Ausdrucksform aus dem Weihnachtslied Leise rieselt der Schnee verwendet: „Still und starr liegt schon der Park, licht und laut hingegen das Hotel davor“ (S. 299), oder aus Stille Nacht, heilige Nacht: „In der Nacht, wenn alles schläft und nur Erika einsam wacht, während der traute Teil dieses durch Leibesbande aneinandergeketteten Paares, die Frau Mama, in himmlischer Ruhe von neuen Foltermethoden träumt-[…]“ (S. 13). In diesen Beispielen werden Versatzstücke aus einem weltlichen und einem kirchlichen Weihnachtslied mit Handlungsbeschreibungen verschränkt. Über das Paar Klavierlehrerin Erika Kohut und Kanusportler Walter Klemmer ist zu lesen: „Zuzeiten ist die gedankliche Basis zwischen ihnen ja da, dann aber wird sie plötzlich weggezogen, und allein sitzt Klemmer da in seinem Kanu“ (S. 147). Der <?page no="238"?> 237 Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) Wechsel zwischen der einen Ebene einer inneren Zustandsbeschreibung und der anderen Beschreibungsebene einer gegenständlichen Nennung des Sportgeräts kennzeichnet in diesem Beispiel die Katachrese. Als Erika im Prater ein Liebespaar beobachtet, heißt es: „Wie der Heimat Haus fickt sich das Paar aus dem schönsten Wiesengrunde heraus und in Erikas Augäpfel hinein“ (S. 166). Hier wird eine Gedichtzeile aus dem Gedicht Im schönsten Wiesengrunde (1850) von Wilhelm Ganzhorn (1818-1880), das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem beliebten Volkslied wurde, mit dem narrativen Element verschränkt: Im schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat Haus Da zog ich manche Stunde ins Tal hinaus Dich mein stilles Tal, grüß ich tausendmal! Da zog ich manche Stunde ins Tal hinaus. (www.volksliederarchiv.de / im-schoensten-wiesengrunde) Die Katachrese im Roman wird damit zum sprachlichen Symbol jener heterosexuellen Beziehung, deren Glieder als ein definiertes Paar eben nicht zusammenpassen oder nur zum Preis einer Unwucht, und wirft damit die Frage auf, ob in der modernen und postmodernen Gesellschaft solche Paarformen überhaupt noch zukunftsfähig sind. Der Roman ist mehr als die Darstellung des Zusammenhangs von kleinbürgerlicher Sexualität und Arbeits- und Werteideologie mit politökonomischem Gehalt. Er ist mehr als eine literarische Krankengeschichte, mit deren Hilfe sich psychoanalytische Fragestellungen diskutieren lassen und er ist mehr als eine fiktive Dokumentation der Genese und Bedeutung des Masochismus. Jelineks Roman Die Klavierspielerin zeigt in exemplarischer Überzeichnung und Drastik-- und darin liegt eine Stärke des Textes--, dass auch in den emanzipierten 1980er Jahren von anerkannter, gar ausgewogener Geschlechtergerechtigkeit noch lange nicht die Rede sein kann. Immer noch ist ‚der‘ Mann der Herr, unabhängig von seiner sozialen Position, und ‚die‘ Frau ist immer noch der Knecht. Diese Beziehungsunwucht ist tief in den psychischen Apparat ‚der‘ Frau eingeschrieben. Die Figur Erika Kohut zeigt, dass die Wege der Befreiung andere sein müssen als jene, die für ein freies Ausleben emanzipativer Fantasien plädieren. Textgrundlage: Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin. Roman. 45. Aufl. [ 1 1983]. Reinbek b. Hamburg 2015 (=-rororo 15 812). Elfriede Jelinek: Die endlose Unschuldigkeit. Prosa-- Hörspiel-- Essay. München 1980. <?page no="239"?> 238 10. Schritt - 20. Jahrhundert Lektüreempfehlungen: Gedichte u. a. von Günter Eich, Paul Celan, Erich Fried, Ernst Jandl, Ingeborg Bachmann, Rolf Dieter Brinkmann, Hans Magnus Enzensberger, Volker Braun, Friederike Mayröcker, Thomas Kling. Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928), Mutter Courage und ihre Kinder (1941), Leben des Galilei (1943) Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz (1929), November 1918 (1939 / 50) Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick (1930) Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald (1931) Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) Max Frisch: Homo faber (1957), Biedermann und die Brandstifter (1958), Mein Name sei Gantenbein (1964) Günter Grass: Die Blechtrommel (1959) Arno Schmidt: KAFF auch Mare Crisium (1960) Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker (1962) Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns (1963), Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) Günter Eich: Maulwürfe (1968) Siegfried Lenz: Deutschstunde (1968) Uwe Johnson: Jahrestage (1970 / 83) Ingeborg Bachmann: Malina (1971) Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands (1975 / 81) Peter Handke: Publikumsbeschimpfung (1966), Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) Verena Stefan: Häutungen (1975) Thomas Bernhard: Der Präsident (1975), Auslöschung (1986), Heldenplatz (1989) Martin Walser: Ein fliehendes Pferd (1978) Christa Wolf: Kassandra (1983) Patrick Süßkind: Das Parfum (1984) Friederike Mayröcker: mein herz, mein zimmer, mein name (1988) Elfriede Jelinek: Lust (1989) Einführende wissenschaftliche Literatur: Marlies Janz: Elfriede Jelinek. Stuttgart 1995. Jelinek-Handbuch. Leben-- Werk-- Wirkung. Hgg. v. Pia Janke. Stuttgart 2013. <?page no="240"?> 239 Anhang Anhang Lektüreempfehlungen für einen zweiten und dritten Durchgang einer Literaturgeschichte in zehn Schritten 2. Durchgang 1. Schritt: Mittelalter Nibelungenlied, um 1200 (=-Reclam UB 18914) 2. Schritt: Martin Luther Lieder (16. Jahrhundert) (=- EKG ) 3. Schritt: Martin Opitz Buch von der Deutschen Poeterey, 1624 (=-Reclam UB 18214) 4. Schritt: Gotthold Ephraim Lessing Nathan der Weise, 1779 (=- Reclam UB 19142) 5. Schritt: Jakob Michael Reinhold Lenz Der Hofmeister, 1774 (=- Reclam UB 1376) 6. Schritt: Johann Wolfgang Goethe Wahlverwandtschaften, 1809 (=-it 4522) 7. Schritt: Joseph von Eichendorff Das Marmorbild, 1819 (=-Reclam UB 18539) 8. Schritt: Carl Einstein Bebuquin, 1912 (=-Reclam UB 8057) 9. Schritt: Robert Musil Der Mann ohne Eigenschaften, 1930 / 1933 (=- rororo 26 780) 10. Schritt: Bertolt Brecht Leben des Galilei, 1943 (=-suhrkamp basisbibliothek 1) 3. Durchgang 1. Schritt: Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, 1668 (=-Reclam UB 761) 2. Schritt: Friedrich Schiller Kabale und Liebe, 1784 (=-suhrkamp basisbibliothek 10) 3. Schritt: Heinrich von Kleist Der zerbrochne Krug, 1811 (=-Reclam UB 18906) 4. Schritt: Johann Wolfgang Goethe Faust, 1808 / 1832 (=-suhrkamp basisbibliothek 107) 5. Schritt: Gedichte der Romantik, 19. Jahrhundert (=-Reclam UB 8230) 6. Schritt: Gedichte des Expressionismus, 1910 / 20 (=-Reclam UB 8726) 7. Schritt: Thomas Mann Der Zauberberg, 1924 (=-fischer tb 29 433) 8. Schritt: Arthur Schnitzler Fräulein Else, 1924 (=-Reclam UB 18155) 9. Schritt: Ernst Jandl Gedichte, 1953 / 2000 (=-Reclam UB 18831) 10. Schritt: Juli Zeh Unterleuten, 2016 (=-Luchterhand Hardcover) <?page no="242"?> Personenregister € Addison, Joseph 80 € Adelung, Johann Christoph 118 € Angelus Silesius (Johannes Scheffler) 43, 57 € Ardenne, Armand von 175 € Aristoteles 32, 61, 64, 67, 134, 146 € Arnim, Achim von 111, 153, 158, 168 € Auerbach, Berthold 172 € Bach, Johann Sebastian 43, 47, 227 € Bachmann, Ingeborg 238 € Bacon, Francis 208 € Bahr, Hermann 201 € Ball, Hugo 199 € Barthes, Roland 222 € Baudelaire, Charles 199 € Becker, Rudolph Zacharias 103 € Beethoven, Ludwig van 227 € Benn, Gottfried 111, 209, 218, 219 € Bernhard, Thomas 199, 223, 238 € Boccaccio, Giovanni 116, 185 € Böcklin, Arnold 179 € Bodmer, Johann Jakob 101 € Böll, Heinrich 238 € Bonaventura (s. Klingemann, August) 107, 132, 155 € Börne, Ludwig 155 € Brahms, Johannes 227 € Brant, Sebastian 21, 25, 42 € Braun, Volker 238 € Brecht, Bertolt 218, 236, 238, 239 € Brentano, Clemens 111, 153, 168, 169, 188 € Breuer, Josef 181 € Brinkmann, Rolf Dieter 238 € Brion, Friederike 69 € Broch, Hermann 111, 201 € Brockes, Barthold Hinrich 77 € Bruckner, Anton 227 € Büchner, Georg 156, 169, 190 € Buddenkotte, Katinka 63 € Buff, Charlotte 83 € Bürger, Gottfried August 64, 102, 103 € Celan, Paul 238 € Cervantes, Miguel de 116 € Chamisso, Adelbert von 169 € Claudius, Matthias 103 € Clementi, Muzio 227 € Cortázar, Julio 222 € Cotta, Georg von 159 € Czerny, Carl 227 € Dach, Simon 41, 42 € Döblin, Alfred 238 € Donatus, Aelius 23 € Droste-Hülshoff, Annette von 169 € Dürer, Albrecht 28 € Dürrenmatt, Friedrich 238 € Ebner-Eschenbach, Marie von 204, 209 € Eichendorff, Joseph von 111, 153, 168, 169, 239 € Eich, Günter 238 € Einstein, Carl 204, 219, 239 € Enzensberger, Hans Magnus 238 € Erasmus von Rotterdam 34 € Eyb, Albrecht von 21 € Falconer, William 96 € Fichte, Johann Gottlieb 107, 109 € Fischart, Johann 34, 63 € Flaubert, Gustave 173 <?page no="243"?> 242 Personenregister € Fleming, Paul 42, 57 € Fontane, Theodor 171, 174 € Fouqué, Friedrich de la Motte 158, 169 € Franck, Michael 47 € Freiligrath, Ferdinand 156 € Freud, Sigmund 181 € Fried, Erich 238 € Frisch, Max 238 € Frisi, Paolo 81, 103 € Füssli, Johann Heinrich 80 € Fust, Johann 24 € Ganzhorn, Wilhelm 237 € Geiler von Kaysersberg, Johann 26 € Gellert, Christian Fürchtegott 78 € George, Stefan 111, 197 € Gerhardt, Paul 43, 57 € Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 80, 81 € Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 77 € Goethe, Johann Wolfgang 12, 60, 69, 72, 79, 83, 103, 106, 109, 110, 112, 113, 118, 129, 133, 134, 136, 137, 153, 155, 159, 160, 168, 179, 213, 239 € Goeze, Johann Melchior 101 € Göschen, Georg Joachim 151 € Gottsched, Johann Christoph 68, 77 € Grabbe, Christian Dietrich 156, 169 € Grass, Günter 238 € Grillparzer, Franz 169 € Grimmelshausen, Hans Jacob Christoph von 57, 239 € Grimm, Jacob 169 € Grimm, Wilhelm 169 € Gryphius, Andreas 37, 38, 42, 45, 46, 51, 57 € Günther, Johann Christian 77 € Gutenberg, Johannes 21, 23, 24, 25 € Gutzkow, Karl 155, 199 € Hagedorn, Friedrich von 77 € Haller, Albrecht von 77 € Hamann, Johann Georg 62, 80 € Handke, Peter 238 € Hartwich, Emil 175 € Hauff, Wilhelm 155, 169 € Hauptmann, Gerhart 197 € Hebbel, Friedrich 169 € Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 115 € Heine, Heinrich 112, 156, 168, 169, 184 € Heinse, Wilhelm (eigentlich Johann Jacob Wilhelm Heintze, auch Rost) 80, 121 € Herder, Johann Gottfried 12, 61, 79, 81, 103, 133 € Herwegh, Georg 156, 168 € Hesse, Hermann 157, 200, 218, 219 € Hess, Felix 80 € Heyse, Paul 172, 173 € Hindemith, Paul 227 € Hock, Theobald 40 € Hoffmann, E. T. A. 158, 169 € Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 156 € Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 39, 43, 54 € Hofmannsthal, Hugo von 207, 218, 221 € Hölderlin, Friedrich 103, 111, 133, 155 € Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 80 € Holz, Arno 197, 200 € Homer 32, 33, 42, 90, 94 € Hoppe, Felicitas 152 € Horaz 10, 26, 29, 160, 212 € Horváth, Ödön von 238 € Humboldt, Wilhelm von 133 € Hume, David 60 € Hutcheson, Francis 60 € Hutten, Ulrich von 23 € Innerhofer, Ju 63 <?page no="244"?> 243 Personenregister € Jandl, Ernst 238, 239 € Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 111, 124, 153 € Jelinek, Elfriede 108, 221, 224, 238 € Jerusalem, Karl Wilhelm 83, 97 € Johnson, Uwe 238 € Jünger, Ernst 219 € Kafka, Franz 17, 219 € Kant, Immanuel 61, 103, 134, 155, 212 € Karl VII. (Charles VII, le Victorieux, König von Frankreich 1422-1461) 137, 141 € Kästner, Erich 218 € Keller, Gottfried 168, 172, 173, 197 € Kerner, Justinus 155, 158 € Kerr, Alfred 201 € Kestner, Johann Christian 83, 97 € Kleist, Heinrich von 106, 111, 153, 239 € Klingemann, August 107, 132, 155 € Klinger, Friedrich Maximilian 80, 82, 103 € Kling, Thomas 238 € Klopstock, Friedrich Gottlieb 60, 77, 82, 118, 129 € Koeppen, Wolfgang 238 € Körner, Christian Gottfried 133, 134 € Kotzebue, August von 155 € La Roche, Maximiliane von 83 € La Roche, Sophie von 61, 83, 84 € Laube, Heinrich 155 € Lavater, Johann Caspar 80, 81 € Leisewitz, Johann Anton 80, 82 € Lenau, Nikolaus 168 € Lenz, Jakob Michael Reinhold 62, 80, 82, 83, 102, 103, 239 € Lenz, Siegfried 238 € Lessing, Gotthold Ephraim 60, 61, 63, 65, 67, 77, 78, 97, 101, 239 € Liehr, Tom 63 € Lillo, George 65 € Locher, Jakob 28 € Logau, Friedrich 42, 57 € Ludwig, Otto 171, 172, 174, 197 € Lukrez 190 € Luther, Martin 22, 40, 44, 47, 114, 239 € Mach, Ernst 201 € Macpherson, James 94 € Maeterlinck, Maurice 203, 216 € Mann, Heinrich 218 € Mann, Thomas 111, 218, 239 € Manutius, Aldus 25 € Mayröcker, Friederike 238 € Mendelssohn, Moses 61, 65, 107 € Merck, Johann Heinrich 79 € Messiaen, Oliver 227 € Meyer, Conrad Ferdinand 163, 173, 197, 200 € Miller, Johann Martin 80, 121 € Morgenstern, Christian 218 € Mörike, Eduard 155, 159, 168, 197 € Moritz, Karl Philipp 80, 103, 133, 164 € Morus, Thomas 62 € Möser, Justus 81, 103 € Mozart, Constanze 160 € Mozart, Wolfgang Amadeus 130, 159, 160, 161, 167, 227 € Müller, Wilhelm 153, 168, 228 € Mundt, Theodor 155 € Musil, Robert 111, 199, 202, 219, 221, 239 € Nestroy, Johann 169 € Nicolai, Friedrich 60, 65, 68, 101 € Nietzsche, Friedrich 197 € Novalis (Friedrich Freiherr von Hardenberg) 107, 110, 114, 119, 120, 128, 132, 153, 158 € Opitz, Martin 21, 41, 42, 43, 46, 47, 49, 57, 239 <?page no="245"?> 244 Personenregister € Ossian 79, 93 € Oulibicheff, Alexander 160 € Paderewski, Ignacy Jan 227 € Petrarca, Francesco 43, 48, 55, 116 € Pfau, Ludwig 156 € Pfeil, Johann Gottlob Benjamin 64 € Piccolomini, Enea Silvio / Pius II. 21, 22 € Pindar 42, 81 € Pirckheimer, Willibald 23 € Queneau, Raymond 222 € Raabe, Wilhelm 174, 197 € Reventlow, Franziska Gräfin zu 200 € Richardson, Samuel 84 € Rilke, Rainer Maria 163, 200, 207, 218, 219 € Rousseau, Jean-Jacques 60, 79, 84 € Sachs, Hans 22, 34, 40 € Scaliger, Julius Caesar 80 € Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 107 € Scherffer von Scherffenstein, Wencel 46 € Schiller, Friedrich 11, 62, 66, 80, 82, 103, 106, 112, 115, 121, 123, 133, 136, 153, 155, 168, 213, 239 € Schlaf, Johannes 197, 200 € Schlegel, August Wilhelm 107, 108, 109, 110, 129 € Schlegel, Caroline 107, 129 € Schlegel, Dorothea (geborene Veit) 107, 129 € Schlegel, Friedrich 105, 111, 132 € Schleiermacher, Friedrich 107, 108, 124 € Schlosser, Johann Georg 79 € Schmidt, Arno 238 € Schneider, Robert 108 € Schnitzler, Arthur 218, 221, 239 € Schönberg, Arnold 227 € Schubart, Christian Friedrich Daniel 80, 101 € Schubert, Franz 227, 228 € Schumann, Robert 227 € Schwab, Gustav 155 € Schwitters, Kurt 218 € Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, Earl of 60, 80, 227 € Shakespeare, William 79, 81, 82, 160 € Smith, Adam 193 € Spielhagen, Friedrich 174 € Stefan, Verena 238 € Steinbach, Erwin von 83 € Steinhöwel, Heinrich 21 € Sterne, Laurence 60 € Stifter, Adalbert 169, 173 € Stolberg, Friedrich Leopold von 61, 80 € Storm, Theodor 174, 197 € Sulzer, Johann Georg 91 € Süßkind, Patrick 238 € Tibull (Albius Tibullus) 180 € Tieck, Ludwig 107, 108, 119, 132, 137, 158 € Toller, Ernst 219 € Trithemius, Johannes 26 € Uhland, Ludwig 155, 158, 159, 168 € Unger, Johann Friedrich 136, 137 € Vadianus, Joachim 34 € Vergil 42 € Voltaire (François-Marie Arouet) 137 € Voß, Johann Heinrich 80 € Wackenroder, Wilhelm Heinrich 108, 119, 132, 137 € Wagner, Heinrich Leopold 72, 80, 82, 103 € Walser, Martin 238 € Walser, Robert 201, 218 € Webern, Anton 227 <?page no="246"?> 245 Personenregister € Weckherlin, Georg Rodolf 37, 42, 43, 45, 47 € Wedekind, Frank 197 € Weise, Christian 57 € Weiss, Peter 238 € Werner, Zacharias 111 € Wieland, Christoph Martin 61, 78, 101, 106, 133 € Wienbarg, Ludolf 155 € Wildenbruch, Ernst von 200 € Wimpfeling, Jakob 26 € Wittgenstein, Ludwig 233 € Wolf, Christa 238 € Wolff, Eugen 200 € Wyle, Niklas von 21 € Young, Edward 80, 81 € Zeh, Juli 239 € Zenge, Wilhelmine von 106 € Zuckmayer, Carl 238 <?page no="248"?> 247 Werkregister Werkregister € Abaelard. Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa 114 € Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele 65 € Abhandlung über den Einfluß der Leidenschaften auf die Krankheiten des Körpers 96 € Allgemeine Theorie der schönen Künste 92 € Also sprach Zarathustra 197 € Amphitryon 153 € Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen 201 € An das Teutschland 37, 42, 43, 45 € An Lauretten 39, 54 € Anmerkungen übers Theater 82 € Ansichten eines Clowns 238 € Anton Reiser 103 € Ardinghello und die glückseligen Inseln 80, 121 € Ars poetica 10, 26, 29 € Athenäum 108 € Athenäums-Fragmente 108, 109, 124, 132 € Auf eine Lampe 163 € Aus dem Leben eines Taugenichts 169 € Auslöschung 238 € Bahnwärter Thiel 197 € Bebuquin 204, 219, 239 € Berlin Alexanderplatz 238 € Bibel 22, 31, 40, 47, 53, 81, 85, 123, 140, 165, 189 € Biedermann und die Brandstifter 238 € Blunt oder der Gast 80 € Blüthenstaub-Fragmente 132 € Brief des Lord Chandos s. Ein Brief 208 € Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers 102 € Buch von der Deutschen Poeterey 21, 41, 42, 49, 57, 239 € Buddenbrooks 218 € bukolit 222 € Bunte Steine 169 € Canzoniere 55 € Charakteristiken und Kritiken 128 € Conjectures on Original Composition 81 € Dantons Tod 169 € Das edle Blut 200 € Das Leiden eines Knaben 200 € Das Marmorbild 169, 239 € Das Narrenschiff 21 ff., 26, 42 € Das neue Märchen 158 € Das Parfum 238 € Das Schloß 219 € Das Stuttgarter Hutzelmännlein 159 € Das Treibhaus 238 € De claris mulieribus 185 € Denk es, o Seele! 168 € Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch 57, 239 € Der arme Spielmann 169 € Der erste Schultag 200 € De rerum natura 190 € Der grüne Heinrich 173, 197 € Der Hauptmann von Köpenick 238 € Der Hofmeister 80, 103, 239 € Der Hungerpastor 197 € Der kurze Brief zum langen Abschied 238 <?page no="249"?> 248 Werkregister € Der Mann ohne Eigenschaften 218, 219, 239 € Der Musterschüler 204 € Der Panther 163 € Der Präsident 238 € Der Prozeß 219 € Der römische Brunnen 163 € Der Sandmann 169 € Der Schatz der Armen 203 € Der Schimmelreiter 197 € Der Sinn des Obszönen 234 € Der Steppenwolf 219 € Der Tod in Venedig 218 € Der Untertan 218 € Der Zauberberg 218, 239 € Der zerbrochne Krug 153, 239 € Des Knaben Wunderhorn 153 € Deutsche Rundschau 174, 176 € Deutschland. Ein Wintermärchen 169 € Deutschstunde 238 € Dialog vom Tragischen 201 € Dichtung und Wahrheit 159 € Die Ahnfrau 169 € Die Ästhetik des Widerstands 238 € Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge 219 € Die Blechtrommel 238 € Die Braut von Messina 134 € Die Dreigroschenoper 238 € Die Elixiere des Teufels 169 € Die endlose Unschuldigkeit 222, 223, 224 € Die Flucht aus der Zeit 199 € Die Gottesmauer 188 € Die Judenbuche 169 € Die Jungfrau von Orleans 133 ff., 136 € Die Kindermörderin 72, 80, 82, 103 € Die Klavierspielerin 108, 221 ff. € Die Leiden des jungen Werthers 60, 79 ff., 97, 113, 129 € Die Liebhaberinnen 225 € Die Mode und das Moderne 199 € Die Physiker 238 € Die Räuber 80, 82 € Die Romantische Schule 112 € Die Soldaten 80, 82, 103 € Die Turnstunde 200 € Die verlorene Ehre der Katharina Blum 238 € Die Verwandlung 219 € Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 199, 201, 202 € Die Wahlverwandtschaften 130, 153, 179, 239 € Die Weber 197 € Die Winterreise 228 € Die Zauberflöte 130 € Die Zwillinge 82 € Donat 23 € Don Giovanni 160 € Don Karlos 115, 150 € D-Zug 209 € Effi Briest 171 ff., 174 € Ein Brief 207, 218 € Einen Jux will er sich machen 169 € Ein fliehendes Pferd 238 € Ein Sermon von dem ehlichen Stand 115 € Elegische Gedichte 180 € Ellen Olestjerne 200 € Emilia Galotti 78, 97 € Es ist alles eitel 38, 46 € Euryalus und Lucretia 21, 22 € Faust 153, 239 € Fiesko 80 € Flegeljahre 153 € Fragmente zur Poesie 110 € Fragmente zur Poesie und Litteratur 111 € Frankfurter gelehrte Anzeigen 79 € Franz Sternbalds Wanderungen 137 <?page no="250"?> 249 Werkregister € Fräulein Else 239 € Freuden und Trauer-Spiele auch Oden und Sonnette 46 € Frühlings Erwachen 197 € Gaistliche vnd Weltliche Gedichte 43 € Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke 78 € Gehirne 219 € Geschichte des Agathon 78 € Geschichte des Fräuleins von Sternheim 61, 84 € Geschichten aus dem Wiener Wald 238 € Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl 169 € Geschichtklitterung 34 € Götz von Berlichingen 80, 82, 84, 93, 95, 103 € Grabgedanken 168 € Grammatisch-kritisches Wörterbuch der deutschen Mundart 118 € Hamburgische Dramaturgie 61, 68 € Häutungen 238 € Heinrich von Ofterdingen 110, 132 € Heldenplatz 238 € Herr Biedermeier 156 € Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders 108, 132, 137 € Homo faber 238 € Hymnen an die Nacht 114, 132 € I Modi / Die Stellungen 54 € Im schönsten Wiesengrunde 237 € In Stahlgewittern 219 € Iphigenie auf Tauris 134 € Jahrestage 238 € Jakob von Gunten 201, 218 € Jedermann 218 € Johanna 152 € Julius von Tarent 80, 82 € Kabale und Liebe 80, 103, 121, 122, 239 € KAFF auch Mare Crisium 238 € Kalender auf das Jahr 1802 136 € Kassandra 238 € Kinder- und Hausmärchen 169 € La Pucelle d’Orléans 137 € Leben der Schwedischen Gräfin von G*** 78, 84 € Leben des Galilei 238, 239 € Lenz 169 € Le peintre et la modernité / Der Maler des modernen Lebens 199 € Leutnant Gustl 218 € Literarischer Sanscülottismus 136 € Lob der Torheit 34 € Lucinde 105 ff., 111 € Lulu 197 € Lust 222, 238 € Malina 238 € Märchen 169 € Maria Magdalena 169 € Maria Stuart 66, 134, 135, 150 € Masaniello 57 € Masse Mensch 219 € Maulwürfe 238 € mein herz, mein zimmer, mein name 238 € Mein Name sei Gantenbein 238 € Michael Kohlhaas 153 € Miss Sara Sampson 59 ff. € Morgenblatt für gebildete Leser 159 € Morgenblatt für gebildete Stände 163 € Mozart auf der Reise nach Prag 155 ff., 159 € Mozart’s Leben 160 € Mutter Courage und ihre Kinder 238 <?page no="251"?> 250 Werkregister € Nachtwachen des Bonaventura 107, 132, 155 € Nathan der Weise 78, 239 € Nibelungenlied 239 € Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute 103 € Nouvelle Heloïse 60 € November 1918 238 € Ob einem manne sey zunemen ein eelichs weyb oder nicht 21 € Odyssee 32, 33 € Papa Hamlet 197 € Peter Schlemihls wundersame Geschichte 169 € Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst 108, 132 € Philosophische Aufsätze 97 € Physiognomische Fragmente 81 € Pierre Dumont 200, 207 € Poetik 32, 64, 67, 134, 146 € Professor Unrat 218 € Prometheus 82, 88 € Publikumsbeschimpfung 238 € Reigen 218 € Reisebilder 169 € Säkularbilder 199 € Sämtliche Gedichte 80 € Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung 169 € Schlafes Bruder 108 € Schönes Blumenfeld 40 € Schwarzwälder Dorfgeschichten 172 € Seegespenst 184 € Sentimental Journey 60 € Sesenheimer Lieder / Gedichte 69, 79, 82 € Shakespear 81 € Skizze der Erkenntnis des Dichters 201 € Soliloquy 80 € Sonnete 46 € Stopfkuchen 197 € Studien über Hysterie 181 € Sturm und Drang 80, 103 € Tauben im Gras 238 € Teutschland 46 € Teutschland. Emblema 46 € The London Merchant 65 € Threnen des Vatterlandes 37, 45 € Tractatus logico-philosophicus 233 € Trauerspielbriefwechsel 60, 65, 68 € Trostgedicht In Widerwertigkeit Deß Kriegs 46 € Türkenkalender 24 € Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten 133, 164 € Über die ästhetische Erziehung des Menschen 135 € Über die Fülle des Herzens 61 € Über die tragische Kunst 151 € Über Herrn Martin Opitzen auff Boberfeld sein Ableben 42 € Über Merkwürdigkeiten der Litteratur 81 € Ugolino 80 € Undine 169 € Unterleuten 239 € Unterm Rad 200 € Urfaust 72 € Utopia 62 € Vanitas, Vanitatum, et omnia vanitas 46 € Versuch einer Critischen Dichtkunst 68, 77 € Vom bürgerlichen Trauerspiele 64 <?page no="252"?> 251 Werkregister € Vom ehelichen Leben und andere Schriften über die Ehe 115 € Vom weinerlichen oder rührenden Lustspiel 66 € Von deutscher Art und Kunst 81, 83, 103 € Von deutscher Baukunst 83 € Wallenstein 134, 150 € Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? 11 € Was ist Aufklärung? 103, 212 € Wasserflut 228 € Wilhelm Meisters Lehrjahre 109, 110, 137 € Wilhelm Tell 134, 135, 153, 155 € wir sind lockvögel baby! 222, 223 € Woyzeck 169 € Zerbin 82 € Zum Schäkespears Tag 82 € Zum Zeitvertreib 175 € Zwischen Himmel und Erde 174, 197 <?page no="254"?> 253 Sachregister Sachregister Abenteuerroman 42 Adel 18, 60, 64, 91, 100 Adlige / adelig 52, 64, 67, 105, 164 Affekt 60, 61, 67, 73, 95, 144, 151, 187 Affektbeherrschung 41 Affektenlehre 60, 134 Affektkontrolle s. Affektbeherrschung 87, 88, 89, 94 Affektmodellierung 91, 127 Allegorie / allegorisch 27, 32, 33, 42, 113, 119, 123, 128, 135, 202, 205 Alliteration 50, 127, 131 allwissender Erzähler s. auktorialer Erzähler 206 Almanach 157 Alphabetisierung 14, 16 Anagnorisis 146 Anagramm 157, 218 Anakoluth 69, 88, 98 Anakreontik / anakreontisch 123 Anthropologie / anthropologisch 27, 28, 33, 50, 52, 127, 132, 136, 145, 148, 152 Antike / antik 21, 41, 43, 48, 49, 51, 118, 142 Antithese / antithetisch 42, 44, 49, 50, 52 Assoziationsstil 222 Ästhetik / ästhetisch 17, 18, 21, 24, 25, 60, 79, 81, 89, 108, 109, 111, 125, 131, 133, 134, 135, 157, 159, 160, 163, 166, 167, 168, 173, 214, 221, 222, 232, 234, 236 ästhetische Erfahrung 108, 234 ästhetisieren 117, 125, 131 Ataraxie 48 Aufklärung / aufgeklärt 10, 15, 33, 59, 60, 61, 64, 71, 79, 80, 82, 84, 85, 87, 88, 91, 94, 97, 100, 101, 127, 134, 139, 146, 150, 152, 212, 222 Aufklärungskritik / aufklärungskritisch 84, 95, 98, 100 auktorialer Erzähler 160, 205 Auratisierung der Kunst 167, 168 Autonomieästhetik 133, 164 Autopoetik 167 Autor 9, 14, 16, 17, 18, 21, 30, 33, 41, 44, 45, 60, 71, 81, 165 Autorfunktion 28 BBarock 10, 15, 37, 46 barockes Lebensgefühl 46, 48 Barockliteratur 41, 42, 47 Barockroman 63 Basisfragen 12, 13, 14 Begehren 55, 56, 70, 87, 88, 90, 94, 116, 117, 119, 121, 125, 126, 131, 140, 142, 144, 147, 152, 179, 185, 187, 189, 205, 206, 207, 209, 210, 212, 213, 214, 215, 217, 225, 231, 233 Beichtzettel 25 Berliner Moderne 174 Berliner Romantik 107 Beständigkeit 48, 131 Bewusstseinsformen 66, 76, 151 Bibel 21, 24, 26, 27, 47, 81, 123, 124, 140, 165, 189 Bibelübersetzung 22, 40, 47 Bibliotheksgeschichte 14 Biedermeierzeit / biedermeierzeitlich 10, 15, 111, 155, 156 Bildung 16, 33, 41, 136 Bildverständnis 23 Bildzeichen 14 <?page no="255"?> 254 Sachregister Binnenperspektive 85, 151 Blockbuch 23 Briefroman 83, 84 Brudermord 82 Buchdruck 15, 21, 22, 23, 24, 29 Buchhandelsgeschichte 14 Buchmarkt 16, 22, 40 Buchstaben 24, 50, 123 Bürgerliche / bürgerlich 9, 12, 30, 60, 62, 63, 66, 67, 68, 69, 70, 72, 73, 75, 76, 77, 82, 84, 164 bürgerlicher Realismus s. Realismus 171, 172 bürgerliches Trauerspiel 64, 65, 66, 68, 72, 76, 77, 152 Bürgerlichkeit 66, 67, 73 Bürgertum 61, 63, 66, 136, 180 Ccaptatio benevolentiae 28, 116 carmen figuratum / carmina figurata s. Figurengedicht 41, 42 carpe diem 48 Charakterdrama 134 Codierung / codieren 51, 54, 55, 56, 99, 141, 180, 185, 210 Constantia-Ideal 48 Cross-over-Stück 66 DDadaismus 15, 200 Daktylus 12 Decodierung / decodieren 113, 177, 180, 184 delectare 10, 29, 49 Denkfigur 44, 55, 67, 68, 85, 167 Deutung 10, 13, 17, 28, 51, 139, 145, 150, 162, 212, 213 Dezentrierung 221 Dialog 84, 106, 113, 125, 130, 150, 163, 201 Dichtungsreligion 110, 119 Digitalisierung 23 Dinggedicht 163 Dingsymbol 139, 166 Diskurs / diskursiv 32, 67, 71, 75, 88, 89, 91, 99, 117, 126, 160, 166, 177, 188, 199, 204, 206, 210, 212, 213, 224, 229, 230 Diskursform 64, 206 diskurshistorisch 121 Distribution 13, 14, 22, 40 Disziplinierung 62, 64, 127, 188, 205 Dithyrambus 118 docere 49 Dokumentarcharakter 18 Drama 42, 62, 64, 67, 79, 81, 82, 84, 134, 136, 150, 221 Dramenform 64 Dreißigjähriger Krieg 42, 43, 44, 46, 51 Druckerpresse 24 Druckschriftlichkeit 22 Drucktechnik 23, 27 Druckzeichen 14 EEinheit von Ort und Zeit 81 Eitelkeit 38, 46, 49 Elegie 42 elegischer Ton 53, 128 Elitekultur 27 Emanzipation / emanzipatorisch 64, 85, 86, 87, 91, 95, 96, 101, 102, 111, 112, 114, 118, 195, 212, 226, 237 Emblematik 42 empfindsame Tendenz 59, 61, 88 Empfindsamkeit / empfindsam 59, 60, 61, 66, 68, 69, 70, 72, 76, 79, 84, 85, 88, 92, 97, 99, 115, 130, 138, 151, 161, 167 Entstehungsgeschichte 13, 14 Epigramm 42 Epoche 9, 15, 16, 18, 40, 54, 59, 62, 138, 155, 174, 199, 200, 204 Epochenbegriff 15, 40, 59, 107, 171 Epochenparadigma 207 <?page no="256"?> 255 Sachregister Epochensignatur 12, 18, 167 Epochenumbruch 146 Epochisierung 15 erotische Dichtung 42, 43, 55, 111 Erzähler 93, 113, 114, 160, 165, 205, 206, 212, 215 Erzählperspektive 205 Erzählprosa 174 evangelisches Kirchenlied 42, 43 Expressionismus 15, 18, 200, 218, 239 extensive Lektüre 105, 107 extrinsisch 54 FFamilie 9, 71, 74, 77, 122, 139, 157, 175, 210, 223, 225 Fernsehen 14, 223 Festspiel 134, 150, 166 Figurengedicht 41, 42 Figurenrede 65 Fiktionalität / fiktiv 11, 12, 14, 22, 29, 33, 34, 54, 62, 72, 87, 101, 108, 110, 111, 112, 113, 117, 135, 173, 174, 178, 208, 223, 237 Film 14 Fragenkette 140 Französische Revolution 11, 120, 128, 166 Frauenbild 56, 185 freie Akzentuierung 43 Freiheit 43, 44, 48, 54, 82, 93, 95, 122, 123, 134, 136, 159, 185 Freundschaft 31, 61, 99, 113, 125, 126, 129 Frühbarock 15, 40 Frühe Neuzeit 10, 15, 21 Frührealismus 155 Frühromantik 10, 15, 59, 105, 137, 150 Furcht 56, 67, 186, 188, 193 Ggalante Dichtung 43 Gattung 14, 27, 41, 42, 43, 61, 64, 68, 83, 109, 118, 135, 158 Gattungsbezeichnung 63, 65 Gattungsdistinktion 64, 109 Gattungsgeschichte 118 Gattungsgrenzen 81 Gattungsnormen 81 Gattungstypologie / gattungstypologisch 81, 113, 115, 134, 158, 226 Gattungsvermischung 116, 117 Gebrauchsliteratur 16, 22 Gebrauchstexte 21, 22 Gedichtanalyse 51 Gefühl 61, 69, 89, 93, 98, 115, 120, 125, 157, 161, 165, 182, 183, 187, 190, 193, 196, 207, 208, 211, 217, 230 Gelegenheitsdichtung 41, 157 Genderkritik 56, 177 genderspezifisch 18, 69, 128, 138 genera dicendi 48 Genie / genial 79, 80, 81, 85, 109, 167 Genre s. Gattung 174, 200 genus humile 48 genus mediocre 48 genus sublime 48 Geschichte 11, 12, 13, 14, 34, 87, 136, 149, 158, 167, 194, 224 Geschichtsdrama 134, 137, 150 Geschichtsforschung 11 geschlechterdifferente Lektüre 112 Geschlechterdifferenz 131, 139, 141, 142, 143, 152 Geschlechterordnung 139, 141, 142, 143, 144, 145, 148, 152 Geschlechterrollen 132, 138, 230 Geschlechterstereotypie 129 Geschlechtsidentität 73, 141, 144, 151, 152, 177 Geschmacksfragen 17 Gewissen 27, 68, 193 Grammatiken 21 Gutenberg-Ära 23 H <?page no="257"?> 256 Sachregister Handeln 27, 29, 42, 44, 61, 65, 66, 67, 70, 73, 77, 95, 97, 100, 101, 123, 138, 139, 141, 143, 171, 182, 189, 194, 227, 231 Handgießinstrument 24 Handschrift 14, 15, 24, 25 Handschriftlichkeit 22, 24 Hausmärchen 158 Heiterkeit 118, 159 Herz 10, 62, 65, 69, 72, 93, 102, 138, 139, 140, 144, 147, 236 heysescher Falke 172 höfischer Roman 42 Höhenkammliteratur 16, 22 Höhepunkt 55, 59, 144, 168, 174, 189, 201 Holzschnitt 23, 27, 30 Homer-Lektüre 90 horror vacui 48 Humanismus 21, 23, 27, 34, 41 hymnischer Ton 130 Hymnus 61, 83, 114, 118, 140 IIch-Form 113, 128, 131, 205 Identifikation 67, 84, 101, 236 Identität 66, 73, 90, 107, 130, 134, 141, 142, 152, 153, 176, 177, 179, 226, 228 Idylle 157 Illusion 135, 201 Impressionismus / impressionistisch 174, 208 Individualisierung 79, 96, 107 Individualität 9, 90, 97 Individualsignatur 18 Industrialisierung 128, 177, 210 Inkunabel 25 innerer Monolog 233 Innovationsfähigkeit 17 Intermedialität / intermedial 23, 42 Internatsroman 200, 204 Internet 14 Interpretation 10, 17, 141, 222, 227, 232 Intimisierung 73, 84, 95 intrinsisch 54 JJenaer Romantik 107 Jesuitendrama 42 Jugendstil 174 Junges Deutschland 15, 155 KKanon 10, 16, 17, 22, 40, 180 Karlsbader Beschlüsse 155 Kasualpoesie s. Gelegenheitsdichtung 41 Katachrese / katachrestisch 226, 236, 237 Katastrophe 45, 99, 187, 191, 194 Katholiken 45, 50 katholisches Kirchenlied 42, 47 Kindsmord 71, 72, 79, 82 Kirchenlied 22, 40, 47 Klassik s. Weimarer Klassik 111 klassische Lyrik 134 klassische Moderne 10, 15, 173, 174, 199, 200, 221 klassisches Drama 133, 134, 135, 150 Klimax 140 Kommunikationsmedium 115 Komödie 32, 42, 81 Königsberger Dichterkreis 42 Körper 53, 55, 56, 85, 87, 91, 93, 96, 98, 99, 111, 114, 117, 120, 125, 141, 147, 149, 152, 184, 188, 189, 202, 205, 207, 213, 214, 225, 229, 230, 235 Kraftgenie 79 Kulturbegriff 19 kulturgeschichtlich 14, 16, 19, 33, 63, 180, 185, 190 kulturhistorisch s. kulturgeschichtlich 63 Kulturindustrie 17 Kulturpatriotismus 44 Kulturtechnik 33, 73, 105 Kunstautonomie 135, 150, 164 Kunstdiskurs 127, 229 <?page no="258"?> 257 Sachregister Künstlichkeit der Kunst 136 Kunstlied 168 Kunstreligion 108, 119, 127 Kussmetaphorik 56 LLehrgedicht 42 Leiden 83, 84, 85, 86, 87, 88, 90, 91, 93, 100, 102, 200 Leidenschaften / leidenschaftlich 21, 61, 64, 67, 70, 85, 86, 87, 89, 90, 92, 95, 97, 99, 101, 102, 112, 121, 125, 126, 127, 130, 143, 151, 177, 189, 214, 230, 231 Leihbibliotheken 105, 106 Leitmotiv 142, 183, 205 Lesart 17, 27, 28, 30, 33, 34, 46, 53, 90, 93, 117 Lesegesellschaften 105 Lesepublikum 105, 112, 114, 171, 172, 201 Lesergeschichte 14 Leseverhalten 105 Lesewut 105 Liebe 9, 21, 51, 55, 56, 61, 67, 70, 73, 75, 76, 79, 80, 83, 86, 87, 89, 94, 110, 111, 112, 114, 117, 119, 120, 121, 123, 124, 126, 127, 128, 130, 131, 141, 144, 152, 159, 180, 194, 215, 223, 227, 230, 232, 235, 239 Liebesdiskurs 113, 115, 116, 127 Liebesgedicht 54 Liebeslied 42 Liebeslyrik 54, 56, 82 Liebesreligion 108, 111, 119, 123, 124, 127, 130, 132 Lied 42, 43, 79, 82, 168 Literalität 14 Literaturgeschichte 11, 12, 13, 17, 18, 25, 60, 146, 155, 207, 227 Literaturgeschichtsschreibung 12, 15, 16, 18, 171 Literaturkritik 14, 79, 116 Literaturwissenschaft 10, 14, 19 Liturgie 43, 47 lyrisches Sprechen 42, 44, 56 MMainzer Uroffizin 24 Makrostruktur 15, 156 Märchen 110, 157, 159, 174 Märtyrertragödie 42 Matrize 24 Medea 71, 185 Medienrevolution 23 Medienwechsel 14, 22, 23 memento mori 48 Metapher 42, 50, 52, 54, 100, 115, 130, 190, 208, 225 Metaphorik 113, 213, 225 Metonymie 185 Metrik 34, 44, 47, 48, 109, 135, 136 Metrum 47, 49, 50 Mikroanalyse 51 Mikrostruktur 15 Mitleid 67, 68, 148, 152 Mitleidsästhetik 68 Mitleidsethik 69, 70 Mittelalter 15, 22, 23, 110, 114, 137, 139, 141 Mitteldiärese 48 Moderne 10, 15, 17, 22, 109, 111, 118, 199, 200, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 210, 217, 218, 221 Modernität 63, 199, 200 Monolog 84, 140 Montagetechnik 222 Moral 9, 27, 28, 29, 32, 34, 60, 61, 63, 66, 68, 69, 76, 84, 94, 101, 120, 123, 142, 148, 177, 193, 195, 197, 199, 221, 223 Moralische Wochenschriften 61 Morallehre 26, 30, 40, 42 moral-sense (-Theorie / -Haltung) 60, 69 Motette 47 Motiv 16, 33, 65, 151, 183, 186, 207, 210 movere 49 <?page no="259"?> 258 Sachregister Multiplikationsmedium 115 Musik 43, 63, 92, 107, 160, 161, 166, 186, 221, 226, 227 Mysterienspiel 134 mystische Barockdichtung 42, 43 Mythos 33, 72, 108, 116, 161, 222, 225, 230, 231, 232, 233, 235 NNarren 26, 27, 28, 29, 30, 31, 33, 203 Narrenliteratur 34 Natur 61, 81, 82, 89, 90, 93, 95, 96, 116, 117, 121, 122, 123, 125, 126, 131, 136, 139, 141, 165, 213, 224 Naturalismus 15, 171, 173, 174, 200 Natürlichkeit 41, 47, 50, 90, 91, 98, 114, 117, 139, 141, 145, 152, 163, 182, 224 Naturnachahmung 136 Neostoizismus 48 Neue Sachlichkeit 15 Neuzeit 22, 33, 48, 51 Novelle 159, 160, 163, 167, 168, 172, 174 OOde 42, 82 Oper 42, 160, 168 Oralität 14 Oratorium 42 Ordnung 9, 28, 62, 97, 100, 115, 117, 121, 128, 131, 139, 141, 142, 144, 145, 148, 152, 157, 162, 173, 187, 210, 223, 226 Originalität 80, 81 Ossian-Lektüre 94 Oulipo 222 Oxymoron 236 PParadoxon 115, 118, 236 Parallelismus 49 Pathos 109, 118, 134, 135, 150 Periode 9, 15, 16, 59, 79, 80, 133, 138, 155, 171, 174 Periodenbegriff 59, 126, 155, 171 Periodisierung 15, 138 Peripetie 146, 234 personales Erzählen 113 Personifikation 44, 125 Petrarkismus 43, 48, 55, 56 Picaroroman 42 Pöbel 64 poeta doctus 41 poetischer Realismus s. Realismus 171, 172 politische Dichtung 42 politisches Gedicht 45 Postmoderne / postmodern 15, 63, 237 Predigt 26 Pressefreiheit 155 Produktion 13, 14, 22, 40, 61 Produktionsästhetik 17, 80, 167 Programmgedicht 164 Programmschrift 83 progressive Universalpoesie 109, 112, 116, 131 Prometheus 82, 88 Prosa 42, 84, 111, 118, 134, 174 Prosahymnus 61, 83 Prosodie 134 Protestanten 50 protestantische Sache 44, 45 QQuartett 44, 48, 52 Quelle 137 RRahmenhandlung 160 Rationalität 88, 206, 212, 218 Rätselgedicht 42 Realismus 10, 15, 171, 204 Reformation 23 Regel 42, 47, 61, 64, 66, 67, 81, 84, 89, 91, 108, 211, 223 Regelklassizismus 109 Reim 30 <?page no="260"?> 259 Sachregister Reimschema 48, 136, 140 Reinigung der Leidenschaften 61, 67 Religion 14, 18, 22, 23, 27, 40, 48, 53, 61, 80, 81, 85, 108, 119, 123, 137, 140, 142, 150, 151, 161, 177, 191 Renaissance 21, 108 Renaissancepoetik 80 Restauration 155, 165, 171, 177 Rezeption 13, 14, 22, 101, 160, 221, 226 Rezeptionsästhetik 17, 167 Rezeptionsgeschichte / rezeptionsgeschichtlich 13, 134, 136 Rezeptionshaltung 84, 167 Rhetorik / rhetorisch 21, 26, 28, 40, 41, 48, 53, 74, 109, 115, 116, 135, 139, 236 Rhythmisierung 134 Rhythmus 134 Roman 102, 111, 118, 121, 122, 127, 131, 174, 177, 196, 200, 201, 205, 206, 210, 216, 226 Romantik / romantisch 18, 107, 108, 111, 115, 116, 117, 122, 125, 127, 130, 136, 146, 150, 152, 155, 158, 174, 228, 239 Rührung 149, 159, 167 SSatire 26, 27, 29, 30, 32, 33, 42 Schäferdichtung 51, 123 Schicksalsdrama 134 Schrecken 48, 68, 148, 192 Schreibstube 24 Schriftlichkeit 11, 14 Schuldrama 42 Schulkritik 201, 206 Schulroman s. Internatsroman 200, 204 Schulunterricht 26 Seelenadel 61 Selbstbändigung 85, 87, 98, 189 Selbstbestimmung 67, 77, 82, 90, 148, 152, 196 Selbstdisziplinierung 89, 94, 99, 102, 152 Selbsthelfer 84 Selbstreferenzialität 171 Selbstreflexion 63, 64, 100, 113, 128, 140, 148 Selbstzwang 115 Sentenz 43, 66, 135 Sexualität / sexuell 55, 56, 68, 70, 79, 94, 102, 116, 117, 120, 121, 180, 185, 191, 206, 207, 208, 210, 211, 214, 217, 218, 222, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 233, 234, 235, 237 Shakespeareanismus 79 Sinnbild 27, 91, 116, 186, 190, 202, 207, 231 Sonett 42, 44, 48, 52, 54 Sozialdistinktion 64 Sozialgeschichte / sozialgeschichtlich 13, 18 Sozialkontrolle 197 Sozialnorm 88 Sozialtugend 68, 100 Spätantike 23 Spätaufklärung 15, 59, 138 Spätbarock 15 Spätromantik 111, 156 Spondeus 44 Sprachlosigkeit 121, 204, 206, 208, 210, 213, 218 Stilfigur 69 Stoa 48 Strömung 9, 138, 174, 200, 201 Sturm und Drang 10, 15, 59, 60, 72, 79, 103, 125, 126, 150 Subjektivität 84, 96, 143, 149 symbolische Deutung 146, 177, 189 Symbolismus 174, 200 Symbolisten 111, 179, 203 symbolsprachlich 174, 176, 180, 189, 228 TTerzett 44, 45, 48, 53 Textsorte 84, 110, 222 <?page no="261"?> 260 Sachregister Textverständnis 23 Theater 14, 64, 82, 135 Theodizee 117 Tod 48, 49, 52, 56, 85, 88, 89, 90, 97, 111, 130, 139, 143, 144, 147, 152, 161, 165, 176, 179, 233 tragischer Knoten 145, 148 Tragödie 32, 42, 61, 64, 66, 67, 77, 81, 109, 135, 136, 137, 150, 151, 189 Transformation 14, 22 Trauerspiel s. Tragödie 64, 97 Trivialliteratur 16, 22, 223 Trope 236 Tugend 31, 60, 64, 66, 67, 68, 70, 73, 75, 76, 77, 97, 196 Tugendhaftigkeit / tugendhaft 32, 61, 67, 68, 70, 84, 97 UUmschlagpunkt von Glück in Unglück s. Peripetie 146, 194 umschließender Reim 48 Unordnung 28, 115, 118, 121, 125, 131 Unterschicht / unterschichtig 66, 67, 72, 138 Utopie / utopisch 9, 50, 54, 61, 62, 67, 75, 77, 174, 180, 202, 216, 224, 232 Vvanitas 46, 47, 52, 53, 56 vanitas vanitatum s. vanitas 47 Vatermord 82 Verbreitungsgeschichte 13 Verführung / Verführer 31, 66, 68, 70, 72, 75, 77, 94, 125 Vergänglichkeit 41, 46, 49, 51, 53, 56, 119, 199 Verhaltensstandard 55, 66, 76, 99, 121, 185 Verhaltenswerte s. Verhaltensstandard 67 Vernunft 69, 85, 89, 97, 124, 135, 144, 147, 211, 213, 215, 216, 231 Versifikation 43, 64 Verssprache 134, 136 Verstand 10, 33, 62, 65, 91, 97, 124, 212 Virgel 44, 49 Virtualität 14, 17 Visualisierung 23 Volkslied 22, 40, 79, 168, 237 Volksmärchen 158 Vormärz 15, 111, 156 WWeimarer Klassik 10, 15, 59, 107, 109, 118, 133, 155, 164 Wendepunkt 185, 189, 200, 214 Werbung 16, 224 Wiegendruck 25 Wiener Gruppe 222 Wiener Kongress 155, 177 Wiener Moderne 174, 181, 201 Wiener Volkstheater 156 Wirkungsästhetik 60, 61, 80 Wörterbücher 21, 117 Wortlosigkeit 206, 208, 210, 212, 217, 218 XXenion 12 ZZeichensystem 14 Zensurgeschichte 14 Zeugma 226, 236 <?page no="262"?> Matthias Luserke-Jaqui ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der TU Darmstadt und hat bei utb bereits die Bücher Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft (utb 2309), Eduard Mörike (utb 2530) und Friedrich Schiller (utb 2595) veröffentlicht. <?page no="263"?> Matthias Luserke-Jaqui Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten A. Francke Verlag Tübingen <?page no="264"?> Umschlagabbildung: © photogl / shutterstock.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany utb-Nr. 4829 ISBN 978-3-8385-4829-6 <?page no="265"?> 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert Frühe Neuzeit: Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) . . . . . . . 21 2. Schritt - 17. Jahrhundert Barock: Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3. Schritt - 18. Jahrhundert Aufklärung: Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 4. Schritt - 18. Jahrhundert Sturm und Drang: Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5. Schritt - 18. Jahrhundert Frühromantik: Friedrich Schlegel Lucinde (1799) . . . . . . . . . . . 105 6. Schritt - 19. Jahrhundert Weimarer Klassik: Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 7. Schritt - 19. Jahrhundert Biedermeierzeit: Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 8. Schritt - 19. Jahrhundert R ealismus: Theodor Fontane Effi Briest (1894 / 96) . . . . . . . . . . . . 171 9. Schritt - 20. Jahrhundert Klassische Moderne: Robert Musil Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 <?page no="266"?> 6 Inhalt 10. Schritt - 20. Jahrhundert Moderne: Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) . . . . . . . . . . 221 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 <?page no="267"?> Vorwort Diese Einführung in die Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten ist aus der langjährigen Arbeit mit Studierenden in Vorlesungen, Seminaren und Prüfungsvorbereitungen entstanden. Das Buch will drängende Fragen aufgreifen, die sich zum Beginn des Studiums stellen und die auch am Ende kurz vor dem Examen plötzlich wieder auftauchen können. Die Texte haben sich in der praktischen Arbeit immer wieder als Generaleinführungen in Epochenzusammenhänge bewährt. Dass sich die deutsche Literaturgeschichte selbstverständlich nicht in den gewählten Textbeispielen erschöpft und dass sich ebenso selbstverständlich auch ein anderer ‚Bauplan‘ zeichnen ließe, mag heutigentags ein notwendiger Hinweis sein. Am Ende des Buches findet sich eine kleine Empfehlung (keine Rezeptur) für zwei weitere Durchgänge durch die deutsche Literaturgeschichte, die sich jede Leserin und jeder Leser eigenverantwortlich aneignen kann. Dieser Literaturgeschichte liegt als konzeptueller Rahmen die Idee zugrunde, dass ein mehrmaliger Durchgang durch die deutsche Literaturgeschichte jenes Verständnis (und Wissen) generiert, das für ein erfolgreiches Studium unabdingbar ist. Die Literaturgeschichte soll nicht mehr fortlaufend, gewissermaßen seriell erarbeitet werden, sondern in wiederholten Anläufen, die historisch stets vom Beginn des Buchdrucks (mit Ausnahme des zweiten Durchgangs) bis zur Gegenwart ausgreifen. Jeder weitere Durchgang kann das bereits vorhandene Grundwissen festigen und ausbauen. Das ist Literaturgeschichte in Gestalt einer Helix, jede weitere Drehung um den Kern schraubt das Wissen der Studierenden auf einen höheren Kenntnisstand. Dieses Buch ist zunächst eine Einführung in die Neuere deutsche Literaturgeschichte. Das betrifft also den Zeitraum vom Beginn des Buchdrucks bis in die Gegenwart. Eine eigene Einführung in die mediävistische Literatur enthält das Buch nicht, hier wird summarisch auf die entsprechenden Lehrwerke der Mediävistik oder auf den zweiten, eigenständigen Durchgang (s. Anhang) hingewiesen. Mein herzlicher Dank für die Vorbereitung und Druckbegleitung dieses Buchs gilt meinen Mitarbeiterinnen Laura Löbig, Eva Mengler und Lisa Wille, M. A., sowie den Inklusionskräften Tommi Fuhrmann und Nadja Willy. Dr. Grit Dommes (Berlin) hat eine wertvolle Außenkorrektur geleistet und die Register erstellt. Ihnen allen bin ich für ihre Mithilfe und ihre Wertschätzung sehr verbunden! Darmstadt / Kusel, 1. März 2017 <?page no="269"?> Einleitung Dieses Buch ist eine Einführung in die Deutsche Literaturgeschichte in 10 Schritten. Es wendet sich an Studienanfänger der Neueren deutschen Literaturwissenschaft oder Germanistik und an Studierende, die kurz vor dem Examen nochmals wesentliche Aspekte wiederholen und zusammenfassen wollen. Gleichzeitig ist das Buch durchaus auch geeignet, neugierige Leser und Leserinnen an die Frage heranzuführen, wie sich ein erster Überblick über die deutsche Literaturgeschichte gestalten könnte. Im Vordergrund steht die Absicht, diesen ersten Überblick über ein undurchdringbar scheinendes Dickicht der Literaturgeschichte zu bewältigen. Dabei liegt es auf der Hand, dass dies nur ein Anfang sein kann und weitere Durchgänge durchaus sinnvoll sind und geboten scheinen. Deshalb finden sich auch am Ende dieses Buchs die Lektüreempfehlungen für zwei weitere Durchgänge durch die Literaturgeschichte. Natürlich ist mir bewusst, dass man jeden Durchgang durch die Literaturgeschichte auch mit einer anderen Textauswahl überzeugend begründen kann, denn eine solche Reihung ist nicht nur mit diesen Texten möglich. Selbstverständlich könnten auch andere exemplarische Texte gewählt werden, doch ich habe mich aus gutem Grund für diese entschieden. Aus ihnen lassen sich, nach meiner Erfahrung und langjährigen Arbeit mit Studierenden, die Fülle und Besonderheiten der deutschen Literaturgeschichte anschaulich ableiten. Zusätzlich finden sich am Ende eines jeden literaturgeschichtlichen Schritts weitere Lektüreempfehlungen. Diese ersetzen natürlich keine Literaturgeschichte in Buchform. Ihre Intention ist es, in einem ersten Zugriff für das literaturgeschichtliche Studium wichtige Autoren und Texte zu benennen, um sie dem Selbststudium zu empfehlen. Entscheidend ist für dieses Buch, dass es sich bei der Textauswahl an folgenden Leitkriterien orientiert: Was sagen die ausgesuchten Werke über die jeweilige literaturgeschichtliche Epoche oder Strömung (Periode)? Und was sagen die ausgesuchten Texte über den jeweiligen Autor oder die jeweilige Autorin? Als Einführung in die deutsche Literaturgeschichte vermeidet dieses Buch jegliche Faktenhuberei, es produziert keine Datenmüllhalden und huldigt keinem Namedropping. Der Schlüsselbund, an dem diese Schlüsseltexte der deutschen Literaturgeschichte aufgehängt sind, besteht aus Themen, die in je unterschiedlicher Gewichtung in nahezu allen diesen Texten wiederkehren und sich als zentrale Themen der Literatur erweisen. Das sind hauptsächlich die Reflexionen über Liebe, bürgerliche Ordnung, Individualität, Moral, Gesellschaft, Antibürgerlichkeit, Familie, Utopie. <?page no="270"?> 10 Einleitung Wozu Literatur? Das klassische Diktum „aut delectare aut prodesse“, die Literatur solle erfreuen und nützen, wie es Horaz (65-8 v. Chr.) in seiner Ars poetica formuliert, hat nichts von seiner Aktualität verloren. Mehr denn je gilt, dass Literatur nicht nur einen Nutzen haben, sondern auch Vergnügen bereiten solle. Dagegen ist die Ansicht der Aufklärung, die Aufgabe der Literatur sei es, den Verstand aufzuklären und das Herz zu verbessern, historisch geworden-- zumindest, was die Besserung des Herzens betrifft. Aufklärung in jeder Hinsicht durch Literatur ist weiterhin ein hehres, aber ungebrochen wünschenswertes Ziel vieler Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Die zentrale Frage für ein Germanistikstudium heißt deshalb zunächst nicht „Was ist Literatur? “, sondern „Was will Literatur? “ Um sich einer Antwort auf diese Frage zu nähern, ist es unumgänglich, ausgewählte Texte der Literaturgeschichte einer genauen und das heißt interpretativen Lektüre zu unterziehen. Man lernt also in diesem Buch nicht nur den Rahmen der deutschen Literaturgeschichte kennen, sondern wird auch in die Interpretation von exemplarischen historischen Texten eingeführt. Literaturwissenschaft erfordert das Gespräch über Texte. Wenn nicht mehr dieselben Texte gelesen werden, sind ein Meinungsaustausch oder die Vermittlung literaturgeschichtlichen Wissens oder der Streit um die überzeugendste Deutung und das bessere Argument nicht mehr möglich. Insofern sollte man bei der Diskussion um Sinn oder Unsinn von Leselisten und um die Nachteile sogenannter kanonisierter Literatur stets zugutehalten, dass eine solche Leseliste oder ausgewählte Literatur eine beiden Seiten dienliche Lesegrundlage stiftet. In diesem Sinne kann ein Kanon als minimale Kommunikationsgrundlage verstanden werden. Die zehn Schritte, die in diesem Buch vorgeschlagen werden, beziehen sich auf die Literatur des 15./ 16. Jahrhunderts (1. Schritt: Frühe Neuzeit), des 17. Jahrhunderts (2. Schritt: Barock), des 18. Jahrhunderts (3. Schritt: Aufklärung, 4. Schritt: Sturm und Drang, 5. Schritt: Frühromantik), des 19. Jahrhunderts (6. Schritt: Weimarer Klassik, 7. Schritt: Biedermeierzeit, 8. Schritt: Realismus) und des 20. Jahrhunderts (9. Schritt: Klassische Moderne, 10. Schritt: Moderne). Die ausgewählten Texte und Themen sind in der Lage, ein sinnvolles literaturgeschichtliches Gespräch zu garantieren und Prüfungswissen zu generieren. Der Wahlspruch der Aufklärung: sapere aude- - habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen-- muss heutzutage variiert werden, denn für das Studium wie für das Leben mag nun gelten: legere aude-- habe Mut zu lesen. In diesem Sinne: nur Mut! <?page no="271"?> 11 Einleitung Wozu Literaturgeschichte? Eine Antwort auf den Spuren Schillers Der Dichter, Historiker, Essayist, Philosoph und Dramatiker Friedrich Schiller (1759-1805) hält am 26. und 27. Mai 1789 an der Universität Jena seine Antrittsvorlesung, womit er seine Tätigkeit als Professor der Geschichte aufnimmt. Das Thema dieser Vorlesung lautet: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Unter Universalgeschichte versteht Schiller eine allgemeine Menschheitsgeschichte. Nur wenige ahnen, dass dieser Menschheit in Europa grundlegende gesellschaftliche und politische Änderungen bevorstehen, die nur zwei Monate später durch die Französische Revolution ausgelöst werden. Der Sturm auf die Bastille erfolgt bekanntlich am 14. Juli 1789. Schiller befasst sich mit der Frage, wie die Beschäftigung mit Geschichte wissenschaftlich begründet und gelehrt werden kann und welche Aufgaben für die Erforschung von Geschichte daraus resultieren können. Es geht ihm also um zwei Aspekte, nämlich um die Geschichte und um die Geschichtsforschung. Zu Beginn meiner Einführung in die Literaturgeschichte möchte ich auf Schillers Anliegen in seiner Jenaer Antrittsvorlesung zurückgreifen. Allerdings soll der Term Geschichte etwas variiert werden. Ich werde nämlich im Folgenden Schillers eigene Begriffe von Geschichte und Universalgeschichte durch das Wort Literaturgeschichte ersetzen. Damit erzeuge ich einen fiktiven Dialog zwischen Schillers Text und uns heutigen Lesern und gewinne auf diese Weise eine fiktive Antwort von Friedrich Schiller auf die sehr reale Frage: Was ist Literaturgeschichte? Das schließt die etwas weiterführende Frage mit ein, weshalb wir uns heute am Beginn des 21. Jahrhunderts überhaupt mit Literaturgeschichte beschäftigen sollen? Und weshalb Literaturgeschichte studieren? Schiller appelliert an seine Studenten und an uns heutige Leser: Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Literaturgeschichte nicht etwas wichtiges zu sagen hätte; alle noch so verschiedenen Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüpfen sich irgendwo mit derselben; aber Eine Bestimmung teilen Sie alle auf gleiche Weise mit einander, diejenige, welche Sie auf die Welt mitbrachten-- sich als Menschen auszubilden-- und zu dem Menschen eben redet die Literaturgeschichte. Die Literaturgeschichte redet also nicht zu Büchern, sondern zu Menschen. Sie befasst sich mit der kulturellen Entwicklung des Menschen, mit den Problemen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Überlieferung, indem sie über Bücher spricht. Literaturgeschichte erklärt uns die Geschichtlichkeit der Gegenwart durch die Gegenwärtigkeit der Geschichte. (Zitat, Paraphrase und Collage nach Schiller: Frankfurter Ausgabe Bd. 6, S. 411-431, hier S. 412 ff.) <?page no="272"?> 12 Einleitung Am Ende seiner Rede steht bei Schiller der Appell an die Zuhörer: „Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet-- etwas dazu steuern können Sie alle! “ (Ebd., S. 431) Aus diesen Worten können wir das Wissen ableiten, dass die Frage ‚Warum Literaturgeschichte? ‘ stets auch die unausgesprochene Frage ‚Wozu Literatur? ‘ impliziert. Schiller antwortet auf diese Frage Jahre später mit einer Gegenfrage. Sein Xenion-- das ist ein meist knapper, im Versmaß des Daktylus verfasster Zweizeiler-- bringt dies präzise auf den Punkt: Wozu nützt denn die ganze Erdichtung? Ich will es dir sagen Leser sagst du mir erst, wozu die Wirklichkeit nützt. (Schiller: Frankfurter Ausgabe Bd. 1, S. 712) Literaturgeschichtliche Grundkenntnisse sind unverzichtbar, um Literaturwissenschaft studieren und historische Entwicklungen und Zusammenhänge erkennen und deuten zu können. Allerdings sollte man den Begriff der Geschichte nicht zu knapp fassen. Literaturgeschichte studieren heißt auch, sich im Selbststudium mit der Gegenwartsliteratur zu beschäftigen, obwohl keineswegs klar ist, welchen Texten einmal Dauer beschieden ist und welche immer wieder gelesen und interpretiert werden, welche Texte die meiste Kraft aufbringen, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen und so eine Epochensignatur aufweisen können (zum Nachfolgenden vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 2., überarbeitete u. ergänzte Aufl. Göttingen 2007 [utb 2309]). Schiller hat einen sehr kritischen Blick auf den Umgang mit der Literaturgeschichte seines Weimarer Klassikerkollegen Johann Gottfried Herder (1744-1803), der sich als einer der Ersten überhaupt mit den Fragen einer Literaturgeschichtsschreibung befasst. Schiller ist Herders Verfahren aber nicht geheuer. In einem Brief an Goethe vom 20. März 1801 übt er scharfe Kritik und spricht vom „erbärmliche[n] Hervorklauben der frühern und abgelebten Litteratur, um nur die Gegenwart zu ignorieren oder hämische Vergleichungen anzustellen! “ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 31, S. 20). Wenn wir den fiktiven Dialog fortsetzen wollen, kann uns das heute zu der grundsätzlichen Infragestellung führen, ob Literaturgeschichte zu lehren und zu lernen immer das Geschäft einer ‚hämischen Vergleichung‘ sein muss. Drei Basisfragen sollen uns dabei helfen, nicht hämisch zu vergleichen, sondern einen Kompass zu finden, mit dem wir das unübersichtliche Terrain der Literaturgeschichte sicher beschreiten können. Literaturgeschichte zu ver- <?page no="273"?> 13 Einleitung stehen bedeutet, bei jeder Lektüre diese drei grundlegenden Fragen an die Texte zu stellen. Die erste Frage heißt: Welche Bedeutung und welche Wirkung hatte der einzelne Text in seiner Zeit? Dies ist die Frage nach dem zeitgenössischen Stellenwert eines Textes. Die zweite Frage lautet: Welche Bedeutung und welche Wirkung hatte der Text in der Geschichte? Dies ist die Frage nach dem rezeptionsgeschichtlichen Stellenwert eines Textes. Und schließlich die dritte Frage: Welche Bedeutung und welche Wirkung hat der Text für uns heute? Dies ist die Frage nach dem aktuellen Stellenwert eines Textes. Wenn man Literaturgeschichte als den Ausdruck von historischen Entwicklungen begreifen will, müssen diese drei Basisfragen an die Texte gerichtet werden. Die Gewichtung der Fragen kann sich natürlich je nach den historischen, gesellschaftlichen, politischen oder individuellen Erkenntnisinteressen verschieben und je nach den unterschiedlich formulierten Ansprüchen an Literatur und Literaturgeschichte natürlich auch ändern. Was für uns heute historische Bedeutung erlangt, mag morgen schon nebensächlich geworden sein. Deshalb sollte man sich stets klar machen, es gibt keine Universalgeschichte der Literatur. Literaturgeschichte ist immer auch eine Geschichte von Bewertungen. Alle drei Basisfragen verfolgen je unterschiedliche historische und gegenwartsbezogene Interessen. Eine Literaturgeschichte, die auswählend versucht, eine provisorische Karte der literaturgeschichtlichen Topographie zu erstellen, also einen gangbaren Weg durch ungangbar scheinendes Gelände anzulegen, orientiert sich an der Maßgabe der dritten Fragestellung: Welche Bedeutung haben historische Texte für uns heute (noch)? Mit einer Europakarte kann man aber nicht wandern und mit einer Wanderkarte nicht Europa bereisen. Mit einem Kompass in der Hand lässt sich freilich beides tun. Diesen Kompass zu finden und den sicheren und souveränen Umgang mit ihm auszubilden, ist Ziel des Studiums der Literaturgeschichte. Kategorien des Textverstehens Literaturgeschichte zu studieren heißt also, nach der Geschichte in der Gegenwart und der Gegenwärtigkeit von Geschichte zu fragen. Die Geschichte der deutschen Literatur zu verstehen bedeutet auch, die Geschichtlichkeit von Texten zu verstehen, also die Bedingungen der Entstehungsgeschichte, der Verbreitungsgeschichte und der Rezeptionsgeschichte eines Textes in der Deutungsarbeit mit zu berücksichtigen. Diese klassische sozialgeschichtliche Trias der Produktion, der Distribution und der Rezeption eines Textes ist ent- <?page no="274"?> 14 Einleitung scheidend zu ergänzen durch eine vierte, kulturgeschichtliche Kategorie, die Transformation von Literatur. Diese vier Kategorien bedingen unser Textverstehen. Produktion, Distribution, Rezeption und Transformation eines Textes kennzeichnen die Bedingungen, unter denen ein Text beschrieben und gedeutet wird. Dringend zu empfehlen ist dabei die wiederholende Lektüre historischer Texte, stets aufs Neue sollte ein Gesamtdurchgang durch die Literaturgeschichte versucht werden, mit jeweils anderen, neuen Leitfragen und mit anderen Texten und möglicherweise auch mit anderen Erkenntnisinteressen. Jede der drei oben genannten Basisfragen nach dem zeitgenössischen, dem rezeptionsgeschichtlichen und dem aktuellen Stellenwert eines Textes sollte also immer kombiniert werden mit den Fragestellungen einer sozial- und kulturgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft der Produktion, Distribution, Rezeption und Transformation von Literatur. Die Produktion betrifft die Entstehungsgeschichte eines Textes und die individuelle Geschichte des Autors sowie die gesellschaftlichen, politischen, religiösen, sprachlichen, ideologischen Bedingungen und Besonderheiten von Geschichtlichkeit. Biographisches kann dabei ebenso eine Rolle spielen wie ästhetikgeschichtliche Faktoren, etwa die Frage, welche Gattung gerade modern oder verpönt ist. Die Distribution betrifft die Verbreitung von Literatur, die Buchhandelsgeschichte und Bibliotheksgeschichte ebenso wie die Lesergeschichte und die Literaturkritik. Dabei interessieren die Fragen: Wie wird in welcher Form wann über welche Literatur gesprochen? Wird die Literatur gedruckt oder handschriftlich oder mündlich verbreitet? Film, Fernsehen, mediale Präsentationsformen von Literatur und Literaturkritik entscheiden mit über den Kauf und die Bewertung von Literatur. Die Rezeption betrifft die Frage nach den Aufnahmebedingungen von Literatur wie etwa: Wer konnte überhaupt lesen (Alphabetisierung der Bevölkerung), wer durfte welchen Text lesen (Zensurgeschichte), welche Texte wurden an welchem Ort rezipiert (stille, meditative Lektüre oder öffentliche Rezeption wie im Theater)? Die Transformation schließlich betrifft den Medienwechsel, beispielsweise von der Oralität (Mündlichkeit) zur Schriftlichkeit (Literalität) oder von der Schrift zu anderen Zeichensystemen wie Film, Fernsehen, Theater, Internet. Der für die Literaturwissenschaft zentrale Begriff der Fiktionalität wird hier ergänzt durch denjenigen der Virtualität. Die Transformation von Literatur bezieht sich also sowohl auf die Umwandlung der Materialität der Zeichen (beispielsweise von der Materialität der Druckzeichen in die Materialität von Bildzeichen) als auch auf die Umwandlung des kulturell bedingten Umgangs mit Literatur (also die <?page no="275"?> 15 Einleitung kulturell bedingte Umwandlung von Praktiken, Techniken und Strategien im Umgang mit Literatur). Die Transformation betrifft die Einschreibung von Literatur in ein anderes Zeichensystem, das textlich oder nicht-textlich sein kann. Epochen und Perioden der Literaturgeschichte Sind diese systematischen Voraussetzungen reflektiert, gelangen wir sehr schnell zur Frage nach der Periodisierung und Epochisierung von Literatur. Das ist ein zentrales Thema der Literaturgeschichtsschreibung, dessen Zentrum die Frage ergründen will, wann eine bestimmte literaturgeschichtliche Periode oder Epoche beginnt und wann sie endet. In dieser Fragestellung entfaltet sich der heuristische, also behelfsmäßige Unterschied zwischen der Makrostruktur und der Mikrostruktur von Literaturgeschichte. Diese begriffliche Differenzierung erlaubt es, die historische Gleichzeitigkeit von inhaltlich Ungleichzeitigem zu bewahren und nicht eine falsche Epochenabfolge zu rekonstruieren. Man kann unterscheiden zwischen der historischen Großkategorie der Epoche, die stets etwas Großräumiges meint, und der Kleinkategorie der Periode, die Teil der Epoche ist, Epochenmerkmale erst eigentlich hervortreibt, sie aber auch umkehrt, kritisiert, parodiert oder gar beseitigt. So gesehen kann man von sechs literaturgeschichtlichen Epochen im Sinne von historischen Makrostrukturen innerhalb der deutschen Literaturgeschichte sprechen: 1. Mittelalter (handschriftliche Überlieferungen bis zum Buchdruck) 2. Frühe Neuzeit (vom Beginn des Buchdrucks ca. 1450 bis ca. 1600 / 1624) 3. Barock (ca. 1600 / 1624 bis ca. 1720 / 30) 4. Aufklärung (ca. 1720 / 30 bis ca. 1800) 5. 19. Jahrhundert (1800-1900) 6. Moderne (1900 bis Gegenwart) Als literaturgeschichtliche Perioden erscheinen dann beispielsweise Frühbarock, Spätbarock, Frühaufklärung, Sturm und Drang, Spätaufklärung, Weimarer Klassik, Frühromantik, Vormärz, Junges Deutschland, Biedermeierzeit, Realismus, Naturalismus, klassische Moderne, Dadaismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Postmoderne usw. Epochenbegriffe sind fragwürdig, sofern man von ihnen eine objektive Dauer und Gültigkeit ableiten will. Sie sind aber dann hilfreich, wenn sie tatsächlich dazu dienen, Literaturgeschichte zu strukturieren und Entwicklungslinien zu erkennen. Das heißt, jede Epochisierung und Periodisierung ist anfechtbar und <?page no="276"?> 16 Einleitung zu jedem Argument für dieses Modell gibt es mindestens ein Gegenargument. Vergleicht man aber verschiedene Literaturgeschichten miteinander, dann zeigt sich, dass die Unterschiede oft nicht so fundamental sind. Die Differenzen liegen meistens in der Festlegung auf präzise Anfangsdaten und Endpunkte. Um ein Beispiel zu nennen: Wann die Periode des Realismus in der Epoche 19. Jahrhundert endet, ob dies das Jahr 1900 ist oder das Jahr 1896 oder früher, ist strittig. Aber niemand käme auf die verwegene Idee zu behaupten, dass die literaturgeschichtliche Periode des Realismus die Literatur vor 1800 meine. Textauswahl Damit sind wir bei der drängenden Frage nach einer entsprechenden Textauswahl, die das gesamte literaturgeschichtliche Studium begleitet. Dabei geht man der Frage nach, welche Texte als repräsentativ für eine historische Epoche oder für eine Periode angesehen werden. Man fragt nach den Kriterien, nach denen diese Texte ausgewählt werden, wer sie auswählt und welche Rolle dabei etwa Bildungskonventionen spielen. Das berührt zentral das Problem der Kanonisierung von Literatur, also das Thema eines verbindlichen Lektürebestandes. Dabei ist auf die Auswahl von Texten der sogenannten Höhenkammliteratur zu achten, also jener Literatur, die durch Bildung, Werbung, durch kulturelle und historische Prozesse als normbildend für andere Texte und Autoren anerkannt wurde. Als Gegenbegriff gilt die Trivialliteratur und Gebrauchsliteratur. Literaturgeschichtsschreibung Die Theorie einer Literaturgeschichtsschreibung klärt, welchem Theoriemodell eine Literaturgeschichte der deutschen Literatur folgt und welche Erkenntnisinteressen der literaturgeschichtlichen Darstellung zugrunde liegen. Sie kann beispielsweise linear-progressiv sein oder statistisch-quantifizierend oder soziologisch oder positivistisch oder hermeneutisch. Ein sozial- und psychohistorisches Modell ist zum Beispiel bemüht, die Geschichte des Buchmarkts und der Alphabetisierung der Bevölkerung in einem bestimmten Zeitraum in einer Sozialgeschichte der Literatur und die allgemeinen kulturgeschichtlichen Faktoren wie Bedingungen, Einflüsse, Hervorbringungen von Literatur zu berücksichtigen. Die Auswahl der Texte, die Bewertung ihrer historischen Bedeutung sowie die Vernetzungsstruktur- - also die Verbindung mit synchronen und diachronen Themen, Motiven, Personen, Werken-- fallen je nach <?page no="277"?> 17 Einleitung zugrunde liegendem Theoriemodell der literaturgeschichtlichen Darstellung unterschiedlich aus. Reflektiert man die Grundlagen der Literaturgeschichte, dann denkt man auch über Fragen der Literaturgeschichtsschreibung nach, also jener Disziplin, die klären will, wie man Literaturgeschichte darstellen kann. Der große Autor der literarischen Moderne Franz Kafka (1883-1924) notiert einmal in sein Tagebuch: „Die Literaturgeschichte bietet einen unveränderlichen vertrauenswürdigen Block dar, dem der Tagesgeschmack nur wenig schaden kann“ (Franz Kafka: Gesammelte Werke. Hgg. v. Max Brod: Tagebücher 1910-1923. Frankfurt a. M. 1983, S. 152). Heute müssen wir bezweifeln, ob eine solche Aussage tatsächlich Dauer hat, denn die Schwankungen auf der Rezipientenseite, was also gelesen wird und was immer wieder gelesen wird und was schließlich Eingang in einen wie auch immer gearteten Literaturkanon findet-- diese Schwankungen sind abhängig von Geschmacksfragen und dem Verhalten der Kulturindustrie. Die Literaturgeschichtsschreibung ist ein virtueller Raum, der sich auch fortwährend verändert. Wir bewegen uns darin in dem Wissen, dass Anordnungen und Beobachtungen, Lesarten und Interpretationen auch durchaus anders ausfallen können. Und ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik zeigt, dass je nach Methodendiskussion, je nach individuellen und politischen Maßstäben, die Deutungen desselben Textes in den vergangenen 150 Jahren höchst unterschiedlich ausgefallen sind. Die folgenden Leitfragen geben Kriterien an die Hand, mit deren Hilfe die Texte der Literaturgeschichte auf ihren historischen und ihren aktuellen Aussagewert hin befragt werden können. Die Bedeutung eines Textes oder eines Autors oder eines Themas der Literaturgeschichte lässt sich über diese vier Kriterien definieren: 1. Die Innovationsfähigkeit. Ein Text / Autor / Thema kann in formaler und ästhetischer Hinsicht innovativ sein, insofern er / es formale und ästhetische Entwicklungen in Gang setzt oder entscheidend vorantreibt oder sich auffällig vom herrschenden Zeitgeschmack absetzt. Die Innovationsfähigkeit eines Textes kann aber auch auf der thematischen Ebene zu finden sein, indem der Autor ein Thema aufgreift, das bis dahin nicht als literaturfähig galt, indem er also mit thematischen und formalen Konventionen bricht. Die Innovationsfähigkeit eines Textes ist insgesamt gekennzeichnet durch den Normverstoß gegen tradierte produktions- und rezeptionsästhetische Erwartungsmuster. <?page no="278"?> 18 Einleitung 2. Der Dokumentarcharakter. Ein Text / Autor / Thema kann auch eine wichtige Entwicklung innerhalb des gesellschaftlichen-historischen Prozesses dokumentieren. Dies können politische, gesellschaftliche, religiöse, mentalitätsgeschichtliche, ästhetische oder kulturelle Entwicklungen sein. 3. Die Individualsignatur eines Textes. Ein Text kann deshalb bedeutend sein, weil er typische Schreibmerkmale seines Verfassers dokumentiert. Diese Individualsignatur ist dann repräsentativ entweder für das Gesamtwerk des Autors oder aber für einen bestimmten Lebens- und Entwicklungsabschnitt. 4. Die Epochensignatur. Ein Text / Autor / Thema kann typische Epochen- und Periodenmerkmale tragen (etwa eine barocke Schreibweise oder eine typisch romantische oder typisch expressionistische etc.). Damit ist er repräsentativ für einen bestimmten Zeitabschnitt der Literaturgeschichte. Viele Modelle der Literaturgeschichtsschreibung verfolgen mehr oder weniger offen ein teleologisches Selbstverständnis, das bedeutet, dass nach dieser Auffassung die Entwicklung der deutschen Literatur auf einen bestimmten Punkt hin zuläuft, also auf ein Ziel hin ausgerichtet ist, und in einem Werk, einem Autor oder einer Epoche ihren krönenden Abschluss findet. Diese Art von literaturgeschichtlicher Teleologie findet sich vor allem in der ältesten und in der auch am meisten verbreiteten Form einer literaturgeschichtlichen Darstellung, das ist die geistesgeschichtliche Literaturgeschichtsschreibung. Danach wird in der Literaturgeschichte die Entwicklungsgeschichte des Geistes erkannt, ein verschwommener Begriff, der demzufolge auch sehr unklar bleibt und in der Regel eine nationalistische Intention miteinschließt. Die materialistische oder marxistische Literaturgeschichtsschreibung hingegen wertet, entsprechend der marxistischen Gesellschaftstheorie, die Literaturgeschichte als ein Dokument der Geschichte des Klassenkampfes zwischen dem Proletariat (oder dessen Vorformen) und der jeweils herrschenden Klasse (Adel, Bourgeoisie). Die sozialgeschichtliche Literaturgeschichtsschreibung bindet die Literaturgeschichte in die Darstellung einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung ein, um damit das geistesgeschichtliche Problem der Loslösung ästhetischer Wandlungen von sozialen Prozessen zu überwinden. Die strukturalistische Literaturgeschichtsschreibung verfolgt zeitlose Strukturen über Epochen, Ländergrenzen und kulturelle Differenzen hinweg. Eine systemtheoretische Literaturgeschichtsschreibung versteht Literatur als ein gesellschaftliches Subsystem mit eigenen Interaktions- und Kommunikationsregeln. Die genderspezifische oder genus- <?page no="279"?> 19 Einleitung theoretische Literaturgeschichtsschreibung verfolgt die Darstellung der historischen Entwicklung einer kulturell, gesellschaftlich und politisch bedingten Differenz zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht. Eine kulturgeschichtliche Literaturgeschichtsschreibung favorisiert einen textualistischen Kulturbegriff, wonach die Literaturgeschichte als eine exemplarische Kulturgeschichte betrachtet wird und die Literatur einen besonderen Text des großen Textes Kultur darstellt. Insgesamt spiegeln also die Themen und Modelle der Literaturgeschichtsschreibung den jeweiligen Stand von Methoden und Theorien in der Literaturwissenschaft wider. Weiterführende Hilfsmittel: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Von Wolfgang Beutin, Klaus Ehlert, Wolfgang Emmerich u. a. 8., aktualisierte u. erweiterte Aufl. Stuttgart 2013. Peter Nusser: Deutsche Literatur. Eine Sozial- und Kulturgeschichte. Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Darmstadt 2012. Bd. 2: Vom Barock bis zur Gegenwart. Darmstadt 2012. Geschichte der deutschen Literatur. Hgg. v. Bengt Algot Sørensen. 3., durchgesehene Aufl. 2 Bde. München 2010 / 2012. Peter J. Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom ‚Ackermann‘ zu Günter Grass. 3., überarbeitete u. erweiterte Aufl. Tübingen 2011. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hgg. v. Joachim Heinzle. 3 Bde. 2., durchgesehene Aufl. 1994-2004. Königstein / Ts. 2010. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet v. Helmut de Boor u. Richard Newald. 12 Bde. München 1949-2009. Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung. Hgg. v. Otto F. Best u. Hans-Jürgen Schmitt. Bd. 1-17. Stuttgart 1976-2007. Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hgg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 1-10. Reinbek b. Hamburg 1980-1999. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hgg. v. Rolf Grimminger. 12 Bde. München 1980-1999. Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hgg. v. Viktor Žmegač. Bd. 1-3. Königstein / Ts. 1978-1984. Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begründet v. Wilhelm Kosch. Hgg. v. Heinz Rupp u. Carl Ludwig Lang. 3., völlig neu bearbeitete Aufl. Bern 1999-2017. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. 3. Aufl. München 2011. <?page no="280"?> 20 Einleitung Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hgg. v. Bernd Lutz. 4., aktualisierte u. erweiterte Aufl. Stuttgart, Weimar 2010. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller u. Jan-Dirk Müller hgg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York. Bd. 1 [A-G] 1997, Bd. 2 [H-O] 2000, Bd. 3 [P-Z] 2003 (Nachdruck als Broschurausgabe 2010). Volker Meid: Metzler Literatur Chronik. Werke deutschsprachiger Autoren. 3., erweiterte Aufl. Stuttgart, Weimar 2006. Hansjürgen Blinn: Informationshandbuch Deutsche Literaturwissenschaft. 4., völlig neu bearbeitete u. stark erweiterte Ausgabe. Mit Internetu. CD - ROM -Recherche. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Hgg. v. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 1-8. Stuttgart 1988-1994. Literatur Lexikon. Autoren und Werke in deutscher Sprache. Hgg. v. Walther Killy. 15 Bde. München 1988-1993. <?page no="281"?> 21 Frühe Neuzeit: Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert F rühe N euzeit : Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) Die Zeit vom Beginn des Buchdrucks in den 1450er Jahren bis zum Erscheinen der Deutschen Poeterey von Martin Opitz im Jahre 1624 wird in der Literaturwissenschaft inzwischen als eine durchaus definierbare makrogeschichtliche Einheit gesehen, genannt die Frühe Neuzeit. Um 1450 ist der Einfluss der italienischen Renaissance vorherrschend, vermittelt unter anderem durch Autoren wie Enea Silvio Piccolomini (1405-1464), dem späteren Papst Pius II . Dieser schreibt und veröffentlicht 1444 seine Novelle Euryalus und Lucretia. Darin wird die Liebe auf den ersten Blick als eine große und leidenschaftliche Liebe beschrieben. Dies ist singulär in der Literatur der Frühen Neuzeit. Die Novelle gilt deshalb nicht ohne Grund als eines der bedeutendsten Zeugnisse der Renaissanceliteratur. Bis 1500 erscheinen über 70 verschiedene Ausgaben, darunter auch zahlreiche nationalsprachliche Übersetzungen. Niklas von Wyle (1410-1479) etwa überträgt den Text bereits 1462 ins Deutsche und trägt so maßgeblich zu dessen Bekanntheit bei. Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (1395-1456) übersetzt die ersten Romane aus dem Französischen, die nach 1500 gedruckt werden. Niklas von Wyle, Albrecht von Eyb (1420-1475), der vor allem durch sein Ehebüchlein Ob einem manne sey zunemen ein eelichs weyb oder nicht (1472) bekannt ist, und Heinrich Steinhöwel (1412-1482) legen die ersten Übersetzungen aus dem Lateinischen und dem Italienischen vor. Und schließlich revolutioniert die Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg (um 1400-1468) in Mainz die Literaturgeschichte. In den Jahren 1450 bis 1480 werden vor allem lateinische Bibeln gedruckt, ephemere Schriften, einfache Gebrauchstexte, Grammatiken und Wörterbücher. Nach 1480 beginnt der Druck humanistischer Schriften, und antike Texte werden ediert. Der Begriff Humanismus, der gelegentlich noch zur Kennzeichnung dieser Frühphase des Buchdrucks gebraucht wird, ist erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt worden. Die humanistischen Autoren beschäftigen sich vor allem mit klassisch-antiken und mit christlichen Texten. Die Antike gilt diesen Autoren als rhetorischer, ästhetischer und thematischer Fixpunkt für ihr eigenes Schaffen. Der Begriff der Renaissance, der durchaus <?page no="282"?> 22 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert wörtlich genommen eine Wiedergeburt antiken Geistes in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts meint, konkurriert mit dem Begriff des Humanismus. Die Literatur der Frühen Neuzeit zwischen etwa 1450 und 1600 ist geprägt von der Vielfalt literarischer Formen und ihren Inhalten. In den Kanon der deutschen Literaturgeschichte ist davon nur wenig eingegangen: einige Werke etwa von Hans Sachs (1494-1576), wenige Volkslieder und Kirchenlieder und natürlich die Bibelübersetzung Martin Luthers. Ein weit verbreiteter Irrtum ist es anzunehmen, dass Luther als Erster eine deutschsprachige Bibelübersetzung vorgelegt hätte. In den Jahren 1466 bis 1522, also bis zum Erscheinen der ersten Auflage von Luthers Bibelübersetzung, gibt es bereits 18 andere Bibelübersetzungen bzw. Bibeldrucke, davon 14 in hochdeutscher und 4 in niederdeutscher Sprache. Die entscheidende Frage, die uns die Literatur seit Beginn des Buchdrucks bis zum Ende der Frühen Neuzeit mitgibt, heißt also kurz und präzise: Was ist Literatur? Diese Frage führt uns zurück zum Problem der Kanonisierung von Literatur. Wer entscheidet wann darüber, was als fester Bestandteil eines literaturgeschichtlichen Kanons zu gelten hat? Ferner wirft die Literatur der Frühen Neuzeit die Frage auf, ob sich die heute gängige Unterscheidung zwischen Höhenkammliteratur und Trivialliteratur tatsächlich auch historisch bestätigen lässt. Um diese Fragen sorgfältig diskutieren und beantworten zu können, wäre es notwendig, die Entstehung des zeitgenössischen Buchmarkts genau zu analysieren und in eine allgemeine Kulturgeschichte der Literatur zu integrieren. Dabei müssten im Detail die Bedingungen der Produktion, Distribution, Rezeption und Transformation eines Textes untersucht werden. Das führt uns schließlich zu dem, was seit einem halben Jahrhundert in der Forschung als der erweiterte Literaturbegriff bezeichnet wird. Literatur wird demnach nicht mehr über den Grad ihrer Fiktionalität definiert. Somit ist es möglich, die Differenzierung von Höhenkamm- und Trivialliteratur aufzuheben und auch die sogenannte Gebrauchsliteratur gleichwertig neben den durch die Rezeption kanonisierten Texten als Forschungsgegenstand zu bewahren. Für die Literatur der Frühen Neuzeit bedeutet dies, dass neben einem Werk wie Piccolominis Euryalus und Lucretia auch religiöse, grammatische, philosophische und pragmatische Gebrauchstexte ihren gleichwertigen Rang in der Literaturgeschichte finden. Die ersten Jahre des Buchdrucks sind mit einem neuzeitlichen Medienwechsel verknüpft. Es vollzieht sich der Sprung von der Handschriftlichkeit mittelalterlicher und antiker Textüberlieferung zur Druckschriftlichkeit des Buchdrucks. Ein vergleichbarer Medienwechsel vollzieht sich in unserer Mo- <?page no="283"?> 23 Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) derne im Verhältnis von Buch und Digitalisierung der Arbeits- und Lebenswelt. Mutmaßlich ist aber die Rede vom Ende der sogenannten Gutenberg-Ära mindestens ebenso verfrüht, wie der blinde Glaube an die unerschöpflichen Kapazitäten der Digitalisierung gleichermaßen euphemistisch wie euphorisch ist. Ulrich von Hutten (1488-1523), Ritter, Dichter und enthusiastischer Anhänger der Reformation, findet in einem Brief vom 25. Oktober 1518 an den Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer (1470-1530) die begeisternden Worte und bringt damit dieses Gefühl einer Zeitenwende zum Ausdruck: „o seculum, o litterae“, „O Jahrhundert, o Wissenschaft! Es ist eine Lust zu leben, wenn auch nicht in der Stille. Die Studien blühen, die Geister regen sich-[…] Barbarei, nimm einen Strick und mach dich auf Verbannung gefaßt“ (zitiert nach: Pirckheimer-Jahrbuch, 1988, S. 11). Was ist das für ein Jahrhundert, das zu solchen Begeisterungsstürmen Anlass gibt? Um das Jahr 1380 ist der Holzschnitt als Drucktechnik entwickelt worden, insbesondere für die weit verbreiteten Spielkarten und die sogenannte religiöse Kleingraphik wie beispielsweise Andachtsbilder. Die daraus entstehenden Serien von Einzeldrucken werden in Blockbüchern zusammengefasst, die in der Regel nur auf einer Seite bedruckt und von Hand angemalt sind. Sie dienen der niederen Geistlichkeit sowie den Laienbrüdern in den Klöstern, die kaum oder gar nicht lesen und schreiben können. Erst nach und nach werden auch kurze Texte, die ebenfalls in Holz geschnitzt sind, in die Bildfolgen eingefügt. Das Moment der Visualisierung des Textes, diese frühe Form der Intermedialität, dient als entscheidende Brücke zwischen dem Bildverständnis und dem Textverständnis. Heute stammen die ältesten noch erhaltenen Blockbücher aus der Zeit um 1430 / 1440. Der Mainzer Johannes Gutenberg revolutioniert die Drucktechnik und führt den Medienwechsel herbei. Gutenberg wird zwischen 1394 und 1404 als Sohn eines Mainzer Patriziers geboren, er stirbt 1468. Zwischen 1434 und 1444 hält er sich in Straßburg auf. In der Forschung wird vermutet, dass Gutenberg in Straßburg den Donat gedruckt hat, eine lateinische Grammatik, die im 15. Jahrhundert weiteste Verbreitung gefunden hat. Verfasser ist der im 4. Jahrhundert lebende Aelius Donatus, sein Werk über die lateinische Sprache gilt in der Spätantike, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit als grammatisches Standardwerk. Man schätzt heute, dass dieses Buch etwa 10 000 Mal gedruckt wird. Es ist also ein Massenartikel, der das Zeitalter des Buchdrucks einleitet. Unter ökonomischen Gesichtspunkten bedeutet dies: eine sichere wirtschaftliche Grundlage steht am Beginn der Medienrevolution. <?page no="284"?> 24 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert Gutenbergs Druckerei wird als Mainzer Uroffizin bezeichnet. Dort wird Ende 1454 auch der Türkenkalender gedruckt, das ist eine politische Propagandaschrift, sie gilt als das älteste vollständig, nämlich in einem Exemplar erhaltene und noch datierbare Buch. Gutenberg begibt sich mit seiner neuen Druckkunst unmittelbar in Konkurrenz zur handschriftlichen Kunstfertigkeit der klösterlichen Schreib- und Kopierstuben. Um konkurrenzfähig bleiben zu können, muss er das grundlegende Werk seiner Zeit drucken und zwar so, dass es in ästhetischer Hinsicht qualitativ neben der Kunst der Handschriftlichkeit bestehen kann. Gutenberg wählt die Bibel, die ja in allen Klöstern und Pfarreien gebraucht wird. Zusammen mit dem Mainzer Kaufmann und Geldverleiher Johann Fust (ca. 1400-1466) schafft er die finanziellen Rahmenbedingungen, um seine Druckvorhaben starten zu können. So entsteht in den Jahren zwischen 1452 und 1454 der 42zeilige Bibeldruck. Diese Bibel kostet so viel, wie in etwa ein Goldschmied im Jahr verdient. Gutenbergs Druckerfindung beruht auf zwei technischen Innovationen. Zum einen ist es das Handgießinstrument. Damit kann ein Prägestempel mit Matrizen (Hohlformen) hergestellt werden, mit deren Hilfe nahezu beliebig viele identische Buchstaben gegossen werden können. Die einzelnen Buchstaben und Wörter bleiben völlig gleichmäßig, technische Fehler können sofort korrigiert werden. Ist der Druck abgeschlossen, können die aus Blei bestehenden Buchstaben wieder eingeschmolzen und die Materialien so wiederverwendet werden. Für den Bibeldruck lässt Gutenberg 290 Einzeltypen prägen, aus denen dann tausende Buchstaben gegossen werden. Die andere technische Innovation Gutenbergs besteht in der Erfindung der Druckerpresse. Jetzt wird es möglich, einen Text sehr exakt zu vervielfältigen. Es gibt keine durch unterschiedliche Handschriften bedingten Abweichungen mehr. Gutenbergs Ideal ist es, möglichst die Ästhetik einer professionellen Handschrift zu erreichen. Die neue und revolutionäre Erfindung des Buchdrucks beginnt also mit der Imitation des Bestehenden-- allerdings in einer technisch innovativen Form. Buchdruckergesellen aus Mainz bringen die neueste Technik 1459 nach Straßburg und Bamberg. Die neuen Druckereien entstehen in den Handelszentren, 1465 in Köln, 1467 in Eltville und in Basel, 1468 in Augsburg, 1470 in Nürnberg, 1472 in Ulm. Bis zum Jahr 1470 sind 17 Druckorte entstanden, bis 1480 121, bis 1490 204 und bis 1500 sogar 252. 62 davon liegen in dem Territorium des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Deutsche Drucker gehen auch in andere europäische Länder und verbreiten so nachhaltig das technische Wissen um die Buchdruckerkunst. Man kann davon ausgehen, dass bis zum Jahr 1500 <?page no="285"?> 25 etwa 27 000 Drucke mit einer Gesamtzahl von bis zu 20 Millionen Exemplaren erschienen sind. Ein bis zum 1. Januar 1501 mit der neuen Technik der beweglichen Metalllettern hergestelltes Druckwerk nennt man einen Wiegendruck (Inkunabel). Die differenzierte Unterscheidung zwischen Inkunabel und Nichtmehrinkunabel ist nicht immer leicht und nicht immer überzeugend. Doch ob die Wahl dieses Datums historisch und inhaltlich nachvollziehbar ist, ist nicht entscheidend. Vielmehr dient die Jahrhundertwende 1500 / 1501 in erster Linie als ein praktisches Hilfsmittel. Ein bedeutendes Unterscheidungsmerkmal zwischen einer Inkunabel und einem Druckwerk aus den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten liegt darin, dass die Inkunabel noch stark dem handschriftlichen Vorbild verpflichtet ist, der Imitationscharakter also deutlicher zu erkennen ist. Gutenberg und die Drucker der ersten Stunde waren bemüht, die Ästhetik der Handschrift nachzuahmen. So fehlt beispielsweise bei den Inkunabeln in der Regel das Titelblatt und die Drucktypen sind sehr individuell (Rotunda, Antiqua), eine Normierung beginnt erst nach 1480. Die Kursive wird 1501 von dem berühmten venezianischen Drucker Aldus Manutius (1449-1515) für den Druck seiner mustergültigen Ausgaben griechischer und lateinischer Klassiker entwickelt. Drei Viertel der Wiegendrucke werden in lateinischer Sprache gedruckt, die restlichen in den jeweiligen National- oder Fachsprachen (Deutsch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch, Englisch, Griechisch, Hebräisch, Kirchenslawisch). Die durchschnittliche Auflagenhöhe von Büchern steigt von bis zu 200 Stück in den 1470er Jahren auf bis zu 500 und erreicht bis zum Jahr 1500 die Zahl von bis zu 1000 Exemplaren. Diese Auflagenhöhe wird erst 200 Jahre später, nämlich nach 1700, überboten. Viele Wiegendrucke sind aber spurlos verschwunden, möglicherweise betrifft dieser Verlust bis zu zehn Prozent aller Inkunabeln. Die Einzelblattdrucke, die für den kirchlichen Gebrauch (z. B. Beichtzettel) bestimmt sind, können schon um 1480 in Auflagen von mehreren Tausend gedruckt worden sein. Das sind allerdings Schätzungen, denn erhalten geblieben ist kein einziger. Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) Der promovierte Jurist und Theologe Sebastian Brant (1457-1521) veröffentlicht 1494 in Basel ein Buch, das bis heute seinen festen Platz in der Literaturgeschichte bewahrt hat und dem kollektiven Gedächtnis gegenwärtig ist, Das Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="286"?> 26 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert Narrenschiff. Äußerlich betrachtet ist das Narrenschiff eine auf eine lange literarische Tradition zurückgreifende Morallehre, worin es um die Erziehung und Besserung des Menschen ebenso geht wie um die rhetorisch flammende Abwehr des allgemeinen Sittenverfalls. Wenn wir also vom Neuen des Narrenschiffs sprechen wollen, so meint dies nicht den Inhalt. Die euphorische Zustimmung, die das Buch unmittelbar nach Erscheinen erfährt, ist nicht von den Gescholtenen selbst, den Narren, überliefert, sondern von denen, die sich wohl von vornherein auf der Seite der im Buch als idealer Menschentypus skizzierten Weisen wähnen. Johannes Trithemius (1462-1516) beispielsweise nennt das Narrenschiff eine „divina satira“, eine göttliche Satire. Der Straßburger Prediger Johann Geiler von Kaysersberg (1445-1510) behandelt das Thema Narrenschifffahrt und christliche Botschaft in mehr als 100 Predigten, in denen er auf Brants Buch Bezug nimmt. Literatur wird so zur Grundlage homiletischer Praxis. Jakob Wimpfeling (1450-1528) empfiehlt das Narrenschiff als Lehrbuch für den Schulunterricht. Das sind natürlich Stimmen und Zustimmungen nur aus der Gelehrtenrepublik. Wie die sogenannten einfachen, ungebildeten Menschen, die weder schreiben noch lesen können, wie also die eigentlichen Adressaten des Buchs dachten, wissen wir nicht. Hier ist und bleibt Literaturgeschichte einseitig. Skepsis muss dann angebracht sein, wenn das Narrenschiff als eine Art Generationenbuch verstanden wird, das allen Lesenden Auskunft über das Wesen ihrer Epoche gibt. Obwohl sich Brants Narrenschiff erkennbar ebenso von der höfischen Tradition der Literatur wie von einer klerikal-kirchlichen Lebensanleitung unterscheidet, bleibt doch eine theologische Zielrichtung erhalten. Außerdem ist Brant rhetorisch bestens geschult. Sein poetikgeschichtlicher Referenztext ist die Ars poetica des Horaz (65-8 v. Chr.). In Kapitel 22 lässt Brant die Weisheit im Ton der neutestamentlichen Seligpreisungen sprechen: Sellig ist der gat vff mym w aͤ g Wer mich findt / der fyndt heil vnd glück (S. 182). Sein Buch sei geschrieben, wie es in der Vorrede heißt, Z uͤ nutz vnd heylsamer ler / verma= nung vnd ervolgung der wyßheit (S. 107). Brant entfaltet eine „nutzlich ler“ (S. 110), alle sollten in diesen Spiegel, nämlich sein Buch, schauen und sich als Narren erkennen. Sein Ziel sei „verachtung / vnd stroff der narrheyt“ (S. 511). Kann man das ernst nehmen oder sind dies <?page no="287"?> 27 Schutzbehauptungen? Der Autor selbst will sein Buch als eine Satire verstanden wissen. Das eröffnet ihm die Möglichkeit, den Ernst und die Drastik des Themas immer wieder mit dem Verweis auf die Lizenz zur Übertreibung zu bedecken, die ihm diese Textgattung einräumt. Ist das Ziel des Narrenschiffs tatsächlich die „Selbsterkenntnis der Narrheit“ (Das Narrenschiff, hgg. v. Hans-Joachim Mähl, S. 497)? Die „vorred“, also das Vorwort, beginnt jedenfalls mit einer klaren Anweisung, wie dieses Buch zu rezipieren ist: Zum Nutzen und zur heilsamen Lehre sei es geschrieben, zur Ermahnung zur Weisheit, Befolgung von Weisheit und Strafe und Verachtung der Narrheit, schreibt Brant. Die Straßen und Gassen seien voller Narren, obwohl überall die Bibel und andere religiöse Schriften verbreitet seien. Das ist sicherlich ein Reflex auf die neue Drucktechnik. Das Werk bleibt auf seine Art moralisch-didaktisch, denn es redet ja den Lesern in 109 Varianten mit 411 Beispielen ins Gewissen, wer alles ein Narr ist-- und das ist nach Brants Lesart jeder. Und es appelliert immer wieder an einen Sinneswandel, der darin besteht, die eigene Narrheit zu erkennen. Man solle sein Buch als einen Spiegel verstehen, in den jeder Mensch schauen könne, um sich als Narr erkennen zu können. Neben diesem moralischen Aspekt kokettiert der Autor demnach auch mit seinem Selbstbewusstsein, auf unbestechliche Weise die Menschen in Narren und Nicht-Narren unterscheiden zu können. Nicht-Narren sind demnach nicht nur die Weisen, derer es nur wenige gibt, sondern auch alle, die sich nicht im Narrenschiff beschrieben finden. Die Allegorie des Schiffs, das durch den Text segelt und sich Seite um Seite mit Narren füllt, dient als Leitthema. Dreh- und Angelpunkt ist Brants Reflexion darüber, was den Menschen als Menschen ausmacht und wie daraus die Erkenntnis für richtiges Handeln abgeleitet werden kann. Brant geht es also nur vordergründig um die Darstellung und Geißelung menschlichen Fehlverhaltens im Sinnbild des Narren. Ihm liegt wesentlich mehr daran, die anthropologischen Wurzeln eben dieses Fehlverhaltens auszuloten und zur Anschauung zu bringen. Ihm als Juristen und als Theologen wird wohl kaum etwas Menschliches fremd gewesen sein. Anders als die meisten Bücher seiner dichtenden Kollegen schreibt Brant sein Narrenschiff auf Deutsch anstatt auf Latein. Er entzieht sich damit dem humanistischen Zwang zur Codierung für eine Elitekultur. Das entspricht auch dem Adressatenkreis des Buchs, alle Menschen sind gemeint, Gelehrte und Ungebildete. Die zahlreichen Holzschnitte vermögen den Inhalt eines jeden Kapitels prägnant zu verbildlichen, so dass das bloße Betrachten und das Hören des Textes, wenn er laut vorgelesen wird, die rezeptive Erkenntnis, auf die Brant Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="288"?> 28 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert setzt, befördern. Zur zweiten Auflage von Jakob Lochers lateinischer Übersetzung des Narrenschiffs (1498) steuert Brant selbst eine Art Deutungsvorgabe bei: „Quod inordinatio causa fuerit destructionis omnium rerum“-- Unordnung hat Zerstörung zur Folge, also dient sein Buch der Erhaltung der Ordnung. Der Autor spricht von sich in der ersten Person Singular, das poetische Subjekt bekennt sich als Autorsubjekt und erklärt für jeden Leser nachvollziehbar, aus welchen Gründen er dieses Buch geschrieben hat. Mehr noch, Brant wendet sich ausdrücklich auch an die nicht alphabetisierten Menschen, denen allenfalls der Text vorgelesen werden könnte. Sie sollten sich die Bilder genau anschauen (vgl. Kap. 1, Z. 26 ff.), dann könnten sie sich darin wiedererkennen. Diese Holzschnitte stammen übrigens von dem jungen Albrecht Dürer (1471-1528). Gleichgültig, ob man das Narrenschiff selbst lesen könne, es vorgetragen bekomme oder die Bilder anschaue, das Buch sei ein „narren spiegel“ (ebd., Z. 31). Wer auf die richtige Weise in diesen Spiegel blickt, der lernt, dass er sich nicht für weise halten soll. Brant fordert, alle Menschen sollten in diesen Spiegel schauen (vgl. ebd., Z. 107 f.), als eine ‚nützliche Lehre‘ bewirbt er sein Buch (vgl. ebd., Z. 81). Und wer diese Selbstrelativierung versteht, also sich als moralisches Subjekt durchaus auch im theologischen Sinn als erlösungsbedürftig begreift, der ist auf dem Weg weise zu werden. Der Narr wird damit zur Figur der anthropologischen Selbstrelativierung: Dann wer sich für ein narren acht Der ist bald z uͤ eym wisen gmacht (S. 108). Nachdem sich Brant in seiner Autorfunktion bekannt hat, spricht er mehrfach von seinem Narrenschiff als ‚diesem Büchlein‘ oder ‚seinem Gedicht‘ (vgl. Kap. 1, Z. 46, 54, 84, 87, 105). Erst am Ende des Kapitels verzichtet er auf die Diminutivform und nennt das Narrenschiff ‚Buch‘ (vgl. ebd., Z. 130), um dann gleich das nächste und eigentlich erste Textkapitel mit der Überschrift Von unnützen Büchern zu beginnen. Ist das eine selbstironische Überleitung? Eine Selbstrelativierung, die er nun als Autor so vollzieht, wie er sie eben von den Rezipienten gefordert hat? Nach dieser Lesart wäre dann Brants Narrenschiff eines von jenen Büchern, die als unnütz tituliert werden könnten. Dahinter verbirgt sich sicherlich auch die individuelle Anverwandlung einer aus der klassischen Rhetorik stammenden captatio benevolentiae, wonach zu Beginn eines Vortrags oder einer Lektüre der Autor bzw. Redner sich darum bemüht, die Gunst des Lesers oder Zuhörers zu gewinnen, oft auf spielerische oder schmeichlerische Weise. Außerdem spielt der rhetorisch versierte Brant augenblicklich mit der <?page no="289"?> 29 Autorfunktion, denn das Ich des ersten Kapitels kann auf ihn als Verfasser des Narrenschiffs ebenso bezogen werden wie auf ein wahrscheinlicheres fiktives Ich. Damit gilt der gemeinhin als besonders weise betrachtete Gelehrte als der erste Narr in diesem Narrenschiff. Der vermeintlich Weise ist der eigentliche Narr, der viele Bücher besitzt, aber kaum oder gar nicht darin liest und sie auch nicht versteht. Die unausgesprochene Frage steht nun im Raum: Was sind die nützlichen Bücher? Brant karikiert ja nicht das Wissen seiner Zeit an sich oder die mediale Präsentation dieses Wissens in Gestalt einer Bibliothek, sondern er prädiziert den Umgang mit diesem Wissen als Narrheit, weil es nicht genutzt wird. Brant spricht damit sehr deutlich das horazische prodesse an, also den Nutzen-Faktor, den jede Literatur zeitigen muss, um als gute Literatur vor den strengen Augen eines Kunstrichters bestehen zu können. Mehr noch, Horaz spricht in der Ars poetica nicht nur vom Nutzen der Literatur, sondern auch vom delectare, Literatur muss Vergnügen bereiten: aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idonea dicere vitae (V. 333 f.). Zu Deutsch: „Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen“ (Horaz: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch u. deutsch. Übersetzt u. mit einem Nachwort hgg. v. Eckart Schäfer. Stuttgart 1972, S. 25). Dieses Vergnügen sichert Brant seinem Text durch die Form der Satire. Der Mensch aber bleibt erlösungsbedürftig. Denn Gott verlange, dass die Menschen sich zur Weisheit kehrten, nur so könnten sie Erlösung finden (vgl. Kap. 11, Z. 21 f.). Fast wörtlich nimmt Brant dieses Motiv in Kapitel 22 (Die Lehre der Weisheit) wieder auf. Wer die Weisheit hört und lernt und sich zu ihr bekennt, der wird der christlichen Erlösung teilhaftig. Das heißt aber nichts anderes, als dass es Menschen geben muss, die lern- und wandlungsfähig sind, die ihre Selbstrelativierung überwinden und durch den Glauben weise werden können, denn Narren werden bestraft werden (vgl. Kap. 22, Z. 29). Im 78. Kapitel weist Brant darauf hin, dass es viele Narren in seinem Buch gebe: „Vil narren sint jn disem druck“ (S. 376). Die Drucker selbst werden als Narren bezeichnet, weil sie buchstäblich alles drucken würden. Brant wendet dies am Ende des Kapitels ins grundsätzlich moralische Handeln, denn derjenige sei ein Narr, der das Gute sehe, aber dem Bösen nachstelle (vgl. S. 378). Im 48. Kapitel setzt er dem neuen Gewerbe des Buchdrucks sogar ein eigenes literarisches Denkmal. Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="290"?> 30 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert Das 111. Kapitel nennt sich entschuldigung des dichters, darin grenzt sich Brant gegen eine willentliche Missdeutung seines Buchs ab. Er vergleicht sein Gedicht mit einer Blume, die wohl duftet und Bienen anlockt, aber auch giftige Spinnen anzieht. Und wer nichts Gutes in seinem Buch erkennen will, der wird auch nichts Gutes darin finden, wer nicht gerne etwas über Weisheit erfahren will und wie man sie erlangen kann, der wird umso öfter über den Autor klagen. Brant nennt sich am Ende dieses Kapitels auch selbst mit seinem bürgerlichen Namen, versteckt sich nicht hinter einem anonymen Autor-Ich. Er habe nun viele Formen der Narrheit kennengelernt und fühle sich in der Lage sich zu bessern. Er könne allen Menschen nur zur Weisheit raten. Das Motto zu diesem Kapitel relativiert allerdings Brants Emphase, denn demnach war es ein Leichtes, die Narrheiten aufzuführen, wer es aber tatsächlich mit der Weisheit versuchen wolle, der werde doch sehr daran gehindert. Folgt man der Lesart von Kapitel 67, dann ist es eine Eigenschaft der Narren, sich selbst für weise zu halten, es gäbe viele Narren, die viel von Weisheit erzählen. Das wirft natürlich die Frage auf: Wenn ein Mensch weise ist, wer prädiziert dies? Wer entscheidet, ob man Weiser oder Narr ist? Halte ich mich für weise, so bin ich nach diesem Kapitel sicherlich ein Narr. Gibt es also überhaupt ein Entkommen aus dieser Narrenschleife? Das Narrenschiff erweist sich an diesem Punkt der argumentationslogischen Reflexion als Kind seiner Zeit, der Text bleibt inkonsistent. Denn Weisheit gibt es eben nur in Gott. Außerhalb dieses Erlösungsmotivs gibt es kein Entrinnen vor der Narrheit. Ein Weiser ist also derjenige, der sich als Narr erkannt hat. Das Narrenschiff wird damit auch als eine versteckte Satire auf die eigene Zunft, die Gelehrten und Weltweisen lesbar. Das fällt auf den Autor zurück. Auch er ist ein Weiser, also ein Narr, weil er sich als Narr erkannt hat. Darf demzufolge das, was er über die Narren sagt, tatsächlich ernst genommen werden oder ist es nicht auch eine augenzwinkernde Morallehre, die genau dies, Morallehre zu sein, aufs Korn nimmt? Sebastian Brant beschreibt in seinem Narrenschiff die verschiedensten Laster und Untugenden seiner Zeit. Er spricht damit das Kaleidoskop menschlicher Verhaltensweisen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft an und er verfolgt damit durchaus eine moraldidaktische Absicht. Insgesamt sind es 112 einzelne Kapitel von unterschiedlicher Länge in Reimform. Jedem Kapitel ist ein meist dreizeiliges, gelegentlich auch vierzeiliges Motto vorangestellt, das prägnant die Aussage des Kapitels zuspitzt und zusammenfasst. Danach ist ein Holzschnitt eingefügt, der das Motto visualisiert. Dann folgt das jeweils einem anderen Thema gewidmete Gedicht, das in unrunden vierhebigen Jamben <?page no="291"?> 31 (Paarreimen nach dem Muster aa bb cc usf.) auf Frühneuhochdeutsch verfasst ist.Der Themenbogen ist weit gespannt. Nach den unnützen Büchern folgen: die Habsucht, die Mode, die rechte Kindererziehung, keinen guten Ratschlägen folgen, schlechte Umgangsformen, wahre Freundschaft, die Verachtung der Heiligen Schrift, Völlerei, unnützer Reichtum, von der Weisheit, von der Überschätzung des Glücks, vom Sorgen, vom Borgen, vom unnützen Studieren, von der Selbstgerechtigkeit, vom Ehebruch, vom Eigensinn, vom Lärm in der Kirche, vom schlechten Beispiel der Eltern, von Neid und Hass, von Undankbarkeit, von Selbstgefälligkeit, vom Tanzen, vom Betteln, vom Versuch kein Narr sein zu wollen, keinen Spaß verstehen, von Streit- und Prozessierlust, von Gotteslästerung, von Vater- und Mutterehre, vom Schenken, von der Trägheit und Faulheit, von schlechten Tischsitten, von Wollust, vom unnützen Jagen und von Gottesverachtung, von Verführung am Feiertage, vom Antichrist und von schlechten Sitten ist da die Rede. Und immer wieder wird natürlich das Thema des Narren und der Narrheit aufgegriffen. Angesichts der Aufzählung dieser keineswegs vollständigen Themenwahl wird deutlich, dass die Themen bunt gemischt sind. Mit dem Kapitel Von unnützen Büchern wird der Text eröffnet und der Leser fragt sich, ob darin nicht auch ein Schuss Selbstironie zu sehen ist, fällt also das Narrenschiff selbst etwa unter die weniger nützlichen Bücher? Es kann der Eindruck entstehen, als sei das gesamte Panorama spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Tugend- und Lasterkataloge ausgebreitet. Ein Narr sei derjenige, der weise sein will, schreibt Brant im achten Kapitel. Das setzt voraus, dass er es nicht ist. Wer also ein Narr ist-- und das sind wir alle-- und weise sein will, der bleibt ein Narr. Versucht man die wesentlichen Argumentationsschritte des Textes logisch zu rekonstruieren, so ergeben sich folgende Gesichtspunkte: Erstens, der Vielzahl der erwähnten Narrheiten nach zu urteilen gibt es kaum eine menschliche Verhaltensweise und keine kulturelle Technik, die sich nicht per se dem Narrheitsverdacht aussetzt. Nahezu alles ist narrenverdächtig. Alle Menschen sind also Narren, einige vielleicht ein bisschen mehr als andere. Zweitens, Selbsterkenntnis ist auch dem Narren möglich. Da jeder Mensch ein Narr ist, ist jeder Mensch der Selbsterkenntnis fähig und damit grundsätzlich befähigt, ein Weiser zu sein. Wer Mensch ist, ist Narr, wer sich als Narr erkennt, ist weise, wer sich als weise erkennt, hat sich als Narr erkannt, erkannte sich also als Mensch. Der eigentliche Narr ist somit jener Weise, der nicht um seine Narrheit weiß. Darin verbirgt sich natürlich-- wenn man strenge Maßstäbe anlegt-- eine Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="292"?> 32 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert inflationäre Begriffsverwendung und damit eine inhaltliche Entleerung des Narrenbegriffs. Denn wenn wir alle Narren sind, weshalb bedarf es dann noch der begrifflichen Differenzierung zwischen Narren und Weisen? Und drittens, im 54. Kapitel heißt es: O narr gedenck zů aller fryst Das du eyn mensch / vnd t oͤ tlich [= sterblich] bist (S. 284). Auch der Weise ist sterblich und menschlich und müsste demzufolge bedenken, dass er ein Narr ist. Wer also in diesen Spiegel schaut, sei er Narr oder Nicht- Narr, erkennt sich immer als Narr, wird zumindest als solcher tituliert. Das führt letztlich zu der Frage, wie wörtlich und damit wie ernst können wir heute diesen Text nehmen, der in der Hochburg der süddeutschen Fastnacht geschrieben und gedruckt wurde? Die Diskussion um Brants Narrenschiff sollte sich mindestens auf zwei Ebenen bewegen. Einmal ist das Narrenschiff als Allegorie eine Anti-Odyssee, zum anderen setzt es ein poetologisches Programm ins Werk, das nur als Satire getarnt den Gefahren des Schematismus einer Laudatio-vituperatio-Poetik (Lob- Tadel-Poetik) entgeht. Demnach wird das Lob in der Textform der Tragödie, der Tadel in der Textform der Komödie angesprochen. Die Tragödie ist ‚ars laudandi‘ (Kunst des Lobens), die Komödie ist ‚ars vituperandi‘ (Kunst des Tadelns). Dass diese Zuweisung auf einem durch die lange Überlieferungsgeschichte der aristotelischen Poetik bedingten philologischen Missverständnis beruht, ist dabei nicht entscheidend. Lob als das Korrespondenzwort zum ursprünglichen Tragödienbegriff bei Aristoteles soll zur Tugendhaftigkeit anleiten. Tadel, dem ursprünglichen Komödienbegriff zugeordnet, soll vor Untugend abschrecken. Damit wurden- - historisch gesehen- - dem poetologischen Diskurs normstabilisierende und normbildende gesellschaftliche, moralische und didaktische Funktionen eingeschrieben. Das Narrenschiff versucht eine eigene Mischform von Tadel und Lob. Es entwickelt im 108. Kapitel zudem den Charakter einer Anti-Odyssee. Brant schildert Vorkommnisse aus dem homerischen Epos von Odysseus, der nach langer Irrfahrt schließlich glücklich zu Hause landet, und setzt dem bewusst seine Themen entgegen. Denn sein Narrenschiff wird nicht glücklich landen, sondern untergehen: Homerus hatt diß als erdacht Do mit man hett vff wißheyt acht (S. 494). <?page no="293"?> 33 Brant nutzt im Motiv der Schifffahrt den Appell, sich nicht leichtfertig der Narrheit auszusetzen. Bei ihm geht es nicht um die Schilderung von Abenteuern und Mythen wie bei Homer. Vielmehr kann das Motiv des Narrenschiffs nun auch kulturgeschichtlich gewendet werden. Dann kann man darin eine Allegorie der kulturellen Bedeutung von Lesen und Büchern erkennen und es ginge um die Unwissenheit derer, die sich der Aufklärung und Bildung durch Literatur überlassen. Bei Brant steht nicht so sehr der reale Narr im Vordergrund, der historisch wirklich sich unbotmäßig Benehmende, der gegen Tischzucht und gute Sitten verstößt, der Ehebruch begeht oder Gott lästert, sondern es geht stets um dessen literarisches Abbild. Folgt man dieser Lesart, dann erweist sich die Narrensatire als der frühe Versuch einer neuzeitlichen Dichtungs- und Kulturkritik. Nicht der Narr ist dumm, sondern derjenige Leser, der nicht zu unterscheiden vermag zwischen dem wirklichen Narren und seinem literarischen Ebenbild, der die literarische Schilderung von Narrheit als Freibrief zum Narrentum begreift. Das Narrenschiff ist als Warnung zu verstehen, sich der Literatur, dem Buch, vorbehaltlos zu überlassen, denn alles Wissen (womit nun auch das Narrenschiff selbst gemeint ist) ist närrisch. Darauf kann auch der letzte Hinweis des Buches verweisen, wenn Brant schreibt, sein Buch sei in Basel gedruckt „vff die Vasenaht“ (S. 511). Das Buch als Schiff zu verstehen ist eigentlich zutiefst antizivilisatorisch, da dann Literatur vom verlässlichen Festland wegführt. Brants Narrenschiff ist also eine ebenso raffinierte wie vehemente Absage an die neuen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Drucken. Wenn Brant schreibt, Homer habe sich das alles ausgedacht und hervorhebt, dass im Gegensatz dazu sein Narrenschiff keineswegs sicher landen, sondern untergehen wird, dann hebt er sich selbst als Verfasser dieser Narrensatire und diese als Anti-Odyssee hervor. Die Analogie greift nun auf der Autorebene: So wie Homer sich seine Odyssee nur ausgedacht hat, so hat auch er, Sebastian Brant, sich seine Narren-Anti-Odyssee ausgedacht. Er beschreibt damit also nichts Wirkliches, sondern etwas Fiktives. Brant entwickelt in seinem Buch das Narrativ des anthropologischen Scheiterns. Er verlangt aber von seinen Zeitgenossen, dass sie dieses Spiel mit der Fiktionalität von Literatur durchschauen. Literatur hat die Möglichkeit etwas darzustellen, was in der Lebenswirklichkeit ihrer Leser nicht existent ist. Mehr noch, die Rezipienten können sich selbst darauf hin befragen, ob das, was sie in Brants Narrenschiff lesen, hören oder sehen, auch tatsächlich mit dem übereinstimmt, was sie selbst als Lebenswirklichkeit erfahren. Das Narrenschiff schärft also auf eine sehr eigenwillige, aber scharfsinnige Weise den Verstand und das Verständnis für Literatur. Und das zu Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="294"?> 34 1. Schritt - 15./ 16. Jahrhundert einem Zeitpunkt, wo die Geschichte der deutschen Literatur als eine Entwicklungsgeschichte von Fiktionalität recht eigentlich erst beginnt, da sie sich erstmals an ein breites Publikum wendet, nämlich an alle Menschen, unabhängig von Stand und Geschlecht. In der Vorrede zu seinem Buch schreibt Brant: Jn disen spiegel sollen schowen All gschlecht der menschen man vnd frowen. (S. 111). In die Richtung dieser Lesart deutet schon der Poetikprofessor Joachim Vadianus (1484-1551), der in seiner Wiener Literaturvorlesung von 1513 / 14 Sebastian Brant mit seinem Narrenschiff als Beispiel gekonnter Gegenwartsliteratur hervorhebt. Brant habe mit großer metrischer und sprachlicher Kunstfertigkeit „gegen alle erdenklichen Laster voll Eifer“ geschrieben, „denn überall wallen die lastergerichteten Ruder des Ithakäers Odysseus“ (zitiert nach: Brant: Das Narrenschiff. Studienausgabe, S. 88). Brant gilt als Initiator dieser besonderen Textform der Narrenliteratur. Zahlreiche Nachahmungen folgen dem Narrenschiff. Das Lob der Torheit (1511) des Humanisten Erasmus von Rotterdam (um 1466-1536) gehört zu den bedeutendsten dieser Art. Zu Lebzeiten Brants erscheinen sechs weitere Auflagen seines Narrenschiffs. Was Sebastian Brants Narrenschiff für uns heute noch so interessant macht, ist das Spiel mit dem Merkmal von Literatur, der Fiktionalität. Brant lässt es dem Leser offen, ob er dieses Spiel ernst nehmen und als moralische Botschaft verstehen oder als grandiose Literatur rezipieren will. Textgrundlage: Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Studienausgabe. Hgg. v. Joachim Knape. Stuttgart 2011 (=-Reclam UB 18333). Nach dieser Ausgabe wird zitiert. Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Übertragen v. H. A. Junghans. Durchgesehen u. mit Anmerkungen sowie einem Nachwort neu hgg. v. Hans-Joachim Mähl. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2012 (=-Reclam UB 899). Lektüreempfehlungen: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten. Lateinisch / Deutsch. Ausgewählt, übersetzt u. erläutert v. Harry C. Schnur. 3., durchgesehene, bibliografisch u. um ein Nachwort v. Hermann Wiegand ergänzte Aufl. Stuttgart 2015 (=-Reclam UB 19289). Hans Sachs: Meistergesänge, Fastnachtsspiele, Schwänke. Johann Fischart: Geschichtklitterung (1575) <?page no="295"?> 35 Einführende wissenschaftliche Literatur: Andreas Keller: Frühe Neuzeit. Das rhetorische Zeitalter. Berlin 2008. Kai Bremer: Literatur der Frühen Neuzeit. Reformation-- Späthumanismus-- Barock. Paderborn 2008. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. 2. Aufl. München 1999. Sebastian Brant Das Narrenschiff (1494) <?page no="297"?> 37 Barock: Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) 2. Schritt - 17. Jahrhundert B arock : Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) Vier Beispiele: 1. Beispiel-- Georg Rodolf Weckherlin: An das Teutschland. Sonnet (Druck: 1641) ZE rbrich das schwere Joch / darunder du gebunden / O Teutschland / wach doch auff / faß wider einen muht / Gebrauch dein altes hertz / und widersteh der wuht / Die dich / und die freyheit durch dich selbs uͤberwunden. Straf nu die Tyranney / die dich schier gar geschunden / Und l oͤ sch doch endlich auß die (dich verz oͤ hrend) glut / Nicht mit dein eignem schwaiß / sondern dem b oͤ sen blut Fliessend auß deiner feind und falschen br uͤ dern wunden. Verlassend dich auf Got / folg denen F uͤ rsten nach / Die sein gerechte hand will / (so du wilt) bewahren / Zu der Getrewen trost / zu der trewlosen raach: So laß nu alle forcht / und nicht die zeit hinfahren / Und Got wirt aller welt / daß nichts dan schand und schmach Des feinds meynayd und stoltz gezeuget / offenbahren. (aus: Gedichte des Barock, S. 12 f.) 2. Beispiel-- Andreas Gryphius: Threnen des Vatterlandes / Anno 1636 (Druck: 1643) Wir sindt doch nunmehr gantz / ja mehr den gantz verheret! Der frechen voelcker schaar / die rasende posaun Das vom blutt fette schwerdt / die donnernde Carthaun Hatt aller schweis / und fleis / und vorraht auff gezehret. Die tuerme stehn in glutt / die Kirch ist umbgekehret <?page no="298"?> 38 2. Schritt - 17. Jahrhundert Das Rahthaus ligt im graus / die starcken sind zerhawn. Die Jungfrawn sindt geschaendt / und wo wir hin nur schawn Ist fewer / pest / und todt der hertz undt geist durchfehret. Hier durch die schantz und Stadt / rint alzeit frisches blutt. Dreymall sindt schon sechs jahr als unser stroeme flutt Von so viel leichen schwer / sich langsam fortgedrungen. Doch schweig ich noch von dem was aerger als der todt. Was grimmer den die pest / undt glutt undt hungers noth Das auch der Selen schatz / so vielen abgezwungen. (aus: Echtermeyer. Deutsche Gedichte, S. 150 f.) 3. Beispiel-- Andreas Gryphius: Es ist alles eitel (Druck: 1637 / 1663) Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein, Wo itzund Städte stehn, wird eine Wiese sein, Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden. Was itzund prächtig blüht, soll bald zutreten werden. Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein; Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein. Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden. Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn. Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn? Ach, was ist alles dies, was wir vor köstlich achten, Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind, Als eine Wiesenblum, die man nicht wiederfind’t. Noch will, was ewig ist, kein einig Mensch betrachten. (aus: Echtermeyer. Deutsche Gedichte, S. 149) <?page no="299"?> 39 Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) 4. Beispiel-- Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: An Lauretten (Druck: 1695) LA urette bleibstu ewig stein? Soll forthin unverkn uͤ pffet seyn Dein englisch-seyn und dein erbarmen? Komm / komm und oͤ ffne deinen schooß Und laß uns beyde nackt und bloß Umgeben seyn mit geist und armen. Laß mich auff deiner schwanen-brust Die offt-versagte liebes-lust Hier zwischen furcht und scham geniessen. Und laß mich tausend tausendmahl / Nach deiner g uͤ ldnen haare zahl / Die geister-reichen lippen k uͤ ssen. Laß mich den ausbund deiner pracht / Der sammt und rosen nichtig macht / Mit meiner schlechten haut bedecken; Und wenn du deine lenden r uͤ hrst / Und deinen schooß gen himmel f uͤ hrst / Sich zucker-s uͤ sse lust erwecken. Und solte durch die heisse brunst / Und deine hohe gegen-gunst Mir auch die seele gleich entfliessen. So ist dein zarter leib die bahr / Die seele wird drey viertel jahr Dein himmel-rundter bauch umschliessen. Und wer alsdenn nach meiner zeit Zu lieben dich wird seyn bereit / Und h oͤ ren wird / wie ich gestorben / Wird sagen: Wer also verdirbt / Und in dem zarten schoosse stirbt / Hat einen sanfften tod erworben. (aus: Gedichte des Barock, S. 278 f.) <?page no="300"?> 40 2. Schritt - 17. Jahrhundert Um die Wende zum 17. Jahrhundert kann man von einer Stagnation in der Geschichte der deutschen Literatur sprechen. Die Namen der Dichter des 15. und 16. Jahrhunderts sind meist vergessen. Das hat natürlich auch mit den Bedingungen der Distribution von Literatur zu tun, mit den Verbreitungsmöglichkeiten und der Verbreitungsintensität der Literatur. Überblickt man den Zeitraum der Jahre 1450 bis 1600 summarisch, dann lässt sich feststellen, dass außer Luthers Bibelübersetzung, außer einigen seiner programmatischen Reformationsschriften, außer wenigen Werken von Hans Sachs und außer einigen Volks- und Kirchenliedern kaum etwas in den Bildungskanon der deutschen Literatur eingegangen ist. Das führt unmittelbar zu der Frage, wer diesen Kanon macht und was die historischen Bedingungen der Kanonbildung sind (s. Einleitung). Das 17. Jahrhundert ist geprägt von einer Veränderung des Buchmarkts. Der Messe- und Tauschhandel beginnt, die ersten Kataloge für die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt werden zusammengestellt. Vorsichtig geschätzt gibt es von diesen Büchern heute noch etwas mehr als 260 000 Exemplare. Allein in dem Jahrzehnt zwischen 1610 und 1620 erscheinen mehr als 1600 neue Titel, die meisten davon in lateinischer Sprache. Die durchschnittliche Auflagenhöhe beträgt 1500 bis 2000 Exemplare. Diese Zahl ist insofern bemerkenswert, als sie erst wieder im Jahr 1768 erreicht wird (vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 83 f.). Der Begriff Barock zur Kennzeichnung einer literaturgeschichtlichen Epoche hat sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchgesetzt. Im allgemeinsten Sinne meint Barock als Epochenbegriff die Literatur des 17. Jahrhunderts, wird aber auch als stilgeschichtliche Beschreibungskategorie in der europäischen Kunstgeschichte verwendet. Kennzeichen der Literatur des Barock ist ihre kulturelle Funktionszuschreibung, die in der Verknüpfung mit gesellschaftlichen, mit politischen und mit religiösen Themen besteht. Dies betrifft die Bedingungen der literarischen Produktion (der Anlass des Schreibens, der Auftrag an den Dichter, die Maßnahmen der Zensur etc.) sowie ihren rhetorischen Charakter, der stets auf Öffentlichkeit zielt. Gesellschaft, Politik und Religion sind zentrale Themen barocker Literatur. Diese Literatur gibt vor, was zu tun und was zu lassen ist, sie erarbeitet also restriktive Handlungsnormen in einem moraldidaktischen Zusammenhang. Mit Theobald Hocks (1573 bis nach 1624) deutschsprachigem Gedichtband Schönes Blumenfeld von 1601 beginnt im eigentlichen Sinne die frühbarocke Literatur. Hock schreibt in seiner Muttersprache Deutsch und er bedient sich <?page no="301"?> 41 eines Formenschatzes, der sich deutlich von der bis dahin dominierenden neulateinischen Dichtung der Humanisten unterscheidet. Allerdings wird er schnell vergessen, die späteren Barockdichter kennen ihn bereits nicht mehr. Die Autoren sind fast ausnahmslos Angehörige der Gelehrtenschicht, sie haben studiert und sind als Mediziner, Geistliche oder Juristen gut ausgebildet. Von den Honoraren für ihre Dichtung können sie nicht leben. Deshalb betätigen sich die meisten von ihnen auf dem Gebiet der Gelegenheitsdichtung (Kasualpoesie), die zu einem bestimmten Anlass geschrieben wird und einen Auftraggeber hat. So entstehen zahlreiche Hochzeits-, Tauf-, Geburtstags- und Sterbegedichte; einer der fleißigsten Kasualdichter ist Simon Dach (1605-1659) mit mehr als 1000 Einzeldrucken. Zu diesen Gelegenheitsdichtungen gehört auch die Vielzahl der sogenannten Figurengedichte (carmina figurata) unterschiedlicher Autoren, die versuchen, den Inhalt des Gedichts optisch durch die Textformung (das Layout) wiederzugeben, also beispielsweise die Vergänglichkeit des Lebens in der Form einer Sanduhr darzustellen, die durch die Textanordnung visuell erkennbar ist. Oder ein Weinglas, ein Kreuz, einen Torbogen-- der Gestaltungsmöglichkeiten sind dieser, aus der Antike stammenden Gattung kaum Grenzen gesetzt. 1624 erscheint ein schmales Büchlein, das bis heute unser Bild von der Barockliteratur entscheidend prägt, das Buch von der Deutschen Poeterey von Martin Opitz (1597-1639). Es ist die erste deutschsprachige Poetik. Opitz sieht die deutsche Sprache durch Barbarismen bedroht, er will das Deutsche zu einer neben Latein und Französisch konkurrenzfähigen Sprache der gelehrten Literatur aufwerten. Die deutsche Sprache ist nun- - europäisch gesehen- - literaturfähig geworden. Das wird von den Zeitgenossen als starker Impuls eines Modernisierungsschubes der deutschen Literatur verstanden. Nun kann auch der gelehrte Autor in Deutsch schreiben und der Leser auf Deutsch lesen, sofern bestimmte inhaltliche und formale Bedingungen erfüllt sind. Diese entwickelt Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey. Da das Latein als Zeichen großer Gelehrtheit nun wegfällt, muss der Dichter seine Bildung in der Wahl der Themen und deren kunstvoller Gestaltung unter Beweis stellen. Opitz verlangt, dass ein Dichter eine Synthese darstellen solle aus natürlicher Begabung, aus Inspiration und aus handwerklichem Wissen (den rhetorisch-humanistischen Kenntnissen). Die Kenntnis der antiken Vorbilder ist dabei ebenso unverzichtbar wie die Kenntnis aller bedeutenden Wissenschaften. Der Dichter ist Universalgelehrter, ein poeta doctus (gelehrter Dichter). Die Dichtung selbst ist für Opitz keineswegs zweckfrei, im Gegenteil. Dichtung verhilft zur Ausbildung guter Sitten, sie dient der Affektbeherrschung und sie leitet zum praktischen Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="302"?> 42 2. Schritt - 17. Jahrhundert Handeln an. Dichtung vermittelt Lehrsätze der praktischen Philosophie mit Hilfe von sinnlicher Anschauung, von Allegorien und Metaphern und von Beispielen. Opitz weist der Dichtung eine moraldidaktische Funktion zu. Wegweisend ist seine Forderung nach der Kongruenz von Wortakzent und Versakzent. Das lyrische Sprechen soll die natürliche Betonung eines Wortes widerspiegeln. Jambus (besonders der sechshebige Alexandriner mit einer Zäsur nach der dritten Hebung) und Trochäus sind die favorisierten Versmaße. Die barocke Literatur bedient zahlreiche Gattungen, im Drama etwa die Oper, das Oratorium, das Jesuitendrama, das Schuldrama, die hohe Tragödie, die Märtyrertragödie und die Komödie. In der Prosa sind zu nennen der höfische Roman, der Abenteuerroman, der Schäfer- und Picaroroman. Doch die eigentliche Stärke der Barockliteratur liegt in der Lyrik, so etwa im weltlichen Lied (politische Dichtung, Liebeslied, erotische Dichtung) und im geistlichen Lied (katholisches Kirchenlied, evangelisches Kirchenlied, mystische Dichtung). Die bevorzugten lyrischen Ausdrucksformen sind die Ode, das Sonett, das Epigramm, die Elegie, das Rätselgedicht, das Figurengedicht (carmen figuratum), das Lehrgedicht. Die sehr beliebte Emblematik als eine spezifisch barocke Sonderform der Lyrik vereint intermediale Überschneidungen von Bild und Schrift und setzt diese von Sebastian Brants Narrenschiff her bekannte Form der Literatur fort. Opitz’ poetologische Forderungen werden von den meisten zeitgenössischen Dichtern angenommen. Simon Dach (1605-1659) wird der Wortführer einer Art eigenen opitzschen Dichterschule, dem Königsberger Dichterkreis. Für Paul Fleming (1609-1640) ist Opitz nicht nur Lehrer, sondern er tituliert ihn in seinem Gedicht Über Herrn Martin Opitzen auff Boberfeld sein Ableben (gedruckt 1646) auch als Pindar, Homer und Vergil in einer Person. Die Epigramme des Friedrich von Logau (1604-1655) entsprechen weitgehend der Vorgabe von Opitz, wonach das Epigramm eine knappe Satire sein muss, auch wenn ihre Kürze und Scharfsinnigkeit nicht immer ausbalanciert sind. Andreas Gryphius (1616-1664) erfüllt weitgehend die Forderungen der Deutschen Poeterey. Er lockert aber die starre Versform, die den meisten Gedichten der Opitz-Schule eigen ist, durch Zäsuren und die Kunst des Enjambements (Zeilensprung) sowie durch eine antithetische Grundstruktur auf. Der bedeutendste Gegenspieler zu Opitz ist Georg Rodolf Weckherlin (1584-1653), er verwirft die strengen Regeln und geht einen eigenen Weg als Lyriker (vgl. sein Gedicht An das Teutschland, 1641), der die politischen Wirren und die gesellschaftlichen Folgen des Dreißigjährigen Kriegs (1618-1648) immer wieder thematisiert. <?page no="303"?> 43 Für die Tradition der mystischen Barockdichtung steht der katholische Angelus Silesius (1624-1677), der eigentlich Johannes Scheffler heißt; sein Gedichtband Cherubinischer Wandersmann (1657) hat die mystische Dichtung mit seinen Epigrammen, Rätselgedichten und Sentenzen nachhaltig geprägt. Paul Gerhardt (1607-1676) gilt als der bedeutendste Vertreter des evangelischen Kirchenlieds, dessen zahlreiche Lieder heute noch Teil der musikalischen Liturgie in den Gottesdiensten sind und die unter anderem von Johann Sebastian Bach (1685-1750) vertont wurden. Mit den Gedichten von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679) klingt die Phase der Dominanz barocker Ausdrucksformen in der Lyrik aus. Die oft als galante Dichtung bezeichnete Lyrik Hoffmannswaldaus, die erst in seinem Todesjahr gedruckt wird, geht über den petrarkistischen Lobpreis weiblicher Schönheit weit hinaus, sie kann durchaus als eine eigenständige Form der erotischen Lyrik verstanden werden. 1. Beispiel - Georg Rodolf Weckherlin: An das Teutschland. Sonnet (Druck: 1641) Das Gedicht An das Teutschland von Georg Rodolf Weckherlin entsteht mitten im Dreißigjährigen Krieg. Allerdings ist Weckherlin Emigrant, er dient seit 1619 in England, dort zunächst als Gesandter des württembergischen und später des pfälzischen Hofes, und tritt im Jahr 1626 in englische Dienste. Er wird Sekretär für auswärtige Angelegenheiten des englischen Staatssekretärs. Ab 1638 beschäftigt er sich mit der Vorbereitung zur Drucklegung eines Gedichtbandes, der 1641 in Amsterdam unter dem Titel Gaistliche vnd Weltliche Gedichte erscheint. An das Teutschland eröffnet darin den zweiten Teil mit den weltlichen Gedichten. Das hat für den Leser eine Signalfunktion, die ein programmatisches Verständnis beansprucht. Schon in der Vorrede des Bandes hat Weckherlin sich gegen die von Opitz betriebene Hinwendung zu antiken Vorbildern gewandt und nimmt für sich eine versifikatorische Freiheit in Anspruch. Weckherlin orientiert sich in Gattung und Metrik vornehmlich an französischen Vorbildern. Er vertritt das Prinzip der freien Akzentuierung, also eine Ausdrucksrhythmik, die von opitzschen Mustern erheblich abweicht. Weckherlin ist der erste Dichter, der die deutsche Sprache zur Sprache der Kunstdichtung-- jenseits der reinen Gebrauchslyrik-- erhebt. Das „Teutschland“, das Weckherlin vor Augen hat, ist ein geschundenes und zerschlagenes Land, das es als Einheit nicht gibt. Dieser Adressat ist für Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="304"?> 44 2. Schritt - 17. Jahrhundert Weckherlin eine Denkfigur, die einen überzeugten Kulturpatriotismus mit der Parteilichkeit für die protestantische Sache verknüpft. Dabei bedient er sich eines durchaus auch aggressiven Tons. Zerbrechen, aufwachen und Widerstand leisten sind die Kernverben der ersten Strophe des Sonetts. Obwohl das entsprechende Ausrufezeichen fehlt, kann das gesamte erste Quartett als ein politischer Imperativ in sechshebigen Jamben verstanden werden. Erst in der vierten Zeile tritt eine metrische Irritation auf, denn stur jambisch gelesen fallen Wortakzent und Versakzent auseinander. Zudem weisen die erste Virgel nach „Die dich“ sowie das Substantiv „freyheit“ auf einen metrischen Wechsel hin. Freiheit enthält, wie das Titelwort „Teutschland“ auch, zwei Längen und muss als ein Spondeus gelesen werden. Der Wortakzent fällt dabei auf die erste Silbe. Das bedeutet, dass nach „dich / “ das „und“ betont werden und „freyheit“ mit zwei Längen gelesen werden muss, danach geht es jambisch weiter. Die Antithese zur Freiheit ist die „Tyranney“ zu Beginn des zweiten Quartetts. Der Appell bewegt sich auf der Grenze zum Imperativ. Weckherlin beschwört einen Mut, den Deutschland vor dem Krieg gehabt haben soll, „dein altes hertz“ ist die Chiffre für den Zustand der vorkonfessionellen Entzweiung, peilt also die Wiederherstellung alter Zustände vor dem politisch-konfessionellen Krieg an (immerhin hatte sich Luthers Thesenanschlag von 1517 ein Jahr vor Beginn des Dreißigjährigen Kriegs zum 100. Mal gejährt). Wie sich das der Autor genau vorstellt, bleibt unklar. Denn seine Parteinahme für die protestantische Sache macht eine konsensuelle Friedenslösung selbst im Modus des lyrischen Sprechens unmöglich. Zugleich wird Deutschland eine Mitschuld am Krieg attestiert, die Freiheit ist „durch dich selbs u e berwunden“. Der appellative Ton wird erst mit der ersten Zeile des ersten Terzetts ergänzt, „Verlassend dich auf Got“. Mit Gottvertrauen soll dieses „Teutschland“ seinen (protestantischen) Fürsten folgen. Das Partizip Präsens Aktiv unterstreicht die präsentische Bedeutung dieses Appelles, demnach ist „Teutschland“ schon dabei, sich auf Gott zu verlassen und seinen Fürsten zu folgen. Durch die grammatikalische Struktur und das Vorziehen des Partizips an den Zeilenbeginn verschafft sich die Dringlichkeit (und vielleicht auch die Schärfe) dieses Appells Gehör. Dieses „Teutschland“ fungiert als persönlicher Adressat, stellt also eine Personifikation dar. Der Text zielt auf eine fingierte nationale Einheit, die es so nicht gegeben hat, und ruft zum politischen Handeln auf. Das zweite Quartett führt diesen politischen Imperativ fort, der fast schon aggressiv im Ton wird. „Teutschland“ leidet unter einer „Tyranney“, die ausgelöscht werden muss mit dem Blut „deiner feind und falschen brüdern wunden“. Wer aber sind Deutsch- <?page no="305"?> 45 lands Feinde in den 1630er Jahren? Hier kommt der konfessionelle Aspekt von Weckherlins Gedicht zum Tragen-- und damit die Einäugigkeit seiner Parteinahme. Denn die Feinde des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sind aus seiner Sicht die Katholiken mit ihren politischen Verbündeten. Das Vertrauen auf Gott, wie es zu Beginn des ersten Terzetts angesprochen wird, gepaart mit der unbedingten Gefolgschaft gegenüber den absolutistischen, protestantischen Fürsten sollen Weckherlins „Teutschland“ schließlich obsiegen lassen. Darin drückt sich die Hoffnung aus, dass der Konfessionskrieg zugunsten der protestantischen Kriegspartei entschieden wird. Weckherlins Gedicht ist also beileibe kein Friedensgedicht, auch kein Klagegedicht über die politischen Verhältnisse in Deutschland oder Ausdruck einer Friedenssehnsucht, sondern ein politisches Gedicht, das von außen zum militärischen Widerstand gegen die Katholiken aufruft, es ist Ausdruck einer tiefen Frustration angesichts der realen politischen Verhältnisse. In diesem Gedicht enthält sich der Autor zwar gänzlich eines polemischen Untertons, aber Weckherlin bedient durch seine klare Parteinahme für die protestantische Sache Vorurteile und Ressentiments und beschwört ein Feindbild, das zu überwinden gerade Voraussetzung für einen dauerhaften politischen und konfessionellen Frieden wäre. 2. Beispiel - Andreas Gryphius: Threnen des Vatterlandes / Anno 1636 (Druck: 1643) Anders Gryphius, der als unmittelbar Betroffener das Leid des Glaubenskrieges am eigenen Leib erfährt. Sein Gedicht Threnen des Vatterlandes (1636; gedruckt 1643) dokumentiert auf erschütternde Weise diese Betroffenheit. Es kann als ein Gegenstück zu Weckherlins Gedicht An das Teutschland gelesen werden. In Bildern von nahezu apokalyptischem Ausmaß beschreibt er die Zerstörungen durch den Krieg und die Folgen für die Bevölkerung. Städte sind verheert und abgebrannt, Vorräte sind geplündert. Bereits 18 Jahre dauere diese Katastrophe. Das ist ein durchaus politisch-programmatischer Ton, doch wendet Gryphius dann die Außenperspektive nach innen: „Doch schweig ich noch von dem was aerger als der todt. [/ ] Was grimmer den die pest / undt glutt undt hungers noth [/ ] Das auch der Selen schatz / so vielen abgezwungen.“ Tod, Pest, Feuer und Hungersnot sind nicht zu vergleichen mit dem größten Verlust durch den Krieg, dem „Selen schatz“. Das ist das Seelenheil der Menschen, ihr Glauben, der verlorengegangen ist. Dieser Verlust beruht auf den gewaltsamen Ereignissen des Krieges, die Menschen haben entweder aktivisch ihren Glauben verloren oder Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="306"?> 46 2. Schritt - 17. Jahrhundert sie wurden passivisch dazu gezwungen, ihren Glauben im Sinne ihrer Konfession aufzugeben und sich der je anderen Glaubenspartei anzuschließen, also eine Form von Glaubensverrat zu begehen. Der Text lässt für beide Lesarten genügend Spielraum. Gryphius verbindet mit der Eindringlichkeit der Schilderung die politische Situation mit der persönlichen Betroffenheit. Der Autor ergreift nicht Partei für die eine oder andere Seite, er erwähnt lediglich die Umstände, die zu solch einer katastrophalen Lage geführt haben. Um die Qualität der lyrischen Sprache und die Intensität der Sprachbilder von Gryphius ermessen zu können, sollten zum Vergleich das umfangreiche Trostgedicht In Widerwertigkeit Deß Kriegs (1638) von Martin Opitz oder von Wencel Scherffer von Scherffenstein (1598 / 1599-1674) das Gedicht Teutschland (1652; vgl. Gedichte des Barock, S. 153) und von Henrich Hudemann (um 1595-1628) Teutschland. Emblema (1625; vgl. Gedichte des Barock, S. 37) gelesen werden. 3. Beispiel - Andreas Gryphius: Es ist alles eitel (Druck: 1637 / 1663) Das Gedicht Es ist alles eitel von Andreas Gryphius wird erstmals in seinen Freuden und Trauer-Spiele auch Oden und Sonnette von 1663 gedruckt. Allerdings ist dies bereits die zweite Fassung eines Gedichts, das er unter dem Titel Vanitas, Vanitatum, et omnia vanitas schon 1637 in seinem Gedichtband Sonnete veröffentlicht hatte. Die Unterschiede zwischen beiden Fassungen, die ja doch über ein Vierteljahrhundert auseinander liegen, sind im Wortlaut oder in der Schreibung nur marginal. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Gryphius die Perspektive der unmittelbaren Ichbetroffenheit weitet zu einem allgemeinen Lebensgefühl, das mit dem „du“ als erstem Wort der zweiten Fassung jeden Menschen anspricht. Die erste Fassung verwendet noch die erste Person Singular, „ IC h seh’, wohin ich seh“ (Gedichte des Barock, S. 123). Das bedeutet also, Gryphius hat das Gedicht Es ist alles eitel während des Dreißigjährigen Kriegs (1618-1648) geschrieben und im Nachhinein als die Beschreibung des damaligen Lebensgefühls verstanden wissen wollen. So wird das Gedicht auch heute rezipiert. Es bringt das barocke Lebensgefühl in all seiner Düsternis und Todesbedrohung auf den Punkt. Der Wechsel im Titel von Vanitas, Vanitatum, et omnia vanitas (1637) zu Es ist alles eitel (1663) bedeutet keinen inhaltlichen oder thematischen Wechsel. Denn das lateinische Wort vanitas heißt Eitelkeit im alten Wortsinn, nämlich Vergänglichkeit, Vergeblichkeit, Nichtigkeit. Der Titel Vanitas, Vanitatum, et omnia vanitas ist die wörtliche Übernahme aus <?page no="307"?> 47 der lateinischen Übersetzung des hebräischen Alten Testaments (Vulgata). In der Bibelübersetzung Martin Luthers, die der Jurist und Protestant Andreas Gryphius sicherlich nutzte, heißt Prediger Salomonis 1, 2: „Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, ganz eitel“, und Prediger Salomonis 12, 8: „Es ist alles ganz eitel, spricht der Prediger, ganz eitel“. Der Titel des Gedichts von Gryphius Es ist alles eitel bildet also ein wörtliches Bibelzitat. Dieses urbiblische und urchristliche Motiv, an die Vergänglichkeit des Lebens zu erinnern, wird auch in einem bis heute in der Gottesdienstliturgie verwendeten barocken Kirchenlied festgehalten (vgl. Evangelisches Kirchengesangbuch [= EKG ] Nr. 528). Der Bäcker und Lehrer Michael Franck (1609-1667) hat es 1652 gedichtet und die Melodie komponiert, von Johann Sebastian Bach wurde es in einer Motette ( BWV 26) im Jahr 1724 vertont. Dort heißt es in der achten Strophe: Ach wie nichtig, ach wie flüchtig / sind der Menschen Sachen! / Alles, alles, was wir sehen, / das muß fallen und vergehen. / Wer Gott fürcht’, wird ewig stehen. ( EKG 528) Nebenbei macht dies deutlich, dass zur barocken Lyrik auch die evangelischen und katholischen Kirchenlieder gehören, die nicht nur zeitgenössisch eine starke Wirkung entfaltet haben. Die opitzsche Sprach- und Literaturreform hat unter anderem zum Ziel, die deutsche Sprache als durchaus konkurrenzfähige europäische Poesiesprache aufzuwerten. Auf Deutsch zu dichten sollte nun wünschenswert sein. Daneben ist für Gryphius von Bedeutung, dass Opitz die Übereinstimmung der natürlichen Betonung eines Wortes nach dem Sprachgebrauch mit der metrisch notwendigen Betonung des Wortes nach den Regeln der Metrik und des Versakzents fordert (Kongruenz von Wortakzent und Versakzent). Und schließlich ist die Bevorzugung der beiden Metren Jambus (immer die zweite Silbe wird abwechselnd betont nach dem Muster xx´) und Trochäus (immer die erste Silbe wird abwechselnd betont nach dem Muster x´x) hervorzuheben, die für Opitz und seine Schule Grundmetren der deutschsprachigen Poesie werden. Trotz der Dominanz der opitzschen Schule mit ihren Reformforderungen gibt es in der Barocklyrik Dichter, die einen eigenen Weg gehen und dabei durchaus innovativ wirken, wie beispielsweise Georg Rodolf Weckherlin. Einige lateinische Formeln neben vanitas vanitatum, die das Barockgefühl wiedergeben und die zum Verständnis der Barockliteratur unverzichtbar sind, Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="308"?> 48 2. Schritt - 17. Jahrhundert lauten memento mori (denke an den Tod; bedenke, dass du sterblich bist), carpe diem (nutze, genieße den Tag, denn man weiß nicht, was morgen ist) und horror vacui (das blanke Entsetzen vor der Leere, vor dem Nichts). Natürlich sind diese Beschreibungsformeln für das Leben und die Einstellungen dazu stets theologisch abgefedert. Das bedeutet dann, dass memento mori auf Psalm 90, 12 verweist, der lautet: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“; carpe diem wird religiös umgedeutet und bedeutet nicht ein hedonistisches Verhalten, also Genießen um jeden Preis, sondern heißt demnach: nutze den Tag in einem gottesfürchtigen Sinne; und schließlich bedeutet der horror vacui nicht eine allgemeine Seinsverlorenheit, sondern das Wissen um das Nichts, wenn man dem nicht ein Leben in Gott entgegensetzt- - in der barocken Malerei etwa die Angst vor einer leeren, unbemalten Fläche. Das wiederum berührt das neostoizistische Constantia-Ideal, welches die Beständigkeit im Glauben zum Ausdruck bringt. Dem Nichts und dem Schrecken davor wird der christliche Glauben entgegengesetzt, der sich in einem Leben in Beständigkeit und voller Anfechtungen aber bewähren muss. Das aus der antiken Lehre der Stoa übernommene Verhaltensideal der Ataraxie, der Seelenruhe, der Freiheit von Affekten und der emotionalen Unerschütterlichkeit, wird auf diese Weise neuzeitlich anverwandelt und christlich umgedeutet. Dieses Ideal ist erstrebenswert. Die Jenseitsperspektive ist dabei das Merkmal aller barocken Dichtung. Das Gedicht Es ist alles eitel bringt dieses barocke Lebensgefühl in Gedichtform komprimiert auf den Punkt. Ein sechshebiger Jambus (der Alexandriner genannt wird), mit einer Mitteldiärese (dem Einschnitt in der Mitte des Verses), strukturiert metrisch das gesamte Gedicht. Dieses ist als ein klassisches Sonett angelegt und orientiert sich dabei an dem europäischen Vorbild der Sonette des Italieners Francesco Petrarca (1304-1374), wonach zunächst zwei Quartette mit jeweils vier Versen folgen, danach zwei Terzette mit jeweils drei Versen. Insgesamt sind es also 14 Verse oder Zeilen. Das Reimschema folgt in den beiden Quartetten einem umschließenden Reim nach dem Muster abba abba, in den Terzetten weicht es vom petrarkistischen Muster ab, erweitert es und nutzt ein Schema mit ccd im ersten Terzett und eed im zweiten Terzett. Sprachlich greift die lyrische Sprechweise der Barockdichter generell auf rhetorische Erfahrungen und Prägungen zurück. Das betrifft unter anderem die Lehre von den genera dicendi (Stilarten), also den Aussageweisen. Diese sind das genus humile (niederer Stil), genus mediocre (mittlerer Stil) und genus sublime (hoher Stil), und sie entsprechen der rhetorischen Lehre von <?page no="309"?> 49 der Funktion einer Rede. Diese soll entweder docere (belehren) oder delectare (erfreuen, unterhalten) oder movere (emotional berühren, überzeugen). Wer also beispielsweise mit seiner Rede die Zuhörer emotional aufwühlen will, der muss sich des Stils genus sublime, also einer hohen Ausdrucksform bedienen. Diese aus der antiken Rhetorik stammenden Muster werden von Martin Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey explizit auf die Dichtung resp. die Literatur übertragen, „so muß man auch nicht von allen dingen auff einerley weise reden; sondern zue niedrigen sachen schlechte / zue hohen ansehliche / zue mittelm aͤ ssigen auch m aͤ ssige vnd weder zue grosse noch zue gemeine worte brauchen“ (Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hgg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2013, S. 43). Die erste Zeile des Gedichts von Gryphius endet mit einem Punkt. Demnach kann der Wortlaut als eine in sich geschlossene Aussage gelesen werden: „Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden“ (ich zitiere nach der modernisierten Textfassung in: Echtermeyer. Deutsche Gedichte, S. 149. Leider sind durch die Modernisierung die für die barocke Zeichen- und Sinnsetzung wesentlichen Virgel-Schrägstriche, neudeutsch slash, verloren gegangen). Mit dem ersten Wort wird ein „Du“ angesprochen. Damit ist jeder Leser oder Hörer dieses Gedichts gemeint. Allgemeiner gesagt kann in dem an exponierter Stelle stehenden „Du“ jeder angesprochen sein. Diese erste Zeile birgt also einen zutiefst appellativen Charakter. Dieser Appell drängt, ja bedrängt, denn wohin man sieht, man sieht „nur“ Vergänglichkeit, Tod. Die Grenze zwischen einem Appell und einem Imperativ im Sinne von ‚Schau dich um! Überall nur Tod‘ wird fließend. Zugleich verweist das Verb sehen, das in einem Parallelismus aufgenommen wird („Du siehst-[…] du siehst“), auf die Bedeutung der Wahrnehmung. Verknüpft mit der appellativ-imperativischen Grundstruktur dieser ersten Zeile bedeutet das dann: ‚Nimm endlich dieses Elend wahr! Das musst du doch sehen! ‘ Das einschränkende „nur“ erlaubt keinerlei Ausnahme, „nur Eitelkeit auf Erden“, sonst nichts. Dieser zweite Teil des Verses nimmt den Titel auf, Es ist alles eitel, nichts entgeht dieser Vergänglichkeit, „alles“ ist ihr unterworfen. Diese Grundbotschaft wird also in ein gängiges Format barocker Lyrik gepackt im Metrum des sechshebigen Jambus. Dadurch wird das Gedicht rezipientenfreundlicher. Die Erde ist die Chiffre für die Diesseitigkeit, ihr Gegenbegriff ist die Ewigkeit als Chiffre für die Jenseitigkeit. Das bedeutet also, was in diesem Gedicht mit dieser durchaus brutalen Direktheit gesagt wird, gilt nur für das Diesseits, es hat keine Geltung für das Jenseits. Diese versteckte antithetische Struktur-- denn die Jenseitigkeit wird ja nicht begrifflich genannt-- entwickelt Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="310"?> 50 2. Schritt - 17. Jahrhundert sich ab der zweiten Zeile zu einer offenen Antithese. Diese ist personal, temporal und anthropologisch im Sinne einer menschlichen Handlung strukturiert. Personal durch das Begriffspaar „dieser“ und „jener“, temporal durch „heute“ und „morgen“ und anthropologisch durch „baut“ und „reißt-[…] ein“. Das wirft Fragen auf: Wer baut? Die Antwort lautet „dieser“. Wer reißt ein? Die Antwort lautet „jener“. Und wer sind „dieser“ und „jener“? Menschen sind damit gemeint. Menschen bauen heute und Menschen reißen morgen ein. Aber es sind verschiedene Menschen, das garantiert die Antithese „dieser“- - „jener“. Dieser und Jener wird also zur Repräsentanz allgemeinen menschlichen Verhaltens in diesen Kriegszeiten, als pars pro toto (als Teil fürs Ganze) stehen sie für Menschengruppen, für eine bestimmte Art von Menschsein. Das Bauen impliziert eine planvolle Handlung, das Einreißen zeugt von Destruktivität und Aggressivität. Mit Blick auf den zeitlichen Kontext lassen sich dahinter die kriegführenden Konfessionen der Protestanten und der Katholiken erkennen. Die dritte Zeile wird mit einer Alliteration des Buchstabens „W“ eröffnet und bringt eine weitere Antithese neben der temporalen Antithese Gegenwart („itzund“) und Zukunft („wird-[…] sein“) ins Spiel, nämlich „Städte“ und „Wiese“. Die Wiese gilt als Metapher für das Land als einen Gegenort zu den Gefahren der Städte. Dabei bewahrt sich der Begriff „Wiese“ eine Ambivalenz. Er kann zum einen verstanden werden als Synonym für das Endergebnis der Zerstörung. Denn wo alles zerstört ist und es weder von Menschen gemachte Bauten noch natürliche landschaftliche Besonderheiten mehr gibt, da herrscht tabula rasa, gähnende Leere, eine öde Landschaft. Zum anderen lässt sich im Begriff „Wiese“ aber auch ein utopischer Rest, eine Art Hoffnungsrest erkennen. „Wiese“ wird so gesehen zum Synonym für einen Naturzustand, in den der Mensch noch nicht planerisch oder zerstörend eingegriffen hat. Diese Sicht würde aber einen gewissen Widerspruch zum Gedichttitel implizieren, denn wenn tatsächlich alles eitel, also vergänglich ist, dann müsste dies auch für die „Wiese“ gelten, denn die „Wiese“ ist ja auch der Ort, wo neues Leben entsteht. Diese Spannung bleibt am Ende der dritten Zeile zunächst noch erhalten. Das Wort „eine“ vor „Wiese“ kann-- folgt man dem streng alternierenden Metrum-- nicht nur als Indefinitpronomen im Sinne von irgendeine, sondern auch als ein Zahlwort gelesen werden. Demnach handelt es sich um eine einzige Wiese, die am Ende übrigbleiben wird. Viele oder vielleicht sogar alle Städte werden durch den Krieg zerstört werden, aber eine einzige Wiese wird übrigbleiben. Bemerkenswert ist, dass nicht von Wüste, sondern von Wiese gesprochen wird. Die Zerstörung ist also nicht der Schlusspunkt dieser Perspektive. Vielmehr bewahrt <?page no="311"?> 51 der utopische Rest in „Wiese“ den Blick auf einen möglichen Neubeginn. Denkbar ist es, dass politische und konfessionelle Divergenzen dann keine Rolle mehr spielen werden unter dem Aspekt der allgemeinen Vergänglichkeit. Alles wird am Ende, also im Blick einer jenseitigen Betrachtung, zu einer Einheit verschmelzen (‚eine einzige Wiese‘), der Wahnsinn der militärischen Austragung konfessioneller Unterschiede wird aufhören, weil dieser Glaubenskrieg unter dem Aspekt der allgemeinen Vergänglichkeit völlig irre ist. Am Ende spielt all dies überhaupt keine Rolle mehr, am Ende steht eine einzige Wiese als Symbol für die allgemeine christliche Einheit. Und es ist nicht der Blick in einen Garten Eden, in ein Paradies, der den christlichen Horizont eröffnet, sondern die „Wiese“, die nach und nach mit pflanzlichem, tierischem und menschlichem Leben besiedelt wird. Gryphius formuliert eine zarte, fast zögerliche Hoffnung auf Einheit. Die vierte Zeile unterstreicht die bisherige Deutung, die zeigt, dass Gedichtanalyse immer auch Mikroanalyse des Textes ist. Das „Schäferskind“ ist nicht christologisch zu deuten, wonach damit das Jesuskind angesprochen wäre. Vielmehr verweist dieses Bild auf die barocke Codierung erotischen Sprechens. Der Schäfer ist der Inbegriff für die Liebenden, er ist also derjenige, der in Liebe entbrannt ist. In der traditionellen antiken und neuzeitlichen Schäferdichtung liegt die Geliebte-- als Schäferin kostümiert-- meist auf einer blumenreichen Wiese, ein Bächlein murmelt und ein Baum spendet Schatten. Diese Codierung ist so dicht, dass sie heutzutage nur schwer aufzubrechen ist. Nun ist bei Gryphius aber nicht die Rede von Schäfer und Schäferin, von Mann und Frau, sondern von einem „Schäferskind“. Und es ist auch nicht die Rede von einem einzelnen Schaf, was eine christliche Ikonographie implizieren würde, sondern von einer ganzen „Herde“. Wie ist das zu deuten? Das „Schäferskind“ kann als ein Kind der Liebe verstanden werden, wenn man die erotische Codierung übernimmt. Diese wird aber sofort geblockt, es ist nur von einem Kind die Rede. Gryphius beschwört damit einen friedvollen und liebevollen Zustand in der Zukunft, der mit dem Begriff der „Wiese“ und dem Kind der Liebe konnotiert ist. Die Schafherde lenkt die erotische Codierung ab und verweist nun auf den Naturzustand, sie ist wie die „Wiese“ Synonym und Symbol für das Landleben als einem Ort im fast infantilen Naturzustand, in den der Mensch noch nicht zerstörend eingegriffen hat. Zugleich wird mit diesem Bild auch ein bäuerlicher Hintergrund aufgerufen, der dadurch an Bedeutung gewinnt, dass der Dreißigjährige Krieg von massiver Hungersnot, Zerstörung der Ernten und Plünderung des Saatguts begleitet ist. Diese agrarischen Fragen gewinnen also Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="312"?> 52 2. Schritt - 17. Jahrhundert an Bedeutung. Und dennoch ist der Bauer gegenüber dem Städter im Vorteil, da er für sich selbst sorgen kann. Auf den zweiten Blick lässt sich die Schafherde doch auch theologisch deuten. Freilich muss dabei beachtet werden, dass nicht von einem Lamm, sondern vom „Schäferskind“ die Rede ist. Christus ist das Lamm Gottes, die Schafe sind die Gläubigen. Der Begriff der „Herde“ ist zutiefst theologisch konnotiert. Damit würde der politischen Ereignisgeschichte eine Glaubenserfahrung entgegengestellt werden, die die Hoffnung auf Frieden nicht aufgibt. Die Zeilen fünf und sechs spannen wieder Antithesen auf und unterstreichen nochmals dieses wichtige und starke Strukturmerkmal des Gedichts, „itzund“-- „bald“, „prächtig blüht“-- „zutreten“, „itzt“-- „morgen“, „pocht“, „trotzt“-- „Asch und Bein“. Pochen und trotzen können als Verben der militärischen Zerstörung und des Kampfes gelesen werden. „Asch“ verweist auf die vielen Feuersbrünste, die mit dem Krieg verbunden sind, „Bein“ bedeutet Gebein, wird also zur Metapher für den Tod. In der zweiten Hälfte des zweiten Quartetts ab der siebten Zeile wird eine für das barocke Weltbild fundamentale Haltung ausgesagt. „Nichts ist, das ewig sei“, das heißt, nichts ist für die Ewigkeit, alles ist vergänglich. Nichts von dem, was ich sehe-- man denke an das „du siehst“ des ersten Verses-- ist ewig. Aber wo liegt die Grenze dieses Nichts? Der appellativ-imperativische Ton wird hier wieder in Form einer starken Behauptung aufgegriffen und so entsteht eine Klammer zwischen der ersten Zeile und der siebten Zeile, eine Binnenklammer. Nichts von dem, was wir für ewig halten an materiellen Gütern oder was ewig sein soll (man beachte den Konjunktiv „sei“), ist ewig. „Erz“ und „Marmorstein“ sind Chiffren für Militär und aristokratische Prachtbauten. Möglicherweise hat Gryphius auch an die üppige katholische, barocke Kirchenarchitektur gedacht. Also weder die Militärs noch die Adligen und Herrschenden können auf Dauer ihre Herrschaft sichern und ausüben, auch sie sind dem Vergänglichkeitsdiktum unterworfen. Diese Textstelle impliziert damit eine eminent politische Aussagekraft und macht das Sonett-- neben der Repräsentativität für ein barockes Vanitas-Gedicht-- auch zu einem politischen Gedicht. Diese politische Perspektive wird in der achten Zeile ergänzt durch eine Erweiterung ins grundsätzlich Anthropologische. „Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden“ verweist direkt nach innen, weg von der politischen Außenperspektive der siebten Zeile, und legt schonungslos in einer temporalen Antithese („Itzt“-- „bald“) in der zweiten und der dritten Antithese „lacht“- - „donnern“ und „Glück“- - „Beschwerden“ den Verfall des mensch- <?page no="313"?> 53 lichen Lebens offen. Auch das kurze menschliche Glück ist der Vergänglichkeit unterworfen, es ist eben nichts „ewig“. Empfindet man jetzt Glück, so ist dieses Gefühl in Kürze verloren. Der Text holt die Außenperspektive nun ein, denn im Innern „donnern die Beschwerden“. Was in der Lebenswelt als Destruktion erfahren wird, ereignet sich auch am eigenen Körper, und zwar an jedem Körper, ohne Ausnahme. Diese Körpererfahrung gleicht also einem Kriegszustand, einem im Wortsinne leib-haftigen Krieg. „Der hohen Taten Ruhm“ wird mit einem „Traum“ verglichen, der vergeht. Das Bild unterstreicht aber auch, dass die militärischen oder die persönlichen Erfolge, wenn man so den Tatenruhm verstehen will, im Grunde genommen nur Fiktion sind, nichts Wirkliches, auf das man eine Zukunft gründen könnte. Die Erfolge sind genauso vergänglich- - hier kommt wieder die Generalaussage des Gedichttitels ins Spiel-- wie alles andere. Erfolg bleibt nicht bestehen. Gryphius nimmt damit eine Perspektive ein, die bereits auf die Jenseitigkeit verweist. Vor Gott zählen nicht die persönlichen oder die kollektiven Erfolge, sie müssen angesichts der Ewigkeit Gottes vergehen. Das „muss“ der neunten Zeile betont die Notwendigkeit dieses Vorgangs, es gibt kein Entweichen daraus. Die zehnte Zeile, die zugleich die erste Zeile des ersten Terzetts ist, stellt die Frage, ob denn „das Spiel der Zeit, der leichte Mensch“ bestehen soll. Der Text lässt offen, ob es sich dabei um eine rhetorische Frage handelt, die keine Antwort erwartet, oder um eine echte Frage, die drängend gestellt wird und ebenso drängend einer Antwort bedarf. Wenn diese Frage als Frage ernst gemeint ist, dann bedeutet sie: Wie soll denn der Mensch angesichts all dieser Vergänglichkeit überhaupt bestehen können? Damit würde das explizite Bewusstsein von Vergänglichkeit als Leidensdruck hervorgehoben. Insofern bewahrt sich dieser Vers eine Ambivalenz, die nicht eindeutig zu klären ist. Zwar sind beide Lesarten möglich, jedoch ist der elegische Ton, der Klageton, der immerhin mit einem seufzenden „Ach“ eingeleitet wird, darin nicht zu verkennen. Und wenn schon solch schwere materiellen Güter wie „Erz“ und „Marmorstein“ vergehen werden, dann „muss“ dies umso mehr auch für den Menschen gelten, der als leicht attribuiert wird. Diese Einsicht gibt eine barocke Glaubenssicht wieder, wonach der Mensch zutiefst erlösungsbedürftig ist. Die „Nichtigkeit“ in Zeile zwölf zu Beginn des zweiten Terzetts greift wieder auf die Titulatur zurück: Es ist alles eitel, alles vergänglich, alles nichtig. Vergänglichkeit und Nichtigkeit oder lateinisch vanitas sind Synonyme. „Schatten“, „Staub“ und „Wind“ nehmen das religiöse Vokabular des Alten Testaments auf, es gehört zum topologischen Inventar barocker Lyrik, und sind fast schon Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="314"?> 54 2. Schritt - 17. Jahrhundert theologische Allgemeinplätze. Die „Wiesenblum“ der Zeile 13 greift auf die Wiesenmetapher der dritten Gedichtzeile zurück und bildet damit eine zweite Binnenklammer. Der utopische Rest, der oben geltend gemacht werden konnte, hat nun gewurzelt, die „Wiese“ ist tatsächlich jener Ort eines Naturzustands, in den der Mensch noch nicht zerstörerisch eingegriffen hat. Extrinsisch aber muss auch diese Hoffnung sterben, das Vanitasdiktum gilt unverändert, am Ende ist der Mensch eine „Wiesenblum, die man nicht wiederfind’t“. Und die vierzehnte, letzte Zeile des Gedichts beschwört wieder den temporalen Aspekt durch das „Noch“. Das bedeutet in dieser Lesart, zur Zeit gilt noch, dass sich kein Mensch auf die Vergänglichkeit einstellt und jenseitsorientiert lebt. Denn das, „was ewig ist“, ist die Ewigkeit Gottes. Diese gilt es zu beachten und sich von der Diesseitigkeit zu lösen. Allerdings bleibt auch ein pessimistischer Rest erhalten, denn dort, wo der Mensch neu wurzelt, wird er auch wieder seine zerstörerische Kraft entfalten, der Kreislauf beginnt aufs Neue. Aus dieser tragischen Verstrickung in das Elend dieser Welt kann nur der Glaube erretten. Das „Noch“ bewahrt die Utopie und die Gewissheit, dass dieser Kreislauf beendet werden kann. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem sich die Menschen nach der Ewigkeit ausrichten werden. Das Gedicht entfaltet hiermit eine intrinsische und eine extrinsische Lesart, die Einsicht der Menschen wird eines Tages erfolgen, und sie werden die Ewigkeit Gottes „betrachten“. 4. Beispiel - Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: An Lauretten (Druck: 1695) Mit dem Gedicht An Lauretten von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679), das 1695 erstmals erscheint, liegt das Beispiel eines barocken erotischen Gedichts vor. Die Barocklyrik bedient sich- - besonders am Ende der Epoche- - einer bis dahin nicht gekannten Freiheit des erotischen Sprechens, wenn man dies streng von der pornografischen, nicht minder kunstvollen Lyrik eines Pietro Aretino (1492-1556) und seinen Sonetten I Modi (1524 / 25) [dt. Die Stellungen, 1999] abgrenzen will. Der Codierungszwang aus Gründen der Schicklichkeit und Konvention ist bei Hoffmannswaldau nahezu getilgt. Insofern kann An Lauretten durchaus auch als die Variation eines Liebesgedichts gelesen werden. Dies drängt sich besonders dadurch auf, dass der Autor einen hochliterarischen Namen für seine fiktive oder tatsächliche Geliebte wählt. Laurette ist die französisierte Namensform von Laura. Damit wird das europäische Vorbild streng codierter Liebeslyrik schlechthin zitiert, nämlich <?page no="315"?> 55 Francesco Petrarcas (1304-1374) Laura. In den Canzoniere (erstmals 1470 gedruckt) besingt er in Sonetten die unerwiderte Liebe zu Madonna Laura, die 1348 stirbt. Petrarca prägt damit eine europäische Tradition der Liebeslyrik, die sich in je verschiedenen Spielarten des Petrarkismus auf ihn beruft. Hoffmannswaldau verwendet eine softe Form der Codierung, z. B. „ oͤ ffne deinen schooß“. Er bedient sich einiger Signalwörter, die das Gedicht sofort als erotische Dichtung erkennen lassen. Neben „schooß“ sind dies „nackt und bloß“, „schwanen-brust“, „liebes-lust“, „geniessen“, „lippen k uͤ ssen“, „ausbund deiner pracht“, „lenden r uͤ hrst“, „schooß gen himmel f uͤ hrst“, „zucker-s uͤ sse lust“, „heisse brunst“, „dem zarten schoosse“. Die besungene Laurette kann als die Platzhalterin für eine konkrete historische Person verstanden werden, genauso gut aber beansprucht das Gedicht eine Allgemeingültigkeit, die Aussagen über die sexuelle Verfügbarkeit der Frau trifft. Danach kann Laurette auch als Platzhalterin für das Objekt männlichen Begehrens gelesen werden und Laurette wird die Denkfigur einer imaginierten sexuellen Begegnung. In der literarischen Tradition des Petrarkismus ist Laura der Inbegriff der Unnahbaren geworden. Zugleich verknüpft sich mit dieser Figur ein literarisches Format und strenges Schema, auf eine bestimmte Art und Weise eine Frau körperlich zu beschreiben. Dieses petrarkistische Frauenlob, das in der Barocklyrik seinen literaturgeschichtlichen Höhepunkt findet, wird in Teilen auch in Hoffmannswaldaus Gedicht abgerufen. Der Frauenkörper wird von oben nach unten beschrieben, regelrecht gescannt, von den Haaren über die Stirn zu den Augen, Nase, Wangen, Mund, Hals, Brüste, Bauch, Schoß, Schenkel, Beine. Die gedoppelte Eingangsfrage „bleibstu ewig stein? [/ ] Soll forthin unverkn uͤ pffet seyn [/ ] Dein englisch-seyn und dein erbarmen? “ fällt mit der Tür ins Haus und reduziert das literarisch-kunstvolle Vorbild Petrarca auf eine nahezu triviale Direktheit. Hoffmannswaldaus erotische Liebeslyrik ist dort anti-petrarkistisch, wo sie mit der Konvention des Frauenlobs spielt. Das Englischsein beschwört die Engelhaftigkeit der begehrten Frau und ist Ausdruck eines Restes jenes Frauenlobs, das die Frau überhöht und sie mit einem Engel vergleicht. Wenn Engelsgleichheit und „erbarmen“ eigentlich verknüpft gehören, dann bezeugt das die Auffassung, dass sich die Frau ihr Wesen auch in der körperlichen Liebe bewahren kann. Die anfängliche Doppelfrage versteckt nur unschwer diesen Appell zum Vollzug. Die „scham“, von der die zweite Strophe spricht, kann durchaus den kulturell geprägten Verhaltensstandard des sich Schämens meinen, ist aber ebenso gut deutbar als Sitz sexueller Begierde. Demnach bezieht Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="316"?> 56 2. Schritt - 17. Jahrhundert sich die „furcht“ auf die verstandesmäßige Kontrolle durch Ich und Überich und die „scham“ auf das körperliche Begehren. Der Aufruf zum „geniessen“-- womit nicht der gemeinsame Genuss, sondern nur der männliche Genuss gemeint ist- -, ist zutiefst anti-petrarkistisch. Die Kussmetaphorik greift sehr oberflächlich auf die europäische Vorstellung zurück, wonach sich beim Küssen die Seelen der Küssenden vereinen, es sich gleichsam um einen symbolischen sexuellen Akt handelt. Der Genuss soll, dies macht die Zahlenangabe deutlich, um ein Vielfaches gesteigert und wiederholt werden. Der „ausbund deiner pracht“ bezieht sich auf die gesamte Körpererscheinung der Frau oder noch weniger, auf den ganzen Körper. In der vierten Strophe bedient sich Hoffmannswaldau der barocken literarischen Standards von Tod und Vergänglichkeit, allerdings werden auch diese Themen hier sexualisiert. Wenn „dein zarter leib die bahr“ ist, dann setzt dies voraus, dass das männliche Ich auf der Frau liegt und der Geschlechtsverkehr vollzogen worden ist. Sprachlich wird das zwar noch durch den Konjunktiv Präsens abgemildert, doch die Imagination hat das vollzogen, wovon die ersten drei Strophen fantasierten. Die Drastik, mit der Hoffmannswaldau nun die Schwangerschaft der Frau beschreibt, hat nichts mehr vom Ton der hohen Liebeslyrik an sich. Dies ist die trivialisierte Schwundform des Vanitasmotivs. Die Vergänglichkeit der körperlichen Liebe wird durch die Vorstellung einer neuen Zeugenschaft kompensiert. Diese vertreten sowohl das Kind im Mutterleib als auch die späteren Liebhaber der Frau, die allesamt die sexuelle Tat des Kindsvaters loben und einen solchen Tod „in dem zarten schoosse“ als einen „sanfften tod“ feiern werden. Welches Frauenbild hierin zum Ausdruck kommt, liegt genderkritisch gesehen auf der Hand, und es bleibt schlussendlich die Frage, ob der Text gegen Ende hin nicht auch gegen sich selbst eine unfreiwillig parodistische Haltung einnimmt. Das Gedicht bleibt intentional ungebrochen, die Direktheit der Ansprache, der Beschreibung des Körpers und der Aufforderung zum Sex überschreitet die Grenze einer petrarkistischen Codierung. Literaturgeschichtlich gesehen muss man diese Direktheit und Offenheit als Zugewinn an Modi des lyrischen Sprechens begreifen, die erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Umfeld der Französischen Revolution wieder genutzt werden. <?page no="317"?> 57 Textgrundlage: Gedichte des Barock. Hgg. v. Volker Meid. 2., überarbeitete Aufl. Stuttgart 2014 (=-Reclam UB 19100). Echtermeyer. Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Auswahl für Schulen. Hgg. v. Elisabeth K. Paefgen u. Peter Geist. 20. Aufl. Berlin 2010. Lektüreempfehlungen: Gedichte u. a. von Paul Fleming, Paul Gerhardt, Andreas Gryphius, Friedrich von Logau, Angelus Silesius. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hgg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2013 (=-Reclam UB 18214). Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. Mit einem Nachwort v. Volker Meid. Durchgesehene u. bibliografisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2013 (=-Reclam UB 761). Christian Weise: Masaniello. Trauerspiel. Hgg. v. Fritz Martini. Stuttgart 2012 (=-Reclam UB 9327). Einführende wissenschaftliche Literatur: Volker Meid: Barocklyrik. 2., aktualisierte u. erweiterte Aufl. Stuttgart 2008. Dirk Niefanger: Barock. Lehrbuch Germanistik. 3., aktualisierte u. erweiterte Aufl. Stuttgart, Weimar 2012. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. 2. Aufl. München 1999. Lyrik (1641, 1643, 1637 / 1663, 1695) <?page no="319"?> 3. Schritt - 18. Jahrhundert a uFkläruNg : Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) Die Epoche der Aufklärung umfasst in der Literatur das gesamte 18. Jahrhundert. Spricht man explizit von einer literaturhistorischen Periode der Spätaufklärung, dann muss man auch noch die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts dazurechnen, obwohl 1798 / 1799 bereits die wichtigsten Textzeugnisse der Frühromantik vorliegen. Daneben sind dies die Jahre, in denen sich das Ensemble an Texten und Personen konstituiert, das unter dem Namen Weimarer Klassik in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Eine Abgrenzung zwischen dem Epochenbegriff der Aufklärung und den Periodenbegriffen Empfindsamkeit und Sturm und Drang ist weder möglich noch sinnvoll. Denn die Mischformen überwiegen. Autoren, die streng aufgeklärt auftreten, haben empfindsame Merkmale, empfindsame Autoren bedienen sich aufgeklärter Merkmale und Autoren des Sturm und Drang greifen sowohl auf aufgeklärte als auch auf empfindsame Merkmale zurück. Gleichwohl lassen sich in Texten Präferenzen erkennen und erlauben auf diese Weise eine Epochen- oder Periodenzuordnung. Empfindsamkeit und Sturm und Drang sind jedenfalls Teil der Aufklärung. Wird das 18. Jahrhundert als die Epoche der Aufklärung bezeichnet, so sind Empfindsamkeit und Sturm und Drang deren Perioden. Die Empfindsamkeit-- oder auch empfindsame Tendenz genannt-- erlebt ihren Höhepunkt in den 1750er Jahren, der Sturm und Drang in den 1770er Jahren. Während die empfindsame Tendenz ein europäisches Phänomen mit Schwerpunkten in England, Frankreich und Deutschland darstellt, ist der Sturm und Drang ein nahezu ausschließlich deutsches und deutschsprachiges Ereignis. Sturm und Drang und Empfindsamkeit sind so verstanden unveräußerliche Bestandteile aufgeklärter Literatur in gleichen und in unterschiedlichen historischen Phasen. Datiert man die erste Phase der empfindsamen Tendenz auf die Zeit von 1740 bis 1750 mit einem ersten Höhepunkt in den 1750er Jahren, so fällt die zweite Phase mit der Literatur des Sturm und Drang in den 1770er Jahren zusammen. In England hat die empfindsame Tendenz bereits nach 1700 eingesetzt, in Frankreich sogar schon ab 1650, am bekanntesten ist allerdings Jean-Jacques <?page no="320"?> 60 3. Schritt - 18. Jahrhundert Rousseaus (1712-1778) Roman Nouvelle Heloïse von 1761. In beiden Ländern sind Adelige und Bürgerliche gleichermaßen Träger der Empfindsamkeit. Um 1760 tauchen die Wörter Empfindsamkeit und empfindsam als Übersetzungen aus dem Englischen in Deutschland auf. Lessing prägt zwar nicht den Begriff, macht ihn aber bekannt, er empfiehlt den Titel von Laurence Sternes Roman Sentimental Journey (1768) als ‚empfindsame Reise‘ zu übersetzen (1768 / 69), was in der Folge zu einer Reihe von Nachahmungen in Deutschland führt. Der Einfluss der englischen moral-sense-Theorie (u. a. Shaftesbury, Hutcheson und Hume) auf die Empfindsamkeit ist beträchtlich. Nach diesem Verständnis ist der Mensch von Natur aus gut. Ihm wohnt ein moralisches Gefühl inne, das wie eine innere Stimme zwischen Gut und Böse zu unterscheiden weiß. In der deutschen Literatur verbürgt der Autor Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) die literarische und literaturgeschichtliche Verbindung von Sturm und Drang und Empfindsamkeit. Sein Name wird sogar zu einem zeitgenössischen Codewort, durch dessen Gebrauch die verwandten empfindsamen Seelen ihre Gleichgestimmtheit erkennen, ohne weitere Worte verlieren zu müssen. Der berühmteste literarische Beleg hierzu findet sich in Goethes Werther- Roman im Brief vom 16. Juni 1771. Dort berichtet Werther über eine Begegnung mit der von ihm begehrten Lotte: „Sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte-- Klopstock! Ich versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Loosung über mich ausgoß“ (S. 52). In Deutschland wird Empfindsamkeit zuerst von Bürgerlichen als Verhaltensnorm bestimmt und eingeübt und erst allmählich vom Adel übernommen. Die Geselligkeits- und Gruppenkultur der Empfindsamen umfasst Lektüreabende (bevorzugt werden Briefe gelesen), gemeinsames Gedichteschreiben und gemeinsame Unternehmungen. Daneben wird auf ästhetischem Gebiet für die Empfindsamkeit die Wirkungsästhetik der Aufklärung bedeutsam. Die Betonung des nicht nur tragischen Mitleids geht weit über die literarische Affektenlehre hinaus, sie gipfelt in Lessings Wort, „der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden-[…] der aufgelegteste“ (Trauerspielbriefwechsel, Brief an Friedrich Nicolai vom November 1756). Dies bedeutet einen enormen Verinnerlichungsschub, affektive Energien werden gebunden und in sozial verträgliche Tugenden umgewandelt. Die Literatur der Empfindsamkeit liefert die Vorbilder solcher Sublimierungszwänge und führt auch das Scheitern ihrer Helden vor Augen (wie z. B. im Werther). <?page no="321"?> 61 Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) Anfänglich bezeichnet Empfindsamkeit allgemein die moralische Zärtlichkeit, freundschaftliche Affekte der Zuneigung bis hin zur Liebe. Propagiert wird diese Denk- und Lebenshaltung vor allem in den Moralischen Wochenschriften des frühen 18. Jahrhunderts. Daneben ist aber auch die soziale Komponente von Empfindsamkeit bedeutsam, sie meint eine moralische Empfindsamkeit des tugendhaften Handelns. Statt Geburtsadel ist im Bürgertum des 18. Jahrhunderts nun von Seelenadel die Rede, der die tugendhaften Menschen auszeichnet und nicht von Geburt an vorhanden ist, sondern durch das Einhalten sozialer Regeln erworben werden kann. In der Literatur erfasst die Empfindsamkeit zwischen 1750 und 1770 alle Gattungen, sie wird regelrecht zur Mode und erreicht in den 1770er Jahren einen weiteren Höhepunkt. Erst nach 1778 tauchen abwertende Begriffe wie Empfindelei und Sentimentalität als Folge einer übertriebenen Empfindsamkeitswelle auf. Sophie von La Roche (1730-1807) schreibt mit der Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) einen der bedeutendsten empfindsamen Romane. Friedrich Leopold von Stolbergs (1750-1819) Prosahymnus Über die Fülle des Herzens (1777) gilt als empfindsamer literarischer Katechismus, in dem es um Liebe, Freundschaft, das Verhältnis zur Natur, um Religion, Tierliebe, Wissenschaft und Seelenadel geht. Der empfindsame Gefühlswortschatz hat zweifelsohne eine protestantisch pietistische Prägung. Die Betonung des Gefühls im pietistischen Selbstverständnis fördert die empfindsame Tendenz in Deutschland, doch kann nicht von der Empfindsamkeit als einer säkularisierten Form des Pietismus gesprochen werden. Die empfindsame Wirkungsästhetik der Aufklärung, wonach die Wirkung von Literatur im Mittelpunkt steht und nicht so sehr deren Produktion, erfährt durch Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) eine wesentliche Erweiterung. Die Aufgabe der Tragödie als höchster literarischer Gattung besteht seit Aristoteles in der Reinigung der Leidenschaften. Diese Reinigung definiert Lessing als die „Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten“ (Hamburgische Dramaturgie, 78. Stück, 1768) und formuliert damit einen unauflösbaren (und utopischen) Zusammenhang zwischen Literatur und gesellschaftlicher Verantwortung. Affekte sollen sozialverträglich diszipliniert oder kanalisiert werden. 1783, also am Ende der Aufklärung, wird jene Frage öffentlich gestellt, die damit das gesamte Jahrhundert der Aufklärung bilanziert: „Was ist Aufklärung? “ An dieser Debatte nehmen neben Kant unter anderem auch Wieland, Mendelssohn und Herder teil. Wenn Kant im darauf folgenden Jahr die Frage mit dem Satz beantwortet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstver- <?page no="322"?> 62 3. Schritt - 18. Jahrhundert schuldeten Unmündigkeit“ (Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Hgg. v. Ehrhard Bahr. Stuttgart 1983, S. 9, im Original kursiv), so zeigen die Dramen von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) schon einige Jahre zuvor, dass diese Unmündigkeit nicht selbstverschuldet, sondern gesellschaftlich gewollt und bedingt ist. Die sogenannten unmündigen Individuen- - sowohl das weibliche Individuum als auch der junge männliche Bürgerliche-- werden unmündig gemacht. Darauf haben bereits schon Zeitgenossen hingewiesen, wie etwa ein Brief von Johann Georg Hamann (1730-1788) vom 18. Dezember 1784 belegt, worin er über Kant und seinen Aufsatz bemerkt: „Was hilft mir das Feyerkleid der Freyheit, wenn ich daheim im Sclavenkittel.-[…] Die selbst verschuldete Unmündigkeit ist ein ebenso schiefes Maul, als er dem ganzen schönen Geschlecht macht, und das meine 3 Töchter nicht auf sich sitzen laßen werden“ (ebd., S. 22). Was also der Philosoph Kant als Antwort formuliert, entspricht dem Blick vom Ende der Epoche her und kann nur bedingt auf das Selbstverständnis des gesamten Jahrhunderts zurückprojiziert werden. Demgegenüber muss die zeitgenössische Formel für die Aufklärung in Anschlag gebracht werden, die vom Beginn des Jahrhunderts an allerorten wiederholt wird und lautet: ‚Aufklärung des Verstandes und Besserung des Herzens‘. Das ist das Programm der Aufklärung, Herz und Verstand in eine Balance zu bringen, die den allmählichen Prozess der Vervollkommnung der Menschen (zeitgenössisch als Perfektibilität bezeichnet) voranbringt. Lessing ist einer jener Literaten der Aufklärung, die sich sowohl in ihrem essayistisch-theoretischen Werk als auch in ihren fiktionalen Werken, vornehmlich dem Drama, dieser Frage und Herausforderung stellen. Als Thomas Morus (1478-1535) im Jahr 1516 seinen Gesellschaftsentwurf Utopia veröffentlichte und im Kapitel Vom Verkehr der Utopier untereinander im zweiten Buch das gesellige urbane Leben beschrieb, hatte er sicherlich auch die Praxis der Ess- und Trinkgewohnheiten seiner Zeit, die dunklen Londoner Kneipen und Spelunken vor Augen. Denn er umreißt mit seinem utopischen Gegenentwurf- - in seinen Worten- - „die soziale Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft“ (Thomas Morus: Utopia. Übersetzt v. Gerhard Ritter. Nachwort v. Eberhard Jäckel. Stuttgart 1985, S. 73) als ein literarisches Wunschprodukt. Diese Gesellschaftsform ist so streng organisiert und in sich so hermetisch strukturiert, dass es als historisches Gegenstück strenger Disziplinierung gegen den atropischen Raum der Kneipen gelesen werden kann. Sogenannte Syphogranten, welche die Vorsteher von 30 Haushalten sind, repräsentieren danach <?page no="323"?> 63 die staatliche und bürgerliche Ordnung. Essen, Trinken und Vergnügen werden so diszipliniert, dass Digressionen nicht möglich sind. In Morus’ Utopia wird jede Mahlzeit „mit Vorlesen irgendeines Textes von moralischem Inhalt“ (ebd., S. 78) eröffnet und stellt sich damit in eine mönchische Tradition strenger Observanz. Die Tischgesellschaft soll durch Musik, Süßspeisen, Leckereien, Räucherkerzen und duftende Essenzen erheitert werden. Das Fazit lautet: „So gestaltet sich das gesellige Leben in der Stadt“ (ebd.). Der Gasthof wird damit zum Entwurf eines historischen Gegenraums bürgerlicher Ordnung. Lessings Miss Sara Sampson (1755) kann als ein Initiationstext der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert gelesen werden, wenn man ihn in diesen großräumigen literatur- und kulturgeschichtlichen Horizont stellt. Die Eingangsszene des Stücks spielt in einem Gasthaus, das vom aristokratischen Vater schon mit seinen ersten Worten als Wirtshaus sprachlich und kulturtopologisch diskreditiert wird. Zugleich dient dieser Ort aber auch der Vergegenwärtigung der nomadischen Unbehaustheit des bürgerlichen Individuums innerhalb des Emanzipationsprozesses des Bürgertums im 18. Jahrhundert. Versteht man diese literarische Sequenz als eine Spiegelung der Selbstreflexion und Merkmalsbestimmung von bürgerlicher Modernität, dann können von hier aus durchaus Perspektiven auf die postmoderne Diskussion in den Kneipenromanen der Gegenwartsliteratur gezogen werden (vgl. etwa Tom Liehrs Idiotentest von 2005, Katinka Buddenkottes Betreutes Trinken von 2012 oder Ju Innerhofers Die Bar von 2013). Denkt man literatur- und kulturhistorisch weiter zurück, so ist die Bedeutung des fingierten Kneipenraums oder zumindest der Kneipenfiguration schon in Platons Symposion gegenwärtig. Johann Fischarts Geschichtklitterung (1575) hält jene berühmte rabelaissche trunkene Litanei bereit, die in der deutschen Literatur in einem frühneuzeitlichen Barockroman eine Kneipenfiguration inszeniert und dies sprachlich widerspiegelt. Das könnte unter anderem als ein entscheidendes Differenzmerkmal zu den postmodernen Kneipenromanen der Gegenwart, die überhaupt nicht erst versuchen, alkoholinduziertes Sprachwirrwarr abzubilden, verstanden werden. Lessings Drama Miss Sara Sampson erscheint im Frühjahr 1755. Zwischen Januar und März dieses Jahres soll der Autor den Text geschrieben haben, am 10. Juli 1755 erfolgt die Uraufführung. Alles in allem deutet dies darauf hin, dass das Drama schnell entstanden ist und ebenso schnell gedruckt und aufgeführt wird. Lessing liegt offensichtlich daran, mit diesem Stück seinen Beitrag zu einer aktuellen zeitgenössischen Debatte zu leisten. Diese Debatte erschließt sich aus dem Untertitel des Dramas, der Gattungsbezeichnung „bürgerliches Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="324"?> 64 3. Schritt - 18. Jahrhundert Trauerspiel“. Zwei Jahre, nachdem die erste deutsche Übersetzung der aristotelischen Poetik erschienen ist und damit das entscheidende dramentheoretische Regelwerk für alle lesbar vorliegt, veröffentlicht Johann Gottlob Benjamin Pfeil (1732-1800) ebenfalls 1755 seine theoretische Abhandlung mit dem Titel Vom bürgerlichen Trauerspiele. Ob Lessing diesen Essay, der erstmals im deutschen Sprachraum über die theoretische Begründung dieser neuen Gattung reflektiert, gekannt hat, ist zweifelhaft, mutmaßlich handelt es sich um einen jener geschichtsträchtigen Zufallsmomente. Nach Pfeils Vorstellung soll ein Trauerspiel Tugend und Laster gleichermaßen zur Darstellung bringen. Das Ziel oder der „Endzweck“ einer Tragödie sei es, „die Tugend verehrungswürdig und beliebt und das Laster verächtlich und verabscheuungswürdig zu machen“ (zitiert nach: Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart, Weimar 1995, S. 147). Das Theater würde damit einer Sittenschule noch ähnlicher. Pfeil grenzt in seiner sozialdistinkten Argumentation den Adel von den Bürgerlichen und die Bürgerlichen von dem Pöbel ab. Während Bürgerliche derselben Leidenschaften fähig seien wie die adligen Helden auf der Bühne, sei der Pöbel „zu einer großen Tugend zu dumm, und zu einem großen Laster, wie es auf der Schaubühne vorgestellt werden muß, wenn es einen Eindruck machen soll, zu verzagt“ (zitiert nach: ebd., S. 148). Daher bieten Charaktere aus den unteren und untersten Gesellschaftsschichten keine geeigneten Projektionsflächen, um die erforderliche Disziplinierung der Leidenschaften beim bürgerlichen Publikum zu erzielen. Der emanzipatorische Gestus, mit dem Pfeil zu Beginn seiner Abhandlung die eingespielte Gattungsdistinktion aufbricht, wonach das Trauerspiel nur Helden aus der oberen Gesellschaftsschicht zuließ, führt auf der anderen Seite im gesellschaftlichen Bezugsfeld Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Abgrenzung nach unten. Die Emanzipation des eigenen, bürgerlichen Standes wird durch die Sozialdistinktion dem Pöbel gegenüber gesichert. Von Pfeil wie auch zeitgleich von Lessing wird der Anspruch vorgetragen, dass die Bürgerlichen einer neuen, schichtenspezifischen Diskursform bedürfen, und das ist das bürgerliche Trauerspiel. Diese Dramenform dient der bürgerlichen Selbstreflexion, also der Verständigung darüber, was wir Menschen als Bürgerliche sind, was uns ausmacht, was wir können. Pfeil sagt unmissverständlich, wie der Bürger anders als der Adlige spreche, „so wird sich der Bürger anders als der Pöbel ausdrücken“ (zitiert nach: ebd., S. 148), und das bedeutet den Verzicht auf Versifikation im bürgerlichen Trauerspiel. Pfeil erklärt die Fähigkeit einer Disziplinierung von Leidenschaften als ein genuin bürgerliches Vermögen. „Man wähle die <?page no="325"?> 65 handelnden Personen niemals aus dem Pöbel“, warnt er, „kein Schneider, kein Schuster ist einer tragischen Denkungsart fähig“ (zitiert nach: ebd., S. 149). Wer Gelegenheit hatte, seinen Verstand aufzuklären oder sein Herz zu bessern (also das zentrale Programm der Aufklärung zu erfüllen! ), gehöre zu jenem „Mittelstand zwischen dem Pöbel und den Großen“, aus dem sich die tragischen Charaktere bilden, und das seien die Bürgerlichen. „Aus dieser Klasse müssen wir die Charaktere der handelnden Personen hernehmen. Diese Leute sind jederzeit desjenigen Grades der Tugend und des Lasters fähig, den die tragische Schaubühne erfodert, wenn sie ihre Absicht erreichen will“ (ebd.). Am Anfang von Lessings Stück steht die Gattungsbezeichnung als Untertitel: „Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel, in fünf Aufzügen“, und am Ende des Stücks heißt es „Ende des bürgerlichen Trauerspiels“ (Zitatbelege zur Sara Sampson, sofern sie sich nicht selbst erschließen, nur mit Akt- und Szenenangabe). Lessing will also sein Drama als einen Beitrag verstanden wissen zu dieser aktuellen Debatte in der zeitgenössischen Literatur: was ist ein bürgerliches Trauerspiel? Das Drama The London Merchant (1731; dt. 1752) des Engländers George Lillo (1691-1739) war überhaupt das erste bürgerliche Trauerspiel in der Literaturgeschichte. Lessing legt, vor allem wenn man die Wirkungsgeschichte seines Stücks bis heute berücksichtigt, den wichtigsten Referenztext in der deutschen Literatur vor. Erst im Nachdruck von 1772 lässt er das entscheidende neue Adjektiv bürgerlich weg, das ihm seit 1749 bekannt ist. Auch in der Einleitung zu seinen Übersetzungen Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele (1754) kommt er auf die neue Gattungsbezeichnung beiläufig zu sprechen. Und im sogenannten Trauerspielbriefwechsel (1756 / 57) mit Moses Mendelssohn (1729-1786) und Friedrich Nicolai (1733-1811) wird es ausführlich um die Bestimmung der Funktion und Wirkung eines (bürgerlichen) Trauerspiels gehen. Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) Lessings Sara Sampson wird nach seinem Erscheinen viel gelesen, viel gespielt, viel diskutiert. Was die Vorlagen und Quellen zum Stück, zur Motiventfaltung (wie etwa das Verführungsmotiv, das Motiv des Meineids, das Motiv der Musterfamilie) und zur Figurenrede betrifft, hat die Forschung zahlreiche Referenzstellen aus der einschlägigen zeitgenössischen Literatur ausgemacht. So sind etwa alle Personennamen des Stücks englischen Dramen oder Romanen entnommen. Lessing geht frei und großzügig mit seinen Vorlagen um. Man Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="326"?> 66 3. Schritt - 18. Jahrhundert könnte heute fast schon von einem Cross-over-Stück sprechen, in dem Lessing seine eigenständige Poetik des Mitleids zur Anschauung bringt. Die Personen sind dem Reservoir des englischen Landadels entnommen. Das erstaunt zunächst, soll es sich doch um ein bürgerliches Trauerspiel handeln, worin bürgerliche Verhaltensstandards und Bewusstseinsformen, Denkweisen und Gepflogenheiten zur Anschauung gebracht werden. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man das als Erklärungsschlüssel hinzuzieht, was Lessing selbst als die „Regel des Contrasts“ (Vom weinerlichen oder rührenden Lustspiel, in: Lessing: Werke und Briefe. Frankfurt a. M. 2003, Bd. 3, S. 280) bezeichnet. Um eine Tragödie besonders eindrucksvoll zu gestalten, muss beispielsweise neben der Tugend auch die Untugend dargestellt werden. Übertragen auf die soziale Herkunft der Figuren und den Spielort des Stücks heißt dies, dass bürgerliche Verhaltensweisen und Werte sowie die Reflexionen darüber am Beispiel adliger Repräsentanten exponiert werden. Ein ähnliches Verfahren wählt auch Friedrich Schiller noch ein knappes halbes Jahrhundert später in seiner Tragödie Maria Stuart (1800), wo er in einer sehr intimen Szene die Königin von Schottland Maria und die Königin von England Elisabeth aufeinander prallen lässt und ihre Verhaltensweisen als genuin bürgerliche Verhaltensweisen entlarvt, obwohl die beiden Frauen Repräsentantinnen des europäischen Hochadels sind. In Lessings Stück dient der Gasthof also als Ort der symbolischen Veranschaulichung der Heimatlosigkeit des Bürgertums, das seine soziale, schichtendistinkte Identität zu dieser Zeit innerhalb der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts noch nicht gefunden hat. Auch der Hinweis in der Regieanweisung darauf, dass Sir Sampson und sein Diener Waitwell die erste Szene noch in Reisekleidern betreten, hebt diesen Eindruck einer noch nomadischen Existenz von Bürgerlichkeit hervor. Die durch die Figuren dargestellten bürgerlichen Auffassungen und Verhaltensweisen werden doziert und agiert, das Stück schwankt dann zwischen einem starren, figurierten Traktat über die Richtigkeit moralischen Handelns und einer dynamischen, sentenzorientierten Tragödie. Sara ist seit neun Wochen auf der Flucht. Die Zahl neun ist vielleicht ein dezenter Hinweis auf eine denkbare, zu erwartende Schwangerschaft, sofern der Vater sie nicht finden kann. Denn dass es sich um eine Verführung seiner Tochter handelt, wird sofort thematisiert. Allerdings ist es der unterschichtige Diener Waitwell, der diesen Sachverhalt unverstellt und uncodiert als das bezeichnet, was es ist: Sara ist „so verführt“ (I / 1). Ein breites Arsenal empfindsamer Sprache und empfindsamer Denkfiguren wird in dieser Eingangsszene entfaltet. Das Gewissen wird angesprochen, der Vater weint, die Tränen fließen, <?page no="327"?> 67 die ersten „Achs“ von über 60 weiter folgenden gleichen Interjektionen werden geseufzt, die väterliche Zärtlichkeit wird als Schwachheit angesprochen und exponiert das Schema der Selbstanklage. Tugendhaftigkeit und Liebe sind als bürgerliche Verhaltenswerte sprachlich markiert, und schließlich stellt der Vater Sampson die bürgerlichen Moralvorstellungen in Frage, indem er das Verhalten Saras rechtfertigt. Er verteidigt ihre Verführbarkeit und ihre Flucht, das sei „besser als erzwungene Tugenden“ (I / 1). Der Autor Lessing ermöglicht dadurch die Reflexion darüber, inwiefern die Rigorosität und Normativität der bürgerlichen Moralvorstellungen überhaupt gerechtfertigt sind und wo im Spannungsfeld von Gesellschaft und Gewissen die Alternativen dazu liegen. Der Vater bringt diese Haltung jenseits einer affektiven Reaktion auf den Punkt, indem er ausführt, lieber von einer lasterhaften Tochter als von gar keiner geliebt zu werden. Tugendhaftes Handeln muss demnach authentisch sein und nicht nur in der Befolgung starrer Normen und Regeln erkannt werden. Der Vater entfaltet damit einen utopischen Horizont, vor dem das weitere Agieren der Figuren gesehen werden muss, und der weit weg ist von der gesellschaftlichen Wirklichkeit der 1750er Jahre. In der dritten Szene wird wiederum von einem Diener, dieses Mal ist es Mellefonts Diener Norton, eine zentrale Denkfigur bürgerlicher Selbstbestimmung eingeführt, es ist der Begriff des Mitleidens. Mitleid als eine dramentheoretische Wirkungskategorie ist bereits in der aristotelischen Poetik (vgl. 1449 b 24-27; Kap. 6) fest verankert, sie bestimmt den abendländischen poetologischen Diskurs maßgeblich und wird nun bei Lessing zum zentralen und exklusiven Bestimmungs- und Erkennungswort von Bürgerlichkeit. Denn Mitleid ist demnach dasjenige Verhaltensmerkmal, das weder die Unterschichtigen noch die Adligen entfalten können, sondern das allein die Bürgerlichen auszeichnet. Das Mitleid und die Furcht sind tragische Leidenschaften, die die Wirkung einer Tragödie bestimmen. Beides sind Affekte, die durch die Tragödie bei den Zuschauern oder Lesern ausgelöst werden sollen und Affekte, die in der Tragödie zur Darstellung gelangen, um bei den Zuschauern einen Identifikations- oder Gegenidentifikationsprozess in Gang zu bringen. Furcht bedeutet die Furcht des Rezipienten, bei gleichem Handeln ein ähnliches tragisches Schicksal zu erleiden wie der Protagonist auf der Bühne. Mitleid bedeutet die Anteilnahme am tragischen Schicksal dieser Person. Eine Tragödie soll nach der aristotelischen Tragödienlehre Furcht (heutzutage übersetzt mit Schaudern) und Mitleid (heutzutage übersetzt mit Jammer) erwecken und die Zuschauer von derartigen Erregungszuständen reinigen (Aristoteles nennt dies Katharsis). Darin Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="328"?> 68 3. Schritt - 18. Jahrhundert besteht das der Tragödie eigentümliche Vergnügen. Im 18. Jahrhundert setzt im Zuge des bürgerlichen Emanzipationsprozesses eine breite dramentheoretische Diskussion ein, in der Furcht und Mitleid zeitweise eine zentrale Rolle spielen. Johann Christoph Gottsched (1700-1766) hält in seinem gewichtigen Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) zwar noch an der ursprünglichen moralisch-didaktischen Funktion der Tragödie fest, wobei Schrecken und Mitleiden elementare Bestandteile sind. Lessing deutet aber in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767 / 69) Aristoteles um, indem er die Furcht dem Mitleid unterordnet. Furcht sei „das auf uns selbst bezogene Mitleid“ (75. Stück) heißt es dort, er integriert es in die neue Gattung des bürgerlichen Trauerspiels als letztlich einzige tragische Leidenschaft. Mitleid wird im Sinne der Empfindsamkeit als Sozialtugend verstanden. „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“, schreibt Lessing an Nicolai (s. o., Trauerspielbriefwechsel). Lessing entwickelt eine regelrechte Mitleidsästhetik oder auch Poetik des Mitleids genannt, die im Zusammenhang der empfindsamen Tendenz des 18. Jahrhunderts gesehen werden muss. Das Ziel der Tragödie heißt nun: „Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten“ (s. o., Hamburgische Dramaturgie, 78. Stück). Der Diener Norton ist es im Stück, der den Verführer Mellefont auf das fehlende Mitleid mit Sara stößt, denn Mellefont ertrinkt in Selbstmitleid. Zugleich verknüpft Mellefont die Denkfigur des Mitleids mit der Instanz des individuellen Gewissens. Nur wer ein Gewissen hat, kann Mitleid empfinden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, wer gewissenlos ist, ist mitleidlos. Zu diesem Zeitpunkt trifft dies auf Saras Geliebten zu, denn zum einen sieht er sich selbst als Opfer, das von Frauen verführt wurde, zum anderen unterstellt er jenen Frauen, die er selbst verführt hat, dass sie auch verführt werden wollten (vgl. das Ende von I / 3). Und schließlich wird in dieser Szene der Begriff der Tugend mit dem Begriff der Unschuld, und das bedeutet in diesem Kontext der sexuellen Unschuld, verknüpft. Seine Unschuld bewahren heißt, tugendhaft bleiben und sich selbst als beispielhaft bürgerlich exponieren. Davon berichten alle bürgerlichen Trauerspiele. Mellefont hat Sara ein Heiratsversprechen gegeben, dessen Einlösung er wieder und wieder verschiebt. Sara beginnt an der Ernsthaftigkeit und Wahrheit des Versprechens zu zweifeln, Mellefont weiß sie immer wieder zu beruhigen und zu vertrösten. Dann taucht Mellefonts ehemalige Geliebte Marwood auf, mit der er eine gemeinsame Tochter hat. Die Trennung von ihr verlief sehr unschön und keineswegs einvernehmlich, so dass Marwood nun ihm nachreist und auf Rache sinnt. Doch zunächst schickt Sara ihre Dienerin Betty zu <?page no="329"?> 69 Mellefont, um ihr Erscheinen anzukündigen. Die Frage, weshalb die beiden Geliebten so förmlich miteinander umgehen, stellt sich auf der Textebene nicht. Mellefont ist so aufgeregt, da er nicht weiß, wie er sich verhalten soll, und so nervös, dass er nun einen Halbsatz spricht, der sich als Interpretament des Textes erweisen wird: „Wie schlägt mir das Herz -“ (I / 5). Der Anakoluth als Stilfigur, also das Auslassen dessen, was eigentlich noch gesagt werden sollte, offenbart natürlich einen Einblick in die physiologische und in die psychische Dimension der unmittelbar bevorstehenden Begegnung mit Sara. Sara wird diesen Halbsatz ebenfalls gebrauchen, wortwörtlich spricht sie ihn in IV / 1: „Wie schlägt mir das Herz -“. Sie fügt aber ein Wort hinzu, das 16 Jahre später durch Goethe einen Meilenstein in der deutschen Literaturgeschichte markieren wird. Sara spricht: „Wie schlägt mir das Herz- -- […] geschwind“. Goethe wird eines seiner sogenannten Sesenheimer Gedichte, die er an die angebetete Friederike Brion aus Sesenheim richtet, im August 1771 mit den Worten eröffnen: „Es Schlug mein Herz, geschwind-[…]“, später in der Druckfassung 1775 geändert in: „Mir schlug das Herz; geschwind“ (Goethe: Münchner Ausgabe, Bd. 1.1, S. 160 bzw. 834). Natürlich zitiert er hier nicht absichtsvoll Lessing, dazu ist diese Aussage viel zu allgemein und alltagssprachlich. Sondern etwas anderes ist bedeutend, Lessing wie Goethe (und viele andre Autoren) verwenden diesen Halbsatz, um die Dichte und Komplexität dieser psychischen Situation sprachlich zu fassen, nämlich die Begegnung der beiden Geliebten oder eben ihre Trennung, wie sie bei Goethe markiert ist. Der Herzschlag ist der Takt des Lebens, auch im Gedicht. In I / 6 ist erstmals Sara zu sehen und zu hören. Ihr erstes Wort ist ein „Ach“, womit sie sogleich die Bühne empfindsamer Selbstdeutung betritt. Die genderspezifischen Verhaltensweisen sind eingeübt und greifen auch sofort. Mellefont erklärt Sara für schwach, woraufhin sie sich setzt. Für ihr Insistieren auf einer bürgerlichen Heirat macht sie ihre „weibliche Denkungsart“ (I / 7) verantwortlich. Ihr Herz und ihr „inneres Gefühl“ (ebd.)- - womit sie die moral-sense- Haltung zitiert-- wehren sich gegen eine Rationalisierung und damit gegen das Verständnis von Mellefonts vorgeblichen Beweggründen. Sara macht damit ihre Intuition stark, die sie vor der Gefahr warnt, die von ihrem leichtlebigen Geliebten ausgeht. Mellefonts Vernunft ist eine instrumentelle Vernunft, die sogar verkennt, dass seine „vernünftige Sara“ (ebd.) keineswegs vernünftig ist. Saras Ängste erklärt er schlichtweg als Einbildungen. Sara bittet sogar um „Erbarmen“ (ebd.)-- ein an die christliche Mitleidsethik gemahnender Begriff, der Mellefont aber fremd ist. Sie erzählt ihm von ihrem Traum, der ihre Ver- Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="330"?> 70 3. Schritt - 18. Jahrhundert lustängste realisiert. Sie lässt es offen, ob es Liebe oder Verführung war, die sie Mellefont folgen ließen, zugleich aber bezeichnet sie es als Ehre ihn lieben zu dürfen. Sara macht sich also klein, unterwirft sich Mellefonts zweckorientiertem Handeln. Sie will ihr Gewissen beruhigen und wehrt sich dagegen, als tugendhaft zu gelten. Wenn Tugendhaftigkeit aber als jenes Handeln verstanden wird, das nur seinem Gewissen und dem inneren Differenzierungsvermögen für gut und schlecht folgt, dann ist Sara natürlich der Inbegriff für Tugend. Lessing führt in der Figur der Sara diese Ambivalenz vor Augen: Was als sozial untugendhaft gilt, kann individuell durchaus tugendhaft sein. Damit wird der bürgerliche Tugenddiskurs insgesamt fragwürdig, wie auch der weitere Verlauf des Stücks zeigt. Ein Brief erreicht Mellefont, worin das Erscheinen seiner Exgeliebten Marwood angekündigt wird, die ihn zudem auch sprechen will. Der zweite Akt zeigt Marwood, die in einem anderen Gasthof nächtigt. Im Eingangsgespräch mit ihrer Bedienten Hannah offenbart sie ihre wirklichen Absichten, sie sinnt auf Rache dafür, dass sie von Mellefont sitzen gelassen und gegen Sara ausgetauscht wurde. Diese Kränkung kann sie nicht überwinden. In II / 3 begegnen sich beide und begrüßen sich mit den epochenspezifischen Interjektionen von Ha und Ach. Mellefonts Gefühlslage wird in der Regieanweisung als wild beschrieben, während Marwood sich hinter dem empfindsamen Seufzer verbirgt. Sie versucht die Liebe Mellefonts zu Sara klein zu reden, sie als ein Produkt seines Begehrens darzustellen, die „Begierden“ solle man-- das bedeutet in dieser Lesart Mann-- sich „austoben lassen“ ( II / 3). Interessanterweise spiegelt sie damit lediglich Mellefonts Einstellung ihr selbst gegenüber. Ihre Empfehlung, die Leidenschaften würden am ehesten überwunden, wenn man ihnen freien Lauf ließe, wiederholt also nur dasjenige Verhalten, das sie vor kurzem als schändliche Untreue durch ihn erfahren hat. Mellefont verteidigt Sara, für ihn ist sie der Inbegriff von Tugendhaftigkeit, und durch sie habe er selbst erst den Unterschied zwischen Liebe und Wollust (das zeitgenössische Wort für Sex) unterscheiden gelernt. Für Marwood ist der weibliche Tugenddiskurs nichts anderes als Teil einer raffinierten Verführungsstrategie. Schließlich bringt sie jenen Begriff ins Gespräch ein, mit dem Sara kurz zuvor Mellefont zur Einsicht bewegen wollte: Erbarmen. Er solle mit ihr Erbarmen haben, da sie für ihn alles aufgeopfert habe, „Geschlecht, Ansehen, Tugend und Gewissen“ ( II / 3). Erbarmen heißt für Marwood aber ausschließlich, Mellefont als Geliebten zurück und als Mann dauerhaft zu gewinnen. Das bedeutet, dass die beiden Frauen Marwood und Sara gleichermaßen den mitleidsethischen Begriff des Erbarmens instrumentalisieren, um den Mann in eine bürgerlich <?page no="331"?> 71 beglaubigte Partnerschaft, also in eine Ehe zu zwingen. Als Marwood merkt, dass Mellefont sich gegen diesen Zugriff wehrt, lässt sie die gemeinsame Tochter Arabella herein bitten. Nun unterscheidet Marwood ihr eigenes Erbarmen von demjenigen Mellefonts. Sie empfinde ein „wahres Erbarmen“ ( II / 4) gegenüber ihrer Tochter, die ihren Vater erstmals kennenlernt, während Mellefont nur über ein „eigennütziges, weichherziges Erbarmen“ (ebd.) verfüge, das sich der Vaterpflicht entzieht und nur seiner „Lust“ (ebd.) folgt. Marwood bemerkt nebenbei, dass sie auch Saras Vater den Aufenthaltsort seiner Tochter und ihres Geliebten mitgeteilt habe, und offenbart damit ihre eigentliche Intention. Sie will durch die Kraft der Intrige eine bürgerliche Familienordnung konstituieren. Die eigentliche Intrige Marwoods besteht also darin, dass sie die zerstörte Schrumpffamilie Sampson- - denn die Mutter Saras ist bei ihrer Geburt gestorben, sie fühlt sich an ihrem Tod schuldig und bezichtigt sich als Muttermörderin, sie ängstigt sich sogar, auch noch eine vorsätzliche Vatermörderin zu werden (vgl. IV / 1)-- wiederherzustellen gedenkt, indem sie dem Vater den Aufenthaltsort der Tochter mitteilt und zugleich der Rivalin den Geliebten wegnehmen will. Marwood will also zwei Familien konstituieren, einmal die Familie Sampson durch die Rückkehr Saras zu ihrem Vater, zum anderen die Familie Marwood- Mellefont durch die Rückkehr des Geliebten und Vaters ihres Kindes Arabella. Die Frage nach der Familie und die Frage nach den Bindungsbedingungen bürgerlicher Partnerschaft erweisen sich somit als die zentralen Themen dieser Tragödie. Und für den Zuschauer bleiben die Entwicklung dieses Konfliktes und seine Lösung am Ende das eigentlich spannende Thema. Die Rivalität zwischen zwei Frauen indes gehört zum literarischen Repertoire kulturellen Wissens. Der Streit zwischen Marwood und Mellefont, der zwischenzeitlich vergessen lässt, dass Sara Sampson die eigentliche Hauptfigur (und Titelfigur) des Stücks ist, gipfelt in dem barbarischen Ausruf Marwoods: „Sieh in mir eine neue Medea! “ ( II / 7) Was meint sie damit, was versteckt sie hinter ihrem vieldeutigdrohenden Satz, Mellefont werde sie verstehen? Lessing betreibt an dieser Stelle die Aufklärung der eifersüchtigen und enttäuschten Medea-Frau, weit über die Figur der Marwood hinaus. Lessings Marwood will zunächst den ehemaligen Geliebten erdolchen, der ihr aber in den Arm fällt. Immerhin ist zu diesem Zeitpunkt das gemeinsame Kind Arabella schon einige Jahre alt, von einem Kindermord-- als Merkmal eines Medea-Diskurses-- im herkömmlichen Sinn der Tötung eines Neugeborenen unmittelbar nach der Geburt kann also nicht gesprochen werden. Marwood wird diese Tat auch nicht begehen, der Autor hat die Gewaltfantasien der Figur nur beschrieben, er hat sie diskursiviert, er hat Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="332"?> 72 3. Schritt - 18. Jahrhundert zur Sprache gebracht das, was der Medea-Mythos für ihn beinhaltete, nämlich die grausame Mutter. Die Integration dieser Medea-Figur in ein bürgerliches Trauerspiel durch Lessing holt das nach, was sich realhistorisch längst vollzogen hat. Kindsmord ereignet sich auch in der bürgerlichen Schicht und ist kein Unterschichtenphänomen. Schon wenige Jahre später werden junge Autoren des Sturm und Drang genau an diesem Punkt anknüpfen, vorneweg Goethes Gretchen-Figur im Urfaust (1772 / 75) und Heinrich Leopold Wagner (1747-1779) in seiner Kindermörderin (1776). In der darauffolgenden Szene bereut Marwood bereits ihre Worte. „Wer bringt mich zu so unnatürlichen Ausschweifungen? Sind Sie es nicht selbst? Wo kann Bella sicherer sein, als bei mir? Mein Mund tobet wider sie, und mein Herz bleibt doch immer Mutter. Ach, Mellefont, vergessen Sie meine Raserei, und denken, zu ihrer Entschuldigung, nur an die Ursache derselben“ ( II / 8). Marwood macht den Mann ursächlich für ihre Gewaltfantasien verantwortlich und benennt damit ein Tatmotiv für einen möglichen Kindsmord, das in der nicht-fiktionalen Literatur nur selten von den Frauen geäußert wird. Es ist die Enttäuschung über oder der Hass auf den Kindsvater. Meist liegt dem ein nicht eingehaltenes Eheversprechen zugrunde. Die Schwangere sieht sich plötzlich mit familiären und sozialen Problemen allein gelassen, die zu lösen ihre individuellen Möglichkeiten übersteigt. Marwoods Gewaltfantasie macht deutlich, dass die Frau nicht nur aus Vorsatz tötet, sondern im Kind auch oder gerade den Vater töten will. Eine Verschiebung des Aggressionsobjekts vom Vater auf das Kind gilt als ein wesentliches, kriminologisch und psychoanalytisch erklärbares Tatmotiv. Der als Trauma erfahrene Verlust des Partners durch Trennung drängt die Kindsmörderin, den Partner im gemeinsamen Kind zu rächen. Im Kind wird der Kindsvater getötet. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, wie Lessing das Selbstbewusstsein und die Selbstdarstellung des Kindsvaters gestaltet. Schon im ersten Akt behauptet Mellefont ja von sich, „ich ward öfter verführet, als ich verführte, und die ich selbst verführte, wollten verführt sein“ (I / 3). Erst in der letzten Szene des Stücks bekennt sich Mellefont als ein Verführer, allerdings nicht als Marwoods Verführer, obwohl er dies objektiv ist, sondern als Sara Sampsons Verführer. Ob das nun tatsächlich als binnenpsychologische und damit figurenlogische Selbsteinsicht gedeutet werden darf oder nicht auch ein Zugeständnis an die Erwartungen eines empfindsamen bürgerlichen Trauerspiels ist, bleibt offen. Die überhöhte, empfindsame Frau stirbt, ihr Verführer zeigt sich einsichtig und reuig und wird zuletzt sogar vom Vater Saras im Tod mit seiner Tochter vereint. <?page no="333"?> 73 Im dritten Akt versucht der Vater Kontakt zu seiner Tochter herzustellen. Zunächst brieflich, der Diener Waitwell, mit dem Sir Sampson angereist ist, soll Sara den Brief aushändigen. Der Vater bezichtigt sich, für Saras Unglück und damit auch für seine eigene Situation verantwortlich zu sein. Auch er bastelt an einer bürgerlichen Wunschfamilie, er will den „Verführer“ ( III / 1) Mellefont zu seinem Sohn machen. Waitwell soll in Saras „Gesichte lesen“ (ebd.), wie ihre Reaktion ausfällt. Sampson verlangt also physiognomische Kenntnisse von seinem Diener. Dazwischen schiebt Lessing das Gespräch zwischen Sara und Mellefont, das im Zimmer Saras geführt wird. Der Blick der Intimisierung als ein Attribut von Bürgerlichkeit bleibt erhalten. Waitwell tritt nun auf und übergibt Sara den väterlichen Brief. Sie beschuldigt sich, ihre Tugend aufgegeben zu haben, sie entwickelt in III / 3 eine regelrechte Selbstbestrafungsfantasie. Waitwell versichert sie der „Liebe und Vergebung“ ( III / 3) ihres Vaters. Er lenkt Saras Aufmerksamkeit darauf, dass sie die Gelegenheit, ihr Fehlverhalten wiedergutzumachen, auch ergreifen und sich der Lektüre des Briefes aussetzen müsse. Saras Monolog in III / 4 reflektiert nicht nur ihre eigene Befindlichkeit, sondern thematisiert auch grundsätzlich die Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens. Der äußerliche Anlass ist die Tatsache, dass sie nicht weiß, was sie ihrem Vater brieflich antworten soll. Sie setzt sich zum Schreiben nieder, wie es in der Regieanweisung heißt, sie hat bereits die Schreibfeder in der Hand, um sich dann die entscheidende Frage zu stellen: „Weiß ich aber auch schon, was ich schreiben soll? Was ich denke; was ich empfinde. -“ ( III / 4) Sie befragt sich danach, was die allgemeinen sozialen, kommunikativen und affektiven Standards des Handelns in einem vergleichbaren Fall sind. „Was denkt man“ und „was empfindet man“ (ebd.). Sara versucht sich daran zu orientieren, wie diese allgemeinen definierten Standards aussehen. Nach einem langen Gedankenstrich, der in einer Aufführung des Stücks durch eine entsprechende Pause im Monolog realisiert wird, erkennt sie, dass sie sich nicht an dem orientieren darf, was gesellschaftlich gefordert wird, sondern sie besinnt sich auf die Selbstbezüglichkeit ihres Schreibens: „- Ich muß doch schreiben-- Ich führe ja die Feder-[…]“ ( III / 4). Darin liegt die eigentliche Bedeutung dieses Monologs in III / 4, dass Sara ihre bürgerliche Identität-- sie ist alphabetisiert und beherrscht die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens-- und ihre Geschlechtsidentität entdeckt und stark macht. Damit wertet sie sowohl den Akt des Schreibens als eine bürgerliche Kompetenz als auch ihre eigene Bedeutung als ein weibliches, bürgerliches Individuum auf. Nach einer weiteren kurzen Denkpause-- in der Regieanweisung heißt es, sie denke ein wenig nach-- beginnt sie zu schreiben, Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="334"?> 74 3. Schritt - 18. Jahrhundert streicht das Geschriebene aber sofort wieder durch, da sie nicht mit einem Bezug auf die väterliche Liebe, sondern mit der Darstellung ihres „Verbrechen[s]“ (ebd.) beginnen will. Die Selbstreflexion schließt sie mit einer verstörenden Bemerkung ab: „Ich darf mich nicht fürchten, in Übertreibungen zu geraten, wenn ich auch schon die gräßlichsten Züge anwende“ ( III / 4). Dieses Bekenntnis zur hyperbolischen Selbstdarstellung greift auf Techniken der rhetorischen Tradition zurück. Sara wird sich in ihrem Brief der Mittel der Übersteigerung, der Zuspitzung und der Übertreibung bedienen. Die Absicht ist offensichtlich: Je grässlicher sie ihre Verbrechen darstellt, desto größer wird die liebevolle Reaktion des Vaters und seine Bereitschaft zur Verzeihung sein. Sara gibt sich an dieser Stelle des Stücks als eine berechnende Tochter zu erkennen, obwohl sie bereits im Brief des Vaters dessen Versöhnungsangebot erhalten hat (vgl. III / 5). Vom Text her bleibt unklar, weshalb sie sich genötigt sieht, sich solcher Übertreibungen zu bedienen. Es ist die andere berechnende Frau, die sie beim Schreiben unterbricht. Mellefont und Marwood erscheinen. Die Szene deckt auf, dass Sara mutmaßlich schwanger ist, denn Marwood spricht von den „Früchte[n] ihrer Liebe“ ( III / 5) und bestätigt damit etwas, was Sara selbst kurz zuvor, als Waitwell ihr den väterlichen Brief bringt, mit Blick auf ihr „Verbrechen“ so beschrieben hatte: „Die Folgen desselben vor seinen Augen fortdauren zu sehen“ ( III / 3), könne sie dem Vater nicht zumuten. Worauf Waitwell nur antwortet, er wisse nicht, ob er das richtig verstehe. Damit erklärt sich auch, weshalb Sara mit solcher Vehemenz darauf besteht, dass Mellefont sie heiratet. Auch der exponierte Hinweis auf die Zahl Neun, nämlich darauf, dass die Dienerin Betty seit neun Wochen in Saras Diensten steht und Sara seit neun Wochen auf der Flucht ist, kann als verstecktes Signal auf eine neunmonatige Schwangerschaft gelesen werden. Und schließlich spricht Marwood in IV / 8 von „diesen Umständen“, in denen sich Sara befinde. Zumindest doppeldeutig ist dies, und von der Bühnendezenz her gesehen wäre es für Lessing völlig unmöglich gewesen, mehr als nur andeutungsweise davon zu sprechen. Sara gibt den Brief ihres Vaters auch der Marwood zu lesen. Damit sind deren intrigante Pläne zunächst durchkreuzt. Denn wenn Sir Sampson Sara vergibt und Mellefont als seinen Sohn annehmen will, dann kann sie nicht mehr darauf hoffen, dass dieser mit ihr und Arabella eine Familie gründet. Am Ende der Szene will Sara ihren begonnenen Antwortbrief fortsetzen und wird wieder unterbrochen. Nun erscheint ihre Dienerin Betty, und am Ende beschließt Sara, den Brief gemeinsam mit Mellefont zu schreiben. Szene III / 7 <?page no="335"?> 75 beschwört für einen kurzen Moment die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft, wenn Sir Sampson sich von Waitwell Saras Reaktion auf seinen Brief berichten lässt und den Diener mit den Worten belohnt, dass er von nun an eben nicht mehr sein Diener sei. „Ich will allen Unterscheid [! ] zwischen uns aufheben“ ( III / 7), bekennt er. Das Herrschaftsverhältnis zwischen Mellefont und seinem Diener Norton hingegen ist der Kontrast dazu, denn Mellefont empfindet Norton nur als Störung (vgl. IV / 3). Sir Sampson bastelt also nicht nur an einer Ersatzfamilie, indem er Mellefont als Sohn zu akquirieren versucht, sondern er versucht sich auch an einer ständefreien Gesellschaft. Das ist eine bemerkenswerte Haltung und ein außergewöhnliches bürgerliches Selbstverständnis, das Lessing auf diese Figur projiziert. IV / 1 zeigt einen Mellefont, der sich schuldig bekennt am Verbrechen, Sara verführt zu haben. Doch das Gespräch zwischen ihm und Sara entwickelt sich in eine andere Richtung, ein regelrechter Wettbewerb zwischen den beiden um die größte Schuld beginnt. Mellefont äußert seine Absicht, Saras Vater auch einen Brief schreiben zu wollen, um sie zu beruhigen. Er will letztlich Saras „kleinen innerlichen Sturm“ ( IV / 1) und damit sie selbst stillstellen. Die letzten leisen Zweifel an der großzügigen Liebe des Vaters, die den Verführer an Sohnes statt anzunehmen bereit ist, zerstreut Mellefont mit einem zweckrationalen Diskurs. Das „rebellische Etwas“ ( IV / 1), wie es Sara nennt, das sich gegen ein absolutes Vertrauen in das väterliche Vergebungsangebot wehre, sei nichts anderes als „eine natürliche furchtsame Schwierigkeit, sich in ein großes Glück zu finden“ ( IV / 1). Mit anderen Worten, es sei ganz natürlich, dass Sara noch zögere, sie solle vertrauen, was Sara auch mit der Begründung tut, weil er es sage und sie es sich wünsche, wolle sie es glauben. Die Eingangsworte Mellefonts zur nächsten Szene entlarven seine rationale Erklärung als Teil einer Strategie. Die Aussicht Sara heiraten zu können und der Erbe eines mutmaßlich beträchtlichen Vermögens zu werden (das dann an die Stelle jenes familiären Erbteils rückt, auf dessen Auszahlung Mellefont angeblich wartet), haben ihn zu dieser Erklärung verleitet. Denn er wundert sich über sich selbst, „was für ein Rätsel bin ich mir selbst! “ ( IV / 2) Er schwankt in der Analyse zwischen Dummheit und krimineller Energie. Am Ende dieses Monologs bezichtigt er sich als ein Ungeheuer, dem Sara ihre von der Gesellschaft als Tugend anerkannte Jungfräulichkeit geopfert habe. Und während Sir Sampson seinen Diener in die soziale Gleichheit entlassen und als Freund geadelt hat, empfindet Mellefont das Auftreten seines Dieners Norton in IV / 3 nur als Störung. Unbeeindruckt weist Norton aber darauf hin, dass Mellefont die spezifischen Verhaltensstandards Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="336"?> 76 3. Schritt - 18. Jahrhundert und Bewusstseinsformen-- zeitgenössisch heißt dies „Denkungsart“ ( IV / 3)-- eines Aristokraten fehlten. An dieser Stelle wird nochmals deutlich, dass der beschriebene soziale Stand für das Drama nicht entscheidend ist, sondern es sind die den Figuren auferlegten Handlungsweisen und Reflexionsformen. Denn Mellefont handelt im Grund wie ein Aristokrat, er lebt unehrenhaft und promisk und repräsentiert damit eine Haltung, die von den Bürgerlichen vehement kritisiert wurde. Mellefont ist im Stück tatsächlich Vertreter eines aristokratischen Lebensstils, während Sara und ihr Vater hingegen Vertreter von zutiefst bürgerlichen Wertevorstellungen sind. Die nächsten Szenen dienen der Vorbereitung des tragischen Endes. Marwood trachtet Sara nach dem Leben und sucht nach einer List, wie sie sie unbemerkt umbringen kann. Denn sie hat inzwischen erkannt, dass Mellefont nicht mehr zu ihr zurückkehren wird. Folgerichtig kommt es zu einer Begegnung zwischen Sara und Marwood. Zunächst versucht sie den Zwang zur weiblichen Solidarisierung aufzubauen, indem sie sagt: „Wir Frauenzimmer sollten billig jede Beleidigung, die einer einzigen von uns erwiesen wird, zu Beleidigungen des ganzen Geschlechts und zu einer allgemeinen Sache machen“ ( IV / 8). Natürlich ist dies von ihr eigennützig gedacht, denn als sie merkt, dass Sara die Liebe Mellefonts zu ihr nicht in Zweifel zieht, konfrontiert Marwood sie mit dem ironischen Ausdruck „Miß Sampsons Sittenlehre“ ( IV / 8), als diese von den Schranken spricht, welche die Tugend der Liebe setze. Die Warnung, Mellefont sei ein höchst gefährlicher Mann, beantwortet Sara mit ihrem empfindsamen und in diesem Fall wohl auch ironischen „Ach“. Marwood erwähnt nun, dass sie mit Mellefont eine gemeinsame Tochter habe, dass er sie noch liebe, sie führt die verflossenen Liebhaberinnen Mellefonts namentlich auf und bringt Sara zunehmend in einen Zustand höchster innerer Erregung. Sie bricht zusammen und erkennt die tödliche Gefahr, Marwood will sie vernichten. Ihre Dienerin Betty verabreicht ihr ein Stärkungsmittel, das ihr Marwood in die Hand gedrückt hatte-- nicht ahnend, dass dies das Gift ist, das Sara ihr Leben kosten wird. Marwood wird zur Mörderin, sie beichtet dies in einem Brief. Die Einsicht Sir Sampsons, dass er durch sein Verhalten, und das bedeutet durch das Beharren auf der Einhaltung eines bürgerlichen Wertecodes, Sara erst eigentlich zur Flucht gezwungen hat (vgl. V / 9), ist beispiellos in der zeitgenössischen Literatur und geht weit über die eher traditionelle Schuld- und Vergebungsgeste eines Vaters im bürgerlichen Trauerspiel hinaus. Sara gibt gleichsam auf dem Totenbett Mellefonts Tochter Arabella einen moralischen Imperativ mit. Hat sie eben noch ihre Liebe zu dem Mann und <?page no="337"?> 77 damit den Verstoß gegen die moralische Konvention verteidigt, so appelliert sie nun an Arabella, sie solle lernen, „gegen alle Liebe auf ihrer Hut zu sein“ (V / 10) und ihr eigenes Schicksal zum lehrreichen, abschreckenden Beispiel zu nehmen. Das ist eine bemerkenswerte Forderung, hat sie sich selbst doch aufgrund der väterlichen Vergebung ‚Absolution‘ erteilt. Sie spricht noch über die „bewährte Tugend“, die sich von der „schwache[n] Tugend“ (V / 10) abhebe und als Beispiel diene, die schwache Tugend hingegen eher von Gott gerettet würde. Diese letzten Worte Saras sind argumentationslogisch nur schwer zu beurteilen. Sara stirbt, Mellefont bekennt sich als ihr „Verführer“ (V / 10) und beschuldigt sich in einem dreifachen Mea culpa, die Ursache der Verführung, die Ursache der Trennung vom Vater und der Flucht sowie die Ursache ihres Todes zu sein-- er ersticht sich. Der Vater stiftet eine neue bürgerliche Kleinfamilie, Tote oder besser Untote beschicken diese Szene, der tote Mellefont wird als Sohn angenommen, Sara ist tot, „ein Grab soll beide umschließen“ (V / 11), Arabella dient als lebende Tochter. Lessing schließt die Tragödie mit dem entscheidenden Satz ab: „Ende des bürgerlichen Trauerspiels“. Die Toten und das Scheitern einer glücklichen Liebesbeziehung, der Verlust der bürgerlichen Kleinfamilie, mithin also die Schwierigkeiten oder gar die Unmöglichkeit eines selbstbestimmten bürgerlichen Handelns sowie die Utopie der Aufhebung von Standesgrenzen-- all das sind wesentliche Merkmale einer öffentlichen Debatte über die Selbstbestimmung der Bürgerlichen in den 1750er Jahren. Diese Selbstreflexion findet zum größten Teil in der Literatur statt, und Lessings Drama Miss Sara Sampson ist das erste und beredte Zeugnis eines historischen Prozesses, an dessen Ende die Herausbildung einer eigenen sozialen, nämlich nun bürgerlichen Schicht steht. Textgrundlage: Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Anmerkungen v. Veronica Richel. Stuttgart 2012 (=-Reclam UB 16). Lektüreempfehlungen: Lyrik des 18. Jahrhunderts (u. a. Barthold Hinrich Brockes, Johann Christian Günther, Albrecht von Haller, Friedrich von Hagedorn, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Friedrich Gottlieb Klopstock) Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) Gotthold Ephraim Lessing Miss Sara Sampson (1755) <?page no="338"?> 78 3. Schritt - 18. Jahrhundert Christian Fürchtegott Gellert: Leben der Schwedischen Gräfin von G*** (1747 / 48) Johann Jakob Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke (1755) Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon (1766 / 67) Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772), Nathan der Weise (1779) Einführende wissenschaftliche Literatur: Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Vierte, aktualisierte u. erweiterte Aufl. Stuttgart 2016. Wolfgang Albrecht: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart 1996. Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. 6. Aufl. Stuttgart 2006. <?page no="339"?> 79 Sturm und Drang: Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) 4. Schritt - 18. Jahrhundert S turm uNd d raNg : Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) In der Literaturgeschichte versteht man unter Sturm und Drang die Literatur zwischen 1770 und 1780, deren Autoren sich selbst als Genies begreifen. Der Sturm und Drang ist als literaturgeschichtliche Periode auf das deutsche Sprachgebiet begrenzt (einschließlich Elsass und Schweiz) und erlangt im Unterschied zur Empfindsamkeit ausschließlich literarische Bedeutung. Die Vorbilder sind für die jungen Autoren Shakespeares Dramen, Rousseau, Ossians Dichtungen (die sich erst wesentlich später als Fälschungen herausstellen), die Volksliedtradition in der deutschen Literatur und vor allem die Lyrik Klopstocks. Sturm und Drang ist jene Literatur, die formal und inhaltlich von den bewährten Mustern der aufgeklärten Literatur der 1760er Jahre abweicht. Sie ist zwar politisch sensibilisiert und sucht neue Themen wie z. B. Kindsmord, Volkslieder, Genieästhetik, Shakespeareanismus, Kraftgenie, und sie figuriert auch alte Themen neu wie z. B. Liebe, Sexualität, Standesunterschiede, sie ist aber nicht revolutionär. Religiöse, literarische und soziale Bindungen werden im Sturm und Drang zwar kritisch hinterfragt, nicht aber grundsätzlich in Frage gestellt. Die Rollenzuweisungen in Drama und Lyrik werden ignoriert, das je eigene Erleben (etwa in Goethes Sesenheimer Liedern) und die je eigene Pein werden zum Gegenstand der Beschreibung. Der Sturm und Drang verleiht der Literatur einen enormen Individualisierungsschub. Diese Literatur bedient sich auch eines neuen Tons in der Ästhetik, der philosophischen Reflexion und der Literaturkritik (am bekanntesten ist der Jahrgang 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen, woran u. a. Goethe, Merck, Herder und Schlosser mitarbeiten). Sturm und Drang wird allgemein als „Dynamisierung und Binnenkritik der Aufklärung“ (Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe Bd. 1.1, S. 756) verstanden, oder kurzgefasst kann man Sturm und Drang als Aufklärung der Aufklärung bezeichnen. Dabei lassen sich drei historische Phasen voneinander unterscheiden: Erstens, als der Beginn des Sturm und Drang kann die Begegnung zwischen Goethe und Herder im September 1770 in Straßburg betrachtet werden, wo sich Herder bis April 1771 aufhält. <?page no="340"?> 80 4. Schritt - 18. Jahrhundert Demnach sind die bis 1770 erschienenen Schriften von Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (Ugolino 1768), Herder, Hamann und den Schweizern Lavater, Hess und Füssli Vorläufer des Sturm und Drang. Zweitens, der Prozess der Gruppenbildung von Autoren in Straßburg, Frankfurt, Darmstadt und Göttingen (etwa die Lyriker des Göttinger Hain [1772 / 75] mit den Autoren Hölty, Miller, Stolberg und Voß) kennzeichnet eine intensive Hochphase des Sturm und Drang, in der auch die wichtigsten literarischen Werke erscheinen: Goethe Götz von Berlichingen (1773) und Werther (1774), Lenz Hofmeister (1774) und Soldaten (1776), Wagner Kindermörderin (1776), Leisewitz Julius von Tarent (1776). Diese Phase reicht also bis in das Jahr 1776. Einen deutlichen Einschnitt erfährt der Sturm und Drang durch Goethes Amtsantritt in Weimar im Januar 1776. Drittens, die Spätphase dauert nur kurz, bereits 1778 ist der Sturm und Drang ein historisches Phänomen. Karl Philipp Moritz’ Drama Blunt oder der Gast (1780), Schillers Dramen Die Räuber (1781), Fiesko (1783) und Kabale und Liebe (1784), Schubarts Sämtliche Gedichte (1785 / 86) und Heinses Ardinghello (1787) bilden eine zweite Schreibgeneration von Sturm-und-Drang-Autoren, die im Stil des Sturm und Drang schreiben und sich auf Referenztexte der Autoren der ersten Generation beziehen können. 1777 veröffentlicht Friedrich Maximilian Klinger sein Drama Sturm und Drang, das dieser literaturgeschichtlichen Periode ihren Namen gibt. Die Herkunft der Begriffe Sturm und Drang aus dem religiösen Wortschatz der Zeit ist offensichtlich. Sturm kann demzufolge die Anfechtung von außen wie auch die Prüfung durch Gott bedeuten. Drang wiederum kann im Sinne von äußerer Bedrängnis, aber auch als inneres Drängen verstanden werden. Dieses religiös gefärbte Verständnis wird in der Literatur des Sturm und Drang mit neuen Inhalten versehen, die religiöse Bedeutung tritt in den Hintergrund. Die in vielen Schriften gegenwärtigen, zentralen Begriffe von Genie und Originalität greifen eine Diskussion auf, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England geführt wird (Shaftesbury, Addison, Young). Bereits Julius Scaliger hat in seiner Renaissancepoetik von 1561 den Dichter als „alter deus“, als einen anderen Gott bezeichnet. Der englische Moralphilosoph Earl of Shaftesbury (1671-1713) spricht nun vom Dichter als einem „second maker“ (Soliloquy, 1710, dt. 1738). Die jungen Autoren der 1770er Jahre, die sich selbst als literarische Avantgarde verstehen und mit den Traditionen der aufgeklärten Literatur brechen wollen, beanspruchen ein neues Selbstverständnis als Dichter. Die Produktionsästhetik wird gegenüber der Darstellungs- und Wirkungsästhetik der Aufklärung radikal aufgewertet. Die theoretische Grundlage hierfür <?page no="341"?> 81 Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) bieten Youngs Conjectures on Original Composition (1759, dt. 1760). Der englische Dichter Edward Young (1683-1765) grenzt das Genie vom Handwerker ab und verwirft poetologische Regeln. Als Leitfiguren nennt er Pindar und Shakespeare. Er wendet den Geniebegriff nach innen, das Genie stammt vom Himmel und sei ein Gott in uns. Der gottähnliche Dichter erzeugt originale Kunstwerke nur durch Nacheiferung der vorbildhaften Genies. Youngs Reflexionen über das Genie sind in nahezu allen ästhetischen Schriften des Sturm und Drang in einer eigenwilligen Vermischung mit anderen Geniekonzeptionen gegenwärtig. Das Genieverständnis des Zürcher Theologen Johann Caspar Lavater (1741-1801) bildet einen Höhepunkt dieser Diskussion. Das Genie bekommt bei ihm eine profan-religiöse Erlöserrolle. Lavater unterscheidet in seinen einflussreichen Physiognomischen Fragmenten (4 Bde., 1775 / 78), worin er den jungen Goethe als Inbegriff eines zeitgenössischen Genies darstellt, zwischen Genie haben und Genie sein. Genie hat derjenige, der nur Sprachrohr Gottes ist. Dieser Vorstellung liegt unverkennbar die theologische Auffassung der Verbalinspiration zugrunde, wonach Gott als Autor die Heilige Schrift den Schreibern als Medium diktierte. Genie ist derjenige, der selbst spricht, Genie ist ein „propior Deus“, ist gottgleich. Im Selbstverständnis der Sturm-und-Drang- Autoren ist Shakespeare das größte Genie der Literatur, das keine Regel gelten ließ. Für Gerstenberg, der die entscheidende Vermittlungsarbeit zwischen dem bewunderten englischen Vorbild und den jungen deutschen Autoren leistet, ist Shakespeare das „Lieblings-Genie der mütterlichen Natur“. In der dritten Sammlung seiner Briefe Über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1767) gelangt er zu der wegweisenden Definition, „wo Genie ist, da ist Erfindung, da ist Neuheit, da ist das Original; aber nicht umgekehrt“. Johann Gottfried Herder behauptet in seinem Shakespear-Aufsatz aus Von deutscher Art und Kunst (1773), dass poetologische Regeln keine Gültigkeit mehr haben für das Drama des Sturm und Drang, denn es orientiere sich an Shakespeare. Auch die Bedeutung der poetologisch-normativen Einheiten von Ort und Zeit wird verneint. Herder verwirft die strengen Gattungsgrenzen zwischen Tragödie und Komödie und die gattungstypologischen Grenzen zwischen philosophischer, historischer und dramatischer Schreibintention. Damit trägt er nachhaltig zur Aufweichung der strengen Gattungsnormen in den 1770er Jahren bei. Das Entscheidende eines Dramas, so schreibt er in seinem Essay Shakespear (1773), sei ein „völliges [! ] Grösse habendes Eräugniß einer Weltbegebenheit, eines Menschlichen Schicksals“ (Herder, Goethe, Frisi, Möser: <?page no="342"?> 82 4. Schritt - 18. Jahrhundert Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. Hgg. v. Dietrich Irmscher. Stuttgart 1988, S. 90). Goethe schildert die literarische Begegnung mit Shakespeare in seinem kleinen Text Zum Schäkespears Tag (1771) als eine Art Epiphanie. Hier schlägt Kritik, die aus dem Geist der Aufklärung die individuelle Freiheit des Autors sucht, in Kritik an der Aufklärung um. In den Figuren der shakespearschen Dramen sieht Goethe, was er an der Literatur seiner Zeit vermisst: „Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen“. Diese Literatur beschreibt die Selbstbestimmung des Menschen literarisch und führt damit Ideale der Aufklärung und ihr Scheitern gleichermaßen konsequent vor Augen. Sturm und Drang kann letztlich als der erste Versuch verstanden werden, ein Misslingen der Aufklärung zu denken und den Vollkommenheitsanspruch des aufgeklärten Menschenbilds (den Gedanken der zeitgenössisch so genannten Perfektibilität, der Vervollkommenbarkeit) mit den Unzulänglichkeiten der gesellschaftlich-historischen Wirklichkeit zu konfrontieren. Zugleich wendet diese Literatur den Blick nach innen, sie beschreibt den Aufstand gegen Vaterinstanzen als eine Binnenrebellion. Deshalb wird das Thema der feindlichen, sich befehdenden und schließlich einander umbringenden Brüder (Leisewitz: Julius von Tarent, 1776; Klinger: Die Zwillinge, 1776; Schiller: Die Räuber, 1781) im Sturm und Drang zum Thema der Selbstzerstörung des Individuums. Brudermord, Vatermord (Goethe: Prometheus-Ode, entstanden 1773, gedruckt 1785) und Kindsmord (Wagner: Die Kindermörderin, 1776; Lenz: Zerbin, 1776) erweisen sich als die Themenbereiche, in denen die neue Literatur ihre entschiedenste Darstellung findet und zwar in der Radikalität, mit welcher diese Themen als die zentralen Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts beschrieben werden. Die bedeutendsten Werke des Sturm und Drang schreiben Lenz, Goethe und Wagner. Der Werther (1774) wird für eine ganze Generation junger Autoren norm- und stilbildend. Für das Drama des Sturm und Drang sind Goethes Götz von Berlichingen (1773) und die Soldaten (1776) von Lenz richtungsweisend. Die Lyrik des Sturm und Drang findet vor allem in den an dem hohen Stil von Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) orientierten Gedichten des Göttinger Hain (teilweise mit einer pathetischen Hinwendung zu Alltagsgegenständen) und in Goethes und Lenz’ expressivindividueller Liebeslyrik aus dem Umkreis der Sesenheimer Lieder ihren spezifischen Ausdruck. Theoretische Überlegungen werden von den Autoren oft in essayistischer Textform niedergeschrieben. So zählen etwa die Anmerkungen übers Theater <?page no="343"?> 83 (1774) von Lenz, welche eine programmatisch-poetologische Schrift über das zeitgenössische Theater und die Rolle der jungen Autoren darstellt, oder Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst (1772), der als Prosahymnus auf den Dombaumeister des Straßburger Münsters Erwin von Steinbach (gest. 1318) konzipiert ist und der in die Essaysammlung Von deutscher Art und Kunst (1773) aufgenommen wird, als Programmschriften des Sturm und Drang. Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) Im Februar 1774 beginnt Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) mit den Arbeiten an seinem Roman, im Mai schickt er das Manuskript an seinen Verleger und zur Michaelismesse (September) 1774 erscheint sein erster Roman Die Leiden des jungen Werthers. Das historische Vorbild von Goethes Werther- Figur ist Karl Wilhelm Jerusalem, der am 30. Oktober 1772 Selbstmord begeht, gerade erst 25 Jahre jung. Als Legationssekretär und Kollege Goethes ist er am Wetzlarer Reichskammergericht tätig. Berufliche Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten und eine unerfüllte Liebe zu einer verheirateten Frau stürzen ihn in eine tiefe Depression. Goethe erhält darüber im November 1772 von Johann Christian Kestner, mit dessen Pistole sich Jerusalem erschießt, einen umfassenden Bericht. Goethe folgt im Werther in etlichen Details diesem Bericht, doch ist die Exaktheit in der Darstellung der psychischen Verwicklungen Produkt von Goethes Einbildungskraft. Hinzu kommt ein weiteres biografisches Detail. Kestner ist in Wetzlar Hannoveraner Gesandtschaftssekretär und mit Charlotte Buff verlobt. Goethe lernt sie auf einem Ball am 9. Juni 1772 kennen und verliebt sich in sie. Am 11. September 1772 verlässt er Wetzlar wegen der auftretenden Spannungen. Auf der Rückfahrt nach Frankfurt stattet er der Schriftstellerin Sophie von La Roche (1730-1807) in Koblenz einen Besuch ab. Nun verliebt er sich in deren Tochter Maximiliane. Im Januar 1774 heiratet der um 21 Jahre ältere Frankfurter Kaufmann Brentano Maximiliane von La Roche. Die andauernden Besuche Goethes bei Maximiliane wecken die Eifersucht ihres Mannes. Es kommt zu einer verbalen Auseinandersetzung, die Besuche unterbleiben von nun an. Man kann also davon ausgehen, dass in die dichterische Imaginationskraft die Erfahrungen aus diesen verwickelten Liebesbeziehungen in den Roman mit einfließen. Der Werther ist ein Briefroman. Goethe bedient sich damit einer Gattung, die sich in den 1750er und 1760er Jahren außerordentlicher Beliebtheit erfreut. Durch den Anspruch Privates öffentlich zu machen, wie es in persönlicher Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="344"?> 84 4. Schritt - 18. Jahrhundert Korrespondenz Niederschlag findet, wird der Briefroman zu einem wichtigen literarischen Medium der bürgerlichen Selbstvergewisserung in der Aufklärung. In England ist es Samuel Richardson (1689-1761) und in Frankreich Jean- Jacques Rousseau (1712-1778), die mit ihren Briefromanen als große Vorbilder auch auf deutsche Autoren wirken. Christian Fürchtegott Gellerts (1715-1769) Leben der Schwedischen Gräfin von G*** (1747) ist der am meisten verbreitete deutsche Briefroman vor dem Werther. Sophie von La Roches empfindsamer Roman Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) ist ein populäres Muster des deutschen Briefromans, das dem Werther unmittelbar vorangeht. Der traditionelle Briefroman lebt vom Dialog, von dem Wechsel von Brief und Gegenbrief und er transportiert die Botschaft von Moral und Tugendhaftigkeit. Erzählerisch notwendige Verstöße werden durch den Kommentar im Text geahndet. Der Briefroman soll zum guten Beispiel anhalten, das Schlechte will er als verwerflich darstellen. Damit übernimmt der aufgeklärte Briefroman wichtige Funktionen der Moralischen Wochenschriften. Den Briefroman zeichnet die Bedeutung von Kommunikativität als Merkmal bürgerlicher Umgangsformen aus. Doch ähnlich wie im Falle des Götz von Berlichingen missachtet Goethe auch in seinem Werther elementare poetologische Regeln des Briefromans, um zu provozieren. Schon der Wechsel der Textsorte vom Drama zur Prosa unter Beibehaltung desselben typisierten Charakters eines Selbsthelfers zeigt an, dass Goethe nicht daran denkt, einen herkömmlichen Briefroman zu schreiben. Werthers Briefe sind Monologe, welche die soziale und kommunikative Vereinzelung als Folge einer radikalen Subjektivität vor Augen stellen. Die vom Autor konsequent betriebene Intimisierung der Figur Werther im Roman verhindert eine kommunikative-dialogische Anlage des Textes. Die Form wird so zum adäquaten Ausdruck der psychischen Befindlichkeit der Textfigur. Die Gegenwartsnähe des Themas und die Anlage der Figur als Projektionsfläche für bürgerliche Aufklärungskritik, die junge Leser zur unmittelbaren Identifikation regelrecht einlädt, tragen maßgeblich dazu bei, dass der Werther als Text eine solche Wirkung entfalten kann. Für den zeitgenössischen Leser bedeutet der Name des jungen Autors Goethe ein Synonym für das ‚Phänomen Leidenschaft‘. Was dem Sturm-und-Drang-Autor Goethe gelingt und seinen Erfolg sichert, misslingt aber der Sturm-und-Drang-Figur Werther. Dessen Leidenschaftskompetenz ist zum Scheitern verurteilt. Der Werther avanciert zu einem Modelltext, in dem das Unbehagen an der Aufklärung so thematisiert wird, dass nur eine Identifikation oder eine Gegenidentifikation als Rezeptionshaltung möglich ist. Dieses Modell basiert auf dem Zusammenhang von Leiden und Leidenschaft <?page no="345"?> 85 im Roman. Die Autoren des Sturm und Drang schreiben gegen den Versuch der Aufklärung an, Leidenschaften zu pathologisieren, sie als heilbare Krankheitssymptome einer ungesunden Entwicklung auszuweisen. Sie kündigen das Modell einer empfindsamen Balance zwischen Vernunft und Leidenschaft, zwischen Kopf und Körper auf. Ihr Ziel ist die Befreiung des Individuums von den Zwängen der Vergesellschaftung, wozu auch die Emanzipation der Leidenschaften gehört. Dieser Denkfigur folgt Goethes Werther. Bereits der Titel des Romans benennt den Zusammenhang von Leiden und Leidenschaft, er dient als Provokation. Der Leidensbegriff verweist auf eine christologische Bedeutungsebene, die den Begriff eng an die christliche Passionsgeschichte bindet. Im Titel Die Leiden des jungen Werthers stehen die Leiden Christi und die Leiden Werthers gleichwertig nebeneinander. Der Leidensbegriff wird auf diese Weise desakralisiert und dem verweltlichten Vokabular des Sturm und Drang einverleibt, wie dies auch schon bei den Begriffen Sturm und Drang selbst sowie beim Begriff Genie geschehen ist. Dieses Wechselspiel von christlicher Leidensmetaphorik und bürgerlich-weltlicher Krankheitsgeschichte der Leidenschaft durchzieht den Text von Beginn an, bereits im Titel wird dies deutlich angezeigt. Im Text wird die religiöse Ikonographie für das Leiden und Sterben Werthers ausgeschöpft, so z. B. das Abendmahlssymbol des Weins bei der Vorbereitung des Selbstmords, der ja keineswegs überstürzt und planlos ausgeführt, sondern regelrecht inszeniert wird. Werthers Tod erscheint als ein Opfertod, an Lotte schreibt er, dass er sich für sie opfern wolle. Und schließlich scheint sich Werther kurz nach Mitternacht erschossen zu haben, der Bediente findet ihn morgens um sechs Uhr, die eigentliche Todesstunde fällt in die Zeit „um zwölfe Mittags“ (S. 274), der Leser kann also unschwer eine Parallele zum neutestamentlichen Bericht über Kreuzigung und Tod Jesu ziehen (vgl. Matthäus 27, 45 ff.). Mit diesen offensichtlichen Analogien zwischen der weltlichen Romanfigur und religiösen Zeugnissen hebt Goethe die Bedeutung von Werthers Geschichte als Passionsgeschichte im doppelten Wortsinn hervor, als die Geschichte von Leiden und von Leidenschaften. Leidenschaft bringt also nicht nur Leiden hervor, Leidenschaft ist Leiden. Damit wird vom Autor auch klargestellt, dass es in seinem Roman nicht um körperliches Leiden, sondern um psychisches Leiden, um die Innenansicht eines leidenden Subjekts der Aufklärung geht, das mit den gesellschaftlichen Bedingungen der Selbstbändigung seiner Leidenschaft nicht mehr zu Rande kommt. Die Bedeutung dieser psychischen Binnenperspektive des Textes wird im Titel den Lesern mit auf den Weg gegeben. Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="346"?> 86 4. Schritt - 18. Jahrhundert Über den Bedeutungshorizont des christologischen Leidensbegriffs hinaus hat der Titel noch in einer weiteren Hinsicht die Funktion eines provokanten Signals, Goethe lässt nämlich ein junges Subjekt („jungen Werthers“) aus Leidenschaften leiden. Dies kommt einer Verweigerung des jungen bürgerlichen Subjekts gegenüber den Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft gleich. Werthers Forderung nach einer Emanzipation der Leidenschaften bedeutet für diese Gesellschaft dann Bedrohung insofern, als sie den Verlust eines tätig werdenden jungen Subjekts nicht zuletzt auch als Arbeitskraft und Wirtschaftsfaktor darstellt. Wer jung ist und leidet, arbeitet nicht und geht der Gesellschaft somit verloren. Und schließlich kann man auch eine Provokation des Titels im Namen des Protagonisten erkennen. Während die beiden anderen Hauptfiguren, die von Werther geliebte Lotte und deren Verlobter Albert ihre Vornamen tragen, wird Werther nur mit seinem Nachnamen genannt. Darin kann man Distanzierung und Gewichtung gleichermaßen sehen, entscheidend ist indes, dass Werther auch als zweisilbiger Komparativ zum grammatischen Positiv wert zu verstehen ist. Werther ist demnach derjenige, der werter im Sinne von mehr wert ist als ein anderer. Auf die Figurenkonstellation des Romans übertragen bedeutet dies, Werther ist mehr wert als Albert, und zwar trotz seines im Titel exponierten Leidens. Der Versuch einer Emanzipation von Leidenschaften, wie sie Werther lebt, ist mehr wert als deren Bändigungsbemühen durch den disziplinierten Albert. Dieser Versuch ist freilich nur als literarisches Experiment möglich, eben als Roman. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Werther ist auch für Lotte mehr wert als Albert, der beginnt, „das Elend ihres Lebens zu machen“ (S. 234), während es von Werther an gleicher Stelle heißt: „Ein geheimer Zug hatte ihr ihn vom Anfange ihrer Bekanntschaft theuer gemacht“ (S. 234). So wie Lotte zu Werther über ihre Mutter sagt, „sie war werth, von ihnen gekannt zu seyn“ (S. 122), ist Lotte werter, von Werther als von Albert geliebt zu werden. Und schließlich erkennt Werther seinen Eigenwert erst in Lottes von ihm fantasierter Liebe zu ihm, also in der narzisstischen Selbstbespiegelung: „Und wie wert ich mir selbst werde! - […]- - wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt“ (diese Textpassage ist erst in den Ausgaben ab 1775 zu finden; zitiert nach: Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe Bd. 1.2, S. 226). Selbst der Ort, an dem sich Lotte aufhält, erfährt durch die begehrte Frau für Werther eine enorme psychische Aufwertung und einen regelrechten mythisierenden Mehr-Wert. So heißt es im Brief vom 12. Mai schon gleich zu Beginn des Romans vom städtischen Brunnen: „Da ist gleich vor dem Orte ein Brunn’ ein Brunn’, an den ich gebannt <?page no="347"?> 87 bin wie Melusine mit ihren Schwestern“ (S. 12). Und nach einem Spaziergang mit Lotte ist dieser Ort für Werther ein „Brunnen, der mir so werth ist, und nun tausendmal werther ward, als Lotte sich auf ’s Mäuergen sezte“ (S. 70). In die Leidenschaftsgeschichte des Textes ist die Geschichte eines Leidens eingeschrieben, die Themen Leiden und Leidenschaft halten den Text wie eine Klammer zusammen. In Briefen an den Freund Wilhelm und an Lotte berichtet Werther von seinen Leiden und von seinen Leidenschaften. Die Form der Darstellung dieser Leidens- und Leidenschaftsgeschichte ist die Schrift, es sind die Briefe oder die Berichte. Sein Begehren bändigt Werther in der und durch die Schrift, bis schließlich auch dieser Versuch scheitern muss. Werthers Versuch der Affektkontrolle wird wiederum von dem Kommentar des Herausgebers begleitet, Herausgeber und Wilhelm sind jedoch nicht identisch. Der fiktive Herausgeber wird die Rolle des Kommentators von Werthers Leidenschaftsgeschichte im zweiten Teil des Buchs übernehmen. Nach der Bestimmung des Herausgebers soll „das Büchlein“ die Funktion erfüllen, Freund des Lesers zu werden, es soll Trost aus Werthers „Leiden“ (S. 6) spenden. Was im Text selbst Werther unmaskiert als Leidenschaft bezeichnet, nennt der Herausgeber bezeichnenderweise „Drang“ (ebd.). Er stellt damit den Roman und seine Geschichte in den Kontext der avantgardistischen Literatur des Sturm und Drang. Die Funktion dieser dem Roman vorangestellten fiktiven Leseranrede des Herausgebers besteht darin, dass die Leser sich durch Werthers Leiden trösten lassen sollen, wenn sie dieselben Leidenschaften bei sich feststellen. Dies setzt voraus, dass mit diesen Leidenschaften der Liebe und des Begehrens nicht anders als maßvoll selbstregulativ umgegangen werden kann. Der Text wird gleichsam als Gegengift gegen den übermäßigen Anspruch einer Emanzipation der Leidenschaften empfohlen. Doch der Autor umgeht gewitzt diese Empfehlung, die als aufgeklärte Lesehaltung verstanden werden kann, indem er Werther gegen den erzwungenen Selbstverzicht und seine Folgen anschreiben lässt. Als literarische Figur entwickelt Werther ein Gegenmodell zur erzwungenen Selbstbändigung. Damit ist die zentrale Frage des Textes berührt: Können Leidenschaften diszipliniert werden, indem sie verschriftlicht werden? Das Medium von Werthers Versuch der Selbstbändigung sind Papier, Wörter, Texte, die von ihm wiederholt beschworen werden. Das Papier ist das Medium der Verdinglichung, Werthers erfahrene Leidenschaften werden der Verkörperlichung im Text zugeführt. Die Verbindung zwischen Schrift und Seele stellt Werther ungebrochen und unverkürzt dar. Das Papier ist der Körper, der als Objekt der Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="348"?> 88 4. Schritt - 18. Jahrhundert Verschriftlichung, nämlich Werthers Bericht, das tun kann, was Werther als schreibendem Subjekt gesellschaftlich nicht erlaubt ist. Die grundsätzliche Unzulänglichkeit der Kunst, die zu Beginn des Buchs gleich thematisiert wird, und damit auch die Unzulänglichkeit des Schreibers Werther erweist sich für ihn am Ende als Unmöglichkeit der schreibenden Regulierung seiner Leidenschaften. Das Papier, der Text und Werthers Schreiben gehören zu einer Form der Selbstkontrolle, die er als Sozialnorm der bürgerlichen Gesellschaft nicht erlernen will. Dabei nimmt Werther die Rolle eines gescheiterten Prometheus an. Als Schöpfergott will er dem Papier Leben „einhauchen“ und das, was „so voll, so warm“ (S. 12) in ihm lebt, in Schrift überführen und damit Odem spenden. Und zugleich nimmt er die Rolle eines Richtergottes an, er entscheidet über Leben und Tod. Den Diskurs, also das Schreiben und Reden zu beenden, bedeutet für Werther, auch seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Unterstrichen wird die Bedeutung dieser Verschränkung von Leben spenden und Leben beenden durch den nachfolgenden Anakoluth: „Mein Freund-- Aber ich gehe darüber zu Grunde“ (S. 12). Im Roman heißt es, Albert sei im Gespräch mit Werther „sehr tief in Text“ (S. 92) geraten, aber Werther hört ihm gar nicht mehr zu. Denn Albert vertritt die Rationalität der Aufklärung, und Werther verweigert sich diesem Zugriff des aufgeklärten Diskurses, dessen Ziel es ist, die Leidenschaften selbst disziplinieren zu können. Lotte, die das Objekt von Werthers Begehren darstellt und die empfindsame Tendenz repräsentiert, beginnt von etwas anderem zu sprechen, um Werther „nicht tiefer in den Text kommen zu lassen“ (S. 182). Aber der Abstand zu den Vernünftigen und Aufgeklärten wie Albert wird für Werther zunehmend größer, die Kluft zwischen ihm als einem typischen Sturm-und-Drang-Individuum und dem aufgeklärten Albert schier unüberwindlich. Nicht Werther beherrscht das Objekt, dem seine Leidenschaft gilt, vielmehr beherrscht ihn das Objekt. Deshalb kann Lotte mit ihm „machen was sie will“ (S. 182). Als Werther dies erkennt, dass es Lotte gelingt-- anders als ihm selbst-- ihr Begehren zu kontrollieren, verläuft die psychische Entwicklung der Beiden auseinander, aus den Ansätzen einer empfindsamen Paargemeinschaft wird Werthers fantasierte Paaridentität, eine Solidarität in Leidenschaft und eine Gemeinsamkeit im Leiden gibt es nicht. Werther ‚versingelt‘ zunehmend, er kommuniziert mehr und mehr mit sich selbst und dem Papier. Wie beschreibt nun Werther das Modell einer Affektkontrolle in der bürgerlichen Gesellschaft? Die Sublimierung seines Begehrens ist ihm schon zu Beginn des Textes nicht mehr in jeder Form möglich, so kann er beispielsweise schon bald nicht mehr zeichnen. Stattdessen sublimiert er durch die Schrift. <?page no="349"?> 89 Auch wenn er die Unzulänglichkeit dieses Versuchs und die Unmöglichkeit betont, Papier zum Spiegel der Seele zu machen, so zwingt er doch die beabsichtigte Tat der Leidenschaft einer entfesselten Liebe zu Lotte in die Schrift und erst im Tod erlischt diese Schrift. Im Brief vom 26. Mai 1771 wählt Werther ein „Gleichniß“ (S. 26) als Kontrastfolie, um zu veranschaulichen, wogegen sich seine Weigerung einer konsequenten Selbstdisziplinierung richtet. Zunächst schildert er eine ländliche Szene. In dem Dorf Wahlheim beobachtet er zwei spielende Kinder. Er beginnt zu skizzieren und nach einer Stunde ist „eine wohlgeordnete sehr interessante Zeichnung verfertigt“ (S. 24 f.). Sein anfängliches Unvermögen, nämlich nicht mehr zeichnen zu können, wird nun durch die Zeichnung selbst widerlegt. Werther nimmt diese Erfahrung zum Anlass, sich zukünftig ausschließlich an die Natur zu halten, „sie allein ist unendlich reich, und sie allein bildet den großen Künstler“ (S. 26). Die Natur gilt als die ungebändigte, regellose und unbezwungene Schöpfungskraft, und Werther unterliegt dieser Gewalt der Naturempfindung. Regeln hingegen sind kulturell und gesellschaftlich geformte, historisch kontingente Normen, sie bilden das Instrumentarium eines Beherrschungs- und Bezwingungswillens und sind Ausdruck einer instrumentellen Vernunft. In dieser Engführung von regelloser Natur und instrumentellen Regeln stellt Werther die Last einer Verknüpfung von individueller Affektkontrolle und sozialer Kontrolle, wie sie gesellschaftlich verlangt wird, heraus. Übertragen auf den Diskurs der ästhetischen Regeln heißt dies für Werther, ästhetische Regeln zu befolgen ist gleichbedeutend mit dem gesellschaftlichen Erfordernis, der Affektkontrolle zu entsprechen. Ableiten, abwehren, beschneiden, brauchbar, einschränken, dämmen, modeln-- das sind die Wörter, mit denen Werther sein Gleichnis kommentiert. Sie nehmen die Sprache der Affektkontrolle (einschränken, einsperren, gefangen sein, stumm machen) aus dem Brief vom 22. Mai wieder auf. Regel bedeutet für Werther demnach Regulierung, eine künstlerisch-ästhetische Regel wie etwa die Natur abzubilden oder nur das Schöne in der Kunst darzustellen, heißt für ihn Leidenschaften zu regulieren, sie zu bändigen. Regeln, so führt Werther weiter aus, zerstören das wahre Gefühl und den wahren Ausdruck von der Natur, es sei damit „wie mit der Liebe“ (S. 26). Werther führt nun das Beispiel eines Philisters an. Dieser verlange von den Menschen mit Leidenschaften, den Liebenden, eine maximal sozial verträgliche Einteilung der Zeit in Arbeitszeit und Freizeit. „Lieben ist menschlich, nur müßt ihr menschlich lieben! Theilet eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet eurem Mädchen“ (S. 26). Befolgt der Liebende Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="350"?> 90 4. Schritt - 18. Jahrhundert aber, so kommentiert Werther, diese Regel, „so giebts einen brauchbaren jungen Menschen“ (ebd.) und die Brauchbarkeit dieses Menschen bedeutet allein seine Nützlichkeit für das gesellschaftliche Arbeitsleben, nur mit der Liebe und der Leidenschaft, mit dem Begehren „ist’s am Ende“ (S. 26). Ist der Liebende zudem ein Künstler, dann erlischt mit der Leidenschaft auch seine Kunst. Werther spricht von sich selbst. Das Gleichnis verdeutlicht, dass sich die Leidenschaften nicht beherrschen und nicht dämmen lassen, ohne dabei den Anspruch auf Selbstbestimmung und Individualität als den beiden wesentlichen Handlungsmerkmalen eines Sturm-und-Drang-Typus aufzugeben. Damit erfährt eine Position des Sturm und Drang durch den Aufweis ihrer Grenzen eine entscheidende Korrektur. Maßlose Leidenschaft und vollkommene Individualität sind nach Maßgabe der Gesellschaft unvereinbar. Diese Unvereinbarkeit deckt die Entfremdung des selbstbestimmten Individuums von seiner Triebnatur auf. Werther beschreibt im Brief vom 12. August ein Gespräch mit Albert, worin er auf die Grenzen der menschlichen Natur hinweist. Freude, Leid und Schmerzen könnten nur bis zu einem bestimmten Grad ertragen werden. Für den Menschen gelte, dass er den Leidensdruck nur bis zu einem gewissen Maß aushalten könne. Legt man hier die Lesart der Titelvorgabe von Goethes Roman zugrunde, dann muss dies auch für die Leidenschaften gelten, wonach das Maß des Leidens auch das Maß der Leidenschaften darstellt. Die vielzitierte „Krankheit zum Todte“ (S. 98) hat ihre Ursache in dem Leidensdruck, den die nicht kontrollierten und nicht zu kontrollierenden Leidenschaften auslösen. In seinem vorletzten Brief an Wilhelm vom 8. Dezember verschränkt Werther die binnenpsychische Natur der Leidenschaften mit der außerweltlichen Natur. Dadurch gelingt es dem Autor Goethe, die Natürlichkeit und das heißt die Unzivilisierbarkeit von Leidenschaften herauszustellen. Die Natürlichkeit ist deren Natur, die sich überhaupt nur durch verstümmelnde Eingriffe bändigen lässt. „Manchmal ergreift mich’s- […]! es ist ein inneres unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreissen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe! Wehe! “ (S. 198), schreibt Werther. In der Nacht zuvor hatte sich eine Naturkatastrophe ereignet. Werther rennt im Dunkeln in die Natur hinaus, als er von der Überschwemmung des Wahlheimer Tales erfährt. Wahlheim ist der Ort, wo er in einsamer Homer-Lektüre und in ausgiebigen Naturstudien anfänglich noch sein seelisches Gleichgewicht gefunden hatte, es ist für ihn auch der Ort seiner Wahl- Heimat. Dieser Fluchtpunkt der äußeren Identität ist nun bedroht. „Mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund, und athmete hinab! hinab, und verlohr <?page no="351"?> 91 mich in der Wonne, all meine Quaalen all mein Leiden da hinab zu stürmen, dahin zu brausen wie die Wellen“ (S. 200), so beschreibt er seinen inneren, aufgewühlten Zustand. Die Zerstörung der äußeren Natur wird zum Sinnbild für die Zerstörung der inneren Natur Werthers als Folge ihrer nicht beherrschten Natürlichkeit. So, wie er seine äußere Heimat verliert, so geht ihm auch seine innere Heimat verloren, auf gewalttätige, eruptive und unbeherrschbare Weise. Nicht die Leidenschaften selbst und nicht der Anspruch auf Emanzipation der Leidenschaften zerstören das Individuum, sondern allein das Unvermögen, mit ihnen anders als disziplinierend umzugehen in einer Gesellschaft, welche diese Bändigung zur Selbststabilisierung und zu ihrem Selbstverständnis dem Einzelnen abverlangt. Hier zeigt der Sturm und Drang eine zutiefst gesellschaftskritische Ausrichtung. Die Bedeutung des gesprochenen Worts für das geschriebene Wort im Roman hebt eine andere Gesprächssituation hervor, als „der Diskurs auf Freude und Leid in der Welt roulirte“ (S. 64). Werther räumt ein, dass das körperliche Wohlbefinden einen unmittelbaren Einfluss auf die Affektlage des Menschen habe. Als ein Beispiel für einen nicht ausgeglichenen Affekthaushalt wird üble Laune genannt. Nach Werthers Vorschlag solle dieser Befund als eine „Krankheit“ (S. 64) verstanden werden, für die nun im Gespräch ein Heilmittel gesucht wird. Lotte antwortet daraufhin spontan mit einem Hinweis auf ihre persönliche Erfahrung. „Wenn mich etwas nekt, und mich verdrüßlich machen will, spring ich auf und sing ein paar Contretänze den Garten auf und ab, gleich ist’s weg“ (S. 64). Werther kann Lottes Erfahrung nur bestätigen, „das war’s was ich sagen wollte“ (ebd.). Lotte hat nun für Werther gesprochen. Als Frau gelingt ihr das lebenssituativ umzusetzen, was die Männer des Sturm und Drang in theoretischen Schriften fordern, nämlich individuelles Empfinden und Fühlen sind Voraussetzung, um verlässlich urteilen zu können. Lottes persönliche Erfahrung umgeht die medizinische und psychologische Regelapparatur der Aufklärung. Die Rückkehr zur Natürlichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang auch eine Rückkehr zum unverbildeten, gesunden Menschenverstand. Mit dieser bemerkenswerten Textstelle wird eine Form der Leidenschaftsäußerung dadurch aufgewertet, dass sie als Mittel der Affektmodellierung zugelassen ist. 1771 ist das Tanzen, auf das Lotte anspielt, noch keinesfalls Ausdruck eines emanzipativen bürgerlichen Bewusstseins. Der Tanz gilt bis weit in das 18. Jahrhundert hinein als genuines kulturelles Ausdrucksmittel des Adels. Daran orientieren sich die Bürgerlichen und weniger an den Bauern- und Volkstänzen. Dem einflussreichen Ästhetiker Johann Georg Sulzer (1720-1779) Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="352"?> 92 4. Schritt - 18. Jahrhundert etwa dienen Gesellschaftstänze zur Ausbildung und Einübung zivilisatorischer Standards, wie beispielsweise Ehrfurcht der Jugend vor dem Alter, Bescheidenheit, Mäßigung, Mut und Standhaftigkeit-- so legt er dies in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771 / 74) unter den Artikeln Tanz und Tanzkunst dar. Lotte argumentiert im Werther also fortschrittlich im Stil des Sturm und Drang. Sie bestätigt durch eigene Erfahrung und ohne auf das Reglement vernünftigen Argumentierens zu achten die affektregulierende Wirkung des Tanzes auf die Leidenschaften. Dies knüpft an eine frühere Textstelle an, die jetzt im Nachhinein eine Erklärung findet. Im Brief vom 16. Juni berichtet Werther: „Das Gespräch fiel auf das Vergnügen am Tanze. Wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist, sagte Lotte, so gesteh ich ihnen gern, ich weis nichts über’s Tanzen“ (S. 44). Tanzen ist eine Leidenschaft, die Vergnügen bereitet, auch Werther wird dieses Vergnügen zuteil. Denn im Tanz mit Lotte erfährt er diese Frau als Objekt seiner Leidenschaft: Nun giengs, und wir ergözten uns eine Weile an mannchfaltigen Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie sich! -[…] Nie ist mir’s so leicht vom Flekke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben, und mit ihr herum zu fliegen wie Wetter, daß alles rings umher vergieng und- - Wilhelm, um ehrlich zu seyn, that ich aber doch den Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen [= Walzer tanzen] sollte, als mit mir, und wenn ich drüber zu Grunde gehen müßte, du verstehst mich. (S. 46) Weit davon entfernt, Leidenschaften schlechthin zu verteufeln, bedeutet Lotte durch ihre Äußerung dem leidenschaftlichen Werther, dass es durchaus Leidenschaften gibt, die ihre Billigung finden, die ihr sogar Vergnügen bereiten. „Und wenn ich was im Kopfe habe, und mir auf meinem verstimmten Klaviere einen Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut“ (S. 44). Diese Erfahrung der besänftigenden und bändigenden Wirkung von Musik vereint Lotte und Werther. Im Brief vom 16. Juli schreibt dieser, Lotte habe eine Melodie auf dem Klavier gespielt „mit der Kraft eines Engels, so simpel und so geistvoll, es ist ihr Leiblied, und mich stellt es von aller Pein, Verwirrung und Grillen her, wenn sie nur die erste Note davon greift“ (S. 78). Werther ruft hiermit das Inventar empfindsamer Ausdrucksformen ab. Dazu gehören die Stilisierung der Geliebten als Engel und das Singen und Spielen von empfindsamen Melodien. Nebenbei macht diese Textstelle einmal mehr deutlich, dass sich auch ein Text des Sturm und Drang wie der Werther-Roman empfindsamer Verständigungsstrukturen <?page no="353"?> 93 und empfindsamer Kommunikationsmodelle bedient. Lottes Musik wirkt also in Zeiten von Depression und großer Selbstmordgefährdung, „oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor’n Kopf schiessen möchte“ (S. 78), auf Werthers Leidenschaft mäßigend und heilt vorübergehend sein Leiden. In dieser psychischen Verwirrung, von der Werther spricht, empfindet er seinen Körper als einen „Kerker“ (S. 22), und nur Lotte kann ihn daraus befreien. Freiheit ist für Werther nur noch ein Gefühl. So wird diese Frau mit einem Anspruch konfrontiert, der sie zwangsläufig überfordern muss, da nur Werther sich selbst helfen kann. Darin liegt ein bemerkenswerter Unterschied zum Selbsthelfertypus des Götz in Goethes gleichnamigem Drama. Freiheit wird im Werther radikal psychologisiert, das ursprünglich äußere Gefängnis (in dem Götz von Berlichingen stirbt) kehrt sich nach innen, verzweifelt wird um das Verstehen psychischer Binnenkonflikte gerungen, die Außenwelt erfüllt nur noch gelegentlich die Aufgabe einer Kulisse, so wie die äußere Natur unmittelbar Werthers innere Natur widerspiegelt. Im Zusammenhang der letzten Begegnungen zwischen Lotte und Werther kommt der Autor nochmals auf die affektbindende Wirkung von Musik zurück. In der Rolle des Erzählers und versteckt hinter der Fiktion des Herausgebers, kommentiert er Lottes Versuch einer empfindsamen Bändigung ihrer Leidenschaften. Lotte beginnt beim Gedanken an die unglückliche Partnerschaft mit Albert und an ihre Einsamkeit zu weinen, sie wird melancholisch. Nach der Lesart des Briefs vom 13. Mai ist der Übergang „von süsser Melancholie zur verderblichen Leidenschaft“ (S. 14) fließend und außerdem gefährlich schnell vollzogen. Lotte befindet sich im Zustand hochgradiger Leidenschaftsfähigkeit, Werthers Leiden scheint auch ihr bevorzustehen. Sie gerät jetzt in jenen Zustand, den er bereits hinter sich hat. Ihre psychische Erregung äußert sich körperlich („wie schlug ihr Herz“, S. 236), als Werther, den sie eigentlich nicht mehr sehen wollte, sie besucht und sie seine Stimme hört. Wieder ist es ein akustisches Signal, das unmittelbar in den Affekthaushalt eingreift. Lotte spielt Klavier, um ihre aufgewühlte Seele zu beruhigen. Erst danach vermag sie sich neben Werther aufs Kanapee zu setzen. Nun ist Werther die Klaviatur, auf der sie zu spielen versucht, doch der eintretende Effekt ist katastrophal. In der gemeinsamen Lektüre Ossians, eines Signaltextes des Sturm und Drang, schaffen sich beide unwissentlich die Voraussetzung für den endgültigen Gefühlsausbruch. Die „Gewalt“ (S. 252) der Schrift ebnet der Tat den Weg, Lotte und Werther fassen sich an. „Die Welt vergieng ihnen, er schlang seine Arme um sie her, preßte sie an seine Brust, und dekte ihre zitternde stammelnde Lippen mit Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="354"?> 94 4. Schritt - 18. Jahrhundert wüthenden Küssen“ (S. 254). Wenn Werther über Lotte schon früh schreibt: „Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart.-[…], es ist als wenn die Seele sich-[…] umkehrte“ (S. 78), so gleicht dies syntaktisch und vom Sprachmodus her gesehen einer Zustandsbeschreibung. Doch in Wirklichkeit meint Werther damit, Lotte soll heilig sein, das Begehren soll schweigen. Aus diesem Sollen wird im Laufe der Textentwicklung eine klare apodiktische Aussage, Lotte muss heilig sein, das Begehren muss schweigen. Und das meint nichts anderes als: Lotte muss heilig sein, damit das Begehren verstummt. Wenn etwas aber schweigen soll, dann hat es zuvor gesprochen. Die Umkehrung der Seele, die Werther nennt, bedeutet dann nicht die gelungene Affektkontrolle, sondern gerade den Verlust der Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung. Dieses Versagen des Ansichhaltens ist bei der Ossian-Lektüre (der Referenztext der vorbildlichen Alten, nämlich Homer, wird nicht mehr gelesen) handgreiflich im buchstäblichen Sinne geworden. Mit Albert tritt in das Ensemble der Diskutanten des Werthers ein dritter Beteiligter ein. In einem Streitgespräch mit Werther, worin es um die Sittlichkeit des Selbstmords als freier Willensentscheidung geht, bezieht Albert die Position des aufgeklärt Argumentierenden. Für ihn steht im Mittelpunkt der moralischen und juristischen Beurteilung einer Tat nicht die Tat selbst oder das Tatmotiv, sondern allein der Täter. Werther führt in seiner Entgegnung unter anderem zwei Fragen an, die sich mit der Verletzung von Sexualitätstabus befassen. Er wechselt dabei unmerklich von einer aufgeklärten zu einer aufklärungskritischen Position: „Wer hebt den ersten Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren nichtswürdigen Verführer aufopfert? Gegen das Mädgen, das in einer wonnevollen Stunde, sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert? “ (S. 94) Bei der ersten Frage nach dem Schuldvorwurf gegen den Ehemann bei erwiesener ehelicher Untreue der Frau argumentiert Werther so wie Albert kurz zuvor und was Werther zu dem gleichermaßen emphatischen wie auch als Empörung gedachten Ausruf verleitet hat: „Daß ihr Menschen,-[…] gleich sprechen müßt: Das ist thörig, das ist klug, das ist gut, das ist bös! “ (S. 94) Werther wendet sich sehr entschieden gegen moralische Werturteile, wenn es um die Beurteilung einer Sache, einer Handlung bzw. einer Tat geht. Und gerade mit solch wertenden Epitheta bezieht er nun Position gegen die ungebändigte Leidenschaft. In der ersten Beispielfrage ergreift er also Partei für eine reglementierte, unfreie Sexualität. Er argumentiert hier noch aus der Sicht des betrogenen Ehemanns, um dies in der zweiten Beispielfrage nach der Schuldfähigkeit nicht einer verführten Frau, sondern nach <?page no="355"?> 95 der moralischen Schuld des einvernehmlichen Sexes sofort zu widerrufen. Jetzt argumentiert er aus der Perspektive der Frau, die nicht mehr in der Lage oder willens ist, ihre Leidenschaften zu kontrollieren. Werther rechtfertigt nun aufklärungskritisch eine emanzipative Haltung den Leidenschaften gegenüber. Nicht die Tat der vor- oder außerehelichen Sexualität ist verwerflich, sondern die moralische Beurteilung und Verurteilung der Liebenden durch die Gesellschaft. Dieser Perspektivenwechsel vollzieht sich plötzlich und zwar innerhalb von zwei Sätzen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand, denn Werther rechtfertigt damit im Vorgriff auf die weitere Entwicklung das von ihm begehrte Verhältnis zu Lotte. In demselben Gespräch verteidigt Werther schließlich auch den Selbstmord. Als Beispiel dient der Fall eines Mädchens, das vom begehrten Mann verlassen wird und sich deshalb umbringt. Indem Werther den Selbstmord der Frau verteidigt, rechtfertigt er seine eigene Position gegenüber Lotte. „Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muß sterben“ (S. 102), sagt er zu Albert. Doch auch die Zivilisation ist nicht imstande, einen Ariadnefaden zu spinnen, der aus diesem Labyrinth herausführen könnte. Was die aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft dem Einzelnen abverlangt, überfordert dieses aufklärungskritische, auf Autonomie und Freiheit pochende Individuum. Zwischen diese beiden Positionsbestimmungen Werthers, der Rechtfertigung der freien Sexualität und der Verteidigung des Selbstmords, ist eine heftige Kontroverse zwischen Albert und Werther über den Zusammenhang von Leidenschaft und Wahnsinn gestellt. Albert entgegnet Werther, dass der Tabubruch der vorehelichen Sexualität aus Liebesleidenschaft und der Handlung im Affekt (die Werther in seinem Beispiel vom betrogenen Ehemann anführt) mit der phasenweisen minderen Zurechnungsfähigkeit der Handelnden zu erklären sei. Mit diesem medizinisch-psychiatrischen Argument versucht der aufgeklärt denkende Albert, das unbedachte Handeln aus Leidenschaften wieder einzufangen und in ein bürgerliches Bewertungssystem zu überführen. Handeln ist hier nicht mehr jenes politisch-gesellschaftliche Handeln eines Götz von Berlichingen, sondern eine ausschließlich aus dem psychischen Binnenleben des Individuums herrührende Selbstbetätigung. Der Begriff des Handelns erfährt im Werther eine starke Intimisierung und verdeutlicht damit einen zivilisatorischen Prozess, der die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert maßgeblich mitbestimmt. Ein Mensch, „den seine Leidenschaften hinreissen“ (S. 94), verliert jedwede Kontrolle über seine Handlungen, er ist unzurechnungsfähig und wird Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="356"?> 96 4. Schritt - 18. Jahrhundert deshalb als „Trunkener, als ein Wahnsinniger angesehen“ (S. 94). Hinter diesem Argument versteckt sich unschwer das aufgeklärte Bemühen, Leidenschaften als Teil einer Krankengeschichte, als Krankheitssymptome zu begreifen. Die Medizin des Aufklärungszeitalters ordnet nahezu jegliche Verhaltensauffälligkeit oder körperliche Abweichung dem Ursachenkomplex Leidenschaften zu: Fieber, Wechselfieber, Typhus, Hirnwut, Zahnweh, Podagra, Ausschlagsfieber, Pest, Blutstürze, Gebärmutterblutstürze, Blutfluss zum Abortieren, Nervenkrankheiten, schlafsüchtige Zufälle, Schlagfluss, Entkräftung, Schwachheiten, Ohnmacht, Hypochondrie, Bleichsucht, Krämpfe, krampfartige Krankheiten, anhaltende Zusammenziehung besonderer Teile, krankhafte Engbrüstigkeit, zufälliges Schlucken, das hysterische Übel, Melancholie, Raserei, Skorbut, Gelbsucht und Heimweh-- all das kann Folge von Leidenschaften sein. So lautet die Auflistung in der zeitgenössisch populären und preisgekrönten medizinischen Abhandlung über den Einfluß der Leidenschaften auf die Krankheiten des Körpers (1789) von William Falconer (1741-1805). Werther wehrt sich in seiner Antwort auf Albert entsprechend heftig: Ach ihr vernünftigen Leute! -[…] Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! -[…] Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, und meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinne, und beydes reut mich nicht, denn ich habe in meinem Maasse begreifen lernen: Wie man alle ausserordentliche Menschen, die etwas grosses, etwas unmöglich scheinendes würkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreien müßte. (S. 94 f.) Leidenschaften als Wahnsinn zu deklarieren ist Ausdruck einer Diffamierungspraxis, deren Ziel die Unterdrückung von Leidenschaften ist. Dagegen setzt sich das selbsthandelnde Individuum Werther zur Wehr und reklamiert eine grundlegende Position des Sturm und Drang für sich. Wie schon zuvor Lotte, so greift auch Werther an dieser Stelle auf seine subjektive Erfahrung zurück. Es geht ihm um den unverkürzten Anspruch einer Emanzipation der Leidenschaften, die den sozial notwendigen und gesellschaftlich erforderlichen Mechanismen der Bändigung entgegensteht. Während Albert gesellschaftlich argumentiert, argumentieren Lotte und Werther individualistisch, eben vom betroffenen Individuum aus. Der Brief vom 30. November 1771 enthält Werthers Bericht von der Begegnung mit dem wahnsinnigen Heinrich. Der Ort der Begegnung ist die Natur, die nun nicht mehr schön ist, sondern als öd und nasskalt, der herbstlichen Stimmung entsprechend, charakterisiert wird. Heinrich, den Werther einen <?page no="357"?> 97 glücklichen Unglücklichen nennt (vgl. S. 196), war Sekretär bei Lottes Vater gewesen, bis eine „unglükliche Leidenschaft“ (S. 196) zu ihr zum Verlust der Stelle führte. Die Leidenschaft wird zur Ursache des unfreiwilligen sozialen Abstiegs. Zunächst noch idealisiert Werther den Zustand des Wahnsinnigen, doch wird ihm mit dessen Schicksal zugleich bewusst, dass es in der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft der 1770er Jahre keinen Raum für eine Emanzipation der Leidenschaften gibt. Wer leidenschaftlich und nicht standesgemäß liebt, fällt aus der bürgerlichen Ordnung. Da Werther Heinrichs Weg der gesellschaftlichen Isolation und der psychiatrischen Verwahrung nicht wählen wird, bleibt ihm nur der freiwillige, aber ebenso unumkehrbare Tod. In Werthers Geschichte spiegelt sich die Geschichte der zunehmend isolierten Individuen des Sturm und Drang so wider, wie Werther in Heinrichs Geschichte seine eigene Geschichte wiederfindet. Goethe stellt damit neben der elementaren Forderung des Sturm und Drang nach Individualität und Einzigartigkeit dessen drohende Überforderung durch gesellschaftliche und psychische Isolation und Versingelung dar. Auf diese Weise werden Hoffen und Scheitern im Wechselspiel von Figur und Autor zum doppelten Charakter des Sturm und Drang. Werther macht gegenüber Albert ein Modell der Entstehung von Leidenschaften geltend, das auf die Vorstellung hinausläuft, das Individuum habe weder Macht über noch Einfluss auf seine Leidenschaften. Damit spricht sich Werther von jeder Verantwortung für sein psychisch bedingtes Handeln frei, er will sich gleichsam im Vorgriff Absolution von Albert für sein Verhalten erteilen lassen. Doch Albert lässt dies nicht gelten. Der aufgeklärte Mensch, der ein „Mensch von Verstande“ (S. 102) sei, könne sich durchaus selbst disziplinieren, also bändigen. Aufklärung von Leidenschaften bedeutet in dieser Lesart Bändigung von Leidenschaften. Damit bringt Albert ein Argument in die Diskussion ein, das der Autor Goethe fast unverändert von Karl Wilhelm Jerusalem übernommen hat. In dessen Philosophischen Aufsätzen (1776), die von Lessing später als Buch herausgegeben wurden und die nach dem Bericht Kestners vom 2. November 1772 an Goethe bei Jerusalems Selbstmord auf seinem Pult neben Lessings bürgerlichem Trauerspiel Emilia Galotti (1772) gelegen haben, stellt Jerusalem die Frage: „Worin besteht die Tugend? Was ist sie? “ und gibt selbst die Antwort, „sie ist die Beherrschung unserer Leidenschaften durch die Vernunft“ (zitiert nach: Lessing: Werke und Briefe. Frankfurter Ausgabe Bd. 8, S. 147 f.). Im Werther macht Albert geltend, dass der aufgeklärte Mensch durchaus in der Lage zur Selbstbeherrschung ist, die als empfindsame Tugendhaftigkeit die gesellschaftliche Anerkennung findet. Doch Werther schließt die Möglichkeit Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="358"?> 98 4. Schritt - 18. Jahrhundert einer empfindsamen Balance zwischen Verstand und Gefühl aus und unterstreicht damit seine aufklärungskritische Position. Am Ende des Gesprächs wird sein Handeln selbst zum unmittelbaren Ausdruck seiner Ratlosigkeit, wie in der aufgeklärten Gesellschaft mit Leidenschaften anders als disziplinierend umzugehen ist, indem er das Gespräch abbricht und den Ort verlässt: Der Mensch ist Mensch, und das Bißgen Verstand das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wüthet, und die Gränzen der Menschheit einen drängen. Vielmehr-- ein andermal, davon sagt ich, und grif nach meinem Hute. O mir war das Herz so voll-- Und wir giengen auseinander, ohne einander verstanden zu haben. Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht. (S. 102) Der Abbruch des Gesprächs kehrt stilistisch als Anakoluth wieder, der Gedankenstrich markiert die Trennung der Gesprächspartner und die Unvereinbarkeit der beiden Standpunkte. Was in Werthers Lebenswirklichkeit aber als Abbruch und als Versagung auftritt, erscheint nun in nächtlichen Träumen als Wunscherfüllung. Denn Werther fantasiert Lotte. Im Brief vom 21. August 1771 beschreibt er dies: „Umsonst streke ich meine Arme nach ihr aus, Morgens wenn ich von schweren Träumen aufdämmere, vergebens such ich sie Nachts in meinem Bette, wenn mich ein glüklicher unschuldiger Traum getäuscht hat“ (S. 108 f.). Fast ein Jahr lang hält diese Fantasievorstellung der vollzogenen Partnerschaft und Paaridentität mit Lotte an. Am 29. Juli 1772 schreibt Werther emphatisch: „Ich ihr Mann! -[…] Sie meine Frau! -[…]-- Es geht mir ein Schauder durch den ganzen Körper, Wilhelm, wenn Albert sie um den schlanken Leib faßt“ (S. 158 f.). Der Impuls, nach dem begehrten Objekt zu greifen, es sich im buchstäblichen Sinn handgreiflich einzuverleiben, ist für Werther kaum mehr zu unterdrücken. Die Unmöglichkeit der Selbstbändigung und Selbstbeherrschung, die er Albert gegenüber zunächst allgemein beschrieben hatte, erfährt er nun selbst am eigenen Leib sehr konkret. Am 30. Oktober 1772 schreibt er in einem kurzen Brief über Lotte, sprachlich schon merklich von der Stillage der anderen Briefe abgesetzt: „[…], so viel Liebenswürdigkeit vor sich herumkreuzen zu sehn und nicht zugreifen zu dürfen. Und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit“ (S. 180). Am 17. Dezember 1772 gesteht er schließlich ein, dass sich seine Leidenschaft nicht mehr kontrollieren lasse. „Diese Nacht! Ich zittere es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an meinen Busen gedrükt und dekte ihren lieben lispelnden Mund mit unendlichen Küssen“ (S. 200 f.). Noch sind es nächtliche Träume, auch wenn dies vom Text her gesehen nicht zweifelsfrei und eindeutig ist, in denen er sich diesen <?page no="359"?> 99 Wunsch erfüllt. Doch schon wenig später versagt auch die nächtliche Traumarbeit als letzter Mechanismus der Selbstdisziplinierung. Werther erfüllt sich nun in der Realität, was ihm verwehrt geblieben war, und steuert damit in die Katastrophe. „Und mit mir ist’s aus! Meine Sinnen verwirren sich.-[…] Mir wärs besser ich gienge“ (S. 202). Werther unterläuft also absichtsvoll die gesellschaftlichen Bändigungsgebote. Lottes Ausruf: „Werther,- […] mässigen Sie sich. O! warum mußten Sie mit dieser Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft für alles, das Sie einmal anfassen, gebohren werden“ (S. 226), appelliert an den zivilisatorischen Verhaltensstandard der Selbstbeherrschung, der Selbstzucht oder der verinnerlichten Bändigung von Leidenschaften. Dass dieser Appell notwendig ins Leere läuft, ist ihr nicht bewusst. Vielmehr tut sie das, was Werther aufgrund seines Ehephantasmas notwendigerweise überfordern muss, denn sie berührt den Mann, der zuletzt nur noch von der unmittelbaren körperlichen Berührung mit Lotte fantasiert hat. Lotte stellt eigeninitiativ den körperlichen Kontakt mit Werther her, nimmt ihn „bey der Hand“ (S. 226) und wiederholt ihren Mäßigungsappell. Man kann am Text sehr genau verfolgen, wie das uneigentliche Sprechen das eigentliche Sprechen verstellt. Die Gesten sind so codiert, dass sie der Gesprächspartner nicht mehr verstehen kann. Lotte fordert fast im Ton eines Imperativs: „Seyn Sie ein Mann“ (S. 226) und das ausgerechnet von dem Mann, der genau diese Erwartung Mann zu sein nicht erfüllen kann. Denn Lotte spricht uneigentlich, sie meint nicht das, was sie sagt, sondern meint das, was sie nicht sagt. Sie erwartet von Werther ein den bürgerlichen Schicklichkeitsstandards der Zeit gehorchendes Verhalten. Werther hingegen kann Lottes Aufforderung ein Mann zu sein nur wörtlich, also im eigentlichen Wortsinn verstehen und das heißt für ihn, gerade nicht diesen zivilisatorischen Erfordernissen zu gehorchen. Lotte rät Werther zu einer empfindsamen Lösung, die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gelingen kann. „Suchen Sie, finden Sie einen werthen Gegenstand all Ihrer Liebe, und kehren Sie zurük, und lassen Sie uns zusammen die Seligkeit einer wahren Freundschaft genießen“ (S. 226). Werther verweist diese Empfehlung in das Reich der Ratgeberliteratur. Er fängt „einen unbedeutenden Diskurs an“ (S. 228). Das Eigentliche, das Bedeutende, die Tat selbst weicht in der Folge in die Schrift zurück. Am nächsten Morgen teilt Werther Lotte brieflich seinen Entschluss mit, aus dem Leben zu gehen. Das Medium, welches bislang zur Darstellung von Werthers Leben und Leidenschaften und damit der verschriftlichten Bändigung der Leidenschaften diente, Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="360"?> 100 4. Schritt - 18. Jahrhundert wird nun zum Medium der Mitteilung auf deren finalen Verzicht: der Brief. Der Romankommentar spricht von der subversiven Macht von Werthers Leidenschaften, die das friedvolle Zusammenleben zwischen Albert und Lotte regelrecht untergraben habe. Diese Metapher knüpft wieder an jene Beschreibung an, die Werther selbst im Brief vom 26. Mai 1771 gegeben hat. Was er bei dem wahnsinnigen Heinrich festgestellt hatte, wird nun durch den Kommentar bei ihm selbst diagnostiziert. Die im Titel angezeigte Leidensgeschichte erfasst jetzt auch Lotte und Albert, sie beginnen unter Werthers Leiden zu leiden. Eine provokantere Brechung könnte das empfindsame Gebot des Mitleidens kaum erfahren. Mitleiden ist am Ende des Romans keine bürgerliche Sozialtugend mehr im Gegensatz zum mitleidslosen und mitleidsunfähigen Adel. Vielmehr wird das Leiden des anderen als eine Krankheit beschrieben, die infektiös zu wirken beginnt, Lotte wird „zulezt selbst mit angestekt“ (S. 204). Werthers Leidenschaft bedroht die patriarchale Ordnung der Zweierbeziehung, sie gefährdet Alberts Rechte gegenüber Lotte, die dieser geltend macht. Innerhalb weniger Zeilen wechselt der Autor Goethe von der bisherigen Monoperspektive Werthers zu deren Korrektiv, dem Kommentar. Die Leidenschaftsgeschichte als Leidensgeschichte wird darin noch weiter verschärft zur Krankengeschichte. Leidenschaften sind ein unheilbares, ansteckendes Fieber, sie sind eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung, wenn sie außer Kontrolle geraten. Goethe beschließt seinen Kommentar, nämlich die Mitteilung „Der Herausgeber an den Leser“ (S. 204), mit folgender Bemerkung über Werther: „[…] das stürmende Abarbeiten seiner Kräfte, ohne Zwek und Aussicht, drängten ihn endlich zu der schröklichen That“ (S. 208). Diese Formulierung ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Zum einen bestätigt sie auf der Ebene der Diskurs- und Epochengeschichte eine Diffamierungspraxis der Aufklärung gegenüber dem Sturm und Drang; das zweck- und ziellose Handeln eines Autonomie beanspruchenden Individuums muss zwangsläufig in eine Tat münden, die das Gemeinwohl gefährdet. Zum anderen bringt sie auf der Ebene der literaturgeschichtlichen Selbstreflexion aber auch unverfälscht das Selbstverständnis von Sturm und Drang als Aufklärungskritik zum Ausdruck. Dass Goethe dieses Selbstverständnis dem aufgeklärten Romankommentar unterlegt, mag eine Pikanterie sein, hat aber ihre literaturhistorische Bedeutung gerade darin, dass es die Zusammengehörigkeit von Aufklärung und Sturm und Drang trotz aller Kritik und trotz aller Unterschiede hervorhebt. Hier ist das Verständnis von Sturm und Drang als Chiffre einer verdeckten Opposition zur Aufklärung in Goethes Werther gegenwärtig. <?page no="361"?> 101 Im Schlussteil des Romans unterbricht der fiktive Herausgeber von Werthers Briefen dessen eigenen Bericht durch Kommentare. Dass dies schreibstrategisch notwendig ist, bestätigt die zeitgenössische Rezeption, denn der Roman (und mit ihm sein Autor) wird entweder vollständig abgelehnt und publizistisch attackiert oder die Identifikation mit der Werther-Figur reicht so weit, dass der Text insgesamt als ein authentisches Lebensdokument begriffen wird. Diese heftigen Attacken auf Autor und Buch reichen bis hin zu Zensurmaßnahmen. Im katholischen Wien wird das Buch ebenso auf den Index gesetzt wie im protestantischen Leipzig. Die Theologische Fakultät der Universität befürchtet, dass der Roman besonders weibliche Leser zu freizügigerem Handeln verführen könne. Außerdem wird Goethes Buch als Empfehlung zum Selbstmord missverstanden, was theologisch nicht zu rechtfertigen sei. Der Rat der Stadt Leipzig folgt dem Antrag und verfügt am 30. Januar 1775 ein Druck- und Verkaufsverbot. Das umgehen die Studenten und interessierten Leser, indem sie außerhalb der Stadtmauern den Roman erwerben. Trotz dieser Behinderungen erfahren Autor und Roman innerhalb kurzer Zeit eine unvergleichliche Popularität, die bis zur Herstellung von Merchandise-Produkten mit eigener Wertschöpfung führt, wie etwa dem Werther-Fächer, der die Szenen abbildet ‚Lotte bei Werthers Grab‘ und ‚Lotte in Ohnmacht mit Albert‘, Gürtelanhängern, Werther-Tassen aus Meißner Porzellan und natürlich der typischen Werther- Kleidung, die auch der Autor selbst getragen hat, bestehend aus blauem Frack, gelber Weste und gelber Hose. Das Verbot wird übrigens angesichts der großen illegalen Verbreitung des Buchs bald aufgehoben. Zu den erklärten Gegnern des Romans gehören die Vertreter einer orthodoxen Aufklärung, unter anderem der Literaturkritiker Friedrich Nicolai (1733-1811) und der Hamburger Pastor Johann Melchior Goeze (1717-1786), mit dem auch Lessing heftige Differenzen austrägt. Diese Kritiker erkennen im Roman das Plädoyer für eine Emanzipation der Leidenschaften und verurteilen dies moralisch. So schreibt beispielsweise der einflussreiche schweizerische Kritiker Johann Jakob Bodmer (1698-1783) kurz nach Erscheinen des Werthers: „Die Jünglinge finden in Göthens Werk Sophismen für die ausschweifendste Leidenschaft“ (zitiert nach: Der junge Goethe im zeitgenössischen Urteil. Bearbeitet u. eingeleitet v. Peter Müller. Berlin 1969, S. 155). Zustimmung erfährt der Roman von dem überzeugten Aufklärer Christoph Martin Wieland (1733-1813), dessen Liberalität ohnehin sprichwörtlich ist. Das Lager der Sturm-und-Drang- Autoren bejubelt den Werther. Er wird zum maßgeblichen Referenztext dieser Autorengruppe. Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791), Gottfried Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="362"?> 102 4. Schritt - 18. Jahrhundert August Bürger (1747-1794) und viele andere schreiben in privaten Briefen und öffentlichen Stellungnahmen enthusiastisch über den Roman. Zu den engagiertesten Verteidigern gehört Goethes Freund Lenz. Er verfasst zehn Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers (1774 / 75). Zu Lebzeiten wird dieser Essay allerdings nie gedruckt, erst 1918 erscheint er. Dennoch geben diese Briefe einen Eindruck davon, mit welcher Verve der Werther auch verteidigt wird. Lenz beispielsweise tritt vorbehaltlos für Goethes Roman ein. Er unterscheidet zwischen der Moralität eines Textes und dem moralischen Endzweck, also der moralischen Botschaft, die ein Dichter mit seinem Text verfolgt. Wenn ein Text wie der Werther das Herz der Leser erreiche, könne er nur moralisch gut wirken und damit das Herz bessern, was bekanntlich eine elementare aufgeklärte Funktionsbestimmung der Literatur sei. Das Herz bessern könne Literatur aber nur, wenn zuvor heftige Leidenschaften im Leser erregt würden. „Eben darin besteht Werthers Verdienst daß er uns mit Leidenschaften und Empfindungen bekannt macht, die jeder in sich dunkel fühlt, die er aber nicht mit Namen zu nennen weiß. Darin besteht das Verdienst jedes Dichters“ (Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden Bd. 2, S. 682). In einem privaten Brief vom 10. Mai 1775 wird Lenz noch deutlicher: „Was sagen Sie zu all dem Gelärms übern Werther? Ist das erhört einen Roman wie eine Predigt zu beurteilen. O Deutschland mit deinem Geschmack! “ (Ebd. Bd. 3, S. 318) Goethes Werther hatte zweifelsohne eine ambivalente Wirkung. Der Roman erzählt von einer epochalen Tabuverletzung, er entfaltet die Pathographie oder das Narrativ einer nichtsublimierten Sexualität, er bietet das gescheiterte Gegenmodell zur Selbstdisziplinierung, das auf der Forderung nach einer maßlosen Emanzipation der Leidenschaften beruht. Dieser Tabubruch wird zusätzlich noch verstärkt durch die Thematisierung und Rechtfertigung des gesellschaftlich diskriminierten Selbstmords. Goethe wertet das bürgerliche Subjekt insofern auf, als er nachdrücklich herausstreicht, dass es fundamentale Leidenschaften zu entwickeln und zu äußern in der Lage ist. In diesem Punkt der Darstellung bricht Goethe ein Tabu, da er das Problem der Leidenschaften und des Scheiterns ihrer restlosen, aber vom Sturm und Drang für unverzichtbar gehaltenen Befreiung in der bürgerlichen Gesellschaft gezielt aufwirft. Insofern ist der Werther ein Text über die Unmöglichkeit des Ansichhaltens und verletzt gerade in der drastischen Offenlegung dieses Scheiterns ein Tabu. <?page no="363"?> 103 Textgrundlage: Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Studienausgabe. Paralleldruck der Fassungen von 1774 und 1787. Hgg. v. Matthias Luserke. Stuttgart 1999 (=-Reclam UB 9762). Lektüreempfehlungen: Lyrik des 18. Jahrhunderts (u. a. Johann Wolfgang Goethe, Jakob Michael Reinhold Lenz, Matthias Claudius, Gottfried August Bürger, Gedichte des Göttinger Hain, Friedrich Hölderlin) Johann Wolfgang Goethe: Götz von Berlichingen (1773) Herder, Goethe, Frisi, Möser: Von deutscher Art und Kunst (1773) Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister (1774), Die Soldaten (1776) Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin (1776) Friedrich Maximilian Klinger: Sturm und Drang (1777) Friedrich Schiller: Kabale und Liebe (1784) Immanuel Kant (u. a.): Was ist Aufklärung? (1784) Karl Philipp Moritz: Anton Reiser (1785 / 90) Rudolph Zacharias Becker: Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute (1788) Einführende wissenschaftliche Literatur: Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren-- Texte-- Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2010 (=-Reclam UB 17602). Handbuch Sturm und Drang. Hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit v. Vanessa Geuen u. Lisa Wille. Berlin, Boston 2017. Johann Wolfgang Goethe Die Leiden des jungen Werthers (1774) <?page no="365"?> 5. Schritt - 18. Jahrhundert F rühromaNtik : Friedrich Schlegel Lucinde (1799) In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verändert sich die Kulturtechnik Lesen entscheidend. Es entsteht ein Leseverhalten, das von den Zeitgenossen als Lesewut bezeichnet wird. Ein neues Lesepublikum ist entstanden, nicht mehr Adlige oder Geistliche allein sind des Schreibens und Lesens mächtig, sondern nun ist es größtenteils ein bürgerliches Lesepublikum. Um diese Lesewut zu steuern, werden zwei Institutionen geschaffen, die Lesegesellschaften und die Leihbibliotheken, die zugleich auch eine Kontrolle über den Lesestoff erlauben. Während die Lesegesellschaften Non-Profit-Organisationen sind, verfolgen die Leihbibliotheken durchaus kommerzielle Interessen. Die Lesegesellschaften können durchaus als eine frühe Form bürgerlichen Vereinswesens betrachtet werden, denn sie müssen Statuten ausarbeiten, einen Vorstand wählen, Räume organisieren, Finanzen verwalten, Mitgliedschaften prüfen und die Bücher und Zeitschriften anschaffen, die gemeinsam gelesen werden sollen. Information, Kommunikation und Stärkung der sozialen Bindungen stehen im Zentrum ihrer Tätigkeit. Frauen haben in der Regel keinen Zutritt zu ihnen. Bis zum Jahr 1760 gibt es erst fünf Lesegesellschaften, bis 1780 sind es schon 50 und um 1800 bereits mehr als 200. Meist sind sie in ihrem Aktivitätsradius regional begrenzt. Die gesellige Konversation in den Lesegesellschaften, die durchschnittlich bis zu 100 Mitglieder haben, folgt durchaus demokratischrepublikanischen Vorstellungen von Kommunikation, die auch entsprechend eingeübt werden, doch bleibt diese Art von Mitbestimmungstraining innerhalb dieser Gesellschaften, sie entfaltet keine politischen und praktischen Auswirkungen. Im Gegenteil, etliche Lesegesellschaften haben durchaus mit der Obrigkeit zu kämpfen. Lesegesellschaften gelten als Diskussionsforen und als Multiplikatoren der Lesewut, da sie systematisch eine extensive Lektüre einüben und nicht mehr der memorierenden intensiven Lesehaltung folgen. Die Mitglieder der Lesegesellschaften kommen vor allem aus dem bürgerlichen Mittelstand wie Handwerksmeister, adlige Militärs und Geistliche. Ausgeschlossen sind Studenten und Handwerksgesellen, Frauen und Hofmeister, Schreiber <?page no="366"?> 106 5. Schritt - 18. Jahrhundert und nichtadlige Militärs. Diese suchen umso mehr die Leihbüchereien auf. Sie entstehen vor allem in den Jahren zwischen 1770 und 1820. Am Ende des 18. Jahrhunderts sind sie in fast allen kleineren Städten oft mehrfach vertreten. Allein Frankfurt am Main hat zu diesem Zeitpunkt 18 Leihbibliotheken. Eine fehlende Kaufkraft und auch mangelnde Kaufmotivation machen die Leihbüchereien sehr beliebt und steigern die Umsatzzahlen. Sehr zum Verdruss der Buchhandlungen, denn wer leiht, kauft nicht. Der zeitgenössische Buchhandel klagt über Auflagenzahlen, die sich um mehr als die Hälfte verringern. Um 1800 sind dies bei einer Durchschnittsauflage eines Buches noch etwa zwischen 500 und 750 Stück. Was die Zahl der Neuerscheinungen betrifft, so sind für das Jahr 1805 insgesamt 4181 neue Bücher gezählt. Infolge der Napoleonischen Kriege gehen die Zahlen dann zurück, und erst 1843 wird ein Spitzenwert mit insgesamt 14 039 Neuerscheinungen erlangt. Ein eindrückliches literarisches Beispiel von der Einrichtung und dem Selbstverständnis einer solchen Leihbibliothek, wenngleich auch pointiert überspitzt, gibt Heinrich von Kleist (1777-1811). Er berichtet in einem Brief vom 14. September 1800 an seine Braut Wilhelmine von Zenge (1780-1852) von folgendem Dialog mit dem Mitarbeiter einer Würzburger Leihbibliothek: Nirgends kann man den Grad der Kultur einer Stadt und überhaupt den Geist ihres herrschenden Geschmacks schneller und doch zugleich richtiger kennen lernen, als-- in den Lesebibliotheken. Höre was ich darin fand-[…]. ‚Wir wünschen ein paar gute Bücher zu haben.‘-- Hier steht die Sammlung zu Befehl.-- ‚Etwa von Wieland.‘-- Ich zweifle fast.-- ‚Oder von Schiller, Goethe.‘-- Die möchten hier schwerlich zu finden sein.- - ‚Wie? Sind alle diese Bücher vergriffen? Wird hier so stark gelesen? ‘-- Das eben nicht.-- ‚Wer liest denn hier eigentlich am meisten? ‘-- Juristen, Kaufleute und verheiratete Damen.-- ‚Und die unverheirateten? ‘-- Sie dürfen keine fordern.- - ‚Und die Studenten? ‘- - Wir haben Befehl ihnen keine zu geben.- - ‚Aber sagen Sie uns, wenn so wenig gelesen wird, wo in aller Welt sind denn die Schriften Wielands, Goethes, Schillers? ‘-- Halten zu Gnaden, diese Schriften werden hier gar nicht gelesen.-- ‚Also Sie haben sie gar nicht in der Bibliothek? ‘-- Wir dürfen nicht.-- ‚Was stehn denn also eigentlich für Bücher hier an diesen Wänden? ‘-- Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern, links ohne Gespenster, nach Belieben.-- ‚So, so.‘-- - (Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hgg. v. Helmut Sembdner. München 1985, Bd. 2, S. 562 f.) <?page no="367"?> 107 Friedrich Schlegel Lucinde (1799) Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist der Bedeutungszuwachs der Leihbüchereien gegenüber den Lesegesellschaften so groß, dass man von einem Individualisierungs- und zunehmenden Anonymisierungsprozess des extensiven Lesens sprechen kann. Romantik als Epochenbezeichnung findet sich in nahezu allen europäischen Kunstformen wieder. Neben der Musik und der Bildenden Kunst ist vor allem die Literatur das Medium romantischer Identitätsstiftung. In den einzelnen Nationalliteraturen bezieht sich der Epochenbegriff Romantik mit ihren Früh-, Hoch- und Spätphasen auf je unterschiedliche Zeiträume des ausgehenden 18. und des frühen 19. Jahrhunderts. Die deutsche Frühromantik kann als ein Ensemble von Kleingruppen beschrieben werden, die sich dreimal in unterschiedlichen Personenkonstellationen und an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten treffen und literarisch wirken. Im Juni 1797 geht Friedrich Schlegel von Jena nach Berlin. Dort begegnet er dem Theologen Friedrich Schleiermacher (1768-1834) und Dorothea Veit (1764-1839), einer Tochter des Philosophen Moses Mendelssohn, die selbst schreibt und das Vorbild für die Lucinde ist. Später kommt auch Ludwig Tieck dazu. Friedrich Schlegel wird der Mittelpunkt und die treibende Kraft dieser sogenannten ersten Berliner Romantik (erste Phase). 1799 stößt der Philosoph Fichte, aus Jena kommend, hinzu. Diese Berliner Phase dauert bis Spätsommer 1799. In der Zwischenzeit begegnen sich im Juli und August 1798 Friedrich Schlegel, der Bruder August Wilhelm (1767-1845) und dessen Frau Caroline Schlegel (1763-1809) sowie Novalis, Fichte und Schelling in Dresden (zweite Phase). Die Jenaer Romantik bezeichnet eine dritte Phase, die vom September 1799 bis ca. April 1800 dauert. August Wilhelm Schlegel und seine Frau Caroline sind bereits 1796 nach Jena gezogen, nun folgen 1799 sein Bruder Friedrich Schlegel und seine Frau Dorothea, Tieck, Schelling und vorübergehend Novalis. „Die Dichter sind ein unschädliches Völkchen, mit ihren Träumen und Entzückungen und dem Himmel voll griechischer Götter, den sie in ihrer Phantasie mit sich umhertragen“ (Bonaventura: Nachtwachen. Hgg. v. Wolfgang Paulsen. Stuttgart 2014, S. 65 f.), so heißt es in den Nachtwachen des Bonaventura (1804) des frühromantischen Theaterdichters August Klingemann (1777-1831). Dieses Zitat markiert deutlich den Riss zwischen den Dichtern der Weimarer Klassik und der Frühromantik. Das Thema des Buchs ist eine nihilistische Weltdeutung, die Menschheit habe, so heißt es im Text, seit ihren Anfängen gar nichts zustande gebracht. Der Ton ist bissig satirisch, die Absage an ein lineares <?page no="368"?> 108 5. Schritt - 18. Jahrhundert Erzählen ist deutlich zu erkennen, klassische Maßgaben und Regeln werden verworfen. Für die literaturgeschichtliche Periode der Frühromantik sind die 1797 erschienenen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-1798) und Ludwig Tieck (1773-1853), die zwei Jahre später ebenfalls in Koautorschaft geschriebenen Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst (1799) sowie der Roman Lucinde von Friedrich Schlegel (1772-1829) prägend. Die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders sollen eine Art Manifest der Frühromantik werden. Von Tieck allein stammen 4 Texte, die restlichen von insgesamt 18 Texten hat Wackenroder beigesteuert. Die Vorstellung von einer romantischen- - und das soll meist heißen idealen- - Koproduktion gehört rezeptionsgeschichtlich gesehen zum Mythos dieses Buchs. Es geht darin um nichts Geringeres als um die Stiftung einer frühromantischen Kunstreligion. Kunst wird mehr als nur Religionsersatz, sie wird selbst zur Religion, und der Künstler wird insofern zum Priester, zum Geweihten, der allein über das nötige Wissen verfügt, um als Mittler zwischen Religion (Kunst) und Gläubigen (Rezipienten) fungieren zu können. Ein Mönch, fiktiver Verfasser, erinnert sich seiner jugendlichen Kunstbegeisterung. In kurzen theoretischen Einschüben, in fiktiven Briefwechseln und in einigen Künstlerbiographien italienischer Maler der Renaissance legt er seine Kunstanschauungen dar. Die ästhetische Erfahrung wird mit Begriffen des religiösen Sprachgebrauchs und des religiösen Erlebens beschrieben. Die Denkfiguren von Liebesreligion und Kunstreligion werden hier schon in einem frühromantischen Sinn vorbereitet. In der Erzählung Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger, die den Schluss des Buchs bildet, wird die Grundspannung und der Konflikt zwischen Künstler und Gesellschaft entfaltet. Die Gestaltung der Musikercharakterisierung hat Auswirkungen auf die Künstlererzählungen der Romantik bis zu den Romanen von Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (1983) und Robert Schneider Schlafes Bruder (1992). Die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel bilden eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, an der gelegentlich auch Friedrich Schleiermacher mitwirkt. Sie gründen die entscheidende Literaturzeitschrift der Frühromantik, das Athenäum, das sie in den Jahren 1798 bis 1800 herausgeben und das mehr ist als ein literaturkritisches Journal, sondern vielmehr die wesentlichen frühromantischen Reflexionen in Form von Aphorismen enthält, die sogenannten Athenäums-Fragmente, geschrieben von den Brüdern Schlegel und Schleiermacher. Sie wollen damit ein Forum für die Diskussion und Verbreitung romantischen <?page no="369"?> 109 Denkens und Schreibens schaffen. Ihr Anspruch ist kein geringer. Friedrich Schlegel schreibt am 31. Oktober 1797 an seinen Bruder: Denk Dir nur den unendlichen Vortheil, daß wir alles thun und lassen könnten, nach unserm Gutdünken.- […] Ein andrer großer Vortheil dieses Unternehmens würde wohl seyn, daß wir uns eine große Autorität in der Kritik machen, hinreichend, um nach 5-10 Jahren kritische Dictatoren Deutschlands zu seyn, die Allgemeine Litteratur-Zeitung zu Grunde zu richten, und eine kritische Zeitschrift zu geben, die keinen andren Zweck hätte als Kritik. (Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe Bd. 24, S. 31 f.) Im Athenäums-Fragment Nr. 116 prägt Schlegel den Begriff der „progressiven Universalpoesie“, der mehr besagt als ein unendliches Fortschreiten der Dichtung. Die Gattungen sollen in der Literatur wieder zusammengeführt werden, Poesie, Philosophie und Rhetorik sollen wieder vereint werden. Diese „romantische Dichtart ist noch im Werden“, bemerkt Schlegel, ihr eigentliches Wesen ist es, nie vollendet sein zu können. Der Dichter ist keinem ästhetischen oder anders gearteten „Gesetz“ unterworfen, allein die romantische Dichtung ist „frei“. So kommt Schlegel zu der Forderung, es solle „alle Poesie romantisch sein“. Fasst man dieses Fragment knapp zusammen, muss man feststellen, dass der Verfasser so allgemein formuliert und zugleich so berauscht ist von seinen Reflexionen, dass eine Übersetzung in ein literaturtheoretisch tragfähiges Konzept bis heute schwerfällt. Dem entspricht auch Schlegels Selbstdarstellung in einem Brief an seinen Bruder August Wilhelm ca. vom 1. Dezember 1797, worin er schreibt: „Meine Erklärung des Worts Romantisch kann ich dir nicht gut schicken, weil sie-- 125 Bogen lang ist“ (Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe Bd. 24, S. 53). Und 125 Bogen entsprächen 2000 Druckseiten. Nimmt man das Fragment Nr. 116 wörtlich, dann ist Literatur alles. Noch allgemeiner: Dann ist alles Text. Und das würde an ein modernes textualistisches Weltverständnis rühren, wonach alles (wie ein) Text ist-- und das wäre in der Tat genial unzeitgemäß. Liest man das Fragment auf der Folie des literaturhistorisch Gleichzeitigen, nämlich der Weimarer Klassik, dann relativiert sich diese überbordende Textenergie. Schlegel schreibt nämlich auch gegen den metrischen Regelklassizismus, gegen das schillersche Pathos und gegen die strikte Gattungsdistinktion der Weimarer Klassik, wonach die Tragödie die höchste Form der Dichtung ist. Im Athenäums-Fragment Nr. 216 äußert sich Friedrich Schlegel zur Französischen Revolution. Diese und Fichtes Wissenschaftslehre bzw. Philosophie und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre sind für ihn die drei Marker der Moderne, Schlegel nennt sie „die größten Tendenzen des Zeitalters“. Politik, Philosophie und Li- Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="370"?> 110 5. Schritt - 18. Jahrhundert teratur sind hier, wie in Fragment Nr. 116 gefordert, zusammengenommen. In späteren Jahren haben der zum Katholizismus strenger Observanz konvertierte Friedrich Schlegel und andere Frühromantiker einen strikten Wertekonservatismus entwickelt, der nichts mehr gemein hat mit dem Aufbruchsimpuls der Frühromantik. Novalis (1772-1801), das ist Friedrich Freiherr von Hardenberg, erweitert das frühromantische Programm des schlegelschen Ansatzes, dass alle Poesie romantisiert werden müsse, durch die Formel: „Die Welt muß romantisirt werden“ (Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Bd. 2, S. 334, Nr. 105). Das Verfahren scheint einfach: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es“ (ebd.). Die „Poësie ist die Basis der Gesellschaft“ (ebd. Bd. 2, S. 323, Nr. 37), heißt es 1798 in den Fragmenten zur Poesie. Novalis will nichts Geringeres als die „Poëtisirung der Welt“ (ebd. Bd. 1, S. 397), wie er in den Materialien zu seinem Roman Heinrich von Ofterdingen (1802) einmal notiert. Er fordert aber ebenso leicht, dass die Wissenschaften poetisiert werden müssen (so im Brief an August Wilhelm Schlegel vom 24. Februar 1798) und er spricht sogar von einer ‚Poetisierung der Finanzwissenschaften‘ (vgl. Vorarbeiten zu seinen Fragmentensammlungen von 1798, Nr. 471). Die Poetisierung der Welt erfolgt also durch das Medium der Fiktionalität und Imagination. Und Literatur leistet in der Fiktion diese Sicht, diesen Akt der Poetisierung der Welt. Es liegt auf der Hand, dass bei diesem literarischen Programm der Textsorte des Märchens eine große Bedeutung zukommt. Und Novalis’ Roman lebt davon, dass Märchen- und Traumwelt mit der erlebten und erzählten Realität der Figuren verschränkt werden. 1802 erscheint der Roman Heinrich von Ofterdingen. Auch dieser Text bleibt Fragment, nur der erste Teil ist abgeschlossen. Novalis geht es um die Apotheose der Poesie, er wendet sich gegen Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795 / 96). Der Roman wird aus der Gegenwart zurückverlagert ins Mittelalter. In einem Traum, der durch die Erzählungen eines Fremden ausgelöst wird, erfährt die Hauptfigur Heinrich in der blauen Blume die Offenbarung der Poesie, durch den Traum wird er zum Dichter berufen. Doch erst die Liebe zu Mathilde, der Tochter des Dichters Klingsohr, macht ihn selbst zum Dichter, er erkennt das Gesicht der Geliebten in der Blüte der blauen Blume. Die blaue Blume wird zum Symbol für Poesie und Liebe. Die Liebe bleibt ohne die Poesie stumm. Man kann also von der Stiftung einer Dichtungsreligion im Ofterdingen <?page no="371"?> 111 sprechen. Novalis erkennt selbst die Schwächen seines Buchs. Er schreibt an Friedrich Schlegel am 18. Juni 1800: „Deinen Tadel fühl’ ich völlig-- diese Ungeschicklichkeit in Übergängen, diese Schwerfälligkeit in der Behandlung des wandelnden und bewegten Lebens ist meine Hauptschwierigkeit. Geschmeidige Prosa ist mein frommer Wunsch“. Eine ferne literaturgeschichtliche Wirkung hinterlässt Novalis bei den französischen Symbolisten und den Klassikern der Moderne wie Thomas Mann, Stefan George, Gottfried Benn, Hermann Broch und Robert Musil. Definiert man den Zeitraum der literarischen Romantik von 1795 bis 1825, dann müssen neben den genannten Autoren noch erwähnt werden Clemens Brentano (1778-1842), Achim von Arnim (1781-1831), Joseph von Eichendorff (1788-1857) und Zacharias Werner (1768-1823). Eigentlich aber markiert erst Eichendorffs Tod im Jahr 1857 das definitive Ende der Spätromantik. Die literaturgeschichtlichen Perioden der Biedermeierzeit oder des Vormärz etc. überblenden sich also mit jenem Schreib- und Weltverhalten, das wir als Romantik begreifen. Als Solitäre in der deutschen Literaturgeschichte stehen zwischen Klassik und Romantik Heinrich von Kleist, Friedrich Hölderlin (1770-1843) und Jean Paul (1763-1825). Friedrich Schlegel Lucinde (1799) 1799 erscheint der Debütroman von Friedrich Schlegel mit dem schlichten Titel Lucinde. Ein Roman. Dieser Text evoziert unterschiedliche Lesarten. Man kann in ihm das frühe Zeugnis der Frauenemanzipation sehen, von einem männlichen Verfasser geschrieben. Man kann aber auch den Text platonisierend lesen, ihm gewissermaßen seine Körperlichkeit entziehen und in ihm das Manifest der Liebesreligion ebenso feiern wie die Fiktionalisierung autoreigener philosophischer Reflexionen mutmaßen. Der Roman ist aber nicht das Dokument eines ästhetischen Programms seines Autors. Vielmehr ist es der Versuch, den Begriff der Liebe wieder ins Recht zu setzen und dem entspricht ein eigenwilliges frühromantisches Affektmodell. Den Bemühungen, die Lucinde ausschließlich als ein formalästhetisches oder philosophisches Experiment zu begreifen, und den Ansichten, der Roman müsse im Kontext einer Philosophie des Autors selbst gelesen werden, steht eine Bemerkung Friedrich Schlegels aus den Jahren 1800 / 1801 entgegen. Er schreibt in den Fragmenten zur Poesie und Litteratur, die Lucinde sei „eine erotische Dichtung / Liebe, Lust und die alten Götter müssen darin herrschen“ (Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel- Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="372"?> 112 5. Schritt - 18. Jahrhundert Ausgabe Bd. 16, S. 354, Nr. 102). Diese Notiz bringt Schlegels Urteil über seinen Roman auf den Punkt. Damit erweist es sich als problematisch, den Roman transzendentalphilosophisch aufzuladen. Auf die Zeitgenossen hat dieser Text unverschämt provozierend gewirkt, das Spektrum reicht von vorbehaltloser Zustimmung bis hin zum Vorwurf der literarischen Pornografie. Schiller beispielsweise hat überhaupt kein Verständnis für diesen Roman. Er urteilt in einem Brief an Goethe vom 19. Juli 1799: „Schlegels Lucinde- […] ist der Gipfel moderner Unform und Unnatur- […]“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 30, S. 73). Friedrich Schlegel wagt es, dem Lesepublikum mit der Lucinde das Modell einer „großen Liebe“ (S. 106) vorzustellen, das dem Großteil der zeitgenössischen Leser als unverhüllte Pornografie erscheint. Die Frau Lucinde ist gleichermaßen lustvolles Objekt und Subjekt einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung. Das frühromantische Programm einer progressiven Universalpoesie erfährt hier die unvergleichliche Karriere einer progressiven Universalerotik. Noch Heinrich Heine (1797-1856) wünscht sich in seiner Romantischen Schule (1836), dass diejenigen, denen der Roman gefalle, verhaftet gehörten. Er beklagt die unzüchtige Nichtigkeit, Lucinde sei keine Frau, sondern „eine unerquickliche Zusammensetzung von zwei Abstraktionen, Witz und Sinnlichkeit“ (Heine: Sämtliche Schriften Bd. 5, S. 40). Man kann also davon ausgehen, dass der Text zeitgenössisch als programmatischer Emanzipationstext im Sinne einer Kritik an der von Männern dominierten Gesellschaft verstanden wird. Aus heutiger Sicht plädiert der Roman aber weder historisch noch aktuell für weibliche Autonomie. Er erscheint vielmehr als der Versuch, Emanzipation fiktional abzublocken, indem das Phantasma der scheinbar selbstständigen Frau entworfen wird. Der Text erfordert also eine geschlechterdifferente Lektüre, die nach der literarischen und kulturellen Konstruktion von Weiblichkeit im Text fragt. Der Roman ist folgendermaßen aufgebaut (der Originaltext enthält keine Kapitelzählung, diese wird hier behelfsmäßig in eckigen Klammern angegeben): Die Erzählung kreist im Wesentlichen um die beiden Hauptfiguren Lucinde und Julius. Er beginnt mit einem kleinen Prolog [Kap. 1], danach folgen die Bekenntnisse eines Ungeschickten, was so viel bedeutet wie die Bekenntnisse eines in der Liebe unerfahrenen Mannes. Diese Bekenntnisse sind als erster Gesamtteil des Romans angelegt. Zunächst folgt ein fingierter Brief von Julius an Lucinde [Kap. 2]. Der erste Brief wird durch eine knappe erzählerische Reflexion des Julius unterbrochen, die man auch als einen tagebuchartigen Eintrag lesen kann. Das nächste Kapitel mit dem Titel Dithyrambische Fantasie über <?page no="373"?> 113 die schönste Situazion [Kap. 3] ist eine Antwort von Julius auf einen nicht mitgeteilten Brief Lucindes. Auch diese Fantasie wird am Ende mit einem knappen Briefkommentar oder einer Tagebuchnotiz des Julius abgeschlossen. Allerdings sollte man bei der gattungstypologischen Differenzierung des Textes bedenken, dass Julius von Beginn an ein „Büchelchen“ (S. 19) im Blick hat, er will seine Notizen der Öffentlichkeit zugänglich machen. Dies gilt es bei der Lektüre der intimen Brief- oder Tagebuchnotizen zu berücksichtigen. Die Charakteristik der kleinen Wilhelmine [Kap. 4] folgt, sowie die Erzählung eines Tagtraums mit dem Titel Allegorie von der Frechheit [Kap. 5]. Sie schließt ab mit dem emphatischen Ausruf, die Sprache der Liebe „sey frey und kühn“ (S. 37). Eine Idylle über den Müssiggang [Kap. 6] und Treue und Scherz [Kap. 7] folgen. Die Adressatin ist stets Lucinde. Die anschließenden Lehrjahre der Männlichkeit [Kap. 8] stellen den ersten Erzählerkommentar dar, insofern kommt ihnen nicht nur vom Titel her gesehen eine besondere Bedeutung zu. Im Stil eines personalen Erzählers schafft der Autor erstmals Distanz zu seiner Figur. Zu vergleichen ist dies etwa mit dem fiktiven Herausgeberkommentar am Ende von Goethes Werther. Die Lehrjahre werden durch den plötzlichen Perspektivenwechsel in die Ich-Form des Julius beendet. Um seine Liebe weiter zu erklären, leitet Julius in die „Metamorphosen des liebenden Gemüths“ (S. 87) über und nennt dieses Kapitel entsprechend Metamorphosen [Kap. 9]. Dann folgen Zwey Briefe [Kap. 10], wobei der erste Brief nicht tituliert ist. Julius nennt diese Textstücke zwar selbst Briefe, in denen „alles recht bunt durch einander“ (S. 96) geht, doch können oder wollen sie ihren selbstreflexiven Tagebuchcharakter nicht verbergen. Der Zweyte Brief [Kap. 11] ist die exakte Entgegensetzung zum ersten, denn nun wählt Julius einen ruhigen, durchdachten und ausgebildeten Stil einer Erzählung ohne Unterbrechung. Danach folgt das Kapitel Eine Reflexion [Kap. 12], die überleitet zu Julius an Antonio [Kap. 13], das sind zwei kleine Briefe an Julius’ Freund Antonio über das Wesen der Freundschaft. Ein völliger Themen- und Perspektivenwechsel schließt sich in Sehnsucht und Ruhe [Kap. 14] an. Schlegel kehrt kurz wieder zum personalen Erzählen zurück, bevor sich der Text dialogisch strukturiert. Rede und Gegenrede, Frage und Gegenfrage zwischen Julius und Lucinde werden wiedergegeben. Das Kapitel Tändeleyen der Fantasie [Kap. 15], worin Julius hymnisch-assoziativ die „Harmonie der Liebe“ (S. 119) besingt, beendet den Roman, der nie eine Fortsetzung fand, obwohl Schlegel dies geplant hatte. In der Lucinde decodiert Schlegel den Liebesdiskurs radikal. Von seinen Zeitgenossen wird dies als ein Tabubruch gewertet. Denn im Buch wird nicht in der Rede metaphorisch-religiöser Inbrunst argumentiert wie beispielsweise Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="374"?> 114 5. Schritt - 18. Jahrhundert in den Hymnen an die Nacht (1800) von Novalis, dort noch mit künstlerischen Sublimationsleistungen. Sondern es geht Schlegel schlicht um den Zusammenhang von Liebe, Lust und Literatur. Die Sprache der Liebe solle „frey und kühn“ (S. 37) sein, heißt es im Text. Die Darstellung der körperlichen Liebe erfordert demnach eine andere, eine neue kulturelle Mitschrift. Der Anspruch dieses neuen Tons, der neuen Schrift, wurde zwar von den Zeitgenossen erkannt, nicht aber honoriert und schon gar nicht fortgesetzt. Die weibliche Hauptfigur Lucinde ist nicht verheiratet, sie hat ein uneheliches Kind und lebt in einer wilden Ehe, einer Liebesgemeinschaft mit der männlichen Hauptfigur Julius zusammen. Allein diese Konstellation ist für die Gesellschaft und das Lesepublikum um 1800 eine Provokation. Gleichwohl hat auch dieses Modell einen geschichtlichen, nämlich mittelalterlichen Vorläufer in der Liebesbeziehung zwischen Abaelard und Heloïsa. Heloïsa selbst ist es, die ihren Geliebten als ihren Gatten bezeichnet. Verheiratet, also nach damaligem Recht mit dem kirchlichen Sakrament gesegnet, sind die beiden nicht. Heloïsa schreibt: „Du bist mein Zeuge, nicht meine Lust, nicht mein Wille war je mein Ziel, nein, nur Deine volle Befriedigung. In dem Namen ‚Gattin‘ hören andere vielleicht das Hehre, das Dauernde; mir war es immer der Inbegriff aller Süße, Deine Geliebte zu heißen, ja- - bitte zürne nicht! - - Deine Schlafbuhle, Deine Dirne“ (Abaelard. Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa. Übertragen u. hgg. v. Eberhard Brost. Neuausgabe. Heidelberg 1979, S. 81). Die große Liebe und die Lust gelten Heloïsa als adäquater Eheersatz. Und Abaelard pflichtet ihr darin bei, dass sie eine lustvolle Beziehung führten. „In unserer Gier genossen wir jede Abstufung des Liebens, wir bereicherten unser Liebesspiel mit allen Reizen, welche die Erfinderlust ersonnen“ (ebd., S. 21). In Schlegels Roman Lucinde wird weibliche „Prüderie“ (S. 34), also das zivilisatorische, das kulturell erworbene Ansichhalten der Frau, als „unnatürlich“ (ebd.) verworfen. Der Text imaginiert dadurch die befreite, die lustspendende und die lustempfangende Frau. Nicht die individuelle Frau Lucinde ist die Adressatin des männlichen Schreibers und Erzählers, sondern ihm geht es um Weiblichkeit schlechthin. Zugleich weiß der Leser aber über Julius und dies steht diesem auch deutlich vor Augen: „Die Frauen kannte er eigentlich gar nicht“ (S. 53). Historisch gesehen hat sich Friedrich Schlegel mit einer protestantischen Auffassung von Liebe auseinanderzusetzen, die durchaus repressiv ist. Greift man auf die diskursprägenden Eheschriften Martin Luthers zurück, dann wird die emanzipative Kraft der Lucinde deutlich. Luther unterscheidet bekanntlich zwischen der falschen Liebe, der ehelichen und der natürlichen. „Aber über die <?page no="375"?> 115 alle geht die eheliche Liebe, das ist eine Brautliebe, die brennet wie das Feuer und sucht nicht mehr denn das ehliche Gemahl, die spricht: ‚Ich will nicht das deine, ich will weder Gold noch Silber, weder dies noch das, ich will dich selber haben, ich will’s ganz oder nichts haben‘“ (Martin Luther: Ein Sermon von dem ehlichen Stand-[…], in: Ders.: Vom ehelichen Leben und andere Schriften über die Ehe. Hgg. v. Dagmar C. G. Lorenz. Stuttgart 1994, S. 5). Aber die Liebe ist nach diesem Verständnis nicht rein, vielmehr mischt sich etwas bei und „fälscht diese Liebe“ und das ist die „sündlich Lust“ (ebd., S. 5). Die empfindsame Liebesauffassung des 18. Jahrhunderts mit ihrem strengen Sublimationsgebot steht gleichsam zwischen Luther und Schlegel, die zivilisatorische Metapher des Selbstzwangs und des Ansichhaltens hat nun endgültig die Literatur als ihr Multiplikations- und Kommunikationsmedium erobert. Berücksichtigt man dies alles, dann wird vollends die provokative oder emanzipative Kraft erkennbar, die die Lucinde auszeichnet. Friedrich Schlegels Modell einer romantischen Liebe am Ende des 18. Jahrhunderts bedeutet also eine konsequente Abkehr von empfindsamer Selbstbeherrschung, die zum Wohle einer verstandesorientierten Partnerschaft in der Liebe und Ehe gedacht war. Sein Modell einer romantischen Liebe rehabilitiert die Lust. Liebe bedarf einer besonderen sprachlich-textuellen Darbietung, um als eine große und besondere Liebe erkannt und verbürgt zu werden. Dies markiert zugleich ein Paradoxon zum Anspruch dieser Liebe, dass Worte nicht ausreichen oder gar versagen, um sie mitzuteilen. Darin mag das Romantische von Schlegels Liebesmodell zu erkennen sein, dass er dem Liebesdiskurs als Text die größtmögliche Authentizität des Gefühls einräumt und dies unabhängig von jedweder gattungstypologischen Diskussion. Damit greift Friedrich Schlegel das auf, was Friedrich Schiller im Don Karlos (1787) schon auf den Begriff gebracht hatte: „Liebe, der schönste Text“ (Vers 1596). Sprach Hegel von der Beredsamkeit der Leidenschaft, so Friedrich Schlegel nun von der „Rhetorik der Liebe“ (S. 31). Liebe wird als kulturelles Muster verstanden, das die Sprache als Geschlechter- und Liebesordnung ebenso regelt wie es sie in Unordnung bringen kann. Dieser Ordnungsbegriff spielt im Text eine wichtige Rolle. Die Lucinde führt im Untertitel die gattungstypologische Bezeichnung „Roman“. Im Text selbst greift der Autor dreimal diese Zuordnung auf: „Und sollte dir ja dieser kleine Roman meines Lebens zu wild scheinen: so denke dir, daß er ein Kind sey- […]“ (S. 23). An anderer Stelle heißt es: „Übrigens wollte ich eigentlich davon reden, welchen Eindruck dieser fantastische Roman auf die Frauen machen würde, wenn der Zufall oder die Willkühr ihn fände und öffent- Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="376"?> 116 5. Schritt - 18. Jahrhundert lich aufstellte“ (S. 35). Autor und Figur sprechen immer wieder von ihrem Text als einem Roman. Im Stil der erotischen Literatur des 18. Jahrhunderts fingiert Schlegel seinen Roman als „Bekenntnisse“ (o. S. [= S. 9]), was wiederum die Charakterisierung als ‚wilder‘ und ‚fantastischer‘ Roman legitimieren hilft. Als Roman folgt der Text aber der frühromantischen, programmatischen Gattungsvermischung-- durchaus im Sinne von Friedrich Schlegels Postulat einer progressiven Universalpoesie. Dem eigentlichen Text ist der Prolog [= Kap. 1] vorangestellt, der mehr enthält als nur die literaturhistorischen Referenzen auf die Italiener Francesco Petrarca (1304-1374) und Giovanni Boccaccio (1313-1375) sowie den Spanier Miguel de Cervantes (1547-1616). Das ist mehr als nur eine pflichtschuldige Verneigung vor diesen Größen, auch wenn man darin durchaus die rhetorische Funktion einer klassischen, aber im frühromantischen Sinne eben auch ironischen captatio benevolentiae erkennen kann, die den unbekannten Autor noch kleiner und die aufgerufenen Größen noch unerreichbarer macht. Die drei großen Namen der europäischen Literaturgeschichte, die mit Petrarca auch den Begründer eines der wichtigsten europäischen Liebesdiskurse aufruft, werden mit einer mythologiegeschichtlichen Referenz verknüpft. Es ist der griechische Mythos von Leda und dem Schwan, wonach der Göttervater Zeus Leda begehrt, die seine Zuneigung aber nicht erwidert. So verwandelt er sich in einen Schwan und vollzieht in der Tierkostümierung mit der unwissenden Leda den Geschlechtsakt. Bei Friedrich Schlegel dient dieses mythologische Bild zunächst der Abwehr möglicher Kritiken. Der Adler, der als Sinnbild unangreifbarer Dichtergröße gelten kann, und der Schwan kümmern sich nicht um das „Gekrächz der Raben“ (o. S. [= S. 7]), womit die Literaturkritik tituliert ist. Dem Schwan geht es um nichts anderes, „als daß der Glanz seiner weißen Fittiche rein bleibe. Er sinnt nur darauf, sich an den Schooß der Leda zu schmiegen, ohne ihn zu verletzen; und alles was sterblich ist an ihm, in Gesänge auszuhauchen“ (o. S. [= S. 7]). Die Bedeutung der Schoßmetaphorik ergibt sich aus den zahlreichen Parallelstellen. An diesen insgesamt neun Textstellen ist die Rede vom weiblichen Schoß, vom Schoß der Natur und vom Schoß als Ort der Paaridentität (vgl. etwa S. 30, S. 33 u. S. 39). Die Berufung auf das mythologische Sinnbild der Leda und ihren Schoß dient der Rechtfertigung der erzählerischen Darstellung weiblicher Sexualität im Roman. Die Sublimierung des männlichen Begehrens erfolgt in den Gesängen, was hier als Sammelbegriff für ein Kunstwerk oder für eine poetische Darstellung verstanden werden kann. Aber auch explizit weist der Autor darauf hin, dass der nachfolgende Roman als ein „romantisches Gemäl- <?page no="377"?> 117 de“ (o. S. [= S. 7]) betrachtet werden soll, was nochmals den Kunstcharakter und die frühromantische Programmatik der Gattungsvermischung hervorhebt. Literatur wird demnach das Sublimationsprodukt eines fiktiv angenommenen, weil mythologisch evozierten Begehrens. Die Fiktion in Gestalt der Literatur stellt sich als Ergebnis eines fiktiven Begehrens in Gestalt eines Mythologems dar. Oder anders formuliert, Literatur modelliert Begehren, ihr kommt eine große Gestaltungsmöglichkeit dieser Triebkraft zu. Die Lucinde insgesamt ist der Beleg dieses Umwandlungsprozesses. Damit wiederholt Schlegels Text im Prolog, was für die Ebene der Autorwirklichkeit ohnehin gilt. Im ersten Bekenntnis eines Ungeschickten mit dem Titel Julius an Lucinde [= Kap. 2] geht es um die Opposition von Natur und Liebe, die Liebe wird als ein Naturzustand erklärt. Julius steht am Fenster und fantasiert die Gegenwart seiner Geliebten, es sind Tagträume. Die Liebe stürzt ihn in eine „romantische Verwirrung“ (S. 12), die er sich erklären will. In der Lesart dieses ersten Briefes von ihm an Lucinde ist Liebe nicht ein kulturelles Produkt. Erst die kulturelle Überformung macht aus der natürlichen Liebe ein unnatürliches Verhaltensmuster. Liebe offenbart „einen tiefen Blick in das Verborgne der Natur“ (o. S. [= S. 11]). Im Sinne einer Antitheodizee geht es nicht mehr darum, die Ordnung der Dinge und die bestehende Welt als die beste oder nützlichste aller möglichen Welten zu rechtfertigen, wie es der klassischen Theodizee entspräche, sondern Julius fragt, was die „schönste“ (o. S. [= S. 11]) Welt sei. Ist dies geklärt, dann ist die nächste Frage, was die schönste Situation in dieser schönsten Welt ist. Bis zu diesem Punkt hat Julius die Erfahrung gemacht, dass Liebe alles ästhetisiert, sie ästhetisiert die Wahrnehmung, sie ästhetisiert die realen Dinge und sie ästhetisiert das individuelle Verhalten. Auch wenn sich für Julius sein Zustand „leicht aus der Psychologie“ (S. 13) erklären ließe, so bleibt doch jene ‚romantische Verwirrung‘ der Liebe, jener flüchtige Moment, den es als Erinnerung, Fantasie oder Wirklichkeit festzuhalten gilt. In diesem Zustand der seelischen und körperlichen Verwirrung spricht Julius sein Begehren unmissverständlich aus. „Ich bat sehr, du möchtest dich doch einmal der Wuth ganz hingeben, und ich flehte dich an, du möchtest unersättlich seyn“ (S. 12). Die Wut, von der er spricht und die auch über ihn als die „Wuth seiner Liebe“ (S. 81) an späterer Stelle ausgesagt wird, ist im Wortsinn des 18. Jahrhunderts die Liebeswut oder sexuelle Lust, im zeitgenössischen medizinischen Diskurs wird sie auch als Mutterwut, Liebesfieber, furor uterinus oder febris amatoria bezeichnet. Über sie ist in einem der populärsten Wörterbücher der Zeit zu lesen: „Artet der Trieb zum Beyschlafe in Wuth und Unsinn aus, so wird er auch wohl Liebeswuth Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="378"?> 118 5. Schritt - 18. Jahrhundert genannt“ (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der deutschen Mundart-[…]. Wien 1808, Tl. 2, Sp. 2059). Über Wesen und Inhalt der schönsten Welt nachzudenken, bedeutet für Julius, dass auch über die „schönste Situazion in dieser schönsten Welt“ (S. 15) gesprochen und geschrieben wird. Das setzt aber voraus, dass man die „Ordnung“ (S. 14) der Welt, die Beschreibungsregulative einer „bürgerlichen und gesellschaftlichen Ordnung“ (S. 69) verlässt, sie gar vernichtet, und ihnen die Unordnung der Liebe entgegensetzt, deren Darstellung die Unordnung des Textes ist. Damit wird schon deutlich, dass der Liebe und dem Begehren eine expressiv emanzipative Kraft zur gesellschaftlichen Einflussnahme zugesprochen wird. In dem genannten Wörterbuch von Adelung wird dieser Aspekt von Ordnung und Unordnung regelrecht und das heißt regelgerecht kodifiziert. Im engsten Wortsinn sei Liebe „die Leidenschaft, oder das zu einer Fertigkeit gewordene Verlangen nach dem Besitze oder Genusse einer Person andern Geschlechtes, da sie denn so wohl rechtmäßig und geordnet, als unrechtmäßig und ungeordnet seyn kann“ (Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der deutschen Mundart-[…], Tl. 2, Sp. 2058). Julius formuliert seine Erkenntnis in einem Paradox, das „schönste Chaos“ (S. 14) ist diese Unordnung der Liebe. Um dies literarisch angemessen darzustellen, muss der Autor Schlegel wie auch seine Figur Julius, der sich selbst als „gebildeter Liebhaber und Schriftsteller“ (S. 14) bezeichnet, auf ein kohärentes Erzählen verzichten. Unordnung wird so zum literarischen Verfahren, die Ordnung des Textes ist nicht mehr gesichert. Der Text vereint eine Vielzahl unterschiedlicher Gattungstypen. An diesem Punkt steht Schlegels Roman am Beginn einer romanpoetischen Moderne. Folgerichtig fügt sich als nächstes Kapitel die Dithyrambische Fantasie über die schönste Situazion [= Kap. 3] an. Ein Dithyrambus feiert in der antiken griechischen Literatur den Gott Dionysos, den Gott der Heiterkeit, des Weins, des Rausches und der Lust. Die Hymnen auf ihn sind als Dithyramben einer strengen Architektonik unterworfen, wer sich also um 1800 auf diese lyrische Ausdrucksform bezieht, der muss sich mit ihrer Gattungsgeschichte auseinandersetzen. Friedrich Schlegel macht das nicht, er wischt die gesamte Tradition einschließlich der innovativen lyrischen Anverwandlungen bei Klopstock oder dem jungen Goethe in der deutschen Literatur beiseite und entscheidet sich zunächst einmal für eine erzählerische Ausdrucksweise. Diese Prosa ist aber auch nicht hymnisch in ihrer Ausdrucksweise, etwa aufgeladen mit einem großen Sprachpathos wie in der Dichtung der Weimarer Klassik, sondern erzählend. Diese Art von Erzählung ist für Julius wie ein „Spiegel“ (S. 15) seiner selbst und <?page no="379"?> 119 mehr noch, wie ein Spiegel, worin sich die „ganze Menschheit“ (S. 15) spiegelt. Das ist gewissermaßen der Anknüpfungspunkt, an dem die frühromantische Literatur kompatibel bleibt mit der Literatur der Weimarer Klassik. Im Einzelnen das Ganze, im individuellen Menschen die gesamte Menschheit zu sehen, ist davon programmatischer Ausdruck. Julius greift diesen Gedanken am Ende der Dithyrambischen Fantasie nochmals auf, wenn er erklärt, „eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit“ (S. 19) im Rollentausch der Geschlechter zu erkennen. Nur muss man dabei beachten, dass Julius nicht die Auflösung der Geschlechter propagiert, sondern den Rollentausch bei gleichbleibendem biologischem Geschlecht. Dem geht aber die Erklärung eines Kernpunktes frühromantischer Literatur voraus, es ist die „Religion der Liebe“ (S. 18), die verkündet wird. Liebe erlangt einen religiösen Weihestatus, und das macht die Liebenden zu ihren Hohepriestern und wandelt die Literatur zu ihrem hostiengleichen Medium. Geht es bei Wackenroder und Tieck um die Kunstreligion, bei Novalis um die Dichtungsreligion, so geht es bei Friedrich Schlegel um die Liebesreligion als den zentralen Punkt seines Romans. Dieses Kapitel endet also mit der Einsicht, die schönste Situation der Liebe bestehe darin, „die Rollen [zu] vertauschen“ (S. 19). Der Text benennt das Begehren nach der Dauer der Erfüllung. Das schließt die Gültigkeit und Dauer des Augenblicks nicht aus. „Die Liebe-[…] ist auch der heilige Genuß einer schönen Gegenwart“ (S. 88). In dieser Fantasie, die Julius sucht, soll es „sich endlich erfüllen und endlich Ruhe finden“ (S. 16). „Lust und Liebe“ (S. 17) kennzeichnen diesen Zustand, gar von einem großen Karneval der Lust und Liebe spricht Julius später (vgl. S. 29). Im Zusammenhang dieser Fantasie fällt auch erstmals das Wort von der Ehe, die beide Personen miteinander verbinde. Damit ist nicht das bürgerliche Institut oder ein religiöses kirchliches Sakrament oder ein konfessioneller Akt gemeint, auch wenn Julius wenig später von der Religion der Liebe spricht, denn bei Friedrich Schlegel sind die Grenzen zwischen der vollendeten Liebe und der bürgerlichen Ehe aufgehoben. Wenn Julius von „unsrer Ehe“ (S. 17) redet, dann meint er damit, formuliert aus seiner männlichen Perspektive, den Zustand der Verschmelzung von weiblichem Ich und männlichem Ich. Ausgestattet wird dieser Zustand mit einem Allmachtsanspruch, der jegliche Vergänglichkeit ausschließt. Zu einer echten Ehe gehöre ewige Liebe. „Ich kann nicht mehr sagen“, schreibt er, „meine Liebe oder deine Liebe; beyde sind sich gleich und vollkommen Eins, so viel Liebe als Gegenliebe“ (S. 17; vgl. auch S. 91). Ewigkeit, Einheit und Harmonie sind die wiederholt Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="380"?> 120 5. Schritt - 18. Jahrhundert genannten Anspruchskriterien, die dieses Ehemodell kennzeichnen. Friedrich Schlegel propagiert mit seiner Lucinde die erfüllte Lust in einer monogamen Beziehung, die gesellschaftlich nicht legitimiert ist, die aber von den Liebenden als Ehe begriffen und geführt wird. Anders dagegen Schlegels Zeitgenosse Novalis, er fühlt sich vor die Wahl zwischen Liebe und Ehe gestellt, „die Ehe bezeichnet eine neue, höhere Epoke der Liebe-[…]“ (Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Bd. 2, S. 770). Die Geliebte Lucinde ist für Julius erfahren, sie gewährt ihm die körperliche und seelische Erfüllung, und er fantasiert sie als „unersättlich“ (S. 12). Er genießt nicht nur die Erfüllung seiner Wünsche und Sehnsüchte, sondern er genießt auch den Genuss selbst. Das Superlativische von Lust und Liebe kennzeichnet diese Verbindung von Beginn an, und nur so ist zu verstehen, wenn Julius sich selbst als Priester und Prophet im Namen der Geschlechterliebe begreift, der „das hohe Evangelium der ächten Lust und Liebe“ (S. 37) zu verkündigen habe. Das geht nur, wenn man zuvor die Liebe zur Religion erklärt hat. Die schönste Situation, von der das dritte Kapitel spricht, meint also die sexuelle Erfüllung in der Liebe. Das wirft unweigerlich die Frage nach der Moral der literarischen Darstellung einer solchen Liebe auf. Schlegel lässt diese Frage seine beiden Hauptfiguren ausagieren, sie thematisieren genau dies, wenn Lucinde einwirft, wie könne man das schreiben wollen, „was kaum zu sagen erlaubt ist, was man nur fühlen sollte? “ (S. 20), und Julius antwortet, man dürfe, was man fühle, auch sagen und was man sagen wolle, dürfe man auch schreiben. Allein die Authentizität des Gefühls legitimiert die Darstellung ‚des Schönsten‘. Wie Leser auf diese Offenheit und die Verwerfung aller bisherigen gültigen moralischen Schreib- und Lesestandards reagieren, ist bekannt. Julius spricht von der „beneidenswürdige[n] Freyheit von Vorurtheilen“ (S. 23) und davon, dass man sich „über alle Vorurtheile der Cultur und bürgerlichen Conventionen“ (S. 30) hinwegsetzen solle, oder wie es in den Lehrjahren der Männlichkeit heißt: „Es ward Grundsatz bey ihm, die gesellschaftlichen Vorurtheile, welche er bisher nur vernachlässigte, nun ausdrücklich zu verachten“ (S. 65). Ein anti-bürgerlicher Impuls ist also offensichtlich. Der Autor Friedrich Schlegel verzichtet auf kulturelle Inszenierungsmuster, die im Gegenteil als Vorurteile und als falsche Scham gebrandmarkt werden. Der Verstoß gegen kulturelle Codes, gegen soziale Regeln und religiöse Rücksichtnahmen und der Anspruch, „in schöner Anarchie“ (S. 23) die Vollendung von Lust und Liebe zu leben, enthält eine klare Absage an tradierte Verhaltens- und Verständnisordnungen. Man kann darin durchaus auch einen literarisch-konzeptuellen Reflex auf die Französische Re- <?page no="381"?> 121 volution von 1789 erkennen. Einen vergleichbaren anti-bürgerlichen Impuls findet man etwa bei Schlegels Schriftstellerkollegen Wilhelm Heinse (1746-1803), der in vorrevolutionärer Vorwegnahme in seinem Roman Ardinghello (1787) über den kulturellen Zwang zur monogamen Paarintimität schreibt: Und ist eine junge Schönheit nicht imstande, ihrer viele zu vergnügen? Verliert der eine etwas, wenn der andre auch von der Quelle trinkt, woran er schon seinen Durst gelöscht hat? In einer guten bürgerlichen Gesellschaft sollte platterdings auch gesellschaftliche Liebe und Freundlichkeit sein; allein wir können uns von dem Krebsschaden der Vorurteile vieler Jahrtausende noch nicht heilen. Eins und eins ist wahrlich nicht viel mehr als einsiedlerisch und gegen die Natur- […]. (Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseligen Inseln. Kritische Studienausgabe. Hgg. v. Max L. Baeumer. Stuttgart 1985, S. 225) In einer Ergänzung zu dieser Textstelle schmückt Heinse die Erklärung sogar noch drastischer aus (vgl. ebd., S. 412), allerdings bleibt diese Notiz zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht. Schlegel gebraucht in der Lucinde ein kleines Adjektiv, mit dem er seinen Roman als anti-bürgerlich kennzeichnet. Dieser könne, lässt er Julius sagen, ob seiner erotischen Assoziationsmöglichkeiten zu „wild“ (S. 23) erscheinen. Mit dieser Charakterisierung greift er diskurshistorisch betrachtet eine Sprachregelung auf, die Friedrich Schiller in Kabale und Liebe (1784) immerhin zur Bestimmung sexuellen Begehrens ins Spiel gebracht hat. Louise Miller bringt dort eine Unordnung in die Liebe, da sie deren Triebnatur erkennt. Ob sie diese Kenntnis aus der Literatur bezogen hat, wie der Vater mutmaßt, bleibt im Stück dahingestellt. Sie artikuliert „wilde Wünsche“, die sich für sie als Bedrohung darstellen, ihr Geliebter Ferdinand wird zum „Feuerbrand“ (Schiller: Kabale und Liebe, I / 4), der wütet und den Mann sprachlos macht. Die Sprachlosigkeit bleibt auch gegenüber Lady Milford bestehen, sie spiegelt jeweils seine Fassungslosigkeit angesichts der distinkten Aussagen der beiden Frauen Louise und Lady Milford. Die aristokratische männliche Sprachbeherrschung versagt vor der sprachgewandt artikulierten Autonomie des weiblichen Ichs. Louises wilde Wünsche werden von Lady Milfords „wildere[n] Wünsche[n]“ (Schiller: Kabale und Liebe, II / 1) überboten. In einem regelrechten Wettbewerb der Leidenschaften versuchen sich die beiden Frauen ständedistinkt zu positionieren. Dabei tritt eine erstaunliche Umkehrung der Verhaltensstandards bürgerlicher und aristokratischer Ordnung zu Tage. Während Lady Milford sexuell exzessiv gelebt hat und nun ihre Sehnsucht nach einer verlässlichen Partnerbeziehung artikuliert Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="382"?> 122 5. Schritt - 18. Jahrhundert und dies für sie wildere Wünsche sind als je ihre Lebensweise zuvor, ahnt die unerfahrene Louise, dass ihre Liebe zu Ferdinand nicht körperlos bleiben wird, sondern auf eine sexuelle leidenschaftliche Beziehung zielt, ihre Wünsche also wild, leidenschaftlich, ungeordnet und nicht mehr disziplinierbar werden. Am Ende wird Ferdinand den Superlativ wilder Wünsche vollenden. Als er an der Aufrichtigkeit von Louises Liebe zweifelt, ruft er sich selbst in Erinnerung, dass seine „wildesten Wünsche schwiegen“ (Schiller: Kabale und Liebe, IV / 2), obwohl er Louise gerade geküsst hatte. Begehrensfrei und körperlos war ihre Liebe. Allerdings dient ihm diese Erinnerung nicht dazu, die geliebte Frau zu entlasten und sein verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, sondern er prädiziert damit eine Kosten-Nutzen-Reflexion, die seinen Verzicht und damit seinen Verlust in den Mittelpunkt rücken, und er eröffnet dadurch eine Rechnung bürgerlicher Ökonomie. Über die gesellschaftlichen Auswirkungen einer auf dem im schlegelschen Sinne Evangelium von Lust und Liebe basierenden Partnerschaft ist sich Louise Millerin im Klaren, sie erkennt, dass mit ihrem Liebesprojekt „die Fugen der Bürgerwelt auseinander treiben, und die allgemeine ewige Ordnung zu Grund stürzen würde“ (Schiller: Kabale und Liebe, III / 4). Die Funktion des nächsten Textstücks mit dem Titel Charakteristik der kleinen Wilhelmine [= Kap. 4] in Schlegels Roman liegt darin, dass am Beispiel der zweijährigen Wilhelmine das Thema kindliche Unbefangenheit abgehandelt wird. Die Selbstzufriedenheit und Ironie des Kindes lasse sie alles in „romantischer Verwirrung“ (S. 21) durcheinander bringen. Die gesamte Natur sei für sie belebt. Julius nennt seine Charakteristik ein „Ideal“ (S. 22), er beruft sich damit auf ein kindliches Verhalten, um sein eigenes literarisches Verhalten zu rechtfertigen und um die Freiheiten und Frechheiten, die er in seinem Buch noch in Anspruch nehmen wird, im Vorhinein zu legitimieren. Darin liegt der eigentliche Hauptzweck dieser knappen Charakteristik. Julius lenkt zum zentralen Begriff der Freiheit über und appelliert emphatisch an seine Freundin: O beneidenswürdige Freyheit von Vorurtheilen! Wirf auch du sie von dir, liebe Freundin, alle die Reste von falscher Schaam, wie ich oft die fatalen Kleider von dir riß und in schöner Anarchie umherstreute. Und sollte dir ja dieser kleine Roman meines Lebens zu wild scheinen: so denke dir, daß er ein Kind sey und ertrage seinen unschuldigen Muthwillen mit mütterlicher Langmuth und laß dich von ihm liebkosen. (S. 23) Die Analogie liegt also darin, dass Julius eine bürgerliche Kleinfamilie fantasiert, so wie der Roman ein Produkt seiner ‚romantischen Fantasie‘ ist, in der <?page no="383"?> 123 er selbst die Rolle des Vaters, Lucinde die Rolle der Mutter und der Text die Rolle des Kindes einnimmt. Dem Kind ist alles zu verzeihen, also dem Roman ist alles nachzusehen, wenn er nun die moralischen Lesestandards seiner Zeit überwindet. Neben diese geforderte Freiheit, die Julius für sich in Anspruch nimmt und aus der Kindanalogie ableitet, stellt er die Frechheit. Das ist ein Begriff, der genau diese Grenzüberschreitung als literarisches Verfahren zum Ausdruck bringt, modern formuliert könnte man ihn mit dem Wort Provokation wiedergeben. Folgerichtig nennt Schlegel denn auch das nächste Kapitel eine Allegorie von der Frechheit [= Kap. 5], die er auch als einen Tagtraum bezeichnet. Darin lässt Julius verschiedene Frauen- und Männergestalten auftreten, die unter anderem die öffentliche Meinung, die anakreontische Schäferlyrik, die Frechheit und Delikatesse, die schöne Seele, womit er Schiller aufs Korn nimmt, und Sittlichkeit, die Bescheidenheit und Dezenz sowie die „allmächtige Fantasie“ (S. 27) repräsentieren. Letztlich läuft dieser Allegorienreigen auf die Opposition von Frechheit und Delikatesse oder modern formuliert auf die Opposition von Provokation und Anpassung hinaus. Die Fantasie bringt Julius dazu, dass ihm ein „neuer Sinn“ (S. 29) aufgeht, es ist der „Kunstsinn der Wollust“ (S. 31), den nur die Liebe lehrt. Bricht man die uneigentliche Sprechweise der Allegorie auf, dann wird deutlich, dass nur Lucinde der Sinn dieser „Liebeskunst“ (S. 31) sein kann. Julius nimmt nun in der Exponierung seiner Liebe zu Lucinde eine entscheidende Steigerung vor. Es geht ihm nicht mehr um die individuelle Frau, sondern vielmehr um die Weiblichkeit schlechthin: „Laß mich’s bekennen, ich liebe nicht dich allein, ich liebe die Weiblichkeit selbst. Ich liebe sie nicht bloß, ich bete sie an, weil ich die Menschheit anbete.-[…] Es ist die älteste kindlichste einfachste Religion, zu der ich zurückgekehrt bin“ (S. 34 f.). Das zweimal wiederholte Verb anbeten und das Stichwort Religion konturieren weiter eine profanreligiöse Textpassage, an deren Ende ein neues Evangelium gelehrt wird, was als frühromantisches Konzept der Liebesreligion zu verstehen ist. Begonnen hat diese Passage damit, dass dem protestantisch-lutherischen sola scriptura (allein die Heilige Schrift sei Maßstab unseres Handelns) Schlegel kurz zuvor ein sola natura (vgl. S. 29) entgegensetzt, allein die Natur zählt. Danach lässt die Stimme der Fantasie Julius wissen, er solle die Welt bilden, erfinden, verwandeln und erhalten. „Verhülle und binde den Geist im Buchstaben“ (S. 30), verlangt die Fantasie. Der echte Buchstabe sei allmächtig und der eigentliche Zauberstab, mit dem die Zauberin Fantasie das Chaos der gesamten Natur berührt und in Worten ordnet und erfasst. Das Wort wird somit zum Spiegel Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="384"?> 124 5. Schritt - 18. Jahrhundert des göttlichen Geistes. Darin kann man eine Anspielung auf den Anfang des Johannes-Evangeliums erkennen, wo es heißt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott-[…]“ (Joh 1, 1). Dass der Geist im Buchstaben gebunden werden solle, wie die Fantasie von Julius fordert, mag auf den 2. Korintherbrief des Paulus anspielen: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2. Kor 3, 6). Und in der Aufgabe die Welt zu verwandeln, kann man die Anspielung auf das christliche Abendmahlsverständnis mit seiner Verwandlungsmetapher (oder je nach konfessioneller Bindung auch die Transsubstantiation) von Brot und Wein erkennen. Friedrich Schlegel grenzt sich damit deutlich von Schleiermacher ab. „Was oft Liebe genannt wird“, meint dieser in einem von ihm verfassten Aphorismus der Athenäums-Fragmente, „ist nur eine eigne Art von Magnetismus. Es fängt an mit einem beschwerlich kitzelnden en rapport Setzen, besteht in einer Desorganisation und endigt mit einem ekelhaften Hellsehen und viel Ermattung. Gewöhnlich ist auch einer dabei nüchtern“ (Athenäums-Fragment Nr. 340). Immerhin gibt der Philosoph und Theologe Schleiermacher in einer „Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen“ diesen den Rat mit: „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen für die Männer; du sollst ihre Barbarei nicht beschönigen mit Worten und Werken“ (Athenäums-Fragment Nr. 364). Und was Friedrich Schlegel etwa über Jean Pauls Frauenfiguren meint, lässt sich ohne weiteres auf eine Vielzahl von Frauengestalten in der Literatur beziehen. Dessen Frauen seien „Gliederfrauen zu psychologischmoralischen Reflexionen über die Weiblichkeit“ (Athenäums-Fragment Nr. 421). Dem steht also Schlegels Liebesreligion mit seinem Evangelium der echten Lust und Liebe konträr gegenüber. Julius betet in der Weiblichkeit die Menschheit schlechthin an, obwohl er weiß, „kein Weiser hat die Weiblichkeit ergründet“ (S. 33). Dies ist ex negativo formuliert, aber es formuliert genau den Anspruch, den „dieses tolle kleine Buch“ (S. 32) seines Romans erhebt. Er fordert Lucinde auf, ihn zum „Priester“ (S. 35) der Weiblichkeit zu weihen. Nur so ist die in der sich anschließenden Idylle über den Müssiggang [= Kap. 6] geprägte Formel vom hohen Evangelium der echten Lust und Liebe zu verstehen. Julius erhält die „Priesterwürde“ (S. 35) und wird ein Priester dieser neuen Liebesreligion. Er nimmt für sich einen biblischen Messianismus in Anspruch, wenn er nicht ohne Stolz hervorhebt, der Witz selbst (also der scharfsinnige Verstand) habe durch eine Stimme vom Himmel herab zu ihm gesprochen: „‚Du bist mein lieber Sohn an dem ich Wohlgefallen habe‘“ (S. 35). Ein wörtliches Zitat aus dem Markus-Evangelium, als Jesus getauft wird (vgl. Mk 1, 11). Julius geht es darum, die Objektivität <?page no="385"?> 125 seiner Liebe, die Liebe als Naturzustand, festzustellen und dies mit aller profanreligiösen Autorität auszusprechen. „Diese Objektivität und jede Anlage zu ihr bestätigt und bildet ja eben die Magie der Schrift-[…]. Die Liebe selbst sey ewig neu und ewig jung, aber ihre Sprache sey frey und kühn-[…]“ (S. 36 f.). Schlegels textualistisches Liebesverständnis, wonach also die Schrift und die Sprache der Liebe ihre Objektivität verbürgen, ist an ihre Ästhetisierung gekoppelt. Diese Ästhetik der Wollust wird an das Durchschreiten einer dreistufigen Liebeskunst gebunden. Deren erste Stufe ist das körperliche Begehren. Während Männer diesen ersten Grad der Liebe lernen müssen, eignet er den Frauen von Natur aus, „jede hat die Liebe schon ganz in sich“ (S. 33). Die Liebe ist für den Mann „nur ein Wechsel und eine Mischung von Leidenschaft, von Freundschaft und von Sinnlichkeit“ (S. 82), während Frauen „mitten im Schooß der menschlichen Gesellschaft Naturmenschen geblieben sind“ (S. 80). Die zweite Stufe der Liebeskunst entspricht einem Ideal, nämlich der Erfüllung und Befriedigung des weiblichen Verlangens. Für den Mann heißt dies Fantasie aufzubringen und die „Allmacht der Fantasie“ (S. 99) auch zu ertragen, um diesen Grad der „intensive[n] Unendlichkeit, Unzertrennlichkeit ohne Zahl und Maaß“ (S. 32) zu erreichen. Die dritte Stufe ist „das bleibende Gefühl von harmonischer Wärme“ (ebd.). Begehren, Fantasie und Harmonie werden als die drei Stufen einer großen Liebe beschrieben. Das Plädoyer für den Müßiggang lehnt die Triebfedern einer modernen Gesellschaft vehement ab. Eile, Zeitnot, Effizienzdenken oder ökonomisches und soziales Maximierungsstreben sind mit der Unordnung der Liebe unvereinbar, die gerade auf ihre Zeitvergessenheit und Sorglosigkeit verweist. Schlegels Ästhetik der Liebe gründet sich auf die Annahme, „alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigne Kraft“ (S. 39). In diesem Zusammenhang fällt der Begriff des Sturm und Drang: Schlegel stellt damit einen literaturgeschichtlichen Kontext her, der die Bedeutung der Leidenschaften für den Menschen in Erinnerung ruft, und dessen die romantische Liebe nicht bedürfe, da sie nur in der „heiligen Stille der ächten Passivität“ (S. 40) stattfinde, die wiederum durch die Frau personifiziert sei. Das Kapitel Treue und Scherz [= Kap. 7] fingiert auf dialogische Weise eine Begegnung zwischen den Liebenden. Rede und Gegenrede werden in knappen Fetzen hingeworfen. Ziemlich schnell wird die Verführungssituation in einem Pavillon beschrieben. Julius hat sich Lucinde bereits körperlich genähert. Gegen diese Bedrängnis stellt Lucinde ihr „ich will nicht“ (S. 45), das schließlich in eine Selbstanklage wegen ihrer Willensäußerung übergeht. Folgerichtig mündet der Dialog in eine Reflexion über die Bedeutung des menschlichen Willens, über Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="386"?> 126 5. Schritt - 18. Jahrhundert Eifersucht, Treue, Freundschaft und Leidenschaft. Alles dies sei in der Liebe, resümiert Julius. Die Lehrjahre der Männlichkeit [= Kap. 8] kann man als das Kernkapitel des Romans bezeichnen. Über die wilde Jugend von Julius wird ausführlich berichtet. Das Kapitel liefert seine Entwicklungsgeschichte bis zu dem Punkt nach, an dem Lucinde und er eine gemeinsame Paaridentität entwickeln. Zunächst aber brennt in ihm eine Leidenschaft ohne Ziel. „Und so verwilderte er denn immer mehr und mehr aus unbefriedigter Sehnsucht“ (S. 53). Er verabscheut „die entfernteste Erinnerung an bürgerliche Verhältnisse, wie jede Art von Zwang“ (S. 55) und pflegt diesen anti-bürgerlichen Gestus. Er will ein befreundetes Mädchen verführen, was kläglich scheitert. Er zieht in eine andere Stadt, begibt sich in schlechte Gesellschaft, lernt die ehemalige Schauspielerin Lisette kennen, „die beynah öffentlich“ (S. 61) ist. Sie erhält vom Erzähler jene Attribute, mit denen Julius auch Lucinde auszeichnet, „wild, ausschweifend und unersättlich“ (S. 63). Dann wird sie schwanger. Julius leugnet die Vaterschaft, will sich trennen, wird zurückgebeten und findet Lisette tot, sie hat sich erstochen. Julius wendet sich nun Männerbekanntschaften zu, doch auch dies befriedigt ihn nicht. Sein gesellschaftliches Auftreten wird grenzwertig, da es den Wahnsinn („Verrückung“, S. 68) streift, er entwickelt Suizidgedanken. Da lernt er eine Frau kennen und verliebt sich in sie. Die Namenlose ist allerdings mit seinem Freund (vielleicht Antonio? ) liiert, so dass sich Julius immer mehr zurückzieht. Er meidet menschliche Gesellschaft, lebt nun viele Jahre ganz seiner künstlerischen Bestimmung als Maler. „Darum drängte er alle Liebe in sein Innerstes zurück, und ließ da die Leidenschaft wüthen, brennen und zehren“ (S. 70 f.). „Die Vergötterung seiner erhabenen Freundin“ (S. 72) aber bleibt fester Mittelpunkt seines Denkens. Diese Textstelle findet ihre Parallele in einer ähnlichen Formulierung, als Schlegel auf den literarhistorischen Periodenbegriff des Sturm und Drang rekurriert. Um den Zusammenhang von Begehren und dem Drang zu dessen Diskursivierung zu verstehen, lässt er Julius bekennen: „Es brannte und zehrte in meinem Mark; es drängte und stürmte sich zu äußern. Ich griff nach Waffen, um mich in das Kriegsgetümmel der Leidenschaften, die mit Vorurtheilen wie mit Waffen wüthen, zu stürzen und für die Liebe und die Wahrheit zu kämpfen-[…]“ (S. 30). Diese Frau bleibt viele Jahre lang das Objekt seiner Idealisierung. Erst allmählich macht er wieder Frauenbekanntschaften, geht mal lockere, mal festere Beziehungen ein, bis er eine „junge Künstlerin“ kennenlernt, „welche das Schöne gleich ihm leidenschaftlich verehrte, die Einsamkeit und Natur eben so zu <?page no="387"?> 127 lieben schien“ (S. 77). Sie hatte mit dem Malen bloß „aus Lust und Liebe“ (ebd.) begonnen. Mit dieser Alliteration, die ja bereits aus dem Kapitel 6 vertraut ist, werden nun erzähltechnisch aus der Rückschau der Liebesdiskurs und der Kunstdiskurs im Roman zusammengebracht. Über die Kunst findet Julius zur Liebe, über die Lust und Liebe zur Kunst sichert er sich eine Ausdrucksmöglichkeit für das echte Evangelium der Lust und Liebe. Kunst kann Liebe zum Ausdruck bringen und das bezieht sich nicht nur auf die bildende Kunst, sondern auch auf die poetische Kunst. Für den Autor Schlegel wie für seine Figur Julius bedeutet dies, dass Liebe bzw. die Liebesreligion durch Literatur ausgedrückt und gestaltet wird (das entspricht dem Bilden). Die frühromantische Kunstreligion begegnet nun in der Liebesreligion ihrer höchsten Form. Julius findet also über die Kunst zur großen Liebe. Die junge Künstlerin ist Lucinde. Die zweijährige Entwicklungsgeschichte der Liebe zwischen Lucinde und Julius nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Beobachtung, dass Lucinde einen „entschiednen Hang zum Romantischen“ (S. 78) habe. Die Antwort darauf, was romantisch bedeutet, gibt der Text selbst, wenn es über Lucinde heißt: „Auch sie war von denen, die nicht in der gemeinen Welt leben, sondern in einer eignen selbstgedachten und selbstgebildeten“ (S. 78). Romantisch bedeutet also ein absolutes, vorbehaltloses Plädoyer für Fantasie und zugleich eine Fluchtbewegung weg von der Wirklichkeit, mit der Maßgabe, andere, neue Wirklichkeiten zu entdecken oder zu konstruieren. Romantisch bezeichnet zunächst eher eine Bewegung, eine Richtung, als einen Inhalt. Julius versteht darunter die Ablehnung von kulturell codierten Vorurteilen und bürgerlichen Ordnungsmustern. Lucinde kann ohne Rücksichtnahmen frei und unabhängig leben. Julius erkennt in der Geliebten eine „wunderbare Gleichheit“ (S. 78). Nur er und sie vermögen „in der heiligen Schrift der schönen Natur“ (S. 85) zu lesen. Diese schöne Natur ist in einem einzigen Wort gebündelt, „er hatte das Wort gefunden- […] Liebe“ (S. 83 f.). Die große Liebe macht die Menschen erst „zu wahren vollständigen Menschen“ (S. 93). Julius modifiziert mit dieser Äußerung die Anthropologie der Aufklärung um ein entscheidendes Stück. Gilt dort die Einsicht, dass der Mensch ein Triebwesen sei und erst die Disziplinierung der Leidenschaften und die Affektmodellierung ihn zum Menschen mache, so ist es nun die Rückkehr in den Naturzustand der Liebe ohne kulturelle und gesellschaftliche Überformung. Dies führt letztlich zu einer freien Republik der Liebenden, oder wie Julius sagt, zu einer „allgemeine[n] Brüderschaft aller Einzelnen“ (S. 92). Julius spricht hier ganz offensichtlich für seinen Autor. Das geht aus folgender Notiz Friedrich Schlegels hervor: „Nur durch die Liebe und Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="388"?> 128 5. Schritt - 18. Jahrhundert durch das Bewußtsein der Liebe wird der Mensch zum Menschen“ (Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). KFSA Bd. 2, S. 264 [= Nr. 83]). Hingegen ist über Julius in der Lucinde zu lesen: „Wie seine Kunst sich vollendete-[…] so ward ihm auch sein Leben zum Kunstwerk“ (S. 83). Damit wird konsequent ein frühromantischer Programmpunkt umgesetzt, nämlich das Romantisieren des Lebens oder in Novalis’ Worten die „Poëtisirung der Welt“. Wenn das Leben zum Kunstwerk gerät und wenn Liebe der erhabenste Kunstsinn ist, dann erschließt Liebe die wahre Bedeutung des Lebens, Liebe ist „das Leben des Lebens“ (S. 93)-- das ist Friedrich Schlegels Argumentation in der Lucinde. Das nächste Kapitel Metamorphosen [= Kap. 9] ist ein kurzes Prosastück und besingt im elegischen Ton Liebe und Gegenliebe und die harmonische Einheit beider. Die beiden nachfolgenden, in etliche tagebuchartige Sequenzen gestückelten Kapitel Zwey Briefe [= Kap. 10 und Kap. 11] wählen die Ich-Form des Briefschreibers Julius, die Adressatin ist Lucinde, die vorübergehend von Julius getrennt ist. Julius hat soeben erfahren, dass Lucinde ein Kind erwartet. Woher Julius allerdings weiß, dass es ein Junge wird, bleibt unklar. Anzunehmen ist, dass er sein genderspezifisches Nachwuchsdenken auf das ungeborene Kind projiziert. Auf Drängen Lucindes will auch Julius bürgerlich werden, ein Haus kaufen und es einrichten, seine nomadische gesellschaftliche Existenz aufgeben. Er lobt das Landleben und kehrt sich von den gesellschaftlichen Randexistenzen urbanen Lebens ab. Was zunächst wie eine radikale Abkehr von den Problemen der beginnenden Industrialisierung erscheint, wendet Julius plötzlich zu einer bemerkenswert selbstkritischen Einsicht. Er sinniert, „es sollte eigentlich nur zwey Stände unter den Menschen geben, den bildenden und den gebildeten“ (S. 92), und beide Stände sollten in jener ‚allgemeinen Brüderschaft aller Einzelnen‘ aufgehen. Das ist Friedrich Schlegels unmittelbarer Reflex auf die Französische Revolution und ihre politische Parole der Fraternité, trotz der zwischen diesen Jahren 1789 und 1799 (als dem Erscheinungsdatum der Lucinde) liegenden jakobinischen Schreckensherrschaft. Einsichten, in denen Kritik an Feudalismus und Absolutismus geübt wird, bleiben im Text allerdings aus. Die Selbstreflexionen umkreisen das Thema der Veränderung, Julius fühlt eine Veränderung bei sich und auch von Lucinde fordert er eine Veränderung, eine „neue Ordnung der Dinge“ (S. 96) habe nun begonnen, die auch die Herausbildung einer „Ökonomie-[…] im allegorischen Sinn“ (ebd.) verlange. Damit meint Julius, dass Lucinde mit allem planender, berechnender, umsichtiger umgehen muss. Auch für ihre Liebe bedeutet dies einen Wandlungsprozess, der <?page no="389"?> 129 zu einer noch größeren Tiefe führt. Im Zweyten Brief [= Kap. 11] berichtet Julius von der „Allmacht der Fantasie“ (S. 99), die er im Traum als angsterregend erlebt hat. Julius erfährt von einer ernsten Krankheit, von der Lucinde befallen ist. Er hat Todesangst und durchleidet schlimme Vorstellungen, Einsamkeits- und Todesfantasien peinigen ihn. Erst als er von Lucindes Gesundung erfährt, bessert sich auch sein Zustand. Er „vergöttre“ (S. 104) Lucinde und das sei gut so, denn sie seien beide eins. Dieser zweite Brief mündet nahtlos in das Kapitel Eine Reflexion [= Kap. 12]. Julius erweitert seinen Reflexionshorizont auf das grundsätzlich Menschliche hin und fragt nach der Bestimmung des Menschen, die er darin erkennt, „bestimmt zu werden und zu bestimmen“ (S. 105). Was das Bestimmende ist und was das Bestimmte oder allgemeiner das Bezeichnende und das Bezeichnete, was Signifikant und was Signifikat des Seins, koppelt er an die Geschlechterstereotypie. Er räsoniert über Männlichkeit und Weiblichkeit als die beiden treibenden Seinsgründe. Diese Reflexion bleibt etwas kryptomythologisch, die Julius denn auch selbstironisch beendet. Er schickt, um diese Reflexionen zu illustrieren, Lucinde die beiden Briefe an Antonio, das Kapitel ist mit Julius an Antonio [= Kap. 13] überschrieben. Das Thema der Briefe ist die Freundschaft. Julius teilt seine Entscheidung mit, mit einem gewissen Eduard, der an dieser Stelle zum ersten Mal genannt wird, zusammenleben zu wollen, sie wollen „im brüderlichen Bunde vereint wirken und handeln“ (S. 111). Ob damit eine Alternative zum eheähnlichen Lebensmodell von Julius und Lucinde genannt werden soll oder ob der Autor Friedrich Schlegel hier sehr deutlich seine eigene Lebenssituation im Blick hat, bleibt offen. Denn er selbst und seine spätere Frau Dorothea Veit, die unschwer zu erkennen das autobiographische Vorbild für die Lucinde ist, und der Bruder August Wilhelm mit seiner Frau Caroline leben in Jena in einer Wohngemeinschaft zusammen. Der zweite Brief an Antonio verfolgt den Aspekt der Freundschaft weiter. Julius unterscheidet nun zwischen zwei Arten von Freundschaft, die erste ist unersättlich, je mehr sie bekommt, desto mehr begehrt sie, eine edle Kraft treibt sie an und Julius nennt sie unverblümt sein Ideal von Freundschaft. Die zweite Art hingegen ist innerlich, reingeistig, mystisch, die Menschheit ist im Innern zu fühlen, Ruhe und Demut sind ihre Kennzeichen. Eine solche Freundschaft sei ein Geschenk der Götter, gleichwohl zart und vergänglich. Der erste Satz des nächsten Kapitels Sehnsucht und Ruhe [= Kap. 14] kann als eine direkte Anspielung auf Goethes Werther gelesen werden, denn er steht jener Klopstock-Szene diametral entgegen, in der Werther und Lotte Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="390"?> 130 5. Schritt - 18. Jahrhundert das Spektakel eines sommerlichen Gewitters verfolgen und nur dieses eine empfindsame Codewort ‚Klopstock‘ sprechen, an dem sie ihre gegenseitige Zuneigung erkennen. Bei Schlegel hingegen wird die Szenerie in ein positives Licht gerückt, Sonne, Vogelgezwitscher und Tagesanbruch untermalen die aufleuchtende Liebe: „Leicht bekleidet standen Lucinde und Julius am Fenster im Pavillon, erfrischten sich an der kühlen Morgenluft und waren verloren im Anschaun der aufsteigenden Sonne, die von allen Vögeln mit munterem Gesang begrüßt ward“ (S. 113). Es ist vom Text her gesehen nicht ganz klar, ob der genannte Pavillon derselbe ist, der auch im Kapitel Treue und Scherz als Ort der leidenschaftlichen Liebesbegegnung genannt wird und insofern Kapitel 14 erzählerisch auf Kapitel 7 zurückverweist. Dann würde die erzählte Zeit direkt an den darauffolgenden Morgen anschließen. Dieser erzählerische Beginn geht schnell in eine dialogische Struktur über, die sogar einen hymnischen Ton erfährt. Lucinde korrigiert Julius’ Liebesreligion, wenn sie darauf hinweist, dass nicht sie objektiv heilig sei, sondern dies eine „Wunderblume Deiner Fantasie“ (S. 114) ist. Die romantische Liebe ist Ergebnis eines Projektionsverhältnisses, das aber dennoch in Übereinstimmung und Harmonie mündet. Für Julius ist klar: „Du bist die Priesterin der Nacht“ (S. 114). Ob dies eine Anspielung auf die Königin der Nacht im Priestergewand aus Mozarts Zauberflöte (1791) ist? Allerdings bedeutet der Name Lucinde immerhin das Gegenteil von Nacht, nämlich die Strahlende, die Leuchtende. Lucinde reflektiert über den Tod: „So wird einst ewig kalter ernster Tag des Lebens warme Nacht zerreißen, wenn Jugend flieht und wenn ich Dir entsage wie Du der großen Liebe größer einst entsagtest“ (S. 115). Rätselhaft bleibt es, was mit dem Begriff der Entsagung gemeint sein soll und weshalb die beiden Liebenden eines Tages der großen Liebe entsagen müssen, wenn sie doch Bestand hat über den Tod hinaus. Literarische Weihen bekommt der Begriff erst mit Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften von 1809. Und rätselhaft bleibt auch der Hinweis von Julius auf „die unbekannte Freundinn“ (S. 115), die er Lucinde nicht zeigen darf, und deren literarische Identität im Dunkel bleibt, obwohl einiges dafür spricht, in ihr jene unbekannte Frau zu erkennen, wie sie im Kapitel Lehrjahre der Männlichkeit beschrieben wird, zu der Julius in heftiger Liebe entbrannt ist, bevor er Lucinde trifft. Erfüllung und damit Ruhe findet die Sehnsucht, von der die Kapitelüberschrift spricht, in der einen „große[n] Liebesnacht“ (S. 116), die als Metapher für den Tod gelesen werden kann. Lucinde erhebt den Anspruch auf unverstellte Identität-- „wenn ich seyn darf wie ich bin“ (ebd.)-- und verknüpft dies mit der Erfüllung der Sehnsucht und dem Wiederfinden der Ruhe im <?page no="391"?> 131 Geliebten. Romantische Projektion und Identität kommen hier in die Balance. Das zu erkennen bleibt der Frau Lucinde vorbehalten. Im abschließenden Kapitel Tändeleyen der Fantasie [= Kap. 15] geht es noch einmal um das schon aus dem Kapitel Idylle über den Müssiggang bekannte Evangelium von Lust und Liebe, dessen Hohepriesterin Lucinde ist. Schnell wird klar, dass dies ein Bekenntnistext von Julius ist, der dann in die Ich- Form übergeht. Die Seele versteht nun den „heiligen Sinn des Lebens wie die schöne Sprache der Natur“ (S. 118). Dieser Sinn des Lebens war zu Beginn des Romans als Alliteration von Lust und Liebe, von Leben und Lieben beschrieben worden. Nun findet alles seine Erfüllung und Vollendung in einer umfassenden Harmonie, die „Harmonie der Liebe“ (S. 119) kann nicht mehr gestört werden. Friedrich Schlegel hat den Gedanken der progressiven Universalpoesie an dieser Stelle sehr dicht und bildreich umschrieben. Die Liebe von Julius und Lucinde bleibt fragil und flüchtig, obwohl sie den dritten und höchsten Grad der Liebeskunst, die Harmonie, erreicht hat. Was ihr Dauer verbürgt, ist allein der Text. Darin liegt das Geheimnis einer Ästhetik von Lust und Liebe als Lebensform und als Schreibhaltung in der Lucinde. Und in diesem Willen zur Beständigkeit kann das Gegenprogramm zum augenblicklichen Genuss und zum Gebot der plötzlichen Erfüllung gesehen werden. Eine neue Ordnung der Dinge, von der im Roman gesprochen wird, basiert auf der Unordnung der Liebe, sie intendiert ein Kommunikations- und Handlungsmodell, das die Gleichheit der Liebenden proklamiert und die Geschlechterdifferenz festigt. Die Unordnung der Liebe findet ihren angemessenen Ausdruck in der Unordnung des Textes, die Liebe ästhetisiert die Wahrnehmung, die Dinge, das Verhalten, sie verändert also, auch und gerade die Vorstellung, dass ein Roman gattungstypologisch lediglich aus narrativen Strecken besteht. Die frühromantische Vermischung der Gattungen, wie sie die Lucinde dokumentiert, ist Programm. In dieser veränderten Perspektive ist auch „die Gesellschaft-[…] ein Chaos“ (S. 51). Während der Mann Julius sich zur Gottvollkommenheit entwickelt, vervollkommnet sich die Frau Lucinde, „gleich der Natur als Priesterin der Freude das Geheimniß der Liebe leise zu offenbaren“ (S. 96). Die Hierarchie der Geschlechter bleibt zwar bestehen, doch verbürgt die Textur der Liebe die Gleichheit der Liebenden. Denn die große Liebe wandelt „die Natur im Menschen zu ihrer ursprünglichen Göttlichkeit“ (S. 98). Während der Mann also gottähnlich wird, wird die Frau gottgleich. Und diese Wandlung vollzieht das „heiligste Wunder der Natur“ (ebd.), die Wollust. Friedrich Schlegel ruft somit emphatisch das Begehren als jenen Ort der Verwandlung auf, der Friedrich Schlegel Lucinde (1799) <?page no="392"?> 132 5. Schritt - 18. Jahrhundert die Umkehrung der Geschlechterrollen und deren Aufhebung verbürgt- - für das Jahr 1799 ist das ein wirklich kühnes Gedankenexperiment. Mit der Lucinde erschließt Friedrich Schlegel einen textualistischen Liebesbegriff. Die Liebe wird als Text verstanden, dessen richtiges Verstehen von der entsprechenden hermeneutischen Schulung der Liebenden, also dem Textschreiber und zugleich dem Textleser, abhängt. Die Lucinde reflektiert über die Möglichkeiten einer Liebesreligion als frühromantisches Programm der Einheit von Literatur und Leben. Der Roman zeigt, Liebe ist ein Naturzustand und nichts kulturell Generiertes, sie ist in diesem Sinne eine anthropologische Notwendigkeit. Textgrundlage: Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman. Studienausgabe. Kritisch hgg. u. mit Begriffs-Repertorium, Bibliographie u. Nachwort versehen v. Karl Konrad Polheim. Revidierte u. erweiterte Ausgabe. Stuttgart 2011 (=-Reclam UB 320). Lektüreempfehlungen: Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente (1798 / 1800) Novalis: Blüthenstaub-Fragmente (1798), Hymnen an die Nacht (1800), Heinrich von Ofterdingen (1802) Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796), Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst (1799) Bonaventura [= August Klingemann]: Nachtwachen (1804) Einführende wissenschaftliche Literatur: Friedrich Schlegel-Handbuch. Leben-- Werk-- Wirkung. Hgg. v. Johannes Endres. Stuttgart 2017. Lothar Pikulik: Frühromantik. Epoche-- Werke-- Wirkung. Zweite, bibliographisch ergänzte Aufl. München 2000 (= Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte). <?page no="393"?> 133 Weimarer Klassik: Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) 6. Schritt - 19. Jahrhundert W eimarer k laSSik : Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) Spricht man von Weimarer Klassik als einer nur wenige Autoren betreffenden, aber wirkungsmächtigen literaturgeschichtlichen Periode zwischen 1794 und 1805 im engeren Sinn, so sind damit vor allem die entsprechenden Werke von Moritz, Schiller, Goethe, Herder und Wieland gemeint. Die Grundlage einer zeitgenössischen theoretischen Reflexion zur Weimarer Klassik liefert Karl Philipp Moritz (1756-1793). Er entwirft ein ästhetisches Denken, das unter dem Begriff der Autonomieästhetik Eingang in die Literaturgeschichte gefunden hat. In seiner Schrift Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785) charakterisiert er den Zustand der ästhetischen Erfahrung. Er schreibt über das Schöne im Kunstwerk, man könne es dann rein und unvermischt ästhetisch erfahren, wenn man es „als etwas betrachte, das bloß um sein selbst willen hervorgebracht ist, damit es etwas in sich Vollendetes sei.-[…] Ein Ding kann also nicht deswegen schön sein, weil es uns Vergnügen macht, sonst müßte auch alles Nützliche schön sein; sondern was uns Vergnügen macht, ohne eigentlich zu nützen, nennen wir schön“ (Karl Philipp Moritz: Werke. 2 Bde. Hgg. v. Horst Günther. Frankfurt a. M. 1981, Bd. 2, S. 545). Friedrich Schiller (1759-1805) wird einige Jahre später in einem Brief vom 22. Januar 1802 die Formel prägen, ein poetisches Werk müsse „ein in sich selbst organisirtes Ganze“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 31, S. 94) sein. Ob damit gesagt ist, dass in der ästhetischen Autonomie- - wie sie Moritz darlegt und wie sie in den poetischen Texten von Schiller und Goethe aufgegriffen wird- - bereits die Antizipation einer allgemeinen gesellschaftlichen Autonomie aufscheint, auf die jene gleichsam vorbereiten soll, ist umstritten, allein von Schillers klassischen Dramen her gesehen prinzipiell aber zu rechtfertigen. Trotz der kunstästhetisch und philosophisch reflektierenden Essays von Moritz und Schiller kann man aber nicht von einem geschlossenen ästhetischen Programm oder einem poetischen System der Weimarer Klassik sprechen. Wohl haben Schiller und Goethe, Wieland, Herder und Wilhelm von Humboldt, Hölderlin und Körner sich zu poetischen und allgemein ästhetischen Fragen geäußert. Schillers eigene philosophische Abhandlungen erörtern zwar durchaus auch Probleme einer idealistischen <?page no="394"?> 134 6. Schritt - 19. Jahrhundert Ästhetik, doch ist dieses Denken stets auch Selbstzweifeln, Korrekturen, Widersprüchen und überbordenden Assoziationen unterworfen. Literarische Konkretisierung findet das ästhetische Programm der Weimarer Klassik vor allem in der klassischen Lyrik Schillers und Goethes, in dessen Iphigenie (Versfassung von 1786) und in Schillers klassischen Dramen, dazu zählen die Wallenstein-Trilogie (1800), Maria Stuart (1801), Die Jungfrau von Orleans (1801), Die Braut von Messina (1803) und das bis heute wohl am populärsten gebliebene Stück Wilhelm Tell (1804). Die gattungstypologischen Zuordnungen reichen von Geschichtsdrama, Schicksalsdrama, Festspiel und Mysterienspiel bis hin zu Charakterdrama, wobei sich eine eindeutige typologische Identität nur schwer zusprechen lässt. Diese Werke sind nach Abschluss der philosophisch-ästhetischen Reflexions- und Schreibphase und nach Schillers prägender Kant-Lektüre in den 1790er Jahren entstanden und veröffentlicht. Im Februar 1791 hatte diese intensive Phase der theoretischen Reflexion begonnen, Ende 1795 ist sie abgeschlossen. Schiller selbst schreibt in einem Brief vom 17. Dezember 1795 an Goethe, es sei „hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 28, S. 132). Schiller reaktiviert am Ende der Aufklärung und zu Beginn des 19. Jahrhunderts nochmals die aus der aristotelischen Poetik sich herleitende poetologische Affektenlehre. Diesem Programm des künstlichen Pathos, das durch das vernünftige Rezipieren überschritten wird und so die Freiheit, die Erhabenheit des Menschen über die Sinnlichkeit vor Augen stellt, sind Schillers klassische Dramen verpflichtet. Allerdings hatte schon Körner als ein kritischer Zeitgenosse in einem Brief an Schiller vom 17. März 1804 offen über die Dialogführung des Wilhelm Tell geäußert, dass sie „weniger geschmückt“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 40 / I, S. 186) sei als in seinen früheren Werken, also weniger pathetisch, weniger künstlich und dadurch besser wirke. Die Rezeptionsgeschichte des Stücks gibt ihm Recht. Das Drama der Weimarer Klassik will ein Höchstmaß an Konzentration auf das Wesentliche, das in den Texten verhandelt werden soll. Diese Konzentration auf das Wesentliche wird in der Lesart der Weimarer Klassik durch die Rhythmisierung der Verssprache gewährleistet. Prosodie und Rhythmus als konstitutive Merkmale der Form scheiden das Unwesentliche des Stoffes aus. Als Schiller daran geht, den Wallenstein in Jamben zu schreiben, teilt er Goethe am 24. November 1797 folgende Überlegung mit: „Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetische=rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz andern Gerichtsbarkeit als vorher-[…]“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 29, <?page no="395"?> 135 Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) S. 159). Der Rhythmus zwinge die Leser, sich auf das ‚rein Menschliche‘ zu konzentrieren. „Alles soll sich in dem Geschlechtsbegriff des Poetischen vereinigen, und diesem Gesetz dient der Rhythmus sowohl zum Repraesentanten als zum Werkzeug, da er alles unter Seinem Gesetze begreift. Er bildet auf diese Weise die Atmosphaere für die poetische Schöpfung, das gröbere bleibt zurück, nur das geistige kann von diesem dünnen Elemente getragen werden“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 29, S. 160). Schon in dem Essay Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) hat Schiller im 22. Brief geschrieben, dass die Form den Stoff vertilgen müsse, „in einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun“, darin läge das „eigentliche Kunstgeheimnis“ (Schiller: Frankfurter Ausgabe Bd. 8, S. 641). Übrig bliebe so ein Kondensat des Geschichtlich-Menschlichen, das dann in der gezielten ästhetischen Profilierung, dem Akt der Idealisierung, als Fluchtpunkt der freien Vernunfthandlung diene. Die einzelnen dramatischen oder literarischen Figuren begreift Schiller als „symbolische Wesen“, wie es in einem Brief an Goethe vom 24. August 1798 heißt, die „immer das allgemeine der Menschheit darzustellen und auszusprechen haben“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 29, S. 266). Der Dichter müsse sich von der Wirklichkeit entfernen und dabei stets an diesen Idealisierungsprozess erinnern. Dies kann er vor allem durch eine ausgedehnte, pathetische, versifizierte Sprache seiner Figuren. Weimarer Klassik bedeutet in diesem Sinne also symbolhafte sprachliche, rhetorische, allegorische, metrische und dramaturgische Verdichtung der Menschheitsgeschichte. Die Tragödie als die repräsentative Textgattung kann nur einzelne außergewöhnliche Momente der Menschheit beispielhaft fixieren. Dies ist ihre Aufgabe und dies tut sie mit Hilfe eines Maximums an sprachlichem, rhythmischem und inhaltlichem Pathos. Schiller ist sich der Gefahr bewusst, die aus einem solchen Gestaltungswillen resultieren kann, dass nämlich am Ende nur figurierte, leere, abstrakte Sentenzen und Worthülsen herauskommen. Das Ideal der Kunstautonomie der Weimarer Klassik ist eine konsequente Absage an den Publikumsgeschmack. Die klassischen Dramen sind eine Attacke auf das Illusionstheater der Zeit und seine Aufführungspraxis mit dem Hang ins Opernhafte und Pompöse. Die Forderung, der Dichter müsse die Wirklichkeit verlassen, bedeutet die bewusste Destruktion der ästhetischen Illusion beispielsweise durch die freie Handhabung historischer Fakten wie in der Maria Stuart und der Jungfrau von Orleans, durch die Einführung des Chors und der Überzeichnung des Pathos der Sprache wie in der Braut von Messina, durch die häufigen Sentenzen wie im Wilhelm Tell. Nur durch die Aufdeckung der Fiktionalität <?page no="396"?> 136 6. Schritt - 19. Jahrhundert des Dargebotenen kann die emotionale und intellektuelle Freiheit des Einzelnen bewahrt bleiben und als Voraussetzung für gesellschaftliche Freiheit dienen. Die Illusion, also die Künstlichkeit der Kunst, muss für die Zuschauer erkennbar bleiben, Kunst darf das Dargestellte nicht als Wirklichkeit vortäuschen. In den klassischen Dramen wird die Einsicht gewonnen und gefestigt, dass Kunst künstlich ist, um dadurch einen Darstellungs- und Wahrheitswert zu erringen, den nur Kunst-- und nicht etwa Natur oder Naturnachahmung-- birgt. Schillers Interesse gilt nicht dem kleinen realistischen Detail, sondern der großen Linie des Geschichts- und Menschheitsprozesses, dem anthropologischen Fundament des Weltgeschehens. Die Mittel, um die Illusion von Wirklichkeit zu zerstören, sind die stilisierte Sprache, die metrische Diktion, die Reimschemata, die Verssprache mit dem häufigen Wegfall der Hilfsverben und der Gedanke der Stilisierung als Kunstprinzip. Weimarer Klassik ist Publikumsschelte und insofern bedient ihre Literatur nur ein kleines Publikum. Diese Kritik reicht von Goethes Aufsatz Literarischer Sanscülottismus (1795), wo vom großen Publikum ohne Geschmack die Rede ist, bis hin zu Schillers brieflichen Äußerungen, dass er sich weigere, sich am herrschenden Geschmack des Publikums zu orientieren. Weimarer Klassik kann als einer der letzten Versuche gelten, den anthropologischen Grundauftrag von Dichtung, die Suche nach einem besseren Menschen, zu bewahren. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte werden vor allem Schillers klassische Dramen sehr schnell für zitierfähig gehalten, der Autor selbst wird zum Klassiker geadelt. Den Rest besorgen Bildungsbürgertum und politische Konstellationen im 19. Jahrhundert, die dem Dichter, seinem Werk wie der Weimarer Klassik insgesamt die Fähigkeit zur Bildung einer deutschen Nationalidentität unterschieben. Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie (1801) Schillers Tragödie Die Jungfrau von Orleans ist zwischen dem 1. Juli 1800 und dem 16. April 1801 entstanden. Die Uraufführung erfolgt am 11. September 1801 in Leipzig. Schiller kümmert sich sehr penibel um alle Details des Drucks. Er wählt das Titelkupfer aus, bestimmt die Auswahl des Papiers und der Schrifttypen sowie das Format. Das Drama erscheint im Oktober 1801 im Kalender auf das Jahr 1802 des Berliner Verlegers Johann Friedrich Unger (1753-1804). Der Stoff der Jungfrau von Orleans ist der Geschichte entnommen und verweist auf das Leben und Wirken der historischen Jeanne d’Arc (1412-1431), die den Franzosen zum entscheidenden Sieg über die Engländer im Hundertjährigen <?page no="397"?> 137 Krieg verhalf und Karl VII . nach Reims zur Krönung führte. Sie wurde später gefangen genommen und in Rouen verbrannt. In der katholischen Kirche wird sie bis heute als Heilige verehrt. Schiller studiert einschlägige historische Werke. Trotz dieses intensiven Quellenstudiums ist die Jungfrau von Orleans kein Geschichtsdrama, obwohl der Untertitel „eine romantische Tragödie“ im zeitgenössisch modernen Sinn sicherlich mit dieser Vorannahme kalkuliert. Damit kann gemeint sein, dass Schiller sich den Stoff des Dramas aus dem späten Mittelalter borgt, das Stück spielt immerhin im Jahr 1430. Noch an einer weiteren Textstelle verwendet Schiller das Epitheton ‚romantisch‘. In I / 2 fügt er eine erklärende Fußnote zur Figur des Königs René ein, der in „romantischem Geist“ sich zum Schäfer gemacht habe und als Beispiel für Weltflucht gelte. ‚Romantisch‘ bedeutet demnach hier der Bezug zum Mittelalter. Der Untertitel „romantische Tragödie“ kann aber auch heißen, dass das Stück Elemente enthält, die zeitgenössisch als romantisch verstanden werden, so etwa der Wunderglauben, die Religion, die Elemente des mittelalterlichen Katholizismus oder die umstrittene Figur des schwarzen Ritters. Mit dem Begriff ‚romantisch‘ verbindet sich dann der inhaltliche Hinweis auf die romantisierenden Stil- und Darstellungsformen im Stück. Das Wort ‚romantisch‘ kann auch den Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts intendieren, wonach damit das Romanhafte, das Sonder- und Wunderbare des Dramas bezeichnet werden soll. In der Wahl des Untertitels kann ferner ein deutliches Signal der Entgegensetzung zu dem um 1800 durchaus noch bekannten Drama La Pucelle d’Orléans (1752) von Voltaire (1694-1778) erkannt werden, worin er Jeanne d’Arc als tragische Heldin darstellt. Schiller war mit Voltaires Arbeit vertraut. Schließlich kann ‚romantisch‘ aber auch als eine Art von Signalwort verstanden werden. In diesem Sinn spielt der Untertitel und damit das Stück insgesamt absichtsvoll auf die bis 1801 erschienene zeitgenössische romantische Literatur an. Nicht ganz nebensächlich ist es dann, dass die Jungfrau von Orleans von jenem Drucker und Verleger Johann Friedrich Unger ins Programm genommen wird, bei dem nicht nur von Goethe Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795 / 96) erschienen sind, sondern 1797 die für die Frühromantik prägenden Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-1798) und Ludwig Tieck (1773-1853) sowie Tiecks Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798). Wenn ein Verleger gerade im Jahr 1801 den schillerschen Untertitel ‚romantisch‘ favorisiert, dann hat das natürlich auch marktstrategisch verkaufsfördernde Momente. Allein dieses Beispiel macht schon deutlich, wie wichtig es ist, bei der Frage nach Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="398"?> 138 6. Schritt - 19. Jahrhundert der Periodisierung von Epochen und Strömungen die Gleichzeitigkeit von historisch Unterschiedlichem mitzudenken. Spätaufklärung, Frühromantik und Weimarer Klassik als literaturgeschichtliche Perioden durchkreuzen und überschneiden sich. Bereits die erste Regieanweisung im Prolog zur Jungfrau von Orleans entfaltet die Problematik zwischen heidnischem Wunderglauben und christianisierter Anverwandlung. Dort ist zu lesen, vorne rechts an der Bühne sei ein Heiligenbild in einer Kapelle zu sehen, während links eine hohe Eiche stehe. Damit sind die beiden Pole genannt, zwischen denen sich Johanna d’Arc- - Schiller gebraucht den deutschen Vornamen-- bewegen, zwischen denen sie hin- und hergerissen wird. Ihre göttliche Inspiration und ihren politischen Auftrag erhält sie nämlich unter diesem Baum, der volkstümlich im Stück als Zauberbaum geheimnisvoll umwittert und negativ besetzt ist. Weiter exponiert Schiller im Prolog bereits in den Eingangsversen des Vaters einen genderspezifischen Aspekt, der das gesamte Stück in einer regelrechten Architektur der Umkehrung von Geschlechterrollen durchzieht. Thibaut d’Arc will seine drei Töchter verheiraten, er ist der Ansicht, dass Frauen besonders in Kriegs- und das bedeutet in Krisenzeiten des männlichen Schutzes bedürfen. Thibaut gehört keineswegs zur armen Landbevölkerung, sondern er wird im Verzeichnis der Dramatis personae von Schiller ausdrücklich als ein „reicher Landmann“ beschrieben. Insofern ist auch Johannas späteres soziales Argument, sie sei „nur eines Hirten niedre Tochter“ (V. 1048), das sie dem Erzbischof von Reims gegenüber anführt, nicht aufrichtig. Man kann dies bereits als Johannas Versuch werten, sich selbst als unterschichtige Frau zu inszenieren und den christlichen Glauben an die arme Geburt Jesu Christi auf ihre eigene Herkunft zu übertragen. Will man dies so verstehen, dann würde sich darin bereits sehr früh im Text ein Signal ihrer sich sukzessiv abzeichnenden Hybris und ihres späteren Rollenkonflikts zwischen Sendungsauftrag und Sendungsbewusstsein erkennen lassen. Johannas Vater denkt sozioökonomisch, er versteht die Verheiratung seiner Töchter als Verwandlung (und damit als Parallele zur christlichen Eucharistie) des symbolischen Kapitals der Töchter in das ökonomische Kapital des Landbesitzes. Durch die Heiraten vermehrt sich der familiäre Grundbesitz, denn jede Tochter bekommt 30 Acker Land, eine eigene Herde sowie einen eigenen Hof mit in die Aussteuer (vgl. V. 25 u. 36 f.). Allerdings ist es auch der Vater, der jenes Signalwort als Erster im Text im Munde führt, das später Johannas Handeln und Sterben prägen wird: Herz. Mit diesem der Empfindsamkeit verpflichteten Terminus nimmt Schiller ein dominantes soziales und literarisches <?page no="399"?> 139 Thema der Aufklärung variierend auf. Johannas Abneigung, gar Verweigerung, den verständigen Raimond zu heiraten, kann sich der Vater nur als eine „schwere Irrung der Natur“ (V. 62) erklären. Johanna verstößt, indem sie sich der Ordnung der Geschlechter entzieht, gegen die natürliche Ordnung und das positioniert sie von Beginn an auch außerhalb der politischen Ordnung. Später wird König Karl feststellen, dass Johannas Wundertaten „nicht in dem Laufe der Natur“ (V. 999) seien. Johannas Digression wird deshalb nur so lange von der männlichen politischen Ordnung toleriert, wie diese benötigt, um sich wieder zu stabilisieren. Dulden aber kann diese Ordnung ein solches Verhalten nicht. Das ist Johanna von Beginn an bewusst, dass in ihren Auftrag zugleich auch ihr Untergang eingeschrieben ist. Johanna scheint „was höh’res zu bedeuten“ (V. 78), das ahnt bereits Raimond, noch bevor sich Johanna ihrer Familie offenbart. Wie die Erfüllung einer unheilvollen Prophezeiung liest sich, was der Vater rhetorisch fragt, ob er sein eigenes Kind anklagen solle (vgl. V. 146). Genau diese Anklage des Vaters wird am Ende ursächlich zu Johannas Verlust der bürgerlichen Rechte und zu ihrem Tod führen. Johanna bedarf aber zum Handeln stets der äußeren Zeichen. So tritt im dritten Auftritt des Prologs der Bauer Bertrand mit einem Helm auf, den er auf dem Markt von einer Zigeunerin erhalten haben will. Dieses dramatische Dingsymbol vermag immerhin Johanna zu ihren ersten Worten zu bewegen. Sie fordert den Helm für sich, greift nach ihm und entreißt ihn schließlich Bertrands Händen. Sie erhebt Besitzanspruch und wird darin von Raimond unterstützt, der zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig weiß wie der Leser oder Zuschauer. Er liefert aber den Schlüssel zum weiteren Verstehen. Ein männliches Verhalten kennzeichne Johanna, ihr Herz sei „ein männlich Herz“ (V. 196). Damit ist nun im Prolog eine tragische Konfliktlinie festgelegt, um die herum Schiller den dramatischen Knoten schürzen wird. Johanna trägt in sich einen Geschlechter- oder Rollenkonflikt aus. Als Frau beansprucht sie männliche Verhaltensweisen und Attribute der Macht, die in der kulturellen Ordnung des späten Mittelalters eben ausschließlich männlich prädiziert sind. Diese Festschreibungen der Geschlechterdifferenz, die mit väterlicher Autorität beschworen werden (vgl. V. 293), wenden später Johannas Handeln ins Tragische. Mit dem Ausruf: „Der Retter naht“ (V. 303) und dem Hinweis, Wunder würden noch geschehen, beansprucht Johanna endgültig die Fähigkeit zur Prophezeiung und reklamiert für sich die alleinige Deutungshoheit. Sie spricht von sich selbst in der dritten Person Singular, sie weist darauf hin, dass eine Jungfrau Gott verherrlichen und den bedrohten König, mithin die politische Ordnung Frankreichs retten wird. Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="400"?> 140 6. Schritt - 19. Jahrhundert Im Stil einer rhetorisch geschickt strukturierten Klimax mit einer regelrechten anaphorisch gestalteten Fragenkette vermischt sie ihren politischen Auftrag mit dem kulturellen Wissen ihrer Zeit in einem psalmodischen Hymnus (vgl. V. 344-365). Die bisherigen Blankverse in fünfhebigen Jamben wandeln sich nun in Johannas Monolog im vierten Auftritt in ein fünfhebiges, jambisches Reimschema nach dem Muster abababcc. Dieses deutliche Signal der kunstvollen Form unterstreicht den Inhalt der Rede Johannas. Sie verabschiedet sich von ihrer Herkunft in dem Wissen, dass sie nie mehr wiederkehren wird. Zudem erklärt sie, dass die Stimme Gottes aus der (heidnischen) Eiche zu ihr gesprochen und ihr einen eindeutigen Auftrag erteilt habe. Sie solle kämpfen und nicht lieben und dem König zur Krönung verhelfen. Der politisch-militärische Imperativ sowie die Neutralisierung ihres Begehrens sind also die zentralen Momente dieses Auftrags. Versprochen wird ihr für dessen Erfüllung ihre Verklärung, womit Schiller wiederum einen alten religiösen Begriff anführt, der einen Zustand größter Gottesnähe in der Stunde des Todes meint. Johanna weiß aber auch, dass sie die Ausführung dieses Auftrags nicht überleben wird. Dieser Monolog dient ihr nochmals zur Selbstreflexion, ja zur Selbstvergewisserung, dass sie auch tatsächlich einen Sendungsauftrag hat, nach dem sie handelt, und ihr Handeln nicht nur Resultat eines Sendungsbewusstseins ist. Zugleich verbirgt sich dahinter auch ein dramaturgischer Trick, der es Schiller erlaubt, dass seine Hauptfigur und die Zuschauer bzw. Leser nun über dasselbe Wissen um Johannas Auftrag verfügen, im Gegensatz zu den anderen Figuren des Stücks. Um Zeichen und Wunder hat Johanna den Himmel gebeten, nun ist sie selbst das Wunder, der Helm ist das Zeichen. Dass Schiller damit einen genuin biblischen Topos profaniert und variiert (vgl. etwa Dan 6, 28; Joh 4, 48; Apg 2, 43 u. 4, 30), betont den prophetisch-messianischen Anspruch Johannas, und für Schillers Zeitgenossen mag dies provokanter gewirkt haben, als es uns heute erscheint. Johanna beginnt also im Prolog bereits mit ihrer Selbstinszenierung als Sendungsbeauftragte. Sie unterliegt außerdem einem strengen Liebestabu. „Nicht Männerliebe darf dein Herz berühren“ (V. 411), heißt es schon im Prolog. Dies ist ein wörtliches Zitat von Johannas Berufungsgeist, auch in Vers 2204 ist zu lesen: „Und keinem Manne kann ich Gattin sein“. Später variiert sie dies etwas: Eine reine Jungfrau Vollbringt jedwedes Herrliche auf Erden, Wenn sie der ird’schen Liebe widersteht (V. 1087 ff.). <?page no="401"?> 141 Hier ist es ein wörtliches Zitat der Muttergottes. Karl, Dünois und La Hire wirft sie in III / 4 vor, in ihr „nichts als ein Weib“ (V. 2254) sehen zu wollen. Johanna verwahrt sich gegen ihre Geschlechtsidentität. Überhaupt mangelt ihr aus der Sicht ihrer Mitmenschen Identität. Der Vater wertet es als Irrung der Natur, dass sie sich trotz ihrer körperlichen Schönheit nicht für Männer interessiere. Der Verstoß gegen die natürliche Ordnung wird als Verstoß gegen die väterliche Ordnung gewertet und als Verstoß gegen die göttliche Ordnung begriffen, wie auch Johanna später bekräftigen wird: „Weil es vom Vater kam, so kam’s von Gott“ (V. 3150). Wenn sich Johanna also dem Druck des Ordnungsdenkens, das patriarchalautoritär strukturiert ist, widersetzt, dann verstößt sie damit gegen das gesellschaftliche Selbstverständnis des ausgehenden Mittelalters ebenso wie gegen das bürgerliche Selbstverständnis zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Insofern muss der Konflikt, den Johanna austragen wird, stets ein tragischer sein, da er keine Versöhnung zulässt. Die Geschlechterdifferenz mit ihren kulturellen Codierungen erweist sich als Ausgangspunkt des tragischen Geschehens. Es ist der Vater, der bereits in den ersten Zeilen des Stücks diese Differenz beschwört, indem er sich auf seine väterliche Autorität beruft und seine drei Töchter verheiraten will. Im ersten Akt begegnet dem Leser der königliche Hofstaat. Noch geht König Karl VII . davon aus, dass seine Geliebte Agnes Sorel diejenige Frau sein wird, mit deren Hilfe er zum König von Frankreich gekrönt werden wird. „Hier steht die Heldin, die nach Rheims [! ] mich führt, / Durch meiner Agnes Liebe werd’ ich siegen! “ (V. 659 f.) Schiller stellt damit Sorel als die unmittelbare Gegenfigur zu Johanna vor. Sorel ist denn auch diejenige, die Karl gegenüber die Geschlechterdifferenz beschwört und ihn zu männlichem Verhalten auffordert. Er solle seine Absetzung als König durch das Parlament „männlich fassen“ (V. 774) und dagegen kämpfen. Umgekehrt wird Sorel später auch sehr genau wissen, wie sich eine Frau innerhalb der Geschlechterordnung zu positionieren hat, wenn sie von Johanna verlangt, sie solle sich wie eine Frau verhalten, dann werde sie „Liebe fühlen“ (V. 2643). Von Agnes Sorel geht also zunächst der politische Impuls zum militärischen Handeln aus und nicht von Johanna. Auch weissagt Agnes Sorel dem König, dass er die nationale Identität stiften wird (vgl. V. 795), lange bevor Johanna mit dem König das erste Wort gewechselt hat. Das bedeutet für die Textinterpretation, dass Johannas politische Argumente an Stichhaltigkeit verlieren und dies wiederum die Glaubwürdigkeit der Objektivität ihres Sendungsauftrags zu erschüttern vermag. Erst im neunten Auftritt wird von der Koinzidenz, wonach Johanna zeitgleich zu den Exilüberlegungen des Königs erste militärische Erfolge erzielt, die Rede sein. Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="402"?> 142 6. Schritt - 19. Jahrhundert Der Ritter Raoul berichtet von einem seltsamen Wunder und löst mit diesen Worten Johannas Versprechen aus dem Prolog ein, dass noch Wunder geschehen werden (vgl. V. 315). Eine junge Frau habe plötzlich das Schlachtfeld betreten und, wie eine antike Kriegsgöttin gewandet, den Sieg herbeigeführt, indem sie die französischen Truppen mit fünfundzwanzig Worten ansprach. In diesem knappen Bericht wird die Ambivalenz von Sendungsbewusstsein und Sendungsauftrag deutlich. Während Raoul eine glänzende Erscheinung himmlischer Verklärung für möglich hält, sind es in Wirklichkeit lediglich Johannas blonde Haare, die ihr „in goldnen Ringen“ (V. 958) um den Nacken fallen. Die Feinde fliehen und werden von den französischen Truppen niedergemetzelt, die selbst ohne Verluste bleiben. Dieser Bericht leitet direkt auf die zentrale Frage hin, die Agnes Sorel stellt: „Wer ist sie? “ (V. 987) Mehrmals wird diese Frage variiert, weil stets die Identität Johannas und der Widerspruch der Geschlechterdifferenz, den sie ausagiert, Rätsel aufgeben. So werden sie der König fragen, wer sie sei und woher sie komme (vgl. V. 1032), ebenso der Erzbischof (vgl. V. 1044), Talbot (vgl. V. 1542) und Lionel (vgl. V. 2487). Auf diese leitmotivische Frage gibt es unterschiedliche Antworten. Zunächst aber erfährt Johanna durch die höchste weltliche Macht des Königs ihre Beglaubigung. Karl anerkennt, dass Johanna von Gott geschickt wurde und bekennt sich damit zu einem objektiven Sendungsauftrag Johannas (vgl. V. 1043). Johanna reagiert auf diese moralische Nobilitierung durch den König mit einer Unwahrheit. Sie erklärt dem Erzbischof, sie sei „eines Hirten niedre Tochter“ (V. 1048). Der Widerspruch zu ihrer tatsächlichen sozialen Herkunft lässt sich nur so erklären, dass Johanna nun bereits ihre eigene Biographie der messianischen Geburtsgeschichte Jesu anpasst und dadurch den religiösen Anspruch ihres politischen Auftrags unterstreicht. Macht Johanna selbst die Geschlechterdifferenz zum Kern ihres religiös motivierten politischen Auftrags und setzt sich damit in Widerspruch zur bestehenden Ordnung der Geschlechter, so beruft sie sich dabei auf die Muttergottes, die eben dies von ihr verlangt, nämlich dem Begehren zu entsagen (vgl. V. 411 u. 1089). Sie ist es, die ihr im Traum erscheint und ihren Auftrag formuliert, die zürnt, als Johanna zögert, und sie verleiht ihren Worten mit dem Appell an die Geschlechterdifferenz Nachdruck: Gehorsam ist des Weibes Pflicht auf Erden, Das harte Dulden ist ihr schweres Los, Durch strengen Dienst muß sie geläutert werden, Der hier gedienet, ist dort oben groß. (V. 1102 ff.) <?page no="403"?> 143 Dies ist die zweite Textstelle im Stück, wo Johanna ihren Auftrag zitiert. Der Wortlaut weicht zwar von der ersten Nennung im Prolog ab, jedoch ist der berichtete Auftragsinhalt der gleiche: Johanna soll gehorchen, das Begehren negieren, den militärischen Sieg davontragen und den König zur Krönung nach Reims führen. Erst nach dem Hinweis auf ihre Gehorsamspflicht als Frau erfährt sie auch die „Beglaubigung“ (V. 1111) durch die Instanz der kirchlichen Macht des Erzbischofs. Galt bis dahin den politischen und militärischen Akteuren Johanna als ein seltsames Mädchen, das Wunder vollbringt, so erfährt sie zu Beginn des zweiten Aktes erstmals die Kriminalisierung ihres Handelns. Von dem noch auf Seiten der Engländer kämpfenden Herzog von Burgund wird sie als Teufel bezeichnet, später auch von Talbot so genannt. Auch Karls Mutter Königin Isabeau, die als militärisch handelnde Frau eine direkte Gegenspielerin Johannas darstellt, verteufelt die Tochter eines reichen Landmanns. Isabeau erhebt sogar denselben Anspruch wie Johanna, wenn sie im Gespräch mit dem englischen Generalstab die Führung des Heeres beansprucht: „Ich will das eure führen, ich will euch / Statt einer Jungfrau und Prophetin sein“ (V. 1377 f.). Sowohl Talbot als auch Montgomery erfahren Johannas Verstoß gegen die Geschlechterordnung als Provokation (vgl. II / 5 und II / 6). Montgomery wird dies mit dem Tod bezahlen. Denn Johannas Sendungsauftrag beinhaltet auch einen Tötungsauftrag, sie solle alle Soldaten töten, die ihr in den Schlachten begegnen (vgl. V. 1601). Diesen „Vertrag“ (V. 1600) macht sie auch in der Begegnung mit dem für England kämpfenden Montgomery geltend. Während dieser ihre Schönheit und ihren sanften Blick beschwört, verweist sie auf ihre vermeintliche Geschlechtslosigkeit. Damit evoziert sie das Bild eines Engels, der als geschlechtslos gilt, und hebt wiederum ihren objektiven göttlichen Sendungsauftrag hervor. Diese subjektive Aufhebung der Geschlechterdifferenz steht darüber hinaus auch in deutlichem Widerspruch zur Regieanweisung zu Beginn von II / 4, wo die männlichen militärischen Insignien wie Fahne, Helm und Brustharnisch zwar angeführt sind, ansonsten aber ausdrücklich ihre weibliche Kleidung hervorgehoben wird. Johanna verschont zunächst lediglich den burgundischen Herzog, der sich auf ihren Zuspruch hin auf die Seite der Franzosen schlägt. Diese Szene zeigt Johanna, wie sie durch Rede einen Menschen überzeugen kann, nicht durch vernünftiges Argumentieren, sondern durch eine leidenschaftliche Ansprache. Ansonsten besticht sie durch die Überzeugungskraft ihrer Taten. Selbst als sie schwer beschuldigt und der Hexerei verdächtigt wird, schweigt sie. Der Kraft Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="404"?> 144 6. Schritt - 19. Jahrhundert des Wortes wird in der Jungfrau von Orleans die Macht der Tat entgegengesetzt. Nicht durch Vernunft oder vernünftige Argumente vermag Johanna ihre Mitmenschen von ihrem Sendungsauftrag zu überzeugen, sondern allein, indem sie die Herzen berührt, ihre Rede also affektiv wirkt, am deutlichsten in dieser Burgund-Szene, oder indem sie eben durch Taten überzeugt. Durch sein Herz fühlt Burgund beglaubigt, dass Johanna tatsächlich „die Gottgesandte“ (V. 1764) ist, als die sie sich bezeichnet. Nach seiner Konversion zeigt Johanna erstmals menschliche Züge, sie umschlingt Burgund „mit leidenschaftlichem Ungestüm“ (Regieanweisung nach V. 1811). Mit dieser affektiven Regung macht sie deutlich, dass sie ein Mensch ist und als solcher in der Geschlechterordnung steht. Alle Versuche, dies zu leugnen, werden von nun an das tragische Geschehen erheblich beschleunigen. Das eigentliche Problem Johannas, der Beginn ihrer Bestimmung zum Tode und damit der heimliche Höhepunkt im Stück, liegt im dritten Akt, als sie vom männlichen Begehren kolonisiert wird. Zwar hat sie schon in ihrem Dorf die Anträge des Bauern Raimond drei Jahre lang erfolgreich abgewehrt, doch nun versuchen Dünois und Lionel sie als Braut zu gewinnen. Aber Johanna wehrt sich entschieden dagegen. Damit wird deutlich, dass in der Ablehnung der Geschlechtsidentität der Grund für ihren sozialen und politischen Fall zu sehen ist, sie will Jungfrau bleiben. Das biologische und das kulturelle Geschlecht sowie die Erwartungen, die daran geknüpft sind, kollidieren miteinander. Zugleich verschiebt sich aber auch die Legitimation von Johannas militärischem Auftreten, ihrem Sendungsauftrag. Galt bislang, dass sie so lange kämpfe, bis König Karl wieder rechtmäßig im Amt sei, so beschwört sie nun die Einheit des Landes, sie kämpfe, bis der letzte Engländer aus dem Land vertrieben sei. Das Ziel der politischen Einigung wird sukzessive ersetzt durch ein Ziel militärischen Interesses. An diese Szenen schließt sich unmittelbar Johannas Begegnung mit dem schwarzen Ritter an. Dieser tritt mit dem Auftrag auf, sie vor den Folgen der Hybris zu warnen. Johannas Prozess der Vermenschlichung, der wiederum unabdingbare Voraussetzung für ihre Apotheose ist-- denn nur, was menschlich ist, kann vergöttlicht werden--, wird besonders in diesem dritten Akt deutlich, der mit Dünois’ Bekenntnis seiner Liebe zu Johanna eingeleitet wird. König Karl, der als Landesvater in der Ordnung der Vaterautoritäten unter der Autorität von Gottvater an zweiter Stelle steht, reklamiert nun die Vaterautorität des eigentlichen Familienvaters. Auch er will, wie schon ihr leiblicher Vater zu Beginn des Stücks, in völliger Verkennung der Situation Johanna mit Dünois verheiraten und ahnt dabei nicht, dass er damit Johannas Geschlechtervertrag <?page no="405"?> 145 verletzt. Dieser symbolische Vertrag besteht darin, dass Johanna ihr Begehren negiert und sexuell unschuldig bleibt, um so dem Anspruch politisch-militärischer Führung gerecht werden zu können. Johanna wiederholt den Inhalt des Vertrags: Berufen bin ich zu ganz anderm Werk, Die reine Jungfrau nur kann es vollenden. Ich bin die Kriegerin des höchsten Gottes, Und keinem Manne kann ich Gattin sein. (V. 2201 ff.) Der Erzbischof allerdings beruft sich auf die natürliche Ordnung der Geschlechter und mahnt Johanna zu einer Paarbeziehung. Unverkennbar erweist sich der Geschlechterkonflikt zunehmend als die eigentliche Sollbruchstelle des dramatischen Geschehens, aus dem heraus der tragische Knoten geschürzt wird. Johanna verwahrt sich dagegen, sie als Frau in die anthropologische Ordnung von Macht und Gehorsam einbinden zu wollen: „Der Männer Auge schon, das mich begehrt, / Ist mir ein Grauen und Entheiligung“ (V. 2263 f.). Die eigentliche Versuchung, die durchaus auch als eine profane Parallele zur Versuchung Christi in der Wüste gelesen werden kann, erfährt Johanna in dieser Begegnung mit dem schwarzen Ritter. Zugleich ist dies aber auch eine der rätselhaftesten Szenen in Schillers Werk. In III / 9 tritt dieser namenlose Ritter in schwarzer Rüstung und mit geschlossenem Visier auf, er wird von Johanna verfolgt. Bei der Deutung dieser Figur kann man sich auf eine Äußerung Schillers aus dem Jahr 1801 stützen, die 1838 durch die Mitteilung von Karl August Böttiger (1760-1835) in Umlauf kommt: Der schwarze Ritter soll dazu dienen, um mit einem neuen Band an die romantische Geisterwelt zu knüpfen, da hier immer zwei Welten miteinander spielen. Eigentlich dachte sich Schiller den Geist des kurz vorher verschiedenen, als Atheist der Hölle zugehörigen, Talbot. Immer sind die Menschen auf der höchsten Spitze stehend gefallen. Das widerfährt von dieser Scene an auch der Johanna (Schiller: Frankfurter Ausgabe Bd. 5, S. 656). Im Figurenverzeichnis spricht Schiller lediglich von der „Erscheinung eines schwarzen Ritters“. Deshalb bleibt es offen, ob Schiller diese Figur tatsächlich als gespensterhafte Erscheinung oder als reale Figur inszeniert sehen will, wie dies ja auch das Versinken bei seinem Abgang offenlässt. Donnerschlag, Nacht und Blitz, die den Abgang des Ritters begleiten, müssen nicht notwendigerweise in Analogie zum Donnerschlag in der Kathedrale zu Reims gesetzt werden (vgl. Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="406"?> 146 6. Schritt - 19. Jahrhundert IV / 11), der dort zweifelsfrei die Bedeutung eines göttlichen Zeichens annimmt. Auch ist dies kein ausschließliches und spezifisch romantisches Attribut des Textes wie in V / 1, als die Donnerschläge im wilden dunklen Wald Johannas Weg zu den Köhlerhütten in Dunkelheit, heftigem Blitzen, Stürmen und Donnern flankieren. Der englische, also gegnerische Feldherr Talbot misstraut der Rede von Johanna als einer Gottgesandten, die übernatürliche Fähigkeiten besitze und siegreich das Heer der Franzosen anführe, er bezeichnet das als Gerede, als grobes Gaukelspiel (vgl. V. 2336). In Wahrheit sei die Überlegenheit Johannas Ausdruck der eigenen „Dummheit“ (V. 2319) seiner Soldaten. Talbot nennt Johanna im Laufe seiner wenigen Auftritte unter anderem „Furchtbild der erschreckten Einbildung“ (V. 1469) und „jungfräulichen Teufel“ (V. 1480). Er bezeichnet sie als „eine Gauklerin, die die gelernte Rolle / Der Heldin spielt“ (V. 1546 f.). Talbot vermag in Johanna keine satanische Erscheinung zu sehen. Was die anderen Soldaten Teufel nennen, sei der „Teufel unsrer Narrheit“ (V. 1247). Er versucht also, über die Strategien der Diffamierung und Dämonisierung der Frau zu einer analytischen Vernunfterklärung zu gelangen und Johanna als Fantasieprodukt auszuweisen. Wenn nun Talbot als Repräsentant der Aufklärung gelesen und der schwarze Ritter als dessen Geisterscheinung interpretiert werden, dann lässt das die symbolische Deutung zu, dass die Aufklärung in der Figuration Talbots zwar untergeht, sich aber in der Romantik in der Figuration des schwarzen Ritters fortsetzt. Diesen literaturgeschichtlichen Epochenumbruch kann man am Textverlauf verfolgen. In Szene III / 7 stirbt Talbot, in III / 9 erscheint der schwarze Ritter und in III / 10 ist die Peripetie des Stücks, der klassische Umschlagpunkt vom Glück ins Unglück, erreicht, wie ihn Aristoteles im elften Kapitel seiner Poetik beschreibt. Zugleich fällt die Peripetie mit einer Variante der klassischen Anagnorisis (Wiedererkennung) zusammen. Johanna erkennt nämlich, dass sie durchaus menschlich ist. Sie verliebt sich in den Engländer Lionel und gefährdet damit ihren Sendungsauftrag oder zumindest ihr starkes Sendungsbewusstsein. Ebenso lässt sich aber auch mit guten Argumenten im schwarzen Ritter Johannas ins Übersinnliche transponiertes Sendungsbewusstsein erkennen, triebtheoretisch gewendet kann die Figur als Ergebnis ihrer extremen Verdrängungsleistung gedacht werden oder man sieht in ihr die Verkörperung von Johannas Berufungsgeist- - letztendlich bleibt es wohl eine Gemengelage unterschiedlicher Motivationen der interagierenden Figuren. Die Farbe Schwarz des Ritters jedenfalls dient der plakativen Kontrastierung zur weißen Farbe von Johannas Fahne (vgl. V. 1157). Zudem ist Weiß die Farbe der Unschuld und Jung- <?page no="407"?> 147 fräulichkeit, während Schwarz als die Farbe der Bedrohung und des Todes gilt. Außerdem sind es nur zwei Figuren, die schwarz gekleidet im Text auftreten, wodurch nochmals die Bedeutung der Szene mit dem schwarzen Ritter betont wird. In IV / 8 tritt Johannas Vater wie der schwarze Ritter, nämlich „schwarz gekleidet“ (Regieanweisung vor V. 2829), auf. Johanna stellt dem schwarzen Ritter die Frage, die sie selbst unentwegt hört, „wer bist du? “ (V. 2414) Darin kommt das ungläubige Staunen darüber zum Ausdruck, dass die Erscheinung rational nicht zu fassen ist. Sie verlangt von dem Ritter, was sie selbst am Ende verweigert, nämlich er solle reden. Der schwarze Ritter aber gehört zu den Unsterblichen, er vermag mit einer Handberührung Johanna unbeweglich zu machen und fordert sie auf, nur Sterbliche zu töten (vgl. V. 2445). Auch in der darauf folgenden Szene erstarrt sie, als sie Lionel anblickt und sich verliebt. Und in jener Diffamierungsszene im vierten Akt ist insgesamt viermal in den Regieanweisungen die Rede davon, dass Johanna unbeweglich steht und auf die Vorwürfe, sie sei im Bund mit dem Teufel, nicht antwortet. Mit Johannas Unbeweglichkeit als Körperreaktion und psychische Reaktion korrespondiert ihre Unbeweglichkeit in der Angelegenheit ihres Auftrags. Sie will ihn zu Ende bringen, wissend, dass dies ihren eigenen Untergang bedeutet. Den schwarzen Ritter erklärt sie sich selbst als ein Bild der Hölle (vgl. V. 2446 f.), sie deutet damit das Phänomen just in der Weise, wie sie selbst von Talbot und anderen gedeutet und dämonisiert wird. In der Szene mit dem schwarzen Ritter vollziehen sich zweierlei entscheidende Änderungen von Johannas Vertrag. Zum einen ändert Johanna ihr politisches Ziel, denn nun heißt ihr oberstes militärisches Gebot nicht mehr die Krönung König Karls, sondern die restlose Vertreibung der Engländer aus Frankreich (vgl. V. 2433). Zum anderen geht sie aus der Begegnung mit der übermenschlichen Erscheinung des schwarzen Ritters selbst als Mensch hervor, sie kann von nun an nicht länger ihr Begehren negieren. Als Johanna in der darauffolgenden Szene III / 10 wild und entschlossen mit Lionel ficht, schlägt sie ihm das Schwert aus der Hand, ringt mit ihm und reißt ihm den Helm vom Kopf. In dem Moment, wo sie ihm ins Gesicht blickt, wird sie wieder von einer Unbeweglichkeit erfasst und erfährt eine Tötungshemmung. Johanna ist also nicht grundsätzlich unempfänglich für das Begehren. Sie fordert Lionel auf zu fliehen, ja sogar sie selbst zu töten. Sie ist durchaus affizierbar, ihr Herz gewinnt die Macht über ihren Willen, Pflicht und Neigung liegen so sehr im Widerstreit, dass die Sinnlichkeit über die Sittlichkeit, der Trieb über die Vernunft siegt. Erst als sie das Gesicht abwendet, findet Johanna wieder die Kraft, einen Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="408"?> 148 6. Schritt - 19. Jahrhundert weiteren Tötungsversuch zu unternehmen. Doch auch dieser scheitert in dem Augenblick, wo sie Lionel, den Mann und den Feind, anblickt. Raimond gegenüber wird sie später gestehen, dass sie „das Unsterbliche mit Augen / Gesehen“ (V. 3191 f.) habe. Die sinnliche Wahrnehmung siegt über die Vernunftarbeit. Johanna hat sich verliebt, sie erkennt, dass ihr Vorhaben Frankreich zu einen bedroht ist (vgl. V. 2483). Dieses Mal überzeugt sie durch den Verzicht auf Rede und auf Tat. Lionel entreißt ihr schließlich das Schwert. Was als Liebespfand gedacht ist, bedeutet Johannas symbolische Entmachtung und den Beginn ihres Untergangs. Der Eingangsmonolog zum vierten Akt zeigt Johanna schuldbewusst. Ihr Herz, das bislang glühend für König und Vaterland schlug, wird nun zum Ort kritischer Selbstbefragung und zur moralischen Instanz anthropologischer Selbstbestimmung. Nun erkennt auch Johanna selbst den Zusammenhang von Geschlechterordnung und Selbstreflexion. „Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war? “ (V. 2567), fragt sie sich. Sie erkennt, dass Mitleid wesentlich zur Selbstbestimmung gehört. Doch der tragische Knoten ist bereits geschürzt, er kann nicht mehr gelöst werden. Denn angenommen, Johanna verhält sich mitleidsvoll, verstößt sie damit gegen ihren Vertrag und Auftrag. Handelt sie hingegen mitleidslos, muss dies mit der anthropologischen Ordnung der Geschlechter ebenso kollidieren wie mit der politischen Ordnung der Macht. Johanna wird so tatsächlich zu einem „Phantom des Schreckens“ (V. 1478), wie sie Talbot prädiziert hatte. Während der Krönungsfeierlichkeiten in Reims tritt Johannas Vater auf, um sein Kind zu retten. Er beschwört eine väterliche Autorität, die zuvor schon der schwarze Ritter (in III / 9) und Lionel (in III / 10) beansprucht hatten. Der Vater wirft Johanna den Verstoß gegen die göttliche Ordnung vor und ignoriert damit als Einziger im Stück ihren Sendungsanspruch. Sie habe sich von Gott entfernt, ihm sogar abgeschworen und sich der „Teufels Kunst“ (V. 2976) bedient. In Thibaut d’Arc und Johanna prallen zwei konträre Gottesvorstellungen aufeinander, die maßgeblich von den je verschiedenen individuellen Vorstellungen über Geschlechter- und Menschenordnungen geprägt sind. Aufgrund der Anschuldigungen ihres Vaters beginnen auch der König und alle Umstehenden an Johannas objektivem Sendungsauftrag zu zweifeln. Trotz mehrmaligen Befragens bleibt sie stumm und verweigert die Antwort auf die Frage, ob die Anschuldigungen zu Recht vorgebracht würden. Johannas Schwester Louison verlangt ein „Erkenne dich“ (V. 2920) und wiederholt damit unwissend denselben Appell, den Agnes Sorel kurz zuvor vorgetragen <?page no="409"?> 149 hatte: „Erkenne dich, du siehst nichts wirkliches! “ (V. 2739) Die beiden Frauen Louison und Agnes Sorel verlangen also von Johanna, die Wirklichkeit nicht länger mit einem Traum zu verwechseln. Ihr Verlobter Raimond bleibt der einzige Mensch, der Verständnis für sie aufbringt und ihr vertraut. So kommt es zum letzten Wunder als Zeichen von Johannas objektivem Sendungsauftrag. Als der König mit seinen Truppen in weiteren Schlachten eine Niederlage nach der anderen hinnehmen muss, besinnt man sich der militärischen Wunder Johannas und bedauert ihren Weggang. In diesem Moment tritt Raimond auf und berichtet dem königlichen Lager, dass Johanna durch die Königinmutter Isabeau gefangen genommen worden sei. Es kommt zur Schlacht und Johanna gelingt es, ihre dreifachen Ketten zu sprengen und in das Schlachtgeschehen einzugreifen. Wie durch ein Wunder siegen die Franzosen, Johanna hingegen wird tödlich verwundet. Das Stück endet schließlich mit ihrer Apotheose. Die Jungfrau von Orleans stellt keine Flucht in die Geschichte dar, sondern die Geschichte dient als Brennglas, die Konflikte und die Befindlichkeit des gesellschaftlichen Lebens um 1800 zu bündeln und aus der Historie in die Gegenwart zurückzuverweisen. Insofern ist die Frage durchaus berechtigt, ob es sich am Ende des Stücks auch tatsächlich um eine Apotheose Johannas handelt und nicht vielmehr um eine Selbsterhöhung. Unstrittig ist, dass Johanna von der Apotheose Marias berichtet (vgl. V. 1106 ff.) und mit ihrem Bericht, welcher auch der Legitimation ihres eigenen Auftrags dienen soll, bei König Karl, Agnes Sorel, dem Erzbischof und Dünois große Rührung auslöst. Doch während in dieser Szene Schiller über Maria schreibt: „Und goldne Wolken trugen sie hinauf “ (V. 1109), spricht Johanna in der Schlussszene am Ende des Stücks diese Verse: Wie wird mir-- Leichte Wolken heben mich-- Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide. Hinauf-- hinauf-- die Erde flieht zurück-- Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude! (V. 3541 ff.) Während Johanna also subjektiv die Erfahrung macht, in den Himmel gehoben zu werden, gleitet sie objektiv zu Boden. Ihr Körper bleibt erdverhaftet, sie erfährt keine Himmelfahrt, sondern sie „sinkt tot“ (Regieanweisung) nieder und bleibt am Boden liegen. Auch in dieser Szene sind die umstehenden König Karl, Agnes Sorel und der Herzog von Burgund gerührt (vgl. die Regieanweisung), diesmal allerdings sprachlos gerührt. Johanna werde sich verklären, hatte ihr die Muttergottes im Prolog verheißen, und vom „verklärte[n] Geist“ (V. 3515) Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="410"?> 150 6. Schritt - 19. Jahrhundert Johannas spricht auch König Karl in der Schlussszene. Dieser Aspekt der Verklärung eröffnet eine kontroverse Debatte darüber, ob die Jungfrau von Orleans Johanna tatsächlich einen objektiven Sendungsauftrag erhalten hat oder ihr nur ein subjektives Sendungsbewusstsein zugestanden werden kann. Vom Text her gesehen muss diese Entscheidung offen bleiben, zu komplex ist das Gebilde einer „reinen Tragödie“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 30, S. 173), wie Schiller die Jungfrau von Orleans genannt hat. Zu dieser Komplexität gehört, dass das Stück als ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Weimarer Klassik und Romantik gelesen werden kann. So gesehen führt Schillers Drama einen feinsinnigen, gleichwohl kritischen Dialog mit Positionen der Aufklärung, mit der Kunstautonomie der Weimarer Klassik und mit frühromantischen Kunst- und Literaturtheoremen. Die Jungfrau von Orleans ist also auch eine Epochenmarkierung, die den Dialog mit romantischen Schreibhaltungen sucht, zugleich aber auf Positionen klassischer Programmatik beharrt. Während Schillers Don Karlos den Schritt vom Sturm und Drang zur Weimarer Klassik markiert, vollzieht die Jungfrau von Orleans den Schritt von der Weimarer Klassik zur Romantik, ohne darin vollständig aufzugehen. Anders als Schillers klassische Dramen Wallenstein oder Maria Stuart unterliegt die Jungfrau von Orleans einer grundlegend veränderten dramatischen Konzeption. Der Konflikt, welcher das tragische Potenzial entfaltet, entwickelt sich nicht mehr zwischen Held oder Heldin und Gegenspieler oder Gegenspielerin. In der Jungfrau von Orleans ist diese dramatische Konstellation in die Hauptfigur selbst hineingelegt, Johanna trägt den tragischen Konflikt in sich aus. Insofern sucht man in diesem Stück vergeblich nach der Klarheit eines Geschichtsdramas oder dem Mystizismus eines religiösen Festspiels. Die Jungfrau von Orleans ist eine deutliche Absage an solche Deutungsversuche, denen es ausschließlich um eine religiöse Transzendenz oder um eine geschichtliche Immanenz des Textes geht. Johanna ist trotz der geschichtlichen Realien, die Schiller natürlich integriert, kein historisches Abbild, sondern eine künstliche Projektionsfigur, sie ist ebenso überzeichnet, wie es die Pathos geladene Sprache des Dramas ist. Aber diese Überzeichnung ist bei Schiller Programm, sie dient als Bedeutungsträger für die Darstellung der dramatischen Absicht. Johanna ist auch keine heldenhafte Rebellin, die gegen Feudalaristokratie und Herrschaftswillkür kämpft und eine Zeit lang politische Akzeptanz erfährt. Das Drama ist eher ein Stück des Widerspruchs, ein Stück, das Widerspruch produziert und Widersprüche transportiert. Johanna unterliegt einem göttlichen Auftrag, der als solcher vom Text her aber undeutlich und das bedeutet nur durch Johanna <?page no="411"?> 151 selbst vermittelt bleibt, er ist nicht als objektive Tatsache autorisiert. Deshalb sollte zwischen Johannas Sendungsauftrag und ihrem Sendungsbewusstsein unterschieden werden. In der Jungfrau von Orleans werden Bewusstseinsformen vorgestellt, die nicht nach Richtigkeit und Wahrheit befragt werden können, sondern nach Echtheit und Ernsthaftigkeit. Entscheidend ist nicht, ob Johanna tatsächlich einen göttlichen Auftrag zu erfüllen hatte, sondern ausschlaggebend ist, dass sie handelt und spricht im Bewusstsein der Tatsächlichkeit dieses Auftrags. Schiller geht es um die Darstellung eines mit allen Schwächen behafteten Menschen. Nicht von ungefähr rückt der Autor in den Mittelpunkt der poetischen Motivik seiner Tragödie einen zentralen Begriff der Empfindsamkeit, denjenigen des Herzens. In seinem berühmten Brief an den Verleger Georg Joachim Göschen (1752-1828) vom 10. Februar 1802 bemerkt Schiller: „Wie angenehm war es mir, mein lieber Freund, was Sie mir über meine Jungfrau von Orleans schrieben. Dieses Stück floß aus dem Herzen und zu dem Herzen sollte es auch sprechen. Aber dazu gehört, daß man auch ein Herz habe und das ist leider nicht überal der Fall“ (Schiller: Nationalausgabe Bd. 31, S. 101). Dieser Absicht, bei Lesern und Zuschauern Affekte zu erregen-- Schiller schreibt über die spezifischen Regularien der Affekterregung unter anderem in seiner Schrift Über die tragische Kunst (1792) Näheres--, kommt Johannas komplexer Charakter entgegen. Ihm wohnt ein Wille zur Macht und nationaler Chauvinismus ebenso inne wie religiöse Inbrunst und der Glaube, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Schillers Johanna kennt aber-- im Unterschied etwa zur historischen Jeanne d’Arc-- keine Tötungshemmung. Vielmehr besteht für sie ein direkter Zusammenhang zwischen Tötungsgebot und Liebesverbot. „Tödlich ist’s, der Jungfrau zu begegnen“ (V. 1597), sagt sie zu Montgomery und verweigert kurz darauf ihre Geschlechtsidentität: „Nenne mich nicht Weib“ (V. 1609), und „schließ ich mich an kein Geschlecht / Der Menschen an“ (V. 1610 f.). Der Psychomachie in Johannas Innerem, dem „Streit in meiner Brust“ (V. 3172), in der sich nach Raimonds Worten ein männliches Herz verschließt (vgl. V. 196), entspricht der reale Kampf auf dem Schlachtfeld. Die Inszenierung von äußerlicher, historischer Gewalt korreliert mit der binnenperspektivischen Gewalt, dem Seelenkampf der Hauptfigur. Denn Schillers Johanna versteht sich als „Seherin und Gott- / Gesendete Prophetin“ (V. 989 f., vgl. auch V. 1764), die notwendigerweise mit den Bedingungen von Mensch und Gesellschaft zusammenstoßen muss. Johanna ist aber nicht nur die schweigende Dulderin, die im Bewusstsein der Rechtmäßigkeit ihrer Sendung handelt. Sie wird von Schiller auch als leidenschaftliche Frau Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="412"?> 152 6. Schritt - 19. Jahrhundert charakterisiert. „Mit leidenschaftlichem Ungestüm“ (Regieanweisung nach V. 1811) umarmt sie den Herzog von Burgund, an anderer Stelle begleitet sie den teichoskopischen Bericht eines Soldaten „mit leidenschaftlichen Bewegungen“ (Regieanweisung vor V. 3459). Johanna ist also Mensch, sie ist Frau, doch muss sie um des Bewusstseins ihrer Sendung willen ihre menschliche, ihre gesellschaftliche und ihre geschlechtliche Identität verleugnen. Schiller inszeniert damit in historischem Rahmen auch einen klassischen Rollenkonflikt. In den Regieanweisungen wird immer wieder die ausgesprochen starke Körper- und Gefühlsdynamik hervorgehoben. Umso krasser rückt diese Dynamik Johannas Unbeweglichkeit ins Licht. Die innere Erstarrung ist Ausdruck der verlorenen Identität. Schiller zeichnet also einen Frauencharakter, der nicht mehr in allen Punkten dem Bild der selbstdisziplinierten Frau des bürgerlichen Trauerspiels und der bürgerlichen Gesellschaft entspricht. Nach der Begegnung mit dem schwarzen Ritter und daran anschließend mit Lionel fühlt sich Johanna „verwandelt und gewendet“ (V. 2536), sie gesteht sich in IV / 1 sogar ihre Liebe ein. War bislang der Traum in Gestalt ihrer Prophezeiungen für Johanna Wirklichkeit, so wird nun die Wirklichkeit für sie „Traum“ (V. 2861). „War das alles nur / Ein langer Traum und ich bin aufgewacht? “ (V. 2905 f.), fragt sie sich. Auch wenige Augenblicke vor ihrem Tod wird sie die Frage stellen: „Wo bin ich? “ (V. 3519) Traum und Wirklichkeit nähern sich bereits einem Mischungsverhältnis, das literaturhistorisch gesehen Merkmal romantischer Literatur ist. Johanna versucht eine anthropologische Negation und scheitert daran. Sie negiert ihre Geschlechtsidentität und ihre Menschlichkeit, sie begreift sich selbst so lange als geschlechtslos, bis das Begehren in der Lionel-Szene sie zur Verletzung ihres Gelübdes zwingt. Das macht deutlich, dass ein Verstoß gegen die Geschlechterordnung als ein Verstoß gegen die politisch-gesellschaftliche Ordnung gewertet wird. Das tragische Geschehen entwickelt sich aus dem Versuch heraus, das Begehren auszulöschen und damit die Geschlechterordnung, die von Johannas Mitfiguren als natürliche Ordnung erfahren wird, umzuschreiben und die anthropologische Selbstbestimmung ebenso zu leugnen wie die Geschlechterdifferenz. Durch den Verzicht auf Mitleid als einer zentralen anthropologischen Kategorie im Selbstverständnis der Aufklärung verzichtet Johanna auf ihr Menschsein und leugnet ihr Frausein (vgl. V. 2568 f. Welche narrativen Möglichkeiten es gibt, die historische Johanna als Figur der Gegenwart zu begreifen, zeigt Felicitas Hoppe in ihrem Roman Johanna, Frankfurt a. M. 2006). Die Figur der Johanna veranschaulicht also, welche tragischen Konflikte entstehen können, wenn des Menschen Wille ebenso aufgehoben <?page no="413"?> 153 wird wie seine Identität als Geschlechtswesen. Darin liegt ihr exemplarischer Charakter als einem Musterstück der Weimarer Klassik. Textgrundlage: Friedrich Schiller: Klassische Dramen. Maria Stuart, Die Jungfrau von Orleans, Die Braut von Messina, Wilhelm Tell. Hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Frankfurt a. M. 2008. Lektüreempfehlungen: Lyrik des 19. Jahrhunderts (u. a. Schiller, Goethe, Achim von Arnim / Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn, Novalis, Joseph von Eichendorff, Wilhelm Müller) Friedrich Schiller: Wilhelm Tell (1804) Jean Paul: Flegeljahre (1804 / 05) Heinrich von Kleist: Amphitryon (1807), Der zerbrochne Krug (1808), Michael Kohlhaas (1810) Johann Wolfgang Goethe: Faust I u. II (1808 u. 1832), Wahlverwandtschaften (1809) Einführende wissenschaftliche Literatur: Schiller-Handbuch. Leben-- Werk-- Wirkung. Hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit v. Grit Dommes. Stuttgart 2005. Volker C. Dörr: Weimarer Klassik. Paderborn 2007. Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Überarbeitet v. Manuela Runge. Neuausgabe. Weinheim 1998. Friedrich Schiller Die Jungfrau von Orleans (1801) <?page no="415"?> 7. Schritt - 19. Jahrhundert B iedermeierzeit : Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) Das Jahr 1804 ist in vielerlei Hinsicht ein symbolträchtiges Jahr für die deutsche Literaturgeschichte. Zum einen ist es Kants Todesjahr, zum anderen wird Eduard Mörike (1804-1875) geboren, das populärste Drama der Weimarer Klassik, Friedrich Schillers (1759-1805) Wilhelm Tell, wird uraufgeführt und einer der Stiftungstexte der literarischen Romantik, nämlich August Klingemanns Nachtwachen des Bonaventura, erscheinen. Der Begriff der schwäbischen Romantik hat sich eingebürgert, er ist mit den Namen Justinus Kerner (1786-1862), Wilhelm Hauff (1802-1827), Gustav Schwab (1792-1850) und Ludwig Uhland (1787-1862) verknüpft. Eduard Mörike bewundert die Repräsentanten der Weimarer Klassik Schiller und Goethe, er steht als Dichter aber zwischen Klassik und Romantik, er ist weder Vertreter der einen noch der anderen literaturgeschichtlichen Periode. Mörike ist neben Friedrich Hölderlin (1770-1843) ein durchaus eigenständiger Vertreter einer schwäbischen Literatur. Wenn man Mörikes Dichtung allerdings in den Kontext des Biedermeiers stellt, dann wird er einer der zentralen Repräsentanten dieser literaturgeschichtlichen Periode. Biedermeier ist ein Sammelbegriff, der als Epochen- oder Periodenbegriff für die Zeit zwischen 1815 und 1848 gebraucht werden kann und der mit Begriffen wie Restauration oder Frührealismus konkurriert. Wenige historische Daten machen deutlich, wie der Biedermeierbegriff kontextualisiert ist. Im Jahr 1815 wird auf dem Wiener Kongress die alte politische Ordnung wiederhergestellt. Restauration ist ein dafür gewonnener zeitgenössischer Begriff. Nach dem Attentat auf den Theaterschriftsteller und Schauspieler August von Kotzebue (1761-1819) fasst im September 1819 der deutsche Bundestag in Frankfurt die Karlsbader Beschlüsse mit ihrer Einschränkung der Pressefreiheit, mit Berufsverboten und mit Zensurmaßnahmen. 1830 ereignet sich in Paris die Julirevolution und ab 1848 in Wien und Berlin die sogenannte Märzrevolution. In der Zeit zwischen 1830 und 1840 sind die Literaten des Jungen Deutschland tätig: Karl Gutzkow (1811-1878), Heinrich Laube (1806-1884), Ludolf Wienbarg (1802-1872), Theodor Mundt (1808-1861), Ludwig Börne (1786-1837) und <?page no="416"?> 156 7. Schritt - 19. Jahrhundert Heinrich Heine (1797-1856), deren Schriften ab 1835 aber verboten werden. Die Jahre bis 1848 bezeichnet man als Vormärz. Zu den bekannteren Autoren dieser Periode zählen Georg Herwegh (1817-1875), August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874), Ferdinand Freiligrath (1810-1876), Georg Büchner (1813-1837) und Christian Dietrich Grabbe (1801-1836). Der Begriff des Biedermeier beinhaltet einen literaturgeschichtlichen und epochenspezifischen Wert, der in seiner übergreifenden Perspektive der historischen Makrostruktur liegt. Biedermeierzeit umfasst damit Werke der Spätromantik ebenso wie die im eigentlichen Sinn konservativ-biedermeierliche Dichtung, das Wiener Volkstheater ebenso wie das Junge Deutschland, den Vormärz ebenso wie die singulären Autoren Büchner und Heine. Unser heutiges Verständnis von Biedermeier ist stark geprägt von der zeitgenössischen Kritik an Biedermeierdichtern oder Biedermeiertexten. 1847 veröffentlicht der Vormärzliterat Ludwig Pfau (1821-1894) das Gedicht Herr Biedermeier, worin er den Typus des bürgerlichen Biedermeiers verspottet: Schau, dort spaziert Herr Biedermeier Und seine Frau, den Sohn am Arm; Sein Tritt ist sachte wie auf Eier, Sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm. Das ist ein Bürger hochgeachtet, Der geistlich spricht und weltlich trachtet; Er wohnt in jenem schönen Haus Und-- leiht sein Geld auf Wucher aus. […] Gemäßigt stimmt er bei den Wahlen, Denn er mißbilligt allen Streit; Obwohl kein Freund vom Steuerzahlen, Verehrt er sehr die Obrigkeit. Aufs Rathaus und vor Amt gerufen, Zieht er den Hut schon auf den Stufen; Dann aber geht er stolz nach Haus Und-- leiht sein Geld auf Wucher aus. […] O edles Haus! o feine Sitten! Wo jedes Gift im Keim erstickt; Wo nur gepflegt wird und gelitten, <?page no="417"?> 157 Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) Was gern sich duckt und wohl sich schickt. O wahre Bildung ohne Spitzen! Nur der Besitz kann dich besitzen-- Anstand muß sein in Staat und Haus, Sonst-- geht dem Geld der Wucher aus. (Zitiert nach: Der deutsche Vormärz. Texte und Dokumente. Hgg. v. Jost Hermand. Stuttgart 1985, S. 233 f.) Das Wort Biedermeier kann in diesem Sinn als ein Anagramm aus „reime bieder“ gelesen werden. Vor dieser Verniedlichung und Verharmlosung eines auch gesellschaftlichen Begriffs hat aber schon Hermann Hesse (1877-1962) gewarnt. 1912 schreibt er in einer Rezension: Die Biedermeierzeit aber bestand nicht aus lauter Porzellan und ovalen Miniaturporträts, sondern hatte noch ein anderes Gesicht: sie war in aller Hemmnis und Bedrückung voll von einer starken, einheitlichen Sehnsucht, und diese Sehnsucht, die sich damals in Burschenmützen, in Turnerhosen und schwarzrotgoldene Banner verkleidete, hat uns nachher das Revolutionsjahr und das neue Deutschland gebracht. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke Bd. 17, Frankfurt a. M. 2002, S. 71) Die wilhelminische Gesellschaft um 1910 ist konservativ-restaurativ, es wird wieder Mode, sich auf Biedermeierstühle zu setzen, Perlenstickereien zu sammeln und Bücher biedermeierlich binden zu lassen. Natürlich kennzeichnen die Abkehr von der gesellschaftlich-politischen Welt, Themen und Gefühle der Resignation und des Weltschmerzes, das Lebensgefühl der eigenen Epigonenschaft, die Schlagwörter von Harmonie und Ordnung als Leitbegriffe auch biedermeierliche Literatur. Und selbstverständlich treten dazu noch allgemeinere Merkmale biedermeierlicher Weltanschauung wie etwa der Vorrang von Ehe und Familie vor einer undisziplinierten Geschlechtlichkeit. Aber die Literatur der Biedermeierzeit erschöpft sich keineswegs nur darin. Die Gesellschaft des Biedermeier ist eine Standesgesellschaft, man kann von einem kleinbürgerlichen, einem bürgerlichen, einem adlig-höfischen und einem geistlichen Biedermeier sprechen. In formal-ästhetischer Hinsicht bevorzugen die Autoren literarische Kleinformen wie die Idylle, das Märchen und Gelegenheitslyrik. Almanache werden geliebt, die Dichtung ist didaktisch-lyrisch, die Romanliteratur unterhaltend, sie kann das Volkstümliche betonen und sich durch Heimatbezogenheit und Naturliebe auszeichnen. <?page no="418"?> 158 7. Schritt - 19. Jahrhundert Der Autor Mörike hat ein unbeschwertes, geradezu spielerisches Verhältnis zur Gattung Märchen. Okkulte Phänomene interessieren ihn brennend. Eine Zeitlang liest er auch intensiv Bücher zu okkultistischen Themen. Zu dieser grundsätzlichen psychologisch-parapsychologischen Offenheit tritt bei Mörike die wissenschaftliche Neugier. Nachhaltig gefördert wird sie durch Justinus Kerner (1786-1862), den schwäbischen Arzt und Dichter. Mörike sammelt Beobachtungen und stellt sie teilweise Kerner gleichsam als empirische Studien zu okkulten Phänomenen zur Verfügung. Beschreibungen von Geisterscheinungen und Traumdeutungen gehen hier fließend ineinander über. Für Mörike fragt Dichtung bzw. Literatur nach dem Wunderbaren und Unheimlichen im wirklichen Leben, für sie ist das Leben selbst wunderbar und unheimlich zugleich. Allerdings verstöre und erschrecke „die kecke Behandlung des Natürlichen in der Kunst“ (Mörike: Werke und Briefe Bd. 12, S. 46) das Publikum, so schreibt er am 5. Oktober 1833. Darin spiegelt sich der Grundsatz von Mörikes Märchenpoetik. Seine Märchen erschöpfen sich nicht in Volks- oder Hausmärchen. Viel zu kunstvoll sind sie mit poetischen Verfahrensweisen verflochten und machen das Erzählen selbst zum Thema. Mörike entschlackt damit gewissermaßen das romantische Erbe der Märchen, zu denken wäre hier an Novalis ebenso wie an Achim von Arnim (1781-1831), an Friedrich de la Motte Fouqué (1777-1843), Ludwig Tieck und den von Mörike bewunderten E. T. A. Hoffmann (1776-1822). Unter dem Aspekt einer Geschichte der Gattungstypologie Märchen bleibt entscheidend, dass Mörike einen völlig anderen Weg geht als beispielsweise sein biedermeierzeitlicher Dichterkollege Ludwig Uhland. Dieser schreibt ein kleines Gedicht mit dem Titel Das neue Märchen (1816) mit folgendem Wortlaut: Einmal atmen möcht’ ich wieder In dem goldnen Märchenreich, Doch ein strenger Geist der Lieder Fällt mir in die Saiten gleich. Freiheit heißt nun meine Feee [! ], Und mein Ritter heißet Recht. Auf denn, Ritter, und bestehe Kühn der Drachen wild Geschlecht! (Ludwig Uhland: Gesammelte Werke. Hgg. v. Hermann Fischer. Bd. 1. Unveränderter reprographischer Nachdruck der Ausgabe 1892. Darmstadt 1977, S. 78) <?page no="419"?> 159 Bei Mörike heißt es dagegen am Ende seiner Erzählung Das Stuttgarter Hutzelmännlein (1853), „also ist es auch lustig, so man mancherlei lieset“ (Werke in einem Band. Hgg. v. Herbert G. Göpfert. 4., durchgesehene Aufl. München, Wien 1993, S. 898). Und dies markiert den deutlichen Unterschied zum politisch ambitionierten Uhland. Zum mancherlei Lesen gehören nach Mörikes Literaturverständnis eben auch Märchen, deren Erfindung, seine Freiheit zum Dichten, sich Mörike nicht nehmen lässt. Mörikes Werk erfüllt eine Vielzahl biedermeierzeitlicher Kriterien. Seine Ästhetik ist konservativ. So zitiert er in einem Brief vom 26. September 1830 aus Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit (1811 / 14 / 33) und bringt damit sein ästhetisches Bekenntnis zum Ausdruck: „Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspective vor uns entwickelt daliegen“ (Goethe: Weimarer Ausgabe, 1. Abteilung, Bd. 28, S. 213 f.). Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) Die Novelle Mozart auf der Reise nach Prag erscheint 1855 in zwei Teilen in der Juli- und der Augustausgabe des Morgenblatts für gebildete Leser. Eine Buchausgabe wird unmittelbar danach veröffentlicht anlässlich von Mozarts 100. Geburtstag im Jahr 1856. Als Mörike am 6. Mai 1855 das nahezu vollständige Manuskript der Novelle an seinen Verleger Georg von Cotta (1796-1863) schickt, bemerkt er im Begleitbrief dazu: Meine Aufgabe bei dieser Erzählung war, ein kleines Charaktergemälde Mozarts (das erste seiner Art so viel ich weiß) aufzustellen, wobei, mit Zugrundlegung frei erfundener Situationen vorzüglich die heitere Seite zu lebendiger concentrirter Anschauung gebracht werden sollte.- […] Das Büchlein könnte als Vorläufer der im Januar 1856 einfallenden Feier des hundertjährigen GeburtsTags Mozarts betrachtet und angekündigt werden-[…]; und versichern darf ich hier, nie etwas mit mehr Liebe und Sorgfalt gemacht zu haben. (Mörike: Werke und Briefe, Bd. 16, S. 205 f.) Mörike wünscht sich von seinem Publikum Heiterkeit und wehmütige Rührung, das sind Begriffe, mit denen eine biedermeierliche Ästhetik bereits umrissen ist. Das Anliegen des Dichters im Text erweist sich als ein doppeltes. Eduard Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855) <?page no="420"?> 160 7. Schritt - 19. Jahrhundert Zum einen versucht er eine literarische Charakteristik der Person Mozarts zu liefern, zum anderen führt er in der Novelle einen teils unterschwelligen, teils deutlichen ästhetischen Diskurs über Fragen einer angemessenen Rezeption von Kunst. In diesem Zusammenhang geht es selbstverständlich dann auch um das Verhältnis von Künstler und Gesellschaft. Wem die Sympathien des Autors gelten, ist von Beginn an offensichtlich. Auch die Absicht einer Charakteristik Mozarts enthüllt sich dem Leser schnell. Der Erzählung liegt die Mozart-Biographie von Alexander Oulibicheff Mozart’s Leben (deutsche Übersetzung Stuttgart 1847) zugrunde. Das geht aus den fünf Motti hervor, die der Autor dem Zeitschriftenabdruck seiner Novelle voranstellt. Zwei von ihnen sind der Buchvorlage entnommen, die weiteren sind Goethe-, Shakespeare- und Horaz-Zitate. Diese Motti sind in die heute gebräuchlichen Ausgaben nicht übernommen. Aber auch im Text selbst spielt Mörike auf die Tatsache an, dass sich seine literarische Ausgestaltung auf ein anderes Buch stützt, er spricht in einer Parenthese von „dem unserer Darstellung zugrunde liegenden Bericht“ (S. 62). Mörike ist ein Liebhaber mozartscher Musik, schon als Tübinger Student hat er dessen Kompositionen verehrt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich die literarische Charakteristik der Novelle mit dem hohen Ton der „Bewunderung“ (S. 8) für den Tonkünstler Mozart verbindet. Der historische Rahmen der Novelle ist dünn, worin sich wiederum Mörikes klare Absicht einer Charakteristik spiegelt. Literatur ist kein Ersatznarrativ für Ges