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Wozu Demokratie?

Politische Philosophie im Spiegel ihrer Zeit

0911
2017
978-3-8385-4867-8
978-3-8252-4867-3
UTB 
Hubertus Niedermaier

Dieses Buch nimmt Studierende aus Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft und Geschichte mit auf einen kurzweiligen Streifzug durch die politische Geschichte der Philosophie, um ihnen so die Grundlagen der Demokratie nahezubringen. Es erzählt diese Geschichte im Kontext ihrer jeweiligen Entstehungszeit und in Bezug auf unsere heutige Gesellschaft. Die bis heute nachwirkenden Theorien werden dabei nicht in voller Tiefe ausgebreitet, sondern im Mittelpunkt stehen die Gründe ihrer Entstehung und ihre Bedeutung für unsere heutige Form des Zusammenlebens. Um der politischen Philosophie mehr Anschaulichkeit zu verleihen, werden ihre wichtigsten Vertreter stets vor dem Hintergrund ihres Zeitgeschehens vorgestellt und so der praktische Bezug zu ihrer Gedankenwelt hergestellt. Zugleich sollen anhand der geschichtlichen Ereignisse typische politische Probleme erläutert werden, mit denen sozialphilosophisches Denken sich auseinanderzusetzen hat. Schließlich werden noch die theoretischen Einsichten der großen Philosophen in letzter Konsequenz auf unsere Gegenwart übertragen.

<?page no="1"?> Dr. Hubertus Niedermaier ist Soziologe und wurde 2005 am Institut für Soziologie der Universität München promoviert. <?page no="2"?> Hubertus Niedermaier Wozu Demokratie? Politische Philosophie im Spiegel ihrer Zeit UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urhberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2017 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandillustration: artishok/ shutterstock.com Lektorat: Marit Borcherding, München Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 4867 ISBN (Print) 978-3-8252-4867-3 ISBN (EPUB) 978-3-8463-4867-3 <?page no="4"?> Inhalt 1 Wozu politische Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Woher wusste Sokrates, dass er nichts weiß? . . . . . . . 14 3 Woher rührte Platons Anspruch auf eine Herrschaft der Philosophen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4 Woher verlangte es Aristoteles nach Stabilität? . . . . . . 47 5 Woher stammte Ciceros Leidenschaft für die Republik? . 59 6 Woher verspürte Augustinus den Drang, Gottes Reich ins Jenseits zu verlegen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 7 Woher nahm Thomas seinen Glauben an die Einheit? . . 91 8 Woher hatte Machiavelli seine Abneigung gegen Moral? 104 9 Woher erfasste Bodin die Sehnsucht nach einem absoluten Herrscher? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 10 Woher schöpfte Hobbes das Recht auf Leben? . . . . . . 125 11 Woher ließ Locke Eigentum entstehen? . . . . . . . . . 140 12 Woher fasste der Einzelgänger Rousseau sein Vertrauen in den Gemeinwillen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 13 Woher ergab sich für Kant und Sieyès Freiheit? . . . . . 170 5 <?page no="5"?> 14 Woher kannte Hegel den Weltgeist? . . . . . . . . . . . 202 15 Woher meinten Marx und Mill rührt der Zwang? . . . 227 16 Woher bezog Herrschaft nach Lenin und Weber Legitimität? 265 17 Woher stammten für Schmitt , Adorno und Parsons die Grundlagen des Zusammenlebens? . . . . . . . . . . . 296 18 Woher erfuhr nach Habermas und Luhmann die Politik Einschränkungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 19 Woher entsprangen für Beck und Meyer Zweifel an funktionaler Diffferenzierung? . . . . . . . . . . . . . . . . 356 20 Wozu Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 6 <?page no="6"?> 1 Wozu politische Philosophie? Wir können auf zweieinhalb Jahrtausende politische Philosophie zurückblicken, dennoch fallen Antworten auf die gegenwärtigen Verwerfungen in der Politik schwer. All die ausgearbeiteten Ergebnisse tiefen Nachdenkens und das angehäufte Instrumentarium theoretischer Konzepte vermögen es nicht, Orientierung angesichts der aktuellen Unordnung zu geben. Doch wozu braucht man sie dann noch? Ist die heutige politische Philosophie nicht ohnehin in abseitige Spezialdiskurse jenseits praktischer Relevanz abgerutscht? Und entbehren nicht die Ansätze ihrer großen Ahnen wie Platon, Thomas Hobbes und Karl Marx schon allein aufgrund ihres hohen Alters jeglichen aktuellen Bezugs? Weshalb also sollte uns heute noch politische Philosophie interessieren? Das hängt freilich davon ab, was man von ihr erwartet. Sie hilft nicht, wenn man auf der Suche nach Zukunftsprognosen ist, denn das ist generell ein unzuverlässiges Geschäft. Ebenso wenig darf man sich Anleitungen für den Alltagsgebrauch erhofffen. Obwohl manche Literatur einen anderen Anschein zu erwecken sucht, gehören Tipps und Tricks nicht zur Kernkompetenz der Philosophie. Umgekehrt kann man andernorts zuweilen den Eindruck gewinnen, es handele sich um einen schöngeistigen Wissensvorrat ohne Anwendungsbezug, mit dem sich (ein-)gebildete Intellektuelle gerne schmücken. Ehrlicherweise gibt es deutlich weniger aufwendige Möglichkeiten, um sich von anderen abzuheben. Auch letztgültige Wahrheiten sind nicht zu haben. Das mag überraschen, weil mancher Philosoph exakt so auftritt, als präsentiere er unumstößliche Gewissheiten. So lange man es aber nicht mit göttlichen Offfenbarungen zu tun hat, die ohnehin zum religiösen Geschäft zählen, kann man sich nicht sicher sein, ob nicht irgendwann neue Erkenntnisse alles wieder infrage stellen. Die politische Philosophie steht dabei auf besonders unsicherem Grund. Denn ihr Gegenstand zeichnet sich anders als jener der Naturwissenschaften nicht dadurch aus, dass seine Eigenschaften im Lauf der Zeit unverändert bleiben. Gravitation und Oxidation verhalten sich zeit- 7 <?page no="7"?> los immer gleich, unabhängig davon ob man das Jahr 2000 vor oder nach Christus schreibt. Einen solchen Anspruch kann man höchstens für die großen philosophischen Fragen erheben, wie sie Immanuel Kant formuliert hat: »1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? « 1 Angesichts der beanspruchten Zeitlosigkeit solcher philosophischer Themen erscheint der Entstehungszeitraum von untergeordneter Bedeutung. Anders verhält sich das in der politischen Philosophie, wo sich der Untersuchungsgegenstand ständig wandelt. In der Antike stellen sich völlig andere Fragen des Zusammenlebens als in der Moderne. Auch ohne sich gleich in Tagespolitik zu verlieren, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass der gesellschaftliche Wandel enorme Auswirkungen auf die Grundlagen des Politischen hat. Zumal die politische Philosophie nicht dabei stehen bleiben sollte, nur allgemeine und zeitlose Fragen zu beantworten, denn mehr noch erhoffft man sich von ihr, dass sie bei der Einordnung aktueller Geschehnisse hilft. Gerade indem sie sich nicht ins Tagesgeschehen verstrickt, soll sie über dessen Unübersichtlichkeit hinausweisen. In politischen Fragen ist philosophisches Denken nicht von gesellschaftlichen Bezügen zu lösen. Die Grundlagen menschlicher Erkenntnis und Ethik verändern sich kaum, die Grundlagen des Gemeinwesens dagegen sind nicht selten binnen Jahrzehnten fast nicht wiederzuerkennen. Die politische Philosophie kann nicht nur keine ewigen Wahrheiten aussprechen, sie darf es gar nicht, will sie Bezug zum Zeitgeschehen behalten. Genügt es dann nicht, sich lediglich mit der Gegenwart zu beschäftigen und zweieinhalb Jahrtausende politische Philosophie auf sich beruhen zu lassen? Was gehen uns die Gedankengebäude längst toter Männer an? Eine ganze Menge, denn wir sind ihre Gefangenen! Wie wir die Welt wahrnehmen, ist wesentlich dadurch geprägt, mit welchen Denk- und Deutungsmustern wir an sie herantreten. Man kann im Menschen die Krone der Schöpfung oder ein Produkt natürlicher Evolution sehen; und man kann den Kapitalismus für einen genialen Mechanismus der Ressourcen-Allokation oder einen brutalen Mechanismus der Unterdrückung halten. Alles hängt davon ab, welche Deutungsmuster man anwendet. Wer die Evolutionstheorie ablehnt, kann die Welt nicht mit den gleichen Augen sehen, wie 1 B 833 in Kant, Kritik der reinen Vernunft. Band 2, S. 677. 8 <?page no="8"?> jemand, dem sie selbstverständlich erscheint. Ebenso trefffen beim Abwägen zwischen Sicherheit und Freiheit unterschiedliche Weltbilder aufeinander. Es gibt kein Thema, das seine Einschätzung nicht jenem Muster verdankt, vor dessen Hintergrund wir es deuten. Auch wenn wir uns im Einzelnen nicht immer dessen bewusst sind, stützen sich vor allem im politischen Bereich viele Haltungen auf gedankliche Konzepte, die in der Vergangenheit philosophisch ausformuliert wurden. Zwar werden die zugrunde liegenden Ansätze in der Regel nicht streng verfolgt, trotzdem halten uns die gewohnten Deutungsmuster erstaunlich hartnäckig gefangen. Sie entfalten ihre Prägekraft nicht dadurch, dass wir Kenner der politischen Philosophie wären, sondern gerade dadurch, dass wir dies nicht sind. Allerorten fiindet verbreitetes gedankliches Rüstzeug ganz selbstverständlich Verwendung, ohne sich großer Zweifel erwehren zu müssen, weil man nicht gewohnt ist, Dinge anders zu sehen als man sie immer schon gesehen hat. Die Philosophie aber ist nicht nur Urheber jener gedanklicher Konzepte, deren wir alle uns bedienen; sondern sie ist es auch, die all diese Konzepte immer wieder skeptisch hinterfragt hat und einen Blick darüber hinaus darbietet. Philosophie bietet keine Wahrheiten, schon gar keine letztgültigen, sondern stellt vermeintliche Wahrheiten infrage. So eröfffnet sie Schritte hinaus aus den gedanklichen Gebäuden, die sie geschafffen hat und in denen wir gefangen sind. Die Politik zeigt sich dabei als besonderer Ort, weil hier die verschiedenen Sichten auf die Welt verhandelt werden. Freilich wird auch in der Wissenschaft, in Familien oder in anderen Diskussionsrunden über verschiedene Positionen gestritten. Dort allerdings muss nicht notwendig eine Einigung erzielt werden; es geht auch so weiter. In der Politik hingegen gilt es Entscheidungen zu trefffen, die uns alle angehen. Der Streit um die Weltsicht bleibt nicht folgenlos, sondern bestimmt darüber, welche Aufffassung sich durchsetzt und somit auch auf welche Art wir zusammenleben. Es wird nicht zuletzt darum gerungen, einem Sachverhalt eine bestimmte Weltsicht aufzudrücken, Deutungshoheit darüber zu erlangen; oder um es mit Pierre Bourdieu zu sagen: Es tobt ein »Kampf um Durchsetzung der legitimen Sicht von sozialer Welt«. 2 Die Politik bedient sich für die verwendeten Deutungsmuster freilich nicht allein der Philosophie, sondern 2 Bourdieu, Sozialer Raum und ›Klassen‹, S. 22. 9 <?page no="9"?> kennt auch jede Menge andere Quellen oder bringt sie selbst hervor. Für das schnelllebige Tagesgeschäft taugen die eher großformatigen philosophischen Ansätze oftmals ohnehin nicht. Sie zeichnen sich nicht durch unmittelbaren Anwendungsbezug aus, sondern hegen andere Ansprüche: Erstens legen philosophische Ansätze ihre eigenen Grundlagen offfen und halten daran fest. Im politischen Alltag erfolgt gerne nur eine punktuelle Anwendung bestimmter Ansätze, um im nächsten Moment einem anderen Muster zu folgen, wenn dies den eigenen politischen Zielen dienlicher erscheint. Eine Philosophie hingegen muss zweitens den Anspruch haben, ihre Position widerspruchsfrei und folgerichtig zu Ende zu denken. Damit legt sie zugleich dar, welche Konsequenzen aus einer bestimmten Haltung resultieren, während in der Politik widersprüchliche Haltungen keine Seltenheit sind. Drittens haben Philosophen den Anspruch, zu erklären. Politiker und Bürger dagegen können sich durchaus damit begnügen, anzuklagen, abzulehnen oder einfach zuzustimmen. Mit jeder Erklärung geht einher, dass man verständlich macht, warum etwas ist, wie es ist. Auf diese Weise wohnt jeder Erklärung immer auch der Charakter einer Rechtfertigung inne. Selbst die tiefgreifende Gesellschaftskritik Theodor Adornos bietet zugleich ein Erklärungsmuster für den Holocaust, das diesen als Folge des modernen Rationalismus erscheinen lässt. Politische Philosophien sind Reflexionstheorien, die unserer Welt eine Einordnung geben und sie dadurch nachvollziehbarer erscheinen lassen, was auch bedeuten kann, dass das Bestehende unausweichlich oder sogar gerechtfertigt anmutet. Eine Auseinandersetzung mit politischer Philosophie droht deshalb in leichtfertiges Einvernehmen mit dem Bestehenden abzugleiten. Dazu besteht jedoch kein Anlass. Nur weil alles Vertraute sich wunderbar erklären lässt, wirkt das Unvertraute keinen Deut weniger beunruhigend. Für eine Rechtfertigungstheorie des Bestehenden bedarf es keiner Philosophen, denn das erledigen schon diejenigen selbst, die davon profiitieren. Es bedarf einer politischen Philosophie: erstens um das Vertraute und seine etablierten Deutungsmuster zu hinterfragen; zweitens um das Unvertraute über neue Deutungsmuster zugänglich und damit überhaupt erst verarbeitbar zu machen; drittens um für verbreitete Deutungsmuster zu zeigen, wie sehr sie unser Bild von der Welt prägen. Eine Auseinandersetzung mit politischer Philosophie, will sie für uns heute Relevanz entfalten, sollte deshalb folgenden 10 <?page no="10"?> Fragen nachgehen: Woher stammen unsere Deutungsmuster und wie angemessen sind sie heute? Wie entstehen neue Deutungsmuster und aus welcher politischen Situation gehen sie hervor? Können wir unseren vertrauten Deutungsmustern entrinnen und einen anderen Blick auf die Welt gewinnen? Die amerikanische Revolution hat gezeigt, welche Rolle politische Philosophie einzunehmen vermag: Als die neuenglischen Kolonien 1776 ihre Unabhängigkeit erklärten, standen sie ohne historisches Vorbild da. Für die zukünftige Form ihres Zusammenlebens musste ein neues Grundgerüst her. Woher nehmen? Die etablierten monarchistischen oder absolutistischen Formen kamen nicht infrage, hatte man sich doch gerade erste davon losgesagt. In der Debatte wurde einerseits auf die athenische Demokratie ebenso wie auf die römische Republik zurückgeblickt, andererseits bediente man sich vergleichsweise junger Konzepte französischer und englischer Philosophen. Man überwand die Monarchie, man überwand antike Formen der Demokratie und der Republik, um schließlich jenen republikanischen, repräsentativen Verfassungsstaat zu schafffen, wie wir ihn heute kennen. Unser heutiges politisches System ist somit in seiner Grundkonzeption über 200 Jahre alt. Dass es heute in einer Krise steckt, ist angesichts der Entwicklungen in der Zwischenzeit kaum verwunderlich. Wir hantieren mit Deutungsmustern, die aus einer Zeit stammen, in der Eisenbahnen völlig unbekannt waren, industrielle Fertigung in England erste Gehversuche machte, und keine Mitteilung schneller voran kam, als ein Pferd laufen konnte. Mit Instrumenten aus jener Zeit versuchen wir Probleme in einem Zeitalter zu lösen, in dem motorisierte Mobilität, mechanische Industrie und globale Massenkommunikation zur vollen Entfaltung gekommen und bereits dabei sind, sich durch Automatisierung und Digitalisierung rapide zu transformieren. Die politische Auseinandersetzung wird dabei mit Kategorien geführt, die aus der Urzeit des repräsentativen Verfassungsstaates stammen, aber ihre Tragfähigkeit verloren haben. Da ist etwa von Gewaltenteilung die Rede, obwohl zwischen Legislative und Exekutive keine strikte Trennung besteht; oder von Souveränität, obwohl so manche Regierung sich derart in einem unübersichtlichen Geflecht von innenebenso wie von außenpolitischen Abhängigkeiten gefangen sieht, dass sie ihre Politik für alternativlos hält; oder von Nation, obwohl die Aufteilung in Nationalstaaten an künstlichen politischen Einheiten 11 <?page no="11"?> festhält, deren Beschwörung eher geeignet erscheint, nationale Spaltung denn Solidarität hervorzurufen. Wie ungeeignet mancher Begrifff ist, um die Gegenwart zu begreifen, vermag nichts besser zu verdeutlichen als ein Blick auf seine Entstehungssituation. Philosophen haben nicht selten auf Probleme reagiert, die sich heute gar nicht stellen. Es handelt sich um Ergebnisse eines intellektuellen Ringens mit gesellschaftlichen Problemlagen, wobei die philosophischen Aussagen inhaltlich nicht selten weniger interessant sind als die zugrunde gelegte Methodik, mit deren Hilfe solche Situationen verarbeitet werden. Die Theologie des Augustinus etwa ist für unsere politische Welt heute inhaltlich bedeutungslos, nicht aber methodisch. Angesichts des Untergangs des Weströmischen Reichs sah er sich gefordert, ein theoretisches Konzept anzubieten, das diese Katastrophe zu verarbeiten imstande war. Das gelang ihm derart eindrucksvoll, dass seine Deutung der Welt über Jahrhunderte maßgeblich blieb. Die Denkfiigur nutzt noch heute jeder Verfassungsstaat mit Grundrechtskatalog: Unabhängig davon, ob sie in der Realität mit Füßen getreten werden, gilt es an letzten Werten festzuhalten als wären sie gottgegeben. Es kann folglich nicht darum gehen, Merksätze großer Philosophen herunterzubeten, von Interesse sind vielmehr ihre Verarbeitungsmuster konkreter Problemlagen. Aufschlussreich wird politische Philosophie deshalb erst im Kontext zeitgenössischer Ereignisse. Sie eröfffnet dann Denkmöglichkeiten, wo heutige Tagespolitik in ihrer eigenen Zirkularität versinkt. Viele Menschen suchen angesichts der aktuellen politischen Verwerfungen nach Orientierung und wünschen sich einfache Antworten auf die Frage, was tun. Diese hat die Philosophie jedoch nicht zu bieten. Die gegenwärtige Lage wirkt nicht zuletzt deshalb unübersichtlich, weil unsere vertrauten Deutungsmuster versagen, und das betriffft auch jene der politischen Philosophie. Wir verfügen über ein ganzes Arsenal an Reflexionstheorien zum modernen Verfassungsstaat, deren Konzepte aber zu keinem geringen Teil durch die aktuellen Entwicklungen überholt sind. In der Diskussion tauchen noch immer Begrifffe wie Gewaltenteilung, Souveränität und Nation auf, obwohl sich diese längst nicht mehr adäquat anwenden lassen. Eine Beschäftigung mit politischer Philosophie verspricht derzeit keineswegs Antworten auf die schwierigen Fragen der Gegenwart, sie vermag keine klare Richtung vorzugeben. Immerhin aber kann sie zu Tage fördern, welche 12 <?page no="12"?> überholten Kategorien für eine Einordnung des Geschehens nicht mehr taugen, aber noch immer unsere Sicht auf die Dinge verengen. Sie vermag zumindest einsichtig zu machen, welche Richtung die falsche ist. Einen Punkt gibt es trotzdem, an dem aus heutiger Sicht alle Stränge politischer Philosophie zusammenlaufen: die Demokratie! Sie steht im Mittelpunkt aller Diskussionen, gleichgültig ob sie als gefährdet oder als unvollendet oder als zu weitreichend aufgefasst wird. Jede Reflexionstheorie des Politischen muss sich heute mit der Frage auseinandersetzen, welchen Stellenwert die Demokratie einnimmt. Sie ist der Prüfstein jeglichen politischen Denkens geworden. Nicht alle Ansätze helfen vor diesem Hintergrund gleichermaßen weiter, die heutige politische Landschaft zu hinterfragen. Eine Apologie der USamerikanischen Verfassung oder ein vertragstheoretischer Nachzügler im 20. Jahrhundert weisen nicht über das Bestehende hinaus; während eine funktionalistisch-gesellschaftstheoretisch begründete Skepsis gegenüber den politischen Einflussmöglichkeiten vielleicht ebenso den Blick öfffnet wie die Überlegungen eines Kindes jener legendären athenischen Demokratie, die sich aus heutiger Sicht geradezu radikal ausnimmt. 13 <?page no="13"?> 2 Woher wusste Sokrates, dass er nichts weiß? Vor etwas mehr als 2400 Jahren, im Jahr 399 vor Christus um genau zu sein, steht in Athen ein 70 Jahre alter Mann vor Gericht. Ihm werden so schwere Verbrechen zur Last gelegt, dass ihm die Todesstrafe droht, sollte das Gericht ihn für schuldig befiinden. Ihm wird vorgeworfen, dass er »die Jugend verderbe und die Götter, welche der Staat annimmt, nicht annehme.« 1 Es ist allerdings nicht so, dass der alte Mann die griechischen Götter jener Zeit lästern oder die ihnen gewidmeten Tempel entweihen würde. Er hat auch keine jungen Menschen verletzt oder sie schlecht behandelt. Das geben auch diejenigen zu, die ihn anklagen. Dennoch soll das, was der Mann getan hat, so schwerwiegend gewesen sein, dass der Tod als angemessene Strafe angesehen wird. Was aber hat er eigentlich verbrochen? Der Alte ging jahrelang jeden Tag auf den Athener Marktplatz und kam dort mit anderen Menschen ins Gespräch. Die Unterhaltung verlief oftmals ebenso angeregt wie anregend, sodass sie Zuhörer anlockte. Durch seine Redegewandtheit und klare Gedankenführung gewann der Mann junge Anhänger, die ihn häufiiger begleiteten, um von ihm zu lernen. So sehr sich heute mancher mehr Austausch zwischen Jung und Alt wünschen würde, dürften in diesem Fall genau diese Gespräche Anlass für die Anklage gewesen sein. Dabei waren im alten Athen Zwiegespräche mit Zuhörern keine Seltenheit. Im Gegenteil, sie waren sogar so häufiig, dass sich ein eigener Berufsstand darauf spezialisierte: die Sophisten. Die lieferten sich öfffentlich Rededuelle, um ihr Können unter Beweis zu stellen. Je besser ihnen das gelang, desto eher konnten sie davon leben, andere gegen Bezahlung in der Redekunst zu unterweisen. Dass Redefertigkeiten und öfffentliche Dialoge einen so hohen Stellenwert genossen, dafür gab es mindestens zwei Gründe. Der erste Grund ist ebenso naheliegender wie technischer Natur: Es gab kein 1 Apologie des Sokrates 24b in Platon, Sämtliche Werke. Band 1, S. 21. 14 <?page no="14"?> Fernsehen, kein Radio, keine Zeitung, keinen Buchdruck, kein Telefon, keine Computer, kein Internet. Kurz, es fehlte an all jenen technischen Errungenschaften, die uns heute so bequem mit Unterhaltung, Neuigkeiten und Zerstreuung versorgen. All das leistete im alten Athen die öfffentliche Rede, während zu hause oftmals Langeweile drohte. Ohne mediale Ablenkung auskommen mussten freilich nicht nur die Athener, sondern auch die meisten anderen Menschen bis zur Erfiindung des Buchdrucks gut 1800 Jahre später, und viele auch lange Zeit danach noch. In der größten Stadt Griechenlands war man gleichwohl noch aus einem zweiten Grund besonders diskussionsfreudig: Die Athener führten erstmals in einem größeren Gemeinwesen die Demokratie ein, wodurch es an jedem einzelnen Bürger war, die Angelegenheiten seiner Heimatstadt mitzubestimmen. Jeder konnte in aller Öfffentlichkeit Einfluss ausüben, wenn er nur überzeugend sprechen konnte. Zuvor hatten auf der Halbinsel Attika lange Zeit adlige, also alteingesessene, reiche Familien weitgehend unabhängig von ihren Sprachfertigkeiten geherrscht, was nicht zuletzt auch damit zusammenhing, wie damals Krieg geführt wurde: Wenn zwei griechische Städte, wie es nicht selten vorkam, gegeneinander in die Schlacht zogen, kam den am schwersten bewafffneten Kriegern, den Hopliten, die entscheidende Rolle zu. Deren Rüstung und Bewafffnung bestehend aus Helm, Schild, Lanze, Schwert und Brustpanzer war sehr kostspielig und man musste sich außerdem noch Sklaven leisten können, die während des Krieges Haus und Hof in Schuss hielten. Das dafür nötige Geld hatten nur Vermögende, die es dann auch als ihr Recht ansahen, die Herrschaft auszuüben, wenn sie schon die Stadt verteidigten. Und wer hätte ihnen angesichts ihrer Bewafffnung widersprechen wollen? Im Jahr 480 vor Christus bekämpften sich die Griechen ausnahmsweise nicht gegenseitig, sondern wurden von den Persern angegrifffen, die bereits den gesamten Vorderen Orient vom Bosporus bis zum Indus beherrschten. Die mächtige Streitmacht rückte nicht nur auf dem Landweg mit angeblich 100 000 Soldaten, sondern zugleich auf dem Seeweg mit 600 Schifffen an. Diesem gewaltigen Heer stellten sich gerade mal 7000 Hopliten aus ganz Griechenland entgegen. Für den ebenfalls anstehenden Kampf auf dem Meer bedurfte es aber keiner schwerbewafffneten Krieger, sondern Ruderer, vieler Ruderer. 15 <?page no="15"?> Für ein einziges griechisches Kriegsschifff - 30 Meter lang, viereinhalb breit - benötigte man 200 Mann Besatzung. Die Athener besaßen 180 solcher Holzschifffe, sodass 36 000 Männer benötigt wurden. Da Kanonen noch über eineinhalb Jahrtausende unbekannt bleiben sollten, bestand die Kriegführung zur See darin, gegnerische Schifffe mit möglichst hoher Geschwindigkeit zu rammen, wofür am Bug ein Sporn aus Metall angebracht war. Um unabhängig vom Wind angreifen zu können, packte man deshalb möglichst viele Ruderer auf eine solche Triere, die ihren Namen daher hatte, dass die Männer im Schifffsbauch auf drei großen Stufen übereinander saßen. Als nun die Perser anrückten, konnten die Hopliten den Gegner zwar an einer schwer passierbaren Stelle zwischen Gebirge und Meer, den Thermopylen, vorübergehend aufhalten und ihm einige Verluste zufügen, doch schlussendlich konnten die Perser ihre Übermacht ausspielen. Die feindlichen Truppen eroberten, plünderten und verwüsteten Athen. Siegessicher nahm der persische König Xerxes I. anschließend auf einem Thron am Ufer Platz, um der bevorstehenden Seeschlacht beizuwohnen. Das Geschehen entwickelte sich für die Angreifer allerdings völlig anders, als man angesichts ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit hatte erwarten dürfen. Die zur Hälfte aus athenischen Schifffen bestehende griechische Flotte, die zuvor noch die Bevölkerung Athens auf die vorgelagerte Insel Salamis in Sicherheit gebracht hatte, nutzte ihre bessere Ortskenntnis geschickt aus. In der Meerenge vor Salamis waren sie mit ihren schnellen, wendigen Trieren den größeren und trägeren persischen Schifffen überlegen. Die Hellenen vernichteten beinahe alle feindlichen Schifffe und feierten einen glorreichen Sieg. Xerxes wiederum sah sich zu einem hastigen Rückzug gezwungen, weil er befürchtete, seinem riesigen Landheer könnte ohne seine Flotte der Rückweg abgeschnitten werden. Damit war der Demokratie der Weg geebnet, denn trotz der Tapferkeit der Hopliten waren diesmal die Ruderer ausschlaggebend. Sie hatten entscheidend zur Verteidigung der Stadt beigetragen und erwirkten, von diesem Triumph getragen, in der Folgezeit eine stärkere Einbindung in die Stadtverwaltung. Die Athener sprachen von isonomia, von Gleichberechtigung, die allen freien Bürgern widerfahren sollte. Leicht könnte man über diesen schönen Begrifff vergessen, dass weiterhin die Mehrheit von der Mitbestimmung ausgeschlossen blieb, denn den knapp 50 000 freien Männern standen circa doppelt so 16 <?page no="16"?> viele Frauen und Kinder sowie nochmal so viele Sklaven gegenüber. All diesen Menschen blieb die isonomia verwehrt. Dennoch war sie verglichen mit der Herrschaftsausübung einiger weniger zuvor eine gewaltige Veränderung. Wenn nun tatsächlich alle freien Bürger bei den Belangen der Stadt gleichberechtigt mitbestimmen sollten, dann mussten auch alle Entscheidungen öffentlich diskutiert werden. Je mehr Menschen aber einbezogen wurden, desto wichtiger wurde die Fähigkeit, möglichst viele zu überzeugen. Eine Unterweisung in der Redekunst war entsprechend gefragt und folglich waren es auch die Sophisten. Einen schweren Stand hatten diese dennoch, weil Redefertigkeit einschließt, vermeintlich Selbstverständliches, Gewohntes und traditionell Überliefertes infrage zu stellen. Die Demokratie wurde immerhin erst dadurch möglich, dass die lange bestehende Herrschaft des alten Adels eben nicht mehr als selbstverständlich hingenommen wurde. Sie stellte zweifellos einen Bruch mit der Überlieferung dar. Wann immer man Traditionen anzweifelt, rührt man an die Überzeugungen und Vorrechte derjenigen, die von der gewohnten Ordnung profiitieren, womit man sich freilich Feinde macht. Das war in Athen nicht anders als irgendwo sonst. Sokrates, der alte Mann, von dem zu Beginn die Rede war, galt vielen als der größte Sophist seiner Zeit. Seine Redegewandtheit wurde ebenso sehr bewundert wie sein unerschrockener Scharfsinn gefürchtet. Keine Überlieferung und keine Gewohnheit waren vor ihm sicher. Seine Stellung war so herausragend, dass der zwanzig Jahre jüngere Dichter Aristophanes die Figur des Sophisten in seinem bekannten Theaterstück »Die Wolken« sogar nach ihm benannte. Allerdings kommt Sokrates darin gar nicht gut weg, sodass die Komödie mit beißendem Humor einen Eindruck davon vermittelt, welchen Vorbehalten der heute berühmte Philosoph sich seinerzeit ausgesetzt sah. Zu Beginn des Stücks muss ein Bauer sich eingestehen, dass er seine Schulden, die sich durch die Pferdeliebe seines Sohnes angehäuft hatten, nicht mehr bedienen kann. In seiner Not wendet er sich an seinen Nachbarn Sokrates, denn er möchte die Redekunst erlernen, »um das Recht zu verdrehn und den Gläubigern glatt zu entschlüpfen! « 2 Doch der alte Bauer lernt die kunstvolle Rede nicht mehr. Er kann 2 Aristophanes, Die Wolken, S. 31. 17 <?page no="17"?> sich lediglich merken, dass Sokrates die Wolken göttlich nennt, weil sie und nicht die höchste griechische Gottheit Zeus Regen, Donner und Blitz hervorbringen. In seiner Verzweiflung überredet er den Sohn dazu, an seiner Statt die Rhetorikschulung bei dem Sophisten zu besuchen. Der Sohn lernt schnell, nutzt seine neuen Fertigkeiten jedoch anders als vom Vater erhoffft. Statt mit Hilfe der neu erworbenen Redekünste die Gläubiger um ihr Recht zu bringen, verwendet er sie lieber darauf, zu erklären, weshalb auch ein Sohn seinen Vater schlagen darf: PHEIDIPPIDES: Und frag zuerst dich: Hast mich du, als klein ich war, verhauen? STREPSIADES: Nun, wohl. Doch war’s doch nur aus Lieb’ und Fürsorg’ ! PHEIDIPPIDES: Gut. Nun sag mir: Sollt’ ich nicht da mit gleichem Recht für dich in Liebe sorgen, und dich verhauen, wenn denn schon das Lieben liegt in Hieben? 3 Vom Sohn übel zugerichtet und von den Gläubigern verklagt, sucht der Bauer schließlich nach der Ursache für sein Unglück und meint sie in mangelnder Gottesfurcht zu fiinden, weshalb er es demjenigen heimzahlen möchte, der ihn von seinem Glauben an Zeus abgebracht hat: Sokrates! Das Theaterstück wurde in Athen 24 Jahre vor dem erwähnten Gerichtsverfahren gegen Sokrates aufgeführt und endet damit, dass sich der Bauer sogleich an seines Nachbarn Heim zu schafffen macht, um »möglichst schnell ans Haus der Fasler ein Feuer« 4 zu legen. Der Vorwurf, die Jugend zu verderben und die Götter nicht angemessen zu ehren, war demnach nicht neu. Die Anschuldigungen könnten somit nur vorgeschoben gewesen sein, denn mit diesen Gründen hätte man schon viel früher Anklage erheben können. Sokrates vermutete deshalb, dass er aus einem anderen Grund manchen Mitbürgern ein Dorn im Auge war und man ihn gern zum Schweigen bringen wollte. Nicht wegen der Jugend oder der Götter stünde er vor Gericht, sondern weil er versucht hatte, einen Orakelspruch zu ergründen. Pythia, die weissagende Priesterin des vielbefragten Orakels von Delphi, 3 Aristophanes, Die Wolken, S. 88. 4 Ebd., S. 93. 18 <?page no="18"?> hatte einige Jahre zuvor einen Spruch getan, demzufolge niemand weiser sei als Sokrates. Der hatte sich das nicht erklären können und sprach deshalb mit den besten Staatsmännern, Dichtern und Handwerkern. In allen Fällen fiiel ihm auf, dass diese Männer vieles wussten, jedoch ebenso selbstsicher darüber schwadronierten, worüber sie nichts wussten; woraus er schloss: »Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein [...], daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.« 5 Taktvolle Zurückhaltung war nun nicht gerade Sokrates’ Stärke, sodass man sich lebhaft ausmalen kann, wie er seinen Gesprächspartnern genüsslich ihre Großspurigkeit vorhält. Sein Vorgehen kam jedenfalls nicht immer gut an, wie der weise Unwissende vor Gericht selbst zugibt: Aus dieser Nachforschung also, ihr Athener, sind mir viele Feindschaften entstanden, und zwar die beschwerlichsten und lästigsten, so daß viel Verleumdung daraus entstand, und auch der Name, daß es hieß ich wäre ein Weiser. Es glauben nämlich jedesmal die Anwesenden, ich verstände mich selbst auf das, worin ich einen andern zuschanden mache. 6 Zuschanden machte Sokrates andere, weil seine Gesprächsführung darauf basierte, sein Gegenüber durch gezielte Fragen auf Widersprüche aufmerksam zu machen, um ihn durch immer weitere Fragen schließlich auf widerspruchsfreie Lösungen zu lenken. Damit soll jenen Gedanken an die Oberfläche verholfen werden, die im Geiste tief und undeutlich verborgen liegen. Sokrates selbst nennt diese Methode in Anspielung auf den Beruf seiner Mutter Mäeutik, »Hebammenkunst«. 7 Im Idealfall bringt der Gesprächspartner unterstützt durch Fragen die Wahrheit aus sich selbst hervor. Wen wundert, dass so mancher sich angesichts dieses Vorgehens vorgeführt vorgekommen sein mag? Dessen war sich der Gedanken-Geburtshelfer Sokrates offfenbar auch bewusst, sah darin aber keinen Anlass für eine Verfahrensänderung. Noch in seiner Verteidigungsrede gegen das drohende Todesurteil hat er darauf hingewiesen, dass er die Athener weiterhin im Dienste der Wahrheit »zu ermahnen« 8 gedenke, sollte er freige- 5 Apologie des Sokrates 21d in Platon, Sämtliche Werke. Band 1, S. 18. 6 Apologie des Sokrates 23a in ebd., S. 20. 7 Theaitetos 150b in Platon, Sämtliche Werke. Band 3, S. 163. 8 Apologie des Sokrates 29d in Platon, Sämtliche Werke. Band 1, S. 28. 19 <?page no="19"?> sprochen werden. Der Überzeugung, die bestehenden Zustände hinterfragen zu müssen, hält er in der ihm eigenen »tragischen Ironie« 9 auch im Angesicht des Todes die Treue. Je nach Standpunkt kann man das als Prinzipientreue sehen - oder aber als Drohung. Weniger philosophie-begeisterte Menschen, die auch im antiken Athen in der Mehrheit gewesen sein dürften, tendieren womöglich überwiegend zu letzterer Einschätzung. Der weiseste Sophist seiner Zeit stand also vor Gericht und verteidigte sich mit den Worten: »Von mir selbst wußte ich, daß ich gar nichts weiß, um es geradeheraus zu sagen«. 10 Was er wiederum nur wusste, weil er andere mit seinen Fragen zum Zweifeln und Verzweifeln brachte. So anstrengend das für seine Mitmenschen gewesen sein mag, Sokrates erhob die Weisheit des Fragens über die Klugheit des Antwortens und legte genau damit einen wegweisenden Grundstein für die Philosophie. Er selbst bezeichnete sich denn auch als Philosophen, weshalb er für seine Gespräche und Ausführungen kein Geld nahm und zu seinen Überzeugungen stand, wie sein Anhänger Xenophon berichtet, denn »wer sich vom ersten besten Geld zahlen lasse, der mache diesen zum Herren über sich und unterziehe sich einer Sklaverei, die häßlicher sei als jede andere.« 11 Sophisten nahmen dagegen ganz selbstverständlich Geld für ihre Redekünste und mussten schon allein deshalb ihre jeweils vertretenen Standpunkte an den wechselnden Geldgebern ausrichten. Sie verstanden Rhetorik demgemäß als eine Kunst, die es erlaubte, einen Standpunkt unabhängig von seiner sachlichen Richtigkeit überzeugend zu vertreten. Im Gegensatz dazu sah sich Sokrates der Wahrheitssuche in einer Weise verpflichtet, die ihn heute gewissermaßen als Geburtshelfer der Philosophie erscheinen lässt, indem er die Frage und den Zweifel über die Antwort und das Wissen erhob. Damit rückt die Philosophie im Gegensatz zu religiösen Lehren nicht die Offfenbarung vermeintlicher Wahrheiten in den Mittelpunkt, sondern stellt eben diese infrage. Sokrates war so konsequent darin, keine Wahrheiten verbreiten zu wollen, dass er selbst auf Niederschriften verzichtete. In einem Gespräch wechseln sich für gewöhnlich Fragen und Antworten ab, in 9 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 461. 10 Apologie des Sokrates 22c in Platon, Sämtliche Werke. Band 1, S. 19. 11 Buch I.5.6 in Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, S. 32. 20 <?page no="20"?> Schriften dominiert hingegen der Monolog; hier können Behauptungen unwidersprochen aneinandergereiht werden. Wohl deshalb hat der philosophische Geburtshelfer den lebendigen mündlichen Austausch bevorzugt. Alles was wir über ihn wissen, stammt deshalb aus den Schriften seiner Zeitgenossen, die glücklicherweise nicht seinem Beispiel gefolgt sind. Sein berühmtester Schüler Platon wandte einen simplen Trick an, damit seine Texte nicht zu Monologen ausarteten: Er schrieb Dialoge nieder. In diesen versuchte er Unterhaltungen seines Lehrers festzuhalten. Wenn man aber einer Überlieferung des über 500 Jahre später lebenden Griechen Diogenes Laertius Glauben schenken darf, dann schoss Platon dabei schon mal über das Ziel hinaus; denn »Sokrates habe nach Vorlesung des Platonischen Lysis gesagt: ›Beim Herakles, was der junge Mensch doch alles über mich zusammenlügt.‹« 12 Zurück zum Gerichtsverfahren und den möglichen Hintergründen: In aller Deutlichkeit hält Sokrates seinen Mitbürgern und Richtern vor, dass er die Anklagepunkte der Gotteslästerung und Irreleitung der Jugend lediglich für vorgeschoben hält. Vielmehr solle mit ihm ein zwar unbequemer und unliebsamer, aber unschuldiger Bürger beseitigt werden. Er unterstellt den Athenern das niedere Bedürfnis ihn lediglich loswerden zu wollen, weil er unentwegt bohrende Fragen stelle. Er stilisiert den Prozess zu einer Farce und es wäre tatsächlich nicht verwunderlich, sollte die Anklage nur vorgeschoben gewesen sein. Dann aber könnte durchaus noch mehr dahinter gesteckt haben als lediglich die lästige Fragerei eines alten Greises, wie dieser glauben machen will. Darauf nicht einzugehen, daran hätte ein Meister der Rhetorik, wie Sokrates es war, durchaus gut getan. Denn zweifellos dürften während des Gerichtsverfahrens den Anwesenden ihre äußerst wechselhaften und schmerzlichen Erfahrungen mit Alkibiades durch den Kopf geschossen sein, der als gelehriger Schüler des Sokrates galt. Mit dessen Namen war für die Athener untrennbar der Niedergang ihrer Stadt verbunden, nachdem sie lange die Vorherrschaft über Griechenland, wenn nicht gar über das ganze östliche Mittelmeer ausgeübt hatten. Gelangt waren sie zu dieser Machtfülle durch den grandiosen Erfolg über Xerxes bei Salamis. Un- 12 Buch III.35 in Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Band 1, S. 154. 21 <?page no="21"?> mittelbar nach dem Sieg über die Perser hatten sich die griechischen Städte rund um die Ägäis zusammengeschlossen, um sich gemeinsam neuen persischen Angrifffen entgegenzustellen. Athen nahm in diesem Attischen Seebund zunächst unbestritten eine Führungsrolle ein, weil es den größten Anteil sowohl an der Seeschlacht bei Salamis als auch an der anschließenden Befreiung der griechischen Städte in Kleinasien hatte. Die Bewohner der Halbinsel Attika erlebten in der Folge das Aufblühen der Demokratie in ihrer Heimat zeitgleich mit einer unangefochtenen Vormachtstellung in ganz Griechenland. Es muss sich damals wahrhaft erhebend angefühlt haben, Athener Bürger zu sein. Je kleiner jedoch die persische Bedrohung mit der Zeit wurde, desto mehr verlor die Vorherrschaft Athens ihren befreienden Charakter. Während die Bündnispartner die kostspielige Mitgliedschaft im Seebund nicht mehr als unverzichtbar ansahen, hatten die Athener Gefallen an der Macht gefunden. Schließlich kam es so weit, dass sie nicht mehr davor zurückschreckten, Bündnisstädte durch gewaltsame Unterwerfung davon abzuhalten, abtrünnig zu werden. Vielen Griechen wurde diese ungezügelte Machtausübung unheimlich, sodass die Spannungen anwuchsen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das nicht mehr hingenommen würde. Und tatsächlich fanden sich Athen und der zweitstärkste griechische Stadstaat Sparta mit ihren jeweiligen Verbündeten im Peloponnesischen Krieg wieder. Die Strategien der Kontrahenten hätten unterschiedlicher kaum sein können. Die Spartaner verfügten über keine nennenswerte Flotte, dafür war die Kampfkraft ihrer Hopliten legendär. Von der peloponnesischen Halbinsel kommend grifffen sie deshalb über Land an und verwüsteten die Umgebung von Athen, scheiterten aber an dessen Stadtmauern. Genau darauf hatten ihre Gegner gesetzt und sich frühzeitig hinter diese zurückgezogen. Das Vertrauen der Athener galt ihrer Übermacht zur See, wodurch sie ihre Versorgung komplett auf dem Seeweg sicherstellen konnten. Beide Kriegsparteien rechneten damit, dass die jeweils andere Seite ihre Strategie nicht lange würde durchhalten können. Doch Sommer für Sommer wiederholte sich das Schauspiel. Nach zehn Jahren verständigte man sich zerknirscht darauf, zum Vorkriegszustand zurückzukehren. Mit dieser Situation war niemand richtig zufrieden. Aber sie war immerhin besser als die ergebnislose Zermürbung beiderseits. Nach 22 <?page no="22"?> weiteren sechs Jahren bemühten Friedens nahm dann das große Drama des 36-jährigen, selbstverliebten Alkibiades seinen Anfang. Seine Geschichte bietet ein Lehrbeispiel zur zeitlosen Frage, ob das Volk nicht zu wankelmütig sei, um regieren zu können. Zur Zeit der alten Griechen nicht weniger als heute lautet der ewige Vorwurf gegenüber der Demokratie, dass der Mob sich zu leicht von Gefühlen mitreißen und von gewandten Rednern verführen lasse. Die Demokratie sei gefährlich, weil man den einfachen Leuten nicht über den Weg trauen könne. Falls das stimmte, dann damals noch mehr als heute, weil die Athener eine ausgesprochen unverstellte Demokratie pflegten. Es gab kein Parlament und keinen Senat, sondern die Bürger stimmten direkt ab. Mindestens ihrer 6000 mussten sich einfiinden, damit die Volksversammlung beschlussfähig war. Wer die Zuhörer zu überzeugen vermochte, gewann die Abstimmung. Dabei konnte es freilich lebhaft werden, sodass die Redner zuweilen vor tätlichen Angrifffen geschützt werden mussten. Ansonsten gab es nichts, was die Launen des Volkes gezähmt hätte. In Athen herrschte tatsächlich das Volk und das mit der ganzen Dynamik, die eine Versammlung solcher Größe mit sich bringt. Wie war es nun um dessen Wankelmut bestellt? Alkibiades, der sich in seiner Eitelkeit einen goldgeschmückten Schild anfertigen ließ, auf dem ein »Eros mit Donnerkeil« 13 als Abzeichen abgebildet war, sollte das auf die Probe stellen. In seiner Jugendzeit von Sokrates rhetorisch bestens geschult, gelang es dem ehrgeizigen Mann vornehmer Herkunft seine Mitbürger davon zu überzeugen, sich auf einen Angrifff auf die Stadt Syrakus im fernen Sizilien einzulassen. Ein gewagtes Unterfangen, das zweifellos den Großmachtphantasien der Athener schmeichelte. Mit der stolzen Zahl von 300 Schifffen und 32 000 Mann zog man aus, um gleich die ganze Insel zu unterwerfen. Noch ehe die Expedition sizilianischen Boden betrat, zeigte sich jedoch das Volk zu hause in seinen Gefühlen verletzt und verurteilte Alkibiades, dem es soeben noch zugejubelt und das Vertrauen ausgesprochen hatte, kurzerhand zum Tode, weil er sich angeblich über einen religiösen Kult lustig gemacht haben soll. Der Verurteilte floh rechtzeitig nach Sparta und klärte den Erzfeind über die Syrakus-Expedition auf, die genau deshalb in einer Katastrophe endete: Aus den Belagerern wurden plötzlich Belagerte, weil 13 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 2, S. 361. 23 <?page no="23"?> die Spartaner nicht zögerten, den Sizilianern zu Hilfe zu eilen. Kein Athener kehrte heim. Wer nicht im Kampf starb, wurde in die Sklaverei verkauft. Durch den Verlust so vieler Schifffe war außerdem die Vorherrschaft zur See gebrochen. Sparta nutzte die Gunst der Stunde und ließ sogleich den Peloponnesischen Krieg wieder aufleben, sodass sich die Lage in Athen dramatisch zuspitzte. Zwischenzeitlich hatte es Alkibiades geschaffft, die Spartaner davon zu überzeugen, dass sie ihn nach Persien entsenden sollten, um ein Bündnis anzubahnen. Bislang waren die Perser aufgrund der Plünderung Athens knapp 70 Jahre zuvor in ganz Griechenland verhasst. Doch verlangte es die Spartaner nicht längst danach, es Xerxes I. gleichzutun? Überragte mittlerweile nicht die innergriechische Feindschaft den Barbarenhass? Und konnte man nach all den Jahren des kostspieligen Peloponnesischen Kriegs nicht dringend einen fiinanzkräftigen Verbündeten gebrauchen? Alkibiades gelang es tatsächlich eine Verbindung zwischen den ehemaligen Feinden herzustellen, denn nicht nur im demokratischen Athen, sondern auch in Monarchien verfiing seine Redegewandtheit. Alkibiades verfügte allerdings nicht nur über erstaunliche Überzeugungskraft, sondern auch über befremdliche Überheblichkeit. Der Sokrates-Schüler konnte jedenfalls nicht nach Sparta zurückkehren, weil mittlerweile aufgeflogen war, dass er dort seinen Charme dafür eingesetzt hatte, die Frau des Königs zu verführen, während dieser sein Leben auf einem Feldzug riskierte. »Und er brüstete sich noch und sagte, er tue das nicht mutwillig oder weil er seine Leidenschaft nicht habe zügeln können, sondern damit seine Nachkommen als Könige über die Lakedaimonier herrschten.« 14 Während dessen überzeugten in Athen die Reichen und Vornehmen ihre ärmeren Mitbürger davon, dass die Demokratie ihrer Rettung im Weg stünde, weil durch sie einst Alkibiades verstoßen worden war. Jetzt aber hatte eben jener Verstoßene beste Verbindungen zu den Persern und konnte womöglich für sie das rettende Bündnis einfädeln. Kurzerhand überließ man den Oligarchen die Regierung, nur um sie ihnen wenig später mit Müh und Not wieder zu entreißen. Denn die Reichen waren auf der ganzen Linie erfolglos geblieben. Nach einem Jahr war der Spuk vorbei und die Demokratie hielt erneut Einzug. Alkibiades war in all den Wirren zur rechten Zeit am rechten Ort, um 14 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 2, S. 372. 24 <?page no="24"?> sich der athenischen Flotte in misslicher Lage als Feldherr anzubieten und mit ihr sogleich ebenso glänzende wie rettende Siege zu erringen. Der militärische Erfolg machte die Sünden der Vergangenheit schnell vergessen und schon wählten die Athener den zehn Jahre zuvor zum Tode Verurteilten erneut als Strategen an die Spitze des Staates. Das Glück währte nur kurz. Nach einer vermeidbaren Niederlage, an der er noch nicht einmal unmittelbar beteiligt war, musste Alkibiades sein Strategenamt räumen. Rettung brachte das jedoch keine. Denn in einer nachfolgenden Schlacht ging die gesamte Flotte verloren und man sah sich nicht mehr imstande, Piräus, den lebenswichtigen Hafen der Heimatstadt, zu verteidigen. Folglich konnte die Versorgung mit Getreide nicht aufrecht erhalten werden. Damit hatten die Spartaner nach 27 Jahren Krieg endgültig gesiegt, ließen in ihrem Triumph die Befestigungsmauern Athens zerstören und besetzten die Stadt. Nicht nehmen ließen sie es sich, den flüchtigen Alkibiades aufzuspüren und ihn dort, wo sie ihn fanden auszuräuchern, nämlich im Haus einer Hetäre. Es blieb das Gedenken an ein großes Missverständnis: Wenn jemals einem Menschen, dann ist offenbar Alkibiades sein eigener Ruhm zum Verderben geworden. Eine so hohe Meinung hatte man sich nach seinen glänzenden Erfolgen von seiner Kühnheit und von seiner Geisteskraft gebildet, daß, wenn etwas mißlang, sogleich der Verdacht sich regte, er habe sich keine Mühe gegeben, weil man nicht glaubte, daß er es nicht gekonnt habe; hätte er sich Mühe gegeben, so wäre ihm nichts mißglückt. 15 Alkibiades war ein begnadeter Redner und ein genialer Feldherr. Er vermochte die Athener Volksversammlung ebenso zu überzeugen wie die spartanischen Könige und den persischen Statthalter. Zudem verlor er keine einzige Schlacht. Was er anpackte gelang, doch mutete er den anderen zu viel zu: Er wollte mit der Rede seine gleichrangigen Mitbürger für sich einnehmen und zugleich mit aufreizenden Symbolen sich über sie erheben; er wollte vom Volk gewählt werden und zugleich dessen religiösen Rituale verhöhnen; er wollte Zuflucht gewährt bekommen und zugleich des Königs Ehefrau verführen. Alkibiades war ebenso genial wie geltungsbedürftig. Er konnte das Volk 15 Ebd., S. 388. 25 <?page no="25"?> mitreißen, es aber auch ins Verderben führen. Doch nicht nur die Bevölkerung Athens verfiiel seinem Charme, sondern auch spartanische und persische Machthaber. Offfenbar sind nicht nur versammelte Demokraten anfällig für rhetorische Genies, sondern ebenso Monarchen und ihre hohen Beamten. Sicherlich haben die Athener so manchen Stimmungsumschwung vollzogen, der hoch talentierte Alkibiades allerdings mindestens ebenso häufiig. Wankelmut und Beeinflussbarkeit sind offfenbar keine Frage der Intelligenz und somit auch nicht dem Mob allein eigentümlich. Man kann nur hofffen, wenn ein einzelner herrscht, dieser eine möge nicht sprunghaft sein, und wenn das Volk herrscht, dass die unterschiedlichen Charaktere sich ausgleichen. Ein Schüler des Sokrates hatte demzufolge nicht unwesentlich Anteil am Niedergang Athens. Auch wenn Alkibiades einige grandiose Siege gelangen, so war es dennoch seine Redegewandtheit, die seine Landsleute dazu verführt hatte, sich in das Sizilien-Abenteuer und damit ins Unglück zu stürzen. Kaum weniger unheilbeladen waren die darauf folgenden Seitenwechsel zu den Spartanern und später zu den Persern. Fünf Jahre nach der verheerenden Niederlage, im Jahr 399, im Jahr der Gerichtsverhandlung gegen Sokrates, lag die ehemalige Großmacht immer noch am Boden und die Athener wollten nicht den Reden jenes Lehrers nachgeben, dessen Zögling mit den seinen in ihnen eine Siegesgewissheit geweckt hatte, die ihr eigenes Elend einleitete. Sokrates wurde schließlich Opfer jener Demokratie, die er stets verteidigt hatte, nachdem er in ihrem Aufschwung aufgewachsen war. Als die Gesetzgebung an die Volksversammlung überging, war er neun Jahre alt; 26 war er, als Perikles erstmals zum Strategen gewählt wurde und von da an für 15 Jahre an der Spitze des Staates stand. Unter dem wortgewaltigen Anführer entfaltete Athen seine größte Macht und errichtete die bis heute bekannten Bauwerke auf der Akropolis. Es war die Blütezeit Attikas. Perikles war es allerdings auch, der seine Mitbürger von jener kompromisslosen Haltung gegenüber Sparta überzeugte, die in den Peloponnesischen Krieg mündete. Der Stern Athens, so muss man hinzufügen, begann erst mit dem Ausgreifen nach Sizilien zu sinken. Zu diesem Zeitpunkt war Sokrates bereits 54 Jahre alt und hatte bis dahin die Demokratie als wesentlichen Bestandteil des Aufstiegs Attikas zur Großmacht erlebt. Er war Demokrat, obwohl er nicht so arm sein konnte, wie er vorgab, schließlich war 26 <?page no="26"?> er Hoplit. Er gehörte zu den wenigen Tausend Schwerbewafffneten, die sich eine solch teure Ausrüstung leisten konnten. Da er jedoch nicht aus einer mächtigen, angesehenen Familie stammte, hätte er in einer Aristokratie wohl kaum nennenswert Einfluss gehabt. Zugleich war er nicht volkstümlich genug, um jedem Wankelmut nachzugeben und der sophistischen Beliebigkeit zu folgen. Wahrheit war für ihn keine Frage der Volksmeinung, sondern unabhängig von wechselnden Mehrheiten. Darin bestand für ihn kein Widerspruch zur Demokratie, denn er glaubte auch an die Macht der Rede, an die Mäeutik, welche die Wahrheit hervorzubringen vermag. War es nicht überhaupt nur in der Demokratie möglich, alles infrage zu stellen und den Zweifel über jede Selbstverständlichkeit zu erheben? War nicht Sokrates’ Wirken selbst nur in einer Demokratie denkbar? Für jede Monarchie oder Aristokratie wäre ein solch kritischer Geist jedenfalls untragbar gewesen. Auch wenn Sokrates am Ende wegen Gotteslästerung und unangemessener Beeinflussung der Jugend verklagt wurde, so war es doch kein Zufall, dass er dort wirken konnte, und auch nicht, dass Athen zum Mittelpunkt des geistigen Lebens in Griechenland wurde. Nirgendwo sonst bestanden so große Freiheiten! Die Demokratie verhalf der Redekunst zur Entfaltung und mit ihr auch den philosophischen Zweifeln. Mehr als jede andere Regierungsform erlaubt die Demokratie eine kritische, öffentliche Auseinandersetzung. Nur wenn niemand von Partizipation und Regierungshandeln ausgeschlossen wird, gibt es auch keine Notwendigkeit, Beiträge von der öfffentlichen Diskussion auszuschließen. Wann immer hingegen die Herrschaft nur einigen wenigen vorbehalten bleibt, haben diese ein Interesse daran, ihre privilegierte Stellung zu verteidigen und somit unliebsame Positionen zu unterdrücken. Wer allein regieren will, muss andere in ihren Freiheiten einschränken. Demgegenüber fördert Demokratie das kritische Denken und die öfffentliche Auseinandersetzung, was nicht immer leicht auszuhalten ist. So zeigt das Beispiel des Sokrates zugleich, dass das Volk nicht immer den hohen Anforderungen guten Regierens gerecht wird. Auch in Demokratien kommt es zu Fehlentscheidungen und zu Fehlurteilen. Niemals hätte man sich auf Machtdemonstrationen im fernen Sizilien einlassen dürfen; und niemals hätte man einen alten Greis dafür verurteilen dürfen, dass er jene Freiheiten öfffentlicher Rede, die eine Demokratie bietet, nutzt, auch wenn sein Verhalten noch 27 <?page no="27"?> so anstrengend gewesen sein mag. Was nicht heißt, dass allen alles erlaubt, dass jede Äußerung zu tolerieren sei. Schon die athenische Demokratie nahm nicht alles hin. Man durfte sich Mitmenschen gegenüber nicht demütigend oder missbilligend äußern und nicht bedrohen. 16 Gerade um die politische Diskussion möglichst offfen zu halten, müssen persönliche Angrifffe unterbunden werden. Auch hier gilt die demokratische Grundregel, wonach jeder Mensch das gleiche Recht hat - und zwar auf Mitsprache ebenso wie auf Mitbestimmung oder auf Teilhabe. Wie nun endete schließlich die Gerichtsverhandlung? Sokrates wurde schuldig gesprochen und ließ eine Chance zur Flucht verstreichen, weil er auch im Angesicht des Todes nicht die Gesetze übertreten wollte. Schließlich wurde ihm der Becher voll giftigen Schierlingstrank gereicht, der sein Ende bedeutete. Seine Philosophie aber blieb: Fragen ist weiser als Antworten! Will man nun in Gedenken an Sokrates nicht in religiöse Denkmuster zurückfallen, sollte man sich folglich nicht darum bemühen, zu offfenbaren, was man selbst nur allzu gern für wahr halten möchte, sondern allein darum, vor Fragen nicht zurückzuschrecken, die auch lieb gewonnene Selbstverständlichkeiten nicht verschonen. Daran will sich auch das vorliegende Buch halten und nicht Altbekanntes schon allein deshalb für wahr halten, weil es altbekannt ist, sondern die politische Philosophie befragen, woher sie zu wissen glaubt, dass sie etwas weiß. 16 Pabst, Die athenische Demokratie, S. 87 fff. 28 <?page no="28"?> 3 Woher rührte Platons Anspruch auf eine Herrschaft der Philosophen? Nach seiner Verurteilung bot sich die Chance zur Flucht. Zum Entsetzen seiner Freunde erklärte Sokrates jedoch, dass man sich den Gesetzen unterwerfen müsse, da sonst der gesamte Staat zerrütte. Mit Staat war in diesem Fall die Polis Athen mit ihren etwa 300 000 Einwohnern gemeint, die nicht nur im Stadtgebiet, sondern auf der gesamten Halbinsel Attika lebten. Damit war Athen mit Abstand der Größte unter den insgesamt mehr als 100 hellenischen Stadtstaaten in Griechenland, Kleinasien, Süditalien, Sizilien und sogar in Ostspanien, in Libyen oder am Schwarzen Meer. Jede Polis hatte eine eigene Regierung, eine eigene Gesetzgebung, einen eigenen Charakter. Trotz dieser Vielfalt setzte Sokrates die Gesetze genau dieses einen Stadtstaates über sein eigenes Leben, obwohl das Todesurteil aus seiner eigenen Sicht zu Unrecht verhängt worden war. Warum aber sollte ein harmloser Philosoph einem einzelnen Staat eine solche Bedeutung beimessen? Sokrates selbst hat auch dazu nichts niedergeschrieben. Deshalb bleiben auf der Suche nach Antworten nur die Schriften seines Schülers Platon, wobei dieser nicht nur die Ideen seines Lehrers aufgegrifffen, sondern darüber hinaus viele eigene Gedanken eingebracht hat. Er war zum Zeitpunkt, als das Todesurteil ausgesprochen wurde, 30 Jahre alt und hat danach zahlreiche Dialoge niedergeschrieben, in denen Sokrates die Hauptrolle einnimmt. Einmal lässt er seinen Bruder Adeimantos zusammen mit dem Erfiinder der Mäeutik der Frage nachgehen, weshalb Menschen nicht alleine, sondern zusammen leben: SOKRATES: Es entsteht also eine Stadt, wie ich glaube, weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern vieler bedarf. Oder glaubst du, daß von einem andern Anfang aus eine Stadt gegründet wird? ADEIMANTOS: Von keinem andern. [...] 29 <?page no="29"?> SOKRATES: Wohlan, laß uns also in Gedanken eine Stadt von Anfang an gründen. Es gründet sie aber, wie sich zeigte, unser Bedürfnis. ADEIMANTOS: Was wohl sonst! SOKRATES: Aber das erste und größte aller Bedürfnisse ist die Herbeischaffung der Nahrung des Bestehens und Lebens wegen. ADEIMANTOS: Auf alle Weise. SOKRATES: Das zweite aber die Wohnung; das dritte Bekleidung und dergleichen. 1 Die genannten und weitere Bedürfnisse lassen sich leichter stillen, wenn nicht jeder alles macht, sondern sich auf eine Tätigkeit spezialisiert, sei es als Bauer, als Schreiner, als Schneider oder eben als Philosoph. Platon geht davon aus, dass Menschen »von Natur verschieden und jeder zu einem andern Geschäft geeignet« 2 sind. Entsprechend solle jeder der für ihn am besten geeigneten Aufgabe nachgehen und sich damit in das Gemeinwesen einbringen, sodass daraus das bestmögliche Leben für alle erwachsen kann. Diese Form des Zusammenlebens betrachtet der Philosoph, der dabei ja auch nur seiner Tätigkeit nachgeht, nicht nur als lebensnotwendig, sondern nennt sie zugleich gerecht. Es »scheint die Gerechtigkeit zu sein, daß jeder das Seinige verrichtet«, 3 meint er. Gerechtigkeit heißt demnach ausdrücklich nicht, alle gleich zu behandeln, sondern die Ungleichheit der Menschen und ihrer Aufgaben dazu zu nutzen, gemeinsam das Leben zu sichern und die Bedürfnisse bestmöglich zu stillen. Eine Bestimmung diesen großen Wortes, die ganz ohne Gleichmacherei der Menschen auskommt und allen Teilhabe am Ertrag der Zusammenarbeit verspricht. Kann ungerecht sein, was dem Überleben und dem guten Leben dient? Ist es nicht wunderbar, dass niemand Herrscher und niemand Bauer sein soll, wenn er sich auf andere Tätigkeiten besser versteht? Die naturgegebene Rollenaufteilung klingt verlockend. Was aber, wenn es zu viele geeignete Bauern und zu wenige geeignete Herrscher 1 Politeia 369b-d in Platon, Sämtliche Werke. Band 2, S. 259 f. 2 Politeia 370b in ebd., S. 260. 3 Politeia 433b in ebd., S. 333. 30 <?page no="30"?> gibt? Oder gar umgekehrt? Platon glaubt, die Natur habe jeden für eine Tätigkeit vorherbestimmt. Hat sie aber auch darauf geachtet, dass sich die Talente unter den Menschen entsprechend des allgemeinen Bedarfs verteilen? Und was geschieht, wenn sich die Bedürfnisse eines Gemeinwesens ändern? Nimmt mit Erfiindung der Eisenbahn oder des Computers die Zahl der geborenen Bauernburschen im selben Maße ab, wie die Zahl derjenigen ansteigt, die durch ihr Naturtalent zum Lokomotivführer oder Informatiker bestimmt sind? Diese Fragen liegen nahe, wenn man heute Jahrhunderte zurückblickt. Deshalb fällt es uns heute leicht, zu sagen, dass die Natur zwar Begabungen höchst unterschiedlich verteilt, allerdings nichts davon weiß, welche Fertigkeiten in einer Gesellschaft gerade in welcher Zahl benötigt werden. Platon jedoch konnte von einem heraufziehenden Industriezeitalter nichts ahnen. Nicht nur ahnen, sondern unmittelbar sehen konnte er hingegen die unterschiedlichen Schicksale von Bauern und Händlern, von Bergwerksarbeitern und Sophisten. War da seine Stellung als Philosoph aus wohlhabender Familie nicht eine wunderbare Fügung? Lässt sich in dieser Position eine solche Idee von Gerechtigkeit nicht leicht formulieren? Bequem geht der Philosoph seinen Gedanken nach und diskutiert mit anderen fern jeder körperlichen Anstrengung. Er hat bei der Lotterie der naturgegebenen Lebensstellung ein gutes Los gezogen, von dessen Gerechtigkeit er nur allzu gern überzeugt sein will. Doch kann das auch denjenigen gerecht erscheinen, denen die Natur angeblich in die Wiege gelegt hat, dass sie für Schinderei oder schlimmer noch zum Sklaven geschafffen sind? Stellen sich die natürlichen Unterschiede zwischen den Menschen tatsächlich so groß dar und wenn ja, werden diejenigen, die sich abrackern, nicht trotzdem nach einem bequemeren Leben streben? Platon hegt großes Vertrauen in die Natur, von der er sich selbst begünstigt wähnt. Genügt das, um weniger Begünstigte zu überzeugen? Wohl kaum, viele werden sich in ihrem Streben nach einem besseren Leben nicht davon abhalten lassen, dass ein Philosoph sie nicht dafür geschafffen glaubt. Gänzlich unberührt bleibt außerdem die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit, die heute intensiv diskutiert wird. Wem stehen in welchem Umfang Vermögen und Einkommen zu? Trotz der auch damals bestehenden Vermögensunterschiede, war diese Ungleichheit weitgehend akzeptiert, was womöglich auch daran gelegen haben 31 <?page no="31"?> mag, dass mit Reichtum besondere Verpflichtungen einher gingen: Den Vermögenden wurde die Ausrichtung von Festen, Wettkämpfen und der Unterhalt von Kriegsschifffen übertragen. Die Reichen hatten einen großen Beitrag zum Gemeinwesen zu leisten. Allerdings konnten sie dafür auf die Dienste vieler Sklaven zurückgreifen, die das untere Ende der gesellschaftlichen Hierarchie bildeten. Inmitten der von Reichen ausgerichteten Veranstaltungen und der offfensichtlichen täglichen Mühsal der Sklaven empfanden die übrigen freien Bürger die ungleiche Vermögensverteilung offfenbar nicht als das dringlichste Problem. Darüber hinaus gab es kein staatliches Finanzsystem, das eine Umverteilung der Vermögen hätte durchführen können, denn das Geld befand sich fast vollständig in privaten Händen, wie der Historiker Jochen Bleicken verdeutlicht: Die Vorstellung einer zentralen öffentlichen Kasse und Finanzverwaltung war dieser Zeit so fern, daß man nicht einmal mit den Geldern, die der Stadt als außerordentliche Einnahme zuflossen, von Staats wegen etwas anzufangen wußte. Als die Athener zu Beginn des 5. Jahrhunderts durch die Silbergruben von Laureion zu viel Geld kamen, fiel ihnen zu diesem Silbersegen zunächst nichts Besseres ein, als ihn an die Bürger zu verteilen. 4 Eine Ausnahme bildeten die den Göttern geweihten Tempel. Von den dort gesammelten Spenden und Abgaben, konnte man sich bei Bedarf Geld leihen, sodass diese Tempel ein Stück weit die Rolle von Banken übernahmen, dabei aber weder privat noch staatlich waren. Wenn nun, wie von Platon angestrebt, jeder das Seinige verrichten soll, stellt sich zwangsläufiig die Frage, wie man herausfiindet, wer für was am besten geeignet ist. Dazu äußert sich der Sokrates-Schüler nur hinsichtlich derjenigen, die das Gemeinwesen lenken sollen, und zieht in bester Nachahmung seines Lehrers einen bildlichen Vergleich heran, wonach die Polis ebenso der Lenkung bedürfe wie ein Schifff. 5 So wenig man das Kommando darüber irgendeinem Dahergelaufenen überlassen würde, so wenig sollte man das auch beim Staat machen. Wer indessen kann dort aufgrund Ausbildung und Eignung das Kapitänsamt übernehmen? Wenn jede Tätigkeit durch die jeweils am 4 Bleicken, Die athenische Demokratie, S. 293. 5 Politeia 488a-489d; Platon, Sämtliche Werke. Band 2, S. 391 fff. 32 <?page no="32"?> besten Geeigneten ausgeübt werden soll, dann müsse das auch für die Staatslenker gelten, sodass der Athener Philosoph eine Aristokratie im exakten Sinn des Wortes anstrebt: die Herrschaft der Besten. Laut Platon sind das diejenigen, die sich voll und ganz der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Besonnenheit verpflichtet fühlen, die »echten und wahren Weisen«. 6 Und genau diese Eigenschaften sieht er in seinesgleichen, in den Philosophen vereinigt und kommt deshalb zum berühmten Schluss: Wenn nicht [...] entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie [...] eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten [...] und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht. 7 Ist das noch Philosophieren nach Art des Sokrates? Sollen also Fragende und Zweifelnde regieren? Nein, denn für Platon ist es nicht das, was Philosophen auszeichnet, sondern dass sie »weisheitsliebend« und »schaulustig sind nach der Wahrheit«. 8 Dafür ist es zweifellos nicht völlig verfehlt, die Dinge im Sinne Sokrates’ zu hinterfragen. Während dieser mit seinen Fragen den Menschen vor Augen geführt hat, wie unsicher das ist, was sie für selbstverständlich hielten und somit deren vermeintliche Wahrheiten verunsichert hat, strebt Platon nach mehr, viel mehr. Ihm geht es um nicht weniger als die Entdeckung echter Wahrheiten, um die Errichtung neuer Gewissheiten. Hatte der Lehrer noch sein eigenes Nicht-Wissen offfen angesprochen und mehr Zurückhaltung sowie Selbstzweifel angemahnt, glaubt sein bekanntester Schüler selbstbewusst an die Überlegenheit seines Berufsstands. Überzeugt von deren Fähigkeiten und Einsichten, verlangt hier also ein Philosoph: Alle Macht den Philosophen! Die Besten unter ihnen sollen die wahre Aristokratie bilden. Man darf wohl annehmen, dass Platon als ein hoch angesehener Vertreter dieses Berufszweigs und aus einer ebenso vornehmen wie wohlhabenden Athener Familie stammend sich selbst als einen dieser Besten ansah. 6 Briefe 326b; Platon, Sämtliche Werke. Band 3, S. 527. 7 Politeia 473c-d in Platon, Sämtliche Werke. Band 2, S. 378. 8 Politeia 475e in ebd., S. 380. 33 <?page no="33"?> Der Vater der Gerechtigkeits-Philosophie lehnt die Demokratie ab, weil er der breiten Masse nicht zutraut, die Richtigen für die Regierungsgeschäfte auszuwählen. Mit diesem Misstrauen war und ist er nicht allein - und das nicht nur unter denjenigen, die eine Beteiligung des Volkes ablehnen. Auch in heutigen Demokratien regiert das Volk nicht unmittelbar und es bestimmt auch die Regierungsmitglieder nicht selbst. Vielmehr wählt es seine Vertreter aus Kandidaten aus, die von Parteien vorgeschlagen werden. Im antiken Athen gab es eine solche Vorauswahl dagegen nicht, sondern dort waren die Kandidaten für das Strategen-Amt tatsächlich von der unmittelbaren Volksmeinung abhängig. Diesem Urteil des Athener Volks über seine Befähigung zur Politik wollte sich Platon erst gar nicht stellen, auch weil ihn abschreckte, wie mit »unter anderm einem mir befreundeten älteren Mann, den Sokrates« 9 umgegangen worden war. Ganz lassen konnte er von der Umsetzung einer Philosophenherrschaft aber doch nicht. Im Jahr 366 vor Christus eröfffnete sich Platon eine günstige Gelegenheit in jenem sizilianischen Syrakus, mit dem die Athener so schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Nach fast 40 Jahren Gewaltherrschaft war dort Dionysios I. verstorben und die Macht an seinen Erben übergegangen. Der war jedoch unzureichend auf seine Aufgabe vorbereitet worden, weil das Misstrauen des diktatorischen Vaters nicht einmal vor seinem Sohn Halt gemacht hatte. Dionysios II. ging deshalb gleich zu Beginn seiner Herrschaft auf einen Vorschlag von Dion ein, dem Onkel seiner Ehefrau. Jener hatte 20 Jahre zuvor mit Platon auf dessen erster Sizilienreise Freundschaft geschlossen und schlug seinem Schwager nun vor, den Philosophen als Ratgeber hinzuzuziehen. Der unerfahrene Alleinherrscher war einverstanden, schließlich benötigte er Unterstützung. An philosophischen Fragen zeigte sich Dionysios II. nach Ankunft seines berühmten Gastes tatsächlich nicht uninteressiert, war dann jedoch vorwiegend damit beschäftigt, seine Machtstellung zu sichern, denn immerhin hatte er von seinem Vater eine unrechtmäßige Tyrannei geerbt. Vom Volk zum Feldherrn berufen, hatte Dionysios I. acht Jahre nach dem Sieg der Syrakuser über die athenische Sizilien-Expedition mit den ihm unterstellten Soldaten die Herrschaft an sich gerissen und 9 Briefe 324d in Platon, Sämtliche Werke. Band 3, S. 526. 34 <?page no="34"?> fortan unerbittlich verteidigt. Dieser Makel hing zwangsläufiig auch dem Sohn an, der anders als der Vater seine Durchsetzungsfähigkeit noch nicht bewiesen hatte. Mit der Unterstützung von Dion, »von allen Schülern, die Platon gehabt hat, der höchstbegabte und eifrigste,« 10 wie Plutarch anmerkt, beabsichtigte der Philosoph, den jungen Tyrannen für seine Ideen zu gewinnen. Das rief in der Stadt Gegner auf den Plan, für die der wachsende Einfluss Dions zugleich eine Schwächung ihrer eigenen Position bedeutete. Deshalb warnten sie den Herrscher, er solle sich von seinem mit Platon so vertrauten Schwager nicht beeinflussen lassen. Umgeben von zwei konkurrierenden Lagern reagierte der 30-jährige Dionysios verunsichert und wurde misstrauisch. Als herauskam, dass Dion den mit Syrakus verfeindeten Karthagern seine Dienste als Vermittler anbot, war das Vertrauen erschüttert und die sofortige Verbannung die Folge. Dadurch nun ebenfalls auf aussichtslosem Posten verließ auch Platon die größte Stadt Siziliens und kehrte in seine Heimat zurück. Dionysios hielt daraufhin per Brief Kontakt und versprach die Begnadigung Dions, falls der große Philosoph sich entschließen könnte, noch einmal als Gast in seine Stadt zu kommen. In dieser Hofffnung reiste Platon 361 ein drittes Mal nach Syrakus. Jedoch hielt der Tyrann nicht Wort und es sollte nicht das einzige Versprechen bleiben, das nicht eingelöst wurde. Zudem wähnte Dionysios II. sich als Philosoph zwischenzeitlich bereits so weit fortgeschritten, dass er selbst Schriften verfasste und sich mit dem hoch angesehenen Athener auf Augenhöhe glaubte. Das missfiiel Platon und er plante wieder die Abreise. Ohne jede Aussicht auf einvernehmliche Rückkehr in seine Heimatstadt begann der vermögende Dion schließlich eigene Soldaten gegen Sold anzuwerben und eroberte Syrakus fast ohne Gegenwehr, weil dessen Bevölkerung des Dionysios längst überdrüssig war. Danach verhinderte er mit seinen Truppen mehrfach die Rückkehr des Tyrannen, trotzdem gelang es ihm nicht, die Herzen der Bürger zu erreichen. »Jedoch seine Schrofffheit im Umgang und seine unbiegsame Härte dem Volke gegenüber abzulegen oder zu mildern, bestrebte er sich nicht, obwohl die Umstände ein entgegenkommendes Wesen von ihm forderten und Platon [...] ihn tadelte und ihm schrieb, 10 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 4, S. 10. 35 <?page no="35"?> daß die Selbstherrlichkeit Hausgenossin der Einsamkeit sei.« 11 Das Volk von Syrakus wollte seinem Befreier die Herrschaft nicht einfach überlassen. Mag Dion sich selbst noch so sehr als jener Philosophen- König gefühlt haben, den die Natur zum Herrscher bestimmt habe, so waren die Syrakuser keineswegs bereit, sich zu unterwerfen und der platonischen Lehre untertänigst Folge zu leisten. Die Bürger wollten ihr Schicksal nicht sogleich in die Hände eines neuen Alleinherrschers geben. Sie wollten mitbestimmen, sie wollten die Demokratie! Dion gab dem nicht nach. Von Platon geschult, hegte der Philosoph keine Selbstzweifel und blieb fest von dem überzeugt, was er für wahr hielt. Um seiner Wahrheit Geltung zu verschafffen, um eine Aristokratie platonischen Zuschnitts durchzusetzen, war er zu allem bereit. Er holte demokratiefeindliche Korinther zur Unterstützung, ließ seine Untertanen überwachen und einen beim Volk beliebten Anführer ermorden. Selbst wohlhabender Landbesitzer, verschloss er sich dem drängenden Wunsch nach einer Neuvergabe des ungleich verteilten Ackerlandes. Zwar war Dionysios vertrieben, die Ungerechtigkeiten jedoch, so musste es vielen erscheinen, dauerten an. Dion hatte die Syrakuser von einem Tyrannen befreit, aber er hatte ihnen nicht die Freiheit gegeben. Mochte seine Diktatur auch philosophisch begründet sein, so blieb sie doch eine Diktatur. Das war zum Scheitern verurteilt und so wurde er im Jahr 354 von jenem Mann ermordet, den er damit beauftragt hatte, für ihn das Volk auszuhorchen. Die Philosophenherrschaft war gescheitert, zugrunde gegangen am selbstherrlichen Festhalten an einer vermeintlich naturgegebenen Rollenverteilung. Die Demokratie konnte sich in Syrakus jedoch ebenfalls nicht durchsetzen. Tyrannen, Oligarchen und Volksherrschaften wechselten sich fortan in kurzer Folge ab. Das skrupellose Greifen nach Macht Einzelner einerseits und das ungestüme Verlangen nach allgemeiner Mitbestimmung andererseits ließen Syrakus nicht zur Ruhe kommen. Erst nach einem Friedensvertrag mit dem bereits mächtigen Rom knapp 100 Jahre später hielt mehr Stabilität Einzug, bevor die Römer die Stadt 212 vor Christus schlussendlich unterwarfen. Platon kannte trotzdem keine Selbstzweifel. Über 40 Jahre nach dem Tod seines Lehrers sah der Sokrates-Schüler in den Vorkommnissen kein Scheitern seinerseits, sondern machte die von Griechenland 11 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 4, S. 57. 36 <?page no="36"?> verschiedene Lebensweise in Sizilien dafür verantwortlich, dass seine Staatslehre sich unter Dion nicht erfolgreich umsetzen ließ. Seiner Ansicht nach meinten die Menschen dort, »alles im Übermaß vergeuden und nichts anderes der Bemühung wert achten zu müssen als Schmäuse und Zechgelage und eifrig erstrebte Liebesgenüsse.« 12 Der Philosoph Dion konnte über den Tyrannen Dionysios II. triumphieren, solange die Bevölkerung ihn als Befreier ansah. Nachdem er sich aber selbst zum Tyrannen aufgeschwungen hatte, und sei es auch im Gewande höherer philosophischer Einsicht, waren seine Tage gezählt. Damit nahm Dions Machtfülle einen ähnlichen Verlauf wie jene Athens: Solange sie zu mehr Freiheit verhalfen, standen beide an der Spitze, sobald ihre Herrschaft in Zwang ausartete, begann der Verfall. Beide hatten mit großherzigen Taten Vertrauen gewonnen, sobald sie aber blinden Gehorsam aufgrund ihrer Verdienste in der Vergangenheit forderten, wurde dieser verweigert. Wieviel haben Aufstieg und Fall nun mit Philosophie zu tun? Immerhin hätte Dion ohne seinen Reichtum ebenso wenig die Herrschaft über Syrakus erobert, wie die Athener ohne ihre Flotte jene über die Ägäis. Doch diese Machtmittel allein wären vermutlich nicht ausreichend gewesen. Die Idee der Freiheit, für die Dion ebenso wie Athen anfangs als Befreier standen, brachte jene breite Unterstützung, die den Unterschied ausmachte. Soldaten anwerben können auch Tyrannen, die Bevölkerung für sich gewinnen nicht. Wenn man seine Herrschaft vielen Unterstützern verdankt, darf man sich allerdings nicht über diese stellen. Ein Philosoph kann Menschen überzeugen, bevormunden kann er sie nicht. Glaubt man Platon, hätte Dion ohnehin nicht solchen Aufwand betreiben müssen, um sich durchzusetzen. Zur Herrschaft müsse man nicht drängen, sondern man solle sich dazu rufen lassen: Denn es liegt nicht in der Natur, daß der Steuermann die Schiffsleute bitten solle, sich von ihm regieren zu lassen, noch daß die Weisen vor die Türen der Reichen gehen; [...] vielmehr ist das Wahre von der Sache, daß, mag nun ein Reicher krank sein oder ein Armer, er vor des Arztes Türe gehen muß, und so jeder, der beherrscht zu werden nötig hat, zu dem, der zu herrschen versteht, nicht aber, daß dieser die 12 Briefe 326c-d in Platon, Sämtliche Werke. Band 3, S. 528. 37 <?page no="37"?> zu Beherrschenden bitte, sich beherrschen zu lassen, wenn er nämlich in Wahrheit etwas taugt. 13 Wie so oft bemüht Platon Vergleiche mit Kapitänen und Ärzten: Der Herrscher steuert demnach den Staat wie ein Boot, in dem wir alle sitzen, durch die Gefahren der Welt und kuriert zudem den Staatskörper von allen Krankheiten. Aber letztlich hinken beide Vergleiche: Der Kapitän trotzt unveränderlichen Naturgewalten; der Herrscher dagegen soll den Menschenmengen nicht einfach trotzen, sondern soll richtungweisend darauf einwirken und stets berücksichtigen, dass oftmals erst das eigene Schalten und Walten entsprechende Reaktionen hervorruft. Welchem Arzt man sich anvertrauen möchte, kann jeder für sich entscheiden, ohne dass daraus Verpflichtungen für andere erwachsen würden; eine Regierung hingegen kann man sich nicht aussuchen, sondern ist ihr auch dann unterworfen, wenn der eigene Wunschkandidat nicht an der Macht ist. Das Wesen jeder Herrschaft besteht darin, dass Entscheidungen für alle gleichermaßen verbindlich sind. Niemand kann sich davon lossagen. Umso mehr kommt es einem gelegen, wenn die persönlich bevorzugte Regierungsmannschaft die Herrschaft ausübt und somit auch eigene Interessen durchsetzt. In einer Demokratie kommt es darauf an, möglichst viele davon zu überzeugen, man sei der Richtige für das Regierungsgeschäft. Wen aber vermag ein nur seinen eigenen Prinzipien verpflichteter und womöglich noch verschrobener Philosoph zu überzeugen verglichen mit einer umgänglichen und allseits bekannten Leitfiigur, die verspricht, sich voll und ganz für ihre Anhänger einzusetzen? Und wieviel durchsetzungsfähiger wird letzterer sein, wenn er bereits einflussreiche Gesellschaftsmitglieder für sich gewinnen konnte? Werden nicht außerdem viele Menschen eher ihren eigenen Urteilen und Vorteilen folgen wollen, als ihr Schicksal ganz und gar den womöglich schwer nachvollziehbaren Einsichten eines Denkers anzuvertrauen, der dabei allein seiner eigenen Vorstellung vom Gemeinwohl folgt? Alles in allem steht zu befürchten: Wenn es um persönliche Interessen geht, bleibt die Überzeugungskraft platonischer Tugenden auf der Strecke. Eine Demokratie entsprach nicht der Zielvorstellung Platons. Stattdessen trat er für eine Aristokratie ein, der er die höchste Stabilität beimaß. Die Oligarchie, die Herrschaft der Reichen über die Armen 13 Politeia 489b-c in Platon, Sämtliche Werke. Band 2, S. 393. 38 <?page no="38"?> also, gehe an der Unersättlichkeit nach noch mehr Reichtum zugrunde. Wer mag daran zweifeln? Die Demokratie dagegen, für Platon genau umgekehrt die Herrschaft der Armen über die Reichen, zerbreche ebenfalls an »Unersättlichkeit«, 14 allerdings an der nach Freiheit. Schuld daran sei, dass die einfachen Bürger immer mehr Zwänge ablegen wollten, wodurch sie nicht nur immer fauler und verweichlicht, sondern sich auch immer weniger um das kümmern würden, was den Staat zusammenhält: die Gesetze. Das Volk ließe das Recht hinter sich und sammle sich schließlich um eine Person an seiner Spitze, die sich dann zum Tyrannen aufschwänge, womit die Demokratie sich schließlich selbst abgeschaffft hätte. Die Tyrannis wiederum scheitere am Mangel an Freiheit. Von einer Aristokratie verspricht sich Platon demgegenüber einen Mittelweg von höherer Dauerhaftigkeit. Es lag nahe, sich nach einer anderen Regierungsform zu sehnen. Immerhin hatte die Demokratie mit dem katastrophalen Ende des Peloponnesischen Krieges den Ruf erworben, wankelmütig und ungezügelt alles zu verspielen. Alleinherrschaft andererseits hielten die Griechen für gleichbedeutend mit einer unrechtmäßigen und unfreien Ordnung. Schlussendlich erwies sich jedoch auch Platons Philosophenherrschaft als nicht praxistauglich. Die Bevölkerung war davon nicht zu überzeugen, die sah sich vielmehr geradezu entmündigt. Trotz dieses Scheiterns kommt Platon das Verdienst zu, eine Wende im politischen Denken vollzogen zu haben. Vor Platon war Herrschaft unmittelbar an die Verteidigung des Gemeinwesens geknüpft. Indem er den Blick auf die Frage nach der bestmöglichen Regierungsform für das gesamte Gemeinwesen richtete, hinterfragte er zugleich die bis dahin selbstverständliche Annahme, wonach demjenigen das Recht zu regieren zusteht, der dem Staat Schutz zu gewähren vermag. Unter seinem Blick verwandelt sich Herrschaft vom Recht des Stärkeren in das Recht des Geeigneteren. Wobei die Ansprüche dadurch enorm ansteigen: Aus der Minimalforderung, das Gemeinwesen zu verteidigen, wird die Maximalforderung, das Gedeihen des Gemeinwohls in allen Belangen bestmöglich zu fördern. Die Regierung wird zum Diener des Volkes und dessen Gemeinwohls. Platons aristokratische Vorstellungen konnten sich zwar nicht durchsetzen, die philosophische Grundidee dahinter aber ist unvermindert aktuell. Kernstück 14 Politeia 562b in ebd., S. 471. 39 <?page no="39"?> einer jeden heutigen Demokratie bildet das Auswahlverfahren der geeignetsten Personen für die Regierung: die Wahl. Anders als Platon damals, traut man heute dem Volk zu, die Richtigen auszuwählen. Philosophen sind fast nie darunter. Weshalb geht Platon davon aus, dass Philosophen die nötigen Eigenschaften mitbringen, um einer bestmöglichen Aristokratie vorzustehen? Immerhin wurde die Meinung, dass ausgerechnet die Philosophen als Herrscher besonders geeignet wären, damals ebenso wenig wie heute von allen geteilt. Gibt es nicht tatsächlich ganz unterschiedliche Philosophen, die nicht alle gleichermaßen für Regierungsgeschäfte geeignet scheinen? Das bestreitet Platon nicht, doch grundsätzlich sieht er die Voraussetzung gegeben, dass nur echte Philosophen ihrem Wesen nach in der Lage seien, zu verstehen, »daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und daß also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder öfffentlichen Angelegenheiten.« 15 Nur die wahrheitssuchenden Philosophen könnten demnach diese Idee, also das Wesen des Guten erkennen, und genau deshalb kämen nur sie als Herrscher infrage. Nur sie forschten nach und begnügten sich nicht mit Oberflächlichem, wie Platon mit seinem Höhlengleichnis veranschaulicht: Demzufolge sitzen die Menschen in einer Höhle mit dem Gesicht zu einer Wand, an der sich Schattenbilder von Gegenständen abzeichnen, die für die Menschen uneinsehbar auf der hinter ihnen liegenden Höhlenseite vor einem Feuer hin- und herbewegt werden. Nur der Philosoph erhebt sich auf seiner Wahrheitssuche von seinem Platz und kann deshalb die schattenwerfenden Gegenstände selbst sehen. Er kann sogar aus der Höhle treten und, beinahe geblendet zwar, die Welt im Licht der Sonne betrachten. Zurück bei den anderen werden diese ihm nicht glauben und darüber lachen. Gewöhnliche Menschen sehen nur das Offfensichtliche, das aber, was dahinter steckt, das Eigentliche, die Idee, das sehen sie Platon zufolge nicht. Damit verlässt dieser die Welt der äußeren Dinge und wen- 15 Politeia 517b-c in Platon, Sämtliche Werke. Band 2, S. 423. 40 <?page no="40"?> det sich dem Geistigen zu, womit er als Erfiinder jener idealistischen Philosophie gelten kann, die über 2000 Jahre später zu großer Blüte gelangen wird, nicht ohne ehrfurchtsvoll zurückzublicken - wie etwa ihr großer Vertreter Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Was Sokrates begann, ist von Platon vollführt. Er erkennt nur das Allgemeine, die Idee, das Gute als das Wesenhafte. Durch die Darstellung seiner Ideen hat Platon die Intellektualwelt eröfffnet.« 16 Der Idealismus läuft auf die Vorstellung verborgener Wesensbestimmungen hinaus, die allem und jedem zugrunde liegen und nur von Philosophen angemessen zu erfassen seien. Vom geheimnisvollen Wesen der Dinge hängt in der platonischen Philosophie alles ab. Was aber, wenn den Dingen gar kein Wesen zugrunde liegt? Was, wenn zwar die Sprache den Baum und das Gute kennt, es in der Realität auch viele Bäume und vieles gibt, was gut ist, sich dahinter jedoch nicht ein idealer Baum oder das ideale Gute verbergen? Was, wenn diesen unüberschaubar unterschiedlichen Erscheinungen dieser Welt keine platonischen Ideen zugrunde liegen? Was, wenn auch Philosophen das Gute schlechthin, falls es das tatsächlich geben sollte, nicht erkennen können? Was, wenn wir gar nicht alle in einer Höhle sitzen und vor uns hinstarren? Der Demokratie steht ein solcher Idealismus im Weg, weil das Gute bereits feststünde und nur noch erkannt werden müsste, was angeblich nur wenigen vergönnt wäre. Nur diesen erwiese die Natur die Gunst, zu erkennen. Folgte man Platon, dann wäre das Gute sozusagen nicht mehrheitsfähig. Vielmehr bliebe der Mehrheit nichts anderes übrig, als die politische Überlegenheit der Begünstigten anzuerkennen und diesen die Regierung bedingungslos zu überlassen. Denn dem Idealisten zufolge hat die Natur jedem seinen Beruf in die Wiege gelegt, gerade so als wären Berufe keine menschliche Erfiindung, sondern naturgegeben. Für ihn ergibt sich daraus »eine Art von Schattenbild der Gerechtigkeit, daß nämlich der Schusterhafte auch recht tue, Schuhe zu machen und nicht anderes zu verrichten, und der Zimmermännische nur zu zimmern und die anderen ebenso.« 17 Jeder macht demnach, wonach er seinem Wesen gemäß bestimmt ist und ebenso ist der Wahrheitssuchende dazu bestimmt, Philosoph zu 16 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 39. 17 Politeia 443c in Platon, Sämtliche Werke. Band 2, S. 345. 41 <?page no="41"?> werden, um wiederum derjenige zu sein, der das Wesen der Dinge zu erkennen vermag. Es liegt gleichsam im Wesen des Philosophen begründet, das Wesen des Philosophen zu erkennen. Niemand wird bestreiten, dass die Natur Geschick, Begabung und Körperausstattung unterschiedlich verteilt; anders als Platon muss man daraus allerdings nicht zwingend eine Vorbestimmung durch die Natur ableiten. Diese könnte Talent auch völlig unabhängig von den Bedürfnissen menschlicher Berufe verteilen. Die Natur muss weder das Wesen des Schusterhaften in sich bergen, noch muss sie dieses hervorbringen. Schuster wird man vor allem durch Übung und die meisten Menschen haben mutmaßlich ausreichend Begabung, um verschiedene Berufe zu erlernen. Heute jedenfalls vermag die Idee eines natürlichen Wesens angesichts des rapiden Wandels schwerlich zu überzeugen. Trotzdem profiitiert die Philosophie davon, dass Platon sich von der Oberflächlichkeit abgewendet hat, weil sich dadurch Bestehendes nach einem bestimmten Verfahren hinterfragen lässt. Zielt Sokrates’ Mäeutik noch einfach auf Widerspruchsfreiheit, so führt Platon mit seiner Ideenlehre zusätzlich einen Bewertungsmaßstab ein. Alles kann darauf befragt werden, ob es seiner Bestimmung entspricht; ob es so ist, wie es sein soll; oder ob es nicht der dahinter liegenden grundlegenden Idee widerspricht. Zu welchen Schlüssen ein solches Verfahren führen kann, verdeutlicht Platon selbst beim Nachdenken über die Verschiedenheit der Geschlechter. Folgerichtig lässt er unterschiedliche Begabungen nicht nur für Männer gelten, sondern, indem er alle Oberflächlichkeiten beiseite schiebt, auch für Frauen. Schon zwingt sich der Schluss auf, dass diesen ebenfalls alle Berufe offfenstehen müssen. »Also [...] gibt es kein Geschäft von allen, durch die der Staat besteht, welches dem Weib oder dem Manne als Mann angehöre, sondern die natürlichen Anlagen sind auf ähnliche Weise in beiden verteilt, und an allen Geschäften kann das Weib teilnehmen ihrer Natur nach, wie der Mann an allen.« 18 2200 Jahre vor der erstmaligen Einführung des Wahlrechts für Frauen fordert Platon hier nichts Geringeres als die Gleichberechtigung von Frau und Mann. Seine Suche nach dem zugrunde liegenden Wesen bleibt nicht bei Äußerlichkeiten wie der Körperkraft stehen. Wenn die Unterschiedlichkeit der Begabungen bei Frauen nicht weniger 18 Politeia 455d-e in Platon, Sämtliche Werke. Band 2, S. 357. 42 <?page no="42"?> variiert als bei Männern, dann müssen sich erstere gleichermaßen ihren jeweiligen Stärken gemäß für die Gesellschaft einsetzen, weshalb nach Platon, ganz entgegen den Gepflogenheiten seiner Zeit, auch Regierungsämter weiblich besetzt werden können. Seine Geringschätzung oberflächlicher Unterschiede und sein Glaube an tiefer wurzelnde Eigenschaften machen den Athener Philosophen damit zum ersten großen Vertreter der Emanzipation. Ein Standpunkt, der ihm inmitten einer völlig anders gearteten Wirklichkeit allein durch seine Ausrichtung an dahinter liegenden Ideen möglich wurde. Mag man auch Platons Suche nach Wesenhaftem nicht bis ins Schusterhafte nachvollziehen, so sollte man dabei nicht die Leistungsfähigkeit des idealistischen Verfahrens übersehen. Während die menschliche Natur wohl weniger einem verborgenen Wesen als vielmehr einem evolutionären Verlauf folgt, richten wir unser Verhalten heute stark danach aus, wie etwas sein soll und nicht, wie es immer schon gehandhabt wurde. Wir folgen einem Idealbild und sind dafür bereit, Gewohntes fallen zu lassen. Ein moderner Staat daran gemessen, wie er funktionieren sollte und nicht daran, ob es immer schon so war. Ebenso wie Platon begnügen wir uns heute nicht mit Unterschieden oberflächlicher Geschlechtsmerkmale, sondern sehen in den Frauen ebenso vielseitig begabte Menschen wie in den Männern. Auch wenn man dem griechischen Philosophen nicht darin folgen will, dass die individuelle Natur bereits eine berufliche Festlegung vorgibt, so besteht dennoch eine großartige Errungenschaft darin, den Horizont der Philosophie um dasjenige erweitert zu haben, das nicht durch die Sinne, sondern allein durch den Verstand erfassbar ist. Was die Geschlechterrollen betriffft, geht Platon sogar noch einen Schritt weiter. Unabhängig von jener Art des Zusammenlebens, wie er selbst es erfahren hat, erfolgen Überlegungen, wie er es sich idealerweise vorstellt. Um das Streben nach Bevorzugung der eigenen Frauen, Töchter und Söhne zu unterbinden, lehnt Platon die Ehe ab und strebt nach einer gemeinschaftlichen Aufzucht des Nachwuchses. »Daß diese Weiber alle allen diesen Männern gemeinsam seien, keine aber irgendeinem eigentümlich beiwohne, und so auch die Kinder gemeinsam, so daß weder ein Vater sein Kind kenne, noch auch ein Kind seinen Vater.« 19 19 Politeia 457c in ebd., S. 359. 43 <?page no="43"?> Die Wirklichkeit stand auch dazu in starkem Kontrast. In Athen und anderswo in Griechenland durfte eine Frau nicht wählen, nicht mitbestimmen, noch nicht einmal mitreden. Vor Gericht musste sie sich von ihrem Vormund vertreten lassen. Das war in jungen Jahren ihr Vater, nach dessen Tod ihr Bruder und nach der Hochzeit ging die Vormundschaft an ihren Ehemann über, den sie ebenfalls nicht selbst auswählen konnte. Zwar wurden Frauen in der Regel besser behandelt, jedoch bestand der Unterschied zum Sklaven rechtlich vor allem darin, dass Letzterer verkauft werden konnte. Von dieser Ungleichheit bis zur heutigen Gleichberechtigung war es ein langer Weg, der sich erst eröfffnet, wenn man eine Idee davon, wie es sein soll, zum Maßstab erhebt. Wenige Jahre nach Beginn des Peloponnesischen Krieges geboren, erlebte Platon - anders als sein Lehrer - die Blütezeit Athens nicht mehr, vielmehr erfuhr er im Alter von 24 Jahren die erschütternde Schmach seiner einst so stolzen Heimatstadt. Den Krieg gewonnen hatte das völlig anders geartete Sparta, wo die schönen Künste wie Literatur, Theater und Bildhauerei verachtet und Kinder früh von ihren Eltern getrennt wurden, um sie gemeinsam mit Gleichaltrigen zu ausgesprochen zähen Kriegern zu erziehen. Als vorbildlich galt dort außerdem die sprichwörtlich gewordene spartanische Lebensweise, gekennzeichnet durch ausgeprägte Genügsamkeit ohne jeglichen Luxus. Sparta war eine Armee mit angegliederter Stadt, die ihre Nachbarn gewaltsam unterdrückte. Ihr Sieg gegen Athen beeindruckte Platon offfenbar. In dessen Idealvorstellungen fiinden sich die spartanischen Eigenheiten allesamt wieder: Verehrung von Kriegshandwerk und strenger Erziehung, Verachtung von Luxus und Künste, sowie völlige Unterordnung unter das Gemeinwesen bis hin zur gemeinsamen Kindesaufzucht. Militärische Durchsetzungsfähigkeit war dem Philosophen wichtiger als die heimische Demokratie, obwohl dort schon wenige Jahre nach dem Niedergang Kultur und Handel wieder aufzublühen begannen, freilich ohne zu alter Größe zurückzufiinden. Die Art und Weise, wie Athen an Lebenskraft gewann, zeugt von einer erstaunlichen Widerstandsfähigkeit. Dennoch gab es Anlass, mit mancher demokratisch gefällten Entscheidung unzufrieden zu sein - zumal nach dem katastrophalen Ende des peloponnesischen Kriegs. Für Platon Grund genug seinen Idealstaat in vielerlei Hinsicht an 44 <?page no="44"?> der spartanischen Lebensweise auszurichten, obwohl er mit der Regierungsweise dort nicht einverstanden war. Die spartanischen Könige gehen nämlich keinesfalls als Philosophen durch, vielmehr verfügen sie über eine rein militärische Ausbildung. Hierin folgt Platon nicht dem Vorbild Spartas, denn schlussendlich geht es ihm nicht allein um militärische Stärke, sondern auch um Gerechtigkeit. Diese im Staat herzustellen, traut er nur einer Aristokratie von Philosophen zu. Sein Vorschlag kann sich allerdings nicht ganz vom Verdacht der Selbstgerechtigkeit befreien: Wenn die Philosophenherrschaft gerecht ist, wer könnte dann gerechter sein als der größte Philosoph seiner Zeit? Wer könnte also gerechter sein als er selbst? Doch bevor man Platon vorschnell dafür schmäht, sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Demokratie, wenn man so will, ebenfalls dem Prinzip der Selbstgerechtigkeit folgt - nur verallgemeinert: Denn sie geht davon aus, dass niemand andere für gerechter hält als sich selbst und sich die Menschen allesamt nur allzu gerne in Selbstgerechtigkeit ergehen. Deshalb überlässt sie Fragen der Gerechtigkeit keinem Einzelnen und auch keiner unabänderlichen Ideenlehre, sondern lässt alle gemeinsam darüber befiinden. Eine Demokratie lässt unterschiedliche Meinungen nicht einfach nur zu, sondern sie lebt davon. Über Inhalte darf gestritten werden, nur in einem Punkt bedarf es weitgehender Einigkeit, und zwar darüber, wie das Staatswesen funktionieren soll. Nur wenn die Grundlagen, wenn Meinungsaustausch, Abstimmungsverfahren und Individualrechte gewährleistet sind, kann Demokratie bestehen. Es muss eine gemeinsame Idee davon geben, an der man sich orientieren kann. Dabei braucht es sich nicht gleich um ein verborgenes, naturgegebenes Wesen handeln, zumindest aber insofern um ein platonisches Idealbild, als dass es vom politischen Alltag weitgehend unabhängig ist. Beinahe mehr noch als einer Regierung der Besten bedarf die Demokratie eines gemeinsamen Verständnisses ihrer wesentlichen Grundlagen, denen sich alle verpflichtet fühlen. Ganz im Gegensatz zu Platons Denkweise kennt die Demokratie nicht das eine Gute, sondern ihr Wesen besteht gerade darin, Vielfalt zuzulassen. Wenn es nicht mehr möglich ist, abweichende Positionen zu vertreten, aber auch wenn sich Vertreter abweichender Positionen nicht mehr daran gebunden fühlen, Vielfalt zu akzeptieren, wird die demokratische Idee verraten. Wer Menschen und ihre Meinungen nicht respektiert 45 <?page no="45"?> oder wer keinen Respekt gegenüber jenen Grundlagen zeigt, die seine Meinungsäußerung erst ermöglicht, missachtet Meinungsfreiheit. Wann immer Mitbestimmung verhindert wird, aber auch wann immer Mitbestimmung zur Eindämmung der manchmal bedrohlichen oder verabscheuten Vielfalt genutzt wird, ist Demokratie gefährdet. 46 <?page no="46"?> 4 Woher verlangte es Aristoteles nach Stabilität? Platon war bereits 60 Jahre alt und sollte bald zum zweiten Mal nach Sizilien reisen, als ein Junge aus Makedonien, einem bis dahin unbedeutenden Landstrich im Norden Griechenlands, um Aufnahme in seine Akademie bat. Der 17-Jährige stammte aus gutem Hause, hatte doch sein verstorbener Vater als Leibarzt dem dortigen König gedient. Der Neuling lernte schnell und war bald schon ein respektiertes Mitglied, das schließlich selbst eine Lehrtätigkeit an der Akademie ausübte. So vergingen beinahe 20 Jahre eines wohlgeordneten Gelehrtenlebens. Währenddessen war in der Heimat Philipp II. an die Macht gelangt, unter dem Makedonien schnell an Einfluss gewann und bald die gesamte Nordküste der Ägäis unterworfen hatte. Innerhalb weniger Jahre wuchs sein Eroberungsdrang zu einer solchen Bedrohung für alle griechischen Städte heran, dass das wachsende Misstrauen der Athener auch vor dem makedonischen Akademie-Mitglied nicht Halt machte. Im Jahr 347 vor Christus starb Platon und mit ihm ein wichtiger Fürsprecher des eingewanderten Philosophen, der daraufhin in Richtung Kleinasien abreiste. Dort erreichte ihn vier Jahre später ein Angebot von eben jenem Mann, dessen Eroberungszüge seinen Verbleib in Athen unmöglich gemacht und der zudem seine Heimatstadt Stageira zerstört hatte: Philipp lud ihn dazu ein, seinen Sohn zu unterrichten. Der Stagirit ließ sich darauf ein und so wurde Aristoteles für drei Jahre Lehrer des 14-jährigen Thronfolgers Alexander. Neben Philosophie umfasste die Unterweisung Naturwissenschaften, Medizin, Geographie, Literatur und Mythologie. Letztere war kein typisch makedonischer Lehrinhalt, dafür unverzichtbarer Bestandteil griechischer Bildung. Dieser wurde dem jungen Königssohn offfenbar so überzeugend nahe gebracht, dass er sein Leben lang ein von seinem Lehrer kommentiertes Exemplar von Homers großer griechischen Sage »Ilias« bei sich getragen und ihrem Helden Achilles nachgeeifert haben soll. 47 <?page no="47"?> Der Philosoph konnte nur den Geist schulen, mindestens ebenso wichtig für einen makedonischen Herrschersohn war aber die Einübung des Kriegshandwerks. Auch hier hatte der Vater offfensichtlich die richtigen Lehrer gefunden, denn bereits mit 18 Jahren bewies Alexander seine militärische Tüchtigkeit, indem er als Befehlshaber der Reiterei entscheidenden Anteil am Sieg in der Schlacht von Chaironeia hatte, in der die Vorherrschaft Makedoniens über ganz Griechenland besiegelt wurde. Athen und Theben hatten sich dem Expansionsdrang Philipps entgegengestellt und verloren. Aus dem rückständigen Makedonien war innerhalb von zwei Jahrzehnten eine Führungsmacht geworden, die ganz Griechenland dominierte. Chaironeia war der erste große Erfolg von Vater und Sohn, zugleich allerdings auch der letzte, weil Philipp seine nunmehr siebte Ehe mit einer Frau namens Kleopatra schloss. Ein Name, mit dem heute sofort die knapp 300 Jahre später geborene ägyptische Königin in Verbindung gebracht wird, der tatsächlich aber seine Ursprünge in Griechenland hat. Edlen Geschlechts war auch Philipps neue Ehefrau, denn sie entstammte dem makedonischen Hochadel. Genau das erzürnte Alexander, weil Kleopatra damit weitaus mehr Ansehen genoss als seine eigene Mutter Olympia. Männlicher Nachwuchs aus der neuen Verbindung wäre damit von so edler Herkunft gewesen, dass sie die bis dahin unangefochtene Thronfolge Alexanders gefährdet hätte. Wutentbrannt zog sich dieser deshalb zusammen mit seiner Mutter vom makedonischen Hof zurück. Mitten in den Vorbereitungen eines Feldzugs gegen Persien wurde Philipp Opfer eines Attentats, nachdem ihm Kleopatra gerade einen Sohn geboren hatte. Sofort verdächtigte man den ältesten Sohn, er könnte zum Mord angestiftet haben. Doch einer der engsten Vertrauten des getöteten Königs schwor das Heer auf Alexander ein und dieser ließ sogleich alle Widersacher töten. Vatermörder oder nicht? Danach fragte niemand mehr und der Aristoteles-Schüler wurde mit 20 Jahren König. Innerhalb der nächsten 13 Jahre eroberte er Kleinasien, Ägypten und den gesamten Vorderen Orient. Seine anfangs circa 40 000 Mann starken Truppen legten größtenteils zu Fuß Tausende Kilometer zurück und überschritten Donau, Nil, Iaxartes (der in den Aralsee mündet und heute Syrdarja heißt) und Indus. Sie erreichten Indien und durchquerten schließlich die Gedrosische Wüste im Südosten Persiens. Gleich zweimal, in Issos 333 und in Gaugamela 48 <?page no="48"?> 331 vor Christus, schlugen sie zahlenmäßig weitaus überlegene Heere des persischen Großkönigs Dareios III.; wobei Alexanders siegreiche Taktik darin bestand, sich mit seinen besten berittenen Männern mitten im Schlachtgetümmel direkt Richtung Perserkönig durchzukämpfen, ehe der Feind seine größere Masse an Soldaten ausspielen konnte. Tatsächlich ergrifff Dareios beide Male panisch die Flucht als der kampfstarke Makedone sich bedrohlich näherte, verlor damit die Kontrolle über sein Heer und beide Schlachten. Alexander kämpfte ohne Zweifel tollkühn, aber der ängstliche Großkönig ließ sich auch zweimal auf die selbe Art überrumpeln. Jedenfalls war Persien besiegt und die Plünderung Athens knapp 150 Jahre zuvor durch Xerxes I., den Urururgroßvater von Dareios, damit gerächt. Neben der asiatischen Großmacht unterwarfen die Makedonen zahlreiche andere Völker und verbreiteten auf ihrem Siegeszug durch den Orient griechisches Gedankengut. Nicht zu Unrecht der Große genannt hatte Alexander damit ein größeres Gebiet erobert als irgendjemand vor ihm, bevor ihn mit knapp 33 Jahren zehn Tage starkes Fieber dahinraffften. Waren seine Herrschaft und sein Reich auch nur von kurzer Dauer, so blieb die von ihm herbeigeführte Hellenisierung in den eroberten Gebieten erstaunlicherweise über Jahrhunderte hinweg prägend. Der Lohn seiner Taten liegt im ewigen Ruhm, wofür jedoch viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Ganze Städte, die nicht sofort klein beigaben, sondern sich einer Eroberung widersetzten, wurden ausgelöscht: In Tyros, Theben und Gaza fanden jeweils weit über 5000 Männer den Tod. Frauen und Kinder wurden zu Zehntausenden in die Sklaverei verkauft. Auch in Alexanders eigenem Aufgebot gab es starke Verluste. Viele kamen in den zahlreichen Kampfhandlungen um, mehr noch allerdings auf dem Rückweg von Indien beim Marsch durch die Gedrosische Wüste. Nur die Hälfte der Soldaten entkam Hitze, Hunger und Durst. Darüber hinaus haftet Alexander trotz seiner grandiosen Siege ein weiterer Makel an, weil er diese weniger als genialer Stratege errungen hat denn als Draufgänger, wenn auch besonders willensstarker und durchsetzungsfähiger Natur. So beschreibt der Grieche Plutarch rund 400 Jahre später die erste Schlacht gegen die Perser, die am gegenüberliegenden steilen Flussufer des Granikos abwarteten, wie folgt: Dem Parmenion, der mit Rücksicht auf die vorgerückte Tages- 49 <?page no="49"?> zeit vor dem Wagnis eines Angriffs warnte, gab er [Alexander] zur Antwort, er würde sich vor dem Hellespont schämen, wenn er den Granikos fürchtete, nachdem er jenen überschritten habe, und sprengte mit dreizehn Schwadronen Reiter in den Strom hinein. Indem er so gegen einen Hagel von Geschossen und ein abschüssiges, von Waffen und Rossen gesichertes Gelände durch ein wild einherflutendes Gewässer anstürmte, mußte es scheinen, als ob er eher wie ein Verrückter oder Verzweifelter als nach klugem Plane vorginge. Allein, er erzwang den Übergang, gewann den Boden, der feucht, schlammig und schlüpfrig war. 1 Die Makedonen folgten bereitwillig dem Beispiel ihres Anführers und schlugen die Perser in die Flucht. Doch auch des Sieges sicher, handelte Alexander weniger überlegt denn impulsiv: Während der Reiterkampf so auf der Höhe der Entscheidung war, ging die Phalanx der Makedonen über den Fluß, und die persische Infanterie trat ihr entgegen. Aber sie leistete keinen tapferen noch langen Widerstand, sondern wandte sich und floh mit Ausnahme der griechischen Söldner. Diese schlossen sich an einem Hügel zusammen und boten Alexander ihre Ergebung an. Aber er stürmte, mehr seinem Zorn als ruhiger Überlegung gehorchend, als erster gegen sie an, verlor sein Pferd, das von einem Schwerthieb in den Leib getroffen wurde [...], und die meisten der auf makedonischer Seite Gefallenen kamen dort zu ihren Wunden oder zum Tode, da sie mit zur Verzweiflung getriebenen streitbaren Männern in Kampf gerieten. 2 Statt sein Heer um einige Söldner zu erweitern, verwickelte Alexander seine Truppen in einen zwar siegreichen, aber ebenso unnötigen wie verlustreichen Kampf. Insgesamt gab ihm der Erfolg zweifellos Recht, auch wenn er bisweilen mit zweifelhaften Mitteln errungen wurde. So schreckte er in Indien offfenbar auch nicht davor zurück, einen kurz zuvor geschlossenen Wafffenstillstand in einem günstigen Moment zu brechen und alle Feinde hinterrücks niederzumachen. Aber wer wollte von einem Eroberer Tugendhaftigkeit einfordern, 1 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 5, S. 24. 2 Ebd., S. 25. 50 <?page no="50"?> wenn der nur danach strebt, seine selbstgewählten Gegner niederzustrecken? Auch Abseits des Kampfgeschehens bleibt es manchmal undurchsichtig: So brüstete sich Alexander die Ehefrau des Großkönigs, die ihm nach seinem Sieg bei Issos in die Hände gefallen war, nicht angerührt zu haben. Doch zwei Jahre später gebar sie noch immer in Gefangenschaft ein Kind? 3 Wie war sie schwanger geworden? Auf die Frage, wem er seine Nachfolge überlasse, soll Alexander kurz vor seinem Tod im Jahre 323 vor Christus geantwortet haben: »Dem Besten! « 4 Sogar im Sterben liegend blieb er noch auf Leistung und Durchsetzungsfähigkeit fiixiert; Ausgewogenheit und Mittelmaß waren ihm hingegen völlig fremd. Man spürt den Einfluss von Homers griechischer Sagenwelt, in der es stets darum geht, andere zu übertrefffen. Hier wirkte jenes alte griechische Gedankengut nach, in dem sein Vater ihn erziehen lassen und in das ihn Aristoteles eingewiesen hatte. Von dessen politischer Philosophie scheint der junge Herrscher dagegen weitgehend unberührt geblieben zu sein. Nichts deutet darauf hin, dass Ethik oder Staatslehre des Philosophen für ihn von besonderer Bedeutung gewesen wären. Vielleicht hat der Eroberer seinen Lehrer tatsächlich als »langweiligen alten Pedanten« 5 gesehen, wie Bertrand Russell, der große britische Philosoph des 20. Jahrhunderts, vermutet. Laut Plutarch, dem großen griechischen Biografen des 1. Jahrhunderts nach Christus, war Aristoteles ihm zumindest nicht gleichgültig, warum sonst sollte er angeblich folgenden Brief geschrieben haben: Alexander wünscht dem Aristoteles Wohlergehen. Du hast nicht recht getan, daß du die nur fürs Hören bestimmten Lehren veröffentlicht hast. Denn wodurch werden wir uns über die anderen erheben, wenn die Lehren, nach denen wir erzogen worden sind, Allgemeingut werden? Ich möchte lieber durch das Wissen um das Höchste als durch meine Kriegsmacht ausgezeichnet sein. 6 Angesichts des Eroberungsdrangs fällt es schwer, jene Geringschätzung des Machtgebrauchs zu glauben, die Alexander hier von sich 3 Ebd., S. 32, 44. 4 Gehrke, Alexander der Große, S. 96. 5 Russell, Philosophie des Abendlandes, S. 182. 6 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 5, S. 14. 51 <?page no="51"?> behauptet. Nachdem er seinem Lehrer jahrelang Pflanzenteile und andere Dinge, die er auf seiner weiten Reise entdeckte, schicken ließ, hat der Makedonenkönig gegen Ende seines Lebens dann doch noch mit dem berühmten Philosophen gebrochen. Nicht etwa weil ihm die Veröfffentlichung weiterer Lehren missfallen hätte, sondern weil ihm zu wenig Ehrerbietung entgegengebracht worden war. Ein mit Aristoteles verwandter und von diesem ausgebildeter Philosoph hatte sich geweigert, als Zeichen der Unterwerfung vor dem mächtigen Herrscher sich auf den Boden zu werfen. Alexander hatte diese in Griechenland unübliche sogenannte Proskynese in Asien von den Persern übernommen. Doch der junge Philosoph bestand darauf, dass unter Freien eine solch unterordnende Haltung nicht angezeigt sei, woraufhin der Herrscher diese von ihm als dreist empfundene Unnachgiebigkeit ihrer beider Lehrer anlastete: dem Aristoteles. Der makedonische König war ein herausragender Feldherr, jedoch war er auch von bestialischer Grausamkeit. Er ließ nicht nur den gerade erwähnten trotzigen Philosophen und seinen eigenen Vater ermorden, die Bevölkerung von mehreren Städten auslöschen, große Teile seines Heeres in einer Wüste umkommen, sondern bei einem Gelage tötete er in betrunkenem Zustand auch einen langjährigen Freund wegen ein paar Unmutsäußerungen, obwohl dieser ihm zuvor in besagter Schlacht am Granikos das Leben gerettet hatte. Alexander der Große war ein Mann des Krieges, dem für einen geeigneten Herrscher im Sinne Platons zweifelsohne zwei Eigenschaften fehlten: Besonnenheit und Gerechtigkeit. Das also war das ernüchternde Ergebnis jener in der Weltgeschichte einmaligen Konstellation, in der ein großer Philosoph einen künftigen großen Herrscher unterrichtet hatte. So einzigartig und faszinierend das Arrangement, so wenig greifbar sind die gegenseitigen Wirkungen dieser Verbindung. Aristoteles mag Alexanders Geist geschärft und ihm Vorbilder aus der griechischen Mythologie nahe gebracht haben. Kaum vorstellbar ist hingegen, dass die Kühnheit des Eroberers vom Philosophie-Unterricht herrührte, denn sein Lehrer war von völlig anderer Wesensart. Aristoteles kannte keine Extreme, sondern suchte stets den Ausgleich. Das Streben zur Mitte erklärte er zur Tugend. Während der makedonische König sich anschickte, den gesamten Nahen Osten nach seinem Willen umzuformen, propagierte der stageirische Philosoph Eigenschaften wie Bescheidenheit, Zuverlässigkeit und Angemessenheit. Aber mit 52 <?page no="52"?> solchen Tugenden lässt sich kein Weltreich erobern, vielmehr liest sich dieses philosophische Programm eher wie der Gegenentwurf expansionistischer Kriegsführung. »Wahr aber bleibt, daß die größten Ungerechtigkeiten von denen ausgehen, die das Übermaß verfolgen, nicht von denen, die die Not treibt.« 7 Alexander verfolgte zweifellos das Übermaß und ihn trieb keinesfalls die Not. Aristoteles’ Credo der Ausgewogenheit klingt wie ein Ruf nach Stabilität angesichts des ebenso erfolgwie folgenreichen Eroberungszugs Alexanders. Dieses Verlangen geht sogar so weit, dass eine Störung der bestehenden Verhältnisse als unrechtmäßig angesehen wird: »Denn das Proportionale ist die Mitte, und das Gerechte ist das Proportionale. [...] Das Recht ist also dieses Proportionale, das Unrecht aber ist, was wider die Proportionalität anläuft.« 8 Ungeachtet dessen änderte Alexander Proportionen, verschob die Machtverhältnisse und erkannte keine Grenzen an. Die Bewältigung des scheinbar Unerreichbaren, die Sehnsucht, das menschlich Angemessene hinter sich zu lassen und sich den Halbgöttern der griechischen Sagenwelt nahe zu fühlen, bildeten seinen Antrieb. Recht, Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit interessierten ihn nicht. Es ist nicht auszumachen, ob Aristoteles trotz oder gerade wegen der handstreichartigen Hellenisierung des Vorderen Orients durch seinen eigenen Schüler für die Wahrung des Gleichgewichts eintritt. Jedenfalls ist die Abwesenheit von Alexanders Eroberungszug in der politischen Philosophie des großen Denkers so aufffallend, dass Russell sogar vermutet, Aristoteles habe die großen Veränderungen gar nicht in ihrem ganzen Ausmaß erfasst: Viel überraschender ist hingegen, daß Alexander so geringen Einfluß auf Aristoteles ausgeübt hat, der bei seinen politischen Spekulationen einfach nicht bemerkt hatte, wie die Ära der Stadtstaaten von der Ära der großen Reiche abgelöst wurde. Ich fürchte, Aristoteles hat ihn letzten Endes nur für einen ›faulen, starrköpfigen Jungen ohne jedes Verständnis für Philosophie‹ gehalten. Alles in allem scheint die Begegnung dieser beiden großen Männer so wenig Früchte getragen zu haben, als hätten sie in verschiedenen Welten gelebt. 9 7 Pol 1267a in Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden. Band 4, S. 52. 8 EN 1131b in Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden. Band 3, S. 108. 9 Russell, Philosophie des Abendlandes, S. 182. 53 <?page no="53"?> Da die Entstehungszeit der aristotelischen Schriften ungeklärt ist, kann man nicht ausschließen, dass die überlieferten Werke zu früh entstanden, um die unumkehrbaren Veränderungen in ihrer vollen Tragweite zu erfassen. Aristoteles war bereits 46 Jahre alt als Philipp II. und sein Sohn in Chaironeia das Ende der griechischen Stadtstaaten besiegelten. Das Erstarken Makedoniens trat allerdings auch schon zuvor unübersehbar zutage und auch die Römer vergrößerten ihr Territorium Schritt für Schritt und bedrohten bereits die griechischen Städte Italiens. Während sich die Welt um ihn herum wandelte, hielt Aristoteles an der Polis als Hort der Stabilität unbeirrt fest. Unklar bleibt, ob er die Veränderungen noch nicht zu bewerten vermochte, sie unterschätzte oder aber gerade auf die damit einhergehende Verunsicherung reagierte. Jedenfalls verortete er im griechischen Stadtstaat weiterhin den Garanten moralischer Integrität. »Die Gerechtigkeit aber, der Inbegrifff aller Moralität, ist ein staatliches Ding. Denn das Recht ist nichts anderes als die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung, und eben dieses Recht ist es auch, das über das Gerechte entscheidet.« 10 Hier erfolgt eine ganze Kette von Gleichsetzungen: Moralität wird mit Gerechtigkeit, Gerechtigkeit mit Recht, Recht mit Staat, Staat mit herrschender Ordnung und damit schließlich Moralität mit herrschender Ordnung in eins gesetzt. Die bestehenden Verhältnisse werden damit zur maßgeblichen moralischen Instanz erhoben, nach deren Proportionen sich alles zu richten hat. Raum für Veränderungen lässt eine solche Gleichsetzung nicht und genau das dürfte später auch ein Grund für die jahrhundertelange Popularität von Aristoteles’ politischer Philosophie gewesen sein. Liegt Stabilität doch stets im Interesse derjenigen, die durch die Änderung des Gesellschaftsgefüges etwas zu verlieren hätten, also der Mächtigen. Ein Hinweis auf den berühmten griechischen Philosophen bot da eine willkommene Rechtfertigung, zumal wenn dieser bestehendes Recht - ungeachtet welchen Inhalts - und Gerechtigkeit gleichsetzt, sodass jede Änderung der Gesellschaftsordnung zwangsläufiig als ungerecht gebrandmarkt wird. Wie schon Platon stellt sein Schüler drei guten ebenso viele schlechte Formen gegenüber. Die guten sind Königtum, Aristokratie und 10 Pol 1253a in Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden. Band 4, S. 5 f. 54 <?page no="54"?> Politie. Die »Ausartungen« 11 davon heißen Tyrannis, Oligarchie und Demokratie. Die beiden letzten Formen nehmen Staaten laut Aristoteles zumeist deshalb an, »weil nämlich der Mittelstand in ihnen oft wenig zahlreich ist« 12 und dadurch entweder im Falle der Oligarchie die Reichen oder im Falle der Demokratie die Armen die Macht an sich reißen können. Das Wohl der Gesamtheit leide in beiden Fällen, weil die überlegene Seite nur ihren Nutzen verfolge, das aber führe zu Aufruhr und verhindere Stabilität. Die Reichen seien nicht gewohnt zu gehorchen und die Armen zu unterwürfiig, weshalb der Staat möglichst aus Freien und Gleichen bestehen solle. Wo die Mittelschicht am meisten Berücksichtigung fiinde, dort liege die beste Staatsform vor und das wäre die Politie als Mischung aus Oligarchie und Demokratie. Wie dieses Ziel zu erreichen ist und wie man sich das genau vorzustellen hat, dazu fehlen genauere Hinweise. Wichtiger scheint Aristoteles ohnehin ein anderer Punkt zu sein: Die Demokratie, wie er sie in Athen kennengelernt hat, brachte immer wieder ungezügelte Schwankungen des Volkswillens mit sich. Diesen Umschwüngen misstraute Aristoteles ebenso wie sein Lehrer. Anders als dieser trat er allerdings nicht für die Philosophenherrschaft, sondern für die stabilisierende Kraft von Gesetzen ein: Wer also verlangt, daß die Vernunft herrsche, der scheint zu verlangen, daß Gott und die Gesetze herrschen; wer aber den Menschen zum Herrscher haben will, fügt das Tier hinzu. Denn die Lüsternheit ist etwas Tierisches, und der Zorn setzt auch die besten Männer unter den Regenten in Verwirrung. Daher ist das Gesetz die reine, begierdelose Vernunft. 13 Richtete sich das gegen Alexanders unstillbaren Eroberungsdurst oder gegen die zügellose Demokratie in Athen? Oder gegen beide? Jedenfalls spricht daraus der Wunsch nach Zähmung menschlicher Begierden, womit zugleich die Zähmung verändernder Kräfte generell einhergeht. Gesetze erhöhen Zuverlässigkeit und Vorhersehbarkeit, können das allerdings nur leisten, indem sie dynamische Kräfte einhegen. Alexander der Große kümmerte sich nicht um Gesetze, betrachtete er sich doch als Held oder gar Halbgott ihrer enthoben. Die 11 Pol 1279b in ebd., S. 91. 12 Pol 1296a in ebd., S. 148. 13 Pol 1287a in ebd., S. 116. 55 <?page no="55"?> entfaltete Wirkmächtigkeit verdankte sich nicht zuletzt seiner großen Entscheidungsfreiheit. In Athen gab es demgegenüber Gesetze, doch auch die Demokraten dort verfügten über vergleichsweise große Entscheidungsspielräume. Anders als heute entschied das Volk unmittelbar selbst und nicht vermittelt durch Repräsentanten oder mächtige Institutionen. In der Volksversammlung konnten die Athener deshalb weitreichende Entscheidungen trefffen. Ob Alleinherrscher oder Demokratie, in beiden Fällen beflügelt hohe Entscheidungsgewalt die Dynamik, was zweifellos auf Kosten jener Beständigkeit geht, die Aristoteles so am Herzen liegt. Aristoteles und Alexander verfolgten völlig unterschiedliche politische Ziele. Während der makedonische Eroberer die Herrschaft der bekannten Welt anstrebte, stand für den makedonischen Denker eine möglichst ausgeglichene Politie im Vordergrund. Stabilität war für Aristoteles allerdings kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Erreichung des einzigen sich selbst genügenden Ziels: eudaimonia, Glückseligkeit. Nur sie werde um ihrer selbst Willen angestrebt. Da der Mensch allein nicht selbstgenügsam leben kann, lebt er Aristoteles zufolge in Staaten: »Hieraus erhellt also, daß der Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört und der Mensch von Natur ein staatliches Wesen ist.« 14 Sein Glück könne der Einzelne demnach nur im Gemeinwesen fiinden, weil er nur in Gemeinschaft überlebe und weil nur ein Staat eine selbstgenügsame Einheit bilde. Diese dient als Rahmen, in dem das Individuum sich dann tugendhaft einrichten kann. Eine stabile Ordnung ist demnach nicht das Ziel, sondern lediglich grundlegende Voraussetzung für individuelle Glückseligkeit. Während Aristoteles auf Kontinuität mittels zuverlässiger Gesetzgebung baute, nutzte Alexander der Große für seine Ziele die dynamisierende Wirkung persönlicher Macht. Den Feldherrn interessierte die Tugendhaftigkeit und Glückseligkeit seiner Untertanen nicht, sondern allein die Durchsetzung seines Willens, womit er die Welt unmittelbar veränderte. Das Zeitalter der Stadtstaaten war abgelaufen und auch in Europa traten von nun an große Reiche an ihre Stelle. Vielleicht entfaltete Aristoteles’ Philosophie deshalb erst Jahrhunderte später ihre ganze Wirkung, wo sie unter anderem dazu diente, im Mittelalter das 14 Pol 1253a in Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden. Band 4, S. 4. 56 <?page no="56"?> Festhalten an der gegebenen Ordnung im Dienste der Stabilität zu rechtfertigen. Darüber hinaus liegt ihre Popularität sicherlich auch darin begründet, dass wohl bis heute niemand mehr ein Werk vorgelegt hat, das so viele Themenbereiche abdeckt (und das obwohl gar nicht alle aristotelischen Texte überliefert sind): Logik, Sprache, Rhetorik und Poetik werden ebenso erschöpfend reflektiert wie Geografiie, Biologie, Psychologie, Ethik, Staatslehre und Metaphysik. Aristoteles geht abwägend vor, man kann den Eindruck gewinnen, zuweilen auch klare Positionen vermeidend, worunter am Ende die Systematik leidet, wie der deutsche Systematiker Georg Wilhelm Friedrich Hegel später bemängeln wird: »Ein System der Philosophie haben wir nicht im Aristoteles zu suchen. Aber über den ganzen Umkreis der menschlichen Vorstellungen verbreitet sich Aristoteles, er hat sie seinen Gedanken unterworfen; seine Philosophie ist so umfassend.« 15 Stabilität bildet das Ziel der politischen Philosophie des Aristoteles. Eine Monarchie zieht er als Stabilitätsgaranten dabei gar nicht erst in Betracht, was angesichts der zeitlichen Umstände nicht verwundern muss, hatte das monarchische Makedonien doch nicht nur seine Heimatstadt zerstört, sondern brachte auch die gesamte griechische Staatenwelt so durcheinander, dass der harmlose Philosoph Athen verlassen musste. Trotzdem hing das Herz und vielleicht mehr noch der Verstand an der Stadt, denn nach dem Sieg seines Schülers über die Griechen kehrte Aristoteles sogleich in die Heimat Platons und Sokrates’ zurück. Gleichwohl hing sein Schicksal weiterhin von jenem Alexanders ab. Als der Perser-Bezwinger im Jahr 323 vor Christus starb, musste sein ehemaliger Lehrer erneut fliehen, um wenige Monate später im Alter von 62 Jahren ebenfalls aus dem Leben zu scheiden. Schlussendlich hat Aristoteles nicht jenes Leben gefunden, das er sich gewünscht hatte. Er strebte ein ruhiges Dasein an und sah die Aufgabe des Staates darin, ihm genau das zu ermöglichen. Eine Rolle, die dem Staatswesen auch heute noch gerne zugewiesen wird: Rechtliche und körperliche Sicherheit sollen garantiert werden, sodass die Bürger weitgehend unbehelligt ihrem Leben nachgehen können. Es soll den Menschen ein Umfeld geboten werden, in dem jeder nach seiner Façon glücklich werden kann. Seine Zauberformel für eine 15 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 145. 57 <?page no="57"?> solchermaßen stabile Politie, wird noch immer gerne in Anspruch genommen: Eine abgemilderte Mitbestimmung durch das Volk und eine starke Mittelschicht. Wirksame Wege, den Einfluss des Volkes zu begrenzen, wurden viele gefunden; wirksame Wege, die Mittelschicht zu stärken, dagegen nicht. Immer wieder scheint sie gefährdet. Kann es deshalb auf längere Sicht keine Hofffnung auf eine gute Regierung geben? Oder geht es vielleicht auch ohne Mittelschicht? Und durch welche Form der Mitbestimmung wird diese eigentlich gestützt? Tut ihr etwas mehr ungedämpfte Demokratie, wie das in Athen der Fall war, vielleicht sogar gut? Oder kann eine Staatsform Stabilität bringen, die den Griechen unbekannt, den Römern dafür umso vertrauter war? 58 <?page no="58"?> 5 Woher stammte Ciceros Leidenschaft für die Republik? Als Alexander der Große starb, kämpften die Römer gerade um die Vorherrschaft auf dem italienischen Stiefel. Nach zähem Ringen unterwarfen sie die Etrusker und Kelten im Norden und die Samniten im Süden, sodass Rom im Jahr 282 vor Christus fast die ganze Halbinsel beherrschte. Neben einigen Bergvölkern behauptete sich noch die alte griechische Kolonie Tarent am Stiefelabsatz. Der Respekt vor dieser stolzen, wehrhaften Stadt war immerhin so groß, dass sich die Römer über 100 Jahre lang an die Vereinbarung gehalten hatten, keine Schifffe in ihre Umgebung zu entsenden. Als aber eine Nachbarstadt Tarents um Hilfe rief, weil sie von Kriegern aus dem Landesinnern belagert wurde, schickten die Römer eine Flotte. Sobald diese den Golf von Tarent erreicht hatte, gingen die Tarenter angesichts des Vertragsbruchs sogleich zum Angrifff über und versenkten die römischen Schifffe. Nachdem anschließend ein Vertreter ihrer Stadt zu allem Überfluss eine römische Gesandtschaft unflätig beleidigt hatte, wurde den Bürgern der griechischen Stadt dann doch ein wenig mulmig zumute und sie sahen sich in Anbetracht des nun bevorstehenden Krieges nach Unterstützung um. Aufgrund ihrer Herkunft hatten sie gute Kontakte nach Griechenland und so traf bald schon König Pyrrhos aus dem nordgriechischen Epirus mit seinen Truppen ein. Dieser war mit Alexander dem Großen verwandt, da beide den gleichen Urgroßvater hatten. Seit dem Tod des grandiosen Perser-Bezwingers tobte rund ums östliche Mittelmeer das Ringen um dessen Nachfolge. Diese Situation versuchte auch Pyrrhos für sein Königreich zu nutzen, das Heimat der Mutter Alexanders war. Angesichts der ebenso schlagkräftigen wie kampferprobten Kriegsparteien im Osten erschien die Unterstützung Tarents gegen eine neuerdings zwar aufstrebende, aber noch weitgehend unbekannte Macht abseits der umkämpften Ländereien Alexanders eine dankbare Aufgabe. Die Römer hingegen waren erstmals mit Kriegshandwerk auf höchstem hellenistischem Niveau konfrontiert und unterlagen 59 <?page no="59"?> prompt in einer ersten hart umkämpften Schlacht. Pyrrhos zog daraufhin sogleich gen Rom, um dort die Unabhängigkeit Süditaliens einzufordern. Für die Römer war die Lage so ernst, dass sie drauf und dran waren, in die Forderung einzuwilligen. Erst als der greise, erblindete Senator Appius Claudius das Wort ergrifff und forderte, man möge den Ruhm Roms nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, kippte die Stimmung und die Verhandlungen wurden abgebrochen. Eine weitere Schlacht war somit unausweichlich. Zwar unterlagen die Römer abermals, doch auch diesmal gab es auf beiden Seiten Verluste in einer Höhe, die Pyrrhos angeblich zu den Worten verleiteten: »Wenn wir noch eine Schlacht über die Römer gewinnen, werden wir ganz und gar verloren sein.« 1 Und tatsächlich zog er sich fünf Jahre später nach einem weiteren Pyrrhos-Sieg ungeschlagen in seine griechische Heimat zurück. Die Römer hingegen erlangten aufgrund ihres »geradezu pathologischen Durchhaltevermögens« 2 die Kontrolle über ganz Italien. Während Alexander in nur 13 Jahren alle Großmächte von der Adria bis zum Indus unterworfen hatte, benötigten die Römer zur Erlangung der Herrschaft allein über Italien weit mehr als 100 Jahre, für die Unterwerfung des gesamten Mittelmeerraums brauchten sie noch einmal 250 Jahre. Dafür dauerte die römische Vorherrschaft danach über Jahrhunderte an, wogegen Alexanders Reich gleich nach dessen Tod zerbrach. Der Makedone hatte seine Gegner in einer Entscheidungsschlacht schnell bezwungen, sodann lediglich die Regierung ausgetauscht, um sogleich zum nächsten Sieg zu eilen. Die Römer dagegen kämpften teilweise jahrzehntelang gegen ein und denselben Feind und setzten sich erst nach zähem Ringen durch, gründeten Kolonien und siedelten eigene Bürger in den eroberten Gegenden an. Langsam zwar, dafür unaufhaltsam breitete sich das römische Volk in Italien aus, überall nahm es Land in Besitz. Mit der Zeit wurde darüber hinaus auch immer mehr Bewohnern der Halbinsel römisches Bürgerrecht zuteil. Der makedonische Siegeszug war untrennbar mit dem militärischen Geschick einer einzigen Person verbunden. Alexander entschied auch Schlachten für sich, in denen seine Truppen numerisch deutlich 1 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 6, S. 36. 2 Jehne, Die römische Republik, S. 40. 60 <?page no="60"?> unterlegen waren. Ein Nachfolger mit nur annähernd vergleichbaren Qualitäten war jedoch nirgendwo zu fiinden. Die Römer hingegen überrollten ihre Gegner oft genug mit ihrer schieren Zahl an Soldaten und deren Disziplin. Jeder wusste, was er zu tun hatte und ordnete sich voll und ganz unter. Roms Expansion war das Ergebnis einer strengen militärischen Ordnung, deren Mitglieder bis hin zum Feldherrn austauschbar waren, so lange sich jeder an seine Aufgaben hielt. Alexander, selbst geradezu ein Titan, führte eine Armee von kampfgewaltigen Helden an. Die Römer hingegen bildeten ein Heer der Namenlosen, dessen Kampfkraft aus einer unnachgiebigen Zucht und Ordnung resultierte. Je unabhängiger die militärische Stärke aber von den Fähigkeiten Einzelner ist, desto mehr kann ihr Erfolg auf Dauer gestellt werden. Dem entsprechend gestaltete sich die römische Herrschaft über den gesamten Mittelmeerraum letztlich als Ergebnis einer bis in die Neuzeit hinein unerreichten Organisation des Heeres. Die allerdings spiegelte in gewisser Weise die politischen Verhältnisse wider, denn die für Rom so typische Regierungsform, die Republik, zeichnete sich ebenfalls durch Einbindung der Massen und einen ungewöhnlich rafffiinierten Aufbau aus. Der Legende nach durch Romulus 753 vor Christus gegründet, wurde Rom zunächst von Königen regiert. Seit jeher aber hatten jene, die sich zu den Gründerfamilien zählten, als Patricier eine Sonderstellung. Alle anderen freien Bürger fühlten sich als Clienten einer bestimmten Patricierfamilie verpflichtet, die sie im Gegenzug rechtlich vertrat und gegen wirtschaftliche Not absicherte und der sie manchmal auch die Freilassung aus vorangegangener Sklaverei verdankten. Als König Tarquinius sich selbst immer weiter über diese mächtige Adelsschicht erhob, wurde er im Jahre 509 vertrieben. Fortan übernahmen die Patricier selbst die Macht. Jährlich wechselnd wurde das Consulat als höchste Amtsgewalt an ein Mitglied des Senats vergeben, in dem die versammelten Patricier sich zum politischen Geschehen berieten. Gewählt wurde ein Consul nicht direkt durch den Senat, sondern ganz im Sinne einer res publica, einer öfffentlichen Sache, durch die Versammlung aller freien Bürger Roms. In dieser comitia curiata stimmten die Bürger allerdings nicht einzeln ab, sondern jeder Familienverband, jede curia, gab ein Gesamtvotum ab. Für die Patricier ergab das eine prima Lösung: Durch seine Einbindung hatte man das Volk nach dem Sturz des Königs auf seiner Seite, 61 <?page no="61"?> zugleich aber die Macht in Händen. Den einfachen Leuten hingegen blieb nennenswerter Einfluss verwehrt, denn als Clienten sahen sie sich durch eben jenen Patricier vertreten, der ihrer curia vorstand und das Wort führte. Auf die Monarchie folgte somit eine Oligarchie mit inszenierter Volksabstimmung. In den darauf folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen mit den benachbarten Etruskern konnte man jedoch auf niemanden verzichten, schon gar nicht auf die große Zahl der einfachen Bürger, die Plebejer. Ein halbes Jahrhundert später kam deshalb eine neue Art Volksversammlung hinzu, diesmal gegliedert nach Wafffengattungen. 98 der 193 Centurien dieser comitia centuriata entfiielen auf Ritter und Schwerbewafffnete. Als Begründung wurde wieder einmal die teure Ausrüstung angeführt. Die reiche Bevölkerungsminderheit verfügte damit zwar weiterhin über Stimmenmehrheit, doch immerhin konnten sich jetzt die Plebejer über die Centurien der Leichtbewafffneten Gehör verschafffen, ohne von der Hierarchie der Familienverbände vollständig mundtot gemacht zu werden. Ähnlich wie bei den Athenern hing das Stimmrecht ganz offfensichtlich vom Beitrag zur Verteidigung des Staates ab. In Rom kam es zwar nicht zu einer Gleichbehandlung, ignorieren konnte man die Plebs aufgrund ihres unübersehbaren militärischen Werts allerdings nicht mehr. Von den jährlich neu zu besetzenden Staatsämtern, durch die der gesamte römische Staat gelenkt wurde, waren die Plebejer weiterhin ausgeschlossen. Diese Magistrate wurden ausschließlich durch Mitglieder des dreihundertköpfiigen Senats besetzt, in dem nach wie vor die Fäden der gesamten römischen Politik zusammen liefen. Da die Magistrate zu hohem Ansehen verhalfen, konkurrierten die Senatoren mit vollem Einsatz um die Wahl zu einem Staatsamt und brachten dafür nicht selten auch erhebliche Geldmittel aus ihrem Privatvermögen auf, die durch die Einnahmemöglichkeiten eines Amtsinhabers dann mehr als aufgewogen wurden. Letztlich ging es allerdings nicht nur um Geld, sondern mehr noch um Ruhm und Ehre. Das versprach das Amt des Consuls in besonderem Umfang, weil es den Oberbefehl über das Heer einschloss und bei den erfolgsverwöhnten Römern beinahe jeder Krieg siegreich verlief. Mit den überaus disziplinierten Soldaten trugen oft genug auch militärisch weniger begabte Consuln Siege davon. Diese Gemengelage führte dazu, dass bei der jährlichen Wahl die Feldherrnqualitäten nicht unbedingt ausschlaggebend waren, was 62 <?page no="62"?> gegen starke Gegner gelegentlich hohe Verluste mit sich brachte. Die politische Vorrangstellung der Patricier blieb so lange bestehen, wie das Römische Reich expandierte und dadurch alle Römer von Beute und Landgewinn profiitierten. Als Anfang des 4. Jahrhunderts vor Christus Gallier einfiielen, den Römern eine verheerende Niederlage beibrachten, Rom plünderten und damit die Sicherheit der einfachen Bevölkerung nicht mehr gewährleistet war, stellte dies gemäß der militärischen Denkweise zwangsläufiig den exklusiven Führungsanspruch infrage. Die Plebejer waren nicht mehr bereit, ihren Ausschluss von den Staatsämtern hinzunehmen und erlangten im Jahr 367 ebenfalls das Recht, Magistrate zu besetzen. Damit Plebs und Senat jeweils einen Vertreter stellen konnten, wurden fortan jährlich jeweils zwei Consuln gewählt. Diese füllten das höchste Amt gemeinsam aus und konnten jeweils ihrem Kollegen nicht gewünschte Maßnahmen durch ein Veto verbieten, sodass sich ein patricischer und ein plebejischer Consul gegenseitig kontrollierten. Der Einfluss des einfachen Volkes sollte 80 Jahre später nochmals zunehmen. Immer noch unzufrieden mit ihrem verminderten Stimmrecht hatten die Plebejer ein concilium plebis geschafffen, was einem dritten Volksversammlungstyp, diesmal gegliedert nach Wohnbezirken, entsprach. Wenige Jahre vor der Ankunft von König Pyrrhos erlangte diese Versammlung weitreichende Befugnisse. Sie konnte Volkstribune wählen, die ebenfalls mit einem Vetorecht allen anderen Magistraten gegenüber ausgestattet waren, und sie konnte verbindliche Gesetze erlassen. Damit war es nicht mehr möglich, gegen das Volk zu regieren. Trotzdem blieb der Einfluss der Patricier weiterhin erheblich, denn die Volksversammlungen konnten nicht selbst die Initiative ergreifen, sondern waren auf vorformulierte Eingaben angewiesen, die im Senat vorab beraten worden waren. Zudem durften auch nur Inhaber von Magistraten eine Volksversammlung einberufen. Ohne Massenmedien modernen Stils waren diese Einberufungen der Bürger die einzige Informationsquelle, die entsprechend einseitig ausfiiel. Bis zuletzt blieb dadurch das eigentliche politische Geschäft in den Händen des Senats, auch wenn um die Zustimmung der Plebejer geworben werden musste. Immerhin verlieh diese Ordnung dem Staat Stärke und Stabilität, denn in den darauf folgenden 200 Jahren gewannen die Römer zunächst in einem mühsamen Krieg gegen die von Hannibal angeführten Karthager die Herrschaft über die Länder 63 <?page no="63"?> um das westliche Mittelmeer und später durch eine Unterwerfung von Griechen und Makedonen auch über jene um das östliche Mittelmeer. Das republikanische Zeitalter machte Rom zum Herren rund um das Mare Mediterraneum. Ihre Kraft schöpfte die Republik aus der Einbeziehung aller, wenn auch nicht völlig gleichberechtigt. Lange Zeit blieb dabei die Plebs in erster Linie ihrem Beruf, das heißt in den meisten Fällen ihrer Landwirtschaft, eng verbunden. Der Militärdienst war ursprünglich nur Mittel zum Zweck der Verteidigung der eigenen Lebensgrundlagen, des eigenen Landes. Aufgrund ihres häufiig erfolgreichen Verlaufs waren die Kriege allerdings nicht nur gefährliche Verteidigungspflicht, sondern brachten durchaus Vorteile: Es wurde Beute gemacht und Land zugeteilt, sodass sich zuvor besitzlose Bürger eine eigene Existenz aufbauen konnten; ab 167 vor Christus wurden keine Steuern mehr erhoben, weil niedergeworfene Völker genug Tributzahlungen leisten mussten; ab 123 wurde der Getreidepreis bezuschusst; und 65 Jahre später gab es Getreide in der Stadt Rom sogar kostenlos. Aufgrund immer größerer Beute aus den Feldzügen in immer fernere Länder wandelte sich das Soldatenleben von einer vorübergehenden Verteidigung des Gemeinwesens, dem man sein eigenes Dasein verdankte, hin zu einem einträglichen Beruf. Die zunehmenden Entfernungen im Laufe der römischen Expansion verlangten häufiig eine mehrjährige Abwesenheit von zu Hause, das war jedoch mit eigener Landwirtschaft unvereinbar. Deshalb verteidigten mit der Zeit immer weniger Landwirte im Krieg ihren zurückgelassenen Besitz, sondern Landlose zogen aus und hoffften, durch Plünderungen Vermögen an sich reißen zu können. Die Armee von Bauernsoldaten verwandelte sich in ein Berufsheer. Als dem Consul Lucius Cornelius Sulla Felix im Jahr 88 vor Christus kurz vor seinem Aufbruch zu einem lukrativen Feldzug nach Kleinasien vom Senat plötzlich der Auftrag dazu wieder entzogen wurde, brach er deshalb ein Tabu: Unterstützt von den Soldaten, die sich um ihre mögliche Beute betrogen sahen, marschierte Sulla gegen die eigene Hauptstadt und überwältigte Rom mit dessen eigenen Kriegern! Damit war eine politische Option geschafffen, die niemand zuvor in Betracht gezogen hatte, die fortan allerdings nicht mehr aus der Welt zu schafffen war. In den folgenden Jahrzehnten taten es immer wieder Kommandeure dem Sulla gleich, sodass mehrere Bürgerkriege die 64 <?page no="64"?> Folge waren. Noch behauptete sich die Republik - nicht zuletzt weil Sulla nach zwischenzeitlicher Diktatur die Rückkehr zur Republik selbst betrieb. Doch der Mann, der diese typisch römische Regierungsform endgültig zu Fall bringen sollte, hatte das Licht der Welt bereits erblickt. Der am 13. Juli 100 vor Christus geborene Gaius Iulius Caesar entstammte einer alteingesessenen, lange eher unaufffälligen Patricierfamilie. Diese Beschaulichkeit fand mit der Machtergreifung Sullas ihr Ende. Denn der Diktator erfand die berüchtigten Proscriptionen, die ebenso wie sein Marsch auf die Hauptstadt fortan in der römischen Geschichte viele Nachahmer fanden. Auf diesen Listen fanden sich Personen, die jedermann straflos töten durfte und deren Vermögen eingezogen wurde. Es gab sogar Kopfgeld. Die Proscriptionen galten all denjenigen, die sich Sulla entgegengestellt hatten; allen voran Gaius Marius, auf dessen Betreiben hin der Senat Sulla das Kommando für den Kleinasien-Feldzug entzogen hatte, um es ihm selbst zu geben. Das gelang Marius nur, weil dieser zuvor insgesamt sieben Mal, so oft wie niemand sonst in der Geschichte der römischen Republik, das Amt des Consuls bekleidet hatte und damit einer der einflussreichsten Männer Roms war. Mit seinen 19 Jahren spielte Caesar selbst politisch zwar noch keine Rolle, allerdings war Marius sein Onkel. Außerdem hatte der Spross aus dem alten römischen Geschlecht der Iulier in Cornelia die Tochter eines umtriebigen Anhängers des Marius geheiratet. Er war somit auf zweifache Weise verwandtschaftlich mit jener Gruppe verbunden, der die Proscriptionen galten. Trotzdem bot Sulla dem unbedeutenden, jungen Mann Milde an, sofern dieser sich von Cornelia scheiden lasse. Doch Caesar ging darauf überraschend nicht ein, obwohl Ehen unter römischen Patricierfamilien nicht aus Liebe, sondern aus Gründen der Macht und des Geldes geschlossen wurden; Scheidungen folglich ebenso leichtfertig wie häufiig stattfanden. Stattdessen floh Caesar und entging nur deshalb der Ermordung, weil die Kopfgeldjäger ihn verschonten und sich mit einer großzügigen Geldzahlung zufrieden gaben. Sechs Jahre später, Sulla war zwischenzeitlich gestorben, machte sich Caesar auf die für Patricier übliche Bildungsreise in das ob seiner Kultur und Wissenschaft verehrte Griechenland. Auf halbem Weg fiiel er Piraten in die Hände, die ihn gegen Lösegeld bald schon wieder 65 <?page no="65"?> frei ließen. Der 25-Jährige aber suchte nicht einfach erleichtert das Weite, sondern wollte die Piraten keinesfalls ungestraft davonkommen lassen. Unmittelbar nach seiner Freilassung kaufte er sich deshalb eine eigene private Streitmacht und ergrifff die Piraten, um sie dem römischen Statthalter zu übergeben. Da dieser mit der Verurteilung zögerte, ließ Caesar seine Gefangenen eigenmächtig ans Kreuz schlagen. Ein Durchsetzungswille trat zutage, der fortan ohne Unterlass voran strebte. Zurück in Rom machte sich der Piratenjäger sogleich daran, den Bürgern prachtvolle Wagenrennen und andere Spiele zu bieten, wofür er Plutarch zufolge gewaltige Schulden anhäufte. Ohne Bedenken gab Caesar gewaltige Summen aus, so daß es schien, er tausche sich um den Preis eines riesigen Aufwandes einen kurzlebigen Eintagsruhm ein, während er in Wahrheit mit geringen Kosten das Höchste erkaufte. Seine Schulden sollen sich, bevor er überhaupt ein Amt bekleidete, auf dreizehnhundert Talente belaufen haben. 3 Seine Großzügigkeit dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass Caesar im Alter von 37 Jahren zum Pontifex Maximus gewählt wurde. Obschon allein die Kandidatur einer Provokation gleichkam, weil das Amt des Oberpriesters bislang mit der Weisheit altgedienter Herren in Verbindung gebracht wurde. Tatsächlich war Caesar bei der Wahl gegen zwei deutlich ältere, verdiente Senatoren angetreten. Da es keine festgeschriebenen Regeln gab, konnte man es dennoch wagen, die Volkswahl durch Freigiebigkeit an Stelle von Weisheit für sich zu entscheiden. Ohne Not, dafür vom Willen sich durchzusetzen getrieben, hatte Caesar alles auf eine Karte gesetzt, denn als Verlierer nach einer solchen Dreistigkeit wäre sicherlich auch die anschließende Wahl zum Praetor unwahrscheinlich geworden. Dieses Amt des Statthalters mit hohem Einkommen benötigte er nach all den Jahren mit horrenden Ausgaben allerdings dringend. Ebenfalls im Jahr 63 vor Christus trat der sechs Jahre ältere Marcus Tullius Cicero im vorgegebenen Mindestalter von 43 Jahren das Consulat an und deckte die Verschwörung des Lucius Sergius Catilina auf. Dieser war zwei Mal bei Consulwahlen durchgefallen und sah sich nun jener Situation gegenüber, die kurz zuvor auch Caesar gedroht 3 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 5, S. 105. 66 <?page no="66"?> hatte: Er war schmählich gescheitert und zugleich hofffnungslos verschuldet. Rettung erhofffte sich Catilina von einem Umsturz. Doch Cicero entlarvte die Pläne, brachte den Verschwörer sowie seine Komplizen zu Fall und forderte im Senat die Todesstrafe. Angesichts der Bedrohung der Republik folgten die Senatoren anfänglich dem Ansinnen, dann aber ergrifff Caesar das Wort und wies auf das grundlegende Recht eines jeden römischen Bürgers hin, wonach der Hinrichtung ein Volksbeschluss vorangehen müsse; ein Senatsbeschluss allein hingegen reiche nicht aus. Vorübergehend drohte die Stimmung im Senat zu kippen, ehe am Ende doch die Todesstrafe beschlossen wurde. Cicero ließ das Urteil vollziehen und genoss fortan Hochachtung, verstand es in seiner Geltungssucht jedoch nicht, damit pfleglich umzugehen, wie Plutarch verdeutlicht: Damals stand Cicero auf der Höhe seines Ansehens, machte sich aber bei vielen verhaßt, nicht durch irgendwelche schlechten Handlungen, sondern dadurch, daß er sich immerfort selbst lobte und rühmte, erregte er den Widerwillen vieler. Kein Senat, keine Volksversammlung, kein Gericht konnte zusammentreten, bei dem man sich nicht das Gerede über Catilina und Lentulus anhören mußte. Am Ende füllte er auch seine Bücher und Schriften mit diesen Lobpreisungen der eigenen Person, und seinen sonst so schönen, anziehenden und geistvollen Vortrag machte er für die Hörer widerwärtig und abstoßend, weil ihm immer wie ein Fluch diese Geschmacklosigkeit anhaftete. 4 Cicero verspielte Sympathien und ebnete dadurch den Raum für Anfeindungen. Während er sich lautstark als Retter Roms pries, sah mancher in ihm weiterhin einen Mann, der widerrechtlich die Hinrichtung eines römischen Bürgers herbeigeführt hatte. Der Consul machte alles noch schlimmer, indem er von einem Verdächtigen Geld annahm, um ihn im Gegenzug vor Gericht von jeglicher Beteiligung an der Verschwörung Catilinas loszusprechen. Die Bestechlichkeit flog auf und ein zweifelhafter Ruf war die Folge: Der anerkanntermaßen wortgewandteste Redner Roms war offfenbar bereit, seine Redegewalt in schlechtester sophistischer Manier zu verkaufen. Im folgenden Jahr kehrte der mächtigste Mann jener Zeit, Gnaeus Pompeius Magnus, von einem Feldzug zurück. Unter Sulla als Feld- 4 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 4, S. 276 f. 67 <?page no="67"?> herr früh zu Ansehen gelangt, hatte Pompeius dem Piratenunwesen im Mittelmeer ein Ende bereitet. Außerdem hatte er in Kleinasien eine empfiindliche Niederlage der Römer verhindert und für Ordnung gesorgt. Pompeius war militärisch überaus erfolgreich, dem Senat sogar ein wenig zu erfolgreich. Zurück in Rom verlangte der siegreiche Feldherr die Verteilung von Land an seine Soldaten, um sie in durchaus üblicher Weise für ihre Verdienste zu belohnen. Einflussreiche Senatoren wollten ihm das allerdings nicht zugestehen, um deutlich zu machen, wer Herr im Haus ist. Caesar sah die Chance, sich die Gunst des mächtigen Pompeius zu sichern, indem er sich auf dessen Seite schlug. Zusammen mit dem reichsten Mann Roms, Marcus Licinius Crassus, wurde ein Triumvirat gebildet: Sie versprachen einander, dass fortan nichts geschehen solle, was einem der drei missfiiel. Gemeinsam hatten sie genug Einfluss, um genau das zu erzwingen. Bereits für das Jahr 59 gelang es ihnen, die Wahl Caesars zum Consul herbeizuführen, was sogleich dazu genutzt wurde, Pompeius’ Soldaten zufrieden zu stellen. Bei der Durchsetzung seiner Anliegen war man nicht zimperlich. Marcus Calpurnius Bibulus, der zweite Consul neben Caesar, wurde mithilfe von Schlägertrupps ferngehalten und damit daran gehindert sein Veto einzulegen. Als der Senat erschrocken dieses Vorgehen gewähren ließ, zog sich Bibulus schmollend in sein Privathaus zurück und machte damit seinem Gegenspieler den Weg frei. Von Gewalt eingeschüchtert nahmen Senat und Volk so manchen Rechtsbruch vorerst hin. Man glaubte, Caesar zur Rechenschaft ziehen zu können, sobald er nicht mehr durch die Bekleidung eines Staatsamts vor einer Strafverfolgung geschützt wäre. Wollte er dem entgehen, war nach Ablauf seines Jahres als Consul dringend ein neues Magistrat vonnöten. Damit ging Caesar erneut hohes Risiko, um seine Ziele zu erreichen, denn ohne Amt würde seine Karriere schon bald im Strudel juristischer Prozesse ein Ende fiinden. Doch mit Unterstützung seiner Triumvirats-Kollegen gelang es, auf fünf Jahre das Proconsulat für Illyricum sowie für Gallia (das damals nur Norditalien und Südfrankreich umfasste) übertragen zu bekommen. Dort feierte Caesar außerordentliche militärische Erfolge. Nach und nach brachte er das ganze Gebiet des heutigen Frankreich und Belgien vom Mittelmeer bis zum Kanal und vom Atlantik bis zum Rhein unter römische Kontrolle, sogar nach England setzte er über. Im Wissen, dass in Rom nur militärische Erfolge zählten, ging er 68 <?page no="68"?> dabei äußerst skrupellos vor und führte nach eigenen Angaben allein an einem Tag den Tod von 430 000 Germanen herbei, darunter viele Frauen und Kinder. 5 Im Jahr 55 vor Christus erlangten Pompeius und Crassus nochmals das Consulat, verlängerten sogleich Caesars Proconsulat um fünf weitere Jahre und teilten sich die Provinzen Hispania beziehungsweise Syria unter sich auf. Macht und Zusammenhalt des Triumvirats waren ungebrochen bis Caesars Tochter Iulia, Ehefrau des Pompeius, im Jahr darauf starb. Die Verbindung begann zu bröckeln und löste sich endgültig als Crassus auf einem Feldzug im Osten getötet wurde. Dies war die Zeit, in der Cicero mit De re publica eine Verteidigung der römischen Staatsform verfasste. Eine Zeit, in der die Republik über Jahrhunderte hinweg Stärke und Stabilität verliehen hatte. Aber in den letzten Jahrzehnten auch eine Zeit, in der einzelne Personen enorme Macht anhäufen konnten. War die römische Geschichte lange vom Ringen zwischen Senat und Volk geprägt gewesen, wobei das Volk schrittweise an Einfluss gewonnen hatte, so fand die Auseinandersetzung zuletzt häufiiger zwischen einzelnen Senatoren statt, die mit allen Mitteln versuchten, Macht an sich zu reißen. Längst waren sie auch dazu bereit, jenen friedlichen Rahmen zur Austragung von Machtkämpfen zu verlassen, den die Republik vorgegeben hatte. »Ausgeglichenheit« und »Beständigkeit«, 6 die nach Cicero beide den republikanischen Erfolg bislang ausgemacht hatten, waren gefährdet. Der ehemalige Consul machte sich nun daran, die Stärken jener Staatsform herauszustellen, die er allen anderen von Platon und Aristoteles beschriebenen Formen für weit überlegen hält. Monarchie, Aristokratie und Demokratie seien zwar erträglich: Aber in Monarchien haben alle übrigen zu wenig Anteil an dem gemeinsamen Recht und der planvollen Leitung des Staates; in der Aristokratie kann die Menge, da ihr jede Beteiligung an der planvollen Leitung und an der Macht fehlt, kaum Anteil an der Freiheit haben; und in der Demokratie, wenn alles vom Volk entschieden wird (und mag dieses noch so gerecht und maßvoll sein), ist die Gleichheit selbst ein Element der Ungerechtigkeit, da sie keine Rangstufungen kennt. 7 5 Caesar, Der Gallische Krieg, S. 96. 6 rep 1,69; Cicero, De re publica. Vom Staat, S. 91. 7 rep 1,43 in ebd., S. 57 f. 69 <?page no="69"?> Deshalb erachtet Cicero als beste Staatsform eine, »die aus den drei genannten maßvoll gemischt ist«, 8 wobei die beste Mischung sein geliebtes Rom selbst hervorgebracht habe: »Keiner von allen Staaten ist nach seiner Verfassung, der Verteilung der Gewalten und nach seiner geregelten Ordnung mit dem zu vergleichen, den unsere Väter uns hinterlassen haben, wie sie ihn von ihren Vorfahren empfangen hatten.« 9 Die Republik wurde von den Römern geschätzt und verehrt. Sie wurde als Vermächtnis der Ahnen verstanden und nicht infrage gestellt. Das gesellschaftliche und das staatliche Gefüge waren untrennbar verbunden und wurden als »Gewohnheit« 10 gelebt. Die Änderungen, wie sie sich im Lauf der Jahrhunderte ergeben hatten, galten den Römern nicht als ein Abweichen vom überlieferten Weg, sondern als notwendige Anpassungen, um das republikanische Gefüge unter veränderten Bedingungen aufrecht zu erhalten. Die Republik tritt folglich nicht als Drittes neben Volk und Recht, sondern verknüpft beides, deshalb ist sie für Cicero »die Sache des Volkes (res populi); Volk aber ist nicht jede beliebige Ansammlung von Menschen, sondern der Zusammenschluss einer Menge, die einvernehmlich eine Rechtsgemeinschaft bildet und durch gemeinsamen Nutzen verbunden ist.« 11 Die Republik ist Sache des Volkes, insofern sie alle Bürger zu einer Rechtsgemeinschaft zusammenfasst. Zwar geht die Gesetzgebung nicht unmittelbar vom Volk aus, und doch kann sie nicht gegen seinen Willen erfolgen. Die Republik ist Sache des Volkes, insofern sie niemandem zu viel Macht verleiht. Zwar herrscht das Volk nicht selbst, und doch verleiht es allein die Regierungsmacht an einen ausgewählten Personenkreis. Die Republik ist Sache des Volkes, insofern sie zu dessen Nutzen besteht. Zwar entscheidet das Volk nicht unmittelbar, was es für nützlich hält, und doch müssen sich die Regierenden am Wohl des Volkes orientieren, wollen sie an der Macht bleiben. Die Republik ist Sache des Volkes, aber sie ist keine Demokratie. Das Volk herrscht nicht direkt, sondern vermittelt über komplizierte Mechanismen und Gremien. Nach antikem Verständnis sind demgemäß die 8 rep 1,45 in Cicero, De re publica. Vom Staat, S. 61 f. 9 rep 1,70 in ebd., S. 93. 10 Bleicken, Die Verfassung der Römischen Republik, S. 149. 11 rep 1,39 in Cicero, De re publica. Vom Staat, S. 55. 70 <?page no="70"?> heutigen Industriestaaten keine Demokratien, sondern Republiken. Ganz im Sinne Ciceros sollen Wahlen die Teilhabe an Recht und Freiheit gewähren, parteigebundene Politiker sollen Beständigkeit und Ausgeglichenheit fördern, und die gegenseitige Kontrolle von Regierung, Gesetzgebung und Rechtsprechung soll schließlich verhindern, dass jemand zu viel Macht an sich zieht. Schlussendlich hängt die Stabilität der Republik davon ab, wie sehr sie die verschiedenen Kräfte ausgleichen kann. In Rom war der Glaube an die Republik auch zur Zeit des Triumvirats ungebrochen, weshalb dieses nicht offfen als Bündnis auftreten durfte. Dennoch gelang es der alten Ordnung immer weniger sich gegen das Machtverlangen Einzelner zu verteidigen. Das Versagen der Republik lag weniger darin, dass sie Caesar, Pompeius oder auch Sulla in ihrer vollen Machtfülle nicht standhielt, sondern vielmehr darin, dass Einzelne innerhalb der bestehenden Ordnung überhaupt genug Macht auf sich vereinigen konnten, um der Staatsordnung gefährlich werden zu können. Bereits damit waren die Voraussetzungen der Republik verletzt. Lange wurde der Senat vom Interesse getragen, nur gemeinsam in der feindlichen Welt von Kelten, Karthagern oder Griechen bestehen zu können, wo jeder Sieg zudem einen Zugewinn an Macht und Einfluss für alle bedeutete. Nachdem die unangefochtene Herrschaft über den gesamten Mittelmeerraum errungen war, brachten weitere Siege für die Gemeinschaft jedoch kaum zusätzlichen Machtgewinn, demgegenüber für den siegreichen Feldherrn umso mehr. Die Senatoren gewannen nun nicht mehr gemeinsam an Einfluss, sondern Einzelne auf Kosten der anderen. Der Kuchen wuchs nicht mehr und der Kampf um die Verteilung war in vollem Gange. Nachdem spätestens seit Caesars Consulat Schlägertrupps zum alltäglichen Straßenbild gehörten, brachen 52 vor Christus in Rom so schwere Unruhen aus, dass sich der Senat gezwungen sah, den durchsetzungsfähigen Pompeius mit seinen Truppen um Hilfe zu rufen und ihm ein Consulat ohne Kollegen anzuvertrauen. Damit war aus dem Mitglied des Triumvirats ein Vertrauter des Senats geworden. Pompeius unterstrich den Seitenwechsel durch die Heirat der Tochter eines Caesar-Gegners. Für Caesar rückte das Ende seines Proconsulats näher und der Senat setzte eine Frist für die Auflösung seines Heeres. Bei einer Rückkehr nach Rom ohne Amt wollte man ihn noch immer wegen seiner Gesetzesverstöße als Consul zehn Jahre zuvor 71 <?page no="71"?> belangen und Caesar sollte sich dem endlich fügen. Falls die Senatoren tatsächlich geglaubt hatten, der Eroberer Galliens würde einlenken, so sahen sie sich allerdings getäuscht. Der hatte noch niemals klein beigegeben und auch nicht vor, es diesmal zu tun. Statt dessen zog er es wieder einmal vor, alles auf eine Karte zu setzen. Angesichts seiner »Zwangslage« 12 überschritt Caesar mit nur einer Legion (circa 5000 Mann) jenen Grenzfluss, ab dem es verboten war, Truppen näher an Rom heranzuführen, nicht ohne zuvor die berühmt gewordenen Worte zu sprechen: alea iacta est! Als er nun an den Fluß kam, der das diesseitige Gallien von dem übrigen Italien trennt - Rubikon mit Namen -, da verfiel er in tiefes Nachdenken, je mehr er sich dem entscheidenden Punkt näherte, ein Schwindel ergriffihn vor der Größe seines Wagnisses, und er hielt den Wagen an. [...] Endlich entriß er sich mit heftiger Bewegung seinen Grübeleien und tat den Schritt in die Zukunft. Er sprach dabei ein Wort, das diejenigen gebrauchen, die sich auf ein gewagtes Abenteuer einlassen: ›So soll der Würfel denn geworfen sein! ‹, und schritt rasch zum Übergang. 13 Rom war auf dieses Wagnis vonseiten Caesars nicht vorbereitet. Eiligst vom Senat mit der Verteidigung der Stadt beauftragt, konnte Pompeius in der Kürze der Zeit nicht genügend Soldaten rekrutieren und setzte, ohne den Kampf aufgenommen zu haben, mit seinen Soldaten und vielen Senatoren nach Griechenland über. Mangels Flotte folgte Caesar erst im Jahr darauf nach und blieb in der entscheidenden Schlacht siegreich. Pompeius floh allein nach Ägypten, wo er ermordet und sein Kopf dem nachgereisten Bezwinger und ehemaligen Schwiegervater übergeben wurde. Dieser makabren Schenkung zum Trotz verliebte sich Caesar in die ägyptische Königin Cleopatra VII. Philopator, die ihm bald schon einen Sohn schenkte, verweilte anschließend noch einige Monate in diesem Liebesnest ehe er wieder in den Kampf zog und alle römischen Provinzen unterwarf. Zurück in Rom ließ er sich 46 zum Diktator für zehn Jahre ernennen, um keine zwei Jahre darauf die Zeit der Republik zu beenden, indem er die lebenslängliche Diktatur, dictatura perpetua, ausrief. Damit 12 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 5, S. 166. 13 Ebd., S. 151 f. 72 <?page no="72"?> besiegelte er jedoch sein eigenes Ende, denn nun war offfenkundig, dass Caesar tatsächlich die verhasste Alleinherrschaft anstrebte und anders als Sulla zuvor, sie nicht als Übergangsphase betrachtete, um zur Republik zurückzukehren. Das aber konnten überzeugte Republikaner ebenso wenig wollen wie machtgierige Konkurrenten. So wurde der Diktator nur vier Wochen später im März 44 vor Christus Opfer einer Verschwörung von rund 60 Männern, die ihn im Senat ermordeten. Cicero war nach einigem Zögern Pompeius gefolgt, als dieser nach Griechenland floh. Nach dem Sieg Caesars kehrte er reumütig zurück, nicht ohne später wiederum die Ermordung des Diktators zu billigen. Mochte auch mancher ihm diesen Wankelmut übelnehmen, so wurde er dennoch zur Führungsfiigur für die Wiederherstellung der Republik. »Ciceros Macht in der Stadt erreichte jetzt ihren Höhepunkt«, 14 schreibt Plutarch. Die Feinde der Republik machten sich allerdings geschickt Eitelkeit und »Herrschsucht« 15 des Philosophen zunutze, um so dessen Einfluss auf den Senat zu missbrauchen. Am Ende setzten sie sich mit Wafffengewalt durch. Ein zweites Triumvirat verhinderte die Rückkehr zur alten Ordnung und Cicero blieb nur die Flucht, auf der er eineinhalb Jahre nach Caesar ermordet wurde. Bis zuletzt betrachtete Cicero die Republik als jene Regierungsform, die den gemeinsamen Nutzen am besten befördert, während um ihn herum immer häufiiger mächtige Männer versuchten, mit allen Mitteln Macht an sich zu reißen. Große Wertschätzung brachte er jener alten, typisch römischen Regierungsform entgegen, die seiner Familie erst seit etwas mehr als 100 Jahren zuteil wurde. Er selbst war in Arpinum, einer Stadt im Süden Italiens, aufgewachsen, deren Bewohner noch nicht lange als römische Bürger anerkannt waren. Die Republik gering zu schätzen, hätte einen Bruch mit der aufstrebenden Familiengeschichte bedeutet. Ganz anders Caesar, dessen Familie in Rom bereits lange vor der republikanischen Zeit eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Für Cicero war die Republik eine familiäre Errungenschaft, für Caesar hingegen nur Nebensache einer altehrwürdigen Familientradition. Der alteingesessene Römer behielt die Oberhand. Die Zeit der römischen Republik war endgültig vorüber, beendet 14 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 4, S. 302. 15 Ebd., S. 302. 73 <?page no="73"?> durch ein militärisches Genie, das nicht nachgeben konnte und mit unbändigem Machtstreben zur Alleinherrschaft drängte, Plutarch zufolge seinen Rückhalt zugleich einem Führungsstil verdankte, wie er sogar auf Anhänger der Republik nur allzu verführerisch wirken musste: Ein solches Maß an Tapferkeit und Ruhmbegierde weckte und nährte Caesar selber, vor allem dadurch, daß er Geschenke und Beförderungen in reicher Fülle verteilte. Damit wollte er zeigen, daß er die im Krieg erworbenen Reichtümer nicht für sich selber zu Verschwendung und Luxus ansammele, sondern sie als gemeinsamen Lohn für tapfere Taten nur bei sich in Verwahrung nehme und sein eigener Anteil nur darin bestände, alles an verdiente Soldaten weiterzugeben. 16 Die Republik, angetreten um Stabilität zu verleihen, hielt schlussendlich nicht stand. Sie konnte weder die enorme Machtanhäufung einzelner verhindern noch das Sichabwenden der Bevölkerung. Diese profiitierte von der Großzügigkeit Caesars mehr als von einer Republik, in der die Gier der Senatoren das Geschehen bestimmte. Nicht ein Zuviel an Demokratie hat der Republik ein Ende gesetzt, sondern eher ein Zuwenig. Die Magistrate Roms verschaffften manchen Männern Macht in einem Umfang, der sich nicht mehr einhegen ließ. Die Republik konzentrierte Macht undemokratisch bei einigen wenigen Familien, im Glauben diese ließe sich durch organisatorische Vorkehrungen zähmen. Wo immer jedoch Macht sich bündelt, fiindet sie Wege sich durchzusetzen. Aristoteles sah in der Demokratie eine Gefahr der Instabilität und wünschte sich eine gemischte Verfassung. Unter einer solchen blühte Rom tatsächlich auf, die verhängnisvolle Instabilität aber rührte nicht vom Volk, sondern von den Mächtigen. 16 Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 5, S. 133. 74 <?page no="74"?> 6 Woher verspürte Augustinus den Drang, Gottes Reich ins Jenseits zu verlegen? Gaius Octavius bereitete in Griechenland gerade einen Feldzug vor, als er davon erfuhr, dass der Bruder seiner Großmutter ermordet worden war. Sofort machte er sich auf den Heimweg. Noch nicht in Rom angekommen, erfuhr der 18-Jährige, dass er per Testament adoptiert und als Erbe eingesetzt worden war. Dieses wurde allerdings durch Marcus Antonius blockiert, der in Octavius einen neuen Rivalen um die Macht im Staat sah, denn der Adoptivvater war kein geringerer gewesen als Gaius Iulius Caesar. Antonius glaubte, Gaius Iulius Caesar Octavianus (wie der Name nach der Adoption nun vollständig lautete) durch Blockade der gewaltigen Erbmasse kaltstellen zu können, erreichte damit allerdings genau das Gegenteil, weil der junge Erbe die Situation geschickt zu nutzen verstand. Caesar hatte in seinem Testament auch die vielen Soldaten berücksichtigt, die für ihn gekämpft hatten und jetzt auf ihren Anteil warteten. Octavianus sah seine Chance und gewann große Sympathien, indem er die Auszahlung aus seinem eigenen Vermögen bestritt, wofür er sogar eigene Güter verkaufte. Der Beifall der Massen war ihm damit sicher! Als Antonius daraufhin mit seinem Heer vor Rom zog, um die Alleinherrschaft gegen den Caesar-Erben militärisch durchzusetzen, beauftragte der Senat diesen im Jahr 43 vor Christus mit der Verteidigung. Für den jungen Mann war es ein Leichtes, jene erfahrenen Soldaten, denen er soeben zu ihrem rechtmäßigen Erbteil verholfen hatte, für die Aufgabe zu gewinnen und mit ihnen seinen Rivalen zurückzuschlagen. Als der Senat dem Sieger trotz dieser Rettungstat die Ernennung zum Consul verweigerte, wechselte Octavianus jedoch abrupt die Fronten. Er verbündete sich mit dem soeben besiegten Antonius sowie einem weiteren Feldherrn namens Marcus Aemilius Lepidus zum sogenannten Zweiten Triumvirat, dessen geballter militärischer Kraft sich niemand entgegenzustellen 75 <?page no="75"?> wagte. Um nach dem gelungenen Coup jeglichen verbliebenen Widerstand zu brechen, ließen die neuen Machthaber 300 Senatoren, darunter auch Cicero, töten und eigene Mitstreiter an deren Stelle aufrücken. Doch das Triumvirat hatte nicht lange Bestand. Unter den drei Männern entbrannte ein über zehn Jahre währender Bürgerkrieg, aus dem Octavianus als Sieger hervorging. Endlich unangefochtener Alleinherrscher stellte er im Januar des Jahres 27 vor Christus formal die Republik wieder her, nicht ohne für sich das neu geschafffene Amt eines über den Dingen stehenden Erhabenen, eines Augustus zu reservieren. Weil damit die Kontrolle über alle Grenzprovinzen, wo die meisten Legionen stationiert lagen, verbunden war, behielt der neue Caesar alle Machthebel in der Hand. Zugleich konnten sich die Römer an ihren so geschätzten, inzwischen allerdings eher unbedeutenden republikanischen Einrichtungen erfreuen. Die Republik war praktisch durch eine Alleinherrschaft ersetzt worden, dessen Alleinherrscher klug genug war, den verhassten Titel eines Königs konsequent zu vermeiden. Ersatzweise häufte Octavianus bis zu seinem Tod am 19. August 14 nach Christus einige andere Titel an: Imperator Caesar Divi filius Augustus, Pontifex Maximus, Pater patriae etc., zu deutsch etwa Befehlshaber Caesar, Sohn des Vergöttlichten, der Erhabene, Höchster Oberpriester, Vater des Vaterlandes. Ohne dies erahnen zu können, hatte Augustus damit allerdings einen Herrschertitel geschafffen, der für die nächsten 1900 Jahre den Königstitel noch übertrefffen sollte. Fortan trugen die Herrscher über Rom - und irgendwann nicht nur diese - den Namen des vergöttlichten Adoptivvaters: Caesar. Obwohl die offfiizielle Amtsbezeichnung des römischen Herrschers eigentlich Augustus lautete, überdauert der Ruhm des großen Feldherrn im Wort Kaiser bis heute. Der Titel des Pontifex Maximus hingegen löste sich später vom Herrscheramt und ging auf die Päpste über. Unter der von Octavianus eingeführten Ordnung erlebte Rom zunächst eine Blütezeit von mehr als zwei Jahrhunderten, ehe es vermehrt zu Einfällen durch Germanen im Norden und Perser im Osten kam. Erst Marcus Aurelius Gaius Valerius Diocletianus, der 285 - wie in den Jahrzehnten zuvor schon einige Heerführer - mit den von ihm befehligten Soldaten gewaltsam die Macht an sich riss, konnte den sprichwörtlichen Frieden, die Pax Romana wiederherstellen. Was ihm dadurch gelang, dass er zunächst einen Mitkaiser und spä- 76 <?page no="76"?> ter noch zwei weitere Mitregenten benannte, damit an mehreren Stellen gleichzeitig jeweils ein Befehlshaber die Legionen anführen konnte. Anders war auf dem riesigen römischen Territorium vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer, von Rhein und Donau bis zum Nil den Unruheherden nicht beizukommen. Nach den unbestreitbar großen Erfolgen in der Verteidigung des Reichs hielt Diocletianus diese von ihm geschafffene sogenannte Tetrarchie aus zwei Senior- (jeweils mit Titel Augustus) und zwei Juniorregenten (jeweils mit Titel Caesar) für langfristig derart tragfähig, dass er am 1. Mai 305 als einziger römischer Kaiser der Geschichte freiwillig abtrat. Doch der aus einfachen Verhältnissen stammende Diocletianus unterschätzte die Bedeutung einflussreicher Familien. Er glaubte, die verbindende Kraft der Verwandtschaft durchkreuzen zu können, indem er die Söhne der Regenten von der Nachfolge ausschloss und fern von ihren Vätern in seinem eigenen Palast aufziehen ließ. Genau das wollte der junge Flavius Valerius Constantinus im Juli 306 nicht akzeptieren, floh zu seinem Vater, der Augustus im Westen war, und übernahm nach dessen Tod eigenmächtig dessen Position. Er gab er sich aber nicht damit zufrieden, einer von vier Regenten der Tetrarchie zu sein, woraufhin das Reich wieder einmal im Bürgerkrieg versank. Aufgrund seiner Größe umfasste das Römische Reich zwangsläufiig viele Völker und Religionen, die sich gegenseitig weitgehend tolerierten. Ganz anders das monotheistische Christentum: Es beanspruchte von Beginn an kompromisslos Ausschließlichkeit. Diocletianus hatte diese Unvereinbarkeit mit anderen Religionen und vor allem die damit verbundene Weigerung, sich an Kulthandlungen zu Ehren der Kaiser zu beteiligen, noch zum Anlass genommen, gegen die Christen gewaltsam vorzugehen. Constantinus dagegen stand dem Christentum und der Vorstellung einer höchsten Gottheit nicht fern, wenn er auch den Anspruch auf Ausschließlichkeit nicht unbedingt zu teilen schien. Offfenbar fühlte er sich eher in der Tradition seines Vaters dem Sonnengott Apollon verpflichtet, mit dem er nicht selten den Christengott einfach gleichsetzte. Nie hat er sich dem Christentum mit Haut und Haaren verschrieben; dafür war er wohl selbst mit zu vielen verschiedenen religiösen Richtungen in Kontakt gekommen. Angeblich hat er noch nicht einmal auch nur einen einzigen christlichen Gottesdienst besucht, aber er zeigte sich seiner Gottheit dankbar. Seine Eroberung Roms 312 gegen Maxentius, der ebenfalls Diocle- 77 <?page no="77"?> tianus’ Herrschaftsmodell Lügen gestraft und sich eigenmächtig in Nachfolge seines Vaters zum Caesar erhoben hatte, schrieb Constantinus der höchsten Allgottheit zu. Von ihr glaubte er, die Eingebung erhalten zu haben, die Schilde aller Soldaten mit einem Siegeszeichen zu versehen und zwar mit den ineinander verwobenen Buchstaben X und P, den Anfangsbuchstaben des griechischen Wortes für Christus. Unter dem Schutze dieses christlichen Erkennungszeichens wurden die Verteidiger Roms besiegt und die Herrschaft über den westlichen Teil des Reiches erlangt. Von jener erfolgreichen Schlacht an unterstützte Konstantin ganz offfen die Christen bei der Religionsausübung und profiitierte im Gegenzug von deren schnell wachsender Anhängerschaft, die in ihm geradezu einen Schutzpatron sah. Endgültig die Oberhand gewannen die Christen schließlich als im Jahr 324 auch der Caesar des Ostteils des Reiches, Licinianus Licinius, niedergerungen werden konnte. Bei der entscheidenden Schlacht von Hadrianopolis (dem heute türkischen Edirne nahe Bulgarien) sollen 34 000 Soldaten ihr Leben gelassen haben. Um seiner Religion der Nächstenliebe zur Vorherrschaft zu verhelfen, schreckte ihr erster großer Förderer nicht davor zurück, Leid und Tod zu verbreiten. Auch in seinem nächsten Umfeld war er nicht zimperlich. Sogar seine Ehefrau und seinen Sohn ließ er ermorden, sodann seine Geschichtsschreiber die Tat vertuschen, sodass bis heute die Gründe dafür unbekannt geblieben sind. Nicht allzu weit entfernt vom Ort der entscheidenden Schlacht ließ Constantinus an der Stelle des alten griechischen Byzanz eine neue Stadt mit Tempeln und christlichen Kirchen gleichermaßen errichten, die in ihrer lebhaften Geschichte mehrfach ihren Namen ändern sollte: Während ihr Gründer sie Nova Roma taufte, wurde sie ihm zu Ehren nach seinem Tod in Constantinopolis umbenannt und heißt seit der Eroberung durch die Türken über 1000 Jahre später Istanbul. Dorthin verlagerte Constantinus Magnus 330 seine Residenz, was die Loslösung von den bestehenden heidnischen Kulten erheblich erleichterte. Jedoch nicht nur in religiöser Hinsicht markierte der erste christliche Kaiser einen Wendepunkt, sondern auch bei der Vermögensverwaltung: Die Neubauten waren in Umfang und Gestaltung verschwenderisch und auch die Großzügigkeit seinen Getreuen gegenüber hatte einen Umfang, der die Empfänger »jedes Augenmaß 78 <?page no="78"?> verlieren ließ.« 1 Es wurde eine Anspruchshaltung geweckt, hinter die kein zukünftiger Regent mehr zurücktreten konnte, was über kurz oder lang zu Schwierigkeiten fiinanzieller Art führen musste. Das Christentum seinerseits, das in der langen Regierungszeit von Konstantin dem Großen umfangreiche Förderung erfahren hatte, war nach dessen Tod am 22. Mai 337 nicht mehr zurückzudrängen. Noch aber war dessen Anspruch auf Ausschließlichkeit nicht erfüllt, weil dafür alle anderen Religionen hätten weichen müssen. Genau diesen Schritt vollzog Kaiser Flavius Theodosius als er im Jahr 380 das Christentum zunächst zur Staatsreligion erhob, um elf Jahre später alle heidnischen Kulthandlungen ausnahmslos zu verbieten. Seinem Glauben mag er damit zur Macht verholfen haben, seine eigene litt eher darunter. Denn Theodosius, der sich folglich auch nicht mehr als religiöses Oberhaupt sah und vom Titel eines Pontifex Maximus Abstand nahm, hatte der katholischen Kirche dadurch viel Einfluss eingeräumt. Diesen bekam er schnell selbst zu spüren, als der machtbewusste Bischof Ambrosius von Mailand ihn zweimal nach unliebsamen Entscheidungen kurzerhand von der Kirche ausschloss. Ein Vorgang, der im vorchristlichen Rom schon allein deshalb undenkbar gewesen wäre, weil dort der Kaiser eben auch über die religiösen Kulte gewacht hatte. Solange Kulte keine Ausschließlichkeit beanspruchen konnten, hätte ein Ausschluss ins Leere gegrifffen, da man fortan einfach einem anderen Kult hätte huldigen können. Nichtsdestotrotz führte Theodosius seinem Glauben folgend eine Vereinheitlichung auf religiösem Gebiet herbei. Die Einheit des römischen Reichs in politischer Hinsicht hingegen gehörte mit ihm der Vergangenheit an, nachdem er die östliche Hälfte seinem älteren und die westliche seinem jüngeren Sohn vermacht hatte. Schon zuvor war das Römische Reich wie etwa unter Diocletianus so manches Mal aufgeteilt worden, fortan aber sollten Imperium Romanum Occidentale und Orientale nie mehr zusammen fiinden. Schwerer noch wog etwas anderes: Gegenüber äußeren Feinden wurden die Fäden aus der Hand gegeben. Wie schon andere Kaiser vor ihm ließ Theodosius die Ansiedlung eines einfallenden Volkes auf römischem Gebiet zu, erstmals aber ohne dass es sich den Römern unterwerfen musste. Im Gegenteil, der Kaiser des Weltreichs versuchte sich Friedfertigkeit zu 1 Clauss, Konstantin der Große und seine Zeit, S. 70. 79 <?page no="79"?> erkaufen. Dieses Vorgehen war ebenso kostspielig wie wirkungslos. Die Goten nahmen zwar gerne das Geld, ließen sich dadurch aber nicht davon abhalten, trotzdem bei der nächstbesten Gelegenheit plündernd umherzuziehen. Die Lage geriet außer Kontrolle und im August 410 kam es sogar zur Plünderung Roms. Zum zweiten Mal innerhalb von 100 Jahren war die heilige Stadt damit von Christen erobert worden, denn die Goten hingen der selben Religion an wie schon der Eroberer aus dem Jahr 312: Constantinus Magnus. Zugleich bedeutete der Sieg der Goten die erste Plünderung Roms nach dem Einfall der Gallier vor beinahe 800 Jahren. Diese Schmach war zwar noch nicht das Ende des Weströmischen Reiches, doch der Niedergang schritt nun unaufhaltsam voran. Die alte Republik hatte noch römische Senatoren zu Imperatoren berufen, um mit römischen Soldaten gegen äußere Feinde vorzugehen, wobei alle Römer von Tributzahlungen und Landvergaben profiitierten. Im christlichen Kaiserreich verteidigten nun hingegen nicht mehr vorrangig Römer die Grenzen, sondern die Soldaten kamen aus allen Teilen des Reiches oder sogar darüber hinaus, sodass sich manchmal Angehörige eines Volkes - insbesondere der kampfstarken Germanen - in einer Schlacht gegenüber standen. Noch weiter geschmälert wurde die Wehrhaftigkeit des Reichs dadurch, dass nicht selten Kinder auf den Thron kamen, weil ihre kaiserlichen Väter früh verstarben, die Regentschaft aber unbedingt in der Familie halten wollten. Anders als die großen republikanischen Consuln oder später jene Kaiser, die sich die Herrschaft gegen ihre Konkurrenten in Bürgerkriegen erkämpft hatten, konnten diese Kinder die militärische Führung nicht selbst ausüben, sondern mussten ihre Truppen Heermeistern anvertrauen und damit Macht aus den Händen geben. Das wurde schon von Zeitgenossen als fatal erkannt: Die Götter mögen verhindern, daß Knaben Kaiser werden und daß man ›Vater des Vaterlandes‹ Unmündige nennt, denen Schreiblehrer bei der Unterschrift die Hand halten müssen, die sich von Süßigkeiten, Kringeln und anderem Naschwerk für Kinder verlocken lassen, Consulate zu vergeben. O weh, welchen Sinn macht es, einen Kaiser zu haben, der nicht für seinen Ruhm sorgen kann und nicht weiß, was ein Staat ist, der seinen Erzieher fürchtet und nach seiner Amme schielt, der vor den Rutenstreichen seiner Lehrer zurückschreckt und 80 <?page no="80"?> die zu Consuln, Heerführern und Statthaltern ernennt, von deren Leben, Verdiensten, Alter, Familie und Taten er keine Ahnung hat. 2 In Folge der damit verbundenen Führungsschwäche konnte Rom immer seltener Tribute verlangen, sondern bezahlte stattdessen dafür, dass Germanen nicht ins Reich einfiielen. In ihrer Verzweiflung ernannten manche Kaiser auch germanische Anführer zu Heermeistern, um mit deren Truppen gegen andere Germanen vorzugehen. Schon lange nicht mehr verteidigten römische Bauern ihre Ländereien und ihre Existenz, sondern es kämpften Söldner für denjenigen, der am meisten zu bieten hatte. 476 forderte eine solche germanische Söldnertruppe bessere Bezahlung, die ihnen vom kaiserlichen Heermeister aber verweigert wurde. Angeführt von Flavius Odovacer kam es zu einer Meuterei, bei der das kaisertreue Heer unterlag. Der letzte Kaiser, hatte sein Amt weder von seinem verstorbenen Vater übernommen, noch war er vom römischen Volk als Consul zur Verteidigung bestellt worden, und auch nicht aus eigenem Willen zur Macht war er in seine Position gelangt, sondern Romulus Augustulus war dort lediglich von seinem Heermeister und Vater als Marionette eingesetzt worden. Die Machtverhältnisse hatten sich so weit verschoben, dass nicht mehr die »Kaiser ihre Heermeister, sondern Heermeister ihre Kaiser ernannten.« 3 Der siegreiche Odovacer setzte den Jungen kurzerhand ab. Nach 500 Jahren hatte der Kaisertitel zuletzt jedoch so stark gelitten, dass der Eroberer Roms diesen Titel noch nicht einmal führen wollte. In bewusster Abgrenzung nannte sich der Gotenanführer lieber König von Italien. Das Oströmische Reich blieb davon weitgehend unberührt. Es überlebte jene Völkerwanderung, die den Westteil davongefegt hatte, im Windschatten des Schwarzen Meeres einigermaßen unversehrt. Aus Zentralasien kommend, hatten Hunnen die Germanen verdrängt, die ihrerseits allesamt nach Westen zogen. Das Weströmische Reich war deren verzweifelter Flucht nicht gewachsen, Ostrom hielt dagegen noch fast 1000 Jahre stand. Ein Zeitzeuge des römischen Niedergangs war der am 13. November 354 geborene Augustinus, Sohn eines kleinen Landwirts in Nordafrika. 2 Historia Augusta nach Rosen, Die Völkerwanderung, S. 101 f. 3 Brandt, Das Ende der Antike, S. 83. 81 <?page no="81"?> Er wuchs im wichtigsten Getreideanbaugebiet Roms zu einer Zeit auf, in der Constantinus längst die christliche Wende des Reiches eingeleitet hatte. Von der Mutter christlich erzogen, hing Augustinus in seinen Ausbildungsjahren zum Rhetorik-Lehrer zwischenzeitlich anderen Glaubensrichtungen an, bis im Alter von 31 Jahren die völlige Hinwendung zur Religion seiner Kindheit während eines Aufenthalts in Mailand bei genau jenem Bischof Ambrosius erfolgte, der zwei Jahre später Kaiser Theodosius aus der Kirche ausschließen sollte. Das konnte Augustinus zwar nicht ahnen, aber immerhin war das Christentum zum Zeitpunkt der Bekehrung bereits Staatsreligion. Christ zu sein, war folglich kein Wagnis mehr, sondern vom Kaiser per Gesetz vorgegeben. Augustinus ging nach seiner nicht nur gesetzlich bestimmten, sondern nun auch persönlich empfundenen Übernahme des christlichen Glaubens zurück nach Afrika und gründete dort in jenem Jahr 391 ein Kloster, in dem Theodosius das Verbot aller heidnischen Kulte aussprach und damit jenem Gott tatkräftig zur Durchsetzung verhalf, den er selbst eigentlich nicht als hilfsbedürftig, da allmächtig, ansah. Wenige Jahre später wurde er Bischof von Hippo Regius (dem heute algerischen Annaba), der seinem Geburtsort nächstgelegenen Küstenstadt, wo er bis zu seinem Tod lebte. Von dort aus musste er mitansehen, wie das wenige Jahrzehnte zuvor christlich gewordene Reich in Ost und West geteilt sowie das altehrwürdige Rom durch die Goten geplündert wurde. Das Römische Reich, das bei Augustinus’ Rückkehr nach Afrika noch riesig gewesen war, zeigte deutliche Spuren des Zerfalls. Germanenstämme zogen plündernd umher und erreichten auch seine Heimat. Im Jahr 430 schließlich belagerten Vandalen Hippo monatelang, währenddessen der Bischof im Alter von 75 Jahren starb. Augustinus erlebte also den Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion ebenso wie daraufhin den Niedergang des westlichen Teils des christlichen Großreiches. Was war nur aus der Allmacht ihres Gottes geworden, die die Christen beanspruchten? Wo war jetzt der Gott, der Constantinus noch zur Eroberung Roms verholfen hatte? Wieso brach sein Reich auseinander? Augustinus’ Antwort bestand darin, das christliche Denken einfach vom politischen Geschehen zu entkoppeln. Des Rätsels Lösung sah er nicht in Gottes Schwäche, sondern in der Versündigung des Menschen. Denn dieser sei, wie der Bischof unter dem Eindruck der Plünderung Roms 82 <?page no="82"?> durch die Barbaren ausführte, »durch eigene Schuld verderbt und gerechter Weise verdammt«, 4 weil er Ungehorsam war gegenüber Gott und gegessen hat vom Baum der Erkenntnis. [Adam und Eva] begingen eine so ungeheuerliche Sünde, daß dadurch die menschliche Natur verschlechtert ward, indem die Verstrickung in die Sünde und die Unvermeidlichkeit des Todes auch auf die Nachkommen überging. Die Herrschaft des Todes über die Menschen erstreckte sich aber in ihrer Gewalt so weit, daß die verdiente Strafe alle unrettbar auch in den zweiten Tod, der kein Ende hat, stürzen würde, wenn nicht Gottes unverdiente Gnade Bestimmte davor bewahrte. Und daher kommt es, daß es trotz der großen Zahl der Völker auf Erden und ihrer Vielgestaltigkeit in Sprache, Kriegswesen, Tracht, doch nur zwei Arten menschlicher Gemeinschaft gibt, die wir nach unseren Schriften recht wohl als zwei Staaten bezeichnen können. Der eine besteht aus den Menschen, die nach dem Fleische, der andere aus denen, die nach dem Geiste leben wollen, jeder in dem seiner Art zukommenden Frieden, in welchem sie auch wirklich leben, wenn sie das Ziel ihres Strebens erreichen. 5 Mit Westrom wäre demzufolge das Christentum nicht untergegangen, sondern dessen wahrer Staat sei ohnehin nicht auf Erden zu suchen. Auf allen Menschen laste die Ursünde, wer sich aber zu Gott bekenne, könne nach dem unvermeidlichen Tod auf Erden die Aufnahme ins Himmelreich erhofffen. Dort könne Gottes Gnade erfahren, wer Gott mehr liebe als sich selbst. Zweierlei Liebe also hat die beiden Staaten gegründet, und zwar den Weltstaat die bis zur Verachtung Gottes gesteigerte Selbstliebe, den himmlischen Staat die bis zur Verachtung seiner selbst gehende Gottesliebe. Kurz gesagt: der eine rühmt sich in sich selbst, der andere im Herrn. Der eine sucht Ruhm bei den Menschen, für den andern ist der höchste Ruhm Gott, der Zeuge des Gewissens. 6 4 XIII.14 in Augustinus, Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat. 5 XIV.1 in ebd. 6 XIV.28 in ebd. 83 <?page no="83"?> Im Niedergang Roms zeigt sich laut Augustinus deshalb nicht Gottes Schwäche, denn dessen himmlischer Staat existiere völlig unabhängig von irdischen Dingen. Wer nach Erfüllung im Diesseits sucht, wäre demnach nur von Eitelkeit getrieben und würde jene Welt gering schätzen, die für den Bischof letztlich allein ausschlaggebend ist: das Jenseits. Schon klingt die Niederlage des christlichen Rom nicht mehr länger nach einem Makel der Religion, sondern scheint statt dessen der Gottlosigkeit und Selbstverliebtheit der Menschen geschuldet. Ein paar Worte nur braucht Augustinus um die über Jahrzehnte vorangetriebene Verknüpfung des Christentums mit dem gewaltigen römischen Imperium nach dessen Niedergang wieder zu lösen. Denn gleichgültig was auf Erden geschehe, es sei von Gottes Allmacht so bestimmt gewesen: »Und somit laßt uns die Gewalt, Herrschaft und Reich zu verleihen, allein dem wahren Gott zuschreiben, der die Glückseligkeit im Himmelreich nur den Guten verleiht, dagegen irdische Herrschaft sowohl Frommen als Gottlosen, wie es ihm gefällt, stets aber nach Recht und Billigkeit.« 7 Damit hatte Augustinus den Stellenwert, der dem Christentum beizumessen sei, völlig unabhängig von militärischen oder politischen Erfolgen gemacht. Niederlagen sind dann kein Unvermögen des eigenen Gottes gegenüber demjenigen der Feinde, sondern lediglich eine Prüfung, die seine Anhänger zu bestehen haben. Zugleich macht diese Unabhängigkeit vom Erfolg auf Erden die Christen einerseits im Kampf zäh und verbissen, da es auch und gerade in der Not gilt, an seinem Glauben festzuhalten und Gottes Prüfungen standzuhalten. Andererseits birgt die Abkopplung vom Irdischen die Gefahr, dass bei den Anhängern die Treue zu ihrer Religion nachlässt. Wenn nämlich der eigene Erfolg im Hier und Jetzt nicht mehr vom Glaubensbekenntnis abhängt, dann gibt es zumindest im Diesseits eigentlich keinen Grund mehr zu glauben. Um diese Schlussfolgerung zu vermeiden, muss Augustinus den Gläubigen nach dem Tod das Himmelreich versprechen und den Ungläubigen mit ewiger Verdammnis drohen. Für das eigene Seelenheil sei nicht der Erfolg auf Erden, sondern allein entscheidend, dass man sein Leben dem christlichen Glauben entsprechend führe, woraus sich sprichwörtlich eine Pflicht zur Barmherzigkeit, zur Versöhnung und zum Verzeihen begründet, wie sie 7 V.21 in Augustinus, Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat. 84 <?page no="84"?> dann auch für die mittelalterliche Fürstenherrschaft kennzeichnend wird: Denn wir unsererseits bezeichnen einige von den christlichen Kaisern allerdings als glücklich, aber nicht deshalb, weil sie verhältnismäßig lang regiert haben oder weil sie ruhig sterben konnten, ihren Söhnen eine gefestete Herrschaft hinterlassend, oder weil sie die Feinde des Staates bezwungen haben oder weil es ihnen vergönnt war, Bürgeraufstände gegen ihre Regierung hintanzuhalten oder niederzuwerfen. Derlei Spende und Tröstung in dieses Lebens Mühsal ward auch manchen Dämonenanbetern gewährt, die am Reiche Gottes keinen Anteil haben, wie jene; und das hat Gott so gefügt aus Erbarmnis, damit die, die an ihn glauben würden, solche Güter nicht als die höchsten von ihm begehrten. Vielmehr nennen wir sie glücklich, wenn sie ein gerechtes Regiment führen, wenn sie sich ob all der hochtönenden Schmeicheleien und der kriechenden Dienstfertigkeit, womit sie umgeben sind, nicht überheben, sondern eingedenk bleiben, daß sie Menschen sind; wenn sie ihre Macht in den Dienst der Majestät Gottes stellen, um die Gottesverehrung weithin auszubreiten; wenn sie Gott fürchten, lieben und verehren; wenn sie mehr noch das Reich lieben, in welchem ihnen Teilhaber der Herrschaft keine Besorgnis verursachen; wenn sie zögernd strafen, gern Nachsicht üben; wenn sie ihre Strafgewalt nicht zur Befriedigung feindseliger, haßerfüllter Gesinnung mißbrauchen, sondern da anwenden, wo es die geordnete Leitung und die Sicherheit des Staates erfordert; wenn sie dagegen Nachsicht walten lassen auf die Hoffnung der Besserung hin, nicht als Freibrief für die Schlechtigkeit; wenn sie die harten Verfügungen, zu denen sie sich oft genug gedrängt sehen, durch erbarmende Milde und durch reichliche Wohltaten ausgleichen; wenn sie sich selbst gegenüber die Ausschweifung in eben dem Maße zügeln, als sie sich freier ergehen könnte; wenn sie es höher stellen, ihre verkehrten Neigungen als noch soviele Völker zu beherrschen und wenn sie all das tun aus Liebe zur ewigen Seligkeit, nicht aus Gier nach eitlem Ruhme; wenn sie nicht unterlassen, für ihre Sünden das Opfer der Demut, der Erbarmnis und des Gebetes ihrem wahren Gott darzubringen. 8 8 V.24 in ebd. 85 <?page no="85"?> Augustinus vermittelt den Eindruck, alles sei unerheblich, so lange der Herrscher nur brav glaubt. Nicht Allgemeinwohl, nicht Frieden, nicht Sicherheit sind demnach Maßstäbe guter Regierung, sondern allein gläubige Gesinnung und Milde. Der Christ herrscht folglich weniger in Verantwortung für das Gemeinwesen als vielmehr in Verantwortung für sein eigenes Seelenheil. Eine gesellschaftsvergessene Haltung, wie man sie im Umfeld religiöser Eiferer häufiig vorfiindet. Was auch immer ein Herrscher tut und welche Folgen es auf Erden zeitigt, wenn er sich damit im Einklang mit seinem Glauben wähnt, dann hat er Augustinus’ Segen. Lassen sich damit nicht auch Grausamkeiten im Namen des Herrn rechtfertigen? Wird damit nicht das persönliche Seelenheil über das Schicksal der Allgemeinheit gestellt? Opfert man damit nicht das Diesseits auf dem Altar des Jenseits? Im Christentum jedenfalls fand diese Zwei-Reiche-Lehre großen Anklang, was zugleich den Schlusspunkt für die Antike und ihre Vorstellung von Herrschaft bedeutete, die sich stets der Bedürfnisse der Menschen auf Erden annahm. An dessen Stelle tritt das Mittelalter, wo jede Herrschaft sich nicht am Irdischen orientiert, sondern an einer religiösen Deutung des unergründlichen Jenseits und sich selbstvergessen vermeintlich göttlicher Fügung hingibt. Die Verachtung des Diesseits bedeutete keineswegs eine völlige Abwendung des Christentums davon. Ganz im Gegenteil dazu wurde es die prägende Religion des diesseitigen europäischen Mittelalters. Ein Zeitalter der Stabilität und Kontinuität, wie es das heidnische Römische Reich über Jahrhunderte aufrechterhalten hatte, erwuchs daraus aber nicht - trotz oder vielleicht auch wegen der hohen Verhaltensmaßstäbe des Bischofs von Hippo. Das Christentum dominierte ganz Europa ohne eine Pax Christi an die Stelle der Pax Romana zu setzen. Italien kam nicht zur Ruhe, denn um das römische Kernland rangen mit wechselndem Kriegsglück jahrhundertelang so verschiedene christliche Mächte wie das Oströmische Reich, verschiedene germanische Stämme, der päpstliche Vatikanstaat und auch einzelne italienische Stadtstaaten wie Venedig, Genua, Mailand oder Florenz. Südlich, westlich und nördlich davon setzten sich Schwergewichte durch. Hippo, der ehemalige Bischofssitz von Augustinus, war wie ganz Nordafrika bereits 170 Jahre nach dessen Tod von islamischen Arabern erobert worden, die anschließend auch Spanien niederwarfen. In Gallien und Germanien rissen die Franken die Macht an sich 86 <?page no="86"?> und bildeten bald schon das größte christliche Reich. Karl der Große (lat. Carolus Magnus) beherrschte das Gebiet von der französischen Atlantikküste bis zur Elbe und von der Nordsee bis zur Adria. Wieder einmal in Bedrängnis durch die Langobarden wandte sich Papst Hadrianus I. an den mächtigen Carolus, der ihm tatsächlich schützend zur Seite sprang und als Gegenleistung im Jahr 800 die Salbung zum Kaiser empfiing. Damit war das weströmische Kaisertum an die Franken übergegangen, deren Reich sich allerdings schon wenige Jahrzehnte später in West und Ost aufteilen sollte, wobei die Kaiserkrone an die Ostfranken ging. Entsprechend nannte sich der ostfränkische Teil fortan Heiliges Römisches Reich (lat. Sacrum Romanum Imperium) woran ab dem 15. Jahrhundert der Zusatz Deutscher Nation (Nationis Germanicae) angefügt wurde. War in der Antike Politik stets in der Polis begründet gewesen, so hatte sich dies mit Augustinus geändert. Für diesen bezog Politik ihre Bestimmung allein aus der Religion. Ohne übergeordnete Werte erschien ihm Politik ebenso wie das Leben auf Erden insgesamt bedeutungslos. Alles war der angeblich einzig wahren Religion mit dem einzig wahren Gott untergeordnet. Dem hatte sich jeder, auch ein Fürst, in seiner Lebensführung unterzuordnen. An die Stelle einer am Gemeinwesen orientierten Politik, traten Herrscher, die einerseits davon überzeugt waren, von Gott für ihre Machtausübung ausgewählt worden zu sein, andererseits aber die individuelle Erlösung im Jenseits, die ewige Seligkeit im Sinne Augustinus’, anstrebten. Zur Krönung von Otto I. im Jahr 936 wurde Gott entsprechend mit folgenden Worten angerufen: Laß ihn, Herr, selig sein und Sieger über seine Feinde. Kröne ihn mit der Krone der Gerechtigkeit und Frömmigkeit, auf daß er aus ganzem Herzen und mit allem Verstand an Dich glaube, Dir diene, Deine heilige Kirche schütze und erhöhe, daß er das Volk, das Du ihm anvertrautest, gerecht regiere und niemand ihn durch böse Nachstellungen zur Ungerechtigkeit verleite. Entzünde, Herr, sein Herz zur Liebe Deiner Gnade durch dieses Salböl, mit dem Du die Priester, Könige und Propheten salbtest, auf daß er die Gerechtigkeit liebe und das Volk den Pfad der Gerechtigkeit führe und er nach Vollendung der von Dir gewährten Jahre in königlicher Erhabenheit zur ewigen Seligkeit zu gelangen verdiene. 9 9 nach Fried, Das Mittelalter, S. 121. 87 <?page no="87"?> Nach alldem kehrt die moderne Demokratie Jahrhunderte später nicht einfach zum politischen Denken der Antike zurück, sondern knüpft an Augustinus insofern an, dass sie die Orientierung an übergeordneten Werten beibehält, dies allerdings nicht mehr religiös begründet. Vielmehr halten Verfassungen oder Schriften von Verfassungsrang in jeder modernen Demokratie unhintergehbare Grundannahmen fest. Bevor sich das Festhalten an übergeordneten Werten aber von seinen religiösen Fesseln lösen konnte, musste noch viel Zeit vergehen. Augustinus selbst imponierte das Christentum nicht allein durch die zugrunde liegende Werte, sondern beinahe mehr noch durch die starken Persönlichkeiten, von denen es ihm zugetragen wurde: Erstens von seiner religiös enthusiasmierten Mutter, zweitens vom frommen Kaiser, der das Christentum zur Staatsreligion erhob, und schließlich vom einflussreichen Bischof von Mailand, der ihn auch taufte. Die endgültige Hinwendung erfolgte denn auch in einer von all diesen Personen geprägten Umgebung am kaiserlichen Hof in unmittelbarer Nähe des Bischofs und unter Begleitung seiner Mutter. Die Ausstrahlung der Personen war für Augustinus wichtig: Von der manichäistischen Religion hatte er sich zuvor abgewandt, weil ihn deren Vertreter nicht zu beeindrucken vermochten. Zum Zeitpunkt der Rückreise nach Afrika und der Aufnahme des Mönchslebens gab es keinen Zweifel mehr am Siegeszug des christlichen Glaubens im römischen Reich. Augustinus’ Religion befand sich in einer starken Position und er selbst erfuhr in seiner Glaubensausübung mit der Wahl zum Bischof außerordentliche Bestätigung. Es bedurfte keinen großen Mutes, diesen Weg zu gehen; man musste kein Vorkämpfer sein. Umso tiefer dürfte Augustinus den Einschnitt empfunden haben, den der Einbruch der Barbaren ins Römische Reich und der Zusammenbruch von dessen westlichem Teil in seine bislang wohlgeordnete Welt bedeutete. Auf Erden gab es kein einheitliches, umfassendes, christliches Reich mehr. Für einen gläubigen Christen durfte darunter aber keinesfalls die Einheitlichkeit, Ausschließlichkeit und universelle Gültigkeit seiner Religion Beeinträchtigungen erfahren. Das Diesseits hatte aufgehört, dafür eine hinreichende Grundlage zu bieten. Konnte aber nicht das Jenseits unabhängig davon gedacht werden? Konnte nicht dort Gottes Größe in vollkommener Ordnung erstrahlen? Konnte nicht all diese schnöde irdische Welt ein weitgehend unbedeutendes 88 <?page no="88"?> Vorgeplänkel zum unendlichen Reich Gottes sein? Der Bischof von Hippo gab dem Reich Gottes nach dem Zerfall des Weströmischen Reiches und während dem allgemeinen Chaos der Völkerwanderung eine Ordnung und einen Ort, der die Gültigkeit christlicher Glaubenssätze vollkommen unabhängig machte von irdischen Vorkommnissen. Er gab inmitten turbulenter Zeiten den Christen eine Welt der Beständigkeit. Er gab der mittlerweile weitverbreitetsten Religion rund um das Mittelmeer Grundsätze, die es dem Christentum ermöglichten die Umwälzungen zu überdauern und zum alles bestimmenden Weltbild der folgenden Jahrhunderte zu werden. Augustinus’ Zwei-Reiche-Lehre wirkt zunächst wie ein verzweifelter Verteidigungsreflex der in Bedrängnis geratenen christlichen Ordnung und vielleicht sollte es genau das auch sein. In jedem Fall erwies sich die Hinwendung zum Jenseits als ungemein erfolgreich: Die Abwendung vom Diesseits setzte sich ebendort durch. Bietet nun dieses Verfahren, entkleidet von seinem religiösen Rahmen, vielleicht generell die Möglichkeit, Grundsätze ganz unabhängig davon hochzuhalten, ob diese im Alltag gerade Bestand haben oder eben nicht? Hat nicht Augustinus Überzeugungen Halt gegeben, die vor seinen Augen heftig ins Schwanken geraten waren? Könnte das auch jenseits religiöser Glaubensfragen gelingen? Hatte Platon an die Idealität der Natur im Hier und Jetzt geglaubt, so enthebt Augustinus Ideale dieser Einschränkung und lässt sie einer übernatürlichen Welt entspringen. Wenn Hegel an Platon die Eröfffnung der Intellektualwelt gelobt hat, hätte er da nicht an Augustinus die Loslösung von jeglicher Rückbindung an Natürliches loben müssen? Zweifellos fällt der Afrikaner hinter die sokratischen Selbstzweifel und die platonische Wahrheitssuche zurück, indem er sich voll und ganz einer vermeintlich göttlichen Offfenbarung unterwirft. So sehr er sich aber vom Glauben einnehmen ließ, so wenig wollte er sein Denken den erbarmungslosen Tatsachen der irdischen Wirklichkeit unterwerfen. Grundsätze unabhängig von ihrer Durchsetzungsfähigkeit im Hier und Jetzt aufrechterhalten, das war die Formel, mit der Augustinus dem Christentum dabei half, die Wirren zu überdauern. Sind nicht alle modernen Demokratien ebenfalls darauf angewiesen? Müssen nicht auch sie an Grundsätzen festhalten, selbst wenn ihre Durchsetzung im Diesseits sich gerade schwierig gestaltet? Brauchen nicht insbesondere Demokraten eine hohe Wi- 89 <?page no="89"?> derstandskraft gegen die erbarmungslos widerstrebenden Kräfte der irdischen Wirklichkeit? Die antike Demokratie kannte keine übergeordneten Werte. Sie orientierte sich nicht an Zielvorstellungen, ganz unabhängig von ihrer Erreichbarkeit. Demokratisch gesinnte Griechen strebten nach persönlicher Freiheit und wollten sich nicht beherrschen lassen. Demokratie war für sie der Gegensatz zu Aristokratie und Monarchie. Der unmittelbare Einfluss auf politische Entscheidungen war ihnen wichtig und machte auch nicht vor der persönlichen Unversehrtheit einzelner halt, wie das Beispiel des Sokrates zeigt. Eine republikanisch eingehegte Demokratie wie unsere heutige, zudem ausgestattet mit umfangreichen Grundrechten, hätte den Wunsch antiker Demokraten nach Selbstbestimmung nicht erfüllt. Insofern zeichnet sich unsere heutige Aufffassung der Demokratie viel stärker durch augustinische oder, wenn man so will, durch christliche Merkmale aus als auf den ersten Blick ersichtlich. Ein modernes Verständnis orientiert sich fest an individuellen Grundrechten, getrennten Gewalten und Rechtsstaatlichkeit, die durch eine Verfassung garantiert werden, deren Geltung wiederum unabhängig von ihrer tatsächlichen Durchsetzbarkeit im Alltag beansprucht wird. Von Verfassungsrang sind alle jene Werte, an denen ganz im Sinne des Augustinus losgelöst von ihrer irdischen Erfüllung festgehalten wird. Gerade in Zeiten, in denen Regierungen die Ausrichtung an den Grundlagen moderner Demokratie vermissen lassen, wie jüngst häufiig zu beobachten, wird deutlich, wie selbstverständlich man bis vor kurzem davon ausging, dass diese Grundsätze allgemein geteilt werden. Heute werden Stärke mimende Persönlichkeit an die Macht gewählt, die ganz offfensichtlich die Fundamente der modernen demokratischen Architektur gering achten. Diese Neigung zur Autokratie wäre für antike Demokraten einer Aufgabe der Selbstbestimmung gleichgekommen, für moderne Demokraten bedeutet er die Entweihung für sakral gehaltener Glaubenssätze. Vielleicht ist in einer globalen Welt vieler Religionen, das Festhalten an christlichen Denkfiiguren tatsächlich weder zeitgemäß noch überzeugend, aus der Sicht der freiheitsliebenden Griechen sollte man deshalb aber nicht gleich sich selbst sukzessive der demokratischen Mitbestimmung berauben. 90 <?page no="90"?> 7 Woher nahm Thomas seinen Glauben an die Einheit? Als Theophylactus 14 Jahre alt war, starb sein Onkel, der Papst. Sein Vater, zu jener Zeit Oberhaupt der mächtigen römischen Tusculaner- Familie, sorgte daraufhin mittels Bestechung und Einfluss dafür, dass Theophylactus seinem Onkel im Amt als Bischof von Rom nachfolgte und fortan den Namen Benedictus IX. annahm. Damit installierte die Adelsfamilie 1032 bereits ihr siebtes Mitglied innerhalb von 200 Jahren als Pontifex Maximus. Ob jemand für dieses Amt kraft seiner geistlichen Autorität geeignet war, spielte keine Rolle, denn die Wahl zum Papst war längst Spielball der in Rom herrschenden Machtverhältnisse geworden. Als diese sich zwölf Jahre später verschoben, wurde Benedictus vertrieben, und einem verfeindeten Familiengeschlecht gelang es, einen der ihren als Silvester III. zum Papst wählen zu lassen, woraufhin die beiden Clans einen offfenen Machtkampf um das höchste geistliche Amt austrugen. Da sich keine Seite durchsetzen konnte, gab es nun zwei Päpste, die beide gleichermaßen von zweifelhafter Legitimität waren. Genervt von der verfahrenen Situation verkaufte Benedictus sein Amt schließlich an Gregorius VI., dem die unwürdigen Zustände zwider waren und der hofffte, dem hohen Kirchenamt seine Autorität zurückzugeben, wenn er es erst einmal erlangt hätte. Da Benedictus trotz Verkauf überraschend doch nicht zurücktrat, beanspruchten nun sogar drei heilige Väter gleichzeitig das Primat über die römisch-katholische Kirche. Diese Situation fand der König des deutsch-römischen Reiches im Jahr 1046 bei seinem Eintrefffen in Rom vor, als er gekommen war, um sich zum Kaiser krönen zu lassen. Da dies durch einen legitimen, würdigen Papst geschehen sollte, der sich nicht des Ämterkaufs schuldig gemacht hatte, setzte Heinrich III. (lat. Henricus) kurzerhand alle drei Päpste ab und einen neuen ein, der schon am folgenden Tag die gewünschte Krönungszeremonie durchführte. So zur Kaiserwürde gekommen, erklomm Heinrich den Gipfel der Macht. Er vergab oder entzog Herzogtümer von der Adria bis an die Nordsee und von 91 <?page no="91"?> Wien bis Lyon. Gekrönt durch den Papst, konnte er sich zudem als Nachfolger der römischen Kaiser fühlen. Die mächtige Stellung war allerdings nur für seine Lebensdauer gesichert, denn der neue Kaiser hatte noch keinen Thronfolger. Auf dessen Geburt musste er bis zum 11. November 1050 warten, nachdem zuvor vier Töchter das Licht der Welt erblickt hatten. Um an der Nachfolge keine Zweifel zu lassen, ließ Heinrich III. seinen Sohn schon mit drei Jahren zum König wählen. Dass es der kleine Heinrich IV. nicht leicht haben würde, kündigte sich da schon an. Denn der anwesende Adel ließ es sich angesichts der Machtfülle und des zunehmend selbstherrlichen Auftretens des Kaisers nicht nehmen, die nie zuvor dagewesene Bedingung vorzubringen, dem jungen König nur Gehorsam leisten zu wollen, wenn er sich als gerechter Herrscher erweise. Davon unbeirrt suchte Heinrich III. seine Rettung im Ausbau seiner Machtstellung und verlobte seinen Sohn im folgenden Jahr mit Bertha von Savoyen, um dadurch seinen Einfluss in Italien zusätzlich zu stärken. Als der Kaiser einige Monate später starb, konnte der erst fünf Jahre alte Heinrich IV. die Regierungsgeschäfte nicht übernehmen, weshalb zunächst seine Mutter Agnes ihn vertrat. Die Fürsten und Geistlichen, die vom verstorbenen Kaiser lange Zeit völlig dominiert worden waren, witterten ihre Chance und versuchten, die Macht nach und nach an sich zu reißen. Erzbischof Anno von Köln schreckte dabei nicht einmal davor zurück, den elfijährigen König per Schifff zu entführen. Dieser sprang zwar beherzt in den im März sehr kalten Rhein, wurde aber sofort wieder eingefangen. Anno übernahm durch diesen Coup nicht nur die weitere Erziehung des Jungen, sondern zugleich die Regentschaft des Reichs bis Heinrich im Alter von 14 Jahren die Wafffenfähigkeit erreichte. 1066 heiratete der König Bertha, mit der er mittlerweile seit zehn Jahren verlobt war, wollte sich drei Jahre später allerdings wieder trennen, nicht ohne dabei auf die noch bestehende Jungfräulichkeit seiner Ehefrau hinzuweisen. Von diesem Vorhaben nahm er jedoch wieder Abstand und nur ein Jahr später wurde das erste von fünf gemeinsamen Kindern geboren. Bertha stand ihrem Gemahl trotz dieser charakterlichen Abgründe stets zur Seite in all jenen schweren Momenten, die diesem noch bevorstehen sollten. Im April 1073 wurde vom römischen Volk noch am Tag der Beisetzung des verstorbenen Papstes dessen angesehener Stellvertreter 92 <?page no="92"?> Hildebrand zum Nachfolger gewählt. Dies geschah, ohne auf eine Zustimmung des deutschen Königs zu warten, denn während Heinrichs Kindheit und der damit verbundenen Schwäche des deutschen Königshauses war man zur Wahl durch Volk und Klerus von Rom zurückgekehrt. Hatte Heinrich III. sich das Papsttum noch mit Macht komplett unterworfen, so setzten sich nach seinem Tod die Anhänger einer Kirchenreform durch. Die Popularität des neuen Pontifex Maximus rührte daher, dass er als ehemaliger Mönch und in seiner langjährigen Tätigkeit als rechte Hand des alten Papstes diesen Reformkurs glaubwürdig vertrat. Seit langem schon trat er für die beiden verbreiteten Forderungen ein, den Kauf kirchlicher Ämter und die Priesterehe zu verbieten. Hildebrand nannte sich Gregorius VII. in Anlehnung an jenen Gregorius VI., der von Heinrich III. 27 Jahre zuvor vertrieben worden und als dessen Assistent er mit nach Köln in die Verbannung gegangen war. Diese Demütigung des Papsttums hatte Hildebrand offfenbar nicht vergessen, weshalb er danach trachtete, den Einfluss des Adels auf die kirchlichen Ämter zurückzudrängen. Fürsten sollte es fortan verboten sein, Bischöfe oder Priester einzusetzen. Diese sogenannte Investitur durch Laien war weit verbreitet und letztlich waren die Bischöfe dadurch ins weltliche Herrschaftsgefüge fest eingebunden, indem sie für den König ebenso wie etwa Herzöge Ländereien als Lehen verwalteten. Gregors Reformeifer stieß deshalb nicht überall auf Begeisterung, denn viele Bischöfe entstammten aufgrund dieser Laieninvestitur dem Adel. Die beabsichtigten Verbote stellten somit die Rechtmäßigkeit vieler Amtsinhaber infrage und drohten, den Einfluss ihres Familienverbandes zu mindern. Die Pläne liefen zudem auf eine Zentralisierung hinaus und erhoben so den Bischof von Rom über alle anderen Bischöfe, die bislang von päpstlicher Bevormundung noch weitgehend verschont geblieben waren. Als Heinrich IV. im Jahr 1075 dennoch für Mailand und dann sogar für Spoleto sowie Fermo - beides Städte innerhalb des römischen Kirchenstaates - Bischöfe benannte, musste Gregor reagieren, wenn er seiner Linie treu bleiben wollte. Der Pontifex Maximus forderte Heinrich dazu auf, diese Einsetzungen rückgängig zu machen. Dieser ging daraufhin ein Bündnis mit den deutschen Bischöfen ein, denen der römische Zentralismus unter Gregor ohnehin zu weit ging. Aufgrund dieses Rückhalts seiner Sache sicher rief Heinrich den Papst 93 <?page no="93"?> dazu auf abzudanken und schloss einen Brief mit den Worten: »Ich Heinrich, durch die Gnade Gottes König, sage dir zusammen mit allen meinen Bischöfen: Steige herab, steige herab vom Throne.« 1 Dass Gregor VII. daraufhin zu einer nie da gewesenen Maßnahme grifff, mag auch am Schicksal seines Lehrers unter Heinrichs Vater gelegen haben. Diesmal nämlich drehte der Papst den Spieß um und setzte den deutschen König ab. Allen deutschen Bischöfen untersagte er die Ausübung ihres Amts, räumte ihnen aber eine Frist zur Umkehr ein. Heinrich erfuhr davon in Utrecht, wo kurz darauf nach einem Blitzschlag die Kathedrale ausbrannte. Dies als Zeichen deutend und dem Zorn Gregors nachgebend, lichteten sich die Reihen auf Seiten des Königs. Fürsten wie Bischöfe schlugen sich plötzlich auf die Gegenseite. Wollte Heinrich als König nicht abgewählt werden, musste er Gregor schleunigst umstimmen. Mitten im Winter überquerte er deshalb auf seinem sprichwörtlich gewordenen Gang nach Canossa großenteils zu Fuß mitsamt Ehefrau und dreijährigem Kind die Alpen. Am Zielort angekommen wartete der König im Januar 1077 angeblich drei Tage barfuß im Büßerhemd vor der dortigen Burg, bis Gregor ihn schließlich von seinem Bann lossprach. Die Lage beruhigte sich dadurch jedoch nicht, denn Rudolf von Schwaben hatte sich zum Gegenkönig aufgeschwungen. Über drei Jahre hinweg kam es zu einigen Schlachten ohne eindeutigen Sieger, dann starb Rudolf daran, dass ihm in einem Kampf die rechte Schwurhand abgeschlagen worden war, was wiederum als göttliche Strafe für den Eidbruch gegenüber dem König gedeutet wurde. Währenddessen hatte sich Gregor mit seiner Zentralisierung der Kirche so viel Widerstand eingehandelt, dass Bischöfe und Fürsten sich fest hinter Heinrich stellten, als dieser ein zweites Mal vom Papst mit dem Bann belegt wurde. Es sollte allerdings noch bis zum Jahr 1084 dauern, ehe Heinrich IV. Rom einnehmen und Gregor vertreiben konnte. Der deutsche König setzte Clemens III. als Papst ein und ließ sich von diesem sogleich zum römischen Kaiser krönen. Die Lage blieb allerdings unübersichtlich, da die Unterstützer der Kirchenreform an ihrem Pontifex Maximus und dem Investiturverbot festhielten, sodass es wieder zwei Päpste gab. Einem Augsburger Zeitgenossen entlockten die Geschehnisse den Kommentar: »Oh, beklagenswertes Antlitz des 1 nach Schneidmüller, Die Kaiser des Mittelalters, S. 64. 94 <?page no="94"?> Reichs! Wie man in einer Komödie liest: ›Alle sind wir verdoppelt‹, so sind nun die Päpste verdoppelt, die Bischöfe verdoppelt, die Könige verdoppelt, die Herzöge verdoppelt.« 2 Heinrich nahm somit zwar die Stellung eines Kaisers im mittelalterlichen Sacrum Imperium Romanum ein, trotzdem war diese nicht mit jener im antiken Imperium Romanum vergleichbar. Ein antiker Caesar verband verschiedene Amtsgewalten, die ihren Ursprung vorwiegend in der Republik hatten, lebenslänglich in seiner Person. Als Imperator besaß er die Befehlsgewalt über die Truppen; als Consul hatte er den Vorsitz im Senat und die Entscheidungsbefugnis über die Regierungsgeschäfte; als Tribun übernahm er den Vorsitz in der Volksversammlung; und als Pontifex Maximus trat er als oberster Priester auf. Davon unterschied sich die Stellung des Kaisers im Mittelalter deutlich. Er war kein Oberpriester, denn das war der Papst. Er war kein Tribun, denn im ländlich geprägten Mittelalter trat aufgrund der großen Entfernungen keine Volksversammlung zusammen. Er war kein Consul, denn es gab keinen Senat. Doch er war Imperator und genau so lautete auch sein Titel. Allerdings befehligte er keine Legionen, weil der Kampf nicht mehr vorwiegend von Fußsoldaten, sondern von den Rittern ausgetragen wurde. Die bevölkerungsreichen Städte der Antike konnten gut abgestimmte Infanterie-Verbände stellen. Da sie alle an einem Ort wohnten, wurden die Fußsoldaten gemeinsam ausgebildet und kämpften in dichter Formation. Mit dem Ende der Antike nahm die Bevölkerung in den Städten ab, die Menschen verteilten sich über das Land. Wer herrschen wollte, musste im Mittelalter nicht eine Stadt, sondern ein Gebiet mit verstreuter Bevölkerung kontrollieren. Hatte man sich ein Territorium mit Wafffengewalt untertan gemacht, konnte man von den Bewohnern einen Teil des Ertrags verlangen. Von der Idee her übernahm der Herr damit auch Pflichten: Für die Abgaben gewährte er seinen Untertanen die Bestellung seines Landes und verteidigte sie gegen Feinde. Ein jeder hatte sich unter den Schutz desjenigen Herrn zu stellen, der ihn ihm zu gewähren vermochte. Das galt prinzipiell auch für den Herrn, der sich wiederum einem noch mächtigeren Ritter unterstellte. An der Spitze dieser Pyramide stand der König, der sich schließlich Gottes Schutzgewalt unterzuordnen hatte. 2 nach Laudage, Die Salier, S. 91. 95 <?page no="95"?> Sobald ein Feind anrückte, trommelte der Fürst seine Ritter zusammen und zog mit ihnen in den Kampf. Die Zahl der Krieger war schon dadurch begrenzt, dass die Anschafffung von Wafffen und Panzerung, sowie Unterhalt von Pferden und Gehilfen sehr kostspielig war. Die Ritterheere hatten sich allerdings nicht nur durchgesetzt, weil durch die Streuung der Bevölkerung nicht mehr so zahlreiche und kampfstarke Infanterie aufzubringen war, sondern auch weil die Einführung des Steigbügels in den Jahrhunderten nach dem Niedergang des Weströmischen Reiches Halt und Kampfkraft der Reiter deutlich erhöhte. Das Tragen schwerer Rüstung zu Pferde wurde überhaupt erst dadurch möglich. Es rückten nicht mehr gut koordinierte, vielarmige Kampfeinheiten aus unzähligen Menschen gegeneinander vor, sondern es dominierte der Zweikampf individuell verschieden geübter Reiter, die aufgrund der Panzerung nur über eingeschränkte Sicht und Bewegungsfähigkeit verfügten. Der mittelalterliche Gesellschaftsaufbau erleichterte einen Herrschaftswechsel. Man brauchte nur den Herrn auszutauschen. Für die Bevölkerung änderte sich dadurch lediglich, dass sie ihre Abgaben nun an jemand anderen entrichteten. Ansonsten hatte man einfach Glück, sollte sich der neue Herr weniger streng zeigen. Anders als in der Antike kämpften hier keine Bewohner um ihre Stadt oder ihr Land, denn sie besaßen es ja nicht. Es kämpften auch keine gleichermaßen freien Stadtbürger für ihre Rechte und Unabhängigkeit und es wurde auch nicht um die Regierungsform gerungen, denn die Monarchie stand gottgegeben fest. Im Mittelalter stritten Ritter um Land und die dazugehörigen Abgaben der Bevölkerung. Die Fürsten von Gottes Gnaden kämpften darum, sich bereichern und andere ausbeuten zu dürfen. Egal wer gewann, das Los der Bauern änderte sich dadurch nicht. Wenn Heinrich sich also zum Kaiser krönen ließ, so erhob er sich zwar zum mächtigsten Fürsten in Mitteleuropa, doch ein geschlossenes Volk gab es nicht und anstelle eines beratenden Senats stand er einer Ansammlung versprengter Krieger vor, um deren Loyalität es nicht immer zum Besten bestellt war. Im Resultat hatte Heinrich IV. im Streit mit Gregor die wichtigste Integrationsquelle seiner Zeit ramponiert: die Kirche. Das Unbehagen mit der allgegenwärtigen Spaltung in Reformkirche und königstreue Geistliche, in Papst und Gegenpapst bei gleichzeitig gemeinsamen Glaubensinhalten war schließlich so groß, dass die deutschen Kur- 96 <?page no="96"?> fürsten des Kaisers Sohn eigenmächtig zum neuen König wählten. Der wollte die Einheit der Kirche wiederherstellen und nahm dafür seinen eigenen Vater gefangen. Dieser konnte zwar nach einigen unangenehmen Wochen fliehen, erkrankte wenige Monate später allerdings schwer und starb. Die Skrupellosigkeit seines Sohnes setzte sich derweil fort. Er zwang neben seinem Vater nicht nur Fürsten oder Kardinäle in die Gefangenschaft, sondern am 12. Februar 1111 sogar den Papst. Durch das harte Vorgehen blieb der Investiturstreit weiterhin ungelöst, doch längst hatten sich im Hintergrund zwei Grundsätze unwiderruflich durchgesetzt: das Verbot, Kirchenämter zu kaufen, und der Einfluss der deutschen Fürsten auf Reichsangelegenheiten. Letzterer zeigte sich darin, dass schließlich die Fürsten Heinrich V. mit klaren Worten zum Einlenken zwingen konnten, nachdem dessen Skrupellosigkeit keine starken Verbündeten übrig gelassen hatte: »Der Herr Kaiser soll dem apostolischen Stuhl gehorchen.« 3 Der daraufhin vereinbarte Kompromiss im Wormser Konkordat sah vor, dass der König zwar auf die Investitur verzichtete, in Deutschland aber Einfluss auf die Wahl der Bischöfe und ihre Befugnisse behalten soll, wogegen ihm dieses Privileg in Burgund und insbesondere in Italien nicht zustand. Damit war der Streit um die Investitur beigelegt, was Kaiser und Papst allerdings nicht davon abhielt, über Jahrhunderte hinweg weiterhin um die Rangfolge zu kämpfen. Vor dem Streit um die Investitur hatten viele Bischöfe und Päpste ebenso wie Theophylactus keine Ausbildung als Geistliche, sondern erlangten das Amt lediglich durch Einfluss und Geld ihrer Herkunftsfamilie. Der Kampf Papst Gregors VII. gegen die Einsetzung solcher Laien bedeutete einerseits eine stärkere Trennung von Kirche und Reich, andererseits wurde dadurch auch eine Professionalisierung der kirchlichen Amtspersonen nötig, denn die Würdenträger bedurften plötzlich einer soliden theologischen Ausbildung. Diese fand lange Zeit vor allem an Kloster- und Domschulen statt. Nun, da im Zuge des Investiturstreits die Kaiser ebenso wie die Päpste die Verwaltung stärker zu zentralisieren suchten, ergab sich daraus insgesamt ein deutlich erhöhter Bedarf an gut ausgebildetem Personal. Beginnend mit Bologna im Jahr 1088 entstanden deshalb die ersten Universitäten. Die Lehre dort stützte sich vor allem auf biblische und aristotelische 3 nach Schneidmüller, Die Kaiser des Mittelalters, S. 68. 97 <?page no="97"?> Texte, sodass die Gelehrten fortan europaweit auf einer gemeinsamen Grundlage und Denkweise aufbauten. Auch in den Schriften des Thomas von Aquin (lat. Thomas Aquinas), der in Neapel, Paris und Köln studiert hatte, ist der Einfluss von Aristoteles unverkennbar: Es ist aber die natürliche Bestimmung des Menschen, das für gemeinschaftliches und staatliches Leben erschaffene Geschöpf zu sein, das gesellig lebt, weit mehr als alle anderen Lebewesen. Schon die Notwendigkeit der menschlichen Natur gibt dafür die Erklärung. Anderen Geschöpfen hat die Natur die Nahrung bereitgestellt, die Bedeckung der Haare, Mittel zur Verteidigung, wie die Zähne, Hörner, Krallen, oder doch die Möglichkeit geschenkt, sich dem Gegner durch schnelle Flucht zu entziehen. Der Mensch aber ist mit keinem dieser Geschenke der Natur gerüstet, statt ihrer aller ist ihm die Vernunft gegeben, damit er, von ihr geleitet, imstande sei, sie sich selbst durch die Arbeit seiner Hände zu verschaffen. Aber um diese Aufgabe zu erfüllen, reicht die Kraft des einzelnen nicht hin. Auf sich allein gestellt, wäre kein Mensch imstande, das Leben so zu führen, daß er seinen Zweck erreicht. So ist es also der Natur entsprechend, mit vielen gesellig zu leben. 4 Beinahe gleichlautend wurde hier die zu diesem Zeitpunkt 1500 Jahre alte Bestimmung des Menschen als geselliges Wesen vom griechischen Philosophen übernommen. Bei den Regierungsformen folgt Thomas ebenfalls dessen Einteilung in drei gute und drei schlechte Formen. Anders als sein antikes Vorbild, das von der griechischen Polis geprägt war, rückt der unter mächtigen Monarchen aufgewachsene Aquinat allerdings das Königtum an die erste Stelle. Ein Jahrhundert nach dem Investiturstreit erfährt bei ihm der Gedanke der Einheit eine besondere Betonung: Nun ist es aber offensichtlich, daß etwas, das in sich selbst eins ist, mehr die Einheit bewirken kann als eine Vielheit, wie etwa das, was schon in sich Wärme hat, die wirksamste Ursache der Erwärmung ist. Es ist also zweckmäßiger, wenn einer herrscht als viele. 5 4 Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten, S. 5 f. 5 Ebd., S. 11. 98 <?page no="98"?> Um der Einheit willen solle man sogar eine Tyrannis aushalten, sofern diese »nicht zu einem besonderen Übermaß ausartet«. 6 Der Glaube an den einen Gott geht hier mit der Vorstellung einher, dass auch auf Erden nur ein einziger an der Spitze stehen könne. Der republikanische Gedanke, mit dem die Römer jahrhundertelang den gesamten Mittelmeerraum zusammenzuhalten verstanden, fiindet keine Erwähnung mehr. Vielmehr setzt Thomas das christliche Denken in ein Plädoyer für eine klare Hierarchie um. Damit folgt der bedeutendste Theologe seiner Zeit genau der zentralistischen Ideenwelt Gregors VII. und erhebt wie dieser den Papst über den König: Im Neuen Testament aber steht das Priestertum, durch das die Menschen zu den Gütern des Himmels gebracht werden, höher, und im Gesetz, das Christus gab, müssen die Könige den Priestern unterworfen sein. Deshalb ist es nach der göttlichen Voraussicht in wunderbarer Weise geschehen, daß sich in der Stadt Rom, von der Gott vorausgesehen hatte, daß sie die Hauptstadt der Christenheit sein werde, allmählich die Sitte durchsetzte, daß sich die Führer des Staates den Priestern unterwerfen. 7 Ganz im Sinne Gregors hält Thomas auch die Absetzung eines Königs für möglich, denn dieser sei vom Volk gewählt und könne deshalb »von ebendemselben Volke von seinem Platze entfernt oder seine Macht eingeschränkt werden«. 8 Nachdem der Aquinat zuvor darauf hingewiesen hatte, dass auch tyrannische Herrschaft zu erdulden sei, erscheint das hier eingeräumte Recht zur Absetzung auf den ersten Blick bedeutungslos - zumindest für das Volk. Nicht so für den König: Indem Thomas weltliche Herrschaftsgewalt vom Volk abhängig macht, spricht er den Fürsten zugleich ab, ihre Stellung unmittelbar von Gott empfangen zu haben. Ganz im Gegensatz zum Papst, womit dieser dem Allmächtigen näher stünde und Vorrang genießen würde. Denn die Nähe zu Gott macht den Unterschied; sie macht unabhängig von irdischen Kräften. Eben deshalb streben Könige eine dynastische Vererbung an ihre Söhne an. Das dient nicht nur der Begünstigung der eigenen Familie, sondern löst zugleich die 6 Ebd., S. 22. 7 Ebd., S. 56. 8 Ebd., S. 24. 99 <?page no="99"?> Abhängigkeit von menschlichen Gewalten. Was nicht irdisch ist, muss göttlich sein und etwas Gottgegebenes darf kein Mensch entziehen. Indem der Mönch eines Bettelordens nun die Absetzung durch das Volk erlaubt, trachtet er im selben Zuge danach, den Königen ihre Unmittelbarkeit zu Gott zu nehmen. Anders als bei Augustinus bleibt damit die Aufgabe der Monarchen - ganz im Sinne des Aristoteles wiederum - auf das Diesseits beschränkt: Nun müssen wir untersuchen, was für ein Land oder eine Stadt zweckentsprechender ist: von einem oder mehreren regiert zu werden. Man kann dies aus dem innersten Zweck der Herrschaft selbst entscheiden. Denn das Streben eines jeden, der eine Herrschaft ausübt, muß darauf gerichtet sein, das, was er zu regieren übernommen hat, heil zu erhalten. So ist es die Pflicht des Steuermannes, das Schiffvor den Gefahren des Meeres zu bewahren und unversehrt in den sicheren Hafen zu geleiten. Die Wohlfahrt und das Heil einer zu höherer Gemeinschaft verbundenen Menge ist es aber, jene Einigkeit zu erhalten, die man Friede nennt; ohne sie geht aller Nutzen, der aus dem Leben der Gemeinschaft erwächst, zugrunde, und die entzweite Menge wird sich selbst zur Last. Darauf muß also jeder Führer einer Menge vor allem achten, daß er das einigende Band des Friedens behüte. 9 Angesichts der ständigen Auseinandersetzungen zwischen Papst, König und Fürsten kann dieser Wunsch nach Frieden nicht überraschen. Trotzdem trat auch künftig kein allmächtiger Papst oder Kaiser hervor. Im Gegenteil: Als Thomas 1274 starb, gab es bereits seit über 20 Jahren keinen Kaiser mehr, da die sieben deutschen Kurfürsten, die den deutschen König wählten, weiter an Macht hinzugewonnen hatten und niemand ihnen gegenüber genug Herrschaftsgewalt für kaiserliche Ansprüche erringen konnte. Am Gipfel der Macht angelangt glaubte sich dagegen Papst Bonifacius VIII. im Jahr 1302: »Daher aber erklären wir, bestimmen und verkünden wir, dass es für alle menschliche Kreatur überhaupt heilsnotwendig ist, dem römischen Papst untertan zu sein.« 10 Schon sieben Jahre später jedoch war der Einfluss des französischen Königs so groß, dass er den Sitz des Papstes kurzerhand von Rom 9 Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten, S. 10 f. 10 nach Schneidmüller, Die Kaiser des Mittelalters, S. 89. 100 <?page no="100"?> ins südfranzösische Avignon verlegen konnte. 1417 war diese Episode vorüber und die Päpste residierten fortan alle in Rom. Nicht mehr ungeschehen machen ließ sich allerdings die Auseinandersetzung und damit Spaltung zwischen Papst und Kaiser. Die Kirche versuchte ihre Geistlichen dem Zugrifff der Fürsten und vor allem des Kaisers zu entziehen, wobei sie zugleich einen höheren Rang für sich beanspruchte. Andersherum strebten die weltlichen Herrscher danach, den Einfluss der Kirche so gering wie möglich zu halten und ein eigenständiges Staatswesen zu entfalten. Diese Sonderung geschah in erster Linie durch den allmählichen Aufbau voneinander unabhängiger Verwaltungsapparate. Weit entfernt von demokratischem Gedankengut begann sich dadurch eine erste Grundlage moderner Demokratie langsam zu entfalten: die Trennung von Kirche und Staat. Machtanspruch und Unabhängigkeit der Kirche haben damit zum Gegenteil dessen geführt, was beabsichtigt war: Die Fürsten ordneten sich nicht unter, sondern suchten ebenfalls nach Unabhängigkeit und eigenen Machtbereichen. Davon konnte Thomas nichts ahnen. Für ihn standen andere Dinge im Vordergrund. Mitte des 12. Jahrhunderts erstarkte in Südfrankreich und Norditalien die Bewegung der Katharer, die ihre Bezeichnung vom griechischen Wort für rein abgeleitet hatten. Diese Reinen lehnten das alte Testament ab, glaubten einerseits an das Gute in Gottes Himmelreich, hielten andererseits die diesseitige Welt für böse, vor allem jedoch verachteten sie den Prunk der römisch-katholischen Kirche. Da diese von den Bauern den Zehnten als Steuern einforderte, sich aber ansonsten nicht um deren Nöte, sondern lieber um Fragen der Macht kümmerte, kam in der Landbevölkerung die Enthaltsamkeit der Katharer gut an. Die schnelle Ausbreitung der Bewegung war der katholischen Kirche ein Dorn im Auge. Papst Innocentius III. schickte deshalb 1206 eine Gruppe Mönche des Zisterzienserordens, um eine Einigung zu erzielen. Darunter befand sich auch Dominicus, der sich von der enthaltsamen Lebensweise der Katharer beeindruckt zeigte und feststellte, dass schon allein durch den protzigen Auftritt der Zisterzienser niemand zu überzeugen war. Dominicus gründete ohne Umschweife einen neuen Mönchsorden und zog auf eigene Faust bettelnd und predigend durch viele Länder. Bei den Katharern war er damit zwar nicht erfolgreich, dafür gewann er anderswo neue Mitglieder für den Dominikanerorden. 101 <?page no="101"?> 1244 wurden die Katharer in Südfrankreich ausgelöscht und 32 Jahre später in Italien die letzten verbrannt. Innocentius hatte nämlich zwischenzeitlich seine Strategie geändert. Statt friedlicher Mönche schickte er Krieger. 1209 hatte er zum Kreuzzug gegen die Katharer aufgerufen und drei Jahre später die Inquisition zur Verfolgung aller Ketzer eingeführt, wobei sich dieses Wort ironischerweise ursprünglich von den Katharern und damit von den Reinen ableitet. Die katholische Kirche erklärte also die Reinen zu Ungläubigen, die mit dem Tod zu bedrohen sind. Im Jahr 1224, dem Geburtsjahr des Thomas von Aquin, entschloss sich Kaiser Friedrich II. (lat. Federicus) zur Unterstützung der Inquisition, indem er für das Kaiserreich die unerbittliche Bestrafung von Ketzern etwa durch Verbrennung auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leibe oder Herausschneiden der Zunge festsetzte. Auf kirchlicher Seite taten sich vor allem die Dominikaner hervor und wurden zur Speerspitze der Inquisition. Thomas wuchs folglich in einer Zeit auf, in der brutale Hinrichtungen vermeintlich Ungläubiger bereits Normalität geworden waren und die Dominikaner als Vorkämpfer dieser grausamen Verfolgung von Abweichlern auftraten. Die Ausrottung der Katharer begleitete ihn seine gesamte Jugend über. Während in Frankreich die letzten Katharer in ihren Festungen verbrannten, schloss sich Thomas trotz des Protestes seiner Familie zwanzigjährig den Dominikanern an. Damit hatte der Aquinat sich dafür entschieden, als Bettelmönch zu leben. Außerdem hatte er sich entschieden, für die Einheit des Glaubens und für die alleinige Autorität des Papstes zu kämpfen. Und er hatte sich entschieden, alle Andersdenkenden unerbittlich zu verfolgen. Nur dem Bischof von Rom maß er dementsprechend die Entscheidungsgewalt zu, welche Lebensweisen und Glaubensinhalte richtig und welche mit dem Tode zu bestrafen seien. Auf die Unübersichtlichkeit durch neue Glaubensbewegungen (denn die Katharer waren nicht die einzigen Ketzer) und auf das Jahrhunderte währende Ringen von Papst und Kaiser (auch Friedrich II. wurde zweimal vom Papst exkommuniziert) reagierte Thomas mit dem Ruf nach Einheit. Schon allein der Anschluss an den Dominikanerorden war gleichbedeutend mit dem Kampf für die alleinige religiöse Autorität des Pontifex Maximus und für die Einheit des Glaubens. In seinen Schriften setzte er sich dann auch in politischer Hinsicht für dessen Vorrang ein. Ein Nebeneinander von Kaiser und Papst war mit seinem Verlangen nach 102 <?page no="102"?> Einheitlichkeit nicht vereinbar. Und wodurch war diese klarer gegeben als durch genau eine Person an der Spitze, durch eine Monarchie also, die dem Papst unterstand? Damit war Thomas von Aquin der Antidemokrat schlechthin. Wer für eine einheitliche Spitze eintritt, wer der Duldung von Tyrannei zustimmt, wer die Religion über die Menschen stellt, wer Andersdenkende auslöschen will, steht jeder Demokratie feindlich gegenüber. Eben jene Entwicklungen, die er bekämpfte, bildeten sehr viel später die ersten zarten Grundlagen, auf denen sich moderne demokratische Staaten entwickeln konnten. Begonnen hatte die Entwicklung aber schon: Der Investiturstreit zersetzte jede Einheitlichkeit und brachte Grundzüge einer eigenständigen staatlichen Verwaltung hervor. Der Widerstand deutscher Fürsten gegen königliche Tyrannen barg Keime der Mitbestimmung. Jede Loslösung der Fürsten von der Kirche untergrub den Vorrang der Religion. Jede Ketzerbewegung bedeutete einen Vorgrifff auf das Verlangen nach Meinungsfreiheit. Die Dominikaner halfen all das zu unterdrücken, was sich nicht dem Papst unterordnete. Es bedurfte ihrer aber nur, weil der Widerstand wuchs. 103 <?page no="103"?> 8 Woher hatte Machiavelli seine Abneigung gegen Moral? Constantinus verhalf dem Christentum zum Durchbruch, indem er seine bevorzugte Religion und ihre Anhänger förderte und begünstigte. Leidtragende waren nicht nur Andersgläubige. So ließ der Kaiser im Jahr 325 die Bücher des Priesters Arius aus Alexandria verbrennen, obgleich dieser überzeugter Christ war. Der Alexandriner glaubte durchaus an den einen christlichen Gott, war zugleich allerdings ein aufmerksamer Leser griechischer Philosophie und Logik, weshalb er daran zweifelte, dass Jesus von Nazareth mit dem einen ebenso allmächtigen wie zeitlosen Gott wesensgleich sei. Denn es habe eine Zeit gegeben, in der Jesus noch nicht und dieser somit erst geschafffen worden war. Dann aber könne der Sohn Gottes nicht zugleich der immer schon dagewesene allmächtige göttliche Schöpfer sein. Obschon Christ, sah Arius keinen Grund, logische Widersprüche zuzulassen. Wie ihm ging es offfenbar vielen anderen, sodass seine Aufffassung in kurzer Zeit zahlreiche Anhänger fand, was jahrzehntelangen Streit unter den Christen zur Folge hatte. Dem Kaiser war diese Zersplitterung ein Dorn im Auge, weshalb er die Bischöfe einberufen ließ. In Anwesenheit des mächtigen Constantinus wurde auf dem Konzil die göttliche Dreifaltigkeit per Beschluss verbindlich für alle Christen festgesetzt. Auf Grundlage amtlicher Festlegung sollte es fortan nur noch eine korrekte Aufffassung des christlichen Glaubens geben - und zwar nicht die des Arius. Dieser und seine Anhänger ließen sich aber ihre Gedanken nicht einfach per Amtsakt verbieten, sodass es noch lang dauern sollte, bis der Arianismus tatsächlich keine Rolle mehr spielte. Immerhin saß der Stachel so tief, dass bis heute in jeder katholischen Messe die Dreifaltigkeit betont wird, die von Amts wegen in der Wesensgleichheit des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes zu liegen hat. Gut 1000 Jahre später erwächst die größte Gefahr für die Einheitlichkeit der Kirche erneut aus dem Christentum selbst. Ein einfacher Mönch aus Wittenberg stellt zwar nicht die Dreifaltigkeit infrage, 104 <?page no="104"?> dafür verteufelt er den Ablasshandel, der mit billigen Parolen wie dieser betrieben wurde: »Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt.« Die Rettung aus dem Fegefeuer gegen eine Geldzahlung bedeutete für die katholische Kirche ebenso sehr ein einträgliches Geschäft wie sie für den am 10. November 1483 geborenen Martin Luther unvereinbar mit der Unbestechlichkeit Gottes war. Mit dieser Abkehr vom Geschäftsmodell der katholischen Kirche fand der Wittenberger schnell zahlreiche Anhänger, woraufhin Papst Leo X., geboren als Giovanni de’ Medici, im Jahr 1520 dem Beispiel des Constantinus folgte, indem er ebenfalls die unangenehmen Schriften verbieten und verbrennen ließ. Der Wittenberger Mönch reagierte trotzig, aber nicht ohne Hohn, als er im Gegenzug ein Exemplar des gegen ihn gewandten päpstlichen Beschlusses öfffentlich in Brand setzte. Abweichler hatte es immer wieder gegeben, ohne dass sie der mächtigen Kirche gefährlich wurden. Doch diesmal war es anders, denn ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Johannes Gutenberg ein neues Verfahren zum Buchdruck erfunden, das für die nächsten 500 Jahre Bestand haben sollte. Es mussten nicht mehr ganze Seiten aufwändig in Holztafeln geschnitzt werden, um diese dann auf Papier oder Pergament zu pressen. Statt dessen setzte Gutenberg einzelne wiederverwendbare Metallbuchstaben zu einer Druckplatte für eine Seite zusammen. Die erleichterte Vervielfältigung löste eine rasante Zunahme der Buchproduktion aus. Dadurch verbreiteten sich Luthers Schriften schneller als der Papst dies eindämmen konnte. Obendrein brachte der Wittenberger 1522 erstmals eine Übersetzung der Bibel in verständlichem Deutsch in Umlauf. Jeder konnte sich nun selbst ein Bild von der heiligen Schrift machen, nicht nur die des Latein mächtigen Priester und Adligen. Wie erfolgreich Gutenbergs Buchdruck war, mag man daran ermessen, dass sich aus der Lutherbibel das bis heute maßgebliche Hochdeutsch entwickelte. Doch auch für andere Schriften erweiterte sich durch den Buchdruck der Leserkreis. Darunter eben nicht selten auch für solche, die vom Papst nicht erwünscht waren. Aufgrund der Flut an ungebetener Literatur sah sich die katholische Kirche sogar gezwungen, mit dem Index Librorum Prohibitorum ein Verzeichnis verbotener Bücher zu erstellen. Auf dieser erstmals im Jahr 1559 erstellten Liste fanden sich insgesamt 550 Autoren wieder, darunter auch ein Zeitgenosse Luthers, der sich für religiöse Fragen überhaupt nicht interessierte. Niccolò Ma- 105 <?page no="105"?> chiavelli war vielmehr daran gelegen, Herrschern Verhaltensregeln an die Hand zu geben, die dem Machterwerb und -erhalt dienen sollten. Für einen Vorrang des Glaubens blieb dabei kein Platz, stattdessen reduzierte sich Religiosität auf ein brauchbares Instrument, um sich die Gunst des Volkes zu sichern: Ein Herrscher muss also sehr darauf bedacht sein, daß [...] jeder, der ihn sieht oder hört, den Eindruck hat, als sei er die Milde, Treue, Redlichkeit, Menschlichkeit und Gottesfurcht in Person. Besonders notwendig ist es, den Eindruck zu erwecken, daß er gerade die letztere Tugend besäße. [...] Jeder sieht, was du scheinst, und nur wenige fühlen, was du bist. 1 Am 3. Mai 1469 geboren, erlebte Machiavelli in Diensten seiner Heimatstadt eine Welt, in der mit allen Mitteln um Macht gerungen wurde. Als Vertreter der kleinen italienischen Republik Florenz traf er den erwähnten Papst Leo X. ebenso wie den französischen König Franz I. (franz. François), denn die wirtschaftlich aufblühenden Handelsstädte Norditaliens waren zwischen die Fronten des Konflikts dieser beiden europäischen Schwergewichte geraten. Dabei ging es nicht um moralische oder religiöse Meinungsverschiedenheiten, sondern allein um die Vorherrschaft in Italien. Florenz stellte sich unter maßgeblicher diplomatischer Beteiligung Machiavellis auf die Seite des traditionell befreundeten Frankreich. Nachdem der Papst aber die Großmacht Spanien für ein Bündnis gewinnen konnte, fand sich die italienische Stadtrepublik auf der Verliererseite wieder. 1512 musste sie sich unterwerfen und der Papst konnte Angehörigen seiner Familie in der Heimatstadt Florenz zur Regentschaft verhelfen. Machiavelli wurde in diesem Zuge seines Amtes enthoben und eine Rückkehr in die Dienste der Stadt blieben ihm bis an sein Lebensende verwehrt. Denn die Medici lösten die Ratsversammlung der Bürger auf und verwandelten Florenz mitsamt Umland in das Herzogtum Toscana, wo sie über 200 Jahre an der Macht blieben. Ihre Einsetzung als Herren verdankten sie ganz offfensichtlich nicht ihrer Abstammung, denn die Medici waren ursprünglich keineswegs adligen Geblüts, und auch nicht ihrer Religiosität, nicht ihrem Rückhalt beim Volk, nicht ihrer militärischen Stärke und nicht ihren Verdiensten für die Allgemeinheit, sondern vor allem ihrem Willen zur Macht 1 Machiavelli, Der Fürst, S. 73 f. 106 <?page no="106"?> einschließlich geschickter Bündnisse zur rechten Zeit, mit denen sie unter anderem durch Bankgeschäfte zu großem Reichtum gekommen waren. Das alles erlebte Machiavelli hautnah und seine Erfahrungen ließen ihn feststellen, dass sich nicht das Gute, nicht das Fromme und nicht das Schöne durchsetzt, sondern machtbewusste Drahtzieher, die der tatsächlichen Verteilung der Kräfteverhältnisse ins Auge blicken: Viele haben sich Vorstellungen von Freistaaten und Alleinherrschaften gemacht, von denen man in Wirklichkeit weder etwas gesehen noch gehört hat, denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, daß derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht, seine Existenz viel eher ruiniert als erhält. Ein Mensch, der immer das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind. Daher muß sich ein Herrscher, wenn er sich behaupten will, zu der Fähigkeit erziehen, nicht allein nach moralischen Gesetzen zu handeln sowie von diesen Gebrauch oder nicht Gebrauch zu machen, je nachdem es die Notwendigkeit erfordert. Ich lasse also alles beiseite, was über Herrscher zusammenphantasiert wurde, und spreche nur von der Wirklichkeit. 2 Solche Worte waren es, die Machiavelli einen schlechten Ruf eintrugen, von dem er selbst allerdings nichts mehr erfahren sollte, denn seine Schrift Der Fürst wurde erst 1532 und damit fünf Jahre nach seinem Tod veröfffentlicht. Unter Machiavellismus verstand man daraufhin schon bald eine Haltung, die sich weder um gut oder böse noch um Gott oder Moral scherte, sondern der es allein darum ging, die eigene Macht zu maximieren. Damit schafffte es der Autor nicht nur auf den besagten Index der katholischen Kirche, sondern galt fortan auch als Vordenker machtgieriger und tyrannischer Herrscher. Und tatsächlich gab er Empfehlungen, die nicht zimperlich ausfiielen: »Ein Herrscher darf sich also um den Vorwurf der Grausamkeit nicht kümmern, wenn er dadurch seine Untertanen in Einigkeit und Ergebenheit halten kann.« 3 Man würde allerdings Machiavelli einer ihm wichtigen Botschaft berauben, wenn man es dabei beließe, ihn zu verteufeln. Denn man 2 Ebd., S. 63. 3 Ebd., S. 68. 107 <?page no="107"?> darf nicht aus den Augen verlieren, welches Ziel der Florentiner mit seinen Büchern verfolgt hat. Zugegeben, Machiavelli schreckt vor nichts zurück, doch dahinter steht nicht einfach der Wunsch nach einer Schreckensherrschaft: »Gut angewandt kann man grausame Mittel nur nennen - wenn es überhaupt erlaubt ist, etwas Schlechtes gut zu heißen -, wenn man sie auf einmal anwendet und nur aus der Notwendigkeit heraus, um sich zu sichern, dann aber nicht damit fortfährt und sie jedenfalls zum größtmöglichen Nutzen der Untertanen wendet.« 4 Machiavelli ruft nicht grundsätzlich zu Grausamkeiten auf, sondern kommt aufgrund seiner Erfahrungen zu dem Schluss, dass manchmal grausame Mittel zur Sicherung der Herrschaft notwendig sind, um anschließend im Sinne des Gemeinwohls handeln zu können. Beständigkeit in der Regierung sieht er als Voraussetzung dafür an, dass die Menschen ihren Geschäften nachgehen können. Herrschaft ist demnach nicht selbst das Ziel, sondern ähnlich wie bei Aristoteles die Grundlage für das eigentlich gewünschte Ergebnis: ein friedliches Zusammenleben. Der Realpolitiker aus der Stadt der Medici rechtfertigt nicht einfach das Verhalten von Tyrannen, vielmehr ist er sich dessen bewusst, dass auch eine wohlwollende Regierung nur dann Bestand haben kann, wenn sie sich gegen mögliche Diktatoren zu behaupten vermag. Das kann sie seiner Meinung nach nur, indem sie notwendige Schritte nicht von vornherein aus moralischen Gründen ausschließt, sondern im vollen Bewusstsein ihrer Verantwortung anwendet. Unter Moral verstand Machiavelli dabei übrigens all das, was einen guten Ruf einbringt, weshalb man auf jeden Fall möglichst den Anschein vorbildlichen Verhaltens wahren soll: So muß ein Herrscher milde, treu, menschlich, aufrichtig und fromm scheinen und er soll es gleichzeitig auch sein; aber er muß auch die Seelenstärke besitzen, im Fall der Not alles ins Gegenteil wenden zu können. Man muß Verständnis dafür haben, daß ein Herrscher, und vor allem ein solcher in einer neu gegründeten Herrschaft, nicht alles beachten kann, wodurch die Menschen in einen guten Ruf kommen, sondern oft gezwungen ist, gegen Treue, Barmherzigkeit, Menschlichkeit und Religion zu verstoßen, eben um die Herrschaft zu behaupten. 4 Machiavelli, Der Fürst, S. 38. 108 <?page no="108"?> Darum muß er die Seelenstärke haben, sich nach den Winden des Glücks und dem Wechsel der Verhältnisse zu richten und, wie ich oben sagte, vom Guten so lange nicht abzugehen, als es möglich ist, aber im Notfall auch verstehen, Böses zu tun. 5 Dabei dachte Machiavelli möglicherweise auch an die Behauptung des Christentums insgesamt, denn jeder Aufruf zu christlichen Prinzipien ist zum Scheitern verurteilt, wenn das Gegenüber diese nicht anerkennt. Genau das war bei den aus der Türkei stammenden, aufstrebenden Osmanen der Fall, schließlich kämpften sie im Namen des Islam gegen die Christen, so wie diese andersherum in den Kreuzzügen gegen die Muslime gezogen waren. Jede Partei berief sich in diesem Kampf auf andere moralischen Grundlagen. Über 1000 Jahre hatte Constantinopolis überdauert und vielen anstürmenden Feinden widerstanden. Die Hauptstadt des Oströmischen Reiches lag auf einer Halbinsel und war so auf drei Seiten durch Wasser vor Angrifffen geschützt. Eine der drei Küsten lag am sogenannten Goldenen Horn, einer schmalen Bucht, die einen natürlichen Hafen darstellt und durch eine riesige Kette quer über der Einfahrt vor Kriegsschifffen uneinnehmbar geschützt war. Die einzige von Land zugängliche Seite im Westen schützte ein im 5. Jahrhundert von Theodosius II. errichtetes Bollwerk aus einem 15 Meter breiten Wassergraben und drei hintereinander platzierten Mauern. Die erste war zwei, die zweite acht und die dritte sogar zwölf Meter hoch. Doch dem entschlossenen Vorgehen und Taktieren des osmanischen Sultans hielt die Stadt nur bis zum 29. Mai 1453 stand. Denn in den fast zwei Monaten der Belagerung verfehlten die riesigen Kanonen Mehmeds II. ihre Wirkung nicht. Tag für Tag ließ er sie abfeuern, sodass die Stadtbewohner die Schäden an der Mauer nachts nur notdürftig ausbessern konnten. Seit 100 Jahren erst fand in Europa das Schwarzpulver Verwendung, das im 13. Jahrhundert in China erfunden worden war und von dort den Weg ins Abendland gefunden hatte. Nun läuteten die neuartigen Schusswafffen den Untergang des Oströmischen Reiches ein. Auch weil Mehmed zusätzlich in nur einer Nacht dutzende Schifffe kilometerweit über Land, die schützende Kette umgehend, zum Goldenen Horn schleifen ließ. Nun von zwei Seiten unter Druck geraten unterlagen die etwa 8000 Verteidiger dem 5 Ebd., S. 73. 109 <?page no="109"?> zehnfach überlegenen Heer des Sultans. Sogleich nach der Eroberung machten die muslimischen Türken die Residenz des ersten christlichen Kaisers zu ihrer neuen Hauptstadt und beendeten die über 2000 Jahre währende Geschichte des Römischen Reichs. Damit war ihr Eroberungsdrang aber noch nicht gestillt. Sie drangen weiter nach Norden vor und belagerten 1529 Wien, wo sie zwar erfolglos blieben, doch immerhin beherrschten sie für die folgenden drei Jahrhunderte den gesamten Balkan. Während die christliche Welt im Osten durch die muslimischen Osmanen unter Druck geriet, expandierte sie zugleich im Westen. Mehr als zwei Monate verbrachte der aus Genua stammende Christoph Columbus (ital. Cristoforo Colombo; span. Cristóbal Colón) zusammen mit 40 Mann Besatzung auf einem 24 Meter langen und acht Meter breiten Schifff, um 1492 den atlantischen Ozean im Auftrag der spanischen Königin zu überqueren. Bis an sein Lebensende ging Columbus davon aus, dass er den Westweg nach Indien entdeckt hatte. Der von den Medici zu einer Bankfiiliale ins spanische Sevilla entsandte Florentiner Amerigo Vespucci war der erste Europäer, der sich von der Entdeckung eines neuen Kontinents überzeugt zeigte, wie er seinen Auftraggebern nach der Teilnahme an mehreren Expeditionen in die Neue Welt berichtete. Aufgrund dieser Reiseberichte hielt der deutsche Kartenzeichner Martin Waldseemüller dann Vespucci irrtümlich für den Entdecker und beschriftete auf einer 1507 erstellten Weltkarte das neue Land im Westen erstmals nach dessen Vornamen als America. Die Karte fand schnelle Verbreitung und der Name in die Welt, was auch nach der Aufdeckung des Irrtums nicht mehr zu korrigieren war. Sultan Mehmed II., Johannes Gutenberg, Christoph Columbus, Martin Luther und Niccolò Machiavelli wurden alle im 15. Jahrhundert geboren, sie alle markierten gewaltige Veränderungen. In ihrem Gefolge zog ein neues Zeitalter herauf: das Zeitalter der Kanonen, das Zeitalter des Buchdrucks, das Zeitalter der Entdeckungen, das Zeitalter der Reformation, das Zeitalter der Machtpolitik - auf das Mittelalter folgte die Neuzeit. Die Neuzeit war nicht mehr von religiöser Schicksalsergebenheit geprägt, sondern von Menschen die danach strebten, die Grenzen des Möglichen herauszufiinden. Nicht mehr Papst und Kirche gaben fortan die Regeln des Zusammenlebens vor, sondern Fürsten, Völker 110 <?page no="110"?> und Unternehmer nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Wie Machiavelli hatten viele den Glauben an die alles bestimmende Macht Gottes verloren, nicht aber jenen an die Tatkraft der Menschen. Es ist mir nicht unbekannt, daß viele der Meinung waren und noch sind, daß die Dinge dieser Welt so sehr vom Glück und von Gott gelenkt werden, daß die Menschen mit all ihrer Klugheit nichts gegen ihren Ablauf ausrichten können, ja, daß es überhaupt kein Mittel dagegen gibt. Daraus könnte man folgern, man solle sich nicht viel mit den Dingen abquälen, sondern sich vom Zufall leiten lassen. [...] Doch da wir einen freien Willen haben, halte ich es nichtsdestoweniger für möglich, daß Fortuna zur Hälfte Herrin über unsere Taten ist, daß sie aber die andere Hälfte oder beinahe so viel uns selber überläßt. 6 Machiavelli schrieb nieder, was er in seiner unmittelbaren Umgebung erlebt hat, denn die norditalienischen Städte, noch immer von der einstmals großartigen und teilweise noch nutzbaren römischen Infrastruktur schöpfend, waren keine Orte des Stillstands, sondern Zentren des Handels und die ersten Motoren moderner Wirtschaft. Der Florentiner erlebte, dass Wohlstand und Fortschritt weniger gottgegeben waren als vielmehr das Ergebnis menschlicher Arbeit. Er erkannte auch, dass dies nicht das Werk einiger weniger war, sondern die Schafffenskraft des ganzen Volkes benötigt wurde, weshalb er, dem der Ruf eines Förderers der Tyrannei anlastete, Monarchien und Aristokratien als hinderlich erachtete. »Außerdem ist zu beobachten, daß Staaten, in denen das Volk regiert, in kürzester Zeit außerordentliche und viel größere Fortschritte machen als solche, die immer unter einem Alleinherrscher gelebt haben.« 7 Das heißt nicht, dass Machiavelli Anhänger der Demokratie war, sondern er bevorzugte eine Republik in der Tradition Roms und auch seiner eigenen Heimatstadt, wo das Volk eingebunden ist, aber die vornehmsten Familien über den größten Einfluss verfügen. In dieser zweiten, weniger bekannten großen Schrift Machiavellis, den Discorsi, wird deutlich, dass es dem Florentiner nicht einfach darum ging, unabhängig von seiner Verwendung Herrschaftswissen bereitzustellen. 6 Machiavelli, Der Fürst, S. 102 f. 7 Machiavelli, Discorsi, S. 152. 111 <?page no="111"?> Ganz gemäß dem Erfolgsrezept, mit dem die kleinen italienischen Republiken sich in Europa über Jahrhunderte zu behaupten vermochten, standen vielmehr Wohlstand, Fortschritt und auch die »Vorsorge für den Schutz der Freiheit« 8 im Vordergrund. Der Florentiner hat seine Republik immer verteidigt und drängt man seinen schlechten Ruf einen Moment beiseite, scheint es geradezu so, als wollte er aufrechten Republikanern Hilfestellung geben, damit sie nicht den Medici oder anderen machtgierigen Usurpatoren auf den Leim gehen. Denn die kannten die üblen Tricks ohnehin schon und bedurften seiner Nachhilfe nicht. Die Republik aber muss sich vor ihren verschlagenen Feinden schützen, weshalb gilt, »daß der, welcher einem Staatswesen Verfassung und Gesetze gibt, davon ausgehen muß, daß alle Menschen schlecht sind und daß sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben.« 9 Zum edlen Verteidiger der guten Sache taugt Machiavelli aber nur bedingt, denn der politische Erfolg, die Selbstbehauptung steht schlussendlich über allem, »denn wenn man alles genau betrachtet, so wird man fiinden, daß manches, was als Tugend gilt zum Untergang führt, und daß manches andere, das als Laster gilt, Sicherheit und Wohlstand bringt.« 10 Wegen solcher Sätze wurden die Schriften Machiavellis von der katholischen Kirche verboten. Von jener Kirche also, die den Sturz der florentinischen Republik herbeiführte und den gerissenen Medici zur Macht verhalf. Aufstieg und Regentschaft verdankte diese Familie wiederum genau jenen Machenschaften, die Machiavelli als Vorlage für seine Schriften dienten. Letztlich hat die katholische Kirche selbst nicht unerheblich zu einer Welt politischer Ränkespiele beigetragen, deren Beschreibung durch einen florentinischen Diplomaten sie dann später verbieten ließ. Man könnte daher vermuten, dass die Gründe für die Verteufelung Machiavellis weniger in dessen moralischer Gleichgültigkeit zu suchen sind, als vielmehr in dessen nüchterner Abtrennung politischer Fragen von Glaubensgrundsätzen. Bislang war das Gemeinwesen im Diesseits nur ein Nebenschauplatz von Augustinus’ Reich Gottes im Jenseits gewesen. Was soll man von einer politischen Welt halten, die, wie von Machiavelli skizziert, von der Re- 8 Machiavelli, Discorsi, S. 21. 9 Ebd., S. 17. 10 Machiavelli, Der Fürst, S. 64. 112 <?page no="112"?> ligion unabhängig auftritt? Unmöglich, skandalös und nicht zuletzt gefährlich für die Macht der katholischen Kirche, beinahe schlimmer noch als Luther, der wenigstens alles noch der Religion unterordnete? Zumindest damals! Heute hingegen gilt es umgekehrt als skandalös, wenn die Staatsführung religiösen Vorgaben folgen würde, wenn wir uns in der Einrichtung des Zusammenlebens nach der Kirche oder dem Papst richten müssten. Wie vom Florentiner gefordert, trennen moderne Demokratien Staat und Kirche. Politik ist keine Frage der Religion mehr oder sollte es zumindest nicht sein, vielmehr soll es um das gehen, was Machiavelli beschrieben hat: allein um Macht! In modernen Demokratien wird ganz selbstverständlich um Macht mit nichts anderem als Macht gerungen. Erlaubt ist, was immer Zustimmung einzubringen vermag. Leben wir folglich im Zeitalter des vollendeten Machiavellismus? Nein, so weit geht es dann doch nicht: Anders als vom Fürstenberater vorgeschlagen, sind zumindest innerstaatlich keine grausamen Mittel, keine Gewaltanwendung und keine Unterdrückung vorgesehen. Das Ringen hat friedlich zu erfolgen und schlussendlich soll es das Volk sein, das Macht verleiht oder entzieht. Auf dieser Grundlage aber präsentiert sich Demokratie als öfffentliches Machtgerangel. Sie ist jeder anderen Legitimation entblößt. Keine Religion, kein Gottesgnadentum, keine Feldherrnqualität verleiht Macht, sondern diese erwächst allein aus jenen politischen Quellen, welche die Demokratie zur Verfügung stellt. Genau deshalb irritieren uns heute Herrscher ebenso wie politische Bewegungen, die sich zur Verfolgung politischer Ziele auf religiöse Unterschiede berufen, ebenso wie religiöse Führer und Religionsgemeinschaften, die sich zur Verfolgung religiöser Ziele politischer Machtmittel bedienen. Machiavelli lehrt uns, wer Religion und Politik vermischt wird untergehen inmitten einer Welt voller unerbittlicher Machiavellisten, während die Demokratie den Machtkampf an die Öfffentlichkeit zu ziehen und für jeden transparent zu machen sucht. 113 <?page no="113"?> 9 Woher erfasste Bodin die Sehnsucht nach einem absoluten Herrscher? Niccolò Machiavelli widmete sein berühmtes Buch Der Fürst jenem Lorenzo de’ Medici, der die Republik in Florenz aushöhlte. Von dessen Onkel war er zwar seines Amtes enthoben worden und auch Lorenzo zeigte sich abweisend, doch Machiavelli, obschon er auch so sein Auskommen hatte, sehnte sich zurück in die Politik. Immer wieder suchte der Florentiner um eine Verwendung in Diensten seiner Heimatstadt nach. Die Medici jedoch verweigerten sich diesem Ansinnen und das blieb auch so, nachdem Lorenzo an Tuberkulose gestorben war. Wenige Tage zuvor hatten die Folgen einer am 13. April 1519 stattgefundenen Geburt auch dessen Ehefrau aus dem Leben gerissen. Zurück blieb ein gerade drei Wochen altes Kind namens Caterina, dem ein höchst wechselvolles Leben bevorstand. Der Bruder ihres Großvaters, und damit ebenfalls dem Medici-Clan zugehörig, nahm sich der kleinen Caterina an. Dabei handelte es sich um niemand geringeren als jenen Papst Leo X., der Martin Luthers Schriften verbrennen ließ und mit Machiavelli in Verhandlungen gestanden hatte. Leo verstarb allerdings zwei Jahre später ebenfalls und das kleine Mädchen gelangte im Gefolge des entfernt verwandten Kardinals Giulio de’ Medici, der wenige Jahre später als Clemens VII. ebenfalls Papst werden sollte, von Rom zurück nach Florenz. Acht Jahre war Caterina alt, als Clemens 1527 mit seinem Bündnis aus Franzosen und den italienischen Stadtstaaten Mailand, Florenz sowie Venedig dem Heer Karls V. unterlag, das daraufhin Rom plünderte. Karl strebte nach der Vorherrschaft in Europa, die ihm aufgrund glücklicher Erbangelegenheiten greifbar nahe erschien, denn in Nachfolge seines Großvaters war er römisch-deutscher König geworden und zugleich übte er an Stelle seiner für wahnsinnig erklärten Mutter die Regentschaft in Spanien aus, was wiederum nur möglich war, weil dort, anders als im fränkischen Raum, auch Frauen erben konnten. In 114 <?page no="114"?> Rom angekommen, nahm Karl den Papst in Gefangenschaft, worauf in Florenz die plötzliche Schwäche der Medici dazu genutzt wurde, die Republik wiederzubeleben. Caterina wurde dabei zur wertvollen Geisel. Noch einmal versuchte auch Machiavelli in die Politik zurückzukehren, was ihm diesmal die Republikaner verweigerten, weil seine Gesuche an die Medici in den vergangenen Jahren nun als Nähe zu ebendiesen gesehen wurden. Man kann dem Diplomaten im Ruhestand durchaus vorwerfen, dass er seine Dienste anbot, wer immer gerade an der Macht war, man kann darin zugleich eine Passion für das Politikgeschehen sehen. Schriftsteller hingegen war Machiavelli offfenbar unfreiwillig nur deshalb geworden, weil er seiner beruflichen Leidenschaft nicht nachgehen konnte. Er konnte nicht ahnen, dass er mit seinen Schriften Berühmtheit erlangen würde, denn deren Erscheinen erlebte er ebenso wenig wie die Umwandlung der Republik Florenz in das Herzogtum Toscana durch die zurückgekehrten Medici. Karl V. nämlich hatte Frieden mit Frankreich geschlossen, das ihm die Vorherrschaft über Italien zugestand. Anschließend einigte er sich mit dem Papst aus dem Hause Medici auf einen Tausch von dessen Heimatstadt gegen eine traditionelle Kaiserkrönung durch den Heiligen Vater. Um die reiche Familie wieder an die Macht zu bringen, ließen Karl und Clemens gemeinsam die Stadt belagern, woraufhin die Florentiner in ihrem Groll erwogen, die mittlerweile zehnjährige Caterina zu töten. Als Soldaten sie abholen kamen, dachte das Mädchen tatsächlich, es wäre um sie geschehen, doch man hatte sich anders entschieden und brachte die kleine Medici in ein Kloster, um sie dort weiter gefangen zu halten. Mit der Niederlage der Republik Florenz nahm Caterinas Leben nach drei Jahren Gefangenschaft eine Wendung, die aus ihr, dem bisherigen Spielball europäischer Politik, eine prägende Persönlichkeit in derselben machen sollte. Denn im Alter von 14 Jahren wurde sie mit dem gleichaltrigen Heinrich (franz. Henri), Herzog von Orléans, verheiratet, der damals zweiter in der Thronfolge des französischen Königshauses war. Da der ältere Bruder wenige Jahre darauf starb, wurde ihr Gemahl im Juli 1547 als Heinrich II. zum König gesalbt. Der Einfluss der von Geburt nicht adligen Italienerin war zunächst gering, was sich auch nicht erheblich durch den Tod ihres Mannes zwölf Jahre später änderte, als diesem bei einem Ritterturnier der Splitter einer 115 <?page no="115"?> zerbrochenen Lanze durch das Visier hindurch ins Auge und von dort ins Gehirn eingedrungen war. Sein ältester Sohn Franz II. (franz. François) galt mit seinen 15 Jahren den damaligen Gepflogenheiten entsprechend als volljährig und konnte folglich selbst regieren. Dessen Leben endete allerdings schon ein Jahr später qualvoll, weil mit den damaligen medizinischen Mitteln eine Fistel im Ohr nicht entfernt werden konnte. Nun übernahm Caterina die Regentschaft für ihren zweitältesten Sohn Karl IX. (franz. Charles), der mit seinen zehn Jahren noch minderjährig war. Die Reformation hatte zu diesem Zeitpunkt auch in Frankreich viele Anhänger gefunden. Prägend war hier weniger Martin Luther denn Johannes Calvin (franz. Jean Cauvin), der eine strenge Tugendlehre vertrat. Calvin wurde am 10. Juli 1509 im nordfranzösischen Noyon geboren. Sein Vater war dort Sekretär des Bischofs, der aus dem mächtigsten Adelsgeschlecht der Region stammte. Calvin durfte am Unterricht der Sprösslinge aus dieser vornehmen Familie teilnehmen und erhielt so eine ebenso umfassende wie katholisch geprägte Schulbildung. Im Alter von 14 Jahren wurde er zum Studium nach Paris geschickt, wo er die ganze Härte des Collège Montaigu erfuhr, das für Strenge und Züchtigungen berüchtigt war. Anschließend war ein Theologie-Studium geplant, doch zwischenzeitlich hatte sich sein Vater mit dem Bischof überworfen. Ohne den kirchlichen Rückhalt schienen die Rechtswissenschaften aussichtsreicher und so wurde Calvin an die fortschrittlichen Universitäten in Orléans und Bourges entsandt, wo er mit zahlreichen Protestanten in Kontakt kam und mit dem acht Jahre älteren Nicolas Cop, Sohn des königlichen Leibarztes, Freundschaft schloss. 1533 wurde Cop als Rektor der Universität von Paris berufen und stellte sich gleich in seiner Antrittsrede kaum verhohlen hinter die protestantische Lehre. Sogleich brandmarkten führende Katholiken das als Ketzerei und der König schritt ein. Cop und seine Freunde mussten fliehen. Das führte bei Calvin endgültig die Hinwendung zur Reformation herbei, nachdem er sich zuvor von der katholischen Kirche bitter enttäuscht zeigte, weil seinem Vater aufgrund des Streits mit dem Bischof ein ordentliches Begräbnis verweigert wurde. Drei Jahre nach der Flucht gelangte Calvin zufällig just zu jenem Zeitpunkt nach Genf (franz. Genève) als die Stadt sich gegen den katholischen Herzog von Savoyen auflehnte und auf die Seite der Reformation 116 <?page no="116"?> wechselte. Im Dienste des örtlichen Predigers Guillaume Farel entwarf Calvin eine strenge Kirchenzucht, die eine umfassende Überwachung der Bürger und drakonische Strafen vorsah. Doch die Bürger wehrten sich gegen den harten Kurs und so musste der Franzose Genf wieder verlassen. Nachdem sich in der Stadt danach jedoch keine Ordnung einstellen wollte, konnte Calvin gut drei Jahre später zurückkehren und seine Vorstellungen durchsetzen. Ein entscheidender Unterschied zu Luthers Aufffassung lag dabei in der sogenannten Prädestinationslehre. Calvin ging davon aus, dass von Gott vorherbestimmt ist, wer ins Himmelreich aufgenommen werden wird und wer in die Hölle. Das liegt nahe, wenn man Gott Allmacht zurechnet. Würde man es hierbei belassen, bräuchte sich niemand mehr zu bemühen. Ob man sich an Calvins Kirchenzucht hält oder nicht, wäre für Gottes Gnade völlig unerheblich. Ganz im Gegensatz dazu zeichnen sich Calvinisten jedoch durch außerordentliche Disziplin aus, weil der strenge Reformator zudem behauptet, dass man die Gnadenwahl bereits im Diesseits erkennen könne. Wen Gott fürs Himmelreich vorbestimmt habe, der zeichne sich schon im Hier und Jetzt durch besondere Tugendhaftigkeit aus. Je besser jemand die Kirchenzucht zu erfüllen verstehe und damit Erfolg im Leben habe, desto sicherer könne er sich Gottes Gnade sein. Entsprechend ruhten sich die Calvinisten nicht aus, sondern suchten sich durch tugendhaftes Verhalten und Fleiß ihrer Gnadenwahl zu versichern. Ausgehend von der Schweiz fand diese Lehre vielerorts in Europa Anhänger. In Frankreich wurden die Calvinisten aufgrund der Herkunft ihrer Religion mit den schweizerischen Eidgenossen gleichgesetzt und davon abgeleitet Hugenotten (franz. huguenots) genannt. Bald schon führte die schnelle Verbreitung zu immer schwerwiegenderen Konflikten mit Katholiken. In dieser Situation arrangierte Caterina, deren Hintergedanken stets unergründlich blieben, eine Hochzeit zwischen ihrer Tochter und dem König des kleinen Navarra und Anführer der Hugenotten, der ebenfalls Henri hieß. Allem Anschein nach strebte die französische Königin damit eine Versöhnung zwischen den Konfessionen an. Zunächst sah es auch ganz danach aus: Die Trauung fand am 17. August 1572 statt, woran sich in Paris tagelange Feierlichkeiten anschlossen, zu denen aus ganz Frankreich Katholiken und Hugenotten zusammengekommen waren. Allerdings kippte die feierliche 117 <?page no="117"?> Stimmung als Gaspard de Coligny, Oberbefehlshaber des protestantischen Heeres, fünf Tage nach der Hochzeit Opfer eines Attentats wurde und nur knapp überlebte. Aufruhr war die Folge, worauf der mittlerweile 22-jährige Karl IX. Truppen Stellung beziehen ließ. Am Festtag des Sankt Bartholomäus, dem 24. August, suchte inmitten dieser aufgeheizten Atmosphäre der Wortführer der katholischen Seite, der Herzog von Guise, ebenfalls mit Vornamen Henri, mit ein paar Soldaten den schwer verletzten Coligny auf und ließ ihn ermorden. Die heimtückische Tat war der Auftakt zu einem furchtbaren Massaker, dem allein in Paris Tausende Menschen zum Opfer fiielen. In den folgenden Tagen wurden in ganz Frankreich viele weitere Hugenotten niedergemetzelt. Der frisch vermählte König von Navarra überlebte zwar, wurde aber gefangen gehalten. Ob sein Widersacher Henri de Guise auf eigene Faust handelte oder Caterina dahintersteckte oder vielleicht auch ihr Sohn, konnte nie aufgeklärt werden; auch nicht, ob das Blutbad an den Hugenotten so beabsichtigt war oder sich hier ungewollt eine ungeahnte Dynamik verselbständigte. Der berühmte Schriftsteller Alexandre Dumas jedenfalls traut fast 300 Jahre später in seinem historischen Roman Bartholomäusnacht offfenbar der Königinmutter zu, die ganze Hochzeit nur inszeniert zu haben, um die führenden Hugenotten auf einen Schlag ermorden zu lassen, wenn er Heinrich von Navarra zu Caterina sagen lässt: »Madame, [...] das Ganze ist Ihr Werk, nicht meines Schwagers Karl, das sehe ich sehr wohl; Sie hatten die Idee, mich in eine Falle zu locken; Ihr Gedanke war es, uns durch Ihre Tochter zu ködern und alle zu verderben.« 1 Jean Bodin, zehn Jahre jünger als die italienische Mutter des französischen Königs, hatte diese Situation vor Augen, als er seine Sechs Bücher über den Staat 1576 veröfffentlichte. Das Herrschaftsverständnis des Mittelalters sorgte seit eh und je zu widerstreitenden Ansprüchen zwischen Kirche und König, durch die Reformation und den Behauptungswillen ihrer Anhänger wurde die Lage noch unübersichtlicher und die starke Stellung des Hochadels tat ein Übriges. Adlige, Katholiken, Protestanten und der König strebten sämtlich nach Macht und sahen sich jeweils im Recht. Aus Sicht des Papstes betrieben die Reformatoren eine Spaltung der christlichen Glaubensgemeinschaft, wogegen Hugenotten und Lutheraner die katholische Kirche längst 1 Dumas, Die Bartholomäusnacht, S. 147. 118 <?page no="118"?> vom in der Bibel vorgegebenen Pfad abgekommen sahen; gegen beide strebte der König seine Herrschaft über das Land durchzusetzen, wodurch sich die Fürsten aber nicht ihrer alten Rechte berauben lassen wollten. Und sie alle kämpften längst mit jenen Methoden, die von Machiavelli niedergeschrieben und die Caterina in die Wiege gelegt worden waren. Die Folgen waren Kampf, Krieg, Intrigen und viel Leid in der Bevölkerung. Bodin sah eine Lösung: Im Staat dürfe es nur eine Instanz geben, die rechtmäßig die Herrschaft für sich beanspruchen kann. Genau genommen sprach Bodin nicht vom Staat, sondern von der Republik. Nicht, dass er überzeugter Republikaner gewesen wäre, vielmehr mied er den Begrifff der Monarchie, um mit eben jener überlieferten Ordnung zu brechen, die für ihn der Grund allen Übels war. Von einem Staat zu sprechen, war ihm aber noch nicht möglich, weil sich der Begrifff für eine solche selbständige politische Einheit erst herauskristallisierte, nicht zuletzt im Gefolge seiner eigenen Überlegungen. Bodin verwendet deshalb jenen Begrifff, den er von den Römern kannte: »Unter dem Staat [im franz. Original: république] versteht man die am Recht orientierte, souveräne Regierungsgewalt über eine Vielzahl von Haushaltungen und das, was ihnen gemeinsam ist.« 2 So sehr dieser Satz demjenigen ähneln mag, mit dem Cicero 1600 Jahre zuvor eine Republik defiinierte, so sehr steht er im Widerspruch zur französischen und zur gesamten europäischen Wirklichkeit; denn aus dem Mittelalter heraus dominierte die Vorstellung, dass Grund und Boden Privatbesitz des Fürsten sind. Die Idee eines gemeinsamen öfffentlichen Interesses war in den vielen Jahrhunderten, die seit dem Ende der römischen Republik verstrichen waren, verloren gegangen. Indem Bodin nun die Haushalte als grundlegend benennt, greift er den republikanischen Gedanken wieder auf. An die Stelle einer übermenschlichen, religiösen Rechtfertigung von Herrschaft rückt er die souveräne Regierung über eine Rechtsgemeinschaft von Einwohnern. Auf ein Wort, das Cicero noch nicht kannte, legt Bodin hierbei besonderen Wert: Souveränität! »Wer also souverän sein soll, darf in keiner Weise dem Befehl anderer unterworfen und muß in der Lage sein, den Untertanen das Gesetz vorzuschreiben, unzweckmäßige Gesetze aufzuheben oder für ungül- 2 Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Buch I-III, S. 98. 119 <?page no="119"?> tig zu erklären und durch neue zu ersetzen.« 3 Niemand, kein Papst und keine Versammlung von Fürsten, kann demnach einem echten Souverän Vorschriften machen. Dieser allein erlässt Gesetze oder hebt sie auf. Das ist ein völlig neuer Ansatz: In Königreichen, aber auch schon in der römischen Republik, waren Gesetze keine frei formulierbaren Regeln, die nur Kraft Setzung durch den Herrscher Gültigkeit beanspruchten. Gesetze bezogen ihren Gültigkeitsanspruch vielmehr aus ihrer Überlieferung von alters her. Die Rechtmäßigkeit wurde nicht durch die Autorität der Regenten verliehen, vielmehr war stets ein Bezug auf die Vergangenheit, auf jahrhundertealte Tradition wichtig. Genau hier sieht Bodin das Problem, weil der König, die Fürsten, die katholische Kirche und die Protestanten sich auf unterschiedliche Traditionen mit unterschiedlichen Rechtsaufffassungen berufen konnten, um ihre widerstreitenden Machtansprüche einzufordern. Unter solchen Umständen ist kein Frieden möglich und für einen Schiedsrichter keine Grundlage vorhanden. Den Ausweg aus diesem Dilemma sieht der Jurist deshalb darin, dass es im Staat nur eine Stelle geben dürfe, die die Spielregeln festlegt und über ihre Einhaltung wacht: den Souverän. Um denselben an jene Grundlagen zu binden, denen er seine eigene Herrschaft verdankt, muss er sich allerdings an einen Rahmen halten: »Von den Gesetzen aber, die die Verfassung und den Aufbau des Königreichs angehen wie beispielsweise das Salische Gesetz, kann der Fürst nicht abweichen, weil sie unauflöslich mit der Krone verbunden sind.« 4 Das hier erwähnte Salische Gesetz (lat. Lex Salica), eine im 6. Jahrhundert verfasste Niederschrift mündlich überlieferter germanischer Stammesrechte, regelt die Erblichkeit der Königswürde. Hierauf beriefen sich jahrhundertelang die Fürsten in ihren Herrschaftsansprüchen und hierdurch wurden in Mitteleuropa Frauen von der Erbfolge ausgeschlossen. Daneben bleibe der Souverän Gott und den biblischen Vorgaben gegenüber gebunden, wie Bodin betont: »Den Gesetzen Gottes und der Natur dagegen sind alle Fürsten der Erde unterworfen und es steht nicht in ihrer Macht, sich über sie hinwegzusetzen, ohne sich eines Majestätsverbrechens an Gott schuldig zu machen und damit offfen Gott den Krieg zu erklären, unter dessen 3 Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Buch I-III, S. 213. 4 Ebd., S. 218. 120 <?page no="120"?> Größe alle Monarchen gleichsam wie durch das Joch zu gehen und in aller Demut und Ehrfurcht ihr Haupt zu beugen haben.« 5 Wie gesagt, Bodin war kein Republikaner. Er wendet sich weder von der Monarchie noch von ihrem göttlichen Ursprung ab. Gott verleihe alle Macht, da weicht der Franzose nicht von der mittelalterlichen Linie ab. Aber zwischen ihm und dem Herrscher steht nichts und niemand - auch kein Papst. Bodins Souveränität wendet sich nicht gegen Gott, sondern »gegen die Aufspaltung von Herrschaft auf viele, etwa religiös, lehnsrechtlich oder ständisch legitimierte Träger«. 6 Innerhalb seines Staates ist demnach allein der Souverän dafür zuständig, die Zuständigkeiten zu regeln, er verfügt sozusagen über die »Kompetenz-Kompetenz«. 7 Gesetzgebung und Gestaltung des Gemeinwesens liegen in seinen Händen, und zwar für immer: »Unter der Souveränität ist die dem Staat [république] eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen.« 8 Könige sind sterblich, die Souveränität nicht, betont Bodin. Diese Forderung lässt sich nur auflösen, wenn man den Souverän nicht mit dem Herrscher gleichsetzt, wenn man das, worüber geherrscht wird, nicht als Privatbesitz einer Person ansieht. Die Souveränität überdauert das Leben einzelner Fürsten und repräsentiert damit eine gedankliche Einheit, eine übergeordnete Körperschaft unabhängig von einzelnen Personen oder patricischen Familien. Ohne dass ihm selbst der Begriff zur Verfügung stand, hat Bodin damit die Idee des Staates geschaffen: eine Rechtsgemeinschaft mitsamt Bewohnern, Land und gemeinsamen Einrichtungen, um Zusammenleben und Allgemeingut zu verwalten. Zugleich geschafffen hatte er damit auch die Idee der unumschränkten, absoluten Herrschaft, in der der König zwar nicht mehr über Privatbesitz verfügt, dafür aber die Souveränität vorübergehend im buchstäblichen Sinne verkörpert, weshalb 80 Jahre später der französische König Ludwig XIV. (franz. Louis) formulieren konnte: L’État c’est moi! - Der Staat bin ich! Doch bis dahin musste in Frankreich noch viel passieren, was Bodin nicht mehr erleben sollte, denn er verstarb 1596 und damit zwei Jahre vor dem Edikt von Nantes, das ihm aus der Seele gesprochen haben dürfte. 5 Ebd., S. 214. 6 Koselleck, Conze u. a., »Staat und Souveränität«, S. 108. 7 Quaritsch, Souveränität, S. 36. 8 Bodin, Sechs Bücher über den Staat. Buch I-III, S. 205. 121 <?page no="121"?> Im Jahr der Veröfffentlichung von Bodins Schrift und damit vier Jahre nach der Gefangennahme konnte der König von Navarra fliehen und erneut als Anführer der Hugenotten den Kampf gegen die Katholiken aufnehmen. Karl IX. war zwischenzeitlich gestorben und sein Bruder, der ebenfalls den Namen Henri trug, hatte die Herrschaft übernommen. So kam es zum Krieg der drei Heinriche: Heinrich von Navarra führte die Hugenotten an, Heinrich von Guise die Katholiken und Heinrich III., König von Frankreich und stark beeinflusst von seiner mittlerweile mächtigen Mutter Caterina, versuchte eingezwängt zwischen den beiden Kontrahenten seine Macht zu behaupten. Selbst Katholik stand der König zunächst mehr auf Seiten des Herzogs von Guise. Als jedoch 1584 sein jüngerer Bruder starb, war Heinrich der letzte Vertreter der gesamten Linie Valois, einem Familienstamm, in dem seit über 350 Jahren durchgehend die französische Königswürde weitervererbt wurde. Da er selbst kinderlos war, stand für den König fest, dass die rechtmäßige Thronfolge nun an das Haus Bourbon übergegangen war und damit an Heinrich von Navarra! Im Interesse der französischen Einheit versuchte er diesen nun zum Übertritt in die katholische Kirche zu überreden, blieb aber erfolglos. Um einen protestantischen König auf dem Thron doch noch zu verhindern, suchten die Katholiken, angeführt von Henri de Guise, die Entscheidung auf dem Schlachtfeld. Dort konnte im Oktober 1587 jedoch der König von Navarra einen Sieg davontragen. Noch gab sich der Herzog von Guise nicht geschlagen und initiierte einen Aufstand in Paris, auch weil ihm das Vorgehen des französischen Königshauses gegen die Hugenotten nicht weit genug ging. Mit Erfolg: Paris rebellierte gegen den König und dieser musste fliehen. Die Gefahr für seine Krone ging plötzlich nicht mehr von den Hugenotten, sondern von den Katholiken aus. Heinrich III. lockte deshalb den Katholikenführer mitsamt Bruder unter einem Vorwand in seine Residenz und ließ beide einen Tag vor Heilig Abend ermorden. Anders als erhoffft, lehnten sich die Katholiken nun erst recht auf und zudem exkommunizierte der Papst den König. Diesem blieb nichts anderes übrig, als sich mit dem Hugenottenführer, der zugleich ein Spielgefährte aus Kindertagen am königlichen Hof war, zu verbünden, um nun gemeinsam mit dessen Truppen Paris zu belagern. Die Hauptstadt seines eigenen Königreiches aushungernd wurde Heinrich III. im August 1589 von einem aufgebrachten Dominikanermönch nie- 122 <?page no="122"?> dergestochen. Den Krieg der drei Heinriche hatte nur einer überlebt, der schließlich als Heinrich IV. der erste protestantische König Frankreichs wurde. Caterina musste das, wogegen sie ihr halbes Leben lang angekämpft hatte, nicht mehr miterleben. Ihr bewegtes Leben hatte zwei Wochen nach jenem ihres Mitstreiters Henri de Guise mit 69 Jahren ein Ende gefunden. Vier Jahre lang dauerten die Kämpfe gegen die Katholiken noch an. Einlass in Paris fand Heinrich IV. jedoch erst, nachdem er im Sommer des Jahres 1593 zum katholischen Glauben übergetreten war. Die Anhänger seines alten Glaubens hatte er aber nicht vergessen und gewährte ihnen fünf Jahre später mit dem Edikt von Nantes die Ausübung ihrer Religion, womit in Frankreich für drei Jahrzehnte der Religionsfrieden gesichert war. Der König hatte also die Lektion von Bodin gelernt, wonach nicht die Konfession, sondern einzig die Einheit des Staates wichtig ist: »Wir sollten keinen Unterschied zwischen Katholiken und Hugenotten machen, wir sollten alle gute Franzosen sein.« 9 Damit markierte der erste Bourbone auf dem Thron den Beginn einer Zeit, in der alle Einwohner auf französischem Territorium als persönliche Untertanen des Königs betrachtet wurden. Alles zusammen war Frankreich und dieses hatte eine gemeinsame Regierung, der der König vorstand: Er war der Souverän, er verkörperte den Staat, er herrschte absolut. Nicht den Päpsten, Gott allein war der König von Gottes Gnaden Rechenschaft schuldig. Von was sonst konnte ein ehemaliger Protestant auf dem französischen Thron überzeugt sein? Hätte er plötzlich dem Papst huldigen sollen? Heinrich war zwar vordergründig zum katholischen Glauben übergetreten, um sein Königreich von der Hauptstadt aus regieren zu können; als langjähriger Führer der Hugenotten hatte er aber die exklusive Unmittelbarkeit des Papstes zu Gott offfen angezweifelt. 516 Jahre nachdem der Übergang vom deutsch-römischen König Heinrich III. zu seinem Sohn Heinrich IV. den Auftakt für wachsende päpstliche Einmischung auf die weltliche Herrschaft in ganz Europa markierte, steht der Übergang vom französischen König Heinrich III. zum hugenottisch geprägten Heinrich IV. für das Zurückdrängen eben dieses Einflusses. Der Absolutismus, ausgelöst durch die Re- 9 nach Hinrichs, »Heinrich IV. (1589-1610)«, S. 155. 123 <?page no="123"?> ligionskriege und in Worte gefasst von Jean Bodin, wird als Regierungsform Frankreich fast 200 Jahre lang Bestand haben und in ganz Europa Nachahmer fiinden. Ihren Kern bildet die Idee der Souveränität, der es darauf ankommt, dass es auf einem Territorium nur noch eine Instanz geben darf, die das Heft in der Hand hält und die sich auch nicht von außen, von anderen Herrschern anderer Staaten nichts sagen lassen muss. Souveränität läuft auf ein bis heute beanspruchtes Prinzip hinaus: Alle politische Herrschaft geht vom Staate aus! Ein einheitlicher Apparat verwaltet das gesamte Territorium gleichermaßen. Im Absolutismus kontrolliert diesen Apparat der König, in der Demokratie das Volk. Für uns heute selbstverständlich entstand diese Einheitlichkeit aus der Erfahrung des Gegenteils heraus. Unterschiedliche Zuständigkeiten und konkurrierende Machtansprüche hatten jahrhundertelang für Gewaltexzesse und Leid der Bevölkerung gesorgt. Erst nach und nach gewann der Staat die Hoheitsgewalt über das Territorium. Die Demokratie beruht auf dieser absoluten Verfügungsgewalt. Zugleich wird heute im Zuge von Privatisierungen, Stiftungen oder abgetrennten Gemeinschaften der staatliche Einflussbereich zurückgefahren. Schon kommt es mancherorts wieder zu konkurrierenden Zuständigkeiten und zu Machtausübungen nicht-staatlicher Organisationen. Während mancher sich heute einen schwächeren Staat wünscht, setzte Bodin auf dessen Stärke und Einheitlichkeit, um dem Chaos aus religiösen Befiindlichkeiten ein Ende zu bereiten und durch eine rein politische Ordnung zu ersetzen, die ohne Rücksicht auf religiöse Glaubensfragen den Frieden bewahren soll. In der Realität waren die absoluten Herrscher nie so souverän, wie Bodin sich das vorgestellt hatte, denn sie blieben weiterhin abhängig davon, dass die Fürsten sich nicht gegen sie verschworen, die Bevölkerung nicht rebellierte, der Handel Steuern abwarf und die Nachbarstaaten nicht mit reiner Wafffengewalt sich des Landes bemächtigten. Trotzdem brachte die Zentralisierung der Herrschaftsrechte beim Monarchen eine Stabilität, die Frankreich zur führenden Macht Europas werden ließ, was Heinrich IV. allerdings nicht mehr erleben sollte, denn ihn ereilte das selbe Schicksal wie seine beiden Kontrahenten gleichen Namens: auch er wurde erstochen. Ein religiöser Eiferer war am 14. Mai 1610 in die Kutsche desjenigen Königs eingedrungen, der den jahrzehntelangen Krieg zwischen Protestanten und Hugenotten beendet hatte. 124 <?page no="124"?> 10 Woher schöpfte Hobbes das Recht auf Leben? Was tun, wenn man zwar König und schon zwölf Jahre verheiratet ist, aber kein Thronfolger in Sicht? Statt dessen hat die Ehefrau bereits drei Totgeburten zu betrauern, zwei lebend geborene Söhne sind zudem innerhalb weniger Wochen gestorben. Immerhin ein Mädchen wuchs heran, doch die Zeit, in der auch Frauen den Thron hätten besteigen können, war noch nicht gekommen. Nach den vielen Rückschlägen befürchtete Heinrich VIII. (engl. Henry) schließlich, dass ein Fluch über seiner Ehe liege, da er die Witwe seines älteren Bruders hatte heiraten müssen. Die Hochzeit mit der Prinzessin aus Spanien hatte der Vater eigens arrangiert, denn sie sollte es erleichtern, mit dem spanischen Königshaus ein Bündnis gegen den alten Rivalen Frankreich einzugehen. Welche Gefühle das Paar füreinander hegte, spielte wie so oft bei Heiraten des Hochadels keine Rolle. Es ging allein um Macht. Nun aber war ohne Sohn und damit ohne Thronfolger die Erhaltung der Macht erst recht gefährdet und deshalb wollte Heinrich 1531 die Ehe beenden. In solchen Fällen lässt die katholische Kirche eine Scheidung jedoch nicht zu, sodass der englische König darauf drängte, den Ehebund für ungültig erklären zu lassen. Papst war damals Clemens VII., also jener Giulio de’ Medici, der wenige Jahre darauf die Hochzeit Caterinas mit dem späteren französischen König Heinrich II. arrangieren sollte. Clemens hatte gerade einen Krieg gegen Kaiser Karl V. verloren, diesem aber trotzdem die Unterwerfung Florenz’ unter die Herrschaft der Medici zu verdanken. Gegnern des Kaisers konnte er dadurch unmöglich entgegenkommen, weshalb er sich vom vorgetragenen Ansinnen aus England nicht erweichen ließ, zumal die englische Königin, die durch die Scheidung ins Abseits geraten würde, eine Tante Karls war. Heinrich VIII. hatte somit die Wahl, dem Papst die Treue haltend, jede Chance auf einen Thronfolger fahren zu lassen oder die katholische Kirche mitsamt den ihr nahestehenden mächtigen Fürsten herauszufordern, dafür aus eigener Kraft den Fortbestand der Dynastie 125 <?page no="125"?> zumindest möglich zu machen. Er entschied sich für Letzteres; vielleicht auch deshalb, weil seine außereheliche Liebschaft sich weigerte, ihm weiterhin lediglich als königliche Mätresse beizuwohnen. Im Januar 1533 vermählte sich Heinrich somit zum zweiten Mal, worauf aus Rom sogleich der Ausschluss aus der katholischen Kirche, die Exkommunikation erfolgte. Der König sah nunmehr keinen Weg zurück in die römische Glaubensgemeinschaft, weshalb er sich zu einer radikalen Reaktion entschied: Er erließ ein Gesetz, das ihn zum religiösen Oberhaupt seines Landes erklärte. England war nicht länger römisch-katholisch! Die anglikanische Kirche hatte sich von Rom abgespalten. Um die Dynastie zu sichern, hatte Heinrich damit einen mutigen Schritt vollzogen, unglücklicherweise brachte jedoch auch seine zweite Gattin nicht sogleich einen Thronfolger hervor, weshalb er sie nach nur zwei Jahren unter dem Vorwand des Ehebruchs hinrichten ließ. Ohnehin hatte der König sich bereits in eine andere Dame verliebt, die ihm als dritte Ehefrau 1537 endlich den ersehnten Sohn und späteren König Eduard VI. (engl. Edward) gebar. Keine zwei Wochen später verstarb jedoch. Henry heiratete erneut, diesmal aus politischen Gründen mit Anna von Kleve eine Angehörige des deutschen Hochadels, deren er allerdings bereits nach sechs Monaten überdrüssig wurde. Da eine Hinrichtung diesmal eine einflussreiche Herkunftsfamilie verärgert hätte, einigte man sich auf eine Auflösung der Ehe. Weniger Glück hatte anschließend Annas Hofdame, mit der Heinrich eine Afffäre eingegangen und im Juli 1540 zum fünften Mal in den Stand der Ehe eingetreten war. Zwei Jahre später wurde sie wiederum Opfer des schon erprobten Vorwands eines Ehebruchs und entsprechend enthauptet. Seiner darauf folgenden sechsten Ehe entzog sich der englische König ebenfalls innerhalb weniger Jahre - diesmal allerdings durch den eigenen Tod am 28. Januar 1547. Die frauenverschlingende Lebensweise Heinrichs haben die Engländer in ihrer unnachahmlichen Trockenheit in einem Abzählreim dokumentiert. Statt ene, mene, miste... heißt es da: Divorced, Beheaded, Died, Divorced, Beheaded, Survived! Um die Herrschaft seiner Familie sicherzustellen, hatte Heinrich im Resultat also mit der katholischen Kirche gebrochen, war sechs Ehen eingegangen und hatte diese teilweise äußerst skrupellos beendet. Wie erhoffft, wurde zwar sein einziger Sohn König von England, verstarb 126 <?page no="126"?> jedoch schon im Alter von 15 Jahren kinderlos. Danach folgten auf dem Thron noch zwei Töchter Heinrichs, die ebenfalls kinderlos blieben, sodass 1603 die Dynastie der Familie Tudor trotz alledem zu Ende ging. Als deutlich dauerhafter erwies sich die aus der persönlichen Not heraus geschafffene anglikanische Kirche. Was wohl weniger an deren religiöser Überzeugungskraft lag als schlicht an der Abkehr von Rom. Denn für diesen Schritt hatte Heinrich VIII. das Wohlwollen des Parlaments, das nirgendwo so einflussreich war wie in England. Schon im Jahr 1215 hatte sich der englische Adel in der Magna Carta Libertatum garantieren lassen, dass keine Steuern ohne »Einholung des gemeinsamen Rates des Königreichs«, 1 woraus später das Parlament hervorgehen sollte, erhoben werden dürfen. Anlass damals war eine gegen Frankreich erlittene Niederlage des Königs Johann Ohneland (engl. John Lackland), der diesen kuriosen Beinamen von Kindesbeinen an trug, weil seine drei älteren Brüder vom Vater ein eigenes Territorium erhalten hatten, er jedoch nicht. Die Königswürde und damit Ländereien erlangte er trotzdem, denn seine Brüder starben alle vor ihm. Dennoch blieb sein Beiname zeitlebens trefffend, denn Johann verlor große Besitzungen auf dem europäischen Festland, wo dem englischen Königshaus damals nennenswerte Teile des heutigen Frankreich gehört hatten. Der französische König drang dort immer weiter vor, sodass Johann dringend Geld benötigte, um gar eine Invasion der britischen Inseln durch die Franzosen zu verhindern. Nach all den Misserfolgen verweigerten ihm die Adligen allerdings die nötigen Mittel. Es kam zum Aufstand. Der Adel wollte nicht nur Rechenschaft darüber, was mit dem Geld geschah, sondern er wollte zugleich mehr Schutz vor königlicher Willkür. Deshalb ließ er sich in der bis heute in Großbritannien gültigen Magna Carta sowohl das Verbot grundloser Verhaftung als auch das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren im Falle einer Gefangennahme garantieren. Außerdem nutzte der Adel die Schwäche des Königs dazu, etwas durchzusetzen, was zu einer modernen Selbstverständlichkeit werden sollte, denn das Dokument enthält ein Recht auf Eigentum, welches vererbt und nicht entschädigungslos entzogen werden darf. So naheliegend das Anrecht auf unanfechtbaren eigenen 1 §14 nach Kimmel, Die Verfassungen der EG-Mitgliedsstaaten, S. 569. 127 <?page no="127"?> Besitz und der Anspruch auf einen Schutz vor dem Zugrifff anderer auch anmuten mag, er ist es nicht. Dass es heute trotzdem üblich ist, daran haben die Ereignisse in England keinen geringen Anteil, nicht zuletzt weil Johann auf die Forderungen des Adels eingehen musste, wollte er nicht vom Thron gestoßen werden. Der König unterzeichnete die Magna Carta und fortan war der grundrechtliche Anspruch auf Eigentum nicht mehr aus der Geschichte Englands zu tilgen. Johann akzeptierte damit in seinem Königreich Besitzungen, über die er fortan nicht frei verfügen konnte. Damit gehörte England nicht mehr dem König allein. Genau genommen gehörte Johann gar nichts, denn in den schwierigen Zeiten zuvor war er auch mit dem Papst in Streit geraten. Um ihn zu besänftigen, hatte er ihm schon 1214 England und Irland geschenkt, dann aber als Lehen zurückerhalten. Damit blieb Johann zwar König, allerdings weniger von Gottes Gnaden als von jener des Papstes. Und den Adligen hatte er im Grunde Eigentum zugesichert, das ihm selbst nur geliehen war. Nach dieser Vorgeschichte kam drei Jahrhunderte später die Unterstützung des Parlaments für Heinrich VIII. bei der Loslösung von der katholischen Kirche nicht von ungefähr. Die von Martin Luther ausgelöste protestantische Bewegung hatte auch vor England nicht halt gemacht und unter den Parlamentariern zahlreiche Anhänger gefunden. Diese breite Basis an Engländern, die dem Katholizismus fern standen, kam dem König bei Gründung der anglikanischen Kirche gerne entgegen. Für Protestanten bedeutete eine Abkehr von Rom mehr Sicherheit in der eigenen Religionsausübung. Zugleich gewann das Parlament mit diesem Schritt deutlich an Einfluss auf religiöse Fragen, von denen es bisher weitgehend ausgeschlossen war. Jetzt aber konnte es anstelle des Papstes mit dem König um die Religionspolitik im Lande ringen. Der große Gewinner von Heinrichs Maßnahmen zur Herrschaftssicherung, war folglich nicht seine Familie, sondern der englische Parlamentarismus. Wirklich demokratisch war dieser allerdings noch nicht, denn das Wahlrecht blieb an einen Grundbesitz gekoppelt, der jährlich mindestens 40 Schilling Ertrag abwerfen musste, wodurch deutlich weniger als die Hälfte der männlichen Bevölkerung wahlberechtigt war. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde der Wert mehrmals erhöht, bevor dann im 19. Jahrhundert die Schwelle zu sinken begann und damit mehr Bürger die Wahlberechtigung erhielten. Ausnahmslos alle männlichen Engländer durften erst ab 1918 128 <?page no="128"?> an den Wahlen teilnehmen, die Frauen schließlich ab 1928. Die Auswirkungen eines selbstbewussten Parlaments bekam Karl I. (engl. Charles) gleich bei seinem Regierungsantritt im Jahr 1625 zu spüren. Üblicherweise wurde die Erhebung der Hafensteuer dem englischen König auf Lebenszeit bewilligt. Diesmal aber beschränkte das Parlament seine Zustimmung auf ein Jahr, weil es dem Fürsten misstraute. Wieder ging es um Religionspolitik. Denn Karl heiratete kurz nach der Thronbesteigung zwar standesgemäß eine Königstochter, jedoch war diese katholisch, denn ihre Eltern waren der Konvertiten Heinrich IV. von Frankreich und dessen zweite Frau Maria - eine mit seiner Schwiegermutter aus erster Ehe entfernt verwandten Medici. Viele Engländer lehnten jedoch jede Form von Katholizismus entschieden ab. Angesichts der Geschehnisse in der gut 50 Jahre zurückliegenden Bartholomäusnacht hegten die mittlerweile zahlreichen Protestanten schlimme Befürchtungen. Um in dieser Situation Einfluss auf den Kurs des Königs zu bewahren, bewilligte das Parlament die Hafensteuer für nur ein Jahr. Karl, sehr angetan von der Idee eines souveränen Königs, wie sie Jean Bodin beschrieben und sein Schwiegervater vorgelebt hatte, wollte sich dem Parlament jedoch nicht fügen. Eigenmächtig erhob er die Steuer länger als den gewährten Zeitraum. Aufgrund eines Krieges gegen Spanien ging ihm trotzdem das Geld aus und für eine weit umfangreichere Steuerbewilligung kam er nicht umhin, das Parlament einzuberufen. Dieses sagte ihm die verlangte Unterstützung aber nur zu, wenn er im Gegenzug die Petition of Rights anzunehmen bereit war. In diesem Gesuch forderte das Parlament 1628 im Wesentlichen vom König, dass dieser nicht mehr gegen die mittlerweile 400 Jahre alten Regelungen der Magna Carta verstoßen solle. Auf Karl war jedoch weiterhin kein Verlass, denn schon bald nachdem er die Petition formell angenommen hatte, kümmerte er sich nicht mehr darum. Um das lästige Parlament loszuwerden, entließ er es einfach und regierte elf Jahre lang ohne ein neues. Erst im April 1640 wurde das Gremium neu einberufen, weil diesmal für die Niederschlagung einer Erhebung in Schottland nicht genügend Geld zur Verfügung stand. Karl hatte zuvor versucht, dort ein anglikanisch geprägtes Gebetbuch einzuführen. Anders als die englische war die schottische Kirche aber kein Ergebnis einer fürstlichen Verfügung, sondern wurde durch die Bevölkerung getragen und war noch stärker 129 <?page no="129"?> protestantisch geprägt. Das Gebetbuch traf in Schottland folglich auf eine selbstbewusste Tradition. Das Resultat war energischer Widerstand. Die benötigten Gelder wollte das Parlament auch diesmal nicht bewilligen, sondern hatte nach dem langen Ausschluss aus den Regierungsangelegenheiten erst einmal Redebedarf. Die vielen Protestanten unter den Parlamentariern zeigten Verständnis für die ablehnende Haltung der Schotten, worauf der König verärgert das sogenannte Short Parliament nach nur drei Wochen entließ. Doch schon bald folgte auf das kurze ein langes Parlament. Denn aus Geldmangel schlecht gerüstet, erlitt Karl gegen das schottische Heer eine empfiindliche Niederlage und wurde zu hohen Zahlungen verpflichtet. Noch im selben Jahr musste er deshalb erneut Parlamentswahlen durchführen. Die Mitglieder des Long Parliament verlangten vom König gleich zu Beginn die Annahme des Triennial Act, wonach das Parlament fortan alle drei Jahre einberufen werden musste. Dazu kam es aber nie, denn schon im darauf folgenden Jahr brach ein Aufstand der Iren aus, woraufhin das Parlament Karl I. den Oberbefehl über das Heer verweigerte, das für die Niederschlagung erforderlich gewesen wäre. Die Angst vor einer katholischen Verschwörung war einfach zu groß: Was wenn der König sich auf die Seite der katholischen Iren sowie der katholischen Verwandtschaft der Königin auf dem europäischen Festland schlug und mit einem riesigen Heer gegen die englischen Protestanten vorging? Karl war seinerseits zu keinerlei Kompromissen bereit, stattdessen suchte er sein Heil in tyrannischer Manier darin, die einflussreichsten Gegner unschädlich zu machen. Alle Regeln des besonderen Schutzes von Abgeordneten missachtend wollte er fünf Anführer der Opposition im Parlament verhaften lassen. Nachdem denen gerade noch die Flucht gelungen war, musste ihnen klar sein, dass sie nirgendwo mehr sicher und die friedlichen Mittel erschöpft waren. Der König hatte sich mit seinem Vorgehen Feinde geschafffen, die nichts mehr zu verlieren, aber viele Unterstützer hatten. Die Stimmung in London kippte, Demonstranten gingen auf die Straßen. Schließlich kam es landesweit zum Bürgerkrieg zwischen Königs- und Parlamentsanhängern. Eine zeitlang wechselten sich Sieg und Niederlage auf beiden Seiten ab, ehe mit der New Model Army eine Reitertruppe den Ausschlag gab, in der ausschließlich calvinistisch geprägte, streng protestantische 130 <?page no="130"?> Puritaner unter Führung von Oliver Cromwell kämpften. Doch es siegte nicht allein der religiöse Eifer, sondern auch der größere Ressourcenvorrat, denn das Parlament kontrollierte die reichen Gebiete um London. Außerdem hielt sich nicht an jene Vorgaben der Petition of Rights, zu denen man den König hatte verpflichten wollen. Man schreckte nicht davor zurück, uneingeschränkt Steuern zu erheben, Truppen einzuquartieren oder Kriegsrecht anzuwenden. Große Teile der Bevölkerung wandten sich folglich von beiden Kriegsparteien ab und entwickelten großes Misstrauen gegenüber einer starken Zentralgewalt mit einem Heer, »das nicht nur Unsummen Geldes kostete, sondern auch in der Lage war, diese einzutreiben.« 2 Dass der allgemeine Unmut in der Bevölkerung wuchs, half dem König wenig. Er musste sich 1646 geschlagen geben. Der Bürgerkrieg war damit aber nicht zu Ende, da die Schotten unvermittelt die Seiten gewechselt hatten, nachdem in London die Armee und nicht mehr das Parlament den Ton angab. Sie wollten nicht beherrscht, sondern an der Regierung beteiligt werden. Cromwell marschierte daraufhin kurzerhand mit seinen kampferprobten Truppen in Schottland ein und führte danach die Enthauptung Karls I. am 30. Januar 1649 herbei. Damit war der royalistische Widerstand gebrochen, der Bürgerkrieg zu Ende und England eine Republik. Zwei Jahre später veröfffentlicht Thomas Hobbes sein Buch vom Leviathan, in dem er davon ausgeht, dass die Menschen von Natur aus einander nicht wohlgesonnen sind, denn wenn zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuß ist, bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen. Daher kommt es auch, daß wenn jemand ein geeignetes Stück Land anpflanzt, einsät, bebaut oder besitzt und ein Angreifer nur die Macht eines einzelnen zu fürchten hat, mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß andere mit vereinten Kräften anrücken, um ihn von seinem Besitz zu vertreiben und ihn nicht nur der Früchte seiner Arbeit, sondern auch seines Lebens und seiner Freiheit zu berauben. 3 2 Wende, »Die Englische Revolution 1640-1660«, S. 74. 3 Hobbes, Leviathan, S. 95. 131 <?page no="131"?> Das Misstrauen unter den Menschen sei so groß, dass jeder versuche, seine Macht immer weiter zu steigern und sich so viele wie möglich untertan zu machen, nur um seine Selbsterhaltung zu sichern - ganz nach der Maxime: Unterwerfe den anderen, bevor er dich untewirft! Die Folge wäre ein »Krieg eines jeden gegen jeden,« 4 in dem die größten Unmenschlichkeiten gegen einzelne Menschen von anderen Menschen ausgeübt würden. Das bringt Hobbes zu seiner bekannten Feststellung: »Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen.« 5 - Homo homini lupus! Am 5. April 1588 geboren war Hobbes nicht nur Zeitzeuge des englischen Bürgerkriegs, sondern auch des teilweise zeitgleich stattfiindenden Dreißigjährigen Kriegs, den in Deutschland in manchen Landstrichen nur ein Drittel der ursprünglichen Bevölkerung überlebte. Angesichts der Grausamkeiten all dieser Kampfhandlungen entwickelte er kein positives Menschenbild, obwohl der Sohn eines Landpfarrers selbst davon unbehelligt geblieben ist, denn er hatte England noch vor dem Bürgerkrieg verlassen. Auslöser für seine Flucht waren seine ersten Schriften, in denen er für die Vorrechte des Königs eintritt, was ihm den Zorn des Parlaments eintrug. Noch ehe tatsächlich etwas gegen ihn unternommen wurde, emigrierte Hobbes, seinem Sicherheitsbedürfnis folgend, bereits im Jahr 1640 nach Frankreich. Fünf Jahre später wurde er dort Mathematiklehrer des 15-jährigen Königssohns, der angesichts des Kriegs dort in Sicherheit gebracht worden war. Als Absolvent der angesehenen Universität von Oxford im Fachbereich Physik und langjähriger Hauslehrer in adligen Familien war der Pfarrerssohn dafür durchaus geeignet. 1652 wurde Hobbes allerdings vom Hof verbannt, nachdem zuvor sein Buch vom Leviathan erschienen war. Darin hatte er der Königsfamilie kein natürliches Vorrecht mehr auf die Herrschaft eingeräumt. Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur so lange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn niemand anderes dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden. [...] Der Zweck des Gehorsams ist Schutz. Findet ihn ein Mensch 4 Hobbes, Leviathan, S. 96. 5 Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger, S. 59. 132 <?page no="132"?> in seinem eigenen Schwert oder in dem eines anderen, so ist er von Natur aus diesem Schutz gehorsam und bemüht sich, ihn zu erhalten. Denn obwohl die Souveränität nach der Absicht der Schöpfer unsterblich sein soll, so ist sie doch ihrer eigenen Natur nach nicht nur einem gewaltsamen Tod durch einen auswärtigen Krieg ausgesetzt, sondern trägt auch wegen der Unwissenheit und der Leidenschaften der Menschen von ihrer Errichtung an viele Keime einer natürlichen Sterblichkeit in sich, und zwar durch innere Zwietracht. 6 Souverän kann somit jeder sein, der den Menschen Schutz vor gewaltsamen Übergrifffen durch andere bieten kann. Wenn der König dazu nicht in der Lage ist, dann kann er demzufolge zurecht gestürzt werden. Das entspricht zwar ebenso dem antiken wie dem frühmittelalterlichen Herrschaftsverständnis, längst jedoch leiteten die Fürsten ihren Vorrang von ihrer Herkunft ab. Darin erweise sich Gottes Gnade und Vorbestimmung zur Herrschaft. Im Gefühl, von Gott erwählt zu sein, sahen sich Könige jedweden Verpflichtungen gegenüber ihren Untertanen enthoben. Es konnte der Königsfamilie folglich nicht gefallen, was Hobbes schrieb. Doch warum nahm der königliche Hauslehrer diese Haltung ein? Wollte er den mittlerweile regierenden Parlamentariern und allen voran dem mächtigen Cromwell gefallen, um nach England zurückkehren zu können? Tatsächlich sah es nicht danach aus, dass die Königstreuen die Macht wiedererlangen könnten. Wollte Hobbes also heimischen Boden betreten, musste er das Wohlwollen des Parlaments zurückgewinnen. Was konnte dafür dienlicher sein, als den neuen Herren eine Rechtfertigung ihrer Macht zu liefern und zudem von den alten im Streit zu scheiden? Ganz unabhängig von diesem möglicherweise persönlichen Beweggrund, ergibt sich Hobbes’ Schlussfolgerung aber auch nahtlos aus seinen aufgestellten Grundsätzen. Dabei geht der Physiker neue Wege, denn anders als alle Philosophen der Antike oder des Mittelalters beginnt er seine Überlegungen nicht mit einer idealen Zielvorstellung etwa eines bestmöglichen oder gottgefälligen Staates, sondern Hobbes beginnt mit der grundlegendsten Interessenlage des Einzelnen: »Das natürliche Recht [...] ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt 6 Hobbes, Leviathan, S. 171. 133 <?page no="133"?> seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht.« 7 Kurzum: Hobbes führt das Recht auf Leben ein, was für ihn beinhaltet, dieses unter allen Umständen verteidigen zu dürfen. Konnten antike Regenten im Interesse des Staates und mittelalterliche Könige im Namen Gottes durchaus Menschenleben opfern, so rückte der englische Flüchtling nun das Existenzrecht jedes Einzelnen an die erste Stelle. Jedoch konnte im Naturzustand des Krieges aller gegen alle dieses natürliche Recht zur Selbstverteidigung kaum eine längerfristige Selbsterhaltung gewährleisten. Im allgemeinen Chaos wird genau das zur Regel, was man eigentlich vermeiden will: der vorzeitige Tod. Deshalb sieht es Hobbes als eine Vorschrift der Vernunft an, den Naturzustand zu überwinden, um einem ersten Gesetz der Natur zu folgen: »Suche Frieden und halte ihn ein.« 8 Da dem der kriegerische Naturzustand völlig widerspricht, ergibt sich für Hobbes zwangsläufiig ein zweites Naturgesetz: Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält, und er soll sich mit soviel Freiheit gegenüber anderen zufrieden geben, wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde. Denn solange jemand das Recht beibehält, alles zu tun, was er will, solange befinden sich alle Menschen im Kriegszustand. 9 Die Bürgerkriege seiner Zeit haben dem Philosophen offfenbar allzu deutlich vor Augen geführt, dass die Selbsterhaltung aller und damit jedes Einzelnen nur durch friedliches Zusammenleben zu gewährleisten ist, wofür sich jeder an gemeinsame Regeln halten müsste. Jeder müsste sich zurücknehmen und auf eigene Freiheiten verzichten. Es kann nicht jeder tun, was er will. Grundlage für ein Gemeinwesen ist demzufolge nicht mehr das Gottesgnadentum, sondern ein Vertrag eines jeden mit jedem [...], als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versamm- 7 Hobbes, Leviathan, S. 99. 8 Ebd., S. 100. 9 Ebd., S. 100. 134 <?page no="134"?> lung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken. 10 Wie Bodin sieht Hobbes das Gemeinwesen nicht als Eigentum eines Fürsten an, sondern als eine Vertragsgemeinschaft der Bewohner. An die Stelle einer persönlichen Verfügungsgewalt über das Königreich soll ein möglichst durchsetzungsfähiger Staatsapparat im Dienste der allgemeinen Sicherheit treten. Trotzdem plädiert Hobbes, weit entfernt davon ein Demokrat oder Republikaner zu sein, für einen starken Souverän, der imstande sein muss, den Frieden zu sichern. Ein natürliches Vorrecht auf diese Herrscherrolle lässt sich aus seiner Philosophie aber eben nicht ableiten, schließlich sind alle Menschen mit dem selben natürlichen Recht auf Selbsterhaltung ausgestattet, sodass es keine Rangunterschiede gibt: »Jedermann soll den anderen für Seinesgleichen von Natur aus ansehen.« 11 Letztlich wird der Souverän zu einem Dienstleister der Untertanen, denn diesen hat er Schutz zu gewähren. Dafür überlässt Hobbes dem Leviathan anders als Bodin beinahe unumschränkte Freiheiten in der Ausübung seiner Vollmachten und in der Gesetzgebung, solange er nur die Selbsterhaltung der Bürger garantiert und sich an die von ihm selbst erlassenen Gesetze hält. Auch das unterscheidet ihn von seinem Vorgänger: Stellt Bodin den Souverän noch über das Gesetz, erfüllt Hobbes bereits ein Minimum an Rechtsstaatlichkeit. Das mag zum einen die Folgerung aus den wiederkehrenden Gesetzesübertretungen durch Karl I. gewesen sein, zum anderen ergibt sich das auch aus Hobbes’ Grundverständnis eines Vertragsabschlusses: Unter Gleichrangigen müssen auch vor dem Gesetz alle gleich sein. Außerdem war ihm angesichts der chaotischen Zustände in all den Religionskriegen Rechtssicherheit für die Untertanen wichtig. »In den Fällen, wo der Souverän keine Regel vorgeschrieben hat, besitzt 10 Ebd., S. 134. 11 Ebd., S. 118. 135 <?page no="135"?> der Untertan die Freiheit, nach eigenem Ermessen zu handeln oder es zu unterlassen.« 12 Die höchste Gewalt im Staat soll mit viel Macht ausgestattet sein, sie aber nicht völlig willkürlich gebrauchen dürfen. Die Untertanen sollen sich auf das Gesetz verlassen können. Die Folgen ihres Tuns und das ihres Souveräns soll berechenbar sein. Die Gesetzgebung wird dadurch zum wichtigsten Herrschaftsinstrument und muss deshalb beim Leviathan liegen. Kein Kaiser, kein Papst, keine Bibel, niemand kann ihm etwas vorschreiben. Der Staat gibt sich seine Regeln selbst, muss sich dann aber auch daran halten. Hobbes pocht auf die Grundbedingung eines Rechtsstaates, ohne die auch keine moderne Demokratie funktionieren kann. Um nach Beendigung des Bürgerkriegs auch die katholischen Iren unterwerfen zu können, bekam Cromwell den Oberbefehl über die parlamentarische Armee. Zugleich ging mit der Hinrichtung Karls I. die Krone Schottlands an dessen Sohn über und damit an jenen Karl II., der von Hobbes unterrichtet worden war. Der neue König zeigte sich in religiösen Fragen kompromissbereit und gewann so die Schotten erneut für eine Abwendung von den englischen Parlamentariern. Doch Cromwell bezwang Schottland ein zweites Mal. Niemand konnte ihm mehr die Macht streitig machen. Er kontrollierte nicht nur die siegreiche Armee, sondern mit ihr auch Schottland, Irland und England. Die Herrschaft lag vollständig in Händen des Kommandanten und seiner Armee. Im Dezember 1653 war deshalb die Zeit der Republik schon wieder abgelaufen, denn Cromwell ließ sich in das neu geschafffene Amt des Lord Protectors einsetzen und nahm exakt jene Position ein, die Hobbes dem Leviathan zugedacht hatte, ohne sich dabei allerdings an eine rechtsstaatliche Selbstbeschränkung zu halten. Wie schon das Parlament während des Bürgerkriegs, so regierte auch der Lord Protector nicht auf dem Boden bestehender Gesetze, sondern ebenso absolutistisch wie es der verhasste Karl I. ursprünglich vorhatte - nur mit protestantischer Ausrichtung statt katholischer. Die von Hobbes geforderte Rechtssicherheit der Bürger hatte sich somit nicht verbessert, im Gegenteil: Zunehmende Spannungen zwischen verschiedenen protestantischen Gruppierungen mit unterschiedlichsten 12 Hobbes, Leviathan, S. 170. 136 <?page no="136"?> politischen Forderungen verstärkten das Chaos, was wiederum zu steigender Unzufriedenheit in der Bevölkerung führte. Mitten in dieser Unruhe starb Oliver Cromwell im September 1658 und dessen Sohn Richard übernahm das Amt des Lord Protectors ganz im Stile einer Thronfolge. Er fand jedoch nicht genug Rückhalt, sodass es zu Neuwahlen kam. Angesichts der zunehmenden Unruhe siegten die nun plötzlich zuverlässig erscheinenden Royalisten. Sogleich wurde die Monarchie wieder eingeführt und Karl II. doch noch König von England. Dessen einstiger Mathematiklehrer lebte fortan unbehelligt auf einem englischen Landsitz und starb 1679. Indem Hobbes alles auf das Individuum gründet, überträgt er die große philosophische Neuerung des 17. Jahrhunderts auf das politische Denken. 1641 veröfffentlichte René Descartes seine Meditationen über die erste Philosophie, in denen der Franzose alles auf einen gedanklichen Nullpunkt zurückführt. Was bleibt, wenn man an allem zweifelt? Und das Denken? Hier werde ich fündig: das Denken ist es; es allein kann von mir nicht abgetrennt werden; Ich bin, Ich existiere, das ist gewiß. 13 Cogito ergo sum! - Ich denke, also bin ich! An allem kann man zweifeln, daran nicht. Die Grundlage jeder weiteren Folgerung und damit jeder weiteren Philosophie habe davon auszugehen. Wie Sokrates erhebt Descartes das Zweifeln zur höchsten Tugend, verlegt dessen hinterfragendes Vorgehen allerdings auch nach innen und stellt fest: Alles kann man anzweifeln, platonische Ideen ebenso wie Gottes Allmacht oder das Streben nach Glückseligkeit, nicht aber, dass man schon denken muss, um zweifeln zu können. Zugleich verlagert der Franzose damit die Philosophie aus der Ideenwelt, aus der göttlichen Welt, aus der äußerlichen Welt in die gedankliche Welt jedes Einzelnen. Alle Philosophie geht nun vom Individuum aus! Daran anknüpfend suchte Hobbes das Verfahren auf die politische Philosophie zu übertragen. Umgeben vom Dreißigjährigen Krieg in Mitteleuropa und vom Bürgerkrieg in England konnten Wohlstand, Gerechtigkeit oder gottgefälliges Leben nicht mehr als Grundlage des Politischen gelten. Was Gottes Wohlgefallen erwecken könnte, war 13 Descartes, Meditationen über die Erste Philosophie, S. 83. 137 <?page no="137"?> längst unklar, immerhin tobten genau darum die Religionskriege. Zugleich gerieten Wohlstand oder Gerechtigkeit inmitten dieser um Leib und Leben geführten Kämpfe als politische Ziele in den Hintergrund. Zunächst, das trat im allgemeinen Blutvergießen zutage, strebt jeder Mensch nach Selbsterhaltung, weshalb Hobbes diese zum höchsten Ziel eines jeden gesellschaftlichen Zusammenschlusses erhebt. Ebenso wie Descartes jede Philosophie beim Individuum beginnen lässt, führt der Mathematiklehrer des Königssohns jede Gesellschaft auf das Individuum zurück. Für beide gilt: Was wahr und was falsch ist, ergibt sich nicht aus der Offfenbarung Gottes oder höherer Einsicht, sondern aus dem Individuum selbst. Nicht selten wird Hobbes als Vordenker des Absolutismus gesehen, wodurch seine grundlegenden Leistungen für moderne Demokratien in den Hintergrund treten. Freilich plädiert Hobbes im Resultat für einen starken Herrscher, doch bevor er seine Gedanken dahingehend engführt, entfaltet er ein unverzichtbares Konzept demokratischer Staatlichkeit. Das Individuum als grundlegendes Element heranzuziehen, war damals ebenso revolutionär wie es heute fundamental ist. Niemand darf im Namen Gottes oder auch der Allgemeinheit unterdrückt werden, sondern die unveräußerlichen Rechte jedes Einzelnen haben Vorrang vor der Staatsgewalt, die wiederum auch keinen anderen Zweck hat als das Individuum und seine Rechte zu schützen. Das ist das genaue Gegenteil von Willkürherrschaft. Hinter dem übermächtigen Leviathan ist dieses rechtsstaatliche Grundprinzip nur noch mit Mühe zu erkennen, obwohl es die Grundlage von Hobbes’ Denken bildet. Dem ging es vorrangig um Sicherheit und diesbezüglich war das Zutrauen in einen absolutistischen Souverän offfenbar größer denn in eine Demokratie, die nur in ihrer athenischen Variante bekannt war. Trotzdem zählt für Hobbes jedes Individuum gleich viel und es verfügt über die gleichen Rechte. Kein menschliches Leben ist mehr Wert als ein anderes, den Erhalt desselben kann somit jeder gleichermaßen beanspruchen. Aus diesem grundlegenden Gleichheitsgedanken leitet sich schließlich auch die demokratische Stimmengleichheit ab. Unmittelbar folgt, dass der Staat nicht herrschaftlich über Untertanen verfügen darf, sondern dass er nichts weiter als ein Zusammenschluss der Individuen zum Zwecke der Sicherung eigener Interessen ist. Der Staat ist für die Bürger da und nicht umgekehrt. Auch wenn Hobbes diesen Weg nicht gegangen ist, so ergibt sich 138 <?page no="138"?> daraus unausweichlich, dass die Bürger bestimmenden Einfluss auf ihr Gemeinwesen haben sollten. Stringent zu Ende gedacht, resultiert aus dem Gesellschaftsvertrag selbst schon die Demokratie. Umso erschrockener muss man feststellen, dass heute allerorten auch etablierte Demokratien dabei sind, unter Hinweis auf terroristische Gefahren den Rechtsstaat auszuhöhlen. Vermeintlich im Dienste der allgemeinen Sicherheit werden eben jene individuellen Sicherheiten gegenüber dem Staat eingeschränkt, die Hobbes für elementar gehalten hat. 139 <?page no="139"?> 11 Woher ließ Locke Eigentum entstehen? Von seiner Schule aus konnte der 16 Jahre alte John Locke die Rufe der versammelten Menschenmenge hören, die am 30. Januar 1649 der Enthauptung des englischen Königs beiwohnte. Nicht nur sieben Jahre Bürgerkrieg waren damit beendet, sondern vorläufiig auch die Monarchie. Die Welt seiner Kindheit existierte nicht mehr. So nah konnte er diesem bedeutenden Ereignis nur aufgrund der guten Kontakte seiner wohlhabenden Eltern zu einflussreichen Parlamentariern sein. Deshalb durfte er auch ohne adlige Herkunft das vornehme Londoner Internat Westminster School besuchen. Von dort wechselte er drei Jahre später an die schon damals angesehene Universität von Oxford, wo 50 Jahre zuvor Thomas Hobbes sein Studium aufgenommen hatte, und erlebte als Student die Zeit der englischen Republik und des Lord Protectors Oliver Cromwell. Als im Jahr 1660 die Monarchie wieder eingeführt und Karl II. als König eingesetzt wurde, hatte Locke sein Studium abgeschlossen und ebenfalls in Oxford eine Lehrtätigkeit für Griechisch, Rhetorik und Ethik übernommen. Nebenbei hatte der Sohn eines republikanischen Offfiiziers noch ein Medizin-Studium absolviert, aufgrund dessen er sich 1668 daran wagte, den königlichen Schatzkanzler Anthony Ashley-Cooper zu operieren, was diesem vermutlich das Leben rettete und Lockes eigenes in neue Bahnen lenkte, denn er wurde dadurch Leibarzt und Sekretär des Schatzkanzlers. 1672, also 100 Jahre nach der Bartholomäusnacht, 23 nach Ende des englischen Bürgerkriegs und zwölf nach Rückkehr zur Monarchie, verkündete der König mit der Royal Declaration of Indulgence Erleichterungen bei der Religionsausübung für diejenigen, die nicht der anglikanischen Kirche angehörten. Obwohl diese Erklärung ihrem Wortlaut nach mehr religiöse Toleranz für alle versprach, weckte sie bei den meisten englischen Bürgern vor allem Ängste und Misstrauen. Denn das engste Umfeld des in Frankreich aufgewachsenen Königs war katholisch: seine Mutter, seine Ehefrau, seine Schwester und sein Bruder. Außerdem hatte Karl das Bündnis mit den protes- 140 <?page no="140"?> tantischen Niederlanden und Schweden beendet, um auf die Seite des katholischen Frankreich zu wechseln. Die Toleranzerklärung wurde deshalb keineswegs als Befreiung, sondern von den zahlreichen Protestanten als Bedrohung der eigenen Religionsausübung angesehen. Viele Engländer argwöhnten, dass die religiöse Toleranz schnell wieder eingeschränkt werden würde, dann allerdings zuungunsten der Protestanten, und zwar sobald die Katholiken im Schutz der Toleranzerklärung erst die Macht an sich gerissen hätten. Zwar bekannte sich der König öfffentlich zur anglikanischen Kirche, dennoch war das vorwiegend protestantische Parlament alarmiert und erzwang das Widerrufen der Erklärung. Von nun an herrschte in beiden Lagern ständig die Furcht vor einer Verschwörung: auf Seiten des Parlaments vor einer katholischen und auf Seiten des Königs vor einer protestantischen. In dieser angespannten Situation wechselte Ashley-Cooper auf die Seite der parlamentarischen Opposition, um einer Hinwendung zum Katholizismus entgegen zu wirken. Er brachte sogar einen Gesetzesvorschlag ein, wonach der Bruder des Königs als bekennender Katholik von der Thronfolge ausgeschlossen werden sollte. Damit blieb er zwar erfolglos, aber der Machtkampf zwischen Parlament und Königshaus war nun in vollem Gang. Um dieser Eskalation aus dem Weg zu gehen, machte sich Locke dem Beispiel Hobbes’ folgend auf eine Reise durch Frankreich, während sein Mentor auf Befehl jenes Königs verhaftet wurde, dem er wenige Jahre zuvor noch als Schatzkanzler gedient hatte. Im Februar 1683 starb Karl II., nicht ohne zuvor auf dem Sterbebett noch zum katholischen Glauben übergetreten zu sein und damit all jene nachträglich bestätigt zu haben, die in ihm schon immer einen heimlichen Katholiken gesehen hatten. Bei seinem Bruder und Nachfolger auf dem Thron war es mit der Heimlichkeit dann ohnehin vorbei. Ungeniert begann Jakob II. (engl. James), die Katholiken im Königreich zu stärken, indem er sie bei der Besetzung wichtiger Positionen bevorzugte. Da nur circa jeder hundertste Engländer katholisch war, rief dieses Vorgehen beim Parlament ebenso wie bei den anglikanischen Bischöfen zwangsläufiig Widerstand hervor. Sogar die Universität von Oxford brachte der König gegen sich auf, weil er kurzerhand protestantische Professoren durch katholische ersetzen ließ. Aber es gab Hofffnung, dass bald wieder ein Protestant in England 141 <?page no="141"?> regieren würde, denn der schon über 50 Jahre alte Jakob war kinderlos und Thronfolger somit sein Nefffe sowie Schwiegersohn Wilhelm III. (engl. William) von Oranien, Statthalter der Niederlande. Noch aber herrschte Jakob über England und brachte im Mai 1688 nochmals jene Erklärung zur religiösen Toleranz ins Spiel, die sein Vorgänger auf Druck des Parlaments zurückgezogen hatte. Die religiöse Provokation nicht scheuend befahl er den anglikanischen Priestern, seine leicht veränderte und dadurch weitergehende Regelung zur freien Religionsausübung in allen Kirchen zu verlesen. Dem widersetzten sich allerdings sieben Bischöfe öfffentlich, woraufhin sie zwar auf königliches Geheiß verhaftet, vom Volk dagegen gefeiert wurden. Als die höchsten Richter es auch noch wagten, die Geistlichen freizusprechen, sank der Rückhalt des Königs in der Bevölkerung. Wenn schon Bischöfe und Richter den Gehorsam versagten, dann konnte der Herrscher nicht mehr sakrosankt sein. Nur wenige Wochen später trat auch noch exakt jenes Szenario ein, das viele Engländer befürchtet hatten: Dem König wurde ein Sohn geboren. Damit gab es nun einen katholischen Thronfolger und es stand womöglich eine ganze Dynastie von Papstanhängern bevor. Aufgeschreckt von diesen bedrohlichen Aussichten ersuchten einflussreiche Protestanten bei Wilhelm von Oranien darum, militärisch einzugreifen. Der landete im November, durch das Neugeborene seiner Ansprüche auf den englischen Thron beraubt, tatsächlich mit seinen Truppen an der Südküste und marschierte, ohne großen Widerstand zu erfahren, in London ein, weil die größtenteils protestantischen Offfiiziere Englands den katholischen König im Stich ließen. Ohne Zeit zu verlieren, setzte das Parlament im Januar 1689 Wilhelm als neuen König ein, verlangte dafür im Gegenzug allerdings die Annahme der Bill of Rights. In diesem Dokument war unter anderem festgeschrieben, dass auch der König sich an Gesetze zu halten hat, dass Steuererhebungen stets vom Parlament genehmigt werden müssen, dass in Friedenszeiten kein stehendes Heer unterhalten werden darf, und dass das Parlament regelmäßig einzuberufen ist. Dies waren alles Dinge, die bereits in der Petition of Rights geregelt waren und die teilweise auf die Magna Carta zurückgingen, an die sich Jakob II. ebenso wenig gehalten hatte wie schon vor dem Bürgerkrieg Karl I. Entsprechend beginnt die Bill of Rights mit einer Abrechnung: »Der ehemalige König Jakob II. hat mit Hilfe verschiedener 142 <?page no="142"?> von ihm bestellter schlechter Ratgeber, Richter und Diener versucht, die protestantische Religion und die Gesetze und Freiheiten dieses Königreiches zu untergraben und auszurotten.« 1 Wieder forderte das Parlament damit seine Rechte ein und diesmal konnte es sich durchsetzen und eine dauerhafte Anerkennung erreichen. 40 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs war der königliche Anspruch auf Alleinherrschaft abgewehrt, der Einfluss des Parlaments festgeschrieben, die Regierung auf die Grundlage von übergeordneten Gesetzen gestellt und damit die konstitutionelle Monarchie in England eingeführt. Die Glorious Revolution war vollbracht. Noch im selben Jahr veröfffentlichte Locke anonym seine Zwei Abhandlungen über die Regierung, um, wie er im Vorwort schreibt, »den Thron unseres großen Retters, des gegenwärtigen Königs Wilhelm zu festigen und die Berechtigung seines Anspruchs auf die Zustimmung des Volkes zu beweisen, den er als unsere einzige gesetzmäßige Regierung voller und klarer besitzt als irgendein anderer Fürst in der Christenheit.« 2 Die Zustimmung des Volkes berechtigt Wilhelm demzufolge zur Herrschaft. Aber hatten sich nicht bislang in England und anderswo im christlichen Abendland die Könige darauf berufen, dass ihnen der Thron aufgrund der Gnade Gottes zusteht, der sie - als Herr über Leben und Tod - mittels Geburt an die richtige Stelle in der Erbfolge gesetzt hatte? Freilich dürfte ein allmächtiger Gott, so man denn an ihn glaubt, über deutlich mehr Entscheidungsgewalt verfügen als nur über Beginn und Ende eines Menschenlebens, aber immerhin leiteten bislang die Monarchen ihren Herrschaftsanspruch stets aus der rechten Geburt ab. Dem widerspricht Locke und hält der Erbfolge die Zustimmung des Volkes entgegen. Während sich Jean Bodin noch im Einklang mit der ganzen fränkischen Tradition auf die Thronfolge der Lex Salica aus dem 6. Jahrhundert beruft, behauptet der Engländer demgegenüber, dass »es weder ein Gesetz der Natur noch ein positives Gesetz Gottes gibt, das für alle möglichen Fälle genau festlegt, wer der rechte Erbe ist.« 3 In der Bibel fände sich dazu nichts, so die Aussage, was sich darin bemerkbar mache, dass schon bei der Vererbung Adams an seine Söhne Unklarheit herrschte. Ohnehin sei jede Kenntnis über die 1 nach Kimmel, Die Verfassungen der EG-Mitgliedsstaaten, S. 577. 2 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 63. 3 Ebd., S. 200. 143 <?page no="143"?> Nachkommenschaft zu Adam, worauf jede gottgewollte Herrschaft schlussendlich zurückgeführt werden müsse, längst verloren. Damit sucht Locke unmittelbar nach der Vertreibung Jakobs dynastische Ansprüche auf die Thronfolge abzuwehren. Doch wenn nicht die Erbfolge über Herrschaftsansprüche entscheidet, was dann? Gilt nun das Recht des Stärkeren? Auch dem stellt sich der englische Gelehrte entgegen: Anders als bei Tieren müsse es unter Menschen noch einen anderen Ursprung politischer Macht geben, außer sich schlicht mit Gewalt durchzusetzen. Um einer menschlichen Grundlage von Herrschaft auf die Spur zu kommen, bedient sich Locke jenes Gedankenexperiments, das er von Hobbes kennt: des Naturzustands. Statt einem Krieg aller gegen alle meint er darin allerdings von vornherein eine Verpflichtung zum Frieden zu erkennen. Niemand habe demnach das Recht, jemandem das Leben zu nehmen, das Gott ihm geschenkt habe. Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll. Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers, die Diener eines einzigen souveränen Herrn, auf dessen Befehl und in dessen Auftrag sie in die Welt gesandt wurden. Sie sind sein Eigentum, da sie sein Werk sind, und er hat sie geschaffen, so lange zu bestehen, wie es ihm, nicht aber wie es ihnen untereinander gefällt. 4 Das aber triffft auch auf jedes Tier wie überhaupt auf die ganze Welt zu. Den Schöpfer als Begründung heranzuziehen entspricht außerdem ausgerechnet jenem Muster, das auch die Vertreter der alten Monarchie verwendeten. Die Argumentation verfolgt hier also nicht mehr die Linie von Hobbes, der ganz ohne moralische Handlungsgebote und Gottes Offfenbarung auszukommen sucht. Die Notwendigkeit gesellschaftlicher Ordnung konnte Letzterer dadurch rein vernunftgemäß aus dem Streben nach Selbsterhaltung ableiten. Jedoch mündeten die daraus gezogenen Schlüsse in einen Staat, der den 4 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 203. 144 <?page no="144"?> frei geborenen Menschen jede Freiheit nimmt. Locke will demgegenüber die Bürger dem Staat nicht völlig unterwerfen, sondern ihnen unbedingt grundlegende Rechte bewahren, deren Unverzichtbarkeit er allerdings nur religiös zu begründen vermag. Schlussendlich stützt sich der Protestant damit auf die selbe Autorität wie seine katholischen Gegner: So wie sich die katholischen Fürsten auf Gott berufen, um ihr exklusives Recht auf Herrschaft zu erheben, so beruft sich nun Locke auf den gleichen Gott, um eben jenes Recht zu bestreiten. Seine Überzeugungskraft kann sich folglich nicht aus den herangezogenen Grundlagen ergeben, die er mit seinen Gegnern teilt, sondern muss dem entspringen, wofür er sich einsetzt. Hatte Hobbes seinem Leviathan freie Hand bis hin zur Tyrannei gelassen, solange er nur die Sicherheit der Bürger garantieren konnte, fordert Locke im Gegensatz dazu unumstößlich die Gewährleistung von Freiheit, Gleichheit und Eigentum durch eben diesen Staat. Die Aufgaben des Regenten werden somit um genau jene Forderungen erweitert, die den Kern der Bill of Rights bilden. Doch wie ist dann noch Regierung möglich, wenn Bürger ebenso frei und gleich bleiben sollen, wie im Naturzustand? Zeigte sich der Verfechter des Leviathan durch das Chaos des Bürgerkriegs geprägt, so hatte der Verfechter der Freiheit gerade erst den selbstherrlichen Machtgebrauch Jakobs II. zur Durchsetzung des Katholizismus gegen alle Widerstände erlebt. Anders als Hobbes sieht Locke nach dieser Erfahrung in einer starken Machtkonzentration keine Sicherheitsgarantie, sondern eine beträchtliche Gefahr. Deshalb wendet er sich gegen den Absolutismus Bodins und Hobbes’ und setzt sich demgegenüber für eine Gewaltenteilung ein, wie sie noch heute praktiziert wird: Regierung, Gesetzgebung und Rechtsprechung sollen voneinander unabhängig sein und durch unterschiedliche Stellen ausgeübt werden. Bei der Schwäche der menschlichen Natur, die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen, würde es jedoch eine zu große Versuchung sein, wenn dieselben Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben, auch noch die Macht in die Hände bekämen, diese Gesetze zu vollstrecken. Dadurch könnten sie sich selbst von dem Gehorsam gegen die Gesetze, die sie geben, ausschließen und das Gesetz in seiner Gestaltung wie auch in seiner Vollstreckung ihrem eigenen persönlichen Vorteil anpassen. Schließlich würde es dazu kommen, daß sie von 145 <?page no="145"?> den übrigen Gliedern der Gemeinschaft gesonderte Interessen verfolgen würden, die dem Zweck der Gesellschaft und Regierung zuwiderlaufen. Deshalb wird in wohlgeordneten Staaten, in denen das Wohl des Ganzen gebührend berücksichtigt wird, die legislative Gewalt in die Hände mehrerer Personen gelegt, die nach einer ordnungsgemäßen Versammlung selbst oder mit anderen gemeinsam die Macht haben, Gesetze zu geben, die sich aber, sobald dies geschehen ist, wieder trennen und selbst jenen Gesetzen unterworfen sind, die sie geschaffen haben. 5 Bei dieser legislativen Aufgabe denkt Locke an das Parlament als Vertretung des Volkes, wogegen die exekutive Durchsetzung der Gesetze wie alle Regierungsaufgaben dem König obliegen würden. Daneben sieht er »unparteiische und aufrechte Richter«, 6 also eine unabhängige Judikative vor. Die Macht aber sollen am Ende immer die freien und gleichen Bürger behalten: »Es verbleibt dem Volk dennoch die höchste Gewalt, die Legislative abzuberufen oder zu ändern, wenn es der Ansicht ist, daß die Legislative dem in sie gesetzten Vertrauen zuwiderhandelt.« 7 Ergibt das schon eine moderne Demokratie? Im Grunde schon und sie entsteht bei Locke aus der Forderung, dass die Menschen auch im Staat ihre Freiheit und Gleichheit behalten müssen, und wenn das der Fall sein soll, dann dürfen sie schlussendlich nur sich selbst und den eigenen Gesetzen unterstehen. Freilich müsste noch an die Stelle des Königs eine gewählte Regierung treten. Locke hat einerseits Hobbes konsequent zu Ende gedacht, indem er aus dem Gesellschaftsvertrag abgeleitet hat, dass die Macht beim Volk bleiben müsse. Andererseits schränkt er eben jene Macht, die er soeben noch dem Zusammenschluss der Individuen zugestanden hat, stark ein. Sein Eintreten für die Gewaltenteilung scheint sich gegen Hobbes absolutistischen Leviathan zu richten, heute aber hegt sie die Machtausübung des Volkes ein. Genau diese Kombination macht die moderne Demokratie aus: Formal hält das Volk die Macht in Händen, organisatorisch erfährt ihre Ausübung jedoch enge Schranken. So funktioniert das uns vertraute Regierungssystem. Doch die dadurch blockierte demokratische Selbstbestimmung führt heute zusehends zu Politik- oder gar Demokratieverdrossenheit in einem Maße, dass 5 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 291. 6 Ebd., S. 281. 7 Ebd., S. 293 f. 146 <?page no="146"?> sich nicht wenige eine starke Hand wünschen, die diese Schranken durchbricht. Mancher wünscht sich eben jenen starken Leviathan zurück, den Locke eingehegt hatte. Verglichen mit einer modernen Republik mag eine Autokratie einigen zupackend erscheinen, allerdings setzt man damit fahrlässig jene Errungenschaften aufs Spiel, die unsere individuelle Freiheit und Gleichheit garantieren. Man kann sich deshalb die Frage stellen, ob Lockes auf den Leviathan bezogene Einhegung eine Demokratie nicht zu sehr blockiert und man nicht besser letztere stärken sollte, damit auf die Menschen nicht allein die Autokratie einen tatkräftigen Eindruck macht. Neben der Gewaltenteilung spricht ein weiterer Punkt dafür, dass es Locke nicht in erster Linie um eine Volksherrschaft ging, Freiheit und Gleichheit genügen ihm nicht. Über allem steht etwas anderes: »Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist also die Erhaltung des Eigentums.« 8 Beim Königs-Lehrer Hobbes ist das Individuum zwar methodologischer Ausgangspunkt, letztlich mündet seine Philosophie jedoch in einen für das Hab und Gut der Untertanen gefährlichen Leviathan. Der Eliteschüler Locke möchte nicht nur das Individuum, sondern auch dessen Eigentum schützen. Die Gewaltenteilung, die Zähmung des Leviathan, die Einhegung des Königs, das alles hilft letztlich dabei, Besitz dem Zugrifff des Herrschers und des Staates zu entziehen. Doch woher kommt eigentlich das Eigentum? Obwohl die Erde und alle niederen Lebewesen allen Menschen gemeinsam gehören, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen Person. Auf diese hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum. Was immer er also dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem Eigentum gemacht. Da er es dem gemeinsamen Zustand, in den es die Natur gesetzt hat, entzogen hat, ist ihm durch seine Arbeit etwas hinzugefügt worden, was das gemeinsame Recht der anderen Menschen ausschließt. Denn da diese Arbeit das unbestreitbare 8 Ebd., S. 278. 147 <?page no="147"?> Eigentum des Arbeiters ist, kann niemand außer ihm ein Recht auf etwas haben, was einmal mit seiner Arbeit verbunden ist. Zumindest nicht dort, wo genug und ebenso gutes den anderen gemeinsam verbleibt. 9 Diese Herleitung der Eigentumsschafffung bedient ein weit verbreitetes Gerechtigkeitsempfiinden, dem sogar die Kommunisten später folgen werden, indem auch sie die Vermischung mit eigener Arbeit als Aneignung der Natur betrachten. Eine schöne Vorstellung: Jedem gehört, was er sich selbst erarbeitet hat und nichts sonst! Gerade ein Engländer hätte es besser wissen müssen: Eigentum war weniger durch Arbeitsleistung, denn durch Wafffengewalt angeeignet worden. Vor allem aber wurde Eigentum vererbt, was ziemlich genau ins Gegenteil dessen mündet, was man unter selbst erarbeitet versteht. Tatsächlich beanspruchten die englischen wie auch die anderen europäischen Adligen ihren Besitz nicht aufgrund herausragender Tüchtigkeit, sondern aufgrund edler Geburt, die allein ihnen das Recht zuspreche, über jenen Grund und Boden zu verfügen, den ihre Vorvorfahren vor langer Zeit gewaltsam an sich gerissen hatten. Ein Sachverhalt, der insbesondere in der englischen Geschichte offfensichtlich ist. Nach dem Einfall Wilhelm des Eroberers (engl. William the Conquerer; franz. Guillaume le Conquérant) im Jahr 1066 übernahmen seine aus Nordfrankreich stammenden Normannen die Herrschaft über das Land mitsamt seiner Bevölkerung und teilten es unter sich auf. Über Jahrhunderte hinweg sprach der englische Adel danach vorwiegend französisch und hob auf diese Weise nur allzu deutlich seine Abstammung von den Invasoren hervor. Ihr Besitz leitete sich allein von der Eroberung her. Lockes Aufffassung von Eigentum entsprach folglich nicht der Sichtweise des Adels, dafür umso mehr dem Selbstverständnis des wohlhabenden Bürgertums. Dieses konnte seine Besitzansprüche nicht auf Eroberung und Erbschaft zurückführen, umso mehr bedurfte es einer Rechtfertigung. Was aber konnte im calvinistisch geprägten England rechtschafffener sein, als sein Eigentum selbst erarbeitet zu haben? Das konnte der Adel beim besten Willen nicht beanspruchen, deren Besitz Locke ungerechtfertigt erscheinen ließ. Aber war das nicht nur die halbe Wahrheit? Stammte nicht auch der Reichtum vieler Bürger 9 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 216 f. 148 <?page no="148"?> aus glücklichen Erbschaften? Mochte Lockes Eigentumstheorie gegenüber dem Adel eine gewisse Berechtigung haben, so erscheint sie gegenüber der armen Bevölkerungsmehrheit zumindest zweifelhaft. Arbeiteten nicht viele Engländer hart, ohne irgendetwas ihr Eigentum nennen zu können? Warum macht Arbeit manche reich, während andere trotz aller Anstrengung arm bleiben? Ganz davon abgesehen birgt die eingängige Formel, wonach alles in mein Eigentum übergeht, was ich bearbeitet habe, noch einige difffiizile Detailfragen, wie zum Beispiel: Wenn ich einen Wald in Brand setze, gehört mir dann der Boden? Wenn ich einen Fluss umleite, gehört mir dann das Wasser? Wenn eine Kuh Gras frisst, gehört ihr dann der Kuhfladen oder ihrem menschlichen Besitzer, der sie gefangen hält? Dazu äußert sich Locke nicht, zur Rechtfertigung von Reichtum hingegen schon. Seine bisherigen Ausführungen scheinen Besitzanhäufung eher auszuschließen, denn solange jeder nur beansprucht, was er auch selbst zu bearbeiten vermag, wird niemand reich. Der Philosoph von bürgerlicher Geburt geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er nur so viel Eigentum zulässt, wie man selbst konsumieren kann. So viel, wie jemand zu irgendeinem Vorteil seines Lebens gebrauchen kann, bevor es verdirbt, darf er sich durch seine Arbeit zum Eigentum machen. Was darüber hinausgeht, ist mehr als sein Anteil und gehört anderen. Nichts ist von Gott geschaffen worden, damit die Menschen es verderben lassen oder vernichten. 10 Würde Locke hier stehen bleiben, hätte er zwar eine eingängige Formel für Eigentum gefunden, aber er wäre weit von den Besitzverhältnissen entfernt, die im England seiner Zeit herrschten. Der Sekretär eines ehemaligen Schatzkanzlers und Absolvent einer Aristokraten- Schule strebte jedoch keineswegs eine Revolution an. Ganz im Gegensatz dazu wahrte er vielmehr die Interessen seines vermögenden Umfelds, indem er dessen Eigentum vor dem Zugrifff eines Königs wie Karl I. zu verteidigen sich anschickte. Da es sich dabei nicht um kleine Ländereien handelte, die jemand allein hätte bearbeiten können, musste die Rechtmäßigkeit von Reichtum generell geklärt werden. 10 Ebd., S. 219. 149 <?page no="149"?> Obzwar die bisherigen Ausführungen damit unvereinbar wirken, sieht Locke keinen Widerspruch zu größeren Vermögensbeständen, denn er geht einfach davon aus, dass die Menschen implizit längst ihr Einverständnis dazu gegeben hätten: Das aber wage ich kühn zu behaupten: dieselbe Regel für das Eigentum, nämlich daß jeder Mensch so viel haben sollte, wie er nutzen kann, würde auch noch heute, ohne jemanden in Verlegenheit zu bringen, auf der Welt gültig sein, denn es gibt genug Land, das auch für die doppelte Anzahl von Bewohnern noch ausreicht, wenn nicht die Erfindung des Geldes und die stillschweigende Übereinkunft der Menschen, ihm einen Wert beizumessen (durch Zustimmung), die Bildung größerer Besitztümer und das Recht darauf mit sich gebracht hätte. 11 Wer Geld akzeptiert, akzeptiere zugleich Reichtum. Der Umgang mit Geld gilt Locke als ebenso selbstverständlich wie freiwillig. Dabei war es in Wirklichkeit über weite Strecken der Geschichte kein allgemein verbreitetes Tauschmittel, sondern fand vorwiegend unter den Reichen und Mächtigen Verwendung. Wie anderswo auch entrichtete die Mehrheit der englischen Bauern ihre Abgaben an die normannischen Herrn lange Zeit in Form von Nahrungsmitteln und Rohstofffen, was keineswegs freiwillig geschah, sondern aus der militärischen Niederlage unausweichlich folgte. Erst im Zuge des Absolutismus wurden Steuern zunehmend in Form von Geld erhoben, womit Monarchen ihre anwachsenden Verwaltungsapparate und Söldnerheere fiinanzierten. Anders wäre ihr zentraler Herrschaftsanspruch nicht durchsetzbar gewesen. Für die einfache Bevölkerung brachte dies die Schwierigkeit mit sich, dass sie sich Geldquellen erst mühevoll erschließen musste. Wert wurde dem Geld weniger aus freiwilliger Zustimmung beigemessen, als aufgrund von Unterwerfung unter einen machtvoll durchgesetzten Geldumlauf, der wiederum nicht zuletzt den durch die teuren Schusswafffen gestiegenen Kriegskosten geschuldet war. Während es bei Locke so klingt als ob Vermögen das Ergebnis von Fleiß und Sparsamkeit wäre, lebte das hart arbeitende Volk großenteils in bitterer Armut. Wer hundert Scheffel Eicheln oder Äpfel sammelte, gewann dadurch ein Eigentum an ihnen. Sie gehörten ihm, sobald er 11 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 222. 150 <?page no="150"?> sie gesammelt hatte. Er mußte nur darauf achten, daß er sie verbrauchte, bevor sie verdarben. Sonst nahm er mehr, als ihm zustand, und beraubte andere. Es war tatsächlich ebenso dumm wie unrechtlich, mehr anzuhäufen, als er gebrauchen konnte. Gab er einen Teil an irgendeinen anderen weiter, damit er nicht ungenutzt in seinem Besitz umkam, so nutzte er auch diese Dinge. Und wenn er Pflaumen, die in einer Woche verfault wären, gegen Nüsse tauschte, die sich zum Verzehr ein ganzes Jahr lang aufheben ließen, so beging er kein Unrecht. [...] Wenn er wiederum seine Nüsse für ein Stück Metall weggab, dessen Farbe ihm gefiel, oder seine Schafe gegen Muscheln eintauschte, oder seine Wolle gegen einen funkelnden Kiesel oder Diamanten, und diese sein ganzes Leben bei sich aufbewahrte, so griffer damit nicht in die Rechte anderer ein. Er durfte von diesen beständigen Dingen so viel anhäufen, wie er wollte. Denn die Überschreitung der Grenzen seines rechtmäßigen Eigentums lag nicht in der Vergrößerung seines Besitzes, sondern darin, daß irgend etwas ungenutzt verdarb. [...] So kam der Gebrauch des Geldes auf, einer beständigen Sache, welche die Menschen, ohne daß sie verdarb, aufheben und nach gegenseitiger Übereinkunft gegen die wirklich nützlichen, aber verderblichen Lebensmittel eintauschen konnten. 12 Tatsächlich aber machte nicht Arbeit reich, sondern die Überwältigung Schwächerer, die Aneignung ihrer Arbeitsprodukte, die Abpressung von Steuern. Am Anfang stand nicht der friedliche Tausch, sondern die kriegerische Unterjochung. Die Anhäufung von Geldvermögen verlief also genau anders herum: Erst unterwarf man die Bewohner eines Gebiets und deklarierte dieses dann als Eigentum, das alle zu respektieren hatten. Man erlaubte nun den schon vorher dort ansässigen Bewohnern weiterhin die Nutzung unter der Bedingung, dass sie einen bestimmten Anteil des Ertrags an ihren neuen Herrn abführten. Im Gegenzug versprach der ihnen Schutz vor der Eroberung durch andere Ausbeuter, was er freilich nicht immer halten konnte. Wenn man große Ländereien besitzt, deren erzwungene Abgaben umfangreicher sind als das, was man selbst verbrauchen kann, dann wird Geld natürlich interessant. Warum sollte man seinen Reichtum nicht dadurch vergrößern, dass man einen Teil seiner Vorräte verkauft, 12 Ebd., S. 229. 151 <?page no="151"?> bevor sie nutzlos verderben? Für das einfache Volk wird Geld hingegen erst Teil des Alltags, wenn man es zwingt, Steuern zu zahlen. Nicht die Liebe zum Gold macht es wertvoll, sondern allein die Tatsache, dass Landbesitzer oder Inhaber militärischer Macht anderen vorschreiben können, was sie als Erlös haben wollen. Locke bringt statt dessen Vorstellungen von Eigentum und Geld ein, die sich exakt mit den Forderungen eines Parlaments decken, das von Grundbesitzern gewählt wurde. Er starb 1704 zwei Jahre nach Wilhelm III., das Parlament aber sollte nie wieder an Einfluss verlieren und England schließlich wirtschaftlich und militärisch zur führenden Weltmacht aufsteigen. 152 <?page no="152"?> 12 Woher fasste der Einzelgänger Rousseau sein Vertrauen in den Gemeinwillen? Am 28. Juni 1712 wurde Jean-Jacques Rousseau in Genf als Sohn eines angesehenen Uhrmachers geboren, schon neun Tage später starb seine Mutter. Noch Jahrzehnte später erfüllt ihn das Wissen darum mit Verzweiflung, wie er in seinen Bekenntnissen schreibt: »Ich kostete meine Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück.« 1 Zum Vater bestand eine enge Bindung, die schon früh durch die gemeinsame Lektüre von Büchern vertieft wurde. Doch die Trauer um den Tod der Mutter war auch nach Jahren groß: »Wenn er zu mir sagte: ›Jean-Jacques, wir wollen von deiner Mutter sprechen‹, so antwortete ich ihm: ›Dann wollen wir also weinen, Vater.‹« 2 Eines Abends kam der Uhrmacher nicht nach Hause. Im Streit hatte er einen französischen Hauptmann im Gesicht mit dem Degen verletzt und aus Furcht vor der drohenden Gefängnisstrafe war er aus der Stadt geflohen. Einen Vorwurf machte ihm sein Sohn deshalb nie, sondern fasste die Flucht als Selbstbehauptung von »Ehre und Freiheit« 3 auf. Der zehnjährige Jean-Jacques blieb unter der Vormundschaft seines Onkels zurück, der ihn zusammen mit seinem eigenen Sohn in die Obhut eines protestantischen Pfarrers gab, um die beiden dort in Latein unterrichten zu lassen. Die dabei erfahrenen schmerzhaften Züchtigungen durch den Geistlichen und seine Frau entrissen die Jungen aus ihrer vergnügten Kindheit und blieben bitter in Erinnerung: »Damit hatte die Heiterkeit meiner Kindheit ihr Ende.« 4 Tatsächlich begann schon bald das Berufsleben, wobei Rousseau die erste Lehre nach einem Jahr abbrach. Die Niederschrift von Gerichtsakten war dem Dreizehnjährigen zu trocken, weshalb er als Lehr- 1 Rousseau, Die Bekenntnisse, S. 11. 2 Ebd., S. 11. 3 Ebd., S. 16. 4 Ebd., S. 24. 153 <?page no="153"?> ling zu einem Graveur wechselte. Allerdings bezog er auch dort Prügel, insbesondere wenn er von seinen Sonntagsausflügen nicht rechtzeitig zurückkehrte. Im März 1728 stand Rousseau wieder einmal vor dem verschlossenen Genfer Stadttor, das diesmal vor der üblichen Zeit geschlossen worden war. Angesichts der bevorstehenden Bestrafung beschloss er, nicht zu seinem Lehrmeister zurückzukehren, sondern sich auf Wanderschaft zu begeben. Dabei begegnete er nach einigen Tagen einem katholischen Geistlichen, der den ausgehungerten Fünfzehnjährigen an die knapp doppelt so alte Louise-Eleonore de Warens vermittelte, die ebenfalls in der Schweiz protestantisch aufgewachsen und dann von dort fortgegangen war. Sie hatte den katholischen Glauben angenommen und der König von Savoyen bezahlte sie nun dafür, dass sie im nur knapp 40 Kilometer südlich vom durch und durch calvinistischen Genf gelegenen Annecy andere davon überzeugte, es ihr gleich zu tun. Ganz in diesem Sinne brachte sie ihren Neuankömmling schon bald dazu, nach Turin zu gehen, um sich dort auf die Konversion zum katholischen Glauben vorzubereiten. Den 250 Kilometer weiten Weg über die Alpen dorthin bestritt Rousseau zu Fuß. Für zahlungskräftigere Bürger war die Fahrt per Kutsche üblich und man kam damit tatsächlich ein wenig schneller, aber auf den holprigen Straßen auch ziemlich unangenehm voran. Drei Monate später wurde Rousseau katholisch getauft und versuchte sich anschließend in verschiedenen Tätigkeiten, hielt es aber nirgends lange aus. Ein Jahr nach seiner Abreise kehrte er schließlich zurück zu Madame de Warens. Auch Mama, wie er sie schon bald ansprach, versuchte ihrem Kleinen eine Anstellung zu verschafffen, blieb damit jedoch ebenfalls erfolglos. Statt zu arbeiten, widmete Rousseau seine Zeit der Musik. Sein Musiklehrer aber musste bald fortziehen und sein Schüler begleitete ihn das erste Stück des Weges. Bei seiner Heimkehr nach einigen Tagen musste Rousseau zu seiner Überraschung feststellen, dass Mama ohne jede Ankündigung in Richtung Paris abgereist war. Also machte er sich erneut auf Wanderschaft. Nach anderthalb Jahren des Umherstreifens gelangte er ebenfalls in die französische Hauptstadt und erkundigte sich dort sogleich nach Louise de Warens. Diese war längst schon wieder nach Savoyen abgereist und so machte sich auch Rousseau auf den Weg nach Süden. In Chambéry südlich von Annecy fand er seine Mama 1732 wieder und ließ sich auf ein Dreiecksverhältnis ein, denn Warens hatte mittler- 154 <?page no="154"?> weile einen Gehilfen, der zugleich ihr Liebhaber war. Sie schickte ihren Kleinen dennoch nicht fort. Vielmehr verschafffte sie ihm eine Stelle, die er abermals nach kurzer Zeit aufgab, um stattdessen als Musiklehrer zu arbeiten. Rousseau schreibt von einer »köstlichen Zeit«, 5 auch weil er sich in ein Landhaus zurückziehen konnte, das seine Gastgeberin eigens für ihn zusätzlich zur Stadtwohnung angemietet hatte. Die genossenen Annehmlichkeiten hielten ihn gleichwohl nicht davon ab, die fiinanziellen Schwierigkeiten seiner Mama ihrer großzügigen Lebensweise anzulasten, obschon er selbst davon profiitierte. Das Verhältnis zwischen den beiden blieb weiterhin unübersichtlich: Einerseits kümmerte sich Warens um ihren Kleinen geradezu mütterlich, andererseits kam es mindestens einmal zum Austausch von Zärtlichkeiten, nachdem der zwischenzeitliche Liebhaber kurz zuvor gestorben war. 1737 ging diese Zeit abrupt zu Ende. Bei einem chemischen Experiment kam es zu einer Explosion, die eine Verletzung am Auge zur Folge hatte. Auch sonst plagten Rousseau fortan in mehrerlei Hinsicht Beschwerden. Nachdem andere Behandlungsversuche gescheitert waren, entschloss er sich, einen Arzt im südfranzösischen Montpellier aufzusuchen. Allzu schwerwiegend konnte die Erkrankung nicht gewesen sein, denn zur Genesung reichte es aus, dass er unterwegs die Bekanntschaft einer Dame machte: »Und so bemüht sich Frau von Larnage um mich. Und nun lebe wohl, armer Jean- Jacques, oder vielmehr lebt wohl, Fieber, Hysterie, Herzpolyp! Alles vergeht neben ihr außer einigem Herzklopfen, das mir blieb und von dem sie mich nicht heilen konnte.« 6 Seine Zuneigung blieb nicht unerwidert und so wurde Rousseau von der Dame für den herannahenden Winter, nachdem er seine ärztliche Behandlung abgeschlossen haben würde, in ihr Haus eingeladen. Um nichts von sich und seinem unrühmlichen Werdegang preisgeben zu müssen, hatte Rousseau sich als Engländer ausgegeben, ohne auch nur ein Wort jener fremden Sprache mächtig zu sein, was glücklicherweise nicht weiter aufffiiel. Auf dem Rückweg von Montpellier ergrifff ihn schließlich doch die Furcht, entlarvt zu werden, und so trat er lieber die Rückreise zu Mama an. Dort fand er die Rolle des Liebhabers diesmal durch einen Perückenmachergesellen besetzt, der 5 Rousseau, Die Bekenntnisse, S. 178. 6 Ebd., S. 247. 155 <?page no="155"?> einen Nebenbuhler nicht duldete. Rousseau nahm deshalb eine Stelle als Erzieher bei der Familie eines Militärbeamten an, gab aber wieder einmal binnen eines Jahres »angeekelt von meinem Beruf« 7 auf. Mittlerweile 30-jährig begab er sich neuerlich auf Wanderschaft und bekam die Gelegenheit als Sekretär des Botschafters nach Venedig zu reisen, wo ihm seine Kenntnisse des Italienischen zugute kamen. Doch auch diesmal ging Rousseau nach einigen Monaten im Streit. Zurück in Paris lernte Rousseau die Wäscherin Thérèse Levasseur kennen, mit der er zwar erst über 20 Jahre später die Ehe eingehen, aber schon in der Zeit davor zusammenleben wird. Es war keine Lebensgemeinschaft unter Gleichen. Levasseur konnte weder schreiben noch lesen. Vielmehr kümmerte sie sich wie eine Bedienstete um seinen Haushalt, während das Einkommen des Haushaltsvorstands oft so gering ausfiiel, dass sie auch noch anderswo arbeiten musste. Währenddessen verkehrte Rousseau unter Pariser Intellektuellen oder in gehobener Gesellschaft. Wie in solchen Kreisen nicht unüblich, wurde Rousseau mit seinem Dienstmädchen intim, und so wurde 1745 das erste von insgesamt fünf Kindern geboren, die alle direkt nach der Geburt ins Findelhaus gebracht wurden. Darauf gekommen war Rousseau offfenbar bei einem Abendessen mit Bekannten: Ich hörte dort eine Menge sehr amüsanter Anekdoten und nahm auch nach und nach, dem Himmel sei Dank, zwar nie die dort herrschenden Sitten, aber doch die dort herrschenden Lebensregeln an. Verspottete Ehrenleute, betrogene Gatten, verführte Frauen, heimliche Entbindungen waren dort der gewöhnlichste Gesprächsstoff, und der, der am besten für die Bevölkerung des Findelhauses sorgte, erhielt stets den meisten Beifall. Das bestach mich. Ich bildete meine Denkweise nach der, die ich bei sehr liebenswürdigen und im Grunde sehr anständigen Leuten herrschen sah, und sagte mir: Da es Sitte des Landes ist, kann man sie, wenn man hier lebt, auch befolgen. Das war der Ausweg, den ich suchte. Ich entschloß mich ohne das geringste Bedenken keck dazu und hatte nur Thérèses Skrupel zu überwinden, die ich nur mit größter Mühe bewegen konnte, dies einzige Mittel anzuwenden, das ihre Ehre retten konnte. 8 7 Rousseau, Die Bekenntnisse, S. 267. 8 Ebd., S. 393 f. 156 <?page no="156"?> Der Eigenbrötler, der sich sonst so wenig um die Meinungen anderer geschert hat, bricht den Widerstand derjenigen Frau, die ihm seinen eigenen Worten nach treu ergeben ist, und von der er Jahrzehnte später trotzdem sagen wird, »daß ich vom ersten Augenblick an, da ich sie sah, bis zu diesem Tag nie den geringsten Funken von Liebe für sie gefühlt habe, daß ich mich nicht mehr gesehnt habe, sie zu besitzen als Frau von Warens, und daß die sinnlichen Bedürfnisse, die ich bei ihr gestillt habe, für mich einzig die des Geschlechtstriebes waren, ohne mit der Persönlichkeit etwas zu tun zu haben.« 9 Rousseau hat seine spätere Ehefrau offfenbar niemals geliebt, die gemeinsamen Kinder ins Findelhaus gebracht und als Erzieher war er bereits gescheitert. Umso mehr erstaunt es, dass dieser Mann gut zehn Jahre nach diesen menschlichen Tragödien das Buch Emile oder über die Erziehung veröfffentlichte, das viele aufmerksame Leser gewinnen und Pädagogen beeinflussen sollte. Reue zeigt Rousseau auch nach dieser intensiven Beschäftigung mit Fragen der Erziehung nicht, sondern glaubt sogar, seinen Kindern etwas Gutes getan zu haben, ohne auch nur im Geringsten zu wissen, wie es ihnen ergangen ist: »Wenn man alles gegeneinander abwägt, wählte ich für meine Kinder das Beste oder was ich dafür hielt. Ich hätte gewünscht, ich wünschte noch, aufgezogen und unterhalten worden zu sein, wie sie es wurden.« 10 Vielleicht waren Rousseau die Anforderungen an Erziehung einerseits und seine persönlichen Unzulänglichkeiten andererseits tatsächlich so klar, dass er davon ausging, die Kinder würden in seiner Obhut in einem Umfang Schaden nehmen, der jenen durch ein Findelhaus des 18. Jahrhunderts verursachten noch übertrofffen hätte. Vielleicht fühlte er sich auch überfordert: schlicht fiinanziell oder etwa durch die von ihm selbst vorgetragenen pädagogischen Ansprüche. Jedenfalls ist es angesichts dieser Kinderschicksale ein Leichtes, Rousseau jegliche Glaubwürdigkeit in Sachen Erziehung abzusprechen und genau das haben berühmte Zeitgenossen wie etwa Voltaire getan. Doch theoretische Einsichten hängen nicht notwendig von persönlichen Erfahrungen in der praktischen Umsetzung ab. Ein Schmied muss nicht notwendig ein guter Landwirt sein, um ordentliche Pflüge herzustellen. Wenn man dies auch Rousseau zugestehen möchte, kann 9 Ebd., S. 408 f. 10 Ebd., S. 352. 157 <?page no="157"?> man ihm zugute halten, dass er dazu beigetragen hat, die Kindheit nicht mehr nur als Vorbereitung aufs Erwachsenenleben zu sehen und sie kindgerecht zu gestalten. Doch darüber, was man als kindgerecht ansehen möchte, gehen die Meinungen weit auseinander. Vielleicht ist Rousseaus eigene Einschätzung dazu tatsächlich mangelnder Erfahrung geschuldet, wenn er fordert, man solle bis zum zwölften Lebensjahr auf Kinder nicht mit eigenen Moralvorstellungen einwirken, sondern sie zunächst allein die natürlichen Grenzen ihres Tuns kennenlernen lassen; oder wenn er schreibt: Die ersten Tränen des Kindes sind Bitten: wenn man sich nicht vorsieht, werden es bald Befehle. Anfangs lassen sie sich helfen und zum Schluß bedienen. So bildet sich aus ihrer eigenen Schwäche, aus der zunächst das Gefühl der Abhängigkeit entsteht, schließlich die Vorstellung ihrer Herrschaft und Überlegenheit. 11 Ohne Zweifel spricht hier jemand, dem aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen - aufgewachsen ohne Eltern, keiner gesellschaftlichen Schicht zugehörig, die Härte der Natur auf Wanderungen erfahren - die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten der Gesellschaft, in der er lebt, fremd vorkommen, und die er gerade deshalb nicht als selbstverständlich hinnehmen kann. Freilich kann das nicht über die Widersprüchlichkeiten in seinem Leben hinwegtäuschen. Die Unmenschlichkeit gegenüber seinen Kindern steht in schärfstem Kontrast zu seinem Umgang mit berühmten Freunden; zumindest solange er sich mit ihnen noch nicht überworfen hatte, was häufiig vorkam und bis zum Lebensende niemanden verschonte. Zu denen zählte unter anderem der Philosoph Denis Diderot, zu dem er nach dem Ende von dessen dreimonatigem Gefängnisaufenthalt schnellstmöglich eilte: »Ich tat nur einen Sprung, einen Schrei, ich preßte mein Gesicht an das seine, ich drückte ihn eng an mich, ohne zu ihm anders als durch meine Tränen und Seufzer zu sprechen. Ich erstickte fast vor Zärtlichkeit und Freude.« 12 Diderot war der Herausgeber der weltweit ersten umfassenden Enzyklopädie, der Schöpfer des Lexikons sozusagen, und Rousseau durfte sich daran 11 Rousseau, Emile, S. 165. 12 Rousseau, Die Bekenntnisse, S. 345. 158 <?page no="158"?> mit Artikeln zu musikalischen Themen beteiligen. Hierbei entstanden auch Kontakte zu einigen bekannten Pariser Schriftstellern und Wissenschaftlern. Von einem Tag auf den anderen berühmt wurde Rousseau allerdings auf anderem Wege. Die Akademie von Dijon hatte 1750 eine Preisfrage ausgeschrieben: »Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu läutern? « Ganz entgegen dem Trend der Zeit verneinte Rousseau diese Frage schlichtweg. Dem fortschrittsbegeisterten und aufklärerischen Zeitgeist, wie er insbesondere auch in jener Enzyklopädie zutage trat, an der er selbst mitgewirkt hatte, stellte er den Aufruf Zurück zur Natur! entgegen, weil seiner Ansicht nach Fortschritt und Wissenschaft den Menschen nicht frei, sondern abhängiger und gebundener machten. »Bevor die Kunst unsere Manieren geformt hatte und unsere Leidenschaften eine geschickte Sprache sprechen lernten, waren unsere Sitten ländlich, aber natürlich. Der Unterschied im Verhalten zeigte auf den ersten Blick den des Charakters an.« 13 Die Verfeinerung des Lebens habe die Menschen nur schwerer durchschaubar gemacht, aber nicht besser. Niemand zeige mehr sein wahres Ich und alles verschwinde hinter einer Fassade der Höflichkeit. Die Natürlichkeit sei abhanden gekommen und die Verstellung Normalität geworden. »In dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste zur Vollkommenheit fortschritten, sind unsere Seelen verderbt geworden.« 14 Dieser Aufruf zur Rückbesinnung auf Natürliches bildet später auch das Fundament der Erziehungslehre in seinem Buch Emile. Zunächst war die These neu und die Antwort somit einerseits überraschend, während sie andererseits den Naturzustand verklärend romantisierte. Eine Provokation, für die Rousseau nicht nur den ersten Preis der Akademie zugesprochen bekam, sondern auch Spott unter anderem von Voltaire, dem populärsten Schriftsteller jener Zeit erntete: Noch niemand hat soviel Geist verschwendet wie Sie, in dem Bestreben, uns wieder zu Bestien zu machen. Man bekommt richtig Lust, auf allen vieren zu gehen, wenn man Ihr Werk liest. Indessen habe ich diese Gewohnheit schon seit sechzig Jahren aufgegeben, und so ist es mir unmöglich, sie wieder 13 Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, S. 11. 14 Ebd., S. 15. 159 <?page no="159"?> aufzunehmen. Ich überlasse diese natürliche Gewohnheit denen, die ihrer mehr würdig sind als Sie und ich. [...] So muß ich mich damit begnügen, als friedlicher Wilder in meiner Einsamkeit zu verbleiben, die ich mir ganz in der Nähe ihrer Vaterstadt ausgesucht habe [...] Sie sollten mit mir die Freiheit genießen, die Milch unserer Kühe trinken und das Gras unserer Wiesen abweiden. 15 Einmal zu Berühmtheit gelangt, bekam Rousseau sodann die Möglichkeit eine Oper am königlichen Hof uraufzuführen, was offfenbar zur Zufriedenheit des Publikums glückte. Der König lud ihn zu einer Audienz, um ihm eine Pension zu gewähren und ihn somit von fiinanziellen Sorgen zu befreien. Aus Angst und Scham, ein angeborenes Leiden an der Blase könnte ihm eine Peinlichkeit bescheren, blieb Rousseau der Veranstaltung fern und die Geldnöte hielten an. Sich selbst tröstete er damit, so seine Unabhängigkeit bewahrt zu haben: Ich verlor allerdings die mir gewissermaßen in Aussicht gestellte Pension. Aber ich entzog mich auch dem Joch, das sie mir auferlegt hätte. Lebt wohl dann, Wahrheit, Freiheit, Mut! 16 Praktischerweise hatte Rousseau bald eine ebenso begeisterte wie großzügige Anhängerin, die ihm 1756 ein Haus in Montmorency, wenige Kilometer nördlich von Paris, überließ. Doch der Philosoph war im Laufe der Jahre nicht umgänglicher geworden und so kam es wieder einmal innerhalb eines Jahres zum Streit, worauf der Umzug in ein anderes Haus im Ort folgte. Dort vollendete Rousseau zwei Werke, deren Veröfffentlichung 1762 enormen Widerhall verursachte. Die Gottlosigkeit des Pädagogikbuchs Emile und die politische Sprengkraft seiner demokratischen Streitschrift über den Gesellschaftsvertrag trugen ihm einen Haftbefehl ein. Gerade noch rechtzeitig wich der Verfasser ins preußische Neuchâtel in der heutigen Schweiz aus, wo ihm niemand geringerer als der König von Preußen, Friedrich der Große, Aufenthalt und fiinanzielle Unterstützung gewährte, was diesen keineswegs davor schützte, von seinem Gast ein aufsässiges Schreiben als Antwort zu erhalten. Zwar hatte sich der Flüchtling damit erneut mit einer wohlwollenden Person überworfen, Friedrich war 15 nach Holmsten, Voltaire, S. 124. 16 Rousseau, Die Bekenntnisse, S. 374 f. 160 <?page no="160"?> jedoch souverän genug, ihm das nachzusehen. 1765 musste Rousseau trotzdem die Flucht ergreifen, weil diesmal die Bauern aus der Nachbarschaft den Sonderling, der Gefallen an völlig landesuntypischer armenischer Tracht gefunden hatte, nicht duldeten und beinahe sein Haus stürmten. Zuflucht fand sich diesmal in England, wohin ihn der schottische Philosoph David Hume einlud. Doch auch mit ihm kam es zum Zerwürfnis. Mittlerweile war in Frankreich die Aufregung verflogen, sodass Rousseau dort seinen Lebensabend verbringen konnte. Bis zuletzt überzeugt von sich und seiner Sicht der Dinge starb er im Schloss eines Gönners nördlich von Paris am 2. Juli 1778. Ich habe die Wahrheit gesagt. [...] Wer, auch ohne meine Schriften gelesen zu haben, mit eignen Augen meine Natur, meinen Charakter, meine Sitten, meine Neigungen, meine Vergnügungen, meine Gewohnheiten prüfen und mich doch für einen unredlichen Menschen halten wird, der ist es wert, erstickt zu werden. 17 Redlich oder nicht, Berühmtheit erlangte Rousseau nicht durch Charakterstärke, sondern durch seine Schriften. Seine preisgekrönte Schrift und auch sein Emile setzen beide auf dem Unbehagen auf, wonach die Freiheit der Menschen unter den gegebenen Umständen nicht gewahrt wird. Einerseits stehen dem Fortschritt und Wissenschaft entgegen, andererseits der auf Kinder ausgeübte Zwang. Mit Erziehung allein wird sich das nicht ändern lassen, denn die Gesellschaft insgesamt lässt keine Freiheit zu, wie im Gesellschaftsvertrag betont wird: »Der Mensch ist frei geboren, doch überall liegt er in Ketten.« 18 Ein Zustand, den Rousseau ändern möchte. Dazu bedarf es einer anderen Gesellschaft, in der das Verhältnis der Menschen untereinander nicht so geregelt ist, wie das in Frankreich Mitte des 18. Jahrhunderts der Fall war; denn dort führte - anders als in England - der König seine unumschränkte, absolute Herrschaft noch immer auf seine Auserwähltheit durch Gott zurück. Das war nicht vereinbar mit Rousseaus Aufffassung von Freiheit, wonach niemand allein aufgrund seiner Geburt Herr oder Untertan eines anderen sein darf, vielmehr bedarf jede Herrschaft der Rechtmäßigkeit. Reine Überlegenheit genügt nicht, sondern eine Vereinbarung müsse die Grundlage bilden. 17 Ebd., S. 645 f. 18 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 5. 161 <?page no="161"?> Gehorcht den Machthabern! Wenn das heißen soll, ›weicht der Stärke‹, ist die Vorschrift gut, aber überflüssig; ich stehe dafür ein, daß ihr niemals zuwidergehandelt wird. Alle Macht kommt von Gott, ich gebe es zu; aber auch jede Krankheit kommt von ihm. Soll das heißen, daß es verboten ist, den Arzt zu rufen? 19 Mag die Herrschaft der Mächtigen auch gottgewollt sein, hinnehmen und rechtmäßig nennen will sie Rousseau deshalb noch lange nicht. Vielmehr knüpft er an Thomas Hobbes und John Locke an, indem er ausgehend vom Streben nach Selbsterhaltung die natürliche Freiheit des Menschen als Maßstab nimmt. Über die beiden Engländer geht er allerdings insofern hinaus, als dass ihm einmalige Zustimmung nicht genügt. Die Freiheit des Menschen muss auch jenseits des Naturzustands gewahrt bleiben. Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten. Wer auf alles verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen; seinem Willen jegliche Freiheit nehmen heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen. 20 Hatte nicht schon Hobbes darauf hingewiesen, dass die Aufrechterhaltung der Freiheit zugleich die Fortführung des Naturzustandes, des Krieges eines jeden gegen jeden bedeutet? So sehr Rousseau für die Rückkehr zur Natur eingetreten ist, so wenig ist ihm an solch chaotischen Zuständen gelegen. Sein Heil sucht er - wie schon bei seinen Erziehungsvorstellungen - nicht in weniger Regelung, sondern in strengen Vorgaben, mit denen er die Vorzüge der Natur in die Gesellschaft zu übertragen hoffft. ›Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.‹ Das ist das grundlegende Problem, dessen Lösung der Gesellschaftsvertrag darstellt. 21 19 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 9. 20 Ebd., S. 11. 21 Ebd., S. 17. 162 <?page no="162"?> Aber gibt es für dieses Problem tatsächlich eine Lösung? Für Hobbes nicht, denn seiner Aufffassung nach ist Freiheit ohne Anarchie nicht zu haben, weshalb der Leviathan wenigstens Sicherheit gewährleisten sollte. Unzufrieden mit dieser Lösung, strebt Locke danach, jedem Einzelnen wenigstens so große Freiräume wie möglich zuzugestehen; die Selbstbestimmung darf dann so weit gehen, wie sie andere in ihrer nicht einschränkt, was darauf hinausläuft, dass im Resultat alle Menschen deutliche Begrenzungen ihrer Freiheit erfahren. Rousseau nimmt demgegenüber eine andere Wendung vor; statt Selbstbestimmung zumindest über die verbliebenen individuellen Freiräume zu maximieren, geht es ihm vorrangig darum, Fremdbestimmung insgesamt zu minimieren - ganz nach dem Motto: Was hilft es mir, wenn ich in meinem Haus schalten und walten kann, wenn ich dafür längst zum Sklaven der übrigen Welt geworden bin? Es geht um nicht weniger als die Kontrolle über das Spiel jener Kräfte, die bei freier Selbstbestimmung aller Individuen die just daraus resultierende unzähmbare Gesellschaft ausmachen. Um diese zu zähmen, bedarf es allerdings des Zusammenwirkens aller, was zwangsläufiig in den Vorrang der Gesamtheit vor dem Einzelnen mündet: »Diese Bestimmungen lassen sich bei richtigem Verständnis sämtlich auf eine einzige zurückführen, nämlich die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes.« 22 Durch die völlige Ergebenheit dem Staat gegenüber tausche man auf diese Weise begrenzte individuelle Freiräume gegen die Freiheit eines großen Ganzen. Statt dass jeder sein eigenes Süppchen kocht, wird man Teil einer großen gemeinsamen Kraft. Die Willensfreiheit des Gemeinwesens insgesamt tritt an die Stelle der Willensfreiheit jedes Einzelnen. Schließlich gibt sich jeder, da er sich allen gibt, niemandem, und da kein Mitglied existiert, über das man nicht das gleiche Recht erwirbt, das man ihm über sich einräumt, gewinnt man den Gegenwert für alles, was man aufgibt, und mehr Kraft, um zu bewahren, was man hat. Wenn man also beim Gesellschaftsvertrag von allem absieht, was nicht zu seinem Wesen gehört, wird man finden, daß er sich auf folgendes beschränkt: Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur 22 Ebd., S. 17. 163 <?page no="163"?> des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf. 23 So sieht also Rousseaus Lösung aus: Niemand bestimmt über jemand anderen, aber es bestimmt auch niemand mehr über sich selbst. Fremdbestimmung soll damit verhindert werden, Selbstbestimmung bleibt allerdings auch keine übrig. Die Allgemeinheit beansprucht jenen Vorrang, den Locke dem Individuum eingeräumt hatte. Der Einzelgänger Rousseau strebt eine Gleichheit an, die Individualität kaum zulässt. Das Ganze sind alle gemeinsam, aber keiner mehr als ein anderer. Man behält oder besser alle behalten ihre Freiheit dadurch und nur dadurch, dass sie ein gleicher Teil eines freien Ganzen werden. Was wie ein Taschenspielertrick klingt, erscheint Rousseau der einzige Weg zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Freiheit. Denn solange das Gemeinwesen insgesamt nicht frei ist, kann es auch kein Einzelner sein. Wenn man diese Voraussetzung akzeptiert, muss die Freiheit des Ganzen unbedingt aufrechterhalten werden. Dazu geht Rousseau sogar so weit, dass sich diesem übergeordneten Ziel niemand entziehen darf. Wird dann aber Freiheit nicht zum Zwang? Damit nun aber der Gesellschaftsvertrag keine Leerformel sei, schließt er stillschweigend jene Übereinkunft ein, die allein die anderen ermächtigt, daß, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als daß man ihn zwingt, frei zu sein. 24 Im Interesse der Allgemeinheit erlaubt Rousseau, auf den Einzelnen Zwang auszuüben. Damit tritt eine vertraute Gestalt in neuem Gewand auf, denn selbstverständlich hatten sich auch die Monarchen auf das Gemeinwohl berufen, wenn sie Maßnahmen zu Lasten einzelner Bürger ergrifffen. Einen Verlust an Freiheit sieht Rousseau darin dennoch nicht, sondern einen Tausch: »Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an 23 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 18. 24 Ebd., S. 21. 164 <?page no="164"?> allem, was er besitzt.« 25 Bürgerliche Freiheit meint hier jene Freiheit, die man als Bürger eines Staates genießt, weil man sich ihm unterordnet. Wer diese Unterordnung verweigert, den macht Rousseau zum Staatsfeind und der darf deshalb von der Allgemeinheit bekämpft werden. Vom unhintergehbaren Recht auf Selbsterhaltung eines Hobbes und dem Recht auf Widerstand eines Locke ist nichts mehr übrig. Im übrigen wird jeder Missetäter, der das gesellschaftliche Recht angreift, durch seinen Frevel zum Rebellen und zum Verräter am Vaterland; dadurch, daß er dessen Gesetze verletzt, hört er auf, sein Glied zu sein, ja er liegt sogar mit ihm im Krieg. Jetzt ist die Erhaltung des Staats mit seiner Erhaltung unvereinbar, einer von beiden muß untergehen, und wenn man den Schuldigen zu Tode bringt, dann weniger als Bürger denn als Feind. 26 Wenn Rousseau von Demokratie spricht, dann meint er damit nicht die Summe aller Bürger oder auch nur deren Mehrheit, sondern das Volk in seiner Gesamtheit, dem er als Einheit eine eigene Qualität beimisst. Dabei bleiben für den Einzelnen paradoxe Folgen nicht aus: Jeder muss sich dem Staat zwar voll und ganz unterordnen, bleibt aus Rousseaus Sicht aber gerade dadurch sein eigener Herr, da er jenen Gesetzen gehorcht, die sich das Volk und er als Teil davon selbst gegeben hat. Damit das auch tatsächlich der Fall ist, lehnt Rousseau jede Vermittlung durch Volksvertreter und jede Abschwächung durch republikanische Strukturen in jedweder Form ab. Trotzdem muss nicht notwendig jeder Einzelne jedem Gesetz zustimmen. Soll die Gesellschaft im Sinne des Gemeininteresses regiert werden, so sei streng genommen die Einzelmeinung ebenso wenig relevant wie die Mehrheitsmeinung. Die Volksbefragung dient Rousseau gar nicht dazu, individuelle Meinungen einzufangen, sondern er möchte den Gemeinwillen herausfiinden. Wenn man in der Volksversammlung ein Gesetz einbringt, fragt man genaugenommen nicht danach, ob die Bürger die Vorlage annehmen oder ablehnen, sondern ob diese ihrem Gemeinwillen entspricht oder nicht; jeder gibt mit seiner Stimme seine 25 Ebd., S. 22. 26 Ebd., S. 37. 165 <?page no="165"?> Meinung darüber ab, und aus der Auszählung der Stimmen geht die Kundgebung des Gemeinwillens hervor. Wenn also die meiner Meinung entgegengesetzte siegt, beweist dies nichts anderes, als daß ich mich getäuscht habe und daß das, was ich für den Gemeinwillen hielt, es nicht war. Wenn mein Sonderwille gesiegt hätte, hätte ich gegen meinen eigenen Willen gehandelt und wäre deshalb nicht frei gewesen. Dies setzt allerdings voraus, daß alle Kennzeichen des Gemeinwillens noch bei der Mehrheit sind: Wenn sie dort nicht mehr sind, gibt es keine Freiheit mehr, welche Partei man auch ergreift. 27 Der Gemeinwille, die volonté générale, müsse mehr sein als die Summe aller individuellen »Sonderwillen«, 28 der volontés particulières, da sonst nichts gegenüber Locke gewonnen wäre. Wieder wäre die Gesellschaft das ungezähmte und vielleicht auch ungewollte Resultat individueller Handlungen und Wünsche, dem jeder Einzelne ohnmächtig gegenüber steht. Der Tausch der individuellen Freiheit gegen die allgemeine wäre nicht vollzogen. Die Demokratie dient Rousseau deshalb lediglich als Verfahren, um den Gemeinwillen ausfiindig zu machen, wobei er darauf hofffen muss, dass die Mehrheit der Bevölkerung diesen zu erkennen vermag und sich dann auch dafür entscheidet. Wenn das Volk falsch liegt, wird das übergeordnete Ziel der allgemeinen Freiheit jedenfalls verfehlt. Der Einzelgänger Rousseau fordert die Diktatur des Gemeinwillens und damit die Beseitigung jeglicher Individualität. Das verblüffft, hatte er sich selbst doch zu jeder Unterordnung außerstande gezeigt. Niemals wollte er sich dem Urteil anderer beugen, aufgewachsen ohne Familie, hatte er vielmehr alle Freiräume ausgeschöpft, die sich daraus ergaben. Er war ein Nutznießer individueller Freiheit. Allerdings empfand er sein Leben ohne feste Bindungen und zwischen allen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen nicht als Glück. Keine Einordnung gewohnt, erwies er sich aller festen Bindungen unfähig, allen Schichten und Gruppen fremd gegenüber, der Gesellschaft insgesamt nur Verachtung schenkend. Jeglicher Fortschritt erschien ihm als wider die Natur, jegliche Rafffiinesse als heuchlerische Verstellung - sei diese auch noch so sehr jener grundlegenden Höflichkeit geschuldet, ohne die ein Zusammenleben vieler Menschen unmöglich ist. Jede 27 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 116 f. 28 Ebd., S. 31. 166 <?page no="166"?> Anpassung an eine bestehende Ordnung empfand der Vagabund als Freiheitsverlust. Das war und ist nicht ganz falsch, fordert doch jedes Zusammenleben persönliche Rücksichtnahme. Trotzdem wollte dieser Individualist, dass jeder und somit auch er selbst sein Schicksal in die Hände des Gemeinwillens und damit der Mehrheit legt. Vermutlich hegte er großes Vertrauen in die Naturverbundenheit jener ländlichen Bevölkerung, die die Mehrheit im Land bildete und die er auf seinen Reisen kennengelernt hatte. Dort glaubte er jene Tugenden zu fiinden, die einen naturgemäßen freiheitlichen Gemeinwillen hervorzubringen imstande wären. So wenig Rousseau sich auf Vertreter des Bürgertums und ihre Lebensweise auf Dauer einlassen konnte, so sehr traf er doch genau einen Nerv jener Schicht, von der er sich so missverstanden fühlte. Schon lange waren viele Franzosen des engstirnigen Absolutismus überdrüssig. Längst wurde in Frankreich die Fürstenherrschaft als ebenso drückend wie unzeitgemäß empfunden, längst auch leistete sich der alles dominierende französische Adel, völlig losgelöst vom einfachen Volk lebend, absurde Eigenwilligkeiten. Ludwig XV. gönnte sich im Schloss Versailles einen Hofstaat von mehreren zehntausend Menschen. Der Park umfasste mehrere Quadratkilometer und das Gebäude mehr als tausend Räume. Dort pflegte ließ sich der König zahlreiche Damen vorführen, mit denen er seine Gelüste zu befriedigen pflegte, woraus mindestens acht uneheliche Kinder entsprangen. Geschuldet dem ungewöhnlichen Lebenslauf eines gebildeten Vagabunden, der unter den Intellektuellen von Paris Berühmtheit erlangt hatte, ohne sich dort jemals heimisch zu fühlen, konnte Rousseau eine Unzufriedenheit benennen, die viele inmitten ihres selbstverständlich gewordenen Alltags nur undeutlich fühlten. Hatte sich der Adel nicht wirklich von einer gesunden Naturverbundenheit weit entfernt? Lag die einfache Bevölkerung nicht tatsächlich in Ketten einer ebenso mächtigen wie verdorbenen Aristokratie? Wurde es nicht Zeit, dass die Menschen ihr Zusammenleben auf Freiheit und Bodenständigkeit gründeten? Der elitäre Absolutismus steht für Rousseau im Gegensatz zur natürlichen Lebensweise des einfachen Volks, an dessen ländlicher Gastfreundschaft er selbst auf seinen Wanderjahren sich oft genug erfreuen durfte. Dieser Volksmehrheit möchte er die Freiheit bringen, ihr traut er die Selbstverwaltung zu, ihr traut er zu, sich selbst nach ei- 167 <?page no="167"?> nem alles überwölbenden Gemeinwillen zu regieren. Was aber, wenn das Volk nicht natürlich ist? Was, wenn es keinen Gemeinwillen gibt? Jedenfalls kann man wohl bei den heutigen demokratischen Wahlen nicht ausschließen, dass sie den Gemeinwillen bisweilen verfehlen. Nicht selten scheinen politische Parteien, Privatinteressen ganz gezielt bedienen zu wollen. Man kann sich folglich des Eindrucks kaum erwehren, dass die Kennzeichen des Gemeinwillens des Öfteren nicht mehr bei der Mehrheit aufzufiinden sind, dass es also nach Rousseau längst keine Freiheit mehr geben könne. Und doch spielt der Gemeinwille heute eine bedeutende Rolle, allerdings nicht als Freiheitsgarant der Allgemeinheit, sondern in erster Linie zur Einschränkung individueller Freiheit. Im Begriff der Nation bekommt Rousseaus Gemeinwille jene Form, in der er für die modernen Staaten so nützlich ist - weniger als Richtschnur bei der Wahl, vielmehr zur Durchsetzung jener Vorhaben, für die es keine breite Zustimmung gibt. Im Dienste eines vermeintlichen nationalen Interesses können Eigentumsrechte beschnitten, Kriege geführt und Privilegien für Privatunternehmen eingeführt werden. Das scheint einerseits Rousseaus freiheitlichen Absichten zu widersprechen, andererseits aber ist er zweifellos Verfechter eines starken Gemeinwillens. Das bis heute andauernde Interesse am Werk des Franzosen dürfte denn auch darin begründet liegen, dass dort eben jene Widersprüche zutage treten, die moderne Staaten bis heute prägen. Einerseits pflegen diese den Anspruch, dem Individuum Mitbestimmung einzuräumen, andererseits stellen sie den Gemeinwillen, das nationale Interesse, das Allgemeinwohl über die individuelle Freiheit. Diesem Dilemma konnte sich noch kein Staat entziehen, der sich zugleich als zusammengesetzt aus freien, gleichrangigen Individuen und als Einheit sehen will. Stets wird es Einzelne geben, die ihre Freiheitsrechte eingeschränkt sehen, und andere die von sich glauben, im Sinne einer Gesamtheit zu handeln. Aus diesem Dilemma gehen zugleich die dominanten politischen Strömungen hervor: Auf der einen Seite steht ein Liberalismus, der sich als Anwalt individueller Freiheit sieht, auf der anderen Seite beanspruchen das rechte und das linke Lager gleichermaßen Gemeinschaftsideen: Die Rechten sehen sich als Verfechter einer Nation, von dessen Einheitlichkeit sie sich überzeugt zeigen, die Linken behaupten demgegenüber die Solidarität einer Klasse und zeigen sich vom Vorrang des Gemeinsamen, der Kommune überzeugt. Das Dilemma 168 <?page no="168"?> bleibt schlussendlich unlösbar, weil jede Gemeinschaft im gleichen Maße individuelle Freiheit einschränkt wie sie den Individuen in ihrer Gesamtheit überhaupt erst die Gestaltung ihres Zusammenlebens ermöglicht. Rousseau ist voller Widersprüche, der moderne Staat ebenfalls. 169 <?page no="169"?> 13 Woher ergab sich für Kant und Sieyès Freiheit? Als Jean-Jacques Rousseau an seinen Büchern Vom Gesellschaftsvertrag und Emile schrieb, tobte in Europa, Amerika und Indien der Siebenjährige Krieg, in den alle Großmächte jener Zeit verwickelt waren. Großbritannien, Preußen und Portugal auf der einen Seite standen Frankreich, Österreich, Russland und Spanien auf der anderen gegenüber. Am Ende gab es vor allem einen Gewinner: Großbritannien hatte sich in Nordamerika gegen Frankreich durchgesetzt und dehnte seinen Herrschaftsbereich über Kanada im Norden und bis hin zum Mississippi im Westen aus. Das verbündete Preußen konnte zwar keine Zugewinne verbuchen, aber immerhin gelang es, den vorherigen Zustand wiederherzustellen. Friedrich der Große war zuvor nur mit Glück einer verheerenden Niederlage entronnen und hatte schließlich das Schicksal auf seiner Seite: Die russische Kaiserin Elisabeth starb und ihr ungeliebter Nachfolger Peter III. beendete trotz aller militärischen Vorteile den Krieg gegen den preußischen König, für den er große Bewunderung hegte. Preußen, des Untergangs gewiss, wurde durch einen prominenten Todesfall gerettet. Im Jahr 1763 war der beinahe weltweit geführte Krieg vorüber und hatte insgesamt etwa einer Million Menschen das Leben gekostet. Zudem hatten sich alle beteiligten Staaten hoch verschuldet. Nach dem Kriegsende erhöhte der englische König deshalb die Steuern in den Kolonien. Obwohl die Abgabenlast damit immer noch deutlich geringer war als im Mutterland, regte sich in Amerika Widerstand. Aus Sicht der Kolonisten widersprach das Vorgehen jenen Grundsätzen, die sich England nach dem Bürgerkrieg mit der Bill of Rights selbst gegeben hatte. Schließlich war darin 74 Jahre zuvor geregelt worden, dass der König keine Steuern erheben dürfe, ohne die Zustimmung der Volksvertreter einzuholen. Darauf beharrten die Amerikaner. Denn die Steuern waren zwar vom englischen Parlament abgesegnet worden, darin fühlten sich die Kolonien jedoch nicht ausreichend vertreten und forderten deshalb: No taxation without representation! - Keine 170 <?page no="170"?> Besteuerung ohne Vertretung! Der Widerstand der Kolonisten war so vehement, dass der britische Finanzminister die Steuern wieder aufhob. Auf die dringend benötigten Gelder wollte er dennoch nicht verzichten, weshalb er statt dessen Zollabgaben auf Waren erhob, die in Nordamerika eingeführt wurden. Diese Rechnung ging jedoch ebenfalls nicht auf, weil die empörten Amerikaner nun alle englischen Waren boykottierten. Lieber behalfen sie sich mit Schmuggelware aus der Karibik. Dadurch fehlten den Engländern nicht nur die Zollgebühren, sondern zusätzlich auch noch die Verkaufserlöse aus dem regen Handel, den sie bislang mit Amerika getrieben hatten. Doch so leicht gab sich das stolze Großbritannien nicht geschlagen. Es senkte zum einen für englische Händler die Zollgebühren nochmals und erlaubte ihnen zum anderen, unter Umgehung der amerikanischen Händler ihren Tee direkt an die Konsumenten zu verkaufen. Die sahen durch den britischen Schachzug ihre Geschäftsgrundlage bedroht, weil der Verkauf geschmuggelten Tees für sie ein lukratives Geschäft geworden war. Im November 1773 erreichte erstmals ein mit günstigem Tee beladenes englisches Schifff den Hafen von Boston. Sogleich kam es zu Drohungen gegen Besatzung und Hafenarbeiter, die die Waren vom Segler Dartmouth entladen wollten. Aufgebrachte Händler und freiheitsliebende Amerikaner, die nicht gewillt waren, sich dem englischen König zu fügen, versuchten mit allen Mitteln, einen Erfolg der englischen Unternehmung zu verhindern. Der Kapitän wollte um des Friedens willen bereits wieder auslaufen, als der englische Gouverneur vor Ort auf der Entrichtung des Zolls bestand und die Abfahrt verhinderte. Sollte die fällige Gebühr nicht innerhalb von drei Wochen bezahlt werden, wollte der Gouverneur den Verkauf des Tees selbst veranlassen, um die fälligen Zollgebühren zu begleichen. Kurz vor Ablauf des Ultimatums stürmten etwa 50 amerikanische Männer die Dartmouth sowie zwei weitere englische Schifffe, die zwischenzeitlich Boston erreicht hatten, und kippten die gesamte Ladung im Umfang von 45 Tonnen Tee ins Meer. Diese sogenannte Boston Tea Party fand überall in den nordamerikanischen Kolonien begeisterte Unterstützer, sodass englischer Tee geradezu unverkäuflich wurde. Die damals größte Seemacht wollte sich diese andauernden Provokationen nicht weiter bieten lassen, weshalb es zur Strafe die Schließung des Hafens von Boston anordnete. Die Kolonien waren jedoch nicht mehr bereit, 171 <?page no="171"?> sich dem englischen Willen zu fügen und setzten ihrerseits geschlossen den gesamten Handel mit dem Mutterland aus. Konflikte vorausahnend, stellten sie zudem eine eigene Miliz auf, die im Frühjahr 1775 in erste Gefechte mit britischen Soldaten verwickelt wurde. Fortan lagen Großbritannien und seine amerikanischen Kolonien im Krieg. Was konnte das Ziel sein? Keinerlei Steuererhebungen in den Kolonien? Einige Sitze im Londoner Parlament? Geschmuggelter Tee für alle? Längst fühlten sich die Kolonisten mit ihren Bedürfnissen vom Mutterland nicht mehr ausreichend wahrgenommen. Schlimmer noch: Man drohte in eine Zugehörigkeit ohne Mitspracherechte zurückgezwungen zu werden. Was konnte man sich davon erhofffen? Nicht viel offfenbar, weshalb Vertreter der 13 nordamerikanischen Kolonien am 4. Juli 1776 ihre Unabhängigkeit als United States of America erklärten, wobei sie sich einerseits auf die britische Bill of Rights von 1689 stützten, andererseits unverkennbar ihre Begründung an das Gedankengut John Lockes anlehnten: Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; daß, wenn irgendeine Regierungsform sich für diese Zwecke als schädlich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und sie auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und ihres Glücks geboten zu sein scheint. 1 Die Berufung auf Gott zur Begründung der Gleichheit erinnert ebenso deutlich an Locke, wie das klar formulierte Recht des Volkes, eine Regierung abzusetzen und eine neue an ihre Stelle zu heben. Allerdings liefert der englische Philosoph keine Grundlage für die Abspaltung eines Teilgebietes von einem bestehenden Staat. Dafür konnten die Amerikaner auf Rousseau und seine Idee des Gemeinwillens zurückgreifen, indem sie die Bewohner der Kolonien in den 1 Hancock u. a., Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika. 172 <?page no="172"?> Rang eines eigenen Volkes erhoben und mit einem gemeinsamen nationalen Interesse ausstatteten. Daher tun wir, die Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika, versammelt in einem allgemeinen Kongreß, an den Obersten Richter der Welt betreffs der Rechtlichkeit unserer Absichten appellierend, im Namen und Kraft der Autorität des rechtlichen Volkes dieser Kolonien, feierlich kund und erklären, daß diese Vereinigten Kolonien freie und unabhängige Staaten sind und es von Rechts wegen sein sollen; daß sie von jeglicher Treuepflicht gegen die britische Krone entbunden sind, und daß jegliche politische Verbindung zwischen ihnen und dem Staate Großbritannien vollständig gelöst ist, und es sein soll; und daß sie als freie und unabhängige Staaten Vollmacht haben, Kriege zu führen, Frieden zu schließen, Bündnisse einzugehen, Handel zu betreiben und alle anderen Akte und Dinge zu tun, welche unabhängige Staaten von Rechts wegen tun können. 2 Damit war die Unabhängigkeit erklärt, doch sie musste auch noch erkämpft werden. Während sich auf Seiten der USA, die Siedler zusammentaten, um ihr Land zu verteidigen, schickte Großbritannien Söldner, darunter viele aus deutschen Gebieten. Letztere, aus Fürstentümern mit nur wenigen Freiheiten für das einfache Volk kommend, zeigten sich nicht selten empfänglich für ein verlockendes Angebot, das ihnen vom Gegner gemacht wurde: Jedem Fahnenflüchtigen versprach man 20 Hektar Land. Obwohl dieses Vorgehen die Moral der britischen Truppen schwächte, sollte der Krieg lange andauern. Erst 1783 waren die Kolonien unterstützt von Frankreich und Spanien endlich siegreich. Mittendrin befand sich der französische Marquis de La Fayette, der einer ebenso adligen wie dem Militär zugeneigten Familie entstammte. Den feinen Sitten am französischen Königshof überdrüssig hatte er sich 19-jährig gleich zu Beginn des Unabhängigkeitskrieges auf eigene Faust mit einer Freiwilligentruppe der amerikanischen Seite angeschlossen. Vier Jahre später hatten er und seine Mannen wesentlichen Anteil daran, die englische Armee zu besiegen. Weit entfernt von diesen Kampfhandlungen erschien in Preußen zwei Jahre danach mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von Immanuel Kant eine Moralphilosophie mit dem Anspruch, dass 2 Ebd. 173 <?page no="173"?> sie nicht nur für Menschen, sondern für alle vernünftigen Wesen gelten müsse und sich allein aus deren Vernunft ableiten lasse. Kann man also die Frage danach, was gut und was böse ist, was man tun und was man lassen soll, beantworten, ohne auf eine göttliche Offfenbarung diesbezüglich oder eine andere äußere Quelle von Verhaltensvorschriften zurückzugreifen? Kant geht davon aus, dass das möglich ist, wobei individueller Freiheit eine zentrale Rolle zukommt: Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmten Ursachen der Sinnenwelt [...] ist Freiheit. Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriffder Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit, welches in der Idee allen Handlungen vernünftiger Wesen eben so zum Grunde liegt, als Naturgesetz allen Erscheinungen. 3 Um gut oder böse sein zu können, muss man sich entscheiden können, anders zu handeln. Wer nicht anders kann, dem kann man das ebenso wenig vorwerfen wie einem Stein, der sich im Sturm vom Hang löst und einem auf den Fuß fällt. Vernünftig handeln kann folglich nur, wer nicht von vornherein festgelegt ist, sondern auch einen anderen Weg einschlagen könnte und hierin frei ist. Freiheit allein genügt für moralisches Handeln aber noch nicht, wenn sie in Beliebigkeit mündet und keine Kriterien für richtig oder falsch kennt. Eine Entscheidung einer geworfenen Münze zu überlassen, überantwortet sie dem Zufall, macht sie aber nicht besser, es rechtfertigt sie nicht. Es bedarf eines Urteilsvermögens, das Vernunft walten lässt und dadurch in der Lage ist, gut von böse zu unterscheiden. Wann immer man ein Lebewesen moralischer Urteile für fähig halten will, muss man sowohl Vernunft als auch Freiheit voraussetzen. Gedankliche Unabhängigkeit von der sinnlichen Welt bildet die unverzichtbare Voraussetzung dafür, nicht vollkommen festgelegt zu sein, und sich abwägend auch anders entscheiden zu können. Wer den Menschen als vernünftiges Wesen ansieht, muss ihn demzufolge unweigerlich auch als frei ansehen. Anders als in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 3 BA 109 in Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 88 f. 174 <?page no="174"?> und bei Locke ist Freiheit demzufolge kein gottgegebenes Recht, das eingefordert werden kann, und anders als im Mittelalter oder in der Antike ist sie auch nicht davon abhängig, welchem Familienstamm man angehört oder ob man über ausreichend Besitz verfügt, sondern Freiheit ist für den aufgeklärten Philosophen immer dann gegeben, wenn Vernunft gegeben ist. Beides ist untrennbar verbunden. Der am 22. April 1724 geborene Kant hat erlebt, dass sich die Menschen zunehmend nicht mehr als Spielball göttlichen Willens betrachteten, sondern begannen, Gegebenes zu hinterfragen und ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Die USA sagten sich von jeder überkommenen Ordnung los, und obwohl sie sich weiterhin auf Gott beriefen, so wollten sie gerade nicht die Welt, wie sie war, als gottgegeben hinnehmen. Aber schon die Besteuerung der Kolonien durch die Briten, entsprach nicht mehr dem alten Verfahren, wonach Gesetze aus gängigen Gewohnheiten übernommen wurden, sondern hier wurden sie bewusst als Regierungsinstrument eingesetzt. Zugleich begann der technologische Fortschritt handwerkliche Arbeitsweisen durch industrielle zu ersetzen. Mit Einführung der Spinnmaschine und dem mechanischen Webstuhl verbilligten sich Textilien erheblich. Die Industriellen brachen aus der mittelalterlichen Handwerksordnung aus, erprobten neue Technologien und häuften Reichtümer an, wenn sie erfolgreich waren. Auf der anderen Seite verloren viele Menschen ihr Auskommen, weil sie aufgrund der niedrigen Preise industriell hergestellter Produkte mit ihrer traditionellen Handwerkskunst nicht mehr genug Geld verdienen konnten. Im heimischen Preußen hatte Kant erlebt, wie Friedrich II. durch gezielte Ansiedlung von französischen Hugenotten sowie Holländern, Toleranz gegenüber anderen Religionen, Förderung von Wissenschaft und Handel sowie Aufbau eines schlagkräftigen Heeres aus einem kleinen Bauernstaat die fünfte Großmacht Europas geformt hatte. Ohne Demut und Gottgläubigkeit wurde hier ein moderner Staat durch reinste Willensanstrengung im Bewusstsein völliger Entscheidungsfreiheit hervorgebracht. All diese Veränderungen waren menschengemacht und folgten keiner göttlichen Ordnung. Kurzum, Kant war Zeitzeuge einer Epoche, die er selbst als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« 4 beschreibt: der Aufklärung. Die neue Mün- 4 Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, 175 <?page no="175"?> digkeit besteht im selbstständigen Gebrauch der Vernunft und in der grundsätzlichen Überzeugung, dem Menschen stehe es frei, sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Freiheit ist die Grundlage der amerikanischen Revolution ebenso wie sie die Grundlage für Unternehmer ist, die Produktion auf eine neue Technologie umzustellen. Freiheit ist die Grundlage des Zutrauens eines jeden, sich seiner Vernunft folgend auch anders entscheiden zu können. Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle Urteile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind. Gleichwohl ist diese Freiheit kein Erfahrungsbegriff, und kann es auch nicht sein, weil er immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegenteil von denjenigen Forderungen zeigt, die unter Voraussetzung derselben als notwendig vorgestellt werden. Auf der anderen Seite ist es eben so notwendig, daß alles, was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt sei, und diese Naturnotwendigkeit ist auch kein Erfahrungsbegriff, eben darum, weil er den Begriffder Notwendigkeit, mithin einer Erkenntnis a priori, bei sich führet. Aber dieser Begriffvon einer Natur wird durch Erfahrung bestätigt, und muß selbst unvermeidlich vorausgesetzt werden, wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntnis der Gegenstände der Sinne, möglich sein soll. Daher ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und notwendig beweisen muß. 5 Das Niederfallen des Steins, nachdem er losgelassen wurde, erscheint als zeitlose, unabänderliche Notwendigkeit der Natur. Die Wiederkehr solcherlei natürlicher Abläufe macht naturgesetzliche Vorgänge vorhersehbar. Dadurch, dass jede Wirkung einer Ursache bedarf, kann man schließlich aufgrund Erfahrung Ereignisketten voraussehen. Der Mensch jedoch lässt sich diesem Schema nicht unterordnen. In seiner Freiheit widersetzt er sich solcher Notwendigkeit, sodass man unter Bedingungen der Freiheit aus vorangegangenen Situationen S. 53. 5 BA 113 f. in Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 91 f. 176 <?page no="176"?> eben nicht zwangsläufiig auf nachfolgende schließen kann. Den Begrifff der Erfahrung benutzt Kant hier ganz streng für das Voraussehen von Wirkungen naturgesetzlicher Abläufe. Im zwischenmenschlichen Bereich gibt es hingegen keine Sicherheit darüber, was als nächstes passiert, weil die Menschen eben über Freiheitsgrade verfügen. Ohne Zweifel helfen auch hier Erlebnisse aus der Vergangenheit, um Daraufffolgendes vorauszuahnen, was man im heutigen Alltagsgebrauch ebenfalls Erfahrung nennt, aber nicht jene strenge Voraussehbarkeit meint, wie sie aus Naturgesetzen folgt. Im Zwischenmenschlichen Bereich dient Erfahrung vielmehr dazu, die Vernunft anderer anzusprechen und so der grundsätzlichen Entscheidungsfreiheit ein Stück Beliebigkeit zu rauben und mehr Vorhersehbarkeit zu erreichen. Der freie Wille lässt sich nicht aus Naturnotwendigkeiten herleiten, weil er gerade die Entkopplung von denselben voraussetzt. Er kann nicht einfach nur die zwangsläufiige Folge verschiedener verursachender Ereignisse sein, muss aber zugleich mehr sein als schlicht zufällig. Nur wenn er weder in der Notwendigkeit noch im Zufall aufgeht, ist es möglich, ihn einer Wertung zu unterziehen. Denn im unerbittlichen Reich der Notwendigkeiten ergeben moralische Urteile ebenso wenig Sinn wie im Reich des vollständigen Zufalls, nur im Reich der Freiheit kann es Gut und Böse geben. Deshalb kann Kant formulieren: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könne gehalten werden, als allein ein guter Wille.« 6 Nicht in göttlichen Ideen wie Platon oder in Gottes Offfenbarung wie die Christen fand der preußische Philosoph das Gute, sondern er sieht dafür als einzig verbliebenen Ort jenen, an dem die Gesetze der Natur nicht jede Bewertung durch ihre Zwangsläufiigkeit aushebeln. Der freie Wille kann diese Rolle aber nur einnehmen, solange er sich dem Vernünftigen verpflichtet fühlt und sich nicht in Beliebigkeit verliert. Daran hat Kant keinen Zweifel, denn »der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt.« 7 Während also Vernunft Freiheit einerseits voraussetzt, um abwägen zu können, schränkt sie Freiheit zugleich ein, um sie nicht der Belie- 6 BA 1 in ebd., S. 18. 7 BA 36 f. in ebd., S. 41. 177 <?page no="177"?> bigkeit zu überlassen. Zwar ist sie nicht in Notwendigkeiten gefangen, dennoch fiindet sie ihre Schranken darin, was ihr selbst als richtig und damit unausweichlich erscheint. Die Vernunft verpflichtet sich selbst und beugt sich zwar nicht der äußeren, aber immerhin einer inneren Notwendigkeit, die ihr zur Pflicht wird. Was als gut und was als böse zu gelten hat, kann nur aus dieser inneren Verpflichtung folgen, weshalb Kant für eine Pflichtethik eintritt. Allein die inneren Leitlinien, nicht die Folgen, sind demnach für die moralische Richtigkeit einer Handlung ausschlaggebend: »eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern bloß von dem Prinzip des Wollens, nach welchem die Handlung, unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens, geschehen ist.« 8 Gut handelt man demzufolge dann, wenn man sich in seinem Wollen an die richtigen Leitlinien hält, und nicht, wenn man sich an den richtigen Zielen orientiert. Dann wäre es folglich auch in jenen Fällen gut, bei der Wahrheit zu bleiben, wenn die Lüge nicht nur Vorteile, sondern womöglich gar Leben zu retten verspricht. Was, wenn ein bedrohter Mensch zu einem ins Haus flüchtet und der Verfolger gleich darauf vor der Tür steht? Darf man lügen, um ein Eindringen zu verhindern? Nein, antwortet Kant. Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen; und, ob ich zwar dem, welcher mich ungerechter weise zur Aussage nötigt, nicht Unrecht tue, wenn ich sie verfälsche, so tue ich doch durch eine solche Verfälschung, die daraus auch (obzwar nicht im Sinn des Juristen) Lüge genannt werden kann, im wesentlichsten Stücke der Pflicht überhaupt Unrecht: d. i. ich mache, so viel an mir ist, daß Aussagen (Deklarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird. 9 8 BA 13 in Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 26. 9 A 304 f. in Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 638. 178 <?page no="178"?> Wer lügt, sorge dafür, dass die Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen wird - nicht nur die eines Menschen, sondern die aller. Dann wisse man nicht mehr, was man glauben kann. Der preußische Philosoph betrachtet jede Lüge als Gefahr für die öfffentliche Ordnung. Ganz ohne Zweifel kann es um diese heute nicht gut bestellt sein und wenn man davon ausgeht, dass auch vor gut 200 Jahren so manches Mal gelogen wurde, dürfte es sich damals nicht anders verhalten haben. Wäre die Welt besser ohne Lügen? Wer würde tatsächlich aus Prinzipientreue jemanden ans Messer liefern, dem er kurz zuvor Zuflucht gewährt hat? Kant sieht darin die Pflicht eines jeden. Es könne schließlich sein, dass der Verfolgte sich unbemerkt durch die Hintertür davongemacht hat, dann aber seinem Mörder in die Arme läuft, weil dieser eben keine Zeit damit verloren hat, das Haus zu durchsuchen. Dann hätte die Lüge dem Fliehenden das Leben gekostet. Wer lügt, müsse die Folgen verantworten, meint Kant. Und wer nicht lügt, etwa nicht? »Er selbst tut also hiemit dem, der dadurch leidet, eigentlich nicht Schaden, sondern diesen verursacht der Zufall.« 10 Gemäß dem Philosophen ist man auf der sicheren Seite, wenn man stets bei der Wahrheit bleibt, auch wenn den Schaden der beste Freund davonträgt. Ob der das genauso sieht? Ob auch der sein Ableben schlimmstenfalls als Zufall und unvermeidbaren Tribut an die übergeordnete Pflicht gegenüber der Menschheit bewerten wird? Das spielt für Kant keine Rolle. Ausnahmen stünden seinem Ziel ohnehin im Weg. Auf der Suche nach einem allgemeingültigen Prinzip der Pflicht kann auf Einzelschicksale keine Rücksicht genommen werden. Solche Zufälle bei Seite setzend leitet Kant eine einzige vernunftgemäße Regel ab, die für alle gleichermaßen gelte: Was kann das aber wohl für ein Gesetz sein, dessen Vorstellung, auch ohne auf die daraus erwartete Wirkung Rücksicht zu nehmen, den Willen bestimmen muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschränkung gut heißen könne? Da ich den Willen aller Antriebe beraubet habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich 10 A 310 in ebd., S. 641. 179 <?page no="179"?> auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden. 11 Über die Selbstverpflichtung der Vernunft und den Anspruch auf ein allgemeingültiges Prinzip gelangt Kant zu einer abgewandelten Form der sogenannten goldenen Regel, die man schon im alten Testament fiindet: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« (Tob 4,16) Im Ergebnis mögen die beiden Sätze nicht so weit auseinander liegen, in ihren Grundlagen schon. Die goldene Regel bezieht ihren Geltungsanspruch aus der biblischen Offfenbarung, Kants »kategorischer Imperativ« 12 dagegen aus der menschlichen Vernunft. Letzterer beansprucht deshalb allgemeine Gültigkeit, weshalb er inhaltlich nicht näher bestimmt ist. Der darin liegende Vorteil ist zugleich ein Nachteil, weil damit noch jeglicher inhaltliche Maßstab für kniffflige Fragen fehlt: Muss man bei einer schwierigen Geburt stärker auf das Leben der Mutter oder auf das Leben des Kindes achten? Darf ich meinen unerträglichen Hahn töten, meinen unerträglichen Nachbarn aber nicht? Darf ich mit einem mündigen Bürger einen Vertrag abschließen, obwohl ich weiß, dass mein gegenüber sich der Tragweite nicht bewusst ist? Der kategorische Imperativ sagt dazu direkt nichts, konkrete Antworten müssten stets abgeleitet werden. Nur eine inhaltliche Bestimmung hebt Kant hervor: Vernunftbegabte Wesen stellen für ihn einen Wert an sich dar, weil sich der kategorische Imperativ sonst seiner eigenen Voraussetzung berauben würde: »Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« 13 Unabhängig davon, ob man einer reinen Pflichtethik zustimmen kann oder nicht, bleibt in jedem Fall festzuhalten, dass Kant die Moralphilosophie in ein Zeitalter gehoben hat, in das sich Naturwissenschaft und Industrie schon aufgemacht hatten, nämlich in das der Loslösung von religiösen Vorgaben. Selbst wenn man die Frage, ob es tatsächlich genügt, sich seiner Pflichten zu besinnen, um ein moralisch vertretbares Leben zu führen, noch nicht als ein für alle Mal 11 BA 17 in Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 28. 12 BA 52 in ebd., S. 51. 13 BA 66 f. in ebd., S. 61. 180 <?page no="180"?> entschieden ansehen will, so führt doch keine aufgeklärte Diskussion mehr daran vorbei, sich wie Kant zu fragen, was vernünftigerweise gelten solle. Glaubenssätze allein können diesen Anspruch auf Nachvollziehbarkeit durch den eigenen Vernunftgebrauch nicht einlösen. Sie verweisen in ihrer Begründung stets auf übermenschliche Kräfte. Demgegenüber hatte Kant auf die Moralphilosophie das gleiche Verfahren angewandt, wie vier Jahre zuvor auf die Erkenntnistheorie. In seiner Kritik der reinen Vernunft von 1781, die dem bis dahin eher unbekannten Philosophen aus dem ostpreußischen Königsberg im Alter von 57 Jahren großen Ruhm einbrachte, fragte er nach den »Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis.« 14 Er legte dar, dass diese nicht nur auf Erfahrung fußen könne, weil die Wahrnehmung allein keinerlei Kategorien dafür bereithalte, das Wahrgenommene einzuordnen. »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begrifffe sind blind. [...] Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.« 15 Es könne keine Erkenntnis ohne Begrifffe geben, weil es eines ordnenden Verstandes brauche, um die Wahrnehmungen in den richtigen Zusammenhang zu bringen. »Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin fiinden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt.« 16 In seiner Moralphilosophie erarbeitet Kant daran anknüpfend die Bedingungen der Möglichkeit ethischen Handelns und fiindet eine wesentliche: Ohne Freiheit keine Moral! Hieran fügt sich jede aufgeklärte Ethik und jedes moderne Rechtsverständnis. Nur wer anders hätte handeln können, kann schuldig sein. Ohne dass man sogleich Kants Pflichtethik zustimmen müsste, so muss man doch zumindest anerkennen, dass die moderne Gesellschaftsordnung ohne die grundlegende Annahme von Willensfreiheit nicht auskommt. Die amerikanische Revolution hat noch eine religiöse Rückversicherung bei Gott in Anspruch genommen, bei der Französischen Revolution, die schon bald heraufzog, war das dann nicht mehr der Fall. Dort spielte vielmehr ein aufgeklärter Rationalismus eine wichtige Rolle, 14 B 122 in Kant, Kritik der reinen Vernunft. Band 1, S. 129. 15 B 76 f. in ebd., S. 98. 16 A 125 in ebd., S. 179. 181 <?page no="181"?> von einer Kantischen Pflichtethik fehlte jedoch jede Spur. Vielleicht hätten sich die Auswüchse geringer ausgenommen, wäre eine solche Moralphilosophie bekannter gewesen. Doch bevor in Frankreich Revolutionäres sich Bahn bricht, bringt Kant noch sein Menschenbild zu Papier. Obwohl er davon ausgeht, dass die Vernunft den Menschen dazu zwingt, sich an den kategorichen Imperativ zu halten, ist er sich der moralischen Vertrauenswürdigkeit seiner Mitbürger in der Praxis doch nicht sicher. Er sieht die Menschen sowohl harmonisch nach Gesellschaft streben als auch nach eigenen Vorteilen, Vorlieben und Vorsätzen selbstsüchtig handeln. Gerade dieser Widerspruch treibe zu Höchstleistungen an. Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften; weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzeln (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seiner Seits zum Widerstande gegen andere geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden, und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. [...] Ohne jene, an sich zwar eben nicht liebenswürdige, Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen notwendig antreffen muß, würden in einem arkadischen Schäferleben, bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe, alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe die sie weiden, würden 182 <?page no="182"?> ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. 17 Die Höchstleistungen des Menschen entspringen seiner Ehr-, Hab- und Herrschsucht meint der Königsberger Philosoph, der niemals seine Heimatstadt mehr als nur für wenige Kilometer verlassen hat. Zugleich brauche der Mensch Gesellschaft, um sich als Mensch zu fühlen. In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht aus dem Jahr 1784 sieht Kant es deshalb als höchste und zugleich schwierigste Aufgabe der Menschengattung an, eine »vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung« 18 zu schafffen. Aufgrund seiner ungeselligen Geselligkeit bedürfe der Mensch der Zähmung. Doch wer soll diese leisten? Dieses Problem ist zugleich das schwerste, und das, welches von der Menschengattung am spätesten aufgelöst wird. Die Schwierigkeit, welche auch die bloße Idee dieser Aufgabe schon vor Augen legt, ist diese: der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat. Denn er mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung anderer seinesgleichen; und, ob er gleich, als vernünftiges Geschöpf, ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit aller Schranken setze: so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige tierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche, und ihn nötige, einem allgemein-gültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen. Wo nimmt er aber diesen Herrn her? Nirgend anders als aus der Menschengattung. [...] Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst, und doch ein Mensch 17 A 392 fff. in Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, S. 37 fff. 18 A 39 in ebd., S. 39. 183 <?page no="183"?> sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich: aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt. 19 Ist das Problem schon auf staatlicher Ebene schwer zu lösen, so wird die Lage noch dadurch erschwert, dass auf zwischenstaatlicher Ebene die gleiche Problematik noch einmal zum Zuge kommt. Auch die Staaten stehen zueinander in ungebundener Freiheit, sodass keiner vom anderen Wohlverhalten erwarten könne, solange kein internationaler »Völkerbund« 20 geschafffen sei. Trotzdem glaubt Kant die Menschheit zielgerichtet auf dem richtigen Weg: »Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlichund, zu diesem Zwecke, auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.« 21 Wenige Jahre vor der Französischen Revolution sieht der preußische Philosoph eine notwendige Entwicklung hin zur bestmöglichen staatlichen Verfassung. Die aufstrebende Entwicklung Preußens unter Friedrich hatte ihm offfensichtlich Mut gemacht. Nach dem Ende des Unabhängigkeitskriegs dauerte es vier Jahre bis am 17. September 1787 die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika in Kraft trat. Die 13 ehemaligen Kolonien hatten Mühe, sich auf eine gemeinsame Fassung zu einigen, weil sehr unterschiedliche Interessenlagen aufeinandertrafen. Während die nördlichen Bundesstaaten stärker vom Handel geprägt waren, dominierte im Süden eine Plantagenwirtschaft, in der viele Sklaven eingesetzt wurden. Im Westen kämpften die Siedler gegen Indianer, deren Land sie sich anzueignen strebten, und manche kleineren Staaten im Osten wollten ihren Einfluss gegen die größeren behaupten. Wie schon die Unabhängigkeitserklärung folgt die resultierende Verfassung in ihren Grundsätzen weiterhin der englischen Philosophie und insbesondere Locke, von 19 A 396 f. in Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, S. 40 f. 20 A 400 in ebd., S. 42. 21 A 403 in ebd., S. 45. 184 <?page no="184"?> dem sie die Gewaltenteilung übernimmt. Artikel I legt die Gesetzgebung einerseits in die Hände demokratisch gewählter Repräsentanten, andererseits muss den Gesetzen der Senat zustimmen, in den jeder Bundesstaat zwei Mitglieder entsendet. Der ebenfalls demokratisch gewählte Präsident bekommt durch Artikel II die vollziehende Gewalt zugesprochen, was die Umsetzung beschlossener Gesetze, den Oberbefehl über die Streitkräfte und Verhandlungen mit anderen Staaten umfasst. Artikel III überlässt die Rechtsprechung unabhängigen Gerichten. Anders als Locke und anders auch als die Unabhängigkeitserklärung nimmt die Verfassung allerdings nicht mehr Gott in Anspruch: »Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.« 22 Ganz im Sinne der Aufklärung wird jede religiöse Begründung vermieden, allerdings erfolgt statt dessen keine Berufung auf die Vernunft, sondern im Gefolge Rousseaus auf das Volk als letztlich ausschlaggebende Instanz. Die Konturen des amerikanischen Volks waren jedoch keineswegs klar. Nicht wählen durften die schwarzen Sklaven, weil die Weißen in den Südstaaten billige Arbeitskräfte für ihre Plantagen verloren hätten, mit denen sie ertragreiche Geschäfte machten. Nicht wählen durften auch die Indianer, deren Land im Westen man an neue Siedler aus Europa vergab. Nicht wählen durften schließlich Frauen, obwohl Abigail Adams sich stark für das Frauenwahlrecht eingesetzt hatte. Als Ehefrau von John Adams, später zweiter Präsident der USA und einer der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, verfügte sie durchaus über Einfluss und ihr Rat wurde in anderen Dingen auch von ihrem Mann gerne gehört, doch die Zeiten der Emanzipation waren noch so fern, dass nicht mal dieser es wagte, sich dafür stark zu machen. In einem Staat von Siedlern aus aller Herren Länder konnte gemeinsame Herkunft natürlich keine Grundlage dafür bilden, die Zugehörigkeit zum amerikanischen Volk festzustellen. Das hatte allerdings 22 Washington u. a., Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. 185 <?page no="185"?> Locke auch nie vorausgesetzt, schließlich konnte davon ebenso wenig in Großbritannien mit seinen Angelsachsen, Normannen, Schotten und Iren die Rede sein. Dass man unter Volk eine Menschengruppe mit gemeinsamen ethnischen Wurzeln verstand, kam erst später auf, bis dahin war damit schlicht die Bevölkerung gemeint, wobei die Einschränkungen der Zugehörigkeit durchaus interessengeleitet waren. Die Kolonisten in den USA hatten sich einerseits von einem König losgesagt und eine Republik gegründet sowie andererseits gleiches Recht für alle freien Bürger eingeführt. Trotz unterschiedlicher Herkunft gab es also bereits eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die im Unabhängigkeitskrieg mit ebenso großem wie verbindendem Einsatz verteidigt wurden. Darauf gründete das Selbstverständnis einer Gemeinschaft als Volk. Das alles blieb in Frankreich nicht unbemerkt. Auch dort waren geplante Steuererhebungen der Auslöser für eine Krise. Aufgrund der katastrophalen fiinanziellen Lage, die ebenfalls teilweise auf den Siebenjährigen Krieg zurückzuführen war, wollte König Ludwig XVI. jene stärker mit Abgaben belasten, die diesbezüglich bislang begünstigt waren, obwohl sie über große Vermögen verfügten: Adel und Klerus. Beide begehrten dagegen auf und forderten die Einhegung der absoluten Monarchie, die in Frankreich eine besonders starke Ausprägung erfahren hatte, durch eine Verfassung. Der wirksame Widerstand der Privilegierten war in dieser Form allerdings erst dadurch möglich geworden, dass der König direkt nach seiner Thronbesteigung 14 Jahre zuvor die Parlamente wieder einberufen hatte, nachdem sein Vorgänger Ludwig XV. deren Abschafffung bereits durchgesetzt hatte. Anders als in England handelte es sich bei den französischen Parlements um Gerichtshöfe, die Einfluss auf die königliche Rechtsprechung hatten. Ludwig XVI. hatte dem Adel folglich wieder politisches Gewicht verliehen und der nutzte das nun dazu, seine Privilegien zu verteidigen. Statt sich auf die Steuererhebungen einzulassen, verwiesen die Parlamente darauf, dass einem solchen Vorhaben die Generalstände (franz. États généraux) zustimmen müssten. Dabei handelte es sich wiederum um die traditionelle mittelalterliche Vertretung von Adel, Klerus und Volk, die zuletzt vor 174 Jahren einberufen worden war. Eine Reaktivierung nach so langer Zeit bedeutete nichts anderes als ein Zurückgehen auf vorabsolutistische Zeiten. Die Forderung nach der Einberufung verbreitete sich allerdings durch die noch jungen Errun- 186 <?page no="186"?> genschaften wie Zeitungen und Flugschriften rasch und der Druck auf den König wuchs. Im August 1788 sah dieser schließlich keinen anderen Ausweg mehr und gab nach. Zum 1. Mai des folgenden Jahres sollten die neu gewählten Generalstände zusammentreten. Von Beginn an hatte Ludwigs Herrschaft eine klare Linie vermissen lassen. Er hatte nach Übernahme der Krone nicht nur die Parlamente zurückberufen und damit den Privilegierten vergangener Tage mehr Einfluss zuerkannt, sondern zugleich den fortschrittlichen, aufklärerischen Kräften ein positives Signal gesendet, indem er Anne Robert Jacques Turgot zum Marineminister ernannte. Dieser hatte wie Rousseau an der Enzyklopädie Denis Diderots mitgewirkt und war ein liberaler Wirtschaftsfachmann, der nach seiner Ernennung die Gewerbefreiheit einführte. Damit nicht genug sah sich Ludwig auch als religiöser Erneuerer, was jedoch wiederum im Gegensatz zu Turgots Liberalismus stand. Schon bei seiner Königsweihe brachen diese Unvereinbarkeiten hervor. Er ließ die Zeremonie sehr traditionell abhalten, was seiner starken Religiosität entsprach und beim einfachen Volk auf Begeisterung stieß, bei der aufgeklärten Oberschicht löste das jedoch große Skepsis aus. Überhaupt nicht mehr in seine Zeit wollte die Berührung von Kranken passen, der im mittelalterlichen Zeremoniell heilende Kräfte zugesprochen wurde, aufgrund der fortgeschrittenen medizinischen Kenntnisse mittlerweile aber als rückwärtsgewandter Aberglauben wirkte. Insgesamt hat es den Anschein, als wollte Ludwig es allen Recht machen und verdarb es sich gerade deshalb mit allen. So entließ er den in seiner Amtsführung erfolgreichen Turgot innerhalb von nur zwei Jahren nicht zuletzt auf Nachdruck von seiner österreichischen Ehefrau Marie Antoinette hin, die sich von den Sparmaßnahmen des Ökonomen gegängelt fühlte. Zugleich brachte er den Adel durch seine Steuerpläne gegen sich auf und auch das Volk sollte ihm nicht gewogen bleiben. In dieser schwierigen Gemengelage widerstreitender Interessen kam es zu einer umfangreichen Diskussion über die Zusammensetzung der einzuberufenden Generalstände, wo ursprünglich jeweils 300 Vertreter für den Adel, den Klerus und das Volk vorgesehen waren. Letzteres, vor allem das dort inbegrifffene mittlerweile erstarkte städtische Bürgertum, fühlte sich als dritter Stand nicht ausreichend repräsentiert. Hinzu kam eine wirtschaftlich brisante Situation: 1786 war ein Vertrag mit England geschlossen worden, der den Handel durch 187 <?page no="187"?> geringere Zollgebühren erleichtern sollte. Auf Seiten Frankreichs profiitierten davon die Weinbauern, weil in England Wein bislang vorrangig aus Portugal bezogen wurde. Deshalb sahen sich durch den neuen Vertrag mangels Weinbau auf der Insel keine Engländer als Verlierer, sondern letzten Endes Portugiesen. Zugleich überschwemmten Frankreich, das in der Industrialisierung noch nicht so fortgeschritten war, nun billige englische Tuchwaren. Die Folgen für das französische Textilgewerbe waren verheerend. Allein in Lyon verloren 20 000 von 58 000 Arbeitern ihre Anstellung. Die Situation verschärfte sich zusätzlich dadurch, dass die Getreideernte des Jahres 1788 miserabel ausfiiel und deshalb die Brotpreise rapide anstiegen, wobei gewöhnliche Leute ohnehin etwa die Hälfte ihres Einkommens für Brot ausgaben. Der Unmut wuchs, zumal die Franzosen wussten, dass die Speicher der weltlichen und geistlichen Grundherren aufgrund der jährlichen Abgaben gut gefüllt waren. In dieser Stimmungslage verbreitete im Januar 1789 Emmanuel Joseph Sieyès, ein vierzigjähriger Priester und damit selbst Angehöriger des Klerus, die erfolgreichste Flugschrift aller Zeiten: Was ist der dritte Stand? Und genau so begann sie auch: 1. Was ist der Dritte Stand? ALLES. 2. Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? NICHTS. 3. Was verlangt er? ETWAS ZU SEIN. 23 Wenn nun der Dritte Stand alles ist, dann hat die herausgehobene Stellung, die die anderen beiden Stände für sich beanspruchen, seine Selbstverständlichkeit längst verloren. Die übliche Rückbesinnung der Adligen auf Herrschaftsrechte, die ihre Vorfahren vor langer, langer Zeit erworben zu haben glaubten, entlockt Sieyès deshalb nur noch Spott: »Warum sollte er [der Dritte Stand] nicht alle diese Familien in die fränkischen Wälder zurückschicken, die den tollköpfiigen Anspruch weiterpflegen, sie seien dem Stamm der Eroberer entsprossen und hätten Eroberungsrechte geerbt? « 24 Eine über Jahrhunderte hinweg wiederholte Rechtfertigung für die Herrschaft des Adels wird kurz und knapp infrage gestellt. Der schlichte Hinweis auf längst vergangene Eroberungen der Ahnen 23 Sieyes, Politische Schriften 1788-1790, S. 119. 24 Ebd., S. 126. 188 <?page no="188"?> kann Sieyès zufolge nicht genügen, um über das gegenwärtige Schicksal der Bevölkerung bestimmen zu dürfen. Und tatsächlich setzte jede mittelalterliche Unterwerfung immer auch voraus, dass der Herr dem ihm untergebenen Volk Schutz zu gewähren vermochte. Im 18. Jahrhundert kämpften allerdings längst keine Ritter mehr gegeneinander, sondern Söldnerheere. Die Verbreitung von Schusswafffen sorgte dafür, dass der Ritterstand selbst nicht mehr imstande war, die Bevölkerung zu verteidigen. Schwere Rüstungen waren mittlerweile eher hinderlich. Eine wichtige Rechtfertigung für eine privilegierte Adelsschicht, die keine zwei Prozent der Bevölkerung ausmachte, fiiel damit weg. Auch die im Mittelalter so wichtige Gottgefälligkeit trat in den Hintergrund, wogegen im Zeitalter der aufkeimenden Industrialisierung die Produktivität zunehmende Bedeutung gewann. Es ist kein Zufall, wenn Sieyès nach dem Nutzen eines jeden Standes fragt und dabei feststellt, dass alles Notwendige allein vom Dritten Stand erbracht wird, die nunmehr nutzlosen ersten beiden Stände hingegen unverdiente Vorrechte besitzen: Jedes Privileg, man kann es nicht oft genug wiederholen, widerspricht dem gemeinschaftlichen Recht; also bilden alle Privilegierten, ohne Unterschied, eine vom Dritten Stand verschiedene und ihm entgegengesetzte Klasse. Zugleich bemerke ich, daß diese Wahrheit für die Freunde des Volkes nichts Beunruhigendes haben kann. Im Gegenteil, sie führt zum großen nationalen Interesse zurück, da sie die Notwendigkeit kräftig zum Bewußtsein bringt, alle zeitweiligen Privilegien unverzüglich zu unterdrücken, die den Dritten Stand spalten und ihn offensichtlich dazu verurteilen würden, seine Geschicke in die Hände seiner Feinde zu legen. 25 Wenn jedoch der Nutzen ausschlaggebend sein soll, dann stellt sich sogleich die Frage: Der Nutzen wofür? Für die Erlösung durch Gott? Für den Staat? Spätestens seit Rousseau steht mit dem Gemeinwillen eine weitere Möglichkeit zur Verfügung: Das nationale Interesse, das über jedem individuellen und über demjenigen eines jeden Standes steht. Für Sieyès steht es sogar am Beginn von allem: Die Nation selbst aber - kann man uns sagen, nach welchen Gesichtspunkten, aufgrund welchen Interesses man ihr eine 25 Ebd., S. 128 f. 189 <?page no="189"?> Verfassung geben soll? Ist die Nation doch zuerst da, ist sie doch der Ursprung von allem. Ihr Wille ist immer gesetzlich, denn er ist Gesetz selbst. Vor und unter ihr gibt es nur das Naturrecht. 26 Es gibt für den Pariser Priester demzufolge etwas, das allem anderen vorausgeht und das ist nicht Gott, sondern die Nation. Sie gilt ihm mehr als der König und die Stände, allerdings auch als die versammelte Menge aller Bürger und mehr als das Volk; sie ragt über alles hinaus. Ihr spricht er einen eigenen Willen zu - genau so wie Rousseau das für den Gemeinwillen getan hatte. Was die Grundlage der neuen französischen Verfassung bilden sollte, ist für Sieyès deshalb klar, unklar bleibt der Weg, der dorthin führt. Denn die Privilegierten haben viele Vorteile, weshalb es nicht ausreichen würde, wenn, wie zunächst gefordert, der Dritte Stand 600 Vertreter und damit ebenso viele bekommen würde wie die beiden anderen Stände zusammen. Aufgrund ihrer Vorrechte, wären Erster und Zweiter Stand immer in der Lage, einzelne Vertreter ärmerer Schichten mit Zuwendungen zu bedenken und sie so auf ihre Seite zu ziehen. Kurz: Korruption hilft stets jenen, die schon privilegiert sind. [Der Dritte Stand] wird ganz umsonst eine gleich starke Zahl von Vertretern erreichen, die aus seinem Stand kommen; der Einfluß der Privilegierten wird stets selbst im Innersten des Dritten Standes herrschen. Denn wo sind die Posten, Stellen, Pfründen zu vergeben? Auf welcher Seite besteht das Bedürfnis nach Schutz; und auf welcher Seite liegt die Macht, Schutz zu geben? 27 Über 200 Jahre alt wirken diese Sätze dennoch aktuell. Sieyès wollte die Demokratie, und obwohl wir sie längst erlangt haben, beklagen wir noch immer den unverhältnismäßigen Einfluss von Privilegierten, welche heute vor allem gut organisierte Unternehmensgruppen sind, die ihre Interessen an höchster Stelle geltend machen können. Autorität und Einfluss der sogenannten Elite und ihres Eigentums haben ihren Charakter kaum verändert. »Neben der Herrschaft der Aristokratie, die in Frankreich über alles schaltet und waltet, und neben 26 Sieyes, Politische Schriften 1788-1790, S. 166 f. 27 Ebd., S. 132. 190 <?page no="190"?> diesem feudalen Aberglauben, der immer noch die meisten Geister anhält, sich zu ducken, gibt es den Einfluß des Eigentums.« 28 Was im Jahr 1789 in Frankreich folgte, ist eine rapide Verkettung der Ereignisse: Im Mai traten die einberufenen Generalstände am königlichen Hof in Versailles zusammen und sogleich entbrannte der Streit um den Abstimmungsmodus, weil der Dritte Stand sich nicht von Adel und Klerus überstimmen lassen wollte. Stattdessen proklamierte er sich im Juni allein zur Nationalversammlung und verlangte eine Verfassung. Der König befand sich zunächst gar nicht vor Ort, weil sein Sohn und Thronerbe kurz zuvor gestorben war. Fünf Tage nach dessen Bestattung gab Ludwig dann in einer Rede an die Abgeordneten einerseits scheinbar nach, zog andererseits aber um Paris Truppen zusammen. Außerdem schickte er seinen reformgeneigten Chefminister Jacques Necker ins Exil und ersetzte ihn durch einen konservativen Vertreter. Das löste bei allen Reformwilligen Angst vor einer gewaltsamen Niederschlagung ihrer Bewegung aus, die sich am 11. Juli in einem Volksaufstand entlud. Von der Pariser Stadtverwaltung wurde an 13 000 Bürger Wafffen ausgegeben, um der äußeren Bedrohung durch die königlichen Soldaten und der inneren durch die heraufziehenden Unruhen zu begegnen. Am 14. Juli sollte auch die Bastille, eine alte, mächtige Festung, die mittlerweile als Gefängnis diente, auf zusätzliche Ausrüstung durchsucht werden. Doch die Besatzung wehrte sich. Es gab 98 Tote, der Widerstand war trotzdem bald gebrochen. Nach diesen ersten Gefallenen im Kampf wirkte die Erstürmung der Bastille wie ein Signal an alle, dass nun ein echter Umsturz im Gange war. Ein Umbruch, der nicht nur in Paris willkommen geheißen wurde: Im ganzen Land wurden Schlösser und Klöster gestürmt und geplündert, um nicht zuletzt jene Papiere zu vernichten, in denen die Abgabenpflichten der Bauern dokumentiert waren. Ohne Zweifel fühlte sich die Bevölkerung durch das alte Feudalsystem bedrückt und nutzte die Gelegenheit bereitwillig, sich daraus zu lösen. Die alte Ordnung war dahin, eine neue aber noch nicht zur Stelle. Im Land herrschte Chaos und die Nationalversammlung war als einzige handlungsfähige Kraft verblieben. Man rief die Adligen zum Verzicht auf ihre feudalen Privilegien auf; so auch ein Leinenhändler: Seien wir gerecht meine Herren! Man bringe uns die Perga- 28 Ebd., S. 133. 191 <?page no="191"?> mente, die nicht nur das Schamgefühl, sondern die Menschheit selbst verletzen. Man bringe uns die Papiere, die das Menschengeschlecht erniedrigen, indem sie verlangen, daß Menschen wie Tiere an einen Pflug gespannt werden. Weg mit den Rechtstiteln, die Menschen dazu zwingen, nächtelang auf die Teiche zu schlagen, damit die Frösche den Schlaf und die wollüstigen Beschäftigungen ihrer Seigneurs nicht stören. Wer von uns, meine Herren, wird nicht im Jahrhundert der Aufklärung aus diesem infamen Pergamenten einen Scheiterhaufen errichten, um sie auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern? 29 Am 5. August rief die Nationalversammlung schließlich das Ende der Feudalherrschaft aus. Die Leibeigenschaft war damit aufgehoben, nicht jedoch die bestehende Eigentumsverteilung. Obwohl die Bauern folglich noch nicht über den Boden verfügen konnten, den sie bewirtschafteten, verfehlte die Erklärung ihre Wirkung nicht und die Unruhen ließen nach. Drei Wochen später folgte das Fundament für die neue Ordnung. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte proklamierte in den ersten drei Artikeln die endgültige Abkehr von allen Privilegien und zugleich die dem Bürgertum so wichtige Garantie des Eigentums: Art. 1. Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein. Art. 2. Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit und der Widerstand gegen Unterdrückung. Art. 3. Der Ursprung aller Souveränität liegt wesenhaft in der Nation. Keine Körperschaft und kein Einzelner kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht. 30 Der König wollte dieser Abkehr von der Feudalherrschaft allerdings nicht folgen und verweigerte seine Zustimmung. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, zogen deshalb am 5. Oktober über 5000 Frauen zu Fuß von Paris aus ins gut 20 Kilometer entfernte 29 nach Schulin, Die Französische Revolution, S. 71. 30 nach Kimmel, Die Verfassungen der EG-Mitgliedsstaaten, S. 150 f. 192 <?page no="192"?> Versailles, begleitet von der Nationalgarde, die aus der Pariser Bürgermiliz hervorgegangen war und von La Fayette befehligt wurde, der so tatkräftig am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mitgewirkt hatte. Von einer Rede des Königs ließen sich die Demonstrantinnen nicht besänftigen und blieben über Nacht. Am nächsten Tag gab Ludwig seinen Widerstand auf und stimmte einem Umzug nach Paris zu. Damit stand er fortan unter Aufsicht des Pariser Volks und La Fayettes. Abweichend von der englischen Revolution hatte diesmal nicht der Adel, sondern das Volk die Macht an sich gerissen. An der Spitze Frankreichs stand nicht mehr der König, sondern die Nationalversammlung hatte die Regierung übernommen. Die fiinanziellen Probleme des Staates blieben mit diesem Wechsel aber ungelöst. Es bedurfte dringend neuer Einnahmen und so beschloss die Nationalversammlung im November 1789, das auf französischem Boden befiindliche Kirchengut einzuziehen, womit man sich freilich die Feindschaft des Papstes zuzog, der seinerseits die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verdammte. Die Nationalversammlung wiederum sagte sich daraufhin vom Katholizismus los und führte eine französische Nationalkirche ein. Anders als in England zur Zeit Heinrichs VIII. waren jedoch große Teile sowohl der Bevölkerung als auch der Priester der katholischen Kirche eng verbunden, sodass es im ganzen Land zu einer Spaltung zwischen Anhängern der Revolution und solchen der katholischen Kirche kam. Während dieser religiösen Streitereien arbeitete die Nationalversammlung das ganze Jahr 1790 an einer neuen Verfassung, in der Ludwig als Kopf der Exekutive eine ähnlich bedeutende Rolle erhalten sollte wie der König in England. Zugleich hatte man sich gegen ein allgemeines Wahlrecht entschieden und stattdessen die Steuerleistung und damit das Einkommen zur Voraussetzung gemacht, sodass von 25 Millionen Franzosen nicht mal jeder Fünfte wahlberechtigt und weit weniger als 50 000 als Abgeordnete wählbar waren. Ein solches Zensuswahlrecht stand im offfensichtlichen Widerspruch zur zuvor in den Menschenrechten festgehaltenen Gleichberechtigung und rief den sogenannten Jakobinerclub (franz. Club des Jacobins) auf den Plan, der so hieß, weil sich der Versammlungsort in einem ehemaligen Jakobinerkloster befand. Jean Paul Marat, Jakobiner und Journalist, schrieb in seiner Zeitung über die neue Verfassung: »Hier ist ein schlagender Beweis für den Einfluß des Geldes auf die Gesetze. Was haben 193 <?page no="193"?> wir gewonnen, die wir die Aristokratie der Adligen zerstörten, wenn sie durch die der Reichen ersetzt wird? « 31 Viele sahen das genauso, sodass die Zahl der Jakobiner schnell anwuchs. Dem sehr religiösen Ludwig XVI. hingegen konnte weder die Abkehr von der katholischen Kirche gefallen, noch wollte sich der ehemals absolutistische Herrscher von irgendeiner Verfassung in seinen Rechten einschränken lassen. Im Juni 1791 wagte Ludwig deshalb die Flucht, wurde aber kurz vor der Grenze zu Belgien gestoppt und zurück nach Paris gebracht, wo er fortan unter strenge Aufsicht gestellt wurde. Für den Verfassungsentwurf blieb diese offfensichtlich ablehnende Haltung erstaunlicherweise ohne Folgen. Man hielt weiterhin an der zentralen Rolle des Königs fest. Vermutlich tat hier die Drohung Leopolds II. seine Wirkung: Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation kündigte Krieg an, falls Ludwig etwas zustoßen sollte. Dem gefangenen französischen König blieb in seiner Lage gar nichts anderes übrig als einer Verfassung zuzustimmen, die er ablehnte, und mit der er zugleich der Regierung eines Landes vorstand, dessen Bevölkerung ihn aufgrund der Vorgeschichte bereits vor Antritt des neuen Amts verachtete. Wenig verwunderlich konnte Ludwig die ungeliebte Rolle nicht mit ganzem Herzen annehmen, stattdessen versprach Wafffengewalt Ausflucht. Ein Krieg gegen Österreich und damit gegen den Kaiser würde ihm so oder so nützen. Denn im Falle eines Sieges könnte Ludwig den Ruhm davontragen, den größten Feind der Revolution geschlagen zu haben. Besser bekäme ihm sogar eine Niederlage, dann nämlich würde der Kaiser sicherlich die alte monarchische Ordnung wieder herstellen. Die Nationalversammlung versagte ihm seinen Wunsch trotz des doppelten Spiels nicht, weil sie wiederum hofffte, durch einen gemeinsamen Kampf gegen äußere Feinde die innerfranzösischen Spannungen abbauen zu können. Zumindest unter den Jakobinern gab es allerdings auch Stimmen, wie die von Maximilien de Robespierre, die sich gegen einen Krieg im Namen der Revolution aussprachen: »Niemand liebt bewafffnete Missionare! « Tatsächlich verlief der Krieg bald schon ungünstig, nicht zuletzt weil sich insbesondere in der Heerführung der Verlust der Adligen bemerkbar machte, die wegen der Revolution außer Landes geflohen 31 nach Schulin, Die Französische Revolution, S. 71. 194 <?page no="194"?> waren, in der Vergangenheit aber die höheren militärischen Positionen besetzt hatten. Die Feinde der jungen Republik rückten vor. Sollten sie siegen, würde der König in seine angestammten Rechte wieder eingesetzt und allen politischen Gegnern der Tod drohen. Angesichts dessen nahm im August 1792 eine aufgebrachte Menge den König gefangen, womit zugleich die bestehende Verfassung hinfällig wurde. Am Kleidungsstil war leicht zu erkennen, dass hier einfache Leute auf höchster Ebene in die Politik eingrifffen. Denn der Mode entsprechend trugen Angehörige gehobener Schichten Kniebundhosen, den König hingegen setzten sogenannte Sansculottes (also Personen ohne Kniebundhosen) fest. Maßgeblich angetrieben hatte diese Aktion Georges Danton, dem neben Marat und Robespierre dritten herausragenden Jakobiner: »Wenn ein Schifff vom Untergang bedroht ist, wirft die Besatzung alles ins Meer, was es gefährden kann. So muß alles, was die Nation schädigen könnte, aus ihrer Mitte ausgestoßen werden! « 32 Ganz in diesem Sinne wurden über 1000 Insassen von Pariser Gefängnissen ermordet, um die darunter vermuteten Anhänger der Adelsherrschaft zu eliminieren. Zur selben Zeit fanden die Wahlen für einen Nationalkonvent statt, der nach dem Sturz des Königs nun eine neue, eine wahrlich republikanische Verfassung ausarbeiten sollte. Zur Wahl waren diesmal eigentlich alle Männer über 21 Jahren zugelassen. In der aufgeheizten Stimmung gab allerdings nur jeder zehnte Wahlberechtigte seine Stimme ab. Nichtsdestotrotz trat im September der so gewählte Konvent erstmals zusammen. Noch bevor er irgendeine Wirkung entfalten konnte, vollzog sich auf dem Schlachtfeld bereits die Wende. Das französische Heer feierte seinen ersten Sieg, angetrieben von mittlerweile Zehntausenden Freiwilligen, die ausgezogen waren, um entschlossen die Revolution zu verteidigen. Ehe die Republik Formen angenommen hatte, konnte sie damit ihren ersten Erfolg verbuchen. Einer echten Republik im Weg stand allerdings noch der König. Was sollte aus ihm werden? Die Frage spitzte sich zu, als im Herbst in dessen Räumen verräterische Briefe gefunden wurden. Daraus ging eindeutig hervor, dass der König noch immer das Rad zurückdrehen wollte. Was tun also mit Ludwig XVI.? Robespierre hatte dazu eine klare Meinung: »Mit Schmerz spreche ich die fatale Wahrheit aus: Es ist besser, daß Ludwig stirbt, als daß 100 32 nach ebd., S. 120. 195 <?page no="195"?> 000 tugendhafte Bürger umkommen. Ludwig muß sterben, weil das Vaterland leben soll! « 33 Mit dieser Einschätzung stand er nicht allein und so fand sich im Nationalkonvent eine Mehrheit für die Hinrichtung des Königs, die im Januar 1793 durchgeführt wurde. Diese unumkehrbare Hinwendung zur Republik gab schließlich den Ausschlag dafür, dass England der anti-französischen Koalition beitrat. Waren die Franzosen zwischenzeitlich bis zum Rhein vorgedrungen, wendete sich nun das Blatt erneut. Das Kernland war wieder in Gefahr. Der Konvent forderte deshalb von allen Regionen die Aushebung weiterer Soldaten, 300 000 insgesamt. Doch in Frankreich gab es nicht nur Republikaner. Nicht zuletzt die Anhänger der katholischen Kirche standen der Revolution kritisch gegenüber. Besonders viele von ihnen gab es in der westfranzösischen Region Vendée, wo es nun zum Aufstand kam. Bedroht von innen und außen kämpfte die junge Republik fortan gleich doppelt ums Überleben. Da die Verfassung noch nicht vollendet und somit noch keine ordnungsgemäße Regierung eingesetzt war, legte der Nationalkonvent die Regierungsgeschäfte im April 1793 in die Hände des so genannten Wohlfahrtsausschusses (franz. Comité de salut public). Die Lage besserte sich jedoch nicht, in Paris hungerte die Bevölkerung. Anfang Mai wurden deshalb Höchstpreise für Getreide festgesetzt, doch das reichte den Sansculottes nicht. Sie forderten mehr Beschränkungen für reiche Grundbesitzer und Händler. Dagegen erhoben sich im Nationalkonvent Stimmen, die das Eigentum bedroht sahen. In der französischen, vor allem in der Pariser Bevölkerung entbrannte fortan der Streit zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Der Zorn war offfenbar groß: Ein Sansculotte, Ihr Herren Schufte? Das ist einer, der immer zu Fuß geht, der keine Millionen besitzt, wie Ihr sie alle gern hättet, der mit seiner Frau und seinen Kindern ganz schlicht im 4. oder 5. Stock wohnt. Er ist nützlich, denn er versteht ein Feld zu pflügen, zu schmieden, zu sägen ..., ein Dach zu decken, Schuhe zu machen und bis zum letzten Tropfen sein Blut für das Wohl der Republik zu vergießen. Und da er arbeitet, kann man sicher sein, weder im Café Chartres auf ihn 33 nach Schulin, Die Französische Revolution, S. 203. 196 <?page no="196"?> zu stoßen, noch in den Spielhöllen, wo man konspiriert. Am Abend tritt er vor seine Sektion, nicht etwa mit einer hübschen Larve, gepudert und gestiefelt, in der Hoffnung, daß ihn alle Bürgerinnen auf den Tribünen achten, sondern vielmehr, um mit all seiner Kraft die aufrichtigen Anträge zu unterstützen und jene zunichte zu machen, die von der erbärmlichen Clique der regierenden Politkaste stammen. 34 Im Juni 1793 umstellten die Sansculottes den Nationalkonvent und setzten den Ausschluss all jener Abgeordneten durch, die die Verteidigung des Eigentums betrieben. Die Regierungstätigkeit war damit in unmittelbare Abhängigkeit von der Stimmung in der Pariser Bevölkerung geraten. Unter dem Druck der Straße verloren Wahlergebnisse und Parlamentsregeln jede Relevanz. Getragen von den Sansculottes bestimmten die Jakobiner fortan das Geschehen. Angesichts der militärischen Bedrohung riefen sie im Zuge der sogenannten Levée en masse, einer Massenaushebung, alle unverheirateten Männer zwischen 18 und 25 Jahren an die Wafffen, womit die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde und die Revolutionsarmee mit einem Schlag auf eine Million Soldaten anwuchs. Mit diesem Massenheer stellten sich sogleich Siege gegen die Söldnertruppen der Koalition ein. Doch die Gefahr von innen drohte der Revolution weiterhin. Im Glauben, die Republik zu verteidigen, war den Jakobinern jetzt jedes Mittel recht, um sich durchzusetzen. So forderte Louis Antoine de Saint-Just: »Es ist auf kein Glück zu hofffen, solange der letzte Feind der Freiheit atmet, man muß nicht nur die Verräter bestrafen, sondern auch die Gleichgültigen, jeden, der passiv ist und nichts für die Revolution tut.« 35 Saint-Just war ein Verehrer Robespierres und dieser wiederum ein Verehrer Rousseaus. Beinahe hört man dessen Worte durch, wonach man Menschen zur Freiheit zwingen müsse. Die Jakobiner waren sicher, dass sie auf der Seite der Freiheit standen und schreckten deshalb vor nichts zurück. Im September begann der Terror gegen alle Feinde der Revolution, la Grande Terreur. Zehntausende Franzosen wurden ermordet und Hunderttausende verhaftet. Beweise waren nicht nötig, Verdachtsmomente reichten aus. Niemand war mehr vor Verfolgung 34 nach ebd., S. 200. 35 nach ebd., S. 212. 197 <?page no="197"?> sicher, nicht einmal Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses. Im April 1794, fast exakt ein Jahr nachdem der Wohlfahrtsausschuss die Regierung übernommen hatte, traf es schließlich sogar Danton. Er wurde hingerichtet, nachdem er sich schockiert von den Auswüchsen für eine Milderung des Terrors eingesetzt hatte. Fortan - Marat war bereits im Juli des Vorjahres Opfer eines Attentats geworden - herrschte Robespierre allein im Stile eines Diktators. Er allein entschied, wer auf Seiten der Republik stand und wer nicht, von seinem Wohlwollen hing ab, wer leben durfte und wer sterben musste. Damit hatte der »Unbestechliche«, 36 wie er genannt wurde, allerdings sein eigenes Ende eingeleitet. Um ihr Leben fürchtend, fanden sich einige Mitglieder des Nationalkonvents zusammen, um am 27. Juli Robespierre zu verhaften. Die Hinrichtung am folgenden Tag fand ganz im Sinne des Terrors ohne vorheriges Gerichtsverfahren statt. Die Herrschaft der Jakobiner und Sansculottes war zu Ende. Ihr Kleidungsstil aber ist uns bis heute geblieben. Wir tragen lange Hosen zu kurzen Jacken und nicht wie Adel und Bürgertum jener Zeit kurze Kniebundhosen zu langen Mänteln. Kant hat sich durch die Ereignisse in Frankreich nicht davon abbringen lassen, an der Republik als bestmöglicher Regierungsform festzuhalten. In seiner 1795 erschienen Schrift Zum ewigen Frieden sieht er nur in ihr den Garanten für Frieden. Dabei verfolgt er die zwei ersten Grundsätze der französischen Revolution: Freiheit für alle und Gleichheit vor dem Gesetz, wie sie bis heute für jede Republik maßgeblich sind. Rechtliche (mithin äußere) Freiheit kann nicht, wie man wohl zu tun pflegt, durch die Befugnis definiert werden: ›alles zu tun, was man will, wenn man nur keinem Unrecht tut.‹[...] Vielmehr ist meine äußere (rechtliche) Freiheit so zu erklären: sie ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können. - Eben so ist äußere (rechtliche) Gleichheit in einem Staate dasjenige Verhältnis der Staatsbürger, nach welchem keiner den andern wozu rechtlich verbinden kann, ohne daß er sich zugleich dem Gesetz unterwirft, von diesem wechselseitig auf dieselbe Art auch verbunden werden zu können. 37 36 Jochmann, Robespierre, S. 19. 37 BA 21 f. Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Päd- 198 <?page no="198"?> Die Republik ist für Kant nicht zu verwechseln mit Demokratie, worunter er ein Staatsprinzip versteht, in dem wie in Frankreich damals die ausführende mit der gesetzgebenden Gewalt zusammenfällt. Deshalb betrachtet er die Volksherrschaft als »Despotism«, 38 wogegen in der Republik Gewaltenteilung vorliegt. Heute ist Gewaltenteilung und Demokratie kein Gegensatz mehr, weil nunmehr nicht allein direkte Herrschaft des Volkes als Demokratie gilt, sondern auch eine Regierungsform, wo das Volk durch Repräsentanten vertreten wird, so lange diese durch allgemeines Wahlrecht bestimmt sind. Gute Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung des Friedens schaffft die Republik gemäß Kant, weil sie die Zustimmung der Staatsbürger erfordert und diese nicht ohne Not einen Krieg beschließen werden, dessen Folgen sie selbst zu tragen hätten. Die Republiken, wie überhaupt Staaten, sollen keinen Krieg untereinander führen. Es sollen auch kein Tausch, kein Kauf und keine Schenkung möglich sein. Ein Staat ist nämlich nicht (wie etwa der Boden, auf dem er seinen Sitz hat) eine Habe (patrimonium). Er ist eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders, als er selbst zu gebieten und zu disponieren hat. Ihn aber, der selbst als Stamm seine eigene Wurzel hatte, als Pfropfreis einem andern Staate einzuverleiben, heißt seine Existenz als einer moralischen Person aufheben und aus der letzteren eine Sache machen und widerspricht also der Idee des ursprünglichen Vertrags, ohne die sich kein Recht über ein Volk denken läßt. 39 Damit gibt sich Kant als Anhänger der Vertragstheorie zu erkennen. Zugleich scheint er von einer Volkseinheit, einer Nation auf einem Staatsgebiet auszugehen, ohne zu klären, warum Völker sich scharf an Gebietsgrenzen trennen lassen sollten, also völlig überschneidungsfrei vorzufiinden sein sollten. Für den Einzelnen wird die Zugehörigkeit zu einem Volk dadurch unentrinnbar, mag seine Abneigung noch so groß sein. Gerade zu jener Zeit ist das erstaunlich, weil die Grenzen in erster Linie das Ergebnis von Auseinandersetzungen unter Adligen waren, ohne irgendeinem und sei es auch noch so zweifelhaftem agogik 1, S. 204. 38 BA 25 ebd., S. 207. 39 BA 7 ebd., S. 197. 199 <?page no="199"?> ethnischen Prinzip zu folgen. Als Vorbild hatte Kant offfenbar die Französische Revolution gedient, die sich in ihrer Verteidigung gegen äußere Feinde als Widerstand einer Schicksalgemeinschaft verstand, deren Gemeinsamkeit man nicht nur im Republikanismus, sondern auch im französischen Volkscharakter zu fiinden glaubte. Kants Staatsidee jedenfalls setzt eine völkische Flurbereinigung voraus, wie sie Danton für die französische Republik in Anspruch nahm: »Frankreichs Grenzen sind von der Natur gegeben, nämlich durch das Meer, den Rhein und die Alpen bestimmt. Wir werden sie erreichen.« 40 Die Grenzen des Staatsgebiets und des Volkes sind dann aber nicht von vornherein gegeben, sondern müssen erst von der Natur abgeleitet und erreicht werden. Tatsächlich verfolgen viele nachfolgende Kriege die Idee, dass es natürliche Grenzen des Staatsgebiets und natürliche Siedlungsgebiete eines natürlichen Volkes gebe. Wenn nun zwei Staaten das für das gleiche Territorium behaupten, dann fiindet sich auf Staatsebene derselbe Naturzustand wieder, wie Hobbes ihn für Individuen beschrieben hatte. Kant glaubt diesem durch den Zusammenschluss in einem Völkerbund entgehen zu können. Der Völkerbund sollte also ein Problem korrigieren, das die Erhebung der Völker zu eigenständigen moralischen Personen erst ausgelöst hatte, wie sie von Kant selbst und anderen vorgenommen wurde. Tatsächlich kam über 100 Jahre nachdem Kant am 12. Februar 1804 gestorben war ein Völkerbund zustande, der aber ebenso wenig wie die Vereinten Nationen heute Krieg verhindern konnte. Denn solange die Staaten für Völker einstehen, will eine Zähmung nicht gelingen. Kant zeigt, dass es keine Freiheit ohne Vernunft und keine Vernunft ohne Freiheit geben kann. Frei ist der Mensch folglich nicht erst unter bestimmten politischen Umständen, sondern kraft seiner naturgegebenen Vernunft. Daraus resultiert die Möglichkeit freier Selbstbestimmung. Die Schwierigkeit besteht darin, diese in einer Gesellschaft unter vielen selbstbestimmten Freien aufrechtzuerhalten, denn der Mensch sei nunmal aus krummem Holze und folge nicht durchweg dem kategorischen Imperativ. Deshalb hält Kant ein Oberhaupt, das die Einhaltung des Gesetzes überwacht, für unausweichlich. Doch auch dieses ist nur ein Mensch und aus eben dem selben Holz gemacht. Kant setzt deshalb seine Hofffnungen auf die Republik, wel- 40 nach Schulin, Die Französische Revolution, S. 105. 200 <?page no="200"?> che die menschlichen Unzulänglichkeiten gesetzlich einhegen soll. Doch diese Folgerung steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu seinen eigenen Einsichten, denn er selbst war es, der die Gleichrangigkeit der Menschen dargelegt hat. Jedes vernünftige Wesen ist zu freier Entscheidung und somit zu freier Selbstbestimmung fähig, sodass niemandem das Recht zusteht, über andere zu bestimmen. Daraus folgt jedoch keine Republik, sondern eine radikale Demokratie völlig Gleichrangiger. Kant gibt uns eine Begründung der Gleichheit aller Menschen an die Hand, derer die Demokratie so dringend bedarf. Er gibt uns auch eine Begründung für den menschlichen Drang zur Selbstbestimmung an die Hand, die Demokratie unausweichlich macht. Er traut der immer wieder betonten Vernunft aber nicht ausreichend über den Weg, um allen Menschen gleichermaßen die Regierung zu überantworten, sondern hält seinesgleichen für so mängelbehaftet, dass er am liebsten niemanden davon regieren lassen wollte. Auf der Suche nach einer Lösung für sein Dilemma verfolgt er die Idee der menschlichen Gleichheit nicht konsequent weiter, sondern hebt auf völkische Unterschiede ab und lässt mit nationalen Republiken Einheiten höheren Rechts entstehen. Die Selbstbestimmung der Menschen ist dahin. 201 <?page no="201"?> 14 Woher kannte Hegel den Weltgeist? Sein jüngerer Bruder war von Beginn an Anhänger der Jakobiner, er aber stand diesen zunächst skeptisch gegenüber. Sobald sich jedoch abzeichnete, dass sie die Macht übernehmen würden, beeilte auch Napoléon Bonaparte sich, in einer Schrift seine Zustimmung auszudrücken. Diese wurde wohlwollend aufgenommen und brachte ihm das Kommando über die Artillerie bei der Belagerung der südfranzösischen Stadt Toulon ein. Dort widersetzten sich Royalisten, wobei sie Unterstützung an Soldaten sowie Schifffen aus England erhielten. Diesen Widerstand galt es zu brechen, wollte man die Französische Revolution gegen einen Rückfall in die Monarchie verteidigen. Obwohl Napoléon auch kein Jakobiner der ersten Stunde war, hatte er die Revolution anfangs begrüßt. In der Idee der Volksherrschaft sah er eine Chance für die Unabhängigkeit seiner geliebten Heimatinsel Korsika. 1755, lange vor seiner Geburt und lange vor der Unabhängigkeit der USA, war dort die erste demokratische Verfassung der Neuzeit geschafffen worden, als Aufständische sich von der Herrschaft durch die Seemacht Genua befreien wollten. Dem Aufstand war die norditalienische Handelsstadt nicht gewachsen und verkaufte die faktisch schon an die Rebellen verlorene Insel kurzerhand an den französischen König Ludwig XV., der 1769 die Unabhängigkeitsbewegung gewaltsam niederschlagen ließ. Zu den Aufständischen hatte auch ein Mann gehört, dessen zweiter Sohn am 15. August des selben Jahres als Napoleone Buonaparte geboren wurde und an dessen Name die ursprünglich italienische Herkunft der Familie deutlich erkennbar war. Französisch war dementsprechend nicht die Muttersprache im Hause Buonaparte. Im Alter von neun Jahren wurde der Zweitgeborene deshalb zusammen mit seinem eineinhalb Jahre älteren Bruder nach Frankreich in eine Schule geschickt, um die Sprache der neuen Machthaber zu erlernen. Anschließend besuchte Napoléon eine angesehene französische Militärschule, wo er allein deshalb in der Artillerie ausgebildet wurde, weil sein Wunsch zur Marine zu gehen, auf den 202 <?page no="202"?> vehementen Widerstand seiner Mutter stieß. Nach Korsika kehrte er erst im Alter von 20 Jahren zurück, um die Umwälzungen durch die Französische Revolution dazu zu nutzen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und noch einmal den Kampf für die Unabhängigkeit seiner Heimatinsel aufzunehmen. Ihm blieb der Erfolg aber ebenfalls versagt. Nachdem er mit den Zielen für seine Heimat gescheitert war, konzentrierte sich der junge Offfiizier voll auf seine militärische Karriere in der französischen Armee, indem er sich den zur Zeit politisch Mächtigen, den Jakobinern andiente. In der kriegerischen Verwendung schwerer Geschütze ausgebildet, unterbreitete Napoléon gleich bei seinem ersten Einsatz einen Plan, wie er in Toulon sein noch zu Zeiten der Monarchie gelerntes Handwerk gegen die Monarchisten siegbringend einsetzen könnte. Während andere Attacken zuvor gescheitert waren, gelang unter Leitung des erst 24 Jahre alten Kommandanten im Herbst 1793 die Eroberung. Die taktische Leistung hinter dem Erfolg fand Anerkennung und empfahl den talentierten Strategen für größere Aufgaben, weshalb er die Befehlsgewalt über die gesamte Artillerie einer Armee in Südfrankreich bekam. Doch ein halbes Jahr später schien die steile Karriere schon wieder an ihrem Ende angelangt, weil mit dem Sturz Maximilien de Robespierres im Juli 1794 die Stellung auch all seiner Anhänger gefährdet war. Dass Napoléon sich zuvor als Freund der Jakobiner ausgegeben hatte, brachte ihn nun in Schwierigkeiten. Er verlor sein Kommando und wurde vorübergehend verhaftet. Mochte die Unabhängigkeit Korsikas eine Herzensangelegenheit gewesen sein, die Herrschaft der Jakobiner in Frankreich war es nicht. Der wendige Korse schwenkte sogleich auf die neue politische Linie ein und suchte seine Chance darin, sich den neuen Machthabern anzudienen, wofür er nach Paris reiste. Dort wurde mittlerweile eine neue Verfassung vorbereitet, deren Regierungsbildung zwar einerseits auf Wahlen beruhen sollte, andererseits aber dem gemeinen Volk gegenüber Misstrauen entgegenbrachte, indem sie die Wahlberechtigung vermögensabhängig machte und die zahlreiche besitzlose Bevölkerung von Wahlen und Ämtern ausgeschlossen wurde. Ganz offfensichtlich handelte es sich um eine Verfassung im Sinne des besitzenden Bürgertums, die ein fünfköpfiiges Direktorium als Staatsspitze vorsah. Nachdem die Jakobinerherrschaft, die sich als Vertretung der breiten 203 <?page no="203"?> Masse verstanden hatte, gerade erst gescheitert war, blieb das Aufbegehren der Armen gering. Mehr Gefahr ging dagegen von einem neuerlichen Aufstand der Monarchisten aus. Zuständig für Sicherheit und Ordnung in Frankreich war inzwischen Paul de Barras, der trotz adeliger Herkunft die Revolution unterstützt hatte und zuletzt maßgeblich an der Entmachtung Robespierres beteiligt gewesen war. Da Barras selbst jedoch über keinerlei militärische Erfahrung verfügte, kam ihm Napoléon gerade recht, um die Niederschlagung des Aufstands zu übernehmen. Nach vollbrachter Tat wurde dieser im Alter von nun 26 Jahren mit einem stattlichen Oberbefehl belohnt - und zwar genau über eben jene noch immer in Südfrankreich stationierte Armee mit insgesamt 40 000 Mann, deren Artillerie er zwei Jahre zuvor kurzzeitig befehligt hatte. Als Anhänger der Jakobiner entlassen, kehrte er nun als Günstling des Direktoriums mächtiger als zuvor zurück. Nicht wenige Soldaten empfiingen Napoléon infolge dessen zurückhaltend. Ohnehin war die Stimmung miserabel, weil es um die Ausrüstung schlecht bestellt und seit Monaten kein Sold ausbezahlt worden war. Um die Moral der Truppe anzuheben, versprach der neue General vollmundig die Eroberung reicher Städte und betrieb mit eigens geschafffenen Zeitungen gezielte Pressearbeit in eigener Sache. Und tatsächlich zog er nur wenige Wochen nach seiner Ankunft sogleich gen Italien, wo er sich den zahlenmäßig überlegenen Truppen von Österreich und Piemont gegenüber sah. Der junge Feldherr setzte taktisch darauf, gegnerische Einheiten möglichst zu trennen und dann den Angrifff auf einen Punkt hin zu konzentrieren. Besonders wichtig war dabei Schnelligkeit, wobei sich Napoléon einer Neuerung der Revolution bedienen konnte. Die Ernährung der Soldaten erfolgte nicht über aufwendig organisierte Versorgungslinien, sondern sehr zum Leidwesen der ansässigen Bevölkerung direkt vor Ort durch Plünderung. Die Verbindung zu Depots verlor dadurch an Bedeutung, sodass sich der Aktionsradius deutlich vergrößerte. Da es sich um ein revolutionäres Volksheer handelte, nahm man im Gefecht außerdem höhere Verluste in Kauf, weil vergleichsweise einfach weitere Bürger zum Kriegsdienst verpflichtet werden konnten. Damit ging ein weiterer Vorteil der Franzosen einher: Wenn eine Schlacht ungünstig verlief, gab es weniger Deserteure, schließlich zogen die Soldaten ihrem Selbstverständnis nach für ihre Heimat sowie die Daheimgebliebenen in den Krieg und konnten 204 <?page no="204"?> deshalb nicht einfach die Seite wechseln. In Italien war damit die Motivation der beteiligten Soldaten sehr ungleich: Es trafen Patrioten, die für ihre Freiheit kämpften, auf Söldner, die für Geld in den Krieg zogen, gleichgültig wer sie dafür bezahlte. Die Französische Revolution brachte somit einen Wandel der Kriegführung mit sich, den Napoléon virtuos für sich zu nutzen wusste und dem die Söldnerheere nicht gewachsen waren. Letztere hatten drei Jahrhunderte zuvor das Ritterwesen abgelöst, da eine eigene Eingreiftruppe von einem absolutistischen Herrscher praktischerweise auch gegen abtrünnige Vasallen eingesetzt werden konnte. Der zunehmende Geldumlauf ermöglichte es mittlerweile, sich in beliebiger Zahl Soldaten zusammenzukaufen, deren jeder für sich aufgrund seines niederen Standes ohne Einfluss war, die als militärischer Verband aber durchaus Schlagkraft besaßen, vor allem wenn sie noch dazu über Schusswafffen verfügten. Da Ersatz für Gefallene schlicht eine Frage des Geldes war, wurden Schlachten gerne vermieden. Insgesamt hatte Kriegführung »oft den Charakter einer Art von Schachspiel mit lebenden Figuren angenommen, wobei es genügte, durch geschickte Märsche den Gegner von seiner Verpflegungsbasis abzudrängen«. 1 Folglich zogen sich Söldnerkriege hin und es musste eine dauerhafte Versorgung sichergestellt werden, die über die kurzfristige Verpflegung durch Plünderung vor Ort hinausging. Entsprechend fühlte sich die Bevölkerung den Sölndern ihres Herrn nicht verbunden. Die Söldner kämpften schließlich nicht für sie, nicht für ihr Land oder ihre Rechte, sondern einzig und allein für Macht und Einfluss ihres Herrn, der sich sein Söldnerschach nur leisten konnte, weil er das Volk mit Steuern und Abgaben überzog. Solange man unter der Herrschaft eines Fürsten lebte, war es im Grunde unerheblich, von wo aus und von wem man regiert wurde. Ein Herrschaftswechsel änderte in der Regel nicht viel. Für die Franzosen hatte sich die Situation mit der Revolution grundlegend verändert. Nun ging es nicht mehr um die Persönlichkeitsmerkmale eines Herrschers, sondern um die Errungenschaften der Republik. Wer auf republikanischem Gebiet lebte, konnte (zumindest bei genug Einkommen) wählen, mitbestimmen und sich auf Rechtsgleichheit berufen. Wer Franzose war, konnte sich als Teil eines 1 Schmidt, »Napoleon I. (1799/ 1804-1814/ 15)«, S. 321. 205 <?page no="205"?> großen Ganzen fühlen und das wirkte sich auch auf die Kampfmoral aus: Wurden Söldner lediglich für die Erweiterung des persönlichen Besitzes eines Fürsten bezahlt, so kämpften Republikaner für ihre Rechte und Freiheiten. Napoléon nutzte als erster gezielt die Vorteile einer Volksarmee, wobei ihm zustatten gekommen sein mag, dass er sie bereits im Unabhängigkeitskrieg der Korsen kennengelernt hatte. Er suchte den Kampf und schreckte auch vor verlustreichen Schlachten nicht zurück. Außerdem drang er auf die Auslöschung des Gegners, was zuvor völlig unüblich war, waren doch die europäischen Fürsten häufiig untereinander verwandt und die Reichweiten von Söldnerheeren begrenzt. Statt nach Vernichtung hatte man eher nach Macht und Einfluss gestrebt. Man hatte sich damit begnügt, den Gegner zu dominieren. Nicht so Napoléon: Statt auf Söldnerschach setzte er auf Vernichtungskrieg! Im April 1796 stand der korsische Feldherr in Norditalien einer doppelten Übermacht gegenüber, doch mit einem schnellen Vorstoß trieb er gezielt einen Keil zwischen die feindlichen Einheiten und besiegte die beiden Teile nacheinander. In Mailand wurde er daraufhin als Befreier von der österreichischen Herrschaft überschwänglich empfangen und gab sich auch selbst so: »Die französische Armee ist gekommen, um Eure Ketten zu brechen! Das französische Volk ist der Freund aller Völker! « 2 Die Franzosen waren ebenfalls begeistert. Das Direktorium dagegen reagierte, aufgeschreckt vom schnellen Zuwachs an Popularität ihres Schützlings, mit der Teilung des Kommandos über die Italienarmee. Von seiner Unverzichtbarkeit überzeugt, drohte der aber sogleich mit Rücktritt, woraufhin die französische Regierung kleinlaut nachgab. Im Behauptungskampf gegen innere und äußere Gegner war man auf militärische Erfolge angewiesen und konnte auf gute Feldherren nicht verzichten. Instinktsicher in Machtfragen hatte Bonaparte das erkannt und nahm die resultierende Durchsetzungsschwäche als Freibrief für eigenmächtiges Vorgehen. Ohne sich mit dem Direktorium abzustimmen, gründete er kurzerhand in Norditalien die Transpadanische Republik, zog mit seiner Armee erfolgreich bis kurz vor Wien und handelte einen vorteilhaften Friedensvertrag mit Österreich aus, das darin die Ausdehnung Frankreichs bis an den Rhein zugestand. 2 nach Ullrich, Napoleon, S. 42. 206 <?page no="206"?> Napoléon hatte der Republik den militärischen Sieg und große Landgewinne gebracht. Zurück in Paris wurde der 28-Jährige euphorisch empfangen. Zur Beruhigung des Direktoriums trug die Beliebtheit beim Volk allerdings nicht bei. Im Gegenteil: Wer beliebt ist, stellt immer auch eine Gefahr für die Mächtigen dar. Die Direktoren suchten deshalb nach einer Anschlussverwendung des Korsen fernab von Paris, die ihm keinen weiteren Einfluss bringen sollte. Das Oberkommando über die Armee an der Kanalküste bot dafür ideale Voraussetzungen. Dort konnte man nichts ausrichten, abgesehen von einer Invasion der britischen Inseln, was an Kühnheit kaum zu überbieten wäre. Kaum war der Artillerie-Spezialist im Februar 1798 am Kanal eingetrofffen, hatte er auch schon erkannt, dass die englische Überlegenheit zur See zu groß war. Statt ein aussichtsloses Unterfangen voranzutreiben oder untätig beim Volk in Vergessenheit zu geraten, entschloss sich Napoléon zu einem Abenteuer: Durch einen Überfall Ägyptens sollten sowohl Englands Vorherrschaft im Mittelmeerraum als auch dessen schnellste Verbindung nach Indien gestört werden. Mit 38 000 Soldaten gelang die Landung bei Alexandria und ohne große Schwierigkeiten konnte auch Kairo eingenommen werden. Allerdings durfte Napoléon sich darüber nicht lange freuen, weil die Engländer wenige Tage später seine Flotte vernichteten. Vom Heimatland abgeschnitten und gegen Aufstände ankämpfend war die Lage bald aussichtslos. Was sollte der große Stratege noch in Ägypten? Zumal in Europa der Krieg wieder aufgeflammt war und Frankreich schlimme Niederlagen erlitten hatte. Im August 1799 trat Napoléon verstohlen den Rückweg an - allein. Um den englischen Schifffen zu entgehen, ließ er seine Soldaten zurück. Obwohl Bonaparte dem ägyptischen Abenteuer eine ganze Armee geopfert hatte, jubelten die Pariser ihm bei seiner Rückkehr dennoch zu. Denn nur dem Bezwinger Österreichs trauten sie die erneute Rettung vor den feindlichen Mächten zu. Im Direktorium saßen zum einen der alte Bekannte Paul de Barras, der als einziger seit vier Jahren dem höchsten Staatsgremium angehörte, und zum anderen Emmanuel Joseph Sieyès, der zehn Jahre zuvor die aufsehenerregende Flugschrift Was ist der Dritte Stand? verfasst hatte. Beide waren unzufrieden, weil trotz des Zensuswahlrechts, das die arme Bevölkerung von den Wahlen ausschloss, die Jakobiner erstarkten. Innerhalb der bestehenden Verfassung sahen sie keine 207 <?page no="207"?> Möglichkeit mehr, die Interessen des besitzenden Bürgertums zu wahren. Insbesondere Sieyès suchte deshalb nach einem anderen Weg und erblickte ihn in der Popularität Napoléons. Mit seinem Rückhalt beim Militär wollte man den Putsch wagen. Zunächst lief alles nach Plan, doch dann hielt der große Feldherr seine erste Rede vor der politischen Elite des Landes - und diese geriet konfus. Doch man löste die Nationalversammlung einfach auf und ernannte Napoléon, Sieyès und einen gewissen Roger Ducos zu Consuln. Mit diesen drei Consuln war ein Triumvirat geschafffen worden, was unweigerlich an das Ende der römischen Republik erinnert. So kam es auch in Frankreich. Als Kommandeur der Truppen und Liebling des Volkes, konnte Bonaparte seine Mitverschwörer bald ins Abseits drängen. Anschließend beendete er mithilfe des Militärs alle Unruhen und ließ 60 der 73 Pariser Zeitungen verbieten. Damit war einerseits die Zeit der freien Meinungsäußerung vorbei. Andererseits kehrten mit Napoléon die Siege gegen die feindlichen Armeen zurück und es gelang erneut der Vorstoß bis zum Rhein. Nach und nach wurde mit Österreich, Russland und im März 1802 auch mit England Frieden geschlossen. Die Franzosen waren wiederum begeistert! Völlig unter ging neben diesen großen Erfolgen in Europa, dass die Kolonien vernachlässigt wurden. Da der erste Consul dafür keine Verwendung sah, verkaufte er die Kolonie Louisiana an die USA. Ein riesiges Gebiet zwischen Mississippi und Rocky Mountains, dreimal größer als Frankreich, wechselte für nur 15 Millionen Dollar, was sieben Dollar pro Quadratkilometer entspricht, den Besitzer. Damit war Frankreich in Nordamerika nicht mehr vertreten und die USA freuten sich über eine Verdoppelung ihres Territoriums. Große Gebietsveränderungen gab es auch in Mitteleuropa: Da laut Friedensvertrag die Gebiete westlich des Rheins an Frankreich abgetreten wurden, beschlossen die Vertreter des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mit dem Reichsdeputationshauptschluss vom Februar 1803 weitreichende Neuordnungen. Die zuvor 314 Territorien und Städte, aus denen sich das Reich zusammensetzte, wurden auf 30 reduziert. Die aus dem Mittelalter überkommene Welt kleiner Herrschaften wich modernen Flächenstaaten. Und was ging nicht alles unter: Da war die bunte und stolze Welt der alten Reichsstädte Frankens und Schwabens, meist 208 <?page no="208"?> winzige Flecken wie Wimpfen, Biberach oder Buchholz, aber auch bedeutende Kultur- und Handelszentren wie Ulm, Augsburg oder Heilbronn. Da waren die vielen kleinen Residenzen der Fürstenbergs, der Leiningen, der Fugger oder der Hohenlohe, deren Glanz bei aller Bescheidenheit doch den Untertanen Wohlstand und Ansehen gegeben hatte und die jetzt unter den Amtmännern und Kommissären einer fernen und unsichtbaren Regierung in Bedeutungslosigkeit versanken. Da war die rechtswidrige Beseitigung der Besitzungen der Malteser und des Deutschen Ordens im Breisgau und am Bodensee, die rücksichtslose Zerschlagung der fürstbischöflichen und klösterlichen Herrschaften, und da war die Vernichtung der oberdeutschen Klosterlandschaft, vom fränkischen Vierzehnheiligen bis zum oberschwäbischen Weingarten: Zusammenbruch einer nahezu tausendjährig gewachsenen Staats- und Rechtsordnung, revolutionärer Triumph des alles beherrschenden, sich alles unterwerfen wollenden modernen Zentralstaats. 3 Durchgesetzt hatten sich die größeren Staaten, die für ihre linksrheinischen Verluste großzügig entschädigt wurden. Insbesondere Preußen, Bayern, Württemberg, Baden und Hessen gewannen deutlich sowohl an Territorium als auch an Bevölkerung. Napoléons Tatendrang hatte noch lange kein Ende gefunden: Im März 1804 erließ er mit dem Code civil ein Gesetzbuch, das in angepasster Form bis heute in Frankreich gültig ist, weltweit vielen Staaten als Vorbild diente und auch in einigen Teilen Deutschlands bis zum Jahr 1900 Gültigkeit besaß. In Frankreich vereinheitlichte der Code civil die zuvor regional unterschiedlichen Rechtsvorschriften und löste die Unwägbarkeiten des überkommenen Gewohnheitsrechts ab. Als erstes für das ganze Land verbindliches Gesetzbuch reduzierte er die Rechtsunsicherheit erheblich und stärkte die Freiheitsrechte. Er garantierte Gleichheit vor dem Gesetz und vertrieb damit die Furcht vor einer Rückkehr adliger Privilegien. Er gewährte Gewerbefreiheit und damit freie Berufswahl. Er räumte die Freiheit des Eigentums ein und ließ damit den uneingeschränkten Verkauf und Erwerb von Grundbesitz zu. Er bot persönliche Freiheit und erlaubte damit, Reiseziele und Wohnorte selbst zu bestimmen. Er regelte die rechtliche Gleichstellung von Frau und Mann und ermöglichte damit für beide 3 Schulze, Kleine deutsche Geschichte, S. 70. 209 <?page no="209"?> die Ehescheidung. Am Umfang der Freiheitsrechte spürt man, dass es erste Entwürfe für den Code civil schon in der Revolutionszeit gegeben hatte, doch den Zuspruch vom Volk erhielt dafür derjenige, der ihn tatsächlich eingeführt hatte: Napoléon Bonaparte. Die Revolution, die Republik, die Beliebtheit beim Volk und nicht zuletzt das Volksheer hatten ihn an den Gipfel der Macht geführt, dennoch war der erste Consul weit davon entfernt, die Demokratie anzustreben oder jene Kräfte zu stärken, die ihn groß gemacht hatten. Er regierte das Land vielmehr wie ein Diktator, was einen Schatten auf die Rechtmäßigkeit seiner Regierung warf. Am 2. Dezember 1804 erteilte Napoléon allen demokratischen und republikanischen Hofffnungen eine Absage, indem er sich selbst zum Kaiser krönte. Damit gab es drei Kaiser: Kaiser Franz II. für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation in Nachfolge des Weströmischen Reiches; Zar Alexander I. von Russland in Nachfolge des Oströmischen Reiches (die nach dem Untergang von Constantinopolis aufgrund der Heirat zwischen einer Nichte des letzten oströmischen Kaisers und dem damaligen russischen Fürsten sowie des Auftretens als Schutzmacht aller orthodoxen Christen beansprucht wurde); und nun Napoléon I., Kaiser der Franzosen. Streng genommen gab es sogar vier Kaiser, da Franz II. angesichts des zerbröckelnden Heiligen Römischen Reiches sich selbst zusätzlich noch zum Kaiser Franz I. (neuer Titel, neue Zählung) von Österreich erhoben hatte und somit Doppelkaiser war. Napoléon ernannte sich im Gegenzug zusätzlich zum König von Italien, indem er sich die Eiserne Krone der Langobarden aufsetzte, die auch schon Karl der Große 1000 Jahre zuvor getragen hatte. Gegen Napoléons titulare und auch militärische Aufrüstung bildete sich 1805 eine Koalition bestehend aus England, Russland, Österreich, Schweden und Neapel. Unter den europäischen Großmächten blieb nur Preußen neutral. Baden, Bayern und Württemberg schlugen sich sogar auf die Seite der Franzosen, sodass es innerhalb des deutschrömischen Reiches zum Bruch kam. Mit seinen weniger schlagkräftigen Verbündeten stand Napoléon eigentlich einer Übermacht gegenüber, doch exakt ein Jahr nach seiner Kaiserkrönung siegte er trotz numerischer Unterlegenheit in der Schlacht von Austerlitz aufgrund der besseren Strategie. Alle bedeutenden deutschen Staaten mit Ausnahme von Preußen und Österreich fanden sich daraufhin als Rheinbund in einem Militärbündnis mit Frankreich wieder und führten Refor- 210 <?page no="210"?> men durch, im Zuge derer unter anderem die Privilegien des Adels aufgehoben und der Code civil eingeführt wurde. Napoléons Einfluss reichte mittlerweile vom Atlantik bis zum italienischen Fluss Po ebenso wie bis zur friesischen Ems oder bis zum bayerischen Inn und damit weit hinein in das Heilige Römische Reich. Da dessen Kaiser nicht durch Erbfolge bestimmt war, sondern von den Kurfürsten gewählt wurde, bangte Franz (II. in diesem Fall) um den alten Kaisertitel. Ehe sein französischer Rivale ihm diesen streitig machen konnte, legte er am 6. August 1806 die Reichskrone nieder und beendete damit die über tausendjährige Geschichte des Heiligen Römischen Reichs. Er selbst blieb dank seiner Vorsorge als Franz I. weiterhin Kaiser, wenn auch nur von Österreich. Erst jetzt, da das römisch-deutsche Kaiserreich zerschlagen war und Napoléons Modernisierung der Rheinbundstaaten die verbliebenen Monarchen alt aussehen ließ, erklärte Preußen den Franzosen den Krieg, überschätzte dabei jedoch die eigene militärische Stärke. Es vergingen keine drei Wochen, da zog Napoléon in Berlin ein. Damit waren nur noch zwei große Gegner verblieben: England und Russland. Mit Letzterem wurde ein Frieden ausgehandelt, die Niederwerfung von Ersterem war dagegen schon lange Napoléons Ziel seiner Sehnsüchte. Da der englischen Flotte nach wie vor nicht beizukommen war, sollte der Inselstaat wirtschaftlich in die Knie gezwungen werden. Der französische Kaiser erließ eine Kontinentalsperre, um den Warenaustausch zwischen Festland und Großbritannien zu unterbinden. Damit schadete sich Frankreich jedoch vor allem selbst, weil es stark vom Handel abhängig war, und ein reger Schmuggel die Kontinentalsperre unterlief. Bis hierhin war die Geschichte Napoléons eine Geschichte der Expansion und der Modernisierung. Sogar die Erhebung zum Kaiser unter Berufung auf das Volk statt auf ein Gottesgnadentum konnte darunter irgendwie noch gefasst werden. Die Einführung einer neuen Aristokratie im Jahre 1808 deutete dann aber klar in eine andere Richtung. Sie spiegelte eine Distanzierung von jenem Volk wieder, das die Grundlage all seiner politischen und militärischen Erfolge bildete. Ungleichheit hielt wieder Einzug und das nicht nur auf dieser Ebene. Auch gegenüber den Staaten, in denen er sich nach der Eroberung als Befreier hatte feiern lassen, verstärkte sich die Ungleichheit. Weil die Kontinentalsperre schmerzliche Engpässe verursachte, 211 <?page no="211"?> wurde schon 1809 der Handel in begrenztem Umfang wieder gestattet, allerdings nur für Frankreich. Der Expansion der Macht folgte nun die Erhöhung seines französischen Volkes, seiner engsten Anhänger als Aristokraten und nicht zuletzt auch seiner selbst, wie eine Pflichtlektüre verdeutlicht, die an allen Schulen eingeführt wurde: Wir schulden unserem Kaiser Napoleon I. Liebe, Achtung, Gehorsam, Treue, den Kriegsdienst und die zur Aufrechterhaltung und Verteidigung seines Thrones gebotenen Tribute. [...] Wir schulden ihm dies vor allem deshalb, weil ihn Gott, der die Reiche gründet und nach seinem Wohlgefallen verteilt, in Krieg und Frieden mit seinen Gaben überhäuft, ihn zu unserem Souverän, zum Werkzeug seiner Gewalt, zu seinem Abbild auf Erden gemacht hat. 4 Das ist keine Huldigung eines Vertreters seines Volkes, sondern die eines Vertreters Gottes und damit eine Rückkehr ins Gottesgnadentum. Napoléon kämpfte für sich und seinen Platz in den Geschichtsbüchern. Für die eroberten Länder bedeutete das nicht länger Befreiung, sondern Unterwerfung, wogegen sich zwangsläufiig Widerstand zu regen begann. Auch auf deutschem Gebiet begehrte die Bevölkerung zunehmend auf. Wie sehr sich dabei das Bild vom Befreier zum Besatzer gewandelt hatte, zeigen die Äußerungen eines abgefangenen Attentäters, den Napoléon selbst zur Rede gestellt hat: Warum wollten Sie mich töten? ›Weil Sie das Unglück meines Landes sind.‹ Habe ich Ihnen denn ein Leid zugefügt? ›Wie allen Deutschen.‹ Von wem sind Sie abgesandt? Wer hat Sie zu diesem Verbrechen verleitet? ›Niemand. Nur die innerste Überzeugung, daß ich, wenn ich Sie töte, meinem Vaterlande und ganz Europa den größten Dienst erweise, hat mir die Waffe in die Hand gedrückt.‹ 5 Aus dem Aufstand des französischen Volks gegen die starrsinnige Ungleichheit der Monarchie, war zunächst ein Kampf ums Überleben 4 nach Ullrich, Napoleon, S. 89. 5 nach ebd., S. 102 f. 212 <?page no="212"?> gegen Söldnerheere anderer Fürsten geworden. Aus diesem Freiheitskampf entwickelte sich eine Befreiung der Bevölkerung deutscher und italienischer Ländereien von der nutzlosen Selbstgefälligkeit ihrer Fürsten. Doch nachdem Napoléon aus Revolutionären Besatzer gemacht hatte, begann sich überall in Europa nationaler Widerstand zu regen. Nachdem sich Russland vorübergehend an der Kontinentalsperre beteiligt hatte, nahm es nach einigen Jahren die dadurch verursachten Nachteile nicht weiter in Kauf und den Handel mit England wieder auf. Das wollte Napoléon nicht hinnehmen und bereitete sich auf einen Feldzug gegen das weitläufiige Reich im Osten vor, zog Soldaten aus ganz Europa zusammen und sammelte mit über einer Million Mann die größte Streitmacht die man bis dato je gesehen hatte. Ende Juni 1812 überschritt die Grande Armée die Grenze zu Russland, 2000 Kilometer von Paris entfernt, aber auch noch 1000 von Moskau. Hunderttausende Menschen auf Durchmarsch dem zu ernähren, war vor Ausbau eines Eisenbahnnetzes mit Pferdewagen auf unbefestigten, holprigen, matschigen Straßen ohnehin schon eine Herausforderung, in einem dünn besiedelten, armen Land schlicht unmöglich. Tausende Soldaten blieben täglich zurück, sei es aus Erschöpfung oder um sich der widrigen Umstände zu entziehen. 100 Kilometer vor Moskau, die napoleonische Armee war mittlerweile auf knapp 130 000 Mann geschrumpft, stellten sich die Russen endlich zum Kampf und verloren. Der Weg nach Moskau war frei und der Herrscher über fast ganz Europa zog Mitte September in die russische Hauptstadt ein. Die war jedoch völlig verlassen, zudem brach an mehreren Stellen Feuer aus. Statt bequem in der Stadt Unterkunft zu nehmen, musste die Armee vor den Toren kampieren. Der französische Kaiser schien ratlos: Zwar war er bis ins Herz des russischen Reiches vorgedrungen, trotzdem bot ihm der geflohene Zar keine Friedensverhandlungen an. Wenn er auch keine Schlacht gewonnen hatte, wusste Alexander I. die Zeit auf seiner Seite, denn die Versorgungslage bei der französischen Armee wurde immer bedrohlicher. Nach einem Monat quälenden, tatenlosen Wartens trat Napoléon zermürbt den Rückzug an. Schon bald setzte der russische Winter mit erstem Schneefall ein und im November fiielen die Temperaturen unter minus zwanzig Grad. Von Napoléons Grande Armée kehrten nur 18 000 Soldaten in ihre Heimat zurück. 213 <?page no="213"?> Im Sommer darauf fand sich erstmals eine Koalition aller europäischen Großmächte zusammen: England, Russland, Preußen, Österreich, Schweden und Spanien. Zudem waren in eben jenem Maße, in dem unter Napoléon aus der gemeinsamen Sache von Republikanern Vorrechte für Franzosen geworden waren, aus den Bewohnern von Fürstentümern Patrioten geworden. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen appellierte im März 1813 in seinem Aufruf An mein Volk an die Vaterlandstreue seiner Untertanen, wobei ihm offfenbar selbst nicht klar war, welche Zugehörigkeit er ansprechen sollte: Sind die Menschen noch immer schlicht Bewohner eines Landstrichs wie Schlesien, das immerhin erst seit 70 Jahren preußisch war? Oder sind sie gemäß dem Staatsgebiet, auf dem sie leben, Preußen? Oder gar Deutsche, obwohl viele gar kein Deutsch sprachen? Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Litthauer! Ihr wißt, was Ihr seit fast sieben Jahren erduldet habt; Ihr wißt, was euer trauriges Loos ist, wenn wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden. [...] Große Opfer werden von allen Ständen gefordert werden; denn unser Beginnen ist groß, und nicht geringe die Zahl und die Mittel unserer Feinde. Ihr werdet jene lieber bringen für das Vaterland, für Euern angeborenen König, als für einen fremden Herrscher, der, wie so viele Beispiele lehren, Eure Söhne und Eure letzten Kräfte Zwecken widmen würde, die Euch ganz fremd sind. [...] Aber, welche Opfer auch von Einzelnen gefordert werden mögen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die wir sie hingeben, für die wir streiten und siegen müssen, wenn wir nicht aufhören wollen, Preußen und Deutsche zu seyn. Es ist der letzte, entscheidende Kampf, den wir bestehen, für unsere Existenz, unsere Unabhängigkeit, unsern Wohlstand. Keinen andern Ausweg gibt es, als einen ehrenvollen Frieden, oder einen ruhmvollen Untergang. Auch diesem würdet Ihr getrost entgegen gehen, um der Ehre willen; weil ehrlos der Preuße und der Deutsche nicht zu leben vermag. 6 Tatsächlich war vielerorts der Patriotismus geweckt und es meldeten sich viele Freiwillige, um an den Kämpfen gegen Napoléon und die französischen Besatzer teilzunehmen, die bald Befreiungskriege genannt wurden. Sinnstiftend wirkte nicht nur die Idee des 6 Friedrich Wilhelm III., An mein Volk. 214 <?page no="214"?> Vaterlands, sondern auch die Idee der Gleichheit. Wenn alle zur Verteidigung des Landes aufgerufen waren, dann durften sich auch alle Hofffnung machen, dass endlich mehr Gleichberechtigung Einzug hält. Napoléon traf also nicht mehr nur auf Söldnertruppen, sondern sah sich zunehmend Volksheeren gegenüber. Aus dem Kampf von Republikanern gegen Monarchisten war ein Krieg der Nationen geworden. Im Oktober 1813 erlitt der französische Kaiser, der nach all den verlustreichen Kriegen nur noch unerfahrene Soldaten aufbieten konnte, in der dreitägigen Völkerschlacht bei Leipzig, eine schwere Niederlage. Dem folgenden Marsch auf Paris konnte er keine schlagkräftige Armee mehr entgegenstellen. Im April 1814 wurde der Kaiser abgesetzt und auf die Mittelmeerinsel Elba verbannt. In Frankreich wurde währenddessen die Herrschaft der Bourbonen wiederhergestellt. Ein Bruder des hingerichteten Ludwig XVI. wurde als Ludwig XVIII. König. Die Friedensbedingungen der Siegermächte waren hart und in der Bevölkerung machte sich außerdem Furcht vor einer Rückkehr zum vorrevolutionären Absolutismus breit. Nur zu gern jubelten deshalb die Franzosen ihrem großen Feldherrn zu, als dieser schon im März 1815 nach Paris zurückkehrte und die Macht wieder übernahm. Dabei musste Napoléon keine großen Widerstände überwinden, weil sich die Soldaten sofort auf seine Seite schlugen. Die Begeisterung ließ sogleich nach, als sich eine neue Koalition gegen Frankreich bildete und viele Männer in den Krieg ziehen mussten. Obwohl Napoléon noch einmal zu zeigen vermochte, über welch taktisches Geschick er verfügte, kehrte das Kriegsglück nicht zurück: Am 18. Juni verlor der 45-jährige Korse seine letzte Schlacht im belgischen Waterloo gegen britische und preußische Truppen. Im August ging er an Bord eines Schifffes, das ihn auf die englische Insel St. Helena mitten im Südatlantik brachte, die er bis zu seinem Tod sechs Jahre später nicht mehr verlassen durfte. In jenem Jahr, in dem Napoléon starb, veröfffentlichte Georg Wilhelm Friedrich Hegel seine Grundlinien der Philosophie des Rechts. Ausgangspunkt ist die Idee, dass mit der Aufklärung die Natur aller Zufälle beraubt wurde und die Wissenschaft sie zu durchschauen, ihre inneren Gesetzmäßigkeiten zu verstehen beansprucht. Bei der Gesellschaft hingegen wird weiterhin so getan, als würde sie dem Zufall gehorchen. Das kann nach Hegels Meinung nicht sein, da auch sie der Vernunft gehorche: 215 <?page no="215"?> Von der Natur gibt man zu, daß die Philosophie sie zu erkennen habe, wie sie ist, daß der Stein der Weisen irgendwo, aber in der Natur selbst verborgen liege, daß sie in sich vernünftig sei und das Wissen diese in ihr gegenwärtige, wirkliche Vernunft, nicht die auf der Oberfläche sich zeigenden Gestaltungen und Zufälligkeiten, sondern ihre ewige Harmonie, aber als ihr immanentes Gesetz und Wesen zu erforschen und begreifend zu fassen habe. Die sittliche Welt dagegen, der Staat, sie, die Vernunft, wie sie sich im Elemente des Selbstbewußtseins verwirklicht, soll nicht des Glücks genießen, daß es die Vernunft ist, welche in der Tat in diesem Elemente sich zur Kraft und Gewalt gebracht habe, darin behaupte und inwohne. Das geistige Universum soll vielmehr dem Zufall und der Willkür preisgegeben, es soll gottverlassen sein, so daß nach diesem Atheismus der sittlichen Welt das Wahre sich außer ihr befinde und zugleich, weil doch auch Vernunft darin sein soll, das Wahre nur ein Problema sei. 7 Nach all den Fortschritten der Naturwissenschaften erscheint die wilde Natur vernünftig, die Gesellschaft vernunftbegabter Menschen aber wild. Das will Hegel nicht akzeptieren, sondern geht davon aus, dass die ganze Welt - Natur ebenso wie Gesellschaft - von Vernunft durchdrungen sein muss, was er in berühmt gewordenen Worten zum Ausdruck bringt: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« 8 Ein solcher Ansatz verführt freilich dazu, alles Gegebene unkritisch hinzunehmen. Denn wenn die Welt so, wie sie ist, vernünftig ist, gibt es keinen Grund, daran etwas in Zweifel zu ziehen. Zugleich legt der Ansatz auch nahe, alles, was ist, als so und nicht anders möglich anzuerkennen. Demnach wäre alles vernünftig eingerichtet und vorherbestimmt, sodass es keine Spielräume und mithin auch keine Freiheit gäbe. Trotzdem behauptet Hegel bei allem Vertrauen in die Vernünftigkeit der Welt, der Wille sei frei. Der Wille enthält das Element der reinen Unbestimmtheit oder der reinen Reflexion des Ich in sich, in welcher jede Beschränkung, jeder durch die Natur, die Bedürfnisse, Begierden und Triebe unmittelbar vorhandene oder, wodurch es sei, gegebene und bestimmte Inhalt aufgelöst ist; die schrankenlose 7 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 16. 8 Ebd., S. 24. 216 <?page no="216"?> Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst. 9 Damit tritt die Trennung der Gesetzmäßigkeiten gehorchenden Welt der Natur einerseits und der freien Welt des Willens andererseits, wie sie Immanuel Kant formuliert hat, hier wieder zu Tage - und mit ihr die darin liegende Spannung. Auf der einen Seite steht die ebenso notwendig wie vernünftig eingerichtete Natur, auf der anderen der ebenso unbestimmte wie vernunftgeprägte Wille, wobei dieser selbst wiederum ein Produkt der Natur ist. Die Gesetzmäßigkeiten streng folgende Natur hätte sich damit selbst einen Hort der Unbestimmtheit geschafffen. Den Ausweg aus diesem Dilemma sucht Hegel darin, nicht nur einzelne Zustände zu betrachten, sondern die Bewegung zu begreifen, den Übergang von der einen Seite zur anderen zu betrachten. Diese dialektische Methode ist es, was die an Hegel bis heute fasziniert, obwohl er teilweise fragwürdige Thesen vertritt. Wenn man den Willen in seiner gedanklichen Bewegung betrachtet, fiindet dieser sich zunächst einem unendlichen Möglichkeitsraum gegenüber, den er aus eigener Kraft beträchtlich reduziert und schließlich für sich in eine eindeutige Entscheidung zwingt. Der Einzelne wählt aus einer Unmenge an Alternativen etwas aus und legt sich darauf fest. Auf gesellschaftlicher Seite trägt dem das Recht Rechnung, indem es das Handeln nicht auf reine Notwendigkeit einschränkt, sondern dem freien Willen einen Möglichkeitsraum der Entfaltung einräumt, also verschiedene Überführungen in Bestimmtheit zulässt, den Menschen verschiedene Selbstfestlegungen eröfffnet. Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist. 10 Napoléon hatte mit dem Code civil eine Rechtssicherheit geschaffen, die zuvor unbekannt war. Wer sich an die Gesetze hielt, konnte 9 Ebd., S. 49. 10 Ebd., S. 46. 217 <?page no="217"?> nicht belangt werden. Viele Unwägbarkeiten, wie sie die Interpretationen des Gewohnheitsrechts durch die Richter zuvor oft mit sich brachten, wurden dadurch beseitigt. Hegel war Zeuge dieser Entwicklung und betrachtet es entsprechend weniger als reglementierend, denn als befreiend, wenn das Recht die Möglichkeit verleiht, innerhalb eines Rahmens Verschiedenes zu tun, seinem Willen mehrere Möglichkeiten der Selbstbestimmung zu unterbreiten. Das Recht gewährt Freiheit, dennoch bleibt der Einzelne den ihn umgebenden gesellschaftlichen Umständen unterworfen. Diese Sittlichkeit selbst ist Ergebnis des Zusammenwirkens aller Individuen und ihrer willentlichen Entscheidungen. So sehr der Einzelne damit einerseits durch das Sittliche in der Ausübung seines eigenen freien Willens eingeschränkt bleibt, so sehr kann Freiheit andererseits überhaupt nur in einer sittlichen Gesamtheit, in einer Rechtsgemeinschaft verwirklicht werden. In der Einsamkeit ist Freiheit ebenso grenzenwie bedeutungslos. Unter einer Mehrzahl an Menschen kann sich hingegen niemand jenem Gefüge entziehen, das durch deren Aufeinandertrefffen entsteht. Der Wille ist zwar auch dann frei, aber nicht mehr unbeeinflusst von der vorgefundenen, von Menschen gemachten Umgebung. Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat, - der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriffder Freiheit. 11 Nur in der Gesellschaft, nur im sittlichen Zusammenleben kann Freiheit eine greifbare Wirklichkeit erfahren. Die Freiheitsgrade jedes Einzelnen wie auch die gestalterischen Freiheiten des Gemeinwesens insgesamt sind weder naturgegeben noch entspringen sie aus der Summe der Individuen, sondern ergeben sich aus den bestehenden sittlichen und organisatorischen Verhältnissen. Das Leben der Individuen wird durch die objektive Sittlichkeit, durch den Gesellschaftsaufbau regiert. Sie werden durch die sie umgebenden Umstände geprägt und eingeschränkt, aber nur darin können die Individuen ihre Wirklichkeit haben und deshalb können sie nur darin frei sein. Nur innerhalb 11 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 292. 218 <?page no="218"?> einer Rechtsgemeinschaft gewinnt Freiheit Bedeutung und nur dort kann sie sich realisieren. Diese Folgerung erinnert an Jean-Jacques Rousseau und ganz ähnlich wie dieser schränkt Hegel die Bedeutung des Individuums ein: »Ob das Individuum sei, gilt der objektiven Sittlichkeit gleich, welche allein das Bleibende und die Macht ist, durch welche das Leben der Individuen regiert wird.« 12 Die Individuen vergehen, aber die Sittlichkeit, die Gesellschaft bleibt. Der Wille dieses Sittlichen ist deshalb dauerhafter als der individuelle und er ist mächtiger. Er dominiert die Individuen, lässt sie zugleich aber an seiner eigenen Größe teilhaben. Die Pflicht der Teilhabe am Ganzen deutet Hegel deshalb sogar als Befreiung. Als Beschränkung kann die bindende Pflicht nur gegen die unbestimmte Subjektivität oder abstrakte Freiheit und gegen die Triebe des natürlichen oder des sein unbestimmtes Gute aus seiner Willkür bestimmenden moralischen Willens erscheinen. Das Individuum hat aber in der Pflicht vielmehr seine Befreiung, teils von der Abhängigkeit, in der es in dem bloßen Naturtriebe steht, sowie von der Gedrücktheit, in der es als subjektive Besonderheit in den moralischen Reflexionen des Sollens und Mögens ist, teils von der unbestimmten Subjektivität, die nicht zum Dasein und der objektiven Bestimmtheit des Handelns kommt und in sich und als eine Unwirklichkeit bleibt. In der Pflicht befreit das Individuum sich zur substantiellen Freiheit. 13 In der Pflicht erlange der Einzelne seine Freiheit, weil er dadurch davon abgehalten werde, seinen Trieben zu folgen, meint Hegel. Damit entfliehe man zugleich der eigenen Beschränktheit und beteilige sich stattdessen an der Wirklichkeit des Ganzen. Freiheit besteht demzufolge darin, seiner Pflicht nachkommen zu dürfen. Aber kann man das noch Freiheit nennen? Und ist damit allein schon die Freiheit des Ganzen gewährleistet? Ist das die Lehre aus Napoléons Wirken? Tatsächlich hat der Code civil jenes gleiche Recht für alle und jene individuellen Freiheitsrechte konkret fassbar gemacht, die von der französischen Revolution in den Menschenrechten zwar festgehalten, aber nicht im Alltag zum Leben 12 Ebd., S. 294. 13 Ebd., S. 297 f. 219 <?page no="219"?> erweckt worden waren. Napoléon hat auch gezeigt, was möglich ist, wenn man alle Kräfte bündelt, wenn man alle verpflichtet und das Volk nicht nur als Anhängsel der Aristokratie betrachtet. Eine enorme Modernisierung des Staats- und Kriegswesens wurde aus der Verpflichtung aller erzeugt. Aus der Idee des gleichen Rechts für alle und der Bündelung aller Kräfte wurde allerdings gerade militärisch das gleiche Recht und die Bündelung aller Kräfte genau eines Volks. Die Kraft des großen Ganzen war plötzlich nicht größer als das so genannte Vaterland und die Freiheit des Individuums bestand nur noch darin, dem Staat gegenüber seine Pflicht zu erfüllen und gegebenenfalls als Soldat zu sterben. Aus Untertanen der Fürsten waren Untertanen eines vermeintlich vaterländischen Staates geworden. Aus Feinden des Adels waren Feinde benachbarter Völker geworden. Aus Kämpfern für Gleichberechtigung waren Kämpfer für die Bevorzugung der eigenen Nation geworden. Hegel zieht den Schluss, dass Freiheit auf individueller Ebene nicht zu verwirklichen ist, weil sich derart kleinteilig keine gesellschaftlichen Veränderungen umsetzen lassen. Auf staatlicher Ebene ginge das hingegen sehr wohl, wie der französische Kaiser anschaulich bewiesen hat. Hier kann sich der freie, aber in erster Linie staatliche Wille entfalten. Zum allgemeinen Willen erhoben, erklärt Hegel diesen zum Selbstzweck, ganz so wie Rousseau dies für den Gemeinwillen getan hat. Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein. Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein. - Er hat aber ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben 220 <?page no="220"?> ist. Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate. - Die Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit und hier konkret dem Inhalte nach in der Einheit der objektiven Freiheit, d. i. des allgemeinen substantiellen Willens und der subjektiven Freiheit als des individuellen Wissens und seines besondere Zwecke suchenden Willens - und deswegen der Form nach in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handeln. - Diese Idee ist das an und für sich ewige und notwendige Sein des Geistes. 14 Die konkrete Freiheit bestehe demzufolge darin, dass sie in die Allgemeinheit übergeht. Ein Staat ist dann die substanzielle Vernünftigkeit und absolute Macht auf Erden. Aufgrund von seiner Ohnmacht gegenüber dem großen Ganzen degradiert diese Denkart das Individuum zum reinen Erfüllungsgehilfen des Staates: Wenn ein Einzelner schon nichts ausrichten kann, solle er sich doch gleich ganz in den Dienst eines mächtigen Apparats stellen. Wenige Jahre nachdem Napoléon mit einem strafff organisierten Staatsapparat die Wirren der Revolution in Frankreich ebenso weggewischt hat wie vorrübergehend fast alle Fürsten im restlichen Europa, wird von einem preußischen Philosophieprofessor die ordnende Gestaltungskraft zu einem Akt der Freiheit erhoben, in den jedes an sich bedeutungslose Individuum sich nur noch einzufügen braucht und dies auch soll. Hat nicht die Französische Revolution gezeigt, dass einer allein ohnehin nichts ausrichten kann und dass die Herrschaft des Volkes schnell in einem unkoordinierten Chaos endet? Und hat nicht Napoléon gezeigt, dass ein mit Autorität geführter Staat Erstaunliches bewegen kann? Auch wenn die napoleonischen Kriege am Ende in einen Gegensatz der Nationalitäten mündeten, kommt Hegel schon allein aufgrund seiner Grundannahmen nicht umhin, im Geschehen trotzdem eine umfassende Vernunft am Werke zu sehen. Auch der Gegensatz der Nationalstaaten kann demnach nur ein weiterer Schritt in einer 14 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 299. 221 <?page no="221"?> Weltgeschichte sein, in der am Ende die Vernunft des »allgemeinen Geistes« 15 zu sich selbst komme. Es setze sich die notwendige Entwicklung als Erzeugnis der Vernunft durch, sodass die Freiheit des Geistes zur Verwirklichung fiinde. Dabei kann laut Hegel jedes Volk Träger der Weltgeschichte sein und habe als solcher das absolute Recht, sich gegen andere durchzusetzen. Dieses Volk ist in der Weltgeschichte für diese Epoche - und es kann in ihr nur einmal Epoche machen - das herrschende. Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geister der anderen Völker rechtlos, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte. 16 Napoléon schrieb demnach eine Epoche der Weltgeschichte, in der die Freiheit der anderen Völker zu Recht eingeschränkt gewesen war, damit die Vernunft des allgemeinen Willens sich entfalten konnte. Damit tritt jede Freiheit, sei es eines Individuums oder eines Staates, hinter das Vorrecht eines vermeintlich allgemeinen Willens des Weltgeistes, der alles andere überragt, zurück. Der Verlauf der Weltgeschichte ist dann alternativlos, weil sich in ihr ein übergreifender, objektiver Wille unaufhaltsam verwirklicht. Bei Hegel herrscht allerorten Vernunft: »Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.« 17 Am 27. August 1770 in Stuttgart geboren, wuchs Hegel in einer noch voll und ganz dem Absolutismus verschriebenen Welt auf, deren überkommene Strukturen er sehr nah erlebte, weil sein Vater als Beamter der Hofkammer Teil der tyrannisch anmutenden Herrschaftsausübung des Herzogs Carl Eugen von Württemberg war. Als 19 Jahre später die Französische Revolution ausbrach, absolvierte der Beamtensohn gerade ein Theologiestudium am Tübinger Stift, dessen Rückwärtsgewandtheit geradezu bedrückend gewirkt haben muss. Trotz oder wegen dieser insgesamt stark konservativen Erziehung zeigte sich der junge Hegel von den revolutionären Ideen der Freiheit und 15 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 504. 16 Ebd., S. 506. 17 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 20. 222 <?page no="222"?> Gleichheit begeistert und galt zwischenzeitlich sogar als Jakobiner. Während diese in Frankreich die Macht erlangten und bald schon wieder verloren, arbeitete der frisch gebackene Theologe als Hauslehrer für verschiedene reiche Familien. 1801 begab er sich ins sächsische Jena, um an der Universität seine Doktorarbeit zu verfassen und als Privatdozent Vorlesungen zu halten. Leibhaftig zu Gesicht bekam er dort am 13. Oktober 1806 Napoléon, der offfenbar tiefen Eindruck hinterließ, denn Hegel schrieb in einem Brief: »Den Kaiser - diese Weltseele - sah ich durch die Stadt zum Rekognizieren hinausreiten; - es ist in der Tat eine wunderbare Empfiindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht.« 18 Im unermüdlich erobernden französischen Kaiser meinte Hegel den personifiizierten Weltgeist zu erblicken. Was dem Philosophen einen so erhebenden Anblick bescherte, mündete allerdings für rund 30 000 Soldaten im Tod. Napoléon ritt nämlich durch die Stadt, um die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt vorzubereiten, in der er am nächsten Tag die verbündeten Preußen und Sachsen besiegen würde. Wenige Monate darauf verließ Hegel Jena, um sich vergeblich als Journalist zu versuchen, weshalb er von 1808 an als Rektor eines Gymnasiums in Nürnberg arbeitete. Erst nach der endgültigen Niederlage und Verbannung Napoléons erlangte er zunächst im badischen Heidelberg eine Universitätsprofessur. Von dort wechselte er an die Universität des preußischen Berlin, wo er 1831 starb. Bis zuletzt vertraute Hegel in den Lauf der Dinge, insbesondere in die recht jungen Vorstellungen eines Staates als unpersönliche Einheit und eines Volkes als nationale Einheit, wobei er dem »Germanischen Reich« 19 die größte Reife zuspricht. Um in Hegels Sinne frei zu sein, muss man sich, so paradox es klingen mag, lediglich dem Staatsapparat voll und ganz unterordnen. Denn der subjektive Wille sei ausgesöhnt, wenn er das Notwendige und das Gesetz anerkennt, wenn er sich dem Staat und seinem Vaterland ganz und gar unterwirft. 1837 sagt Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: In der Weltgeschichte kann nur von Völkern die Rede sein, welche einen Staat bilden. Denn man muß wissen, daß ein 18 nach Jaeschke, Hegel Handbuch, S. 24. 19 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 140. 223 <?page no="223"?> solcher die Realisation der Freiheit, d. i. des absoluten Endzwecks ist, daß er um seiner selbst willen ist; man muß ferner wissen, daß allen Wert, den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, er allein durch den Staat hat. [...] Denn das Wahre ist die Einheit des allgemeinen und subjektiven Willens; und das Allgemeine ist im Staate in den Gesetzen, in allgemeinen und vernünftigen Bestimmungen. Der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist. Er ist so der näher bestimmte Gegenstand der Weltgeschichte überhaupt, worin die Freiheit ihre Objektivität erhält und in dem Genusse dieser Objektivität lebt. Denn das Gesetz ist die Objektivität des Geistes und der Wille in seiner Wahrheit; und nur der Wille, der dem Gesetze gehorcht, ist frei, denn er gehorcht sich selbst und ist bei sich selbst und frei. Indem der Staat, das Vaterland, eine Gemeinsamkeit des Daseins ausmacht, indem sich der subjektive Wille des Menschen den Gesetzen unterwirft, verschwindet der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit. Notwendig ist das Vernünftige als das Substantielle, und frei sind wir, indem wir es als Gesetz anerkennen und ihm als der Substanz unseres eigenen Wesens folgen: der objektive und subjektive Wille sind dann ausgesöhnt und ein und dasselbe ungetrübte Ganze. 20 Kaum verwunderlich, dass solche Sätze von Vertretern des aufkeimenden Nationalismus dankbar aufgenommen wurden. Tatsächlich ist der Staat zu einem mächtigen Werkzeug geworden, um die Dinge im Großen zu ändern. Im zeitgleichen Erstarken verschiedener Staaten bedeutete dies allerdings immer auch, dass diese Wirkmächtigkeit der Staatsapparate dafür genutzt wurde, sie gegeneinander einzusetzen, mithin Krieg zu führen. Was umso hitziger geschah, je mehr die Geschichte im Sinne Hegels als eine Geschichte von Völkern und damit letztlich als ein Ringen von Nationen betrachtet wurde. Aber auch wenn der nationale Egoismus von Zeit zu Zeit weniger stark ausgeprägt war, so hatte und hat noch heute der Staat die zentrale Entscheidungsgewalt darüber, den Rahmen für das Zusammenleben zu setzen und den individuellen Beitrag zum Gemeinwesen einzufordern. Es ist ganz so, wie Hegel es gesagt hat: Ohnmächtig stehen die Individuen dem großen Ganzen gegenüber, aber man hat den Eindruck, dass 20 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 56 f. 224 <?page no="224"?> mittlerweile die Staaten dem großen Ganzen ebenso ohnmächtig gegenüber stehen. Immer häufiiger ist von Alternativlosigkeit die Rede, die Handlungsfreiheit scheint dahin. Wo bleibt der allgemeine Weltgeist? Wer vermag die angebliche Vernunft aus dem alltäglichen Geschehen herauszulesen, die dem Verlauf der Weltgeschichte innewohnen soll? Und kommt die Freiheit im Staat wirklich zu ihrem höchsten Recht? Woher meint Hegel all das zu wissen und weshalb sollten wir ihm vertrauen? Darauf antwortet Hegel ganz selbstbewusst mit einem Verweis auf seine überlegene Einsicht in das Ganze: »Was ich vorläufiig gesagt habe und noch sagen werde, ist nicht bloß, auch in Rücksicht unserer Wissenschaft, als Voraussetzung, sondern als Übersicht des Ganzen zu nehmen, als das Resultat, das mir bekannt ist, weil ich bereits das Ganze kenne.« 21 Die moderne Demokratie beruht ebenfalls auf dem Glauben an die überlegene Einsicht weniger. Sie funktioniert wie das napoleonische Volksheer: Man konzentriert alle Macht bei einem Oberkommando, das ein Heer der Namenlosen im Ringen der Völker dirigiert. Der gewöhnliche Bürger darf bestenfalls wählen, wem das Kommando übergeben wird, und sich dann glücklich schätzen, einen kleinen Beitrag zu dessen gewaltigen Vorhaben beigetragen zu haben. Es ist keine Demokratie des Mitbestimmens wichtiger politischer Fragen, sondern eine des Mittragens großer politischer Pläne. Das Volk herrscht hier nicht durch Beteiligung an Entscheidungen, sondern indem es vorgegebenen Zielen zur Durchsetzung verhilft. Die Marschrichtung aber gibt der General vor. Dieser und sein Volk können sich als hegelsche Träger der Weltgeschichte bewähren, indem alle Ressourcen zusammengefasst werden, um so die Durchsetzungsfähigkeit zu maximieren. Das Ansinnen folgt weniger einer demokratischen denn jener militärischen Logik, wie sie das Volksheer des 19. Jahrhunderts lebte. Gelenkt von einer herausragenden Persönlichkeit entfaltete die Volksgemeinschaft seine ganze Schlagkraft - sei es militärisch oder auch nur wirtschaftlich. Dieser Idealisierung der Führungspersonen ebenso wie des volksweiten Kräftebündelns hängen bis heute viele Menschen an. Doch gerade hier gerät die demokratische Idee der Mitbestimmung unter Druck: Personenebenso wie Gemeinschaftskult setzen abweichende Haltungen Einzelner zurück. Um vermeintlich mit ei- 21 Ebd., S. 22. 225 <?page no="225"?> nem großen Mann Großes zu vollbringen opfert man den kleinen Einfluss des kleinen Mannes. Demokratie wird den nationalistischen Konkurrenzkämpfen untergeordnet. Ginge es nicht allein um Durchsetzungsfähigkeit, stünde ohnehin nicht die Bündelung der Kräfte des jeweiligen Volkes im Vordergrund, sondern die Bündelung der Kräfte aller Menschen. Davon aber sind wir bis heute weit entfernt. In Zeiten der Massenvernichtungswafffen und der Automatisierung spiegelt sich in der Demokratie noch immer das militärische Schema des 19. Jahrhunderts wider. 226 <?page no="226"?> 15 Woher meinten Marx und Mill rührt der Zwang? Vordergründig waren die napoleonischen Kriege ein Kampf der mächtigsten Fürsten des Abendlandes. Der Kaiser Frankreichs verlor gegen so illustre Herrscher wie Zar Alexander I. von Russland, Kaiser Franz I. von Österreich, König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, König Karl XIII. von Schweden und Norwegen sowie George III., König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland. Aber hier hatte nicht einfach ein Kaiser gegen den versammelten Hochadel Europas eine Niederlage erlitten, denn Napoléon Bonaparte konnte sich nicht auf eine irgendwie geartete edle Geburt berufen, was ihm tatsächlich Zeit seines Lebens wie ein Makel vorkam. Seine Stellung war ohne die vorangegangene Revolution ebenso wenig denkbar wie ohne die vorangegangene Republik. Er war nicht von Gottes Gnaden, er war von Volkes Gnaden. Darüber war sich Napoléon im Klaren und nannte sich deshalb nicht Kaiser von Frankreich (franz. Empereur de France), sondern Kaiser der Franzosen (Empereur des Français). Als solcher eilte er nicht allein aufgrund seines strategischen Genies von Sieg zu Sieg, sondern dabei half ihm mindestens ebenso das republikanische Volksheer, das mit Eifer gegen die zusammengewürfelten Truppen aus wankelmütigen Söldnern und lustlosen Zwangsrekruten kämpfte - zumindest ehe die Fürsten alten Adels den Patriotismus für sich entdeckten. Obwohl der Korse von seiner Macht berauscht doch noch irgendwann der aristokratischen Denkweise seiner ärgsten Gegner erlag und mit einem schwülstig zelebrierten Kaisertitel Augenhöhe zu erreichen suchte, hatten weder Republik noch Revolution einen anderen Ort in Europa. So verquer es anmutet: Mit dem französischen Kaiser verloren auch die Republikaner den Krieg. Am Ende triumphierte der Adel und mit ihm der Absolutismus, es triumphierte die Restauration. Genau genommen standen sich mit Großbritannien einerseits und Kontinentaleuropa andererseits zwei sehr unterschiedliche Gewinner gegenüber. Gab es dort seit der Glorious Revolution längst ein starkes 227 <?page no="227"?> Parlament, wo ein kapitalkräftiges Bürgertum über großen Einfluss verfügte, so erstrahlten auf dem Kontinent nach der Auflösung kleinerer Herrschaftsgebiete im Reichsdeputationshauptschluss und dem Fall Napoléons die Fürsten großer Territorialstaaten mächtiger denn je. Allem in Zeiten der Not vorgeschützten Patriotismus zum Trotz hatten die Kaiser und Könige Mitteleuropas, als der Sieg schließlich feststand, dem Bürgertum und dem Volk doch kein Mitspracherecht eingeräumt. Das alte Europa war aus seinen Ruinen auferstanden und die Rückwärtsgewandten feierten sein Überleben. In England hingegen siegte mit dem starken Parlament zugleich ein starkes Bürgertum, dessen Augenmerk vor allem auf den Bereichen Wirtschaft und Handel lag. Sehr entgegen kam dieser Interessenlage, dass mit der Niederlage Frankreichs zugleich Großbritanniens Vorherrschaft auf den Weltmeeren besiegelt war. Der Seehandel lag klar in britischer Hand. Im Zuge dieses Triumphs fand der wachsende Einfluss des Bürgertums Ausdruck in einer Theorie, die die Freiheit in ihrem Namen führt: Liberalismus. Obwohl die Bezeichnung an den ersten Teil des Wahlspruchs der Französischen Revolution erinnert: Liberté, Égalité, Fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), hatten die Engländer damit selbstverständlich nicht einfach jenes revolutionäre Gedankengut aufgegrifffen, das sie zuvor über Jahrzehnte hinweg bekämpft hatten. Nicht der Freiheit und Gleichheit der Bürger galt ihr Hauptaugenmerk, sondern dem Freihandel, der Freiheit des Kapitals. Unternehmer hatten bei der Kleiderherstellung erstmals industrielle Verarbeitungsschritte eingeführt. Wurde Garn zuvor in Heimarbeit von Hand gesponnen, entstanden neuerdings zunächst mit Wasserkraft, dann mit Dampf angetriebene Maschinen, wodurch Kleidung erheblich billiger hergestellt werden konnte. Dank seiner neuartigen Spinn-Apparate wurde England zur führenden Nation im Unternehmertum und in der industriellen Fertigung. Diese Industrialisierung bedeutete einen weiteren Schritt im Wandel des Sozialgefüges. Aus Amerika hatten die Europäer zuvor neben vielem anderen zwei folgenreiche Dinge mitgebracht: große Mengen an Silber und die Kartofffelpflanze. Mit zunehmender Verbreitung der Kartofffel erhöhten sich die landwirtschaftlichen Erträge, was sich nochmals durch einen verbesserten Fruchtwechsel im Anbau verstärkte, wodurch im 18. Jahrhundert die noch aus dem Mittelalter überkommene Dreifel- 228 <?page no="228"?> derwirtschaft abgelöst wurde, bei der jedes dritte Feld brach liegen geblieben war. Das Land konnte nun mehr Menschen ernähren und entsprechend nahm die Bevölkerung zu - nicht aber der bestellbare Boden. In der Folge stieg die Zahl der Landlosen. Diese mussten sich als Tagelöhner durchschlagen: mal Sackträger, mal Straßenbauer, Bergarbeiter oder Holzfäller. Zum Überleben genügte das in der Regel nicht und so war die Heimarbeit mit Textilien lebenswichtig. Zuhause wurden in Handarbeit Garne gesponnen, Stofffe gewebt und Kleider genäht. Für Transport und Verkauf in ferne Städte und Länder fehlten jedoch die Mittel. Das übernahm ein Verleger, der damit gutes Geld machte, weil nur er den Wert der Ware in der Ferne kannte und in seinem Landstrich oft der einzige Abnehmer war. Wer seine handgefertigte Kleidung verkaufen wollte, musste seine Preise akzeptieren. Durch das Bevölkerungswachstum ebenso wie durch die Kolonien in Übersee war die Nachfrage stetig angestiegen, und mit dem amerikanischen Silber waren genügend Zahlungsmittel in Umlauf. Das Geschäft lief gut. In England war der Boden für eine neue Entwicklungsstufe bereitet: Die übermächtige englische Flotte bot die besten Voraussetzungen für den Fernhandel, die steigende Anzahl Landloser sorgte für genügend von der Not getriebene Arbeitskräfte und die liberale Regierung verschafffte den Unternehmern ausreichend Freiräume. Vor allem aber nahmen die Absätze einen Umfang an, der die Anschafffung teurer Maschinen lohnenswert erscheinen ließ. Mit den neuartigen Dampfmaschinen war man nicht mehr auf die Kraft der Flüsse angewiesen und mit Erfiindung mechanischer Webstühle brauchte man weniger Arbeitskräfte, deren Zahl vor Ort trotz des Bevölkerungswachstums nicht unbegrenzt war. Die Abhängigkeit von den örtlichen Gegebenheiten ging zurück, zugleich konnte man die Produktionsmenge fast beliebig erhöhen. Die 1779 erfundene Spinning Mule trug bereits 1000 Spindeln gleichzeitig. Der hohe Produktionsausstoß glich die teure Anschafffung mehr als aus, sodass die Ware billiger hergestellt werden konnte. Kleidung aus industrieller Fertigung gelangte zu Preisen auf die Märkte, mit denen Handarbeit nicht mithalten konnte. So verdrängte die Textilindustrie nach und nach das Verlagswesen und viele Menschen mussten ihren heimischen Webstuhl und oft auch ihren Wohnort verlassen, um bei den großen Industriebetrieben in den Städten nach Arbeit zu suchen. 229 <?page no="229"?> Diese industrielle Revolution verbilligte die Waren, aber sie veränderte auch grundlegend die Arbeitsbedingungen und das Sozialgefüge. Maschinen ersetzten Arbeiter, sodass aus Landlosen nun Arbeitslose geworden waren. Schon bald erlebten auch andere Industrien einen Aufschwung, allen voran etwa die Stahlerzeugung angetrieben durch den Ausbau der Eisenbahn. Diese war es auch, die nicht zuletzt die ganze Entwicklung zusätzlich beschleunigte. Denn aus mehr Mobilität folgt mehr Handel folgt mehr Nachfrage folgt mehr Produktion folgt mehr Arbeitskraftbedarf folgt mehr Investition folgt mehr Maschineneinsatz - woraus wiederum weniger Arbeitskraftbedarf folgt. Am Ende bleiben stets einige Arbeitslose auf der Strecke - mal mehr, mal weniger. Wobei die Auswirkungen freilich nicht länderspezifiisch betrachtet werden dürfen, sondern weltweit. Denn wenn die englische Industrie zusammen mit der englischen Handelsschifffffahrt die Märkte aller Länder mit billiger Kleidung überschwemmt, können dadurch nicht nur englische, sondern auch französische, deutsche, amerikanische oder chinesische Weber ihr Auskommen verlieren. In Mitteleuropa wurde ein völlig anderer Weg eingeschlagen. Während der napoleonischen Herrschaft brach sich allen voran bei den Intellektuellen eine zuvor unbekannte nationale Denkweise Bahn. Johann Gottlieb Fichte, ein Verehrer Immanuel Kants und selbst Sohn eines Webers, hatte es zu einer Professur in Jena gebracht, wurde aber wegen Gottlosigkeit von Sachsens Herzog Carl August zum Rücktritt gezwungen. Nach dem triumphalen Sieg der napoleonischen Truppen über Preußen wandte sich Fichte, der sich dorthin zurückgezogen hatte, im Jahr 1808 in seinen Reden an die deutsche Nation an eine bislang noch nicht als ansprechbare Einheit angesehene Menschengruppe: »Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus bei Seite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben.« 1 Wer aber waren diese Deutschen? Ein Deutschland gab es nicht. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war soeben untergegangen. Napoléon hatte Preußen besiegt und ein Mitteleuropa unter seine Kontrolle gebracht, das sich aus den Profiiteuren des Reichs- 1 1. Rede in Fichte, Reden an die deutsche Nation. 230 <?page no="230"?> deputationshauptschlusses zusammensetzte und ihm großenteils als Rheinbund in Dankbarkeit sowie Ehrfurcht ergeben war. Da waren ein Kaisertum Österreich oder Königreiche wie Preußen, Bayern und Württemberg oder Großherzogtümer wie Baden, Hessen und Würzburg oder Herzogtümer wie Nassau und Oldenburg, aber kein Deutschland, nirgends. In seinem antifranzösischen Groll machte Fichte kurzerhand all diejenigen zu Deutschen, die Deutsch in allen Dialekten sprachen, unabhängig davon ob sie sich auch verständigen konnten. Fichtes Heimat Sachsen hatte in den Jahren zuvor an Territorium gewonnen, war zugleich jedoch als Mitglied des Rheinbundes zur Bedeutungslosigkeit abgesunken. Jener sächsische Fürst, der ihn seiner Professur beraubt hatte, schätzte sich glücklich, Napoléons verlängerter Arm sein zu dürfen, weil er so seiner Absetzung entgangen war. Herzog Carl August war somit nichts weiter als ein allzu dienstbeflissener Untertan des französischen Kaisers und die Franzosen standen in den niedergeworfenen Ländern folglich höher in der Gunst als die Einheimischen, mochten diese auch noch so hohes Ansehen in ihrer deutschsprachigen Heimat genießen. Und angesehen war Fichte als einer der bekanntesten Autoren seiner Zeit zweifellos. Aus einfachen Verhältnissen stammend hatte sich der Philosoph mühsam in einer aristokratischen Gesellschaft emporgearbeitet, nur um sich nun jedem Franzosen gegenüber als Untergebener fühlen zu müssen. War er tatsächlich plötzlich nichts mehr Wert? Immerhin galt sein Wort im deutschen Sprachraum noch immer etwas. Doch was galt ein deutsches Wort unter französischer Herrschaft? Sie war es, die Stand und Ansehen von Leuten wie Fichte bedrohte. Sie war es, die die Zukunftsaussichten der bessergestellten Deutschen infrage stellte. Sie war es also, die gebrochen werden musste, wollte man seinen Einfluss und sein Ansehen sichern. Doch woran konnte der Widerstand geknüpft werden? Den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gab es nicht mehr. Der sächsische Herzog war eher ein Überläufer, denn ein Sachwalter seines Volkes. Blieb das Deutsche als sprachlicher Gegensatz zur Sprache des Feindes, dem Französischen. Eine Gemeinsamkeit, die Millionen Menschen von der Nordsee bis zum Neusiedler See und vom Rhein bis zur Memel teilten. Diese eher zufällige Gemeinsamkeit genügte Fichte aber nicht, sondern er leitete aus der Sprache zudem eine kulturelle 231 <?page no="231"?> Überlegenheit ab. Das Deutsche sei eine lebendige Sprache, während das Französische aufgrund seiner Herkunft vom Lateinischen eine »in der Wurzel aber todte Sprache« 2 sei. Entsprechend müsse die deutsche Nation als ursprünglich gelten und zeichne sich dadurch aus, das Neue schöpferisch hervorzubringen. Alle, die entweder selbst schöpferisch und hervorbringend das Neue leben, oder die, falls ihnen dies nicht zu Theil geworden wäre, das Nichtige wenigstens entschieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo der Fluß ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens ahnen, und sie nicht hassen, oder vor ihr erschrecken, sondern sie lieben; alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche. Alle, die sich darein ergeben, ein Zweites zu sein und Abgestammtes, und die deutlich sich also kennen und begreifen, sind es in der That, und werden es immer mehr durch diesen ihren Glauben, sie sind ein Anhang zum Leben, das vor ihnen oder neben ihnen aus eigenem Triebe sich regte, ein vom Felsen zurücktönender Nachhall einer schon verstummten Stimme, sie sind als Volk betrachtet außerhalb des Urvolks und für dasselbe Fremde und Ausländer. In der Nation, die bis auf diesen Tag sich das Volk schlechtweg oder Deutsche nennt, ist in der neuen Zeit wenigstens bis jetzt Ursprüngliches an den Tag hervorgebrochen, und Schöpferkraft des Neuen hat sich gezeigt 3 In völliger Missachtung der republikanischen Revolution in Frankreich, der industriellen Revolution in England oder grandioser Kunstschafffender in Italien sah Fichte in den Deutschen die eigentlichen Innovatoren. Viele deutschsprachige Mitteleuropäer folgten solch selbsterhebenden Worten nur allzu bereitwillig und alle anderen konnten den deutschen Text ohnehin nicht lesen. Der Enthusiasmus steigerte sich. Schon ein Jahr später sollen dem bis heute vielbeachteten Dramatiker Heinrich von Kleist zufolge lieber alle für Kaiser Franz von Österreich sterben, denn unter Napoléon leben. Das zumindest lässt 2 5. Rede in Fichte, Reden an die deutsche Nation. 3 7. Rede; ebd. 232 <?page no="232"?> er im Katechismus der Deutschen einen Sohn auf die Fragen seines Vaters antworten: Frage. Wer sind deine Feinde, mein Sohn? Antwort. Napoleon, und solange er ihr Kaiser ist, die Franzosen. Frage. Ist sonst niemand, den du hassest? Antwort. Niemand, auf der ganzen Welt. [...] Frage. Mithin - was ist die Pflicht jedes einzelnen? Antwort. Unmittelbar, auf das Gebot des Kaisers, zu den Waffen zu greifen, den anderen, wie die hochherzigen Tiroler, ein Beispiel zu geben, und die Franzosen, wo sie angetroffen werden mögen, zu erschlagen. [...] Frage. Also auch, wenn alles unterginge, und kein Mensch, Weiber und Kinder mit eingerechnet, am Leben bliebe, würdest du den Kampf noch billigen? Antwort. Allerdings, mein Vater. Frage. Warum? Antwort. Weil es Gott lieb ist, wenn Menschen, ihrer Freiheit wegen, sterben. Frage. Was aber ist ihm ein Greuel? Antwort. Wenn Sklaven leben. 4 Kleist stammte aus verarmtem, altem, preußischem Adel, trat mit 15 Jahren in die Armee ein und war schon bald an den erfolglosen Kämpfen gegen Napoléon beteiligt. Trotz dieser soeben zitierten martialischen Worte quittierte Kleist voller Verachtung für das Militär 1799 den Dienst. Danach brach er ein Studium ab, besuchte das aus seiner Sicht sittenlose Paris, versuchte sich erfolglos als Landwirt, schmiss nach kurzer Zeit eine Anstellung im preußischen Staatsdienst hin und wurde schließlich von den Franzosen wegen des Verdachts der Spionage inhaftiert. Das alles durchlebte er in nur acht Jahren, um anschließend mehr schlecht als recht seinen Lebensunterhalt mit Schriftstellerei zu bestreiten. Fortwährend in Geldnöten nahm er sich im 4 Kleist, Katechismus der Deutschen. 233 <?page no="233"?> Alter von 34 Jahren das Leben, ohne zu ahnen, dass sein dramatisches Werk Berühmtheit erlangen würde. Ein entlassener Philosophie-Professor und ein verarmter Adliger setzten ihre ganze Hofffnung in die deutsche Nation und waren damit nicht allein. Weniger im Volk, sondern vor allem unter den Bessergestellten zog die französische Vorherrschaft viel Hass auf sich, bedrohte sie doch ihren Status. Von den Fürsten war keine Befreiung zu erwarten, da sie sich großenteils Napoléon gegenüber hörig zeigten. Blieb noch die Nation, auf die man sich berufen konnte, obwohl gar nicht klar war, was diese im sprachlich und politisch zerstückelten Mitteleuropa eigentlich umfassen könnte. Völlig anders wurde die Herrschaft der Franzosen von anderen Bevölkerungsgruppen erlebt. Sie sahen nicht Ehre und Privilegien bedroht, sondern profiitierten von der Gleichberechtigung durch den Code civil. Das betraf etwa die Juden, denen damit plötzlich die gleichen beruflichen Wege offfenstanden wie den Christen. Die jahrhundertelange Diskriminierung schien vorüber. Ein Jude, der die neuen Möglichkeiten nutzte, war Heinrich Marx. Aus einer Rabbinerfamilie stammend, hatte er 1814 im linksrheinischen Trier und damit zu jener Zeit auf französischem Staatsgebiet eine Tätigkeit als Anwalt aufgenommen. Doch schon im Jahr darauf geriet die Stadt nach der Niederlage Napoléons unter preußische Herrschaft und dem Juden wurde die Fortsetzung seiner Berufsausübung nur zugestanden, wenn er sich zum christlichen Glauben bekennen würde. Kurz nachdem er von der neuen religiösen Gleichberechtigung, bewirkt durch die französischen Gesetze, gekostet hatte, bekam er wieder die rückständige Intoleranz Preußens zu spüren. Noch ehe der Übertritt zum evangelischen Glauben vollzogen war, erblickte sein Sohn Karl am 5. Mai 1818 das Licht der Welt. Nachdem er in Trier aufgewachsen war und sein Gymnasium abgeschlossen hatte, begann er wie sein Vater ein Studium der Rechtswissenschaften in Bonn, wechselte aber wenig später nach Berlin, wo Hegel vier Jahre zuvor gestorben war. Dort wendete sich Karl Marx der Philosophie zu und schloss sich den so genannten Linkshegelianern an, die von Hegel zwar die Dialektik, aber nicht dessen konservative Haltung übernommen hatten. In der Hofffnung auf eine Professur ging der frisch zum Doktor promovierte Philosoph zurück nach Bonn. Einem Linkshegelianer jüdischer Herkunft verweigerte die preußische Regierung 234 <?page no="234"?> allerdings eine solche Stelle, weshalb Marx im Herbst 1842 die Redaktion der demokratisch gesinnten Rheinischen Zeitung übernahm. Nicht zuletzt aufgrund seiner regierungskritischen Artikel wurde die Zeitung schon im April des Folgejahres verboten. In dieser unsicheren Situation ohne regelmäßiges Einkommen heiratete er seine Jugendliebe Jenny von Westphalen und zusammen gingen sie nach Paris. Dort beteiligte sich der Frischvermählte mit zwei Beiträgen an der 1844 einzig erscheinenden Ausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher. Beide Texte blieben zunächst ohne Wirkung, skizzieren aber bereits Leitideen, mit denen Marx später die Arbeiterbewegung beleben wird. Der Aufsatz Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie fasst die Situation in Deutschland in einem Satz zusammen: »Wir haben die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen.« 5 In diesem traurigen Schauspiel gesellschaftlicher Regression fällt der Religion, da sind sich die Linkshegelianer einig, eine bedeutende Rolle zu: Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. 6 Ohne Zweifel war in Marx’ Elternhaus die evangelische Religion eine Illusion. Schließlich musste der jüdische Glaube dort nur zurücktreten, weil der Vater sonst seine Anstellung verloren hätte. Angesichts dieser erzwungenen Scheinheiligkeit, nahm sich Religion für Marx unweigerlich wie ein Herrschaftsinstrument aus. War nicht auch die Berufung der Fürsten auf Gottes Gnaden längst offfensichtliche Illusion? Hatten diese nicht selbst im Reichsdeputationshauptschluss reihenweise kleinere Fürsten ihrer Herrschaftsrechte beraubt, ohne sich um deren gleichermaßen göttliche Gnade im Geringsten zu scheren? Die Philosophie aber, so Marx, dürfe nicht bei der Analyse stehen 5 Marx und Engels, Werke. Band 1, S. 379. 6 Ebd., S. 378. 235 <?page no="235"?> bleiben. Hegel ebenso wie Linkshegelianer haben alle in sehr abstrakter Weise über die Wirklichkeit nachgedacht, ohne dass daraus etwas für die Praxis gefolgt wäre. Angesichts dessen formulierte Marx etwa zur selben Zeit die bekannte elfte These über Feuerbach: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« 7 Marx hat tatsächlich geglaubt, dass die Philosophie von den Arbeitern in einer Form aufgegrifffen werden könnte, die ihnen die Selbstbefreiung ermöglichen würde. Die Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, wie Kant sie durch Aufklärung erhoffft hatte, zielte vor allem auf Entzauberung der Lebensumstände. Die Unmündigkeit der Arbeiter aber war nicht einfach selbstverschuldet, sondern das Ergebnis von Unterdrückung und Benachteiligung, die es aufzuheben galt. Dabei bräuchten Philosophie und Arbeiter sich gegenseitig, glaubt Marx. »Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so fiindet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Wafffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen.« 8 Genau auf dieses Ziel arbeitete Marx hin, zuvor musste er aber noch ein Wortgefecht mit einem anderen Linkshegelianer austragen. Bruno Bauer hatte behauptet, dass die Juden - und zwar nur die Juden - ihre Religion aufgeben müssten, wenn sie im christlichen Staat emanzipiert leben wollten, weil ansonsten ihre religiösen Gesetze zu den staatlichen im Widerspruch stünden. Darauf antwortet Marx im zweiten Aufsatz Zur Judenfrage dahingehend, dass Emanzipation viel weiter gehen müsse, der Staat müsse sich von jeder Religion auch von der christlichen emanzipieren. Aber selbst wenn sich der Staat von der Religion losgesagt hat, haben sich deshalb noch nicht die Menschen davon befreit. Die politische Emanzipation des Juden, des Christen, überhaupt des religiösen Menschen, ist die Emanzipation des Staats vom Judentum, vom Christentum, überhaupt von der Religion. In seiner Form, in der seinem Wesen eigentümlichen Weise, als Staat emanzipiert sich der Staat von der Religion, indem er sich von der Staatsreligion emanzipiert, d. h., indem der 7 Marx und Engels, Werke. Band 3, S. 7. 8 Marx und Engels, Werke. Band 1, S. 391. 236 <?page no="236"?> Staat als Staat keine Religion bekennt, indem der Staat sich vielmehr als Staat bekennt. Die politische Emanzipation von der Religion ist nicht die durchgeführte, die widerspruchslose Emanzipation von der Religion, weil die politische Emanzipation nicht die durchgeführte, die widerspruchslose Weise der menschlichen Emanzipation ist. Die Grenze der politischen Emanzipation erscheint sogleich darin, daß der Staat sich von einer Schranke befreien kann, ohne daß der Mensch wirklich von ihr frei wäre, daß der Staat ein Freistaat sein kann, ohne daß der Mensch ein freier Mensch wäre. 9 Selbst wenn der Staat sich von einer religiösen Festlegung lossagt, wird Religion dadurch noch nicht unbedeutend, solange die Menschen sich nicht davon lossagen. Nur weil sich der Staat zurückzieht, bedeutet das nicht zwangsläufiig, dass die Bürger weniger einschränkenden Kräften ausgesetzt sind. Gerade Religionsgemeinschaften üben auch ohne staatliche Unterstützung unter Umständen gewaltigen Druck auf die Menschen aus. Unterschiede der Religion, aber auch des Standes, der Kultur, der Bildung und des Vermögens verschwinden nicht einfach, wenn sich die Obrigkeit darum nicht mehr kümmert. Der zurückhaltende Staat, wie ihn sich die Liberalen vorstellen, bringt deshalb keine Befreiung mit sich, sondern lediglich eine Entpolitisierung gesellschaftlicher Ungleichheiten. Der Staat hebt den Unterschied der Geburt, des Standes, der Bildung, der Beschäftigung in seiner Weise auf, wenn er Geburt, Stand, Bildung, Beschäftigung für unpolitische Unterschiede erklärt, wenn er ohne Rücksicht auf diese Unterschiede jedes Glied des Volkes zum gleichmäßigen Teilnehmer der Volkssouveränität ausruft, wenn er alle Elemente des wirklichen Volkslebens von dem Staatsgesichtspunkt aus behandelt. Nichtsdestoweniger läßt der Staat das Privateigentum, die Bildung, die Beschäftigung auf ihre Weise, d. h. als Privateigentum, als Bildung, als Beschäftigung wirken und ihr besonderes Wesen geltend machen. 10 Wenn die Politik sich nicht einmischt, können die Reichen ihre ökonomische Überlegenheit ausspielen, die Angehörigen einer Mehr- 9 Ebd., S. 353. 10 Ebd., S. 354. 237 <?page no="237"?> heitsreligion Andersdenkende ausgrenzen, die Gebildeten den Ahnungslosen gegenüber ihre Kenntnisse ausnutzen oder die Adligen durch Heiratsregeln ihre Privilegien sichern. Wenn man Staatliches und Gesellschaftliches voneinander trennt, dann werden die Menschen laut Marx in ein Doppelleben gezwungen. Als Mitglieder des Staates sind sie einerseits Teil eines großen Gemeinsamen, als Mitglieder der Gesellschaft dagegen suchen sie gegenüber ihren Mitbürgern den individuellen Vorteil. Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist, die anderen Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird. 11 Genau diese Sonderung der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft ist jene Freiheit, die den Liberalen vorschwebt. Sie wollen, dass jeder für sich nach seinem Erfolg streben können soll, was für Marx jedoch zugleich bedeutet, dass man nicht gemeinsam nach Erfolg strebt. Er vermutet, dass die schizophrene Anordnung von politischem Gemeinwesen einerseits und Gesellschaft der egoistischen Individuen andererseits letztlich nur zur Sicherung des Eigentums dient. Vollmundig soll der liberale Staat mit all seinen Mitgliedern den Besitz eines jeden garantieren. Was sich nach einem Versprechen für alle anhört, schließt zumal im 19. Jahrhundert jene großen Volksmassen aus, die schlicht nichts besitzen. Indem der Staat sich aus der Eigentumsverteilung heraushält, aber die bestehenden Verhältnisse verteidigt, verteidigt er die Besitzenden gegen die Besitzlosen und eine vormals unerhörte Aneignung gegen ihre Revision. Aber das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschränkten, 11 Marx und Engels, Werke. Band 1, S. 354 f. 238 <?page no="238"?> auf sich beschränkten Individuums. Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechts der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums. 12 Für Menschen wie Marx waren die Zustände unerträglich. Sie hatten von Gleichheit vor dem Gesetz, Redefreiheit und Demokratie gehört, erfuhren aber das Wiedererstarken der Aristokratie, der Zensur und des Absolutismus. Insbesondere der preußische Hochadel hatte einen gewaltigen Machtgewinn zu verzeichnen. Anders als während des Kriegs versprochen, schuf König Friedrich Wilhelm III. weder eine Verfassung noch ein Parlament. In den meisten anderen Ländern des Deutschen Bundes, in dem die Staaten auf dem ehemaligen Territorium des Heiligen Römischen Reiches sich lose zusammenschlossen, sah es nicht viel besser aus. Die Fürsten übten ihre Herrschaft weiterhin in feudaler Manier aus, betrieben aber zugleich eine Modernisierung von Verwaltung und Wirtschaft. Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und Industrialisierung berührten die Lebensumstände von immer mehr Untertanen. Mit ihrer Arbeitskraft vermehrten sie die Steuereinnahmen des Staates, blieben jedoch von jeder Mitbestimmung ausgeschlossen. Über die Verwendung der gesammelten Finanzkraft entschied allein der Monarch. Wegen kritischer Beiträge in einer Zeitschrift für deutsche Emigranten erwirkte die preußische Regierung beim französischen König die Ausweisung von Marx, der daraufhin nach Brüssel ging. Dort gab er seine preußische Staatsangehörigkeit auf und war fortan staatenlos, um nicht sogleich aus Belgien ebenfalls ausgewiesen zu werden. Noch in Paris war der Philosoph mit den dort stark vertretenen Sozialisten in Kontakt gekommen. Diese Gruppierung war ursprünglich während der Französischen Revolution entstanden, weil sie sich nicht mit der Aufhebung der Standesunterschiede begnügen wollte, sondern auch die Aufhebung der Eigentumsunterschiede forderte. Davon beeinflusst, formierten deutsche Emigranten einen Bund der Kommunisten und beauftragten Marx sowie dessen Gesinnungsgenossen Friedrich Engels damit, ein Programm zu erstellen. Dieses erschien am 21. Februar 1848 als Manifest der Kommunistischen Partei, worin Hegels dialektische Betrachtungsweise auf die historische Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse Anwendung fiindet. 12 Ebd., S. 364. 239 <?page no="239"?> Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen. [...] Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat. 13 Engels kannte die Lebensumstände der Arbeiter aus eigener Anschauung, denn sein Vater hatte in der Nähe des preußischen Köln und im englischen Manchester Baumwollspinnereien aufgebaut. Die dortigen Zustände, insbesondere die Kinderarbeit, die häufiigen Berufskrankheiten und die schlechten Wohnverhältnisse, schockierten den Sohn. In seiner 1845 veröfffentlichten Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England beschreibt Engels die erbärmliche Lebenssituation der Armen und lässt dabei viele andere zu Wort kommen, darunter die Aussage eines Pfarrers aus Edinburgh vor einem religiösen Ausschuss: Die Leute seien ohne Möbel, ohne alles; häufig wohnten zwei Ehepaare in einem Zimmer. [...] In einem Kellerraum habe er zwei schottische Familien vom Lande gefunden [...] für jede Familie habe ein schmutziger Strohhaufen in einem Winkel gelegen, und obendrein habe der Keller, der so dunkel gewesen sei, daß man bei Tage keinen Menschen darin habe erkennen können, noch einen Esel beherbergt. 14 In vielen Armenvierteln lebten Familien äußerst beengt, schliefen auf dem Fußboden und hatten keine Toilette zur Verfügung. Entsetzlicher Hunger, Gestank und Ungeziefer waren allgegenwärtig. 50 000 Londoner, jeder Dreißigste, hatten keine Unterkunft. Seiner Herkunft nach selbst bürgerlich, also Bourgeois, wurde Engels Kommunist, wohl wissend, dass der Siegeszug des bürgerlichen Kapitalismus 13 Marx und Engels, Werke. Band 4, S. 462. 14 Marx und Engels, Werke. Band 2, S. 266 f. 240 <?page no="240"?> gegenüber dem aristokratischen Feudalismus aufgrund der Überlegenheit der industriellen Produktionsweise unabänderlich war. Trotz ihrer monarchistischen Oberfläche betrachteten Marx und Engels die modernen Staaten längst als dem Kapital hörig: Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet. Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹. 15 Die Restauration nach den napoleonischen Kriegen bezog sich nur auf die politischen Verhältnisse. Sie brachte den Adel zurück an die Macht. Dessen ungeachtet wurde in den meisten deutschen Staaten wirtschaftlich ein Modernisierungskurs eingeschlagen. Die mit der Gewerbefreiheit freigestellte Berufswahl hob den Zunftzwang auf, der bisher die Zahl derjenigen beschränkt hatte, die zur Ausübung eines Handwerks berechtigt waren und sich somit gegenseitig Konkurrenz machen konnten. Zusätzlich angefeuert durch den Bevölkerungszuwachs erfuhren die Handwerksberufe entsprechend großen Zulauf. Infolgedessen konnte die Mehrheit der Handwerksbetriebe in der Stadt seine Inhaber kaum ernähren und die überzähligen Gesellen hoffften verzweifelt auf Anstellung in den nach und nach errichteten Fabriken. Zugleich entzog die sogenannte Bauernbefreiung den Adligen einen Teil des Grundbesitzes. Gegen langwierige Entschädigungszahlungen konnten die Bauern den von ihnen bewirtschafteten Boden als Eigentum erwerben, das damit auch frei verkäuflich wurde. Wenn wirtschaftliche Schwierigkeiten dann tatsächlich zum Verkauf zwangen, landete das Land freilich bei denjenigen, die es sich leisten konnten, und das waren allzu oft wieder Adlige und reiche Unternehmer. Zugleich war es durch Wegfall der Schollenbindung möglich, die Heimat zu verlassen, sodass die Zahl derjenigen stieg, die kein oder 15 Marx und Engels, Werke. Band 4, S. 464. 241 <?page no="241"?> nur wenig Land besaßen und nach dem Niedergang des Verlagswesens auf der Suche nach Arbeit umherstreiften. Die Zustände waren derart jämmerlich, dass sogar preußische Ökonomen in den 1840er-Jahren mehr als der Hälfte der Bevölkerung eine »überwiegend dürftige und haltlose Existenz« 16 bescheinigten. Die Mehrheit der Menschen lebte von der Hand in den Mund und fristete nur mit äußerster Mühe ihr trauriges Dasein. Der Rede von der Restauration zum Trotz war die Ständegesellschaft in Auflösung begrifffen und die ganze Gesellschaft von einem grundlegenden Wandel erfasst. Selbst die staatliche Verwaltung war längst an ein professionelles Beamtentum übergegangen. Allein die politische Macht und die militärische Führung lag noch immer in Fürstenhand. Die Restauration blieb oberflächlich, darunter aber, so wirkte es auf Marx und Engels, gab das Bürgertum längst den Ton an. Unwiderstehlich habe der Kapitalismus den ganzen Globus erfasst, denn den niedrigen Preisen der kapitalistischen Produktionsweise halte nichts und niemand stand. Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem Bilde. 17 Verlierer dieser kapitalistischen Erfolgsgeschichte sind die Arbeiter, die unter erbärmlichen Bedingungen in den Fabriken schuften müssen. Deren Ausbeutung wollen Marx und Engels beenden, was ihnen nur durch Überwindung der bürgerlichen Gesellschaftsform möglich erschien. Das Privateigentum, dessen Garantie sich die Besitzenden in den Jahrhunderten zuvor erst gegen die Verfügungsgewalt der Fürsten mühsam erstritten hatten, sollte aufgehoben werden. 16 nach Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band, S. 168. 17 Marx und Engels, Werke. Band 4, S. 466. 242 <?page no="242"?> Was den Kommunismus auszeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums. Aber das moderne bürgerliche Privateigentum ist der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, die auf der Ausbeutung der einen durch die anderen beruht. In diesem Sinn können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen. 18 Die Grundlage jeder industriellen Produktion und damit auch jeder Ausbeutung der Proletarier in den Fabriken liegt für Marx und Engels in den großen Unterschieden bei den Besitzverhältnissen begründet. Erst die Bündelung des Kapitals in den Händen weniger ermöglicht die Produktionsweise und die Herrschaft des Bürgertums, wogegen die Arbeitermassen zerstreut und ohnmächtig sind. Das wollen die Kommunisten ändern: Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht und weil es diese Umwälzung unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisationen überhaupt, und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im siebenzehnten und Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann. [...] Die Kommunisten arbeiten endlich überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch! 19 Tatsächlich kam es schon am Tag nach der Veröfffentlichung des Manifests zu einer Revolution. Entgegen Marx’ und Engels’ Prophezeiung ging sie jedoch erneut von Frankreich aus. Am 22. Februar 1848 ließ der französische König Louis-Philippe in Paris ein Bankett verbieten, bei dem wohlhabende Bürger über eine Reform des Wahlrechts 18 Ebd., S. 475. 19 Ebd., S. 493. 243 <?page no="243"?> diskutieren wollten. Das genügte, dass sich die angestaute Unzufriedenheit stürmisch Bahn brach. Der verhasste Außenminister wurde auf dem Heimweg von seinem Büro bedrängt, worauf die Nationalgarde das Feuer auf die Demonstranten eröfffnete und 16 Menschen starben. Heftige Tumulte waren die Folge, sodass am 24. Februar Louis-Philippe fliehen musste und zum zweiten Mal in Frankreich die Republik ausgerufen wurde. Nach Eintrefffen dieser Nachrichten wurde im badischen Mannheim eine Volksversammlung einberufen, auf der Forderungen nach Pressefreiheit, Parlamentarismus, Volksbewafffnung und Gleichheit vor dem Gericht erhoben wurden. Großherzog Leopold von Baden zeigte sich den Forderungen gegenüber offfen und setzte eine liberale, reformbereite Regierungsmannschaft ein. Überall in Deutschland kam es in den folgenden Tagen zu Aufständen, die jeweils ähnliche Reaktionen hervorriefen: Die meisten Fürsten zeigten Entgegenkommen. Die Zugeständnisse insbesondere gegenüber den Bauern dämmten bei der Landbevölkerung bald schon das anfangs heftige Aufbegehren ein. Wirkung zeigte vor allem die Vollendung der Bauernbefreiung, indem die noch ausstehenden Entschädigungszahlungen an den Adel erlassen wurden. Viele Bauern waren mit ihrer neuen Position nicht unzufrieden, was sie als revolutionäre Kräfte ausfallen ließ. Als am 13. März auch Kaiser Ferdinand von Österreich Reformverlangen überbracht werden sollten, antwortete die Regierung mit Schüssen, was sogleich heftige Aufstände auslöste, die der Kaiser mit Reformversprechen wieder beruhigen konnte. Für den Vielvölkerstaat Österreich, der vom heute italienischen Mailand bis ins heute ukrainische Lemberg und rumänische Weissenburg reichte sowie die heutigen Staaten Kroatien, Slowenien, Ungarn, Tschechien, Slowakei und natürlich Österreich vollständig umfasste, bargen jedoch nicht nur liberale Forderungen eine Gefahr, sondern ebenso nationale. Schon in den folgenden Tagen erklärten in Norditalien Venedig und die Lombardei ihre Unabhängigkeit von Österreich, in Ungarn setzten 20 000 Demonstranten Reformen und eine eigene Regierung durch. Während erste Zugeständnisse in Wien den Umsturz verhinderten, war dem allerorten aufkeimenden Nationalismus nicht so leicht beizukommen. Vorerst musste man die Separatisten gewähren lassen, denn allen gleichzeitig konnte man sich nicht entgegenstellen. Nach diesen Ereignissen im Nachbarland trug am 18. März Kö- 244 <?page no="244"?> nig Friedrich Wilhelm IV. von Preußen seine Reformbereitschaft demonstrativ vor versammelter Menge vor, deren anfängliche Hochstimmung allerdings in Unruhe umschlug, sobald eine Soldatenansammlung sichtbar wurde. Auf die Sprechchöre »Militär zurück! « antwortete der König mit der Räumung des Platzes, was die Spannungen nur verschärfte. Als dann Schüsse fiielen, kam es in den Berliner Straßen zu Barrikadenkämpfen, die Hunderten das Leben kosteten. Insbesondere Gesellen und Arbeiter beteiligten sich am Straßenkampf. Beide Bevölkerungsgruppen waren nicht nur am stärksten von den Folgen der Industrialisierung betrofffen, sondern hatten auch besonders an den Folgen der schlechten Ernten der Jahre 1845 und 1846 zu leiden. Erstmals suchte damals die Kartofffelfäule Europa heim. Viele verhungerten, viele wanderten nach Amerika aus, denn zuhause raubten die gestiegenen Lebensmittelpreise den Menschen Kaufkraft für andere Dinge, wodurch die junge Industrie ihre Produkte nicht verkaufen konnte. In Reaktion darauf entließen Fabrikanten ihre Arbeiter, die sich ohne Lohn erst recht keine teuren Lebensmittel leisten konnten. Aber nicht nur die entlassenen, auch die in den Fabriken verbliebenen Arbeitskräfte traten geschlossener auf als die verstreute Landbevölkerung ehedem. Schon allein aufgrund der täglichen Zusammenarbeit an einem Ort bestand unter den Lohnarbeitern ein stärkerer Zusammenhalt, als das im verstreuten Verlagswesen je möglich gewesen war. Doch die Zahl der Arbeiter in Berlin war noch zu gering, um eine republikanische Revolution zu tragen. Auch dort überwogen die an Ruhe interessierten, liberalen Kräfte, die sich nur allzu gerne vom König besänftigen ließen. Angesichts der heftigen Ausschreitungen zog Friedrich Wilhelm noch in der Nacht das Militär zurück, verneigte sich am Tag darauf vor den Toten, ritt mit der schwarz-rot-goldenen Fahne der Revolutionäre durch die Stadt und versprach: »Preußen geht fortan in Deutschland auf.« 20 An seinen Bruder aber schrieb er insgeheim: »Die Reichsfarben musste ich gestern freiwillig aufstecken, um Alles zu retten. Ist der Wurf gelungen [...], so lege ich sie wieder ab! « Das Täuschungsmanöver gelang und die Unruhen in Berlin ließen tatsächlich nach. Überall in Deutschland wurden nun Reformen vorbereitet und umgesetzt, ohne dass irgendwo die Republik ausgerufen worden wäre. Die Revo- 20 nach Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Zweiter Band, S. 721. 245 <?page no="245"?> lutionäre hatten viele ihrer Forderungen durchgesetzt, an der Macht blieben aber weiterhin die Fürsten. Das kam den Liberalen einerseits nicht ungelegen, schreckten sie doch in Sorge um ihr Eigentum vor der Republik zurück, die den Armen mehr Einfluss gebracht hätte. Andererseits ging ihnen die Entwicklung nicht weit genug. Sie wollten nicht nur Reformen in den deutschen Einzelstaaten, sondern auch ein gesamtdeutsches Parlament. Deshalb organisierten sie auf eigene Faust die Einberufung eines Vorparlaments, das am 31. des Monats zusammentrat, um Wahlen für eine gesamtdeutsche Nationalversammlung vorzubereiten. Anders als auf den Barrikaden tummelten sich im Vorparlament kaum Arbeiter oder Gesellen, dafür umso mehr liberale Unternehmer, Gutsbesitzer, Beamte und Professoren. Entsprechend herrschte eine liberale Mehrheit vor. Für die vorgesehenen Wahlen wurden denn auch nicht alle volljährigen Männer zugelassen, sondern nur selbstständige, wobei es jedem deutschen Staat selbst überlassen blieb, was er darunter verstehen wollte. Im Resultat war etwa jeder fünfte Mann über 25 Jahren nicht wahlberechtigt. Ausgeschlossen sah sich natürlich der ärmste Teil der Bevölkerung. Um zu vermeiden, dass zu viele Befürworter der Republik in die Nationalversammlung gewählt werden, haben die selbsternannten Liberalen also einfach nicht allen die gleichen Freiheiten zugestanden. Während in Frankreich die Öfffentlichkeit ein Jahr vor den Wahlen zu den Generalständen zu diskutieren begonnen hatte und mittendrin Emanuel Sieyès’ Flugschrift das Stimmungsbild prägte, blieb dafür in Deutschland kaum Zeit, denn die Wahlen zur Nationalversammlung fanden bereits Ende April statt. In der Folge wurden nicht jene Personen gewählt, die sich in Diskussionen hervortaten, sondern jene, die bereits auf Verdienste verweisen konnten, die zwangsläufiig aus aristokratischer Zeit stammten. Gewählt wurden überwiegend Akademiker, vor allem Beamte. Zwei von drei Abgeordneten, die in der Paulskirche in Frankfurt am Main zusammentraten, waren Juristen. Insgesamt repräsentierte diese Nationalversammlung eher den Verwaltungsapparat der absolutistischen Staaten als die Bevölkerung. Währenddessen löste der österreichische Kaiser sein Versprechen auf eine Verfassung ein, doch tat er dies auf eine Weise, die deutlich jede Einsicht vermissen ließ. Ohne Volksvertreter zu beteiligen, erließ er selbstherrlich eine ihm genehme Verfassung. Der Lohn für diese Unverfrorenheit war ein heftiger Aufstand, der Ferdinand zur Flucht 246 <?page no="246"?> aus Wien zwang. Die Revolution war eigentlich auf dem Vormarsch. Doch die neu gewählte Nationalversammlung setzte ein gegenteiliges Zeichen. Bislang gab es keine revolutionäre Exekutive. Worüber hätte sie auch regieren wollen? Es gab keine gesamtdeutschen Behörden, keine Militäreinheiten und auch sonst keine Durchsetzungsmöglichkeiten gegen die einzelnen Staaten, wo nach wie vor die Fürsten an der Macht waren. Das wollte die Nationalversammlung ändern und benannte einen Regierungschef. Doch an wen übertrug die revolutionäre, gesamtdeutsche Nationalversammlung die Zentralgewalt? Weder an einen Liberalen noch an einen Demokraten, sondern das neu geschafffene Amt des Reichsverwesers ging an Erzherzog Johann von Österreich, einen Onkel jenes Kaisers, der sich soeben der Revolution gegenüber besonders verschlossen gezeigt hatte. Damit setzten die Abgeordneten selbst ohne Not ein klares Zeichen gegen jedes weitergehende Revolutionsverlangen. Stattdessen wurde der Schulterschluss mit der Monarchie gesucht. 1789 war die Regierungsgewalt direkt vom französischen König an die Nationalversammlung übergegangen. Kein Tag verging in Frankreich ohne Exekutive. 1848 dagegen blieben die deutschen Revolutionäre vier Monate ohne ausführende Gewalt, um dann einen 66jährigen Angehörigen der Kaiserfamilie damit zu betrauen. Dabei war die Aufgabe ungleich größer als jene in Paris, denn in Frankfurt konnte man nicht einfach einen bestehenden Verwaltungsapparat von einem Herrscher übernehmen. Vielmehr mussten die Fürsten in Berlin, Wien, München, Hannover, Stuttgart oder Dresden davon überzeugt werden, dass sie sich einer Zentralgewalt unterzuordnen hatten. Doch wie sollte das gehen, ohne eigenes Heer? Und warum glaubte man, dass sich ausgerechnet Onkel Johann darum ernstlich bemühen würde? Zumal die Großmächte Europas die neue zentrale Regierung schon allein deshalb nicht anerkannten, weil sie kein Interesse an einem riesigen Staat in der Mitte des Kontinents haben konnten. England, Russland und Frankreich unterhielten sich lieber weiterhin mit den Monarchen der zersplitterten Einzelstaaten. Die Wahl des Reichsverwesers sendete das dumpfe Signal der Mutlosigkeit aus. Der revolutionäre Elan war dahin. Offfenbar zogen die Liberalen den Schutz ihrer reichlichen Einnahmequellen der gleichberechtigten Mitbestimmung aller vor. Die freiheitliche Idee blieb dabei auf der Strecke. 247 <?page no="247"?> Was blieb, war nationale Begeisterung. Schon im März 1848 gab es in Schleswig-Holstein einen Aufstand gegen den dänischen König Frederik VII., zu dessen Herrschaftsgebiet die Ländereien nördlich von Hamburg zählten. Frederik wollte sein aus verschiedenen Fürstentümern zusammengesetztes Reich in einen modernen Staat mit Verfassung überführen. Die deutschsprachigen Holsteiner befürchteten daraufhin, die Herauslösung ihres Fürstentums aus dem Deutschen Bund. Jahrhundertelang hatte Holstein, obwohl vom dänischen König regiert, zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehört, ohne dass diese Konstellation problematisch gewesen wäre. Im Zeitalter der Nationalstaaten jedoch, besannenen sich Frederik auf die Staatsbildung und ein Teil der Bewohner auf ihre sprachliche Zugehörigkeit, und schon kam es zu einem unlösbaren Konflikt. Deutschnational gesinnte Holsteiner zogen mit einer Streitmacht dem dänischen Heer entgegen, mussten allerdings nach einer Niederlage zurückweichen. Vom Deutschen Bund beauftragt, verstärkten daraufhin preußische Truppen die Holsteiner und schlugen wiederum die Dänen zurück. Bevor die Preußen Dänemark besetzen konnten, schritten allerdings England, Frankreich und Russland in Sorge um das Gleichgewicht der Kräfte ein. Eine Niederlage Dänemarks hätte die Macht Preußens oder gar eines zentral geführten Deutschlands beunruhigend vergrößert. Weil ihm an einer Auseinandersetzung mit den europäischen Großmächten nicht gelegen war, vereinbarte der preußische König Ende August einen Wafffenstillstand mit Frederik VII., ohne vorher mit der Nationalversammlung Rücksprache zu halten. Die national enthusiasmierten Abgeordneten in der Frankfurter Paulskirche waren allerdings in ihrem Eifer zunächst nicht bereit dieses Abkommen mitzutragen, nur um Tage später die militärischen Realitäten doch anzuerkennen und ihre Zustimmung zu geben. Im volksdeutschen Gefühlsrausch hatte die Nationalversammlung damit ohne Not sowohl ihre Machtlosigkeit gegenüber den etablierten Monarchen als auch ihr politisches Unverständnis vor aller Welt ausgebreitet. Gegen den Willen der europäischen Großmächte an der Durchsetzung des nationalen Egoismus festzuhalten, war von vornherein aussichtslos. Friedrich Wilhelm IV. hatte das erkannt, die Nationalliberalen, wie sie sich nannten, nicht. Durch Fichte von der angeblichen kulturellen Überlegenheit der 248 <?page no="248"?> Deutschen überzeugt, strebten viele nach einer territorialen Maximallösung. Das Gebiet des Deutschen Bundes war für solche Gedankenspiele allerdings völlig untauglich, denn einerseits lagen darin Regionen wie Tschechien, Luxemburg und Schleswig, in denen großenteils nicht deutsch gesprochen wurde, andererseits ragten die Territorien von Preußen und Österreich weit darüber hinaus. Die Nationalliberalen kannten jedoch bald kein Maß mehr und wollten sich im Namen der kulturellen Überlegenheit fremdsprachige Gebiete einverleiben, was zwangsläufiig den nationalen Eifer der dortigen Bewohner herausforderte. Mit der liberal geprägten Frankfurter Paulskirche entwickelte ein Nationalismus politische Tragweite, der schon zuvor weit verbreitet war. 1841, sieben Jahre vor dem Krieg um Schleswig- Holstein bringt August Heinrich Hoffmann von Fallersleben im Lied der Deutschen eine nationale Maßlosigkeit zum Ausdruck, die bis heute in der deutschen Nationalhymne fortlebt, auch wenn man auf die entlarvende erste Strophe verzichtet hat: Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt, Wenn es stets zu Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält, Von der Maas bis an die Memel, Von der Etsch bis an den Belt - Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt! Das Nationale überwog längst das Liberale. Das zeigte sich auch daran, dass zur Vertonung eine Melodie von Franz Joseph Haydn verwendet wurde, die dieser 50 Jahre zuvor für eine Hymne auf den österreichischen Kaiser komponiert hatte. Die französischen Revolutionäre verabscheuten die nutzlosen Adligen, die deutschen verehrten sie und ihre Symbole. Das Ganze geschah offfenbar völlig unbedarft, so schrieb Fallersleben ansonsten bis heute bekannte Kinderlieder wie: Alle Vögel sind schon da; Ein Männlein steht im Walde; Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald; oder Summ, summ, summ. Die Nationalliberalen verfolgten die deutsche Einigkeit mit Leidenschaft, doch 40 Jahre nach Fichtes Überhöhung des Deutschen 249 <?page no="249"?> bestand noch immer keine Klarheit darüber, wo Deutschland anfängt und wo es aufhört. Ist die Nation eine Frage der Abstammung oder natürlicher Grenzen wie in Großbritannien? Oder ist die Nation schlicht gleichbedeutend mit dem Sprachgebiet? Was wird dann aus der Schweiz, Siebenbürgen, Teilen des Baltikums und den Wolgadeutschen? Von den zahlreichen Auswanderern nach Amerika ganz abgesehen. Ist es entsprechend eines jeden Pflicht, deutsch zu sprechen und deutsch zu sein, wenn sich der Zufall der Geburt in einem wie auch immer gearteten Deutschland zugetragen hat? Ist dies in der Weise Pflicht, wie es wenige Jahrzehnte zuvor Pflicht war, Katholik oder Protestant zu sein, je nachdem wo man geboren wurde? All diese schwierigen Fragen wurden nicht weiter verfolgt. Obwohl es einigermaßen neuartig war, von Nation zu reden, galt diese bereits als naturwüchsig, ihr Wesen bedurfte anscheinend keiner Nachfrage. Trotzdem oder genau deshalb fiiel es schwer, eine Antwort auf die Frage zu fiinden, wie groß Deutschland tatsächlich sei. Völlig unbeeindruckt davon, dass dies für die beiden Großmächte Österreich und Preußen eine territoriale Spaltung bedeutet hätte, strebten nicht wenige im nationalen Überschwang die Grenzen des Deutschen Bundes an. Dafür konnten sich freilich weder Kaiser noch König begeistern. Ferdinand wandte sich entschieden gegen diese sogenannte großdeutsche Variante, was bei manchen allerdings nur dazu führte, gleich die Einbeziehung des gesamten österreichischen Herrschaftsgebiets zu verlangen. Davon wollten mindestens all diejenigen nichts wissen, die nicht deutschsprachig waren und in dieses Ungetüm von einem deutschen Staat hineingeraten wären. Außerdem wollten sich weder Wien noch Berlin etwas von der Frankfurter Paulskirche vorschreiben lassen. Nachdem Österreich der Knackpunkt war, lag es nahe, über eine immer noch sehr große kleindeutsche Variante ohne das Kaisertum nachzudenken. Diesen Verlust an Einfluss suchte Ferdinand natürlich zu verhindern, zumal Preußen, der Rivale um die deutsche Vormacht, dadurch im selben Maße einflussreicher geworden wäre. Für einen waschechten Nationalliberalen musste sich diese Lösung ohnehin inkonsequent anfühlen, da damit ein Teil des deutschen Sprachraums ausgeschlossen und dafür polnischsprachige Teile hinzugekommen wären. Und außer der Sprache hatte man nichts, woran man die Nation hätte festmachen können. Dafür nahm man die Sprache umso 250 <?page no="250"?> ernster, obwohl einem Saarländer sicherlich die französische Lebenswelt näher lag als die österreichische oder die ostpreußische. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten beharrten die Nationalliberalen darauf, einen Nationalstaat schafffen zu wollen, wie Franzosen und Briten ihn schon hatten. Über diesen Drang nach nationaler Einheit gerieten die anderen revolutionären Forderungen in den Hintergrund. Für den Nationalstolz, den man durch Geburt ohne weiteres Zutun vor sich hertragen konnte, ließ sich das Volk leicht begeistern. Gleichgültig, wer sich für das Deutschtum einsetzte, er konnte sich des Zuspruchs sicher sein. Machtbewusste Fürsten wie Friedrich Wilhelm hatten das schnell begrifffen, um es sich sogleich zunutze zu machen. Man brauchte sich nicht mehr nur auf Gottes Gnaden zu berufen, sondern konnte zugleich als oberster Verfechter der deutschen Sache mit uralten deutschen Wurzeln auftrumpfen. Was praktischerweise mehr Volksnähe und noch mehr Unabhängigkeit vom Adel bedeutete, ohne an Macht einbüßen zu müssen. Der Nationalismus hatte aber nicht nur die Deutschen erfasst. Nach den Unabhängigkeitsbewegungen in Oberitalien und Ungarn, regte sich im Juni auch im tschechischen Prag Widerstand gegen die österreichische Herrschaft. Ganz dem allgegenwärtigen nationalen Denken folgend, forderten die Slawen die Unabhängigkeit vom Kaiserreich und auch die Herauslösung aus dem Deutschen Bund. Aus Wien vertrieben und mit den Aufständen in Italien und Ungarn kämpfend, grifff der Kaiser zu den Wafffen, um seine Macht zu sichern. Der örtliche Kommandant Alfred Fürst zu Windisch-Graetz ließ auf die Rebellen schießen. Mitte Juni 1848 gaben die tschechischen Nationalisten auf und die Reaktion feierte ihren ersten Erfolg. Gut einen Monat später besiegten österreichische Truppen auch die italienischen Aufständischen. Nach einigen Tagen Belagerung wurde am 31. Oktober schließlich Wien gestürmt. Mindestens 2000 Bürger starben und es folgten viele Hinrichtungen. In Preußen hatte man die Ereignisse aufmerksam verfolgt. Anfang Dezember sah man auch in Berlin die Zeit gekommen, die Uhren zurückzudrehen. Friedrich Wilhelm IV. erließ kurzerhand aus eigener Machtvollkommenheit eine Verfassung, die dem liberalen Bürgertum in vielen Punkten entgegenkam. Das ließ sich gerne auf absolutistische Stabilität ein, auch ohne politische Mitbestimmung erreicht zu haben. Die zwei Großmächte des Deutschen Bundes hatten damit die alte 251 <?page no="251"?> Ordnung wiederhergestellt. Die Frankfurter Nationalversammlung ging unterdessen weiter ihrer Arbeit nach, als wäre nichts geschehen, und verabschiedete Ende des selben Monats die Grundrechte des deutschen Volkes. Schon im Titel schlägt sich ein engstirniger Nationalliberalismus nieder: Es handelt sich um Freiheitsrechte für Deutsche und nicht um die Rechte eines jeden Menschen, wie das in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte knapp 60 Jahre zuvor der Fall gewesen war. Waren hier im Zuge des Nationalismus die Menschenrechte zu Rechten der Deutschen verkommen? Für das Volk jedenfalls erwies sich dieser Grundrechtskatalog als folgenlos. Nach wie vor hatte jeder deutsche Staat für sich seine eigene Rechtslage. Die Abgeordneten arbeiteten unverdrossen weiter und erließen fast exakt drei Monate später noch eine Verfassung des deutschen Reiches. Hier nun legt sich die Nationalversammlung fest, Deutschland soll das Gebiet des Deutschen Bundes umfassen, wobei man um eine völlig unrealistische Forderung nicht umhin kam: § 2. Hat ein deutsches Land mit einem nichtdeutschen Lande dasselbe Staatsoberhaupt, so soll das deutsche Land eine von dem nichtdeutschen Lande getrennte eigene Verfassung, Regierung und Verwaltung haben. 21 So klar und einfach es erschien, sich an die bestehenden Grenzen des deutschen Bundes zu halten, so schwierig wären die Vorgaben in Preußen und Österreich umzusetzen gewesen. Beide hätten in ihrem Herrschaftsgebiet jeweils einen deutschen und einen nicht-deutschen Staat schafffen und getrennt verwalten müssen. Alle deutschen Gebiete sollten dann der neuen zentralen Reichsgewalt unterstehen, die Gesamtdeutschland nach außen zu vertreten und über die gesammelte Militärgewalt zu verfügen hätte. Aber würden insbesondere Preußen und Österreich tatsächlich ihre Militärmacht aufgeben wollen? Um Friedrich Wilhelm zur Zustimmung zu bewegen, konnte man ihm zumindest die Stellung eines deutschen Kaisers anbieten, die das neue Staatsoberhaupt des deutschen Reiches erhalten sollte. Denn die demokratisch gewählte Nationalversammlung hatte sich entschlossen, an die Spitze des Staates keinen gewählten Präsidenten zu stellen, sondern einen Monarchen mitsamt Erbfolge. Der preußische König von 21 Simson u. a., Verfassung des deutschen Reiches (1849). 252 <?page no="252"?> Gottes Gnaden aber, der in seinem Staat längst wieder unangefochten seine Herrschaft ausübte, dachte nicht daran, sich vor den Karren einer Volksvertretung spannen zu lassen. Im April 1949 lehnte der preußische König ab. Da half es auch nichts, dass 30 deutsche Staaten die Verfassung anerkannten, weil die entscheidenden fehlten: das Kaisertum Österreich und die Königreiche Preußen, Sachsen, Bayern und Hannover. Im Juli bezwangen preußische Truppen die letzten 6000 Revolutionäre in der Festung Rastatt. Die Revolution war endgültig gescheitert. Ein blutiges Nachspiel gab es noch in Ungarn, das den kaiserlichen Rückeroberungen bis in den August Widerstand zu leisten vermochte. Dann konnte durch tatkräftige russische Unterstützung mit insgesamt 250 000 Soldaten auch die ungarische Unabhängigkeitsbewegung mit aller Härte niedergeschlagen werden. In Frankreich hatte zwischenzeitlich die Revolution einen anderen Verlauf genommen. Dort war sogleich die Republik ausgerufen worden, doch in den Wahlen für die Nationalversammlung erlangten konservative Kräfte überraschend die Mehrheit. Im Juni 1848 kam es deshalb zu einem Arbeiteraufstand in Paris, der gewaltsam niedergeschlagen wurde, 6000 starben. Wie geplant, konnte im Dezember die Präsidentenwahl stattfiinden, die Louis Napoléon, ein Nefffe Napoléon Bonapartes, mit überwältigender Mehrheit gewann. Am 47. Jahrestag der Kaiserkrönung seines Onkels, also am 2. Dezember 1851, vollzog er einen Staatsstreich, um die neu geschafffene republikanische Verfassung zu überwinden und seine Amtszeit unbegrenzt ausdehnen zu können. Um den Widerstand zu ersticken, wurden 30 000 Menschen verhaftet. Ein weiteres Jahr später ließ er sich als Napoléon III. selbst zum Kaiser der Franzosen ausrufen. Marx fasst pointiert zusammen: »Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als Farce.« 22 Marx war im April 1848 nach Köln zurückgekehrt, wo er nach Ausbruch der Revolution ohne Zensur als Journalist arbeiten konnte. Auf diesem Weg hofffte er mehr Einfluss auf die Vorgänge nehmen zu können. Doch wie schon zuvor blieben seine Schriften weitgehend unbeachtet. Die Zahl der Arbeiter war in Deutschland einfach noch 22 Marx und Engels, Studienausgabe in 4 Bänden. Band IV, S. 33. 253 <?page no="253"?> zu gering und ihre Lebensumstände waren zu unterschiedlich, als dass sein Manifest ein großes Publikum gefunden hätte. Ein Jahr später, Friedrich Wilhelm IV. hatte die Krone aus den Händen der Nationalversammlung gerade abgelehnt, verlässt Marx Preußen und reist über Paris nach London, wo er fortan weiter als Journalist arbeitet. Sein Einkommen fiiel allerdings so gering aus, dass Engels fiinanzielle Unterstützung beisteuerte. Im Herzen der führenden Wirtschaftsmacht lebend, befasst sich der Kommunist vorwiegend mit Ökonomie, die er ja immerhin als ausschlaggebend für die gesellschaftliche Entwicklung ansieht. Warum er diese für ausschlaggebend hält, beschreibt er 1859 in Zur Kritik der politischen Ökonomie gebündelt in berühmt gewordenen Sätzen: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. 23 Wie die Menschen leben, zusammenleben und arbeiten ergibt sich aus den bestehenden Verhältnissen, aus dem technischen Entwicklungsstand, der daraus resultierenden Produktionsweise und aus den natürlichen Gegebenheiten. Im Zeitalter der Robotik gestalten sich Arbeits- und Lebenswelt anders als im Zeitalter der Dampfmaschine, 23 Marx und Engels, Werke. Band 13, S. 8 f. 254 <?page no="254"?> des Mühlrads oder auch des Faustkeils. Doch nicht nur die Lebensweise ergibt sich aus den Produktionsverhältnissen, sondern auch die Denkweise. Jeder ist Gefangener seiner Zeit. Dem kann sich niemand entziehen, auch nicht gedanklich. »Aber das menschliche Wesen ist kein dem Individuum inwohnendes Abstraktum. In Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« 24 Gedanken sind geprägt, von der Welt in der wir leben, und verbreitete Gedanken werden von denjenigen durchdacht, niedergeschrieben und verbreitet, die schlicht Zeit und ausreichend Bildung dafür haben. Das sind in der Regel nicht die Armen, die mit Müh und Not ihr Dasein fristen, sondern Angehörige des Besitzstands. Sie erlangen Deutungshoheit, weshalb Marx und Engels zum Schluss kommen: »Die Gedanken der herrschenden Klasse, sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken.« 25 Wenn sich die Produktivkräfte weiterentwickeln, Erfiindungen und neue Technologien sich etablieren, ändert sich mit der Arbeitsweise zwangsläufiig auch die Produktionsweise, was nach kommunistischer Lehre schlussendlich in einen Widerspruch zu den bestehenden Besitz- und Herrschaftsverhältnissen führen muss. In Folge des technologischen Wandels und des Arbeitsalltags erklärt Marx eine Revolution, eine Änderung der Machtverhältnisse für unausweichlich. Tatsächlich hatte trotz dem Beharrungsvermögen der deutschen Fürsten längst das Bürgertum starken Einfluss auf das politische Geschehen gewonnen. Die Abhängigkeit vom immer schneller zirkulierenden Wirtschaftskreislauf entfaltete sich unentrinnbar. Im selben Jahr 1859 erscheint das Werk Über die Freiheit des liberalen, englischen Philosophen John Stuart Mill. Während Marx darauf hinweist, wie sehr wir alle durch die Umstände, die uns umgeben, in unserem Freiraum eingeschränkt sind, wie sehr wir durch das Getriebe der Welt bestimmt werden, wobei dieses Getriebe großenteils menschengemacht ist, folgt Mill einem einfachen Prinzip, das die größtmögliche Freiheit für jeden Einzelnen fordert: Dies Prinzip lautet: daß der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Daß der einzige Zweck, um dessentwillen 24 Marx und Engels, Werke. Band 3, S. 7. 25 Ebd., S. 46. 255 <?page no="255"?> man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. Das eigene Wohl, sei es das physische oder das moralische, ist keine genügende Rechtfertigung. Man kann einen Menschen nicht rechtmäßig zwingen, etwas zu tun oder zu lassen, weil dies besser für ihn wäre, weil es ihn glücklicher machen, weil er nach Meinung anderer klug oder sogar richtig handeln würde. 26 Mill geht es um die Zurückdrängung des Staates, um die Befreiung des Einzelnen von jeglichen Vorgaben. Genau das wünschen sich Unternehmer, Gutsbesitzer und Händler, also diejenigen, die etwas besitzen. Mill wird zum Philosophen der Liberalen. Jeder soll tun können, was er will, solange er niemanden schädigt, jeder soll sein Glück, seine Lust auf seine Weise maximieren können. Die Freiheit ist kein Selbstzweck, sondern dahinter steht das damals beinahe 100 Jahre alte greatest happiness principle von Jeremy Bentham, wonach jede Handlung sich danach zu richten habe, das größte Glück für die größte Zahl an Menschen herbeizuführen. Anders als jene Kants erlaubt eine solche Moral prinzipiell auch Mord und Lüge, wenn sie nur das Glück erhöht. Die Vorstellungen davon, wie dieses aussehen könnte, sind allerdings individuell verschieden und deshalb will Mill es jedem freistellen, wie er seines fiinden möchte. Marx würde demgegenüber davon ausgehen, dass gerade dadurch, dass jeder für sich alleine nach Glück strebt, das größtmögliche Glück aller nicht erreicht werden kann, weil man versäumt, die Kraft zu nutzen, die aus der Kooperation erwächst. Mill und die Liberalen wiederum sind überzeugt vom freien Spiel der Kräfte, das von allein das bestmögliche Ergebnis zu schafffen vermag. Die Macht ist an und für sich unrechtmäßig. Die beste Regierung hat ebensowenig Anspruch darauf wie die schlimmste. Sie ist genauso schädlich oder noch schädlicher, wenn man sie in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung ausübt, als wenn sie in Widerspruch zu ihr steht. Wenn alle Menschen außer einem derselben Meinung wären und nur dieser einzige eine entgegengesetzte hätte, dann wäre die ganze Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen einen mundtot zu machen, als 26 Mill, Über die Freiheit, S. 16 f. 256 <?page no="256"?> er, die Menschheit zum Schweigen zu bringen, wenn er die Macht hätte. 27 Jeder soll nach seinen Möglichkeiten glücklich werden. Kein Wort verliert Mill darüber, dass die Chancen dazu unterschiedlich sind, darüber, dass Vertragsfreiheit unter bereits bestehender Ressourcenungleichheit die Benachteiligung verlängert, darüber, dass die Armen sich dann stets den Reichen andienen müssen, um zu überleben, darüber, dass genau das der einfachen Bevölkerung tagtäglich widerfährt. Aus der Perspektive eines Mitglieds der gehobenen Schicht, das mit seiner Ausbildung hervorragende Voraussetzungen erhalten hat, ist das vielleicht nicht verwunderlich. 1806 geboren, wurde Mill schon ab einem Alter von vier Jahren von seinem wohlhabenden Vater selbst erzogen und ausgebildet. Eine Schule hat er nie besucht und mit Gleichaltrigen kam er nicht in Kontakt. Dafür konnte er mit zehn Jahren perfekt Latein und traf einflussreiche Personen der Britischen Ostindien-Kompanie, der damals weltweit größten Handelsgesellschaft, bei der sein Vater und er selbst ab seinem 17. Lebensjahr angestellt waren. Mill verkehrte in besten englischen Kreisen und genoss entsprechend große Freiheiten. Marx und Engels hatten demgegenüber das Schicksal aller Menschen vor Augen, wenn sie von der sozialen Macht sprachen, die uns gefangen halte: Die soziale Macht, d. h. die vervielfachte Produktionskraft, die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der verschiedenen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen, weil das Zusammenwirken selbst nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist, nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher und wohin, die sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Reihenfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft. 28 Die Freiheit, für die Mill eintritt, ist eine Freiheit der gehobenen Schicht, die von der industrialisierten Welt profiitiert. Für den Großteil 27 Ebd., S. 25. 28 Marx und Engels, Werke. Band 3, S. 34. 257 <?page no="257"?> der Bevölkerung ist diese Freiheit jedoch praktisch bedeutungslos, weil die Mühsal des täglichen Lebens sie voll in Anspruch nimmt und keine Freiräume zulässt. Zwangsläufiig ist das einfache Volk über politische Vorgänge weniger unterrichtet, weil nicht genug Zeit, Bildung und Geld dafür zur Verfügung stehen. Diese oftmals den Umständen geschuldete unzureichende Informiertheit nimmt Mill wiederum zum Anlass, Herrschaft generell nur in die Hände einer Elite geben zu wollen: Niemals hat sich die Herrschaft einer Demokratie oder einer zahlenmäßig starken Aristokratie in ihren politischen Aktionen oder in den Gedanken, Fähigkeiten oder Färbungen des Geistes, die sie hegt, je über den Durchschnitt erhoben, noch könnte sie es, außer wenn sich der Herrscher ›Viele‹ (wie er es in seiner besten Zeit immer getan hat) durch den Rat und Einfluß des besser begabten und unterrichteten ›Einen‹ oder ›Weniger‹ leiten ließ. Die Anregung zu allen klugen und vortrefflichen Vorschlägen kommt - und zwar notwendig - von einzelnen, im allgemeinen zuerst von einem einzelnen; Ehre und Ruhm des Durchschnittsmenschen sind, daß er dieser Initiative zu folgen vermag, daß in seinem Innern etwas auf die klugen und vortrefflichen Vorschläge anspricht und er offenen Auges an sie herangeführt werden kann. 29 Das Aufbegehren der Masse gegen selbstherrliche Elitenherrschaft bezeichnet Mill als »Tyrannei der öfffentlichen Meinung.« 30 Ohnehin will der Liberale nicht allen die gleiche Liberalität, die gleiche Freiheit zugestehen. Seiner Meinung nach verfügt dafür nicht jeder über ausreichende Fähigkeiten. Deshalb schließt er nicht nur Kinder aus, sondern auch ganze Rassen, womit er nebenbei die Kolonialherrschaft der Briten in Afrika und Indien rechtfertigt. Ein Kriterium dafür, wann Menschen über ausreichende Fähigkeiten verfügen, lässt sich aber nicht fiinden, sodass die Einschränkungen willkürlich erscheinen. Es ist vielleicht kaum nötig zu betonen, daß diese Lehre nur auf Menschen mit völlig ausgereiften Fähigkeiten anzuwenden wäre. Wir reden nicht von Kindern oder jungen Leuten, die 29 Mill, Über die Freiheit, S. 92. 30 Ebd., S. 93. 258 <?page no="258"?> noch nicht das Alter erreicht haben, wo sie das Gesetz als Mann oder Frau mündig spricht. Wer sich noch in einem Stande befindet, wo andere für ihn sorgen müssen, den muß man gegen seine eigenen Handlungen ebenso schützen wie gegen äußere Unbill. Aus gleichen Gründen können wir jene zurückgebliebenen Entwicklungszustände unberücksichtigt lassen, wo man die Rasse noch als unmündig ansehen kann. Die Anfangsschwierigkeiten, sich aus freien Stücken fortzuentwickeln, sind so groß, daß nur selten die Wahl der Mittel, sie zu überwinden, frei bleibt, und ein Herrscher voll Initiative ist berechtigt, alle Mittel zu ergreifen, die zu einem Ziele führen, das sonst vielleicht unerreichbar bliebe. Despotismus ist eine legitime Regierungsform, wo man es mit Barbaren zu tun hat, vorausgesetzt, daß ihre Vervollkommnung das Ziel ist und die Mittel dadurch gerechtfertigt werden, daß man den Zweck wirklich erreicht. Freiheit, als Prinzip, kann man nicht auf einer Entwicklungsstufe anwenden, auf der die Menschheit noch nicht einer freien und gleichberechtigten Erörterung derselben fähig ist. 31 Der Theoretiker der Freiheit fordert also Freiheit nur für diejenigen, die seiner Meinung nach über ausgereifte Fähigkeiten verfügen. Der Liberale verwandelt das Recht auf Freiheit aller Menschen in das Recht auf Despotismus über vermeintliche Barbaren. Wird der Liberalismus so nicht zu einer elitären Angelegenheit und damit auch der Genuss des Glücks? Eine Antwort gibt Mill selbst: Wie er in seinem Buch über den Utilitarismus ausführt, gibt es niedrigere und höhere Genüsse. Nicht alle Menschen seien zu Letzteren fähig. Damit kann er auch das Streben nach Glück nicht mehr als gleichwertig ansehen. Folgt daraus aber nicht unterschiedlich wertvolles und schützenswertes Glück? Ist dann nicht auch das Leben eines Menschen, der nach niederen Genüssen strebt, weniger Wert? Und wie verträgt sich das mit der anfänglichen liberalen Kernforderung nach allgemeiner Wahlfreiheit beim Lebensstil? Es ist unbestreitbar, dass ein Wesen mit geringerer Fähigkeit zum Genuss die besten Aussichten hat, voll zufrieden gestellt zu werden; während ein Wesen von höheren Fähigkeiten stets das Gefühl haben wird, dass alles Glück, das es von der Welt, 31 Ebd., S. 17. 259 <?page no="259"?> so wie sie beschaffen ist, erwarten kann, unvollkommen ist. [...] Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein, besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten. 32 Mill treibt einen Keil in die Gesellschaft: Einer zu gehobenen Glückserlebnissen und zur Freiheit fähigen Elite stehen all diejenigen Menschen gegenüber, die nach niederen Genüssen streben und eines Herrschers bedürfen - die Schweine. Trotzdem geht er in seinen Betrachtungen über die Repräsentativregierung davon aus, dass die Menschen eine Nation bilden, weil sie »durch gegenseitige Sympathien verbunden sind.« 33 Wie die deutschen selbsternannten Liberalen hatte auch den Engländer der Nationalismus erfasst, obwohl dieser doch durch seine unentrinnbare Zugehörigkeit qua Geburt jede freie Wahl außer Kraft setzt. Müsste nicht in einer freien Welt, jeder selbst entscheiden können, ob und wenn ja, welcher Nation er angehören möchte? Statt hier Liberalität einzufordern, drängt Mill in die entgegengesetzte Richtung und rechtfertigt sogar das Unterwerfen fremder Nationen: Die Erfahrung zeigt, dass eine Nationalität in einer anderen aufgehen und von ihr absorbiert werden kann: dies ist für sie von großem Vorteil, wenn sie vorher auf einer niedrigeren Zivilisationsstufe stand. [...] Das gleiche gilt für die Waliser oder die Bewohner des schottischen Hochlands als Angehörige der britischen Nation. 34 So wie höhere Fähigkeiten das Individuum in Mills Augen höherwertig erscheinen lassen, so rechtfertige der Entwicklungsstand die Unterwerfung ganzer Nationen. Der Liberale unterstellt den Wert des Lebens und die Unabhängigkeit eines Staates seinen Wertmaßstäben. Freiheit verkommt hier zum Vorrecht begünstigter Menschen und reicher Nationen. Reichtum und Erfolg sei das Ergebnis von überlegenen Fähigkeiten und je freier die Fähigen sich entfalten können, desto besser sei dies für den Fortschritt. 32 Mill, Utilitarianism. Der Utilitarismus, S. 31 f. 33 Mill, Betrachtungen über die Repräsentativregierung, S. 145. 34 Ebd., S. 250. 260 <?page no="260"?> Der zeitgleich ebenfalls in London lebende Marx kommt zu völlig anderen Schlussfolgerungen. Die unterschiedlichen Chancen und Erfolge der Menschen ergäben sich weniger aus ihren individuellen Anlagen als vielmehr aus den gesellschaftlichen Umständen. Nur wenige erfahren eine so umfassende Ausbildung wie Mill, werden in einen solch wohlhabenden Haushalt hineingeboren und kommen mit so einflussreichen Personen in Kontakt. Die Freiheit, die mehr noch das Kapital genießt als der Mensch, führt aus Marx’ Sicht keineswegs zum größtmöglichen Glück Aller, weil sie die Fähigen zur Entfaltung kommen lässt, sondern vielmehr zur Zusammenballung des Reichtums in den Händen Weniger, weil Kapital auch in den Händen Unfähiger Vorteile verschaffft. Das Genie Einzelner kann in Marx’ Augen nicht die Weiterentwicklung des Kapitalismus aufhalten, wie sie sich aus dem Zusammenspiel von Millionen Menschen ergibt. 1867 erscheint der erste Band seiner intensiven Auseinandersetzung mit Ökonomie, der Marx eine bedeutende Rolle zuspricht: Das Kapital. Darin kommt er zum Ergebnis, dass die Kapitalkonzentration unaufhaltsam fortschreitet, aber die Stunde der Kapitalisten schlägt, wenn dadurch verursachte Ausbeutung und Verelendung nicht mehr zu ertragen sind. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert. 35 Da der Kommunist Marx ganz anders als die Liberalen niemals in nationalen Einheiten dachte, bezog er die Rede von der Kapitalkon- 35 Marx und Engels, Werke. Band 23, S. 790 f. 261 <?page no="261"?> zetration nicht auf einzelne Staaten, sondern stets auf weltweite Kapitalbewegungen. Die bloße Existenz von Wohlfahrtsstaaten bedeutet deshalb noch keine Zähmung des Kapitalismus, weil es demgegenüber genug bitterarme Länder gibt. Trotzdem blieb der Zusammenbruch des Kapitalismus aus, von dem Marx bis zu seinem Tod im Jahr 1883 überzeugt blieb. War die Verelendung nicht groß genug? Oder genügt das allein nicht, um den Kapitalismus ins Wanken zu bringen? Meinte nicht Marx selbst, dass einer Revolution unbedingt ein Wandel der Produktionsweise vorangehen müsse? Kann es also kein Ende des Kapitalismus ohne Aufhebung industrieller Fertigung geben? Lebten nicht auch Sklaven in der Antike und Bauern im Mittelalter häufiig ebenfalls unter elenden Bedingungen, ohne dass das zum Umsturz führte? Wenn aber die Produktionsweise ausschlaggebend ist, bringt dann womöglich die Verelendung gar nicht das Ende des Kapitalismus, sondern eine Umstellung in den Produktivkräften? Was bedeutet es demnach, wenn sich nun die Automatisierung Bahn bricht? Die moderne Demokratie ist ein Kind der Industrialisierung, ein Kind der Massenproduktion ebenso wie des Massenheers. Sie entstammt dem Zeitalter der Vernunft und dem Ende des Gottesgnadentums; sie fasst die Menschen zu einem Staat zusammen, den jene nicht mehr als Instrument der Fürsten, sondern als ihr eigenes Instrument ansehen. Zugleich aber vertrauen sie den Staatsapparat ebenso einigen wenigen Personen an, wie sie es auch mit der Leitung der industriellen Produktion und der militärischen Führung tun. In allen diesen Bereichen, in der Demokratie, in der Industrie und im Militär bedurfte es der Menschenmassen, sie machten den Unterschied. Mit der Automatisierung beginnt sich dies aufzulösen. Eine Kriegsmaschinerie der Massenvernichtungswafffen, der Fernwafffen und der Drohnen bedarf keines Massenheers, das buchstäblich zum Kanonenfutter verkommt. Nicht der gleichförmig gedrillte Soldat wird benötigt, sondern Spezialisten, die komplizierte Systeme bedienen können. Ebenso verhält es sich auch in der Produktion. Gleichförmige Tätigkeiten werden immer häufiiger von Maschinen übernommen und auch deren Steuerung erfährt fortwährende Automatisierung. Des Menschen bedarf es nicht mehr als mechanische Arbeitskraft, sondern als ebenso schöpferischen wie hochqualifiizierten Entwickler und Koordinator. Dieser kann dank der Digitalisierung seine Verarbeitungsprozesse und Algorithmen weltweit anbieten. Dinge müssen nur noch einmal entwickelt 262 <?page no="262"?> und können dann nahezu kostenfrei weltweit bereitgestellt werden, was den Bedarf an Spezialisten ebenfalls entsprechend reduziert. Für Software gibt es keine Wertschöpfungskette, weshalb nur wenige daran partizipieren und davon profiitieren können. Es stellt jedoch das greatest happiness principle infrage, wenn die Freiheit manchen Reichtum verschaffft, Einfluss und Lebensqualität der Mehrheit aber zurückgehen. In der heutigen Demokratie sehen wir ebenso die gleichförmigen Massen sich auflösen. Die Zeiten gesellschaftsweit beinahe einheitlicher Weltbilder, wie sie die Massenmedien produzierten, ist vorbei. Öfffentlich weithin wahrnehmbar können sich nur noch einige wenige bemerkbar machen, zugleich aber verbreiten sich im Internet unterschiedlichste Weltbilder mit unterschiedlichsten Anhängerschaften, wobei die von mächtigen Technologie-Konzernen erstellten Algorithmen und deren Ausnutzung durch wiederum andere Spezialisten an Bedeutung gewinnen. Die repräsentative Demokratie beruhte auf einer in den Massenmedien gebündelten und dadurch zu einem gewissen Grad standardisierten Weltsicht. Diese existiert mit der Digitalisierung nicht mehr. Diese Entwicklung läuft ungesteuert und damit ganz im Sinne Mills. Für ihn ist jede Macht ein Skandal, außer derjenigen der Privatleute. Er vertraut darauf, dass sich aus dem Zusammenwirken der Menschen ganz von selbst das Vernünftigste einstellt, ebenso wie der Markt ganz von selbst Preise hervorbringt. Für Marx dagegen bedeutet das keineswegs, dass keine Macht die Gesellschaft im Grifff hielte, vielmehr sieht er eine soziale Macht am Werk, der sich niemand zu entziehen vermag. Es stellt sich die Frage: Wird Politik zukünftig von Spezialisten, Algorithmen und Technologie-Konzernen bestimmt oder lässt sich die aktuelle Fragmentierung der öfffentlichen Diskussion in eine Demokratie wandeln, in der dank Digitalisierung Beteiligung und Mitbestimmung der gewöhnlichen Bürger an Bedeutung gewinnen? Wollen wir der sozialen Macht freien Lauf lassen oder die vernünftige Koordination vernunftbegabter Erdbewohner anstreben? Bislang steckt die Welt in einem Dilemma, dessen beide Seiten Marx und Mill beschreiben und aus dem noch kein Ausweg in Sicht ist: Jeder moderne Staat läuft auf eine Zwangsvergesellschaftung und Zwangsvergemeinschaftung zugleich hinaus. Insofern jeder Bürger seinem individuellen Geschäft nachgeht, sind alle anderen Betrofffene der Summe dieses unkoordinierten gesellschaftlichen Treibens. In- 263 <?page no="263"?> sofern der Staat alle Bürger seinen Regeln unterwirft, sind wir alle reglementierte Angehörige dieser übermächtigen gemeinschaftlichen Institution. 264 <?page no="264"?> 16 Woher bezog Herrschaft nach Lenin und Weber Legitimität? Vier Jahre nachdem Karl Marx in London 1883 gestorben war, übersetzte ein 21-Jähriger den Text Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie ins Russische. Das Besondere dabei: Er saß in einem russischen Gefängnis und wartete auf seine Hinrichtung. Die Botschaft, die Marx Russland zu überbringen vermochte, erschien ihm so wichtig, dass er die letzten Tage seines Lebens dafür verwendete, sprachliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Alexander Iljitsch Uljanow konnte den Text übersetzen, weil er die Sprache von seiner deutschstämmigen Mutter erlernt hatte. Deren Vater war wie Marx’ Vater war auch der ihrige vom jüdischen Glauben zum Christentum konvertiert. Alexanders Vater war im aristokratischen Russland der Aufstieg gelungen. Aus armen Verhältnissen stammend hatte er es zum Volksschulinspektor gebracht, der aufgrund seiner Verdienste in den Adelsstand erhoben wurde. Während Alexander Uljanow in einem Elternhaus aufwuchs, in dem Bildung und Leistung hohes Ansehen genossen, lag seine Heimatstadt Simbirsk fern allen Wandels. Ohnehin versuchte sich das Zarenreich allen liberalen Einflüssen aus dem Westen zu erwehren, was im abgeschiedenen Simbirsk mühelos gelang. Dort traf der leistungsorientierte, aufgeklärte Lebensstil des Hauses Uljanow auf die ganze Rückständigkeit der russischen Provinz. Anders als dem Vater blieb den Kindern trotz besserer Voraussetzungen die Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten verwehrt. Der russische Zar Alexander III. wollte dem Fortschritt nicht freien Lauf lassen und legte deshalb alle gehobenen Positionen in die Hände des alten Adels, während allen anderen Aufstiegschancen verwehrt blieben. Für die Ehrgeizigen blieben im reglementierten Zarenreich auch andere Wege freier Entfaltung stark eingeschränkt, während sich im Westen immer neue auftaten. Alexander Uljanow war ehrgeizig, hatte mit seinem Biologiestudium in Russland jedoch keine vielversprechenden Aussichten. In seiner Unzufriedenheit schloss er sich in St. Petersburg einer demokratischen 265 <?page no="265"?> Studentenbewegung an. Kurz nachdem im Januar 1886 sein strenger Vater gestorben war, beteiligte er sich an Vorbereitungen für ein Attentat auf das Staatsoberhaupt. Das aber wurde aufgedeckt, sodass die Inhaftierung und fünf Wochen später die Hinrichtung folgten. Alexanders 17-jähriger Bruder Wladimir erfuhr davon erst im Nachhinein. Die Nachricht traf ihn schwerer als die vom Tod des Vaters zuvor, trotzdem meisterte er die gerade laufenden Abschlussprüfungen seiner Schule mit Bravour. An seiner Leistungsfähigkeit änderte der Verlust nichts, sehr wohl aber an seiner Einstellung. Aus dem zuvor eher unpolitischen Jungen war über Nacht ein hasserfüllter Gegner des Zaren geworden. Noch im selben Jahr beteiligte er sich an einem Studentenprotest, was ihm den Rauswurf aus der Universität von Kasan und Polizeiaufsicht einbrachte. Der Rückzug auf ein Landgut brachte nicht die von der Mutter erhofffte Besinnung auf ein Leben als Gutsbesitzer, vielmehr vertiefte sich ihr Sohn in revolutionäre und marxistische Bücher. Nach intensiver Vorbereitung schloss Wladimir Iljitsch Uljanow in St. Petersburg das Jurastudium als Jahrgangsbester ab, ohne jemals die dortige Universität besucht zu haben. Danach trat er in der selben Stadt eine Tätigkeit als Rechtsanwaltsgehilfe an, engagierte sich aber vor allem in marxistischen Kreisen, wo er bald eine führende Rolle einnahm. Nach einer Reise durch Europa beteiligte sich Uljanow an Herstellung und Verteilung einer Flugschrift, worauf Verhaftung und dreijährige Verbannung nach Sibirien folgten. Was als Strafe gedacht war, nutzte der Unruhestifter zu intensiver Lektüre und zur Verfassung eigener Schriften. Da die Verbannten nicht gefangen gehalten wurden, konnten sie sogar die raue Natur genießen und ausgedehnte Jagdausflüge unternehmen. Die Verbannung verlief zur Zeit des Zarenreichs zwar abgeschieden, aber nicht unmenschlich. Der junge Revolutionär konnte heiraten und mit seiner Frau und deren Mutter zusammen leben. Nach Ablauf der Verbannungsfrist verließ der junge Ehemann Russland, um unter dem Decknamen Lenin von München aus an einer russischen Zeitung der sozialistischen Bewegung mitzuwirken. 1902 veröfffentlichte er seine Schrift Was tun? , in der er eine Organisation von Berufsrevolutionären forderte, weil man neben einer normalen Werktätigkeit die Revolution nicht ausreichend vorantreiben könne: 266 <?page no="266"?> Der Arbeiterrevolutionär muß, um für sein Wirken vollkommen vorbereitet zu sein, ebenfalls Berufsrevolutionär werden. [...] Ein halbwegs talentierter und ›zu Hoffnungen berechtigender‹ Agitator aus der Arbeiterklasse darf nicht 11 Stunden in der Fabrik arbeiten. Wir müssen dafür sorgen, daß er aus Mitteln der Partei unterhalten wird, daß er imstande ist, rechtzeitig in die Illegalität zu gehen, daß er den Ort seiner Tätigkeit oft wechselt, denn sonst wird er nicht viel Erfahrungen sammeln, wird seinen Gesichtskreis nicht erweitern, wird nicht imstande sein, sich wenigstens einige Jahre lang im Kampf gegen die Gendarmen zu halten. 1 Lenin geht davon aus, dass eine unkoordinierte Menschenmenge niemals gegen die gut organisierte und ausgestattete Staatsmacht ankommen kann. Wenn die Sozialisten aber selbst die Kraft einer starken Organisation erlangten, wenn sie als gut koordinierte Berufsrevolutionäre aufträten, dann würde ihre Massenbewegung unwiderstehlich: »Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Rußland aus den Angeln heben! « 2 Er selbst war ein solcher Berufsrevolutionär, der durch seine Beteiligung an sozialistischen Zeitungen versuchte, bei den Arbeitern das nötige Bewusstsein zu erzeugen und die verstreuten Kräfte zusammenzubringen. Ständig wechselte er deshalb seinen Wohnort: Nach dem Fortgang aus München lebte er in London, Genf, Paris und Krakau, das damals zu Österreich gehörte und nahe der russischen Grenze lag. Marx ging davon aus, dass der Kapitalismus den Feudalismus hinwegfegt und daraufhin der Kommunismus mit dem Kapitalismus das gleiche vollführt. Das alles sei allein eine Frage der Produktivkräfte und wenn sich diese änderten, ändere sich auch die Gesellschaftsform. Aus diesem Grund warteten viele Marxisten sehnsüchtig darauf, dass im noch absolutistisch regierten Russland zunächst der Kapitalismus Einzug hält, das Bürgertum die Regierungsmacht übernimmt und den Zar mitsamt Adel aus dem Weg räumt. Erst dann könne die sozialistische Revolution den nächsten Schritt tun. Da sich das Ganze bei Marx wie eine Gesetzmäßigkeit ausnimmt und die Entwicklung folglich ganz von selbst diesen Weg einschlagen müsste, sah man sich nicht gezwungen, tatkräftig etwas beizusteuern. Dem widersprach 1 Lenin, Werke. Band 5, S. 489 f. 2 Ebd., S. 483. 267 <?page no="267"?> Lenin und glaubte Bedingungen vorzufiinden, die es unnötig machten, auf die bürgerliche Revolution zu warten. Man könne direkt einen sozialistischen Umsturz wagen, Berufsrevolutionäre müssten dafür allerdings das sozialistische Klassenbewusstsein von außen in die Arbeiterschaft hineintragen. Nicht alle Sozialisten wollten dieser Aufffassung folgen und so kam es 1904 auf einem Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, zur Spaltung. Lenin hatte mehr Stimmen auf seiner Seite, weshalb sich seine Anhänger fortan Bolschewiki, also Mehrheitler nannten, denen angeführt von Lenins langjährigem Freund Julius Martow die Menschewiki gegenüberstanden. Die sozialistische Bewegung bekämpfte fortan somit nicht mehr nur Zar und Bürgertum, sondern sich auch untereinander. Zur selben Zeit befasste sich in Deutschland Max Weber mit Marx’ Werk. Allerdings sah er im Marxismus nicht den Weg zu Mitbestimmung und Gleichberechtigung, sondern eine einseitig ökonomische Betrachtungsweise. Eine solche Verkürzung könne keinen absoluten Anspruch auf Wahrheit begründen. Damit sind die Marxisten laut Weber nicht allein, weil das für alle anderen ebenso gelte. Vielmehr erscheint ihm jeglicher Versuch, die Wirklichkeit vollständig zu erfassen, aussichtslos, wie er 1904 im Aufsatz Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis feststellt: »Es gibt keine schlechthin ›objektive‹ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder [...] der ›sozialen Erscheinungen‹ unabhängig von speziellen und ›einseitigen‹ Gesichtspunkten, nach denen sie [...] als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden.« 3 Was immer man betrachtet, es präsentiert sich stets im Licht des Ausgangspunkts und des Blickwinkels, den man anlegt. Niemand verfügt über eine gottgleiche, allumfassende Perspektive, die allein ermöglichen würde, die unfassbar reichhaltige Welt umfänglich zu erkennen. Nun bietet uns das Leben, sobald wir uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, ›in‹ uns und ›außer‹ uns. Und die absolute Unendlichkeit dieser 3 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 170. 268 <?page no="268"?> Mannigfaltigkeit bleibt intensiv durchaus ungemindert auch dann bestehen, wenn wir ein einzelnes ’Objekt’ [...] isoliert ins Auge fassen, - sobald wir nämlich ernstlich versuchen wollen, dies ›Einzelne‹ erschöpfend in allen seinen individuellen Bestandteilen auch nur zu beschreiben, geschweige denn es in seiner kausalen Bedingtheit zu erfassen. Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er ›wesentlich‹ im Sinne von ›wissenswert‹ sein solle. 4 Jede Erkenntnis ist begrenzt. Dem Menschen bleibt nichts anderes übrig, als durch diese unendliche Mannigfaltigkeit zu navigieren, indem er einzelne Dinge benennt und ihnen Sinn verleiht. Statt des aussichtslosen Versuchs, die Welt vollständig zu erfassen, strebt Weber deshalb ein Verfahren an, mit dem für bestimmte Ausschnitte zumindest Vergleichbarkeit hergestellt werden kann. Dazu muss zuerst der Sinngehalt eines Begrifffs möglichst genau bestimmt werden, um an diesem dann die Wirklichkeit messen zu können. Weber spricht von einem Idealtypus, ohne darunter ein erstrebenswertes Idealbild im Sinne Platons zu verstehen. Vielmehr steht er für eine nur vorgestellte besondere Ausprägung eines Sachverhalts, ganz unabhängig davon, wie erstrebenswert diese ist. Er [der Idealtypus] ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ›eigentliche‹ Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird. 5 So wie Marx seine ökonomische Sicht auf die Entstehung des Kapitalismus dargeboten hat, veröfffentlichte Weber 1904 eine andere Sicht darauf, die religiöse Aspekte in den Vordergrund rückt. Den Ausgangspunkt bildet die Frage, wie eine protestantische Lebensführung 4 Ebd., S. 171. 5 Ebd., S. 194. 269 <?page no="269"?> die Geschäfts- und Arbeitswelt verändert hat. Protestanten können sich - nach Martin Luthers wirkungsvollem Protest gegen den katholischen Ablasshandel - nicht von ihren Sünden freikaufen und auch eine Beichte hilft nicht weiter. Damit steigt der Zwang zu einer gottgefälligen Lebensführung, die ebenso arbeitwie enthaltsam zu sein hat. Folglich arbeiten gläubige Protestanten viel, können ihr Geld allerdings nicht für Luxus ausgeben. Es sammelt sich Kapital an, für das es keine andere Verwendung gibt, als es anzulegen. Wer einen eigenen Betrieb führt, wird erwirtschafteten Gewinn nicht entnehmen, sondern vielversprechende Investitionen für die Firma vornehmen. Davon ausgehend, eine asketische Lebensführung sei gottgefällig, wagen manche protestantischen Glaubensrichtungen zu behaupten, dass man schon zu Lebzeiten erkennen könne, wen welches Schicksal im Jenseits erwarte. Wem im Diesseits Erfolg beschieden ist, so die von Johannes Calvin und anderen vertretene Prädestinationslehre, dem wird dadurch angezeigt, dass er von Gott erwählt ist. Denn nur aufgrund dessen Gnade sei es ihm gegeben, ein gottgefälliges und mit Reichtum gesegnetes Leben zu führen. Während über 1000 Jahre zuvor Augustinus gerade keine Verbindung zwischen Gottes Gunst und Erfolg oder Misserfolg auf Erden herstellen wollte, damit dem Christentum aus dem Niedergang Roms kein Schaden erwächst, glaubten viele Protestanten, nachdem die Christenheit das Abendland fest im Grifff hatte, Gottes Gnadenerweise im irdischen Erfolg zu erkennen. Ein spezifisch bürgerliches Berufsethos war entstanden. Mit dem Bewußtsein, in Gottes voller Gnade zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden, vermochte der bürgerliche Unternehmer, wenn er sich innerhalb der Schranken formaler Korrektheit hielt, sein sittlicher Wandel untadelig und der Gebrauch, den er von seinem Reichtum machte, kein anstößiger war, seinen Erwerbsinteressen zu folgen und sollte dies tun. Die Macht der religiösen Askese stellte ihm überdies nüchterne, gewissenhafte, ungemein arbeitsfähige und an der Arbeit als gottgewolltem Lebenszweck klebende Arbeiter zur Verfügung. Sie gab ihm dazu die beruhigende Versicherung, daß die ungleiche Verteilung der Güter dieser Welt ganz spezielles Werk von Gottes Vorsehung sei, der mit diesen Unterschieden ebenso wie mit der nur partikulären Gnade seine geheimen, 270 <?page no="270"?> uns unbekannten Ziele verfolge. 6 Die Gewissenhaftigkeit der Arbeiter war gesichert und Reichtum erhielt seine Berechtigung unmittelbar von Gott. Was konnte es für das Bürgertum Besseres geben. Weber hatte sich gefragt, weshalb protestantische Länder wie Großbritannien, die Niederlande oder die Vereinigten Staaten von Amerika vom kapitalistischen Wirtschaftsleben früher erfasst wurden als katholische. Die Antwort glaubte er in dieser religiösen Spielart gefunden zu haben, die vor allem in den USA bis heute durch die zahlreichen sogenannten Puritaner eine große Rolle spielt, wie Weber auf einer Reise dorthin selbst feststellte. Nachdem diese Lebensweise einmal etabliert war, konnte sich ihr niemand mehr entziehen, auch die die Katholiken nicht. Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden - nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen -, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist. Nur wie ›ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte‹, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist - ob endgültig, wer weiß es? - aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr. 7 6 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, S. 199. 7 Ebd., S. 203 f. 271 <?page no="271"?> Webers Mutter war eine streng gläubige Protestantin, die als Pietistin ebenfalls der Prädestinationslehre anhing. Auch wenn ihr Sohn sich selbst als »religiös absolut ›unmusikalisch‹« 8 bezeichnete, so kannte er genau die damit verbundenen religiösen Zwänge. Sie waren ihm durch seine Erziehung derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass er mit einer Intensität arbeitete, die in einen Nervenzusammenbruch und die Aufgabe seiner Universitätsprofessur mündete. Anders als Lenin war Weber nicht in der rückständigen russischen Provinz aufgewachsen, sondern im neuen mitteleuropäischen Zentrum der Macht: in Berlin. Otto von Bismarck hatte aus Preußen und damit aus seiner Hauptstadt den Mittelpunkt eines neu geschafffenen Deutschen Reiches geformt, nachdem der Spross alten ostpreußischen Adels im September 1862 vom preußischen König Wilhelm I. zum Ministerpräsidenten ernannt worden war. Zuvor hatte der König bereits daran gedacht, zugunsten seines Sohnes zurückzutreten, weil er sich mit der liberalen Mehrheit im Parlament nicht auf einen neuen Haushalt einigen konnte. Die Liberalen wollten den hohen Ausgaben für eine Heeresreform nicht zustimmen. Bismarck versprach dem König, seiner Linie zur Durchsetzung zu verhelfen. Dazu ignorierte er das Parlament einfach und regierte ohne rechtmäßigen Haushalt. Das war in Preußen nur möglich, weil die Revolution von 1848/ 49 gescheitert war und zwar Wahlen stattfanden, schlussendlich aber die volle Macht weiterhin beim König lag. Da es immerhin eine Verfassung gab, trug Bismarcks Vorgehen den Makel der Unrechtmäßigkeit. Das Verhältnis zwischen Parlament und Ministerpräsident zeichnete sich durch große Anspannung und Gereiztheit aus, weshalb mancher nicht daran glauben wollte, dass Bismarck diesen Kurs lange würde durchhalten können. Doch er war zäh und nutzte mit erstaunlicher Zielsicherheit jede Gelegenheit, die einen Zugewinn an Macht versprach. Gelegenheit dazu bot sich schon bald. Im November 1863 hatte der frisch gekrönte dänische König Christian IX. eine Verfassung erlassen, weil er angesichts des auch in Dänemark allgegenwärtigen nationalistischen Drängens einen Aufstand befürchtete. Wie schon 15 Jahre zuvor, wollte der Deutsche Bund diese nicht dulden, weil das die Herauslösung der beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein aus dem 8 Kaube, Max Weber, S. 69. 272 <?page no="272"?> Bundesgebiet bedeutet hätte. Bismarck konnte sich nun mühelos als Verteidiger jenes internationalen Abkommens hervortun, das 1848 die Festschreibung des Status in dieser Frage besiegelte. Das war taktisch wichtig, um eine Einmischung anderer Großmächte zu verhindern, passte den Nationalliberalen aber gar nicht, da diese Deutschland gerne auf Kosten des dänischen Königs vergrößert hätten. Bismarck setzte sich in erprobter Manier auch diesmal über den Widerstand von liberaler Seite hinweg. Um die anderen Großmächte zu beschwichtigen, bemühte sich der Ministerpräsident zusätzlich, Österreich für die nationale Sache zu begeistern. Gemeinsam rückten die beiden deutschen Mächte im Februar 1864 mit ihren Truppen in Holstein ein. Die unterlegenen Dänen zogen sich zu den stark befestigten Düppeler Schanzen zurück. Diese hätten die Angreifer nun einfach umgehen und ins dänische Kernland vordringen können, wie das die Militärführung vorschlug. Bismarck jedoch dachte nicht militärisch, denn der Sieg stand schon fest, sondern politisch. Bei einem Einmarsch in Kopenhagen und damit einer völligen Niederwerfung Dänemarks befürchtete er, Großbritannien auf den Plan zu rufen, das eine solche Verschiebung der Kräfteverhältnisse keinesfalls zulassen konnte. Eine Erstürmung der Düppeler Schanzen bot hingegen die Gelegenheit, mit einem ebenso heroisch inszenierten wie verlustreichen Kampf nationale Schwärmerei auszulösen. Der preußische Stratege lag mit seiner Einschätzung richtig: Die blutige Erstürmung löste in ganz Deutschland Begeisterung aus. Dieser eine Einsatz gegen den dänischen Nationalismus verwandelte den zuvor bekämpften Bismarck in den Augen der deutschen Nationalliberalen in einen bewunderten Streiter für die eigene Sache. Die Befeuerung des nationalen Stolzes durch eine kühne Tat reichte aus, um alle Dreistigkeiten Bismarcks vergessen zu machen. Bismarck selbst war kein nationaler Eiferer, sondern strebte schlicht nach Macht für Preußen - und damit auch für sich. Innerhalb des Deutschen Bundes stand ihm dabei die herausragende Position Österreichs im Weg. Die vertrackte Lage nach dem Krieg gegen Dänemark kam da gerade recht. Unter dem Vorwand, die Österreicher hielten sich nicht an Abmachungen, marschierten im Juni 1866 preußische Truppen in Holstein ein, woraufhin der Kaiser den Deutschen Bund um Hilfe anrief und auch bekam. Auf Preußens Seite stand Italien, das im Zuge seiner nationalen Einigung die Region Venetien über- 273 <?page no="273"?> nehmen wollte. Das Kaisertum konnte deshalb nicht alle Truppen nach Norden werfen und unterlag in der entscheidenden Schlacht am 3. Juli 1866 bei Königgrätz. Diesmal musste Bismarck seinen König zurückhalten, nicht in eine fremde Hauptstadt einzumarschieren. Wien zu nehmen, kam aus dem gleichen Grund nicht infrage, aus dem Kopenhagen zwei Jahre zuvor verschont wurde: Die europäischen Großmächte hätten einer völligen Unterwerfung Österreichs nicht tatenlos zugesehen. Stattdessen verleibte sich Preußen neben Holstein noch das Königreich Hannover, das Herzogtum Nassau und die freie Stadt Frankfurt am Main ein und erreichte so eine Verbindung des Stammlandes im Osten mit seinen Westgebieten rund um das Ruhrgebiet, die nach der Niederlage Napoléons dem Berliner Herrscherhaus zugeschlagen worden waren. Obwohl Bismarck Gebietsgewinne verzeichnete, verlor er an Ansehen bei den Nationalisten, denen ein innerdeutscher Krieg nicht gefallen konnte. Bismarcks Machthunger war noch immer nicht gestillt und schon bot sich eine neue Gelegenheit, ihm weiter nachzugeben. Nachdem das Militär in Spanien die Königin abgesetzt hatte, fiiel die Wahl auf Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen als Thronfolger. In Frankreich fürchtete man nun, von Hohenzollern eingekreist zu werden, stammte doch auch Wilhelm I. von Preußen aus diesem Adelsgeschlecht. Da Napoléon III. mit Krieg drohte, zog Wilhelm im Juli 1870 die Kandidatur zurück. Der französische Kaiser aber gab sich, von seinem diplomatischen Erfolg getragen, nicht zufrieden und forderte zusätzlich vom preußischen Königshaus das Versprechen, für alle Zeiten auf den spanischen Thron zu verzichten. Wilhelm teilte daraufhin seinem Ministerpräsidenten per Telegramm mit, dass er einer solchen Aussage gegenüber dem französischen Gesandten höflich ausgewichen sei. Während eines Abendessens mit zwei Generälen, die über die diplomatische Zurückhaltung ihres Königs zerknirscht waren, verkürzte Bismarck den Text in einer Weise, dass er einer barschen Ablehnung gleichkam. Diese Provokation wollte Napoléon nicht hinnehmen und erklärte den Krieg. Bismarck hatte sein Ziel erreicht: Frankreich stand als Angreifer da und Preußen konnte deshalb auf die Unterstützung der süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden zählen. Bereits im September des gleichen Jahres, nach nur sechs Wochen Krieg, stand die Niederlage Frankreichs fest. Nachdem Napoléon III. in deutsche Gefangenschaft geraten war, kam es 274 <?page no="274"?> allerdings in Paris zu einem Aufstand, wodurch sich die endgültige Kapitulation bis zum Januar 1871 hinauszögerte. Bismarck nutzte die Zwischenzeit, um gemeinsam mit den süddeutschen Staaten ein Deutsches Reich zu gründen, angeführt von der neu geschafffenen Position eines deutschen Kaisers, die stets in Personalunion vom preußischen König bekleidet werden sollte. Im neuen Deutschen Reich prallten verschiedene widerstrebende Kräfte aufeinander. Deren erste ließ sich allerdings schon mit dem Erfolg in Frankreich zähmen. Die Nationalliberalen waren zwar ursprünglich für mehr Freiheitsrechte und mehr politische Mitbestimmung eingetreten, schlussendlich lag ihnen aber vor allem die Schaffung eines deutschen Nationalstaats am Herzen. Nachdem Bismarck diesen mit seiner verwegenen Machtpolitik geschafffen hatte, arrangierten sich die Liberalen in ihrer nationalen Begeisterung mit dem absolutistischen Kaiserreich. Andere Bevölkerungsgruppen erlagen nicht so leicht dem Nationalismus. Insbesondere die aus Rom gelenkte katholische Kirche war dem Ministerpräsidenten ein Dorn im Auge. Um Einfluss auf die Lehrinhalte zu bekommen, mussten deshalb künftig alle Priester ein staatliches Theologie-Studium absolvieren und viele Klöster wurden aufgelöst. Außerdem ging die Aufsicht über die Schulen von den Kirchen auf den Staat über. Nicht mehr Rom, sondern Berlin gab nun vor, was Kindern beigebracht wurde. Diesem so genannten Kulturkampf folgte 1878 ein sogenanntes Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie. Hatte Bismarck die Sozialisten lange gefördert, weil sie im Parlament ein Gegengewicht zu den Nationalliberalen bildeten, wurde ihm nun die Macht der Arbeiterpartei zu groß. Sozialistische Vereine und Schriften wurden verboten, Tausende verhaftet oder des Landes verwiesen. Dennoch konnten die Sozialdemokraten in den folgenden Wahlen noch mehr Stimmen gewinnen, weshalb Bismarck auf eine andere Strategie umschwenkte. Verordneter »Staatssozialismus«, 9 wie er das selbst nannte, sollte den Sozialisten die Zustimmung der einfachen Bevölkerung rauben. Ab 1883 wurden Schritt für Schritt eine Kranken-, eine Unfall- und eine Altersversicherung mit einem klaren Ziel eingeführt: »Wer eine Pension hat für sein Alter, der ist 9 nach Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band, S. 908. 275 <?page no="275"?> viel zufriedener und viel leichter zu behandeln, als wer darauf keine Aussicht hat.« 10 Eine Revolution hingegen sei viel kostspieliger als eine solche Bestechung der Massen. Bismarck führte Reformen oder Kriege nicht durch, weil er an ihre Richtigkeit geglaubt hätte, sondern allein weil sie die Macht zu sichern versprachen. Um seine Ziele zu erreichen, trieb Bismarck die Scheidung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche radikal voran. Mit dem Kulturkampf wurde der Religion ihr bislang geradezu selbstverständlicher Einfluss auf das gesellschaftliche und insbesondere politische Leben entzogen. Die Wirtschaft erfuhr im Deutschen Reich starke Förderung, erhielt vor allem aber den Freiraum zur eigenen Entwicklung. Auch die Wissenschaft erhielt weitgehend freie Hand und zugleich wurden die Universitäten stark ausgebaut. Selbst das Rechtssystem funktionierte ordnungsgemäß, wenn man davon absieht, dass sich Bismarck zuweilen über die Verfassung hinweggesetzt hatte. Aus dem fortschrittsfeindlichen Absolutismus der Restauration, der sich auf ein religiöses Gottesgnadentum, rechtliche Willkür und wirtschaftliche Kontrolle stützte, hatte der Reichskanzler somit innerhalb von drei Jahrzehnten einen modernen Staat geformt, der sich von jeder Religion losgesagt und Wirtschaft ebenso wie Wissenschaft große Unabhängigkeit einräumt hat. Max Weber wuchs folglich in einer Welt auf, in der sich die Bereiche in ihrer Entwicklung voneinander trennten und größtenteils eine Phase des Aufschwungs erlebten. Trotz aller politischen Dominanz des Kanzlers erlebte Weber anders als Lenin einigermaßen getrennte »Wertsphären«. 11 25 Jahre nach Bismarcks Entlassung vom Amt spricht Weber von »Eigengesetzlichkeiten«, 12 denen Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion und Ästhetik folgten. Im Januar 1905 kam es in St. Petersburg zu einem Aufstand von 140 000 Arbeitern, woraufhin die Regierung auf die Demonstranten schießen ließ. Über 1000 Menschen wurden getötet und 5000 verwundet. Damit die Proteste nachließen, versprach der seit 1894 regierende Zar Nikolaus II. Grundrechte und Parlamentswahlen. Lenin hatte sich zwar auf den Weg gemacht, aber zu spät. Er kam erst an, als die revolutionäre Stimmung längst verflogen war und sie ließ noch 10 nach Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band, S. 910. 11 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, S. 537. 12 Ebd., S. 544. 276 <?page no="276"?> weiter nach. Schon zwei Jahre später fühlte sich der Zar wieder sicher genug, um das Parlament einfach zu entlassen. Nikolaus stand der Sinn keineswegs nach Reformen, sondern diese waren bloß ungeliebte Zugeständnisse gewesen, um die Unruhen einzudämmen. Lenin ging wieder zurück in die Schweiz, um von Neuem die Organisation der Bolschewiki zu stärken, schließlich zählten sie bislang nur wenige 1000 Mitglieder. Er sah die sozialistische Bewegung gerade auf dem Vormarsch, als ihn 1914 der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wie ein Schock traf. Dass die Fürsten nach Macht gierten, war ihm bewusst, und auch der nationale Eifer der Liberalen war ihm bekannt, schockiert aber hatte ihn die Haltung der deutschen Sozialdemokraten, die ihre Zustimmung zu Kriegskrediten gaben und damit den internationalen Zusammenhalt der Sozialisten aufkündigten. Die Verfechter der Klassentheorie hatten sich zum Nationalismus hinreißen lassen und traten nun mit Furor für den nationalen Kampf ein. Lenin war fassungslos, für ihn war das Verrat. Der Europa und die ganze Welt erfassende Krieg trägt den klar ausgeprägten Charakter eines bürgerlichen, imperialistischen, dynastischen Krieges. Kampf um die Märkte und Raub fremder Länder, das Bestreben, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und der Demokratie im Innern der Länder zu unterbinden, das Bestreben, die Proletarier aller Länder zu übertölpeln, zu entzweien und abzuschlachten, indem man im Interesse der Bourgeoisie die Lohnsklaven der einen Nation gegen die Lohnsklaven der anderen Nation hetzt - das ist der einzige reale Inhalt, die einzige reale Bedeutung des Krieges. 13 Der Krieg war gleichbedeutend mit dem Zusammenbruch der internationalen sozialistischen Bewegung, der Lenin nur im gemeinsamen Vorgehen Erfolg in Aussicht gestellt hatte. Fortan rangen nicht mehr Sozialisten mit Kapitalisten oder Aristokraten um die Macht im Staat, sondern es kämpften Deutsche zusammen mit Österreichern und Türken gegen Russen, Franzosen und Briten. Statt Klassenkampf gab es den Kampf der Nationen. Proletarier kämpften nicht mehr gemeinsam um politische Mitsprache, sondern gegeneinander je nachdem, auf welcher Seite der Staatengrenze sie lebten. So groß die nationale Begeisterung auf allen Seiten zu Beginn gewesen sein mag, der Krieg 13 Lenin, Werke. Band 21, S. 1 f. 277 <?page no="277"?> dauerte viel länger und seine schrecklichen Ausmaße waren viel größer als angenommen. Das Ansehen Lenins stieg deshalb in jenem Maße, in dem die Kriegsmüdigkeit zunahm. Insbesondere im wirtschaftlich zurückgebliebenen Russland verschlechterte sich die Versorgungslage mit Dauer der Kampfhandlungen dramatisch. Im Februar 1917 traten Arbeiter in St. Petersburg vom Hunger getrieben in einen Streik, dem sich immer mehr Russen und schließlich sogar die Soldaten anschlossen. Überall wurden Sowjets (Räte) gewählt, die die Verwaltung übernahmen. Die Revolution war in vollem Gange, der Zar gefangen. Mitten im Krieg wollte Lenin nun unbedingt von der Schweiz zurück in sein Heimatland reisen und tatsächlich erlaubte ihm Deutschland die Durchreise, weil es sich davon eine weitere Schwächung des Gegners im Osten erhofffte. Im April konnte der Bolschewik in St. Petersburg einen triumphalen Empfang feiern. Er forderte nichts weniger als die Zerschlagung des Staatsapparates und die Weltrevolution, wofür er sogleich von manchem als größenwahnsinnig verspottet wurde. Lag die Weltrevolution für die Russen tatsächlich in weiter Ferne, so war es dennoch Lenin, der für die nahe Zukunft einen klaren Weg aufzuzeigen vermochte. Wir sind alle darin einig, daß die Macht in den Händen der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten liegen muß. Aber was können und sollen sie tun, wenn die Macht auf sie übergeht, d. h. wenn die Proletarier und Halbproletarier die Macht haben werden? [...] Wenn sie die Macht in ihre Hände nehmen, dann wird das kein Staat im gewöhnlichen Sinne des Wortes mehr sein. Eine solche Staatsmacht - die sich längere Zeit gehalten hätte - hat es in der Welt noch nie gegeben, aber die ganze Arbeiterbewegung der Welt drängt zu ihr hin. [...] Eine solche Macht ist eine Diktatur, d. h., sie stützt sich nicht auf das Gesetz, nicht auf den formalen Willen der Mehrheit, sondern direkt, unmittelbar auf die Gewalt. Die Gewalt ist ein Werkzeug der Macht. Auf welche Weise werden die Sowjets diese Macht anwenden? Werden sie wieder vermittels der Polizei, vermittels der alten Machtorgane regieren? Meines Erachtens können sie das nicht, und jedenfalls steht vor ihnen die unmittelbare Aufgabe, einen nichtbürgerlichen Staat zu errichten. 14 14 Lenin, Werke. Band 24, S. 227 f. 278 <?page no="278"?> Alle Macht den Räten! Das forderte Lenin und außerdem die Bewafffnung des Volkes sowie eine Besoldung in Höhe des durchschnittlichen Arbeiterlohns für alle - auch für sich selbst. Außerdem hatte er eine klare Position bezüglich der drei drängenden Fragen zu Krieg, Landbesitz und Produktion: Frieden mit Deutschland, Enteignung der Gutsbesitzer und Kontrolle aller Fabriken durch die Arbeiter. Mit dieser ebenso einfachen wie radikalen Formel fand er viel Zustimmung. Rasant wuchs seine Arbeiterpartei auf 240 000 Mitglieder an, und das in einer Zeit, in der es insgesamt nur circa drei Millionen Arbeiter in Russland gab. Es stießen nicht nur Arbeiter zu den Bolschewiki, sondern auch zahlreiche Soldaten und Bauern. Die Bewegung erlangte zusätzliches politisches Gewicht als sie half, einen Militärputsch niederzuschlagen. Mit einer Nebenrolle wollte sich Lenin danach nicht mehr begnügen. Am 7. November 1917 (der nach altem russischen Kalender dem 25. Oktober entsprach) nahmen bewafffnete Bolschewiki alle wichtigen Punkte in St. Petersburg ein. Hatten sie soeben noch einen Umsturzversuch abgewendet, so unternahmen sie nun selbst einen Putsch, den sie Oktoberrevolution nannten. Schon am nächsten Tag konnten sie die Machtübernahme verkünden. Sogleich erfolgten, wie angekündigt, die Aufnahme von Friedensverhandlungen mit Deutschland, die Regelung des Landbesitzes und die Arbeiterkontrolle über die Produktion. Vor allem aber folgten drei Jahre Bürgerkrieg, weil sich viele Russen ebenso gegen die gewaltsame Machtübernahme wehrten wie gegen den damit einhergehenden Verlust ihres Besitzes. Die Bolschewiki hielten die Macht in Händen und waren nicht bereit, sie an die Sowjets zurückzugeben. Tonangebend blieb Lenin, dessen Stärke es war, komplizierte Sachverhalte in einfachen Worten darlegen zu können. Darüber hinaus zeichnete ihn ein sicherer politischer Instinkt aus. Er war eher bereit seine Prinzipien über Bord zu werfen, als die Macht abzugeben. Entsprechend war von Demokratie, Volksbewafffnung und aufgeklärtem Denken bald schon keine Rede mehr. Statt dessen gab es ein Verbot aller anderen Parteien, Bewafffnung ausschließlich der Parteigenossen und Einführung einer Geheimpolizei. Aus dem Berufsrevolutionär war ein waschechter Machiavellist geworden, der bereit war, seine Herrschaft mit allen Mitteln zu verteidigen. Doch nicht lange nachdem der Bürgerkrieg gewonnen und die Macht endgültig errungen war, musste Lenin sie schon 279 <?page no="279"?> wieder abgeben, denn im Mai 1922 ereilte ihn ein erster Schlaganfall. Nach zwei weiteren starb er am 21. Januar 1924. Obwohl er jeglichen Personenkult ablehnte, wurde ihm ein Mausoleum errichtet. Im Gegensatz zu Lenin begrüßte Max Weber den Ersten Weltkrieg freudig: »Denn einerlei wie der Erfolg ist - dieser Krieg ist groß und wunderbar.« 15 Wie viele andere Intellektuelle seiner Zeit war der Nationalökonom von der nationalen Euphorie erfasst und meldete sich freiwillig zum Dienst, den er in einer Lazarettkommission in Heidelberg weitab von der Front absolvierte. Doch schon 1915 bat er um Entlassung, die dem berühmten Professor, anders als den unzähligen Frontsoldaten, gewährt wurde. Warum aber befürworteten anfangs überhaupt so viele Deutsche den Krieg? Das lag sicherlich nicht zuletzt daran, dass die vorangegangenen Kriege, die mittlerweile immerhin über 40 Jahre zurücklagen allesamt glimpflich für Preußen verliefen. War nicht Frankreich im letzten Krieg binnen weniger Wochen niedergerungen worden, wobei keine 50 000 Männer fiielen. Niemand hatte Elend und Grausamkeit vor Augen, wenn er an Krieg dachte. Der deutsche Kaiser versprach sogar, dass die Soldaten zuhause sein würden »ehe noch das Laub von den Bäumen fällt.« 16 Man hatte den Triumph schon fest eingeplant. Die Realität sah völlig anders aus. Nachdem der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo von einem serbischen Nationalisten ermordet worden war, drängte es Teile der österreichischen Regierung zum Krieg. Allerdings war mit einem Eingreifen Russlands zu rechnen, das den Überfall auf eine slawische Nation nicht dulden würde. Da man sich dem nicht gewappnet sah, nahmen die Österreicher Kontakt zum Deutschen Reich auf. Dort hatte die Regierung ohnehin nur auf eine Gelegenheit gewartet, um in den Krieg ziehen zu können. Man glaubte, dass angesichts der Spannungen zwischen den Großmächten ein Krieg unausweichlich sei und man deshalb baldmöglichst die Entscheidung suchen sollte, weil man sich noch überlegen wähnte. Mit dieser Rückendeckung stellte Österreich unannehmbare Bedingungen und erklärte Serbien nach Nichterfüllung am 28. Juli 1914 schließlich den Krieg. Der Rest war eine Kettenreaktion: Der Zar leitete die Generalmobil- 15 nach Kaesler, Max Weber, S. 33. 16 nach Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band, S. 3. 280 <?page no="280"?> machung ein, worauf Deutschland am 1. August seinerseits die Truppen in Bewegung versetzte und Russland den Krieg erklärte. Seinen Bürgern verkündete Wilhelm, dass man nur auf den bevorstehenden russischen Angrifff reagiere. Am folgenden Tag marschierten deutsche Soldaten nicht nach Osten, sondern besetzten das völlig unbeteiligte Luxemburg, wodurch zwangsläufiig Frankreich seine Streitkräfte in Einsatzbereitschaft versetzte. Daraufhin erklärten die Deutschen auch ihrem großen Nachbarn im Westen den Krieg und marschierten in das neutrale Belgien ein. Dadurch fühlte sich wiederum Großbritannien herausgefordert und trat in den Krieg ein. Dass sich deutsche Einheiten nach Westen wendeten, obwohl sich der Konflikt im Osten zugespitzt hatte, lag einmal am russischfranzösischen Bündnis, mehr noch aber daran, dass man sich streng an den Schlieffen-Plan hielt, der vorsah, erst Frankreich wie schon 1870 binnen weniger Wochen zu überrollen, um dann alle Truppen in den Kampf gegen Russland werfen zu können. Daraus wurde nichts. Stattdessen kam die Westfront recht bald zum Stillstand. Gegenüber den Kriegen Jahrzehnte zuvor hatte sich die Wafffentechnik entscheidend verändert. Insbesondere Maschinengewehr und Flammenwerfer begünstigten die Verteidigungslinien, sodass es zu einem Stellungskrieg kam. Von der belgischen Küste bis zur Schweiz gruben sich die Truppen auf beiden Seiten ein und überzogen einander mit dem Feuer schwerer Geschütze und Giftgas. Der Schliefffen-Plan war gescheitert, ebenso wie die militärisch Verantwortlichen. Ohne Plan B waren die Generäle blindlings in den Krieg gezogen. Auf deutscher wie auch auf französischer Seite wusste man bald schon kein anderes Mittel mehr, als immer wieder Zehntausende Soldaten bei aussichtslosen Sturmangrifffen auf die bestens befestigten gegnerischen Stellungen in den Tod zu schicken. Nie gelang ein Durchbruch, doch solange noch Soldaten da waren, deren Blut vergossen werden konnte, wurde er engstirnig immer weiter versucht. Wie erschütternd das Leben sich an der Front abspielte, schildert der Veteran Erich Maria Remarque elf Jahre nach Kriegsende in seinem Buch Im Westen nichts Neues. Dort ist die Rede von stundenlangen Artilleriebombardements auf Schützengräben, in denen die Soldaten ausharren, um den nachfolgenden Sturmangrifff abzuwehren. Durch die Einschläge der Granaten werden die Leiber zerfetzt, im Nahkampf fügen sich verzweifelte Franzosen und Deutsche gegen- 281 <?page no="281"?> seitig Verletzungen zu, an denen sie über Stunden und Tage mitten im unzugänglichen Schlachtfeld qualvoll sterben und überall liegen blau angelaufene Leichen, wenn bei Giftgasangrifffen die Gasmasken nicht schnell genug zur Hand waren. Wieviel Leben und Mitgefühl diese menschgemachte Hölle vernichtet, mag ein Szene vom Beginn des Buches illustrieren, in der Soldaten nach einem heftigen Gefecht zur Essensausgabe anstehen: Unsere Gruppe bildete die Spitze der Schlange vor der Gulaschkanone. Wir wurden ungeduldig, denn der ahnungslose Küchenkarl stand noch immer und wartete. Endlich rief Katzczinsky ihm zu: ›Nun mach deinen Bouillonkeller schon auf, Heinrich! Man sieht doch, daß die Bohnen gar sind.‹ Der schüttelte schläfrig den Kopf: ›Erst müßt ihr alle da sein.‹ Tjaden grinste: ›Wir sind alle da.‹ Der Unteroffizier merkte noch nichts. ›Das könnte euch so passen! Wo sind denn die andern? ‹ ›Die werden heute nicht von dir verpflegt! Feldlazarett und Massengrab.‹ Der Küchenbulle war erschlagen, als er die Tatsachen erfuhr. Er wankte. ›Und ich habe für hundertfünfzig Mann gekocht.‹ Kropp stieß ihm in die Rippen. ›Dann werden wir endlich mal satt. Los, fang an! ‹ Plötzlich aber durchfuhr Tjaden eine Erleuchtung. Sein spitzes Mausegesicht fing ordentlich an zu schimmern, die Augen wurden klein vor Schlauheit, die Backen zuckten, und er trat dichter heran: ›Menschenskind, dann hast du ja auch für hundertfünfzig Mann Brot empfangen, was? ‹ Der Tomatenkopf nickte wieder. Tjadens Kiefer bebten. ›Tabak auch? ‹ ›Ja, alles.‹ Tjaden sah sich strahlend um. ›Donnerwetter, das nennt man Schwein haben! Das ist dann ja alles für uns! Da kriegt jeder ja - wartet mal - tatsächlich, genau doppelte Portionen! ‹ 17 17 Remarque, Im Westen nichts Neues, S. 10. 282 <?page no="282"?> Mindestens sieben Millionen Menschen verloren in den vier Jahren Krieg ihr Leben, weil die Generäle sich die Sinnlosigkeit ihres Tuns nicht eingestehen konnten. Einer ganzen Generation zerstörten sie jedes Lebensgefühl. Remarque schreibt über ein Lazarett: Im Stockwerk tiefer liegen Bauch- und Rückenmarkschüsse, Kopfschüsse und beiderseitig Amputierte. Rechts im Flügel Kieferschüsse, Gaskranke, Nasen-, Ohren- und Halsschüsse. Links im Flügel Blinde und Lungenschüsse, Beckenschüsse, Gelenkschüsse, Nierenschüsse, Hodenschüsse, Magenschüsse. [...] Bei manchen Verletzten hängt das zerschossene Glied an einem Galgen frei in der Luft; unter die Wunde wird ein Becken gestellt, in das der Eiter tropft. Alle zwei oder drei Stunden wird das Gefäß geleert. [...] Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muß alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, daß diese Ströme von Blut vergossen wurden, daß diese Kerker der Qualen zu Hunderttausenden existieren. Erst das Lazarett zeigt, was der Krieg ist. Ich bin jung, ich bin zwanzig Jahre alt; aber ich kenne vom Leben nichts anderes als die Verzweiflung, den Tod, die Angst und die Verkettung sinnlosester Oberflächlichkeit mit einem Abgrund des Leidens. Ich sehe, daß Völker gegeneinandergetrieben werden und sich schweigend, unwissend, töricht, gehorsam, unschuldig töten. Ich sehe, daß die klügsten Gehirne der Welt Waffen und Worte erfinden, um das alles noch raffinierter und länger dauernd zu machen. Und mit mir sehen das alle Menschen meines Alters hier und drüben, in der ganzen Welt, mit mir erlebt das meine Generation. Was werden unsere Väter tun, wenn wir einmal aufstehen und vor sie hintreten und Rechenschaft fordern? Was erwarten sie von uns, wenn eine Zeit kommt, wo kein Krieg ist? Jahre hindurch war unsere Beschäftigung Töten - es war unser erster Beruf im Dasein. Unser Wissen vom Leben beschränkt sich auf den Tod. Was soll danach noch geschehen? Und was soll aus uns werden? 18 Tatsächlich fanden nach dem Krieg viele Frontsoldaten nicht mehr in das gewöhnliche Leben zurück. Die über Jahre andauernden 18 Ebd., S. 235 fff. 283 <?page no="283"?> schrecklichen Erlebnisse hatten die jungen Männer untauglich für ein zivilisiertes Leben gemacht. Dabei hatte der deutsche Kriegsminister Erich von Falkenhayn den Krieg schon im November 1914 »eigentlich verloren« 19 gegeben, als keine Aussicht mehr bestand, Frankreich schnell niederzuwerfen. Die deutsche Bevölkerung sollte davon aber keinesfalls erfahren, hatte der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg doch wenige Wochen zuvor die Teilnahme an der Weltherrschaft als Kriegsziel ausgegeben. Weit über den deutschen Sprachraum hinaus sollten große Teile Mitteleuropas unterworfen, Frankreich mit Entschädigungszahlungen klein gehalten und Teile Russlands zu einer Puffferzone erklärt werden. Dorthin könne man auch gleich alle Juden umsiedeln, gegen die sich unter deutschen Nationalisten schon deutliche Ablehnung richtete. Von solch größenwahnsinniger Euphorie waren nicht nur Kaiser und Regierung erfasst, sondern ein großer Teil der gehobenen Schichten. Bekannte Professoren wie Max Weber und Georg Simmel ebenso wie die Schriftsteller Robert Musil oder Thomas Mann, der sich vom Krieg den »Zusammenschluß der Nation in der Bereitschaft zur tiefsten Prüfung« 20 erhofffte. Beim einfachen Volk hingegen blieb die Begeisterung teilweise aus, war doch die Not ohnehin groß genug und 1914 verließen die stärksten Arbeitskräfte ausgerechnet zur Erntezeit ihr Zuhause. Tatsächlich wurde im Lauf der Jahre die Versorgungslage immer schlechter. Die deutsche Industrieproduktion halbierte sich und die österreichische Getreide-Ernte verringerte sich sogar auf ein Zehntel gegenüber der Vorkriegszeit. Im Januar 1918 traten in Österreich und vorwiegend in Wien, angetrieben von der Hungersnot einerseits und der Oktoberrevolution in Russland andererseits, über eine halbe Million Arbeiter in Streik. Indem man Lebensmittellieferungen und Friedensverhandlungen versprach, konnte der Ausstand größtenteils sechs Tage später beendet werden. Die Versprechungen wurden allerdings nicht eingehalten, sondern die Anführer der Streiks verhaftet oder an die Front geschickt. Im Deutschen Reich folgte am Ende des selben Monats ein Streik von über einer Million Arbeitern aus gleichen Gründen. Allein in Berlin demonstrierten 400 000 Menschen. Angesichts der offfensichtlichen Bereicherung der Unternehmer in der Kriegsindustrie erhoben sie 19 nach Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band, S. 11. 20 nach ebd., S. 14. 284 <?page no="284"?> Lohnforderungen. Die Streiks wurden militärisch niedergeschlagen, die Anführer zu Landesverrätern erklärt und die Löhne sogar noch gesenkt. Ausgerechnet durch die Revolution in Russland besserte sich die Situation für das Deutsche Reich nach jahrelangem Stillstand im Stellungskrieg. Verglichen mit den Alliierten im Westen befanden sich Deutsche und Österreicher am Ende ihrer Kräfte, die Erschöpfung der Russen aber war noch weiter fortgeschritten. Sie hatten den deutschen Angrifffen nichts mehr entgegenzusetzen, außerdem hatte Lenin seinen Mitstreitern den Frieden versprochen. Wenige Wochen nach der Niederschlagung der Streiks konnte die Deutsche Führung den notgedrungen verhandlungsbereiten Russen im März 1918 den demütigenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk aufzwingen. Gemäß Vertrag fiielen das Baltikum und die Ukraine an das Deutsche Reich, das sein Herrschaftsgebiet somit bis kurz vor St. Petersburg und bis ans Schwarze Meer ausdehnen konnte. Eben noch von inneren Unruhen gebeutelt, feierten der Kaiser und seine Militärs einen Triumph. Zugleich verschlechterte sich die Lage im Westen, was auch an der deutschen Art des Seekriegs lag. Während zu Lande die Menschen massenweise in den Tod geschickt wurden, verblieb die deutsche Flotte weitgehend in den Häfen, weil die britische Überlegenheit zur See einfach zu groß war. Die Deutschen hatten sich deshalb auf Angrifffe mit Unterseebooten verlegt, die sich allerdings nicht nur gegen Kriegsschifffe richteten. Entsprechend verloren viele Zivilisten ihr Leben, darunter auch US-Bürger. Nachdem die Deutschen daraufhin noch Mexiko zum Wafffengang gegen seinen nördlichen Nachbarn aufgefordert hatten, erklärte die US-amerikanische Regierung schließlich dem Kaiserreich im April 1917 den Krieg. Spätestens von da an verschob sich das militärische Gleichgewicht zugunsten der Alliierten. Nur drei Monate nach dem Friedensvertrag mit Russland musste die deutsche Militärführung sich schließlich eingestehen, dass im Westen unaufhaltsam die Niederlage heraufzog. Die Alliierten verfügten sowohl über mehr Flugzeuge als auch über die neuartigen Panzer, gegen die das Maschinengewehr als Abwehrwafffe machtlos war. Mitte September konnte das völlig ausgezehrte Österreich-Ungarn nicht mehr umhin und musste um Friedensverhandlungen mit den Alliierten ersuchen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch der Zusammenbruch des Deutschen Reiches feststand. 285 <?page no="285"?> Dann aber wollten die Verantwortlichen wenigstens mit reiner Weste dastehen. Damit Kaiser und militärische Führung von ihrer selbstverschuldeten Schande möglichst unberührt blieben, drängte General Erich Ludendorff darauf, dass Wafffenstillstand und Frieden durch eine parlamentarische Regierung ausgehandelt werden sollten. Dabei kam ihm gelegen, dass der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson es ablehnte, mit dem Kaiser zu verhandeln. Also ernannte man zum Reichskanzler jenen Adligen, der gegenüber den Alliierten Friedensbereitschaft noch am ehesten verkörpern würden, und führte am 28. Oktober 1918 kurzerhand die konstitutionelle Monarchie ein. Regierung und Oberbefehl lagen nun offfiiziell nicht mehr beim Kaiser, sondern bei Reichskanzler Max von Baden, allerdings ohne dass sich das Militär tatsächlich unterordnete. So gab schon am nächsten Tag die Admiralität den Befehl, die Anker zu lichten. Um die deutsche Flotte nicht kampflos zu übergeben, sollten bei einem aussichtslosen Angrifff auf Großbritannien die Schifffe zerstört und Tausende Matrosen ins sichere Verderben geschickt werden. Doch es kam zur Meuterei, die sich vom Kriegshafen in Kiel aus schnell zu einem landesweiten Aufstand ausweitete. Am 9. November verkündeten die Sozialdemokraten in Berlin die Republik und setzten Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung für Februar an. Zwei Tage später wurde mit Unterzeichnung des Wafffenstillstands der Erste Weltkrieg beendet. Im Mai 1919 wurde im französischen Königsschloss Versailles der deutschen Delegation, der auch Max Weber angehörte, ein Friedensvertrag vorgelegt, an dessen Erarbeitung sie nicht beteiligt worden war. Nicht zufällig wählte man hierfür den vierten Jahrestag der Versenkung der RMS Lusitania durch ein deutsches U-Boot. Durch Zerstörung des unbewafffneten Passagierschifffes waren 1200 Zivilisten aus verschiedenen Ländern ertrunken. Wie diese heimtückische Tat, so sprachen die Siegermächte im Versailler Vertrag die ganze Schuld am unermesslichen Leid von vier Jahren Krieg Deutschland zu, das nun Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen zu leisten hatte. Frankreich holte sich Elsaß-Lothringen wieder, das Bismarck nach seinem Sieg 1871 vereinnahmt hatte. Dänemark erhielt Nordschleswig und damit einen Teil jenes Gebiets zurück, das Bismarck 1864 Preußen angegliedert hatte. Polen bekam jene Teile Preußens, die sich im 18. Jahrhundert Friedrich der Große einverleibt hatte. Daneben fiielen 286 <?page no="286"?> kleine Gebiete an Belgien und die neu gegründete Tschechoslowakei. Im Vertrag von St. Germain wurde sechs Wochen später die Aufteilung Österreich-Ungarns festgehalten. Gemäß Wilsons Grundsatz vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, ließ man einige neue Staaten entstehen, in den meisten Fällen ohne die Bewohner tatsächlich zu befragen. Auf diese Weise entstanden die Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien. Große Gebiete fiielen an Rumänien. Die Vertreter Österreichs sprachen sich unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht für einen Anschluss an das Deutsche Reich aus, was verweigert wurde, weil man die Stärke eines Staates mit 70 Millionen Bürgern fürchtete. Da aber nur etwa sieben Millionen davon in Österreich lebten, hatte das Deutsche Reich auch so enormes Gewicht. Die deutsche wie österreichische Bevölkerung empfanden Zustandekommen und Bestimmungen der Friedensverträge als Schmach und begehrten dagegen auf. Hatte die militärische Führung ihr gegenüber doch stets davon gesprochen, dass der Sieg bevorstehe und man überlegen sei. Und stand man nicht im Osten tatsächlich am Schwarzen Meer? Außerdem waren im Westen die Alliierten gar nicht einmarschiert. Die Militärs hatten die aussichtslose Lage an der Front erkannt, doch der Bevölkerung war sie verschwiegen worden. Die Delegierten hatten sogar erwogen, die Unterzeichnung des Versailler Vertrags zu verweigern. Doch mit ihrem nationalen Ehrgefühl vermochten sie die damit verbundene Besetzung durch alliierte Truppen nicht zu vereinbaren. So aber machten sie sich und damit die neu entstehende Republik verantwortlich für eine Friedensregelung, die große Teile der Bevölkerung ablehnten, weil sie von ihrer Unvermeidbarkeit nichts ahnten. Die für die Republik stellvertretende Regierung hatte mit ihrer ersten entscheidenden Tat etwas vollzogen, was die meisten Bürger nicht nachvollziehen konnten und den vielen leidgeprüften Soldaten wie geringschätzige Verachtung ihrer jahrelangen Kampfmoral vorkommen musste. Die Aussichtslosigkeit der Lage blieb den Deutschen verborgen, die Fügung der republikanischen Regierung in die Vorgaben der Alliierten nicht. Die Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte im Zeichen der Selbstbestimmung der Völker. Doch die Siegermächte in Versailles entschieden darüber, welche Gebiete mit welcher Bevölkerung zu einem Volk zusammengefasst wurden. Vor einem riesigen deutschen Volk, das Österreich eingeschlossen hätte, schreckte 287 <?page no="287"?> man dabei zurück. Im fortwährenden Wahn des Nationalismus übersah man die Möglichkeit, die politische Ordnung unabhängig vom völkischen Homogenitätsglauben zu gestalten. Die nationalistische Überzeugung, einfach per Grenzziehung Völker voneinander zu trennen und in ein friedliches Nebeneinander überführen zu können, machte blind für das unveränderte kämpferische Momentum eines jeden Nationalismus. Natürlich wollten die Deutschen gerade in ihrer vermeintlich völkischen Einheit den Versailler Vertrag nicht akzeptieren und ebenso natürlich gab es im aufgeteilten Österreich-Ungarn allerorten Minderheiten, denen übel mitgespielt wurde. Zu allem Überfluss hatte man Teile des ebenfalls zu den Verlierermächten gehörenden Osmanischen Reiches zur Verwaltung an Großbritannien und Frankreich gegeben, was bei den Bewohnern ebenfalls auf Widerstand stieß. Weber, der keine Fronterfahrung hatte und aus dem Kriegsdienst ausgetreten war, konnte dem Krieg trotzdem Positives abgewinnen: Der Krieg als die realisierte Gewaltandrohung schafft, gerade in den modernen politischen Gemeinschaften, ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft der Kämpfenden und überdies eine Arbeit des Erbarmens und der alle Schranken der naturgegebenen Verbände sprengenden Liebe zum Bedürftigen als Massenerscheinung aus, welcher die Religionen im allgemeinen nur in Heroengemeinschaften der Brüderlichkeitsethik ähnliches zur Seite zu stellen haben. Und darüber hinaus leistet der Krieg dem Krieger selbst etwas, seiner konkreten Sinnhaftigkeit nach, Einzigartiges: in der Empfindung eines Sinnes und einer Weihe des Todes, die nur ihm eigen ist. Die Gemeinschaft des im Felde stehenden Heeres fühlt sich heute, wie in den Zeiten der Gefolgschaft, als eine Gemeinschaft bis zum Tode: die größte ihrer Art. Und von jenem Sterben, welches gemeines Menschenlos ist und gar nichts weiter, ein Schicksal, welches jeden ereilt, ohne daß je gesagt werden könnte, warum gerade ihn und gerade jetzt, [...] - von diesem lediglich unvermeidlichen Sterben scheidet sich der Tode im Felde dadurch, daß hier, und in dieser Massenhaftigkeit nur hier, der Einzelne zu wissen glauben kann: daß er ›für‹ etwas stirbt. 21 21 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, S. 548. 288 <?page no="288"?> In Wirklichkeit forderte die Fronterfahrung nicht nur Millionen sinnloser Todesopfer, sondern es kehrten auch diejenigen, die diese Hölle aus stundenlangem Artilleriebombardement, unentwegtem Maschinengewehrfeuer, hinterhältigen Gasangrifffen und zerfetzten Menschenkörpern überlebt hatten, völlig brutalisiert und unfähig zu einem zivilen Leben nach Hause zurück. Die ehemaligen Soldaten trauerten der rauen Männerwelt in den Schützengräben nach, die für sie über die Jahre zur Normalität geworden war und die sie wehmütig Kameradschaft nannten. Mit friedlichen Konfliktlösungen und einem Gemeinschaftsleben, das nicht durch den Kampf gegen einen Feind zusammengehalten wird, zeigten sie sich jedoch überfordert. Weber hingegen, der die Front nie gesehen hatte, fand schnell ins zivile Leben zurück, trat eine Professur für Nationalökonomie an der Universität München an und machte sich daran, Macht, Herrschaft und Disziplin idealtypisch zu unterscheiden. Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden; Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden. [...] Der Begriffder ›Disziplin‹ schließt die ›Eingeübtheit‹ des kritik- und widerstandslosen Massengehorsams ein. 22 Macht bezeichnet demnach jede Art von Durchsetzungsfähigkeit, bei Herrschaft geht es um Befehlsgewalt gegenüber bestimmten Personen und bei Disziplin um die maschinengleiche Steuerbarkeit von Menschenmassen. Letzteres muss sich so kurz nach dem Krieg unweigerlich auf den Alltag der Soldaten bezogen haben. Ansonsten hätte man von Disziplin auch im Zusammenhang mit kleineren Gruppen wie Schulklassen oder gar Selbstdisziplin sprechen können. Die Ausführungen Remarques zeigen, dass die Frontsoldaten durchaus darüber nachdachten, den Dienst zu verweigern. Die Disziplin entsprang 22 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28 f. 289 <?page no="289"?> ihm zufolge weniger der von Weber betonten Eingeübtheit als vielmehr schlichter Todesangst. Man tötete den Gegner, um nicht getötet zu werden; und man floh deshalb nicht, weil man der Erschießung als Deserteur entgehen wollte. Im unmenschlichen Kampfgeschehen war Disziplin nur mit blanker Todesdrohung zu erzwingen, Widerstandslosigkeit folgte lediglich aus Unentrinnbarkeit. Während in Webers Beschreibung Disziplin wie ein Sonderfall von Herrschaft anmutet, hatte sich an der Front beides vollständig entkoppelt. Die Soldaten verhielten sich angesichts des unentwegt erlittenen Grauens erstaunlich diszipliniert, wogegen das von Weber für ein Herrschaftsverhältnis vorausgesetzte Gehorchenwollen längst erstorben war. Ein bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis. [...] Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ›Legitimität‹ zu erwecken und zu pflegen. 23 Um Bereitschaft für Gehorsam zu fiinden, strebten Herrschende danach, ihren Vorrang zu rechtfertigen. Je besser das gelingt, desto eher kann Fügsamkeit unabhängig von nackter Drohung erwirkt werden. Die Inhaber der Herrschaft begnügen sich nicht mit den damit verbundenen Vorteilen, es verlangt sie regelmäßig danach, ihre Stellung auch als gerechtfertigt betrachten zu dürfen. Sie wollen selbst glauben und wollen glauben machen, dass ihr Vorrang legitim sei. Die Beherrschten sollen ihre eigene Unterordnung bejahen und aus Überzeugung gehorsam sein. Daß für die Herrschaft diese Art der Begründung ihrer Legitimität nicht etwa eine Angelegenheit theoretischer oder philosophischer Spekulation ist, sondern höchst reale Unterschiede der empirischen Herrschaftsstrukturen begründet, hat seinen Grund in dem sehr allgemeinen Tatbestand des Bedürfnisses jeder Macht, ja jeder Lebenschance überhaupt, nach Selbstrechtfertigung. Die einfachste Beobachtung zeigt, daß bei beliebigen auffälligen Kontrasten des Schicksals und der 23 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122. 290 <?page no="290"?> Situation zweier Menschen, es sei etwa in gesundheitlicher oder in ökonomischer oder in sozialer oder welcher Hinsicht immer, möge der rein ›zufällige‹ Entstehungsgrund des Unterschieds noch so klar zutage liegen, der günstiger Situierte das nicht rastende Bedürfnis fühlt, den zu seinen Gunsten bestehenden Kontrast als ›legitim‹, seine eigene Lage als von ihm ›verdient‹ und die des anderen als von jenem irgendwie ›verschuldet‹ ansehen zu dürfen. 24 Gewaltdrohung kann Herrschaft herstellen, ein Anspruch auf Legitimität bedarf aber anderer Quellen. Weber unterscheidet wiederum idealtypisch drei verschiedene Arten: Einmal die Autorität des ›ewig Gestrigen‹: der durch unvordenkliche Geltung und gewohnheitsmäßige Einstellung auf ihre Innehaltung geheiligten Sitte: ›traditionale‹ Herrschaft, wie sie der Patriarch und der Patrimonialfürst alten Schlages übten. Dann: die Autorität der außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe (Charisma), die ganz persönliche Hingabe und das persönliche Vertrauen zu Offenbarungen, Heldentum oder anderen Führereigenschaften eines einzelnen: ›charismatische‹ Herrschaft, wie sie der Prophet oder - auf dem Gebiet des Politischen - der gekorene Kriegsfürst oder der plebiszitäre Herrscher, der große Demagoge und politische Parteiführer ausüben. Endlich: Herrschaft kraft ›Legalität‹, kraft des Glaubens an die Geltung legaler Satzung und der durch rational geschaffene Regeln begründeten sachlichen ›Kompetenz‹, also: der Einstellung auf Gehorsam in der Erfüllung satzungsmäßiger Pflichten: eine Herrschaft, wie sie der moderne ›Staatsdiener‹ und alle jene Träger von Macht ausüben, die ihm in dieser Hinsicht ähneln. 25 Herrscher berufen sich demnach entweder auf uralte Tradition wie etwa Fürsten, oder auf ihr Charisma wie Propheten und große Feldherren, oder auf das Gesetz wie Anhänger einer Republik. Sie alle beanspruchen gleichermaßen Legitimität für ihre Herrschaft, obwohl sich die herangezogenen Begründungen massiv unterscheiden. Weber gelten alle Begründungen gleich, er macht keinen Unterschied 24 Ebd., S. 549. 25 Weber, Gesammelte Politische Schriften, S. 507. 291 <?page no="291"?> hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit. Die Herrschaft einer demokratisch gewählten Regierung, die ihre Macht gesetzlich geregelten Verfahren verdankt, galt ihm ebenso viel wie diejenige eines tyrannischen Königs oder eines kriegerischen Helden. So sehr eine solche Betrachtungsweise analytisch fruchtbar sein mag, sie verwischt alle politischen und historischen Unterschiede. In einer solchen Haltung schlägt sich auch nieder, was Weber und mit ihm seine gesamte Generation erfahren hat. Bis zum Kriegsende beanspruchte der deutsche Kaiser seine Herrschaft aufgrund Gottes Gnade, wogegen in England, Frankreich oder den USA längst jeder Anspruch auf Legitimität ohne Zustimmung der Bevölkerung undenkbar geworden war. Obwohl er sich nur auf eine Tradition von wenigen Jahrzehnten berufen konnte, galt Wilhelm den Deutschen trotzdem mehr als ein gewähltes Parlament. Vor allem aber genoss die charismatische Führung einer einzelnen herausragenden Persönlichkeit größtes Vertrauen. Seit Bismarcks glorreichen Taten traute man eher dem Kaiser zu, einen Kanzler zu fiinden, der durch den Dschungel der Politik zu führen verstand, als gewählten Vertretern des Volkes. Dabei durfte sich der Mann an der Macht über jedes Gesetz und jede Verfassung hinwegsetzen, wenn er nur den Weg wies. Diesen selbst zu fiinden, trauten sich die Deutschen Anfang des 20. Jahrhunderts offfenbar noch immer nicht selbst zu. Auf diese Weise äußerte sich Bismarcks Ruhm, der zugleich ein Fluch war. Er gab dem deutschen Reich eine (wenn auch ziemlich preußische) Einheit, die dem Volk wenige Jahrzehnte zuvor verweigert worden war. Er machte den Krieg zu einer begeisternden Kraft, aus der die Bewohner des gewaltigen Staates ihren Zusammenhalt bezogen hatten. Er reduzierte Legitimität auf eine Frage des Resultats, zu dem die Beherrschten Beifall zu klatschen hatten. Nach Bismarcks Geniestreichen empfiing aller Machtgebrauch in Deutschland seine Berechtigung nicht aufgrund des vorangehenden Zustandekommens, sondern im Nachhinein aufgrund der politischen Erfolge, gleichgültig wie sie zuwege gebracht worden waren. Legitim war, was erfolgreich war. Dabei konnte jeder Regent auf die Ergebenheit jenes bürokratischen Apparates zählen, den Weber als ebenso unentrinnbar ansah wie den Kapitalismus. Die Bürokratie arbeitete demzufolge in einem Maße diszipliniert, dass nur noch entscheidend war, wer an der Spitze stand: 292 <?page no="292"?> Eine leblose Maschine ist geronnener Geist. Nur daß sie dies ist, gibt ihr die Macht, die Menschen in ihren Dienst zu zwingen und den Alltag ihres Arbeitslebens so beherrschend zu bestimmen, wie es tatsächlich in der Fabrik der Fall ist. Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt. Im Verein mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich [...] ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt: eine rationale Beamtenverwaltung und -versorgung der letzte und einzige Wert ist, der über die Art der Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll. Denn das leistet die Bürokratie ganz unvergleichlich viel besser als jegliche andere Struktur der Herrschaft. 26 Der etwas leidende Unterton in Webers Schriften dürfte das Empfiinden vieler Angehöriger des deutschen Kaiserreichs trefffen, die in romantischer Rückwärtsgewandtheit dem Kapitalismus, der Rationalisierung und der Demokratie skeptisch gegenüberstanden. In einer Welt des Wandels und des Fortschritts versprechen Tradition und charismatische Führung sowohl Geborgenheit als auch Schutz. Man kann wie ein Soldat seine Aufgaben erfüllen, Verantwortung und Fürsorgepflicht aber in die Hände anderer legen. Geborgenheit verspricht auch die Nation, der gegenüber sich der Nationalliberale Weber zuletzt allerdings geradezu distanziert äußert, womit er wiederum keineswegs dem Zeitgeist entsprochen haben dürfte. ›Nation‹ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber aber, wie jene Gruppen abzugrenzen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln 26 Weber, Gesammelte Politische Schriften, S. 332. 293 <?page no="293"?> aus jener Solidarität zu resultieren habe, herrscht Übereinstimmung. 27 Nichts mehr ist übrig von der völkischen Einheit und Überlegenheit aufgrund von Sprache und Kultur. Die Nation erscheint nur noch als Zumutung. Wie sehr er damit Recht behalten sollte, erlebte Weber nicht mehr, denn er starb im Juni 1920 an einer Lungenentzündung. Zwei Jahre später veröfffentlichte seine Frau aus dem Nachlass das 900 Seiten starke Werk Wirtschaft und Gesellschaft, mit dem Weber zu einem der einflussreichsten Politologen und Soziologen wurde. Seine abgeklärte Sicht auf Legitimität wurde nunmehr als Analyse- Instrument genutzt, bei dessen Verwendung der zugrunde liegende politische Erfahrungsraum keine Berücksichtigung fand. Weber vertritt ein Analyse-Instrument, das sich wertfrei gibt. Hat er aber nicht selbst darauf hingewiesen, dass es keine Objektivität geben kann, dass jeder Blick auf die Mannigfaltigkeit der Welt notwendig unvollständig bleibt? Man kann zwar idealtypisch vorgehen, um Vergleiche anzustellen, das verhindert jedoch nicht, dass schon zur Bildung von Idealtypen eine Perspektive eingenommen werden muss, denn die Natur kennt keine Idealtypen. Kann es vor diesem Hintergrund wertfrei sein, wenn man die inhaltliche Begründung von Regierungssystemen gleichrangig gegenüberstellt? Kann man väterliche Erziehungsmethoden wertfrei gegenüberstellen, wenn man allein auf ihre Legitimationsansprüche schaut? Oder übersieht man dabei, dass Rechtfertigungen und Wirkungen eng verwoben sind? Lassen sich zwischen Demokratie und Diktatur hinsichtlich ihrer Legitimität tatsächlich keine nennenswerten Unterschiede fiinden? Natürlich kann man sagen, dass jede Herrschaft ihre eigene Position zu legitimieren sucht, doch das gilt geradezu universell. Jede Person versucht ihre Position zu legitimieren: Monarchen, Firmeneigentümer und Terroristen gleichermaßen. Lässt sich aus diesem Anspruch allein eine gleichrangige Legitimität ableiten? Webers Ausführungen verleiten dazu, weil sie jeden weiteren Unterschied relativieren. Man kann aber wohl ebenso sagen, dass Weber bewusst jede Untersuchung der Tragfähigkeit von Legitimitätsansprüchen ausblendet, dass also schon seine Perspektive keine Beurteilung ermöglicht. Selbst Webers eigenen Anspruch dahingehend, Konsequenzen aus der einen oder anderen 27 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 528. 294 <?page no="294"?> Haltung abzuleiten, muss man als nur unvollständig erfüllt ansehen. Mag noch einigermaßen geklärt sein, welche Konsequenzen sich für die Herrschaft aus den jeweiligen Legitimitätsansprüchen ergeben, so bleiben die Konsequenzen für die Beherrschten weitgehend im Dunkeln. Gerade diese wären aber in höchstem Maße relevant, zeigt doch das Beispiel Lenins, dass die Legitimitätsansprüche von Herrschaft unmittelbare Folgen für die Umsetzung derselben haben. Der bürokratische Apparat ließ sich eben nicht in gleicher Weise weiterhin nutzen und die Macht ließ sich auf der beanspruchten Grundlage nicht sichern, ohne einschneidende Maßnahmen zu ergreifen, die mit der ursprünglichen Haltung nicht mehr in Deckung zu bringen waren. 295 <?page no="295"?> 17 Woher stammten für Schmitt, Adorno und Parsons die Grundlagen des Zusammenlebens? Als Carl Schmitt 1907 ein Studium der Rechtswissenschaften in Berlin aufnahm, empfand er den Individualismus in der Stadt als abstoßend. Streng katholisch in der provinziellen, sauerländischen Kleinstadt Attendorn aufgewachsen, erlebte er die Metropole mit damals schon einer Bevölkerung von zwei Millionen als Schock. Nach einem Jahr wechselte er deshalb nach München. Doch auch die halbe Million Einwohner dort war ihm zu viel und ließ ihn bald ins beschauliche Straßburg weiterziehen, wo er Studium und Promotion zu Ende brachte. Danach meldete er sich 1915 freiwillig zum Kriegsdienst. Der junge Jurist wurde nicht an die Front geschickt, sondern für Verwaltungsarbeiten ins Generalkommando eingeteilt. Im selben Jahr ging er die Ehe mit einer vermeintlichen slawischen Adelstochter ein, die sich später jedoch als Hochstaplerin erwies. Während Gleichaltrige in den Schützengräben um ihr Leben kämpften, habilitierte Schmitt neben seiner Bürotätigkeit und wurde unmittelbar nach dem Krieg als Hochschullehrer berufen. In seiner neuen Stellung als Professor der Rechtswissenschaften begann er 1922 seinen Text Politische Theologie mit den Worten: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« 1 Für den Hochschullehrer, der den juristischen Nachwuchs für die junge demokratische Republik ausbilden sollte, lag die Souveränität nicht beim Volk, sondern bei demjenigen, der die Verfassung auszuhebeln vermag. Der Rechtswissenschaftler interessiert sich weniger für die Möglichkeiten der Rechtsetzung als für jene, das Recht außer Kraft zu setzen. Schmitt hegte offfensichtlich gewaltige Vorbehalte gegenüber dem Verfassungsstaat. Damit war er nicht allein. Nach dem 1 Schmitt, Politische Theologie, S. 13. 296 <?page no="296"?> Ende des Kaiserreichs wurden die alten Eliten nicht entmachtet, sondern saßen an den Spitzen von Verwaltung, Armee und Universität. Mitten in der Demokratie verfügten altgediente Monarchisten über weitreichenden bürokratischen, militärischen und wissenschaftlichen Einfluss. An den Hochschulen blieb das nicht ohne Auswirkungen auf die Auswahl des Nachwuchses, sodass wenig republikfreundliche Kräfte wie Carl Schmitt nachrücken konnten. Die Weimarer Republik respektierte von Beginn an die vermeintliche Unabhängigkeit der Wissenschaft, was zur Folge hatte, dass der Geist der Monarchie aus den Hochschulen ebenso wenig verschwand wie aus Bürokratie und Militär. Unter den gegebenen Umständen brachten die Freiheiten der Universitäten jedoch keine Freiheit der Lehre, sondern bewahrten die Ewiggestrigen vor frischem Wind. Die Vertreter der alten Denkweise vermissten ein klares Machtzentrum, einen über allem stehenden Machthaber. Die republikanische Machtbegrenzung einzelner erschien ihnen nicht als Stärke des neuen Staatswesens, sondern als Schwäche. Aus Bismarcks Zeit war offfenbar noch in den Köpfen, dass trotz Parlamentarismus alles Entscheidende von einer Zentralgewalt geregelt werde. Als wäre der Absolutismus im 20. Jahrhundert noch selbstverständlich, konnte sich auch Schmitt ein Staatswesen ohne einen solchen übergeordneten Souverän nicht vorstellen: »Alle Tendenzen der modernen rechtsstaatlichen Entwicklung gehen dahin, den Souverän in diesem Sinne zu beseitigen. [...] Aber ob der extreme Ausnahmefall wirklich aus der Welt geschaffft werden kann oder nicht, das ist keine juristische Frage.« 2 Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs war für Schmitt der Ausnahmezustand zum Normalfall geworden, hinter den der Normalzustand als vernachlässigbare Ausnahme zurücktritt. Tatsächlich waren nicht nur die Kriegsjahre und die Umbrüche danach ständige Ausnahmezustände, sondern schon in den Jahrzehnten zuvor vollzog Bismarck die großen politischen Entscheidungen nicht entlang gesetzlicher Verfahren, sondern durch die wiederholte Herbeiführung von Ausnahmesituationen. Die deutsche Erfahrung jedenfalls verleitete zur Annahme, dass man Verfassungsstaatlichkeit in belanglosen Zeiten der Ordnung halber betreiben könne, Entscheidendes aber nur durch souveräne Führung zustande gebracht werden kann. 2 Ebd., S. 14. 297 <?page no="297"?> Nun sollte die neue, sogenannte Weimarer Verfassung die Grundlage für einen modernen, republikanischen Rechtsstaat nicht nur in einfachen Perioden bilden, sondern ähnlich wie in den USA auch in Krisen- und Kriegszeiten weiterbestehen. Offfenbar wagte es der federführende Verfasser Hugo Preuß nicht, die ganze Macht in die Hände des Parlaments zu legen, und gab dem neuen Amt des Reichspräsidenten Vollmachten, die dieses in die Nähe eines Ersatzmonarchen rückten: Der Präsident ernannte den Reichskanzler und hatte den militärischen Oberbefehl; vor allem aber durfte er den Kanzler entlassen, das Parlament auflösen und konnte gemäß Art. 48 nach eigenem Ermessen Grundrechte suspendieren und Notverordnungen erlassen. Zwar ging laut Art. 1 alle Staatsgewalt vom Volke aus und das Parlament konnte Notverordnungen außer Kraft setzen, wenn aber der Präsident zugleich von seinem Recht Gebrauch machte, das Parlament zu entlassen, dann ließ sich eine Notverordnung nicht mehr aufhalten. Einmal gewählt und im Amt verfügte der Reichspräsident über einen für eine Republik ungebührlich großen Machtspielraum, er war somit ein Souverän im Sinne Schmitts, der den Ausnahmezustand herbeiführen konnte. Die Zahl der Republikfeinde war groß nach dem Ersten Weltkrieg. Erich Ludendorfffs Dolchstoßlegende hatte funktioniert: Angesichts der Besetzung der Ukraine im Osten und der kaum veränderten Front im Westen hatte die deutsche Bevölkerung die militärische Niederlage nicht unmittelbar zu spüren bekommen. Deutschland war nie besetzt worden. Dass die Niederlage trotzdem feststand, war schwer greifbar. Also glaubten viele dem ehemaligen General gerne, dass nicht das Militär und all die Soldaten den Krieg verloren hätten, sondern aufständische Kommunisten und republikanische Demokraten seien ihnen in den Rücken gefallen, indem sie zunächst die Truppenversorgung sabotiert und dann Deutschland in Versailles den Alliierten ausgeliefert hätten. Unentwegt behauptete Ludendorfff, auf diese Weise hätten die Linken den deutschen Soldaten sozusagen hinterrücks einen Dolchstoß versetzt. Da nicht der Kaiser und nicht die Generäle, sondern die Sozialdemokraten den Friedensvertrag aushandelten, gingen viele Ludendorfffs Ablenkungsmanöver auf den Leim. Wie sollte man auch glauben, dass jene Generäle, die jahrelang ungerührt Millionen Männer in den sicheren Tod geschickt hatten, nicht Manns genug waren, um die unabwendbare Niederlage einzugestehen? Oder dass es 298 <?page no="298"?> dem verehrten Kaiser am nötigen Verantwortungsbewusstsein mangelte, um sein Volk durch die schwere Zeit der Friedensverhandlungen zu führen? Konnte man glauben, dass Wilhelm II. lieber die Flucht ergrifff und ebenso wie die Generäle heilfroh war, die Verantwortung ans Parlament abgeschoben zu haben? Keine zwei Jahre nach Kriegsende betrieb Ludendorfff zusammen mit Wolfgang Kapp einen Umsturzversuch: Ehemalige Soldaten scharten sich zu sogenannten Freicorps zusammen und marschierten in Berlin ein. Gegenüber der sozialdemokratischen Regierung verweigerte General Hans von Seeckt daraufhin die Verteidigung der Republik mit den Worten »Truppe schießt nicht auf Truppe! « 3 Trotzdem war der Putsch nicht erfolgreich, weil die Unterstützung aus der Bevölkerung zu gering war. Vielmehr leisteten Gewerkschaften und Arbeiter heftigen Widerstand. Der sogenannte Kapp-Putsch brach zusammen, der dagegen gerichtete Arbeiteraufstand hielt insbesondere im Ruhrgebiet an. Diesmal zögerte Seeckt nicht, ihn von Soldaten blutig niederschlagen zu lassen. Truppe schießt zwar nicht auf Truppe, aber offfenbar auf Bürger. Die Republik war in weiten Teilen der Bevölkerung nicht wohl gelitten, darunter auch bei vielen Personen in gehobenen Positionen. Die ganze demokratische Meinungsvielfalt und das gleichberechtigte Austragen davon war ihnen zuwider. Die gewöhnliche parlamentarische Diskussion, das unvermeidliche Aufeinandertrefffen verschiedener Interessenlagen und das offfene Ausfechten von Machtkämpfen oder die Suche nach Kompromissen war auch Carl Schmitt unerträglich, wie er 1923 in Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus freimütig zugibt: In manchen Staaten hat es der Parlamentarismus schon dahin gebracht, daß sich alle öffentlichen Angelegenheiten in Beute- und Kompromißobjekte von Parteien und Gefolgschaften verwandeln und die Politik, weit davon entfernt, die Angelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden ist. 4 Schmitt empört sich über den politischen Alltag in einer Weise als gäbe es keine unterschiedlichen Interessenlagen und keine Machtkämpfe, wenn diese nicht in einem Parlament ausgetragen werden. 3 nach Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band, S. 420. 4 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 8. 299 <?page no="299"?> Dass es genau das allerdings immer schon gab und gibt, nur eben nicht öfffentlich, darauf weist der junge Jurist ein paar Dutzend Seiten später selbst hin. Der Parlamentarismus sei nämlich aus der Unzufriedenheit mit den geheimen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen hervorgegangen, wie sie in undemokratischen Staaten üblich sind. Wenn nun die selben Wortgefechte für jeden nachvollziehbar geführt werden, erscheint dies Schmitt als Zerrissenheit, die bei ihm nur deshalb Unbehagen auslösen kann, weil er die Bürger des Staatsgebiets kurzerhand zu einer ebenso homogenen wie harmonischen Gruppe erklärt. Vielfalt, Diskussion und Streit gelten dem Demokraten als Normalität, dem großstadtscheuen Katholiken erschienen sie in Politik und Alltag ein Gräuel, weshalb aus einem solchen Denken die Abwertung all jener folgt, die sich nicht der Homogenität fügen. Aus diesem harmoniebedürftigen Nationalismus heraus kann Schmitt sich sogar darüber unzufrieden zeigen, dass der Demokratie als solcher noch »keineswegs ein inhaltlich eindeutiges Ziel« 5 innewohnt. Dem einflussreichen Staatsrechtler war offfenbar entgangen, dass die Demokratie lediglich ein Verfahren darstellt, um die widerstreitenden Interessen in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung in notwendige staatliche Entscheidungen zu überführen, ihre Stärke mithin in der Neutralität gegenüber Inhalten besteht. In seiner Ablehnung der Demokratie gelegen kommt Schmitt dabei einerseits der Anspruch Jean-Jacques Rousseaus, wonach streng genommen nicht die Mehrheit, sondern der Gemeinwille regieren solle, und andererseits das, was die Jakobiner daraus gemacht haben. Nach den Erfahrungen der Französischen Revolution war und ist es ein Leichtes, auf die Gefahr hinzuweisen, die von einer solchen Haltung ausgeht: »Mit dieser Jakobinerlogik kann man bekanntlich auch die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit rechtfertigen und zwar gerade unter Berufung auf die Demokratie.« 6 Wenn man wie Schmitt die Standpunkte diskutierende und Interessen ausgleichende Rolle eines demokratischen Parlamentarismus unverstanden wegschiebt, dann kann man daraus durchaus scheinbar untragbare Widersprüche ableiten; vor allem, wenn man Demokratie auf die Aufffassung Rousseaus reduziert. Widersprüche und Konflikte 5 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 32. 6 Ebd., S. 35. 300 <?page no="300"?> gibt es, wo immer Menschen zusammenleben. Die Monarchie blendet das zugunsten der Meinung des Souveräns aus, die Demokratie hingegen will einen Ausgleich schafffen, denn dort ist der Souverän das Volk, das allerdings nicht mit einer Stimme spricht. Diesen grundlegenden Unterschied vermochte Schmitt nicht anzuerkennen. Wie auch, wenn für ihn Politik kein Abwägen und Austragen verschiedener Positionen und Aufffassungen war, sondern das Durchregieren einer starken Hand? Dann könnte tatsächlich einer allein das vermeintliche Interesse der Nation vertreten und man müsste nur in die Unfehlbarkeit des Monarchen vertrauen. Während Schmitt Öl ins Feuer goss, durchschritt die Weimarer Republik schwere Zeiten. Anders als Frankreich oder Großbritannien hatte Deutschland den Krieg nicht aus Steuern fiinanziert, sondern Schulden im Glauben angehäuft, diese nach dem Sieg mit den Reparationszahlungen der Verlierer begleichen zu können. Nun war man selbst der Verlierer und musste seinerseits Reparationen leisten. Zehn Prozent der Wirtschaftsleistung flossen Jahr für Jahr an die Siegermächte ab. Durch die enorme Schuldenlast konnte man den Verpflichtungen bald schon nicht mehr nachkommen. Im Januar 1923 marschierten deshalb französische Soldaten ins Ruhrgebiet ein, um die dortige Kohleproduktion einzuziehen. Empört rief daraufhin die deutsche Regierung unter dem parteilosen Wilhelm Cuno zum passiven Widerstand, zum sogenannten Ruhrkampf auf. Den Streikenden wurde zur Unterstützung Geld ausgezahlt - Geld, das man nicht hatte. Eine Auszahlung war deshalb nur möglich, indem man Geldscheine druckte, denen kein Gegenwert gegenüber stand. Die Geldmenge, die man in Umlauf brachte, wurde mehr, nicht aber die Produkte, die man kaufen konnte. Das hatte zur Folge, dass das Geld an Wert verlor und man weniger Waren für den gleichen Geldwert erhielt: die Inflation wuchs an - und zwar immer schneller! Binnen dreier Monate war die Mark nur noch ein Zehntel wert, ausgezahlte Gehälter verloren mit jedem Tag an Kaufkraft. Nahrungsmittel wurden für immer mehr Menschen unerschwinglich. Angesichts der sich verschärfenden Krise musste Cuno im August seinen Platz räumen und der nationalliberale Gustav Stresemann wurde neuer Kanzler. Dieser beendete den aussichtslosen und selbstzerstörerischen Ruhrkampf schnellstmöglich, um mit den Alliierten eine Einigung erzielen zu können. 301 <?page no="301"?> Das aber wurde von vielen Deutschen als Verrat am Vaterland betrachtet. Die bayerische Landesregierung begehrte offfen gegen die Reichsregierung auf und rief den Ausnahmezustand aus. Die Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt und Gustav von Kahr, der zuvor als hochrangiger Beamter an einer antisemitschen Kampagne zur Ausweisung von Juden gearbeitet hatte, bekam diktatorische Vollmachten. Als Kahr am 8. November im Münchner Bürgerbräukeller eine Rede vor 3000 Menschen hielt, wurde die Veranstaltung unter Führung des ehemaligen Generals Ludendorfff gestürmt. Dessen Mann fürs Grobe, Adolf Hitler, schoss im Saal in die Decke und teilte mit, dass die Veranstaltung von seiner SA genannten Sturm-Abteilung umstellt sei. Nach einer Unterredung im Hinterzimmer, die angeblich mit vorgehaltener Wafffe stattfand, rief Kahr das Publikum auf, den Putsch zu unterstützen. Am nächsten Tag marschierten Ludendorfff und Hitler mit etwa 4000 Anhängern durch die Münchener Innenstadt. Nach einem Schusswechsel wurden sie von der Polizei gestoppt. Damit war der Umsturz vereitelt, aber es zeigte sich, dass Schmitt nicht der einzige Jurist war, der der Republik einen geringeren Wert als dem Nationalismus beimaß: Ludendorfff wurde aufgrund seiner, so hieß es, vaterländischen Verdienste im Ersten Weltkrieg freigesprochen; Hitler bekam zwar fünf Jahre Festungshaft, einer fälligen Ausweisung entging er aber, weil der gebürtige Österreicher so deutsch fühle und denke. Schon nach weniger als neun Monaten kam Hitler frei. Diejenigen, die die öfffentliche Ordnung zerstören wollten, waren beinahe strafffrei davongekommen. Während des Putschversuchs stieg die Inflation weiter an. Im November 1923 waren selbst riesige Geldberge praktisch wertlos, die Waren für die Menschen längst unbezahlbar. Die Bevölkerung litt, weil sie sich kaum mit dem Nötigsten versorgen konnte. Erst die Einigung Stresemanns mit den Alliierten, die jährlich fälligen Reparationszahlungen zu reduzieren, beruhigte die Lage. Als segensreich erwies sich auch seine Einführung der sogenannten Rentenmark unter maßgeblicher Beteiligung des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht. Die Maßnahmen zeigten Wirkung: Auf die Inflationsjahre folgten die sogenannten goldenen zwanziger Jahre mit einem rasanten wirtschaftlichen Aufschwung - bis zum 24. Oktober 1929. Von diesem Tag an rutschten die Kurse an der Börse von New York immer weiter ab. Viele Unternehmen wurde auf diese Weise wertlos und diejenigen, 302 <?page no="302"?> die daran Aktienanteile hielten, hatten damit ihr Vermögen verloren. Wer konnte, hielt sein Geld zusammen. Die USA, die größten Kreditgeber der Welt, holten deshalb auch ihr verliehenes Geld zurück, was zu einer Kettenreaktion führte. Überall mussten Kredite zurückgezahlt werden. Wer das nicht konnte, ging pleite und verschärfte damit die fiinanziellen Probleme derjenigen, denen er noch Geld schuldete. Und wer zurückzahlen konnte, musste dafür auf der anderen Seite seine Ausgaben reduzieren, was diejenigen in Schwierigkeiten brachte, deren Leistungen bisher davon bezahlt worden waren. Angestellte wurden entlassen und Bestellungen storniert. Weltweit begann der Geldfluss zu stocken, woraufhin die Produktion zurückgefahren wurde, sodass die Unternehmen noch weniger verkauften und noch mehr an Wert verloren. Die Weltwirtschaftskrise geriet in einen Teufelskreis. Auch die deutsche Wirtschaft brach ein und die Zahl der Arbeitslosen verdoppelte sich binnen weniger Monate auf 2,9 Millionen. Neben dem wirtschaftlichen war im Oktober 1929 auch ein politischer Pfeiler der Stabilität weggebrochen. Gustav Stresemann, der 1923 die Wende gebracht hatte und seitdem ununterbrochen als Außenminister die Vertrauenswürdigkeit des Deutschen Reiches wiederhergestellt hatte, war gestorben. Ein halbes Jahr später brach die Koalition all jener Parteien auseinander, die hinter der Weimarer Verfassung standen. Ohne Stresemann wollte eine Einigung von dessen nationalliberaler Deutscher Volkspartei (DVP) mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) des Kanzlers Hermann Müller nicht mehr gelingen. Reichspräsident Paul von Hindenburg musste einen neuen Kanzler benennen. Der 82-jährige ehemalige General hatte 1925 aufgrund seines hohen Ansehens, das er als Mitglied der Heeresleitung im Ersten Weltkrieg genoss, die Wahl zum Reichspräsidenten gewonnen. Doch auch er vertrat wie Ludendorfff, mit dem er im Krieg eng zusammengearbeitet hatte, die Dolchstoßlegende und war letztlich Monarchist. Als Oberhaupt einer Republik damit denkbar ungeeignet, war er für viele Deutsche gerade deshalb die richtige Wahl. Während die Weltwirtschaftskrise die Zahl der Arbeitslosen immer weiter in die Höhe trieb, ernannte Hindenburg im März 1930 mit Heinrich Brüning einen Nationalisten und Monarchisten zum Kanzler. Da dessen katholische Partei Zentrum bei den letzten Wahlen lediglich zwölf Prozent der Stimmen gewonnen hatte, konnte er nur 303 <?page no="303"?> mithilfe von Notverordnungen regieren, worüber der Präsident zu entscheiden hatte. Brüning blieb in seinem Regierungshandeln also auf das Wohlwollen Hindenburgs angewiesen. Auf die Krise reagierte er mit Sparmaßnahmen, indem er die Steuern erhöhte und die Löhne senkte. In der Folge stand der einfachen Bevölkerung immer weniger Geld zur Verfügung und brach der Warenumsatz ein, was Deutschlands Wirtschaft weiter abwürgte. Im Gegensatz zu seinem harten Sparkurs der Bevölkerung gegenüber erhöhte der Kanzler zugleich ganz im Sinne seines Dienstherrn die Militärausgaben. In dem Maße, in dem der Alltag jenseits der Armee beklemmender wurde, regte sich im Reichstag Widerstand gegen die Fortsetzung dieser verheerenden Sparpolitik. Schließlich kam Hindenburg nicht umhin, für September Neuwahlen anzusetzen. Die Kanzlerpartei Zentrum konnte keine Stimmanteile hinzugewinnen, dafür entstieg Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) jahrelanger Bedeutungslosigkeit. Lag sie zuvor bei drei Prozent, so gewann sie 1930 über 18 Prozent der Wählerstimmen. Aufgeschreckt vom Erstarken der Nationalsozialisten ließ die SPD fortan Brüning mit seinem zwanghaften Sparkurs gewähren. So kam es, dass aus Angst vor einer republikfeindlichen Partei ein republikfeindlicher Kanzler gestützt auf undemokratische Notverordnungen eines republikfeindlichen Präsidenten der SPD und allen anderen demokratischen Parteien als letzte Hofffnung erschien. Jener Mann, der keinen unwesentlichen Anteil an den erschreckenden Wahlergebnissen hatte, durfte weiter regieren und sich unverhofffter Unterstützung von den Sozialdemokraten erfreuen. Die Lebenssituation der Menschen verbesserte sich dadurch allerdings nicht. 1932 erreichte die Arbeitslosenquote 30 Prozent, sechs Millionen Deutsche waren ohne Arbeit. Im April trat Hitler zur Wahl des Reichspräsidenten an. Erschrocken unterstützte die SPD lieber den mittlerweile 84 Jahre alten Hindenburg. Damit hatten sich die Demokraten erneut auf die Seite des kleineren Übels unter den Republikfeinden geschlagen. Konnte das gutgehen? Oder zersetzte die Republik sich selbst? Anstelle per Wahl über die beste Politik auf dem Boden der Verfassung zu entscheiden, stimmten die Bürger längst darüber ab, auf welchem Weg die Verfassung ausgehöhlt werden soll. Die Republik hatte so oder so verloren. Tatsächlich brachte die Wiederwahl Hindenburgs nicht die Rettung - im Gegenteil. Die Rollenverteilung blieb die gleiche: Der Kanzler 304 <?page no="304"?> fuhr den Karren immer weiter in den Dreck, während der Präsident in die falsche Richtung wies. Schon kurz nach der Präsidentenwahl wusste Brüning angesichts der wirtschaftlichen Notlage nicht mehr ein und aus, weshalb er sogar plante, Arbeitslose auf dem Land anzusiedeln, um ihnen die Selbstversorgung zu ermöglichen. Mitten im 20. Jahrhundert und mitten in Europa schlug ein Regierungschef den Kurs zurück in Richtung Agrargesellschaft ein. Es war allerdings nicht die Lächerlichkeit dieses Unterfangens, was ihn zu Fall brachte, sondern dass er dafür die staatliche Unterstützung großer Gutsbetriebe kürzen wollte. Damit traf er seinen Dienstherrn ins Mark, denn der Reichspräsident profiitierte persönlich von den staatlichen Zahlungen. Im Mai 1932 zwang Hindenburg seinen Kanzler zum Rücktritt. Zum Nachfolger ernannte er den parteilosen Franz von Papen, dessen unternehmerfreundliche Regierungsmannschaft mit Adligen gespickt war. Für die einfache Bevölkerung ergab sich daraus weiterhin keine Verbesserung der schwierigen Lage. Auf Unterstützung der SPD für sein sogenanntes Kabinett der Barone konnte Papen ohnehin nicht hofffen. Damit die mittlerweile alltäglich gewordenen Notverordnungen trotzdem zumindest toleriert wurden, brauchte es die Duldung durch die NSDAP. Hitler machte die Ausschreibung von Neuwahlen zur Bedingung, worauf sich Hindenburg schließlich einließ. Angetrieben von der SA kam es zu einem blutigen Wahlkampf mit Hunderten Toten, aus dem die NSDAP im Juli 1932 mit über 37 Prozent der Stimmen als Sieger hervorging. SPD und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) erzielten gut 36 Prozent der Stimmen. Niemand verfügte über eine Mehrheit im Reichstag, sodass erneut Wahlen stattfiinden mussten. Diesmal fiiel die NSDAP auf gut 33 Prozent Stimmanteil zurück, schlussendlich war die Gesamtsituation im November 1932 jedoch unverändert. In dieser angespannten Zeit veröfffentlicht Carl Schmitt eine erweiterte Fassung von Der Begriff des Politischen und reduziert darin Politik auf ein simples Freund-Feind-Schema: »Die spezifiisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.« 7 Tatsächlich kannte die politische Landschaft keine Schattierungen mehr. Auf den Straßen herrschte offfener Kampf. 7 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26. 305 <?page no="305"?> Den nationalistischen Republikfeinden im vermeintlichen Dienste des Vaterlandes und ihres österreichischen Führers standen die kommunistischen Republikfeinde im vermeintlichen Dienste der internationalen Arbeiterschaft gegenüber. Verfechter der Republik, der Demokratie, des Kompromisses, der Toleranz, des Miteinanders verloren an Zuspruch. Mindestens die NSDAP-Wähler dürften sich in der Gedankenwelt Schmitts wiedergefunden haben: Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem konkreten, existenziellen Sinn zu nehmen, nicht als Metaphern oder Symbole, nicht vermischt und abgeschwächt durch ökonomische, moralische und andere Vorstellungen, am wenigsten in einem privat-individualistischen Sinne psychologisch als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen. [...] Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird. 8 Das Volk steht demnach über allem. Wer sich dagegen wendet, wird für Schmitt zum Feind des Öfffentlichen. Wer sich für einzelne Bevölkerungsgruppen, für Grundrechte oder für Individuen einsetzt, wer immer sich nicht völlig dem Volk unterordnet, wird kurzerhand zum Feind erklärt. Wer sich also nicht in bester rousseauscher Manier, die von Schmitt doch so wortreich verachtet wurde, voll und ganz dem Volksinteresse, dem völkischen Gemeinwillen unterordnet, den schiebt der Jurist ohne Anhörung schutzlos ins feindliche Lager. Daß der Staat eine Einheit ist, und zwar die maßgebende Einheit, beruht auf seinem politischen Charakter. [...] Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit gehört das jus belli, d. h. die reale Möglichkeit, im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen. 9 Kurz: Wer nicht für den Staat ist, ist gegen ihn und darf somit bekämpft werden. Genau so wird Hitler vorgehen. Wobei der Staat ganz im Sinne Schmitts für ihn nichts weiter ist als der Erfüllungsgehilfe einer homogenen Volksmasse. Was aber, wenn das Volk gar nicht 8 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 28 f. 9 Ebd., S. 44 f. 306 <?page no="306"?> homogen ist? Was, wenn jemand nicht dazugehören will? Was, wenn die Rede vom Volk erst jene Feindschaften erzeugt, die sie hinterher bekämpft? Nachdem Hindenburg keine andere Regierungsbildung zustande brachte, ernannte er am 30. Januar 1933 schließlich Hitler zum Reichskanzler und musste ihm zugleich nochmals Neuwahlen versprechen. Diesmal sollte das Abstimmungsergebnis nicht freien Wahlen überlassen werden. Hitler war noch keine Woche im Amt, als eine weitere Notverordnung die ersten Grundrechte einschränkte. Presse- und Versammlungsfreiheit wurden außer Kraft gesetzt. Sodann wurden Angehörige der SA kurzerhand zu Hilfspolizisten ernannt und Veranstaltungen von SPD und KPD gezielt gestört. Die Nationalsozialisten machten die staatliche Polizei zum verlängerten Arm ihrer Partei, den Staat zu einem Werkzeug der NSDAP. Am 27. Februar ging aus bis heute ungeklärter Ursache das Reichstagsgebäude in Flammen auf. Die Nationalsozialisten beschuldigten die Kommunisten, um den Vorfall für eine weitere Notverordnung zu nutzen, die Hindenburg bereitwillig erteilte und mit der fortan politische Gegner verfolgt werden konnten. Trotz diesem Klima der Angst verpasste die NSDAP in den Reichstagswahlen vom 5. März mit knapp 44 Prozent Stimmanteil die angestrebte Mehrheit. Doch die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) fungierte als Steigbügelhalter und ermöglichte eine nationalistische Mehrheit im Parlament. Kaum bestimmten die Nationalisten die Gesetzgebung, ging es Schlag auf Schlag: Schon drei Tage später wurden der KPD alle Sitze im Reichstag aberkannt und zwei Wochen darauf in Dachau bei München ein erstes Konzentrationslager eingerichtet, wo in den folgenden Wochen über 100 000 politische Gegner inhaftiert wurden. Fast gleichzeitig stimmte der Reichstag dem sogenannten Ermächtigungsgesetz zu, womit er sich selbst entmachtete, weil die Regierung dadurch fortan selbst Gesetze erlassen konnte. Zudem wurden mit dem Gesetz zur Gleichschaltung alle Regierungen der deutschen Länder direkt der Reichsregierung unterstellt. Am 1. April 1933 forderte die Reichsregierung zu einem Boykott von Juden auf und postierte Wachposten vor deren Geschäften und eine Woche danach erfolgten Berufsverbote für jüdische Juristen und Ärzte sowie die Entlassung jüdischer Beamter. Im Mai kam es zu Bücherverbrennungen missliebiger Autoren, im Juni wurde die SPD verboten und 307 <?page no="307"?> einen Monat später alle anderen Parteien. Nach nur fünf Monaten war der Staat vollends in den Händen der NSDAP. Als ein Jahr später im August Hindenburg starb, übernahm Hitler dessen Amt des Reichspräsidenten und vereinigte dadurch alle Macht auf sich. Das Volk jubelte ihm dabei zu. Denn die Arbeitslosenzahlen gingen immer weiter zurück und die Wirtschaft nahm Fahrt auf. Hitler hatte den 1923 mit der Einführung der Rentenmark so erfolgreichen Hjalmar Schacht wieder zum Reichsbankpräsidenten und später auch zum Wirtschaftsminister ernannt. Der stütze sich auf die neuen Ideen des englischen Ökonomen John Maynard Keynes, der im Falle einer Wirtschaftskrise dem Staat die Rolle zuschrieb, mit Investitionen und Arbeitsbeschafffungsmaßnahmen die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Schacht gab Brünings Sparkurs auf und unternahm vielfältige Projekte wie zum Beispiel den Bau von Autobahnen. Zugleich startete Hitler ein umfangreiches Aufrüstungsprogramm und führte 1935 die allgemeine Wehrpflicht wieder ein. Damit verstieß er zwar gegen den Versailler Vertrag, aber die Alliierten nahmen das hin. Im selben Jahr trat das Saarland nach einer Volksabstimmung wieder dem Deutschen Reich bei. Im März 1936 erfolgte die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes, womit ebenfalls ein internationaler Vertrag gebrochen wurde. Im März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich ein, wo sie begeistert empfangen wurden - und wieder nahmen die Alliierten es hin. Im September erfolgte der Anschluss des tschechischen Sudetengebiets sogar unter Zustimmung Englands und Frankreichs, im März dann die Besetzung ganz Tschechiens und des Memelgebiets an der Ostsee. Binnen sechs Jahren erreichte Hitler jene großdeutsche Lösung von der die Nationalisten seit 90 Jahren träumten. Er hatte sie aus dem Jammertal nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg zurück in den Status einer Weltmacht geführt - größer und mächtiger denn je. Wie konnte Hitler solche Begeisterung auslösen, eine so große Anhängerschaft und Gefolgschaft seiner Herrschaft gewinnen? Folgt man den Kategorien Max Webers, dann konnte das nur einem außerordentlichen Charisma geschuldet sein. Ein solcher Erklärungsversuch wirft insofern Probleme auf, als dass es darauf bis zu Hitlers dreißigstem Lebensjahr keinerlei Hinweise gegeben hat. Am Gipfel der Macht angekommen, versuchte Hitler deshalb seine Herkunft zu verschleiern. Warum? Hitler wuchs als Sohn eines österreichischen 308 <?page no="308"?> Zollbeamten auf, der zuhause oft gewalttätig wurde. Dieser hatte in dritter Ehe seine Nichte geheiratet. Die ersten drei Kinder aus dieser Ehe erlagen alle kurz hintereinander im Dezember 1887 vermutlich der Diphtherie. Am 20. April 1889 wurde Adolf Hitler geboren und nach den vorangegangen Schicksalsschlägen fortan von seiner Mutter Klara geradezu verehrt. Häufiig musste der Junge die Schule wechseln, weil sein Vater versetzt wurde, bis dieser starb, als Adolf 13 Jahre alt war. Seine Mutter zog daraufhin mit ihm und seiner Schwester nach Linz, wo sie knapp fünf Jahre später an Brustkrebs starb. Bis zuletzt wurde sie vom jüdischen Arzt Eduard Bloch betreut, den Hitler später von jeder Verfolgung ausnahm. Adolf ging nach Wien, um sich an der Kunstakademie zu bewerben. Dort wurde er abgelehnt, gab sich aber trotzdem als akademischer Maler aus. Er verfügte über so wenig Einkommen, dass er zeitweise im Obdachlosenheim Unterkunft nehmen musste. 1913 zog er nach München, um dem Militärdienst in Österreich zu entgehen. Er flog zwar auf, wurde in Salzburg aber als dienstunfähig eingestuft. Obwohl er dem österreichischen Heer ferngeblieben war, begrüßte Hitler den Kriegsausbruch im Jahr darauf und meldete sich sogleich freiwillig zur bayerischen Armee. Im Ersten Weltkrieg war er als Meldegänger wenige Kilometer von der Front im Einsatz. Das Kriegsende erlebte Hitler in einem Lazarett unter psychiatrischer Behandlung, weil ihn aufgrund eines nahen Granateinschlags Angstzustände heimsuchten. Im April 1919 ließ sich Hitler zunächst in einen Soldatenrat der kommunistischen Münchner Räterepublik wählen, um nach deren Niederschlagung die Seiten zu wechseln und seine ehemaligen Mitstreiter verräterisch anzuzeigen. Schon im Juli nahm er an antibolschewistischen Aufklärungskursen der Reichswehr teil, wo er mit einem damals bewunderten Redetalent aufffiiel: »der hat a Goschen.« 10 Nach jahrelangem unbeachteten Herumdrücken erfuhr der 30-Jährige erstmals Erfolg und blieb bei der Sache. Der unaufffällige, gescheiterte Künstler hatte eine Aufgabe gefunden und fand mit seinen antisemitischen Äußerungen Anklang. Hitler wurde von der Reichswehr zur Überwachung von Parteien eingesetzt. Dabei nahm er an einer Veranstaltung der Deutschen Arbeiterpartei (DAP) teil, schaltete sich in die Diskussion ein und wurde daraufhin zum Parteieintritt aufgefordert. 10 nach Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band, S. 564. 309 <?page no="309"?> Als die Partei sich ein Jahr später in NSDAP umbenannte, konnte der Österreicher mit Auftritten vor teilweise über 2000 Zuhörern von seinen Honoraren leben. Hitler hatte sich nicht mit außerordentlichen Fähigkeiten durchgesetzt, sondern fand aufgrund seiner rüden Redeweise in einer tristen Nachkriegszeit voller Furcht vor dem sowjetischen Bolschewismus Gehör. Dem 1931 geborenen Historiker Hans-Ulrich Wehler fällt es deshalb schwer, von Charisma zu sprechen: Hitler als Galionsfigur charismatischer Herrschaft - das wirft zunächst gravierende Probleme auf. An Napoleon und Bismarck ist ihr Eigencharisma relativ frühzeitig erkannt und dann durch erstaunliche Erfolge befestigt worden. Hitler dagegen, der sich jahrelang als Asozialer in Wien und München herumgetrieben hatte, war im Weltkrieg über den untersten Rang eines Gefreiten nicht hinausgekommen. 11 Wie viele andere vermag Wehler nichts anderes als ein Redetalent zu erkennen, das sich darin niederschlug, dass Hitler in außergewöhnlichem Umfang Hass zu transportieren vermochte. Seine Reden erregten unleugbar Interesse, boten aber inhaltlich nichts Originelles, denn Hitler schleuderte seine bereits in Wien angelesenen alldeutschen, antisemitischen Parolen in die Menge, schäumte gegen ›Versailles‹ und den ›Dolchstoß‹ der Linken, beschwor das Allheilmittel der Judenbekämpfung und einer nationalen Renaissance, wie das mancher andere Agitator auch tat, doch mit einer zusehends Aufsehen erregenden, schwer überbietbaren haßstrotzenden Passion. 12 Diese Redeweise kam keineswegs überall gut an. Mancher Gebildete empfand die Auftritte Hitlers als abschreckend, wie etwa der Zeitgenosse Sebastian Haffner: Dabei mochte Hitlers Person, seine Vergangenheit, sein Wesen, sein Reden, zunächst eher ein Handicap für die Bewegung sein, die sich hinter ihm sammelte. In weiten Kreisen war er 1930 noch eine eher peinliche Figur aus grauer Vergangenheit: 11 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band, S. 558 f. 12 Ebd., S. 564. 310 <?page no="310"?> der Münchener Heiland von 1923, der Mann des grotesken Bierhausputsches. Zudem war seine persönliche Atmosphäre für den normalen Deutschen (nicht etwa nur für die ›Klugen‹) durchaus abstoßend: die Zuhälterfrisur; die Talmieleganz; der Wiener Vorstadtdialekt; das viele und lange Reden überhaupt, das Epileptikergehaben dazu, die wilde Gestikulation, der Geifer, der abwechselnd flackernde und stierende Blick. Und dann der Inhalt der Reden: die Freude am Drohen, die Freude am Grausamen, die blutrünstigen Hinrichtungsphantasien. Die meisten Leute, die ihm 1930 im Sportpalast zuzujubeln begannen, hätten es wahrscheinlich vermieden, sich von diesem Mann auf der Straße Feuer geben zu lassen. 13 So weit war es mit dem vielbeschworenen Redetalent, wohl auch aus damaliger Sicht nicht her. Daher allein konnte der Erfolg nicht rühren. Zumal Hitler acht Jahre lang als Redner auftrat, ohne Breitenwirkung zu entfalten. Bis 1928 kam die NSDAP bei Reichstagswahlen nie über ein paar Prozent Stimmanteil hinaus. Erst mit der Weltwirtschaftskrise strömten den Nazis die Wählerstimmen zu. Ab 1930 standen die Bürger vor einer schweren Wahl: Brüning verschlimmerte mit seinem Sparkurs die Situation; die SPD hatte sich zuvor als Regierungspartei nicht behaupten können und außerdem zuletzt Brüning unterstützt; die Kommunisten traten offfen für den Schulterschluss mit der Sowjetunion ein; und die nationalliberalen Parteien präsentierten die immer gleichen ungeeigneten Rezepte. Hitler hingegen trat als Mann des Volkes auf, der diesem sein Auskommen, seine Anerkennung und seine Größe zurückzugeben versprach. Er benutzte eine Sprache die jenem Hass nahekam, den viele in sich trugen, weil sie nach dem Krieg nie wieder ins friedliche Leben zurückfanden, weil sie das hasserfüllte Freund-Feind-Schema des Krieges nie ablegen konnten, weil sie sich von den Reparationszahlungen gedemütigt fühlten, oder weil sie durch die Wirtschaftskrise arbeitslos geworden waren. Hitler verfügte vielleicht nicht über Charisma, aber er war mit seinem ungezügelten Hass in der Wirtschaftskrise zur Stelle. Wie bereitwillig sein Hass geradezu unbekümmert aufgenommen wurde, verdeutlicht ein Beispiel Hafffners, der kurz nach Hitlers Machtergreifung 1933 mit seiner Freundin Mußestunden in einem Berliner Park verbrachte: 13 Hafffner, Geschichte eines Deutschen, S. 94 f. 311 <?page no="311"?> Und jede dieser Schulklassen, wenn sie an uns vorüber kam, wandte sich uns zu und rief, wie einen fröhlichen Wandergruß, im Chor mit fröhlichen Jungenstimmen: ›Juda verrecke! ‹ Vielleicht bezog es sich gar nicht auf uns - ich sehe nicht jüdisch aus, und Charlie, dafür daß sie es war, auch nicht besonders - sondern war wirklich nur als eine nette Grußformel gemeint. Ich weiß es nicht. Vielleicht auch bezog es sich doch auf uns und sollte eine Aufforderung sein. Da saß ich ›auf dem Frühlingshügel‹, ein kleines, zierlichlebendiges Mädchen im Arm, das ich küßte und streichelte, und immer wieder und wieder zogen muntere wandernde Jungen vorbei und forderten uns auf zu verrecken. Wir taten übrigens nicht dergleichen, und auch sie zogen immer ruhig weiter, unbekümmert darum, daß wir noch nicht verreckten. 14 Am Beispiel der Schüler zeigte sich der selbe Geist der Kameradschaft, der das ganze Land zu ergreifen begann. Die Veteranen des Ersten Weltkriegs durften sich wieder in ihrem Element fühlen. Die Gleichförmigkeit der Kameradschaft entband den Einzelnen jeder Verantwortung, jeder Rechtfertigung, jeden Gewissens, denn das alles lag beim Führer. Zugleich ließ es die Menschen in etwas Umfassenderem, etwas Größerem aufgehen - im Volk, in der Nation, in der Masse, im Gefühl der Übermacht. Sogar Studenten der Rechtswissenschaften wurden in nationalsozialistische Gemeinschaftslager einberufen, wo Hafffner die Zivilisation zersetzende Wirkung der Kameradschaft erlebte. Die Kameradschaft, um das Zentralste voranzustellen, beseitigt völlig das Gefühl der Selbstverantwortung, so im bürgerlichen Sinne, und, schlimmer, im religiösen. Der Mensch, der in der Kameradschaft lebt, ist jeder Sorge für die Existenz, jeder Härte des Lebenskampfs überhoben. Er hat sein Lager in der Kaserne, er hat sein Essen und seine Uniform. Sein Tageslauf ist ihm von Stunde zu Stunde vorgeschrieben. Er braucht sich nicht die kleinste Sorge zu machen. Er steht nicht mehr unter dem harten Gesetz: ›Jeder für sich‹, sondern unter dem generös-weichen: ›Alle für einen‹. Es ist eine der unangenehmsten Lügen, daß die Gesetze der Kameradschaft härter seien als die des individuellen bürgerlichen Lebens. Sie 14 Hafffner, Geschichte eines Deutschen, S. 150. 312 <?page no="312"?> sind vielmehr von geradezu erschlaffender Weichlichkeit und sie rechtfertigen sich nur für Soldaten im wirklichen Kriege, für den Mann, der zu sterben hat: Das Pathos des Todes allein erlaubt und erträgt diese ungeheuerliche Dispensierung von der Lebensverantwortung. Und man weiß, wie unfähig selbst tapfere Krieger, die zu lange auf dem weichen Kissen der Kameradschaft gelebt haben, später oft sind, sich wieder in die Härte des bürgerlichen Lebens zu finden. Viel schlimmer ist, daß Kameradschaft dem Menschen auch die Verantwortung für sich selbst und vor Gott und seinem Gewissen abnimmt. [...]. Sein Gewissen sind die Kameraden und es erteilt ihm Absolution für alles, solange er tut, was alle tun. 15 Die Kameradschaft tendiert unvermeidlich zum niedrigsten geistigen Niveau, um jeden einzubeziehen. Sie duldet keinerlei Diskussion, die sofort als Stänkerei verunglimpft wird. Führer- und Kameradschaftskult lassen Menschen sittlich schrumpfen. Jeder durfte sich für sein Verhalten weniger verantwortlich fühlen und viele nahmen das Angebot bereitwillig an. Und stand das Deutsche Reich im Sommer 1939 nicht tatsächlich großartig da? Das Territorium war groß wie nie und auch die Wirtschaft brummte. Mehrheitlich ging es der deutschen Bevölkerung gut, mehrheitlich. Juden, Zigeuner, Marxisten und andere missliebige Personen wurden verfolgt. Erstere machten jeweils circa ein Prozent der Bevölkerung aus, die KPD hatte selbst unter den Schikanen der letzten Wahlen über zwölf Prozent der Stimmen erhalten. Hochgefühl und Kameradschaft der Deutschen wurden erkauft auf Kosten nicht etwa einer kleinen Minderheit, sondern jeder fünfte Deutsche musste sich bedroht fühlen. Viele andere waren keine Nazis der ersten Stunde, aber gerne bereit, sich denjenigen anzuschließen, die bei ihren Gegnern Schrecken verbreiteten und zugleich ihren Anhängern Vorteile verschaffften. Viele profiitierten von sich eröfffnenden Gelegenheiten, weil Juden Ämter räumen oder Geschäfte schließen mussten, wie Hafffner feststellt: »Selbst die, die bisher keine Nazis gewesen waren, fühlten ihre Chance.« 16 Es galten keine Grundrechte mehr, es gab keine Verfassung, dafür verbreiteten Konzentrationslager ein Klima der Angst. Für diejeni- 15 Ebd., S. 285 f. 16 Ebd., S. 197. 313 <?page no="313"?> gen, die sich zur Mehrheit zählen durften und die sich verhielten, wie vorgegeben, blühte Deutschland mit Hitlers Machtergreifung auf. Trotzdem geht Hafffner nicht davon aus, dass er als größter deutscher Staatsmann in die Geschichte eingegangen wäre, falls ihn im Sommer 1939 der Tod ereilt hätte. Sondern der Diktator hätte einen völlig ausgehöhlten Staat hinterlassen, der vermutlich sogleich im Chaos versunken wäre, da alles auf den Führer zugeschnitten war. Dadurch hatte der Staat aufgehört ein Menschenleben überdauernder Apparat zu sein, vielmehr war er zum Anhängsel Hitlers zurechtgestutzt worden. Er richtete alles bewußt auf seine eigene Unersetzlichkeit ein, auf ein ewiges ›Ich oder das Chaos‹, beinahe könnte man sagen, auf ein ›Nach mir die Sintflut‹. Keine Verfassung; keine Dynastie - die wäre ja auch unzeitgemäß gewesen, von Hitlers Ehescheu und Kinderlosigkeit ganz abgesehen; aber auch keine wirklich staatstragende, Führer hervorbringende und überdauernde Partei. Die Partei war für Hitler nur das Instrument seiner persönlichen Machtergreifung; ein Politbüro hatte sie nie, und Kronprinzen ließ er darin nicht aufkommen. Über seine Lebenszeit hinauszudenken und vorzusorgen, weigerte er sich. Alles hatte durch ihn selbst zu geschehen. 17 Aber Hitler starb nicht, sondern ließ am 1. September Polen überfallen. Frankreich und England erklärten zwar den Krieg, doch keine vier Wochen später kapitulierte Polen, wobei Russland in Vereinbarung mit dem Deutschen Reich, die östliche Hälfte besetzte. Im Mai 1940 startete die deutsche Armee ihre Offfensive gegen Frankreich, das zweieinhalb Monate später besiegt war. Zuvor waren Luxemburg, Belgien, die Niederlande, Dänemark und Norwegen besetzt worden. Aufgrund der mittlerweile zahlreichen Panzer und Flugzeuge war die Zeit des Stellungskriegs vorüber. Hitler kontrollierte den Kontinent, dachte aber nicht an Frieden. Dieser erschien ihm nur als vorübergehend, glaubte er doch an einen sozialdarwinistischen Überlebenskampf, an dessen Ende nur ein Volk an der Spitze stehen konnte. Dorthin wollte Hitler die Deutschen führen. Mit Charles Darwins Veröfffentlichung des Buches Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl im Jahr 1859 war die 17 Hafffner, Anmerkungen zu Hitler, S. 26. 314 <?page no="314"?> Evolutionstheorie in aller Munde, wonach die Menschen und alle anderen Lebewesen nicht durch die Schöpfung Gottes entstanden, sondern evolutionär aus der Natur hervorgegangen sind. Da das Nahrungsangebot begrenzt ist, können nicht alle Lebewesen überleben, sodass sich gemäß Darwin stets diejenigen durchsetzen, die den Umweltbedingungen am besten angepasst sind. Es gebe einen »Kampf um’s Dasein«, 18 der in ein »Überleben des Passendsten« 19 mündet. Das führe dazu, dass sich überall auf der Welt Tierarten entwickeln, die bestens an die gegebenen Bedingungen angepasst sind. Statt wie Darwin über die unglaubliche Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten erstaunt zu sein, die nebeneinander in einem Gebiet existieren können, folgten die Nationalsozialisten der Idee des so genannten Sozialdarwinismus, demzufolge es auch unter den Völkern einen unausweichlichen Kampf um’s Dasein geben müsse. Gerne übernahmen die Nazis den Gedanken, dass sich innerhalb einer Art die stärksten Exemplare durchsetzen, sobald Knappheit vorliege, weil sie sich selbst als die Stärksten sahen. Aus diesem Grund sprach Hitler ständig von Rassen, wenn er eigentlich Völker oder im Falle der Juden sogar eine Religion meinte. Mit dem Begrifff betonte er vermeintlich unterschiedliche Ausprägungen zwischen den Völkern, die den evolutionären Daseinskampf entscheiden könnten. Die Deutschen, die ihre Gemeinsamkeit und Besonderheit gut 100 Jahre zuvor nur anhand der Sprache zu erkennen glaubten, waren für ihn mit der besten aller Anlagen ausgestattet. Er wollte den evolutionären Eignungstest allerdings nicht der Natur überlassen, wie das die Evolutionstheorie eigentlich vorsieht, sondern selbst herbeiführen. Der Krieg sollte die Entscheidung bringen. Aus einem vermeintlichen Naturgesetz wollte er ein Gesetz des Handelns machen. Glaubte er einem Naturgesetz unter die Arme greifen zu müssen? So wie zuvor mancher Christ meinte, dass sein angeblich allmächtiger Gott per Inquisition bei der Unterscheidung von guten und bösen Menschen der Unterstützung bedürfe? Waren dann all die Kriege der Menschheitsgeschichte evolutionäre Ausscheidungskämpfe der Völker? Auch die Bürgerkriege? Und woher wollte man wissen, dass das deutsche Volk das Stärkste war? Warum hatte es sich dann 18 Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, S. 533. 19 Ebd., S. 150. 315 <?page no="315"?> in der Evolution nicht längst schon durchgesetzt? Hitler jedenfalls wollte alle anderen Völker beziehungsweise Rassen, wie er sie nannte, mindestens unterwerfen, wenn nicht gar vernichten, und er wollte alle nicht seinem Sinn nach Gesundheit und Aussehen entsprechenden Menschen umbringen lassen. Er wollte die Deutschen zur Weltherrschaft führen. Aber wie kommt ein kleiner, dunkelhaariger Mann ohne Schulabschluss, der der Überlegenheit einer großen blonden Rasse huldigt, auf die Idee, dass er an der Spitze der evolutionären Krönung steht? Andererseits: Wem käme der Grifff nach der Weltherrschaft mehr zupass? Hitler konnte alles gewinnen, aber er hatte nichts zu verlieren: Er hatte keine Kinder, keine Freunde und kein Leben außerhalb einer hasserfüllten Politik der Allmachtsphantasien. Es gab nichts, was er hätte auf Dauer stellen können. Er hatte keinen soliden Staatsapparat geschafffen, sondern Deutschland auf ein Führer-Anhängsel reduziert. Der evolutionäre Vorteil des Menschen liegt nicht zuletzt darin, dass er zur Kooperation fähig ist - über die Einteilung von Familien, von Gemeinschaften, von Religionen ja sogar von Völkern oder auch Rassen hinweg. Aus Hitlers Hass resultierte für die Deutschen deshalb nicht die Weltherrschaft, sondern ein entscheidender Nachteil. Allein gegen die ganze Welt setzte sich am Ende die überlegene Kooperation der Alliierten durch. Weil die Nazis zu solch kooperativem Denken nicht imstande waren, verloren Millionen Menschen ihr Leben. Sie alle mussten sterben, nicht weil im evolutionären Verteilungskampf ungenügend Nahrungsmittel zur Verfügung gestanden hätten, sondern allein, weil hasserfüllte Sozialdarwinisten den Vorteil kooperationsbegabter Lebewesen nicht zu erkennen vermochten. Dabei hätte es schon genügt, den Unterschied zwischen Naturgesetz und eingebildetem Herrenrassentum einzusehen. Im Juni 1941 überfiielen deutsche Truppen die Sowjetunion. Nach dem Erfolg gegen Frankreich ging der Diktator von einem schnellen Sieg aus und versagte den Soldaten deshalb - Napoléon lässt grüßen - eine Winterausrüstung. Am 5. Dezember kam die deutsche Offfensive wenige Kilometer vor Moskau zum Stillstand und der sowjetische Gegenangrifff setzte ein. Was dann passierte, fasst Hafffner folgendermaßen zusammen: Der Wintereinbruch brachte dann bekanntlich statt dessen, 316 <?page no="316"?> vor Moskau, die erste schwere deutsche Niederlage. Und das Kriegstagebuch des Wehrmachtführungsstabes sagt dazu: ›Als die Katastrophe des Winters 1941/ 42 hereinbrach, wurde dem Führer ... klar, daß von diesem Kulminationspunkt ... an kein Sieg mehr errungen werden konnte.‹ Das war am 6. Dezember 1941. Fünf Tage danach erklärte Hitler auch Amerika den Krieg. Das ist der krönende und, gerade wegen seiner in die Augen springenden Offensichtlichkeit, immer noch unerklärterste der Fehler, mit denen Hitler sich im Jahre 1941 das eigene Grab grub. Es ist, als ob er aus der Erkenntnis, daß mit dem Scheitern seines Blitzkriegs gegen Rußland der Sieg unmöglich geworden war, die Folgerung gezogen hätte, dann eben die Niederlage zu wollen - und sie so vollständig und katastrophal wie möglich zu machen. 20 Fünfeinhalb Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion mündete der erste russische Gegenangrifff sogleich in die Feststellung, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Als wäre die Situation nicht schon aussichtslos genug, erklärte Hitler daraufhin den USA den Krieg. Eineinhalb Monate später wird auf der sogenannten Wannseekonferenz die systematische Ermordung aller europäischer Juden in die Wege geleitet. Vor allem im Osten war es bisher immer wieder zu Erschießungen gekommen. Jetzt aber sollten ausnahmslos alle Juden akribisch in Vernichtungslager verbracht werden. Wenn schon der Krieg verloren war, wollte Hitler wenigstens alle verfügbaren Kräfte dazu nutzen, sein zweites Ziel zu erreichen: Die Ermordung aller Juden, deren er habhaft werden konnte. Waren bislang alle verfügbaren Mittel in den Dienst der Kriegführung gestellt worden, betrieb man nun mit großem Aufwand das massenhafte Morden schutzloser Zivilisten. Es ist, als ob sich Hitler für den Sieg nicht mehr interessiert, sondern nur noch für etwas anderes. [...] Seine Strategie in diesen Jahren ist stur, einfallslos, sein einziges Rezept: ›Halten um jeden Preis.‹ Der Preis wird gezahlt, gehalten wird trotzdem nicht. Die eroberten Gebiete gehen Stück für Stück verloren, seit Ende 1942 im Osten, seit 1944 auch im Westen. Hitler reagiert nicht darauf; er führt einen langgezogenen 20 Hafffner, Anmerkungen zu Hitler, S. 135 f. 317 <?page no="317"?> Hinhaltekampf - offensichtlich nicht mehr um Sieg, sondern um Zeit. Merkwürdig: Vorher hatte er nie Zeit gehabt. Jetzt kämpft er um Zeit. Aber er kämpft noch, und Zeit braucht er noch. Wofür? Hitler hat immer zwei Ziele gehabt: die Herrschaft Deutschlands über Europa und die Ausrottung der Juden. 21 Das Schicksal des deutschen Volkes war Hitler egal, schließlich fühlte er sich niemandem verbunden. Er hatte nur sich und seine Ziele. Was blieb da noch, jetzt wo der Krieg verloren war? Aber vor zwei ausländischen Besuchern, dem dänischen Außenminister Scavenius und dem kroatischen Außenminister Lorkowitsch, hatte er schon am 27. November - als die russische Gegenoffensive noch nicht einmal eingesetzt hatte, sondern nur die deutsche Offensive auf Moskau zum Stehen gebracht worden war - seltsame Reden geführt, die aufgezeichnet worden sind. ›Ich bin auch hier eiskalt‹, hatte er gesagt. ›Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug ist, sein eigenes Blut für seine Existenz einzusetzen, so soll es vergehen und von einer anderen, stärkeren Macht vernichtet werden ... Ich werde dann dem deutschen Volk keine Träne nachweinen.‹ Unheimliche Worte. 22 Während deutsche Soldaten beim unaufhaltsamen Vorstoß der Alliierten ihr Leben ließen, kam Hitler seinem zweiten Ziel erschütternd nahe: Sechs Millionen Juden wurden ermordet. Außerdem töteten die Deutschen eine Million Polen und eine halbe Million Sinti und Roma nicht im Kampf, sondern aus rassistischer Verachtung. Über drei Millionen russische Kriegsgefangene ließen sie verhungern. Insgesamt verloren im Zweiten Weltkrieg mehr als 60 Millionen Menschen ihr Leben, davon über 25 Millionen Russen. Am 8. Mai 1945 gaben sich die Deutschen endlich geschlagen, nachdem sich Hitler neun Tage zuvor das Leben genommen hatte. Anders als Carl Schmitt wuchs der am 11. September 1903 geborene Theodor W. Adorno nicht in der Provinz, sondern in Frankfurt am Main auf. Ebenfalls katholisch getauft, erlebte er Kindheit und Jugend nicht in der Enge eines katholischen Internats, sondern in der 21 Hafffner, Anmerkungen zu Hitler, S. 140 f. 22 Ebd., S. 139 f. 318 <?page no="318"?> Offfenheit einer bedeutenden Handelsstadt. Sein Vater war jüdischer Weinhändler und seine Mutter korsisch-stämmige Opernsängerin. Hatte Schmitt zu Beginn des Ersten Weltkriegs sein Studium bereits abgeschlossen, so fiiel für Adorno ein Großteil seiner Jugend mitten in die Kriegszeit. Danach studierte er in seiner Heimatstadt Philosophie, um nach dem Ende der Inflationsjahre in Wien ein Studium der Komposition anzuschließen. Zurück in Frankfurt arbeitete er ab 1926 einerseits als Musikkritiker und bot andererseits Lehrveranstaltungen an der Universität an. Aufgrund seiner jüdischen Abstammung wurde ihm 1933 die Lehrerlaubnis entzogen. Adorno ging nach England und arbeitete ohne ordentliche Anstellung an der Universität Oxford weiter. Vier Jahre später bekam er vom Institut für Sozialforschung in New York eine Stelle angeboten. Dort hatte Max Horkheimer, ein acht Jahre älterer jüdischer Fabrikantensohn, das private Institut wieder aufgebaut, das aufgrund seiner marxistischen Ausrichtung in Frankfurt aufgegeben werden musste. Gemeinsam verarbeiteten Adorno und Horkheimer in den USA das Zeitgeschehen im Werk Dialektik der Aufklärung, das sie 1944 noch vor Kriegsende veröfffentlichten: »Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.« 23 Die beiden Autoren sehen als Ursache der Barbarei nicht einfach den besonderen Charakter Hitlers, sondern einen Efffekt der Aufklärung selbst: Wir glauben, in diesen Fragmenten insofern zu solchem Verständnis beizutragen, als wir zeigen, daß die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei den eigens zum Zweck des Rückfalls ersonnenen nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien zu suchen ist, sondern bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst. 24 Tatsächlich sei Aufklärung weniger rational als sie sich gibt, sondern enthalte stets schon einen mythischen Kern. Aufklärung will Naturkräfte der Kontrolle durch den Menschen unterwerfen. Doch das wollte der Mythos auch schon. Moderne Medizin will Krankheit 23 Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 1. 24 Ebd., S. 4. 319 <?page no="319"?> bekämpfen. Genau das wollte auch schon der Medizinmann, nur dass er auf Geisterbeschwörung statt auf Pillen setzte. »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.« 25 Wenn man nur nach Beherrschung strebt, dann geht Aufklärung nicht über Mythologie hinaus. Sie verfolgt das gleiche Muster. Beide wollen Einfluss auf die Natur nehmen: bessere Ernten, Schutz vor Naturgewalten oder Heilung von Krankheiten. Im Resultat mag Aufklärung erfolgreicher sein, doch verhalf sie nicht zu einer sicheren und menschlichen Welt, vielmehr sind Leid und Gefahr noch immer allgegenwärtig - nicht zuletzt durch die Menschheit selbst. Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. 26 Der aufklärerische Drang, die Natur zu kontrollieren, hat vor den Menschen nicht Halt gemacht. Statt die Menschheit in das Reich der Vernunft zu führen, hielten die technischen, kommunikativen und organisatorischen Errungenschaften der Aufklärung Einzug in das oftmals barbarische Ringen um Herrschaft, wie es die Menschen untereinander immerfort ausüben. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. [...] Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. 27 Schlussendlich stehen Aufklärung, Technik, Wissen, ja Natur und Gesellschaft insgesamt den Menschen fremd gegenüber: Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. 28 25 Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 6. 26 Ebd., S. 9. 27 Ebd., S. 10. 28 Ebd., S. 15. 320 <?page no="320"?> Der Mensch hat sich zu einem Spielball seiner eigenen Erfiindungen, seines eigenen Wissens, seiner eigenen Macht, seiner eigenen Organisationsformen gemacht. Die Menschheit beherrscht die Natur und gibt sich selbst die Regeln des Zusammenlebens. Wenn sie sich dabei den Regeln der kapitalistischen Marktwirtschaft unterworfen hat, dann gab sie sich lieber einem unbeherrschbaren Mechanismus hin, statt selbst die Vernunft walten zu lassen. Indem die bürgerliche Wirtschaft die Gewalt durch die Vermittlung des Marktes vervielfachte, hat sie auch ihre Dinge und Kräfte so vervielfacht, daß es zu deren Verwaltung nicht bloß der Könige, sondern auch der Bürger nicht mehr bedarf: nur noch Aller. Sie lernen an der Macht der Dinge, der Macht endlich zu entraten. 29 An die Stelle der Naturgewalten hat die Aufklärung die Gewalt des Marktes und der Machtausübung gesetzt. Das alles schrieben Horkheimer und Adorno während des Krieges, als das volle Ausmaß des unmenschlichen Massenmordens seitens der Deutschen noch nicht bekannt war. Sechs Jahre nach Kriegsende bringt Adorno seine Fassungslosigkeit in einem Satz zum Ausdruck: »Das Ganze ist das Unwahre.« 30 Eineinhalb Jahrhunderte zuvor hatte Georg Hegel geschrieben: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.« 31 Von einem sich vollendenden Wesen konnte angesichts des Zweiten Weltkriegs keine Rede sein. Die Welt erschien unvernünftiger denn je und im ganzen Geschehen kein Fünkchen Hofffnung auf Erfüllung eines menschlich erstrebenswerten Versprechens zu stecken. Wie also umgehen mit den ungeheuerlichen Geschehnissen? Welche Haltung einnehmen angesichts der Barbarei? Wie weitermachen nach dem ebenso hasserfüllten wie eiskalten Mord an so vielen Menschen? Wie weiterleben unter all den Tätern? Mit klaren Worten macht Adorno deutlich, was ihn ebenso hilfwie ratlos macht: Der Gedanke, daß nach diesem Krieg das Leben ›normal‹ weitergehen oder gar die Kultur ›wiederaufgebaut‹ werden 29 Ebd., S. 48 f. 30 Adorno, Minima Moralia, S. 55. 31 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 24. 321 <?page no="321"?> könnte - als wäre nicht der Wiederaufbau von Kultur allein schon deren Negation -, ist idiotisch. Millionen Juden sind ermordet worden, und das soll ein Zwischenspiel sein und nicht die Katastrophe selbst. [...] Man muß nur an die Rache für die Ermordeten denken. Werden ebenso viele von den anderen umgebracht, so wird das Grauen zur Einrichtung und das vorkapitalistische Schema der Blutrache, das seit undenklichen Zeiten bloß noch in abgelegenen Gebirgsgegenden waltete, erweitert wieder eingeführt, mit ganzen Nationen als subjektlosem Subjekt. Werden jedoch die Toten nicht gerächt und Gnade geübt, so hat der ungestrafte Faschismus trotz allem seinen Sieg weg, und nachdem er einmal zeigte, wie leicht es geht, wird es an anderen Stellen sich fortsetzen. [...] Auf die Frage, was man mit dem geschlagenen Deutschland anfangen soll, wüßte ich nur zweierlei zu antworten. Einmal: ich möchte um keinen Preis, unter gar keinen Bedingungen Henker sein oder Rechtstitel für Henker liefern. Dann: ich möchte keinem, und gar mit der Apparatur des Gesetzes, in den Arm fallen, der sich für Geschehenes rächt. Das ist eine durch und durch unbefriedigende, widerspruchsvolle und der Verallgemeinerung ebenso wie der Praxis spottende Antwort. Aber vielleicht liegt der Fehler schon bei der Frage und nicht erst bei mir. 32 Der Sieg der Alliierten beendete die Herrschaft der Nationalsozialisten. Deutschland wurde in eine britische, eine französische, eine sowjetische und eine US-amerikanische Besatzungszone aufgeteilt. Während neben Millionen Juden, Polen und Russen aufgrund des deutschen Massenmordens und Vernichtungskriegs ihr Leben verloren, führten viele Mitglieder der SA, der SS, der NSDAP oder Wähler Hitlers nach dem Krieg unbehelligt ihr Leben weiter und behielten nicht selten im Staatsdienst ihre Stelle. Erstaunlich schnell erlangte Deutschland wieder ein eigenes Staatswesen. Die westlichen Alliierten ermöglichten im Mai 1949 die Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) im Westen, während die Sowjetunion noch im selben Jahr mit der Schafffung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) antwortete. Schon zuvor waren große Teile Preußens in den polnischen Staat übergegangen. Mitten durch Deutschland verlief die neue Konfliktlinie der internationalen Politik. Es kämpften 32 Adorno, Minima Moralia, S. 61 f. 322 <?page no="322"?> nicht mehr westliche Demokraten zusammen mit östlichen Sowjets gegen mitteleuropäische Faschisten, stattdessen standen sich quer durch Europa Kapitalisten und Kommunisten unversöhnlich direkt gegenüber. Der Osten Europas wurde fortan von der Sowjetunion dominiert und der Westen verbündete sich unter der Führung der USA. Der Zweite Weltkrieg ging nahtlos in einen Kalten Krieg über, der zwar ohne Wafffengewalt ausgetragen wurde, aber dafür mit der unentwegten Drohung der totalen Vernichtung durch Atomwafffen. Nachdem die USA mit der völligen nuklearen Zerstörung der Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 Japan zum Frieden gezwungen hatten, dauerte es nur vier Jahre ehe auch die Sowjetunion über die vernichtenden Atombomben verfügte. Ost und West standen sich unversöhnlich gegenüber, die Nuklearwafffen aber ließen jede kriegerische Konfliktlösung ausscheiden, wollte man nicht die Auslöschung jeglicher Zivilisation oder gar der Menschheit insgesamt riskieren. Noch im Gründungsjahr der Bundesrepublik kehrte Horkheimer nach Frankfurt zurück, wo er eine Professur für Philosophie und Soziologie erhielt. Adorno folgte vier Jahre später in eine BRD, für dessen neue Verfassung, das Grundgesetz, die Lehre aus den Fehlern der Weimarer Verfassung gezogen wurden und die folgerichtig mit grundlegenden Menschenrechten beginnt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« (Art. 1) Der Bundespräsident wird nicht mehr direkt vom Volk gewählt, sondern durch gemeinsame Wahl vom demokratisch zusammengesetzten Bundestag und vom Bundesrat (als Vertretung der Bundesländer) bestimmt. Der Bundeskanzler wird nur durch den Bundestag gewählt. Auf diese Weise können beide, Bundeskanzler und Präsident, nicht ins Amt gelangen, wenn sie nicht die Mehrheit des Parlaments hinter sich haben. Hatte in der Weimarer Republik häufiig die Regierung gegen den Reichstag gearbeitet, so wurde in der BRD beides eng verknüpft. Auch in der DDR wurden Präsident und Ministerpräsident durch Volks- und Länderkammer bestimmt. Insofern ähneln sich die Konstruktionen, aber die Wahlverfahren unterschieden sich deutlich. Während in der BRD beliebig viele Parteien mit jeweils eigenen Kandidatenlisten um die Gunst der Wähler antraten, galt in der DDR die Einheitslistenwahl. Dort stand lediglich eine einzige Liste mit Kandidaten zur Auswahl, von der man mühsam einzelne Namen durchstreichen konnte, wogegen 323 <?page no="323"?> zustimmte, wer den Zettel unverändert abgab. Obwohl damit der Wahlausgang schon vorgegeben wurde, fälschte die sozialistische Regierung regelmäßig das Ergebnis, um von 99 Prozent Zustimmung sprechen zu können. In der Bundesrepublik wurde Adorno Zeuge des sogenannten Wirtschaftswunders. Schon 1952 waren die Deutschen ähnlich wohlhabend wie vor Kriegsbeginn. 13 Jahre später lag das Einkommen bereits doppelt so hoch. Adornos Einschätzung änderte sich dadurch nicht. 1968, ein Jahr vor seinem Tod sieht er eine Rückbildung der Gesellschaft ebenso am Werk wie eine des Denkens. Die Irrationalität der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur verhindert ihre rationale Entfaltung in der Theorie. Die Perspektive, daß die Lenkung der ökonomischen Prozesse an die politische Macht übergeht, folgt zwar aus der deduziblen Dynamik des Systems, ist aber zugleich eine zu objektiver Irrationalität hin. Das, nicht allein der sterile Dogmatismus ihrer Anhänger, dürfte erklären helfen, warum es längst zu keiner überzeugenden objektiven Gesellschaftstheorie mehr kam. Unter diesem Aspekt wäre der Verzicht auf jene kein kritischer Fortschritt wissenschaftlichen Geistes, sondern Ausdruck zwangshafter Resignation. Parallel zur Rückbildung der Gesellschaft läuft eine des Denkens über sie. 33 Längst habe sich das ökonomische Räderwerk jeder Beherrschbarkeit entzogen. Anders als die Liberalen glauben, handele es sich bei all den staatlichen Interventionen ins Wirtschaftsgeschehen nicht um externe Eingrifffe in marktwirtschaftliche Mechanismen. Vielmehr seien sie notwendige Selbstkorrekturen des kapitalistischen Systems: Die Macht der Produktionsverhältnisse, die nicht umgewälzt wurden, ist größer als je, aber zugleich sind sie, als objektiv anachronistisch, allerorten erkrankt, beschädigt, durchlöchert. Sie funktionieren nicht mehr selbsttätig. Der wirtschaftliche Interventionismus ist nicht, wie die ältere liberale Schule meint, systemfremd aufgepfropft, sondern systemimmanent, Inbegriffvon Selbstverteidigung; nichts könnte den Begriffvon Dialektik schlagender erläutern. 34 33 Adorno, Soziologische Schriften I, S. 359 f. 34 Ebd., S. 367. 324 <?page no="324"?> Alles hat der Kapitalismus demnach überformt, nichts kann sich ihm mehr entziehen - auch nicht das Nachdenken über die Gesellschaft. Es gibt keinen Ort mehr für Theorie, zugleich aber sei die Welt, wenn überhaupt, nur noch theoretisch zu fassen. Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit ist der Hebel anzusetzen. Das meinten Horkheimer und ich vor Jahrzehnten mit dem Begriffdes technologischen Schleiers. Die falsche Identität zwischen der Einrichtung der Welt und ihren Bewohnern durch die totale Expansion der Technik läuft auf die Bestätigung der Produktionsverhältnisse hinaus, nach deren Nutznießern man mittlerweile fast ebenso vergeblich forscht, wie die Proletarier unsichtbar geworden sind. Die Verselbständigung des Systems gegenüber allen, auch den Verfügenden, hat einen Grenzwert erreicht. 35 Das System läuft und alles und jeder muss sich unterordnen. Adorno geht davon aus, dass sich niemand mehr gegen die selbsttätige Dynamik der Gesellschaft stellen kann. Demnach wären wir alle ohnmächtig und auch die Wahlmöglichkeiten der Demokratie bewegten sich nur im Rahmen dessen, was das weltweite kapitalistische Getriebe zulässt. Eine niederschmetternde Schlussfolgerung, der man zu gern widersprechen wollte. Allein, kann man es wagen angesichts des überwältigenden, global eng verknüpften Kapitalismus? Völlig andere gesellschaftstheoretische Konsequenzen wurden in den USA gezogen, wo der ein Jahr ältere Talcott Parsons eine einflussreiche gesellschaftliche Analyse entwickelte. Beide, Adorno wie Parsons, durchlebten zwar den Zweiten Weltkrieg in Amerika, verarbeiteten ihn aber völlig unterschiedlich. Der eine als jüdisch-stämmiger Emigrant, der andere als protestantischer Soziologie-Professor an der renommierten Harvard University. Direkt nach dem Ersten Weltkrieg hatte Parsons zunächst Biologie studiert und anschließend Wirtschaftswissenschaften im amerikanischen Amherst, im englischen London und von 1925 bis 1927 schließlich im deutschen Heidelberg, wo er sich intensiv mit der Soziologie des wenige Jahre zuvor verstorbenen Max Weber auseinandersetzte. Danach übernahm Par- 35 Ebd., S. 369 f. 325 <?page no="325"?> sons eine Professur an der renommierten Harvard University im USamerikanischen Cambridge, Massachusetts. Aufgrund seiner Kenntnisse über und seine Kontakte nach Deutschland warnte er öfffentlich vor dem Nationalsozialismus, blieb aber weitgehend ungehört. Die US-Amerikaner hielten sich weiterhin an die sogenannte Monroe- Doktrin, die seit über 100 Jahren die Grundlage ihrer Außenpolitik bildete: Derzufolge wollten sie sich nicht in europäische Angelegenheiten einmischen, zugleich forderten sie seitens der Staaten Europas die Nichteinmischung nicht nur in den USA, sondern in ganz Amerika. Im Laufe des Ersten Weltkriegs wurde diese Linie vorübergehend verlassen, um sofort in die selbstgewählte politische Isolation zurückzukehren, nachdem man das Deutsche Reich und seinen menschenverachtenden U-Boot-Krieg in die Schranken gewiesen hatte. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs gaben die USA ihre Zurückhaltung schließlich erneut auf, um den Weltmachtsphantasien Deutschlands Einhalt zu gebieten. In die Isolation kehrten die Vereinigten Staaten nicht zurück, sondern übernahmen die Führung im weltweiten Ringen des kapitalistischen Westens gegen den kommunistischen Osten. Noch in den isolationistischen 1930er-Jahren hatte Parsons begonnen, eine Theorie des allgemeinen Handlungssystems zu entwickeln. Derzufolge müssen folgende vier Funktionen durch einzelne Subsysteme erfüllt sein: Erstens Anpassung (engl. Adaptation) durch das Verhaltenssystem, also den Organismus; zweitens Zielerreichung (Goal-attainment) durch die Persönlichkeit und ihre Motivation; drittens Integration (Integration) durch Rollen innerhalb des Sozialsystems, also der Gesellschaft; und viertens Strukturerhaltung (Latent pattern maintenance) durch kulturelle Werte. Handlungen müssen sich also an kulturelle Vorgaben halten und innerhalb der Gesellschaft abgestimmt sein, sie sind getragen von persönlichen Zielen und abhängig von körperlicher Umsetzbarkeit. Dieses (nach den Anfangsbuchstaben der vier Funktionen) sogenannte AGIL-Schema ist sehr allgemein gehalten. Es soll auch allgemein anwendbar sein, denn in jedem Subsystem muss jede der vier genannten Funktionen erneut erfüllt sein, das AGIL-Schema also nochmals zur Anwendung kommen. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Parsons hierbei den Sozialsystemen (also dem »I« des allgemeinen Handlungssystems), in denen die Interaktion der Menschen untereinander stattfiindet. Gemäß der Wiederanwendung des AGIL-Schemas stellt dort die Wirtschaft die 326 <?page no="326"?> Anpassung (A) an die Umwelt her und die Politik erstrebt eine Zielerreichung (G) für das Gemeinwesen. Wodurch aber zeichnet sich dieses aus? Nach Parsons wird ein Gemeinwesen von Solidarität und von der integrativen Wirkung der Normen (I) getragen: »Die gesellschaftliche Ordnung erfordert klare und deutliche Integration, womit wir einerseits normative Kohärenz und andererseits gesellschaftliche ›Harmonie‹ und ›Koordination‹ meinen.« 36 Das Gemeinwesen umfasst demzufolge das Zusammenwirken auf Grundlage allgemein bekannter Rollenerwartungen und einer anerkannten Gesetzeslage. Diese Integration könne aber nur gelingen, wenn die Regeln des Zusammenlebens durch gemeinsame kulturelle Werte (L) legitimiert sind. Den Kern eines Gesellschaftssystems bildet die normative Ordnung, durch die das Leben einer Bevölkerung kollektiv organisiert wird. Als Ordnung enthält sie Werte sowie differenzierte und partikularisierte Normen und Regeln, die sämtlich eines Kulturbezuges bedürfen, um als sinnvoll und legitim gelten zu können. 37 Kultur bedeutet für Parsons (wie in den USA nicht unüblich) in erster Linie Religion: Ohne daß man die genaue Position auf dieser Entwicklungslinie bestimmen könnte, läßt sich doch sagen, daß ein Legitimationssystem stets auf denjenigen Begründungszusammenhang bezogen und sinnhaft durch ihn bedingt ist, dem die Ordnung aller Beziehungen zur ›letzten‹ Wirklichkeit (ultimate reality) entspringt. Mit anderen Worten: Seine Begründung ist in irgendeinem Sinne immer religiöser Art. 38 Folgte man dem AGIL-Schema, bedürfte es für eine Gesellschaft, einer Wirtschaft, die alles Überlebenswichtige herstellt und daneben eines politischen Systems, das für alle verbindliche Entscheidungen triffft und so gemeinsame Ziele anstrebt, außerdem noch einer kulturelle Grundlage, die von allen in dem Maße geteilt wird, dass sie 36 Parsons, Das System moderner Gesellschaften, S. 21. 37 Ebd., S. 127. 38 Ebd., S. 129. 327 <?page no="327"?> bestehende Normen ausreichend rechtfertigen kann. Das Gemeinwesen regelte das Zusammenleben der Menschen und die Verzahnung von Wirtschaft, Politik und Kultur; es hielte die verschiedenen Bereiche zusammen. Von Gesellschaft spricht Parsons dann, wenn diese Funktionen sich in einem Gemeinwesen so bündeln, dass dieses eine gewisse Eigenständigkeit nach außen hin erreicht. Bei der Definition von ›Gesellschaft‹ können wir ein Kriterium verwenden, das zumindest bis zu Aristoteles zurückgeht. Gesellschaft ist die Klasse von Sozialsystemen, die den höchsten Grad an Autarkie (self-sufficiency) als System im Verhältnis zu ihrer Umwelt erreichen. 39 Bei dieser Autarkie oder Selbstgenügsamkeit denkt Parsons an Staaten. Vorbildlich erscheinen ihm die USA, die unter der Monroe- Doktrin genau dieses Ziel verfolgt hatten. An ihnen preist er, dass dort der ursprünglich religiös begründete »Moral- oder Wertekonsens« 40 nicht zerstört, sondern verallgemeinert wurde. Auf dieser allgemein akzeptierten Grundlage habe sich eine stark integrierte und autarke Gesellschaft herausgebildet. Hing aber nicht in den 1960er- Jahren, in denen Parsons dies niederschrieb, die Wirtschaft stark von den Öleinfuhren aus anderen Ländern ab? Waren die politischen Entscheidungen nicht, nachdem Parsons in einer Zeit des selbstgewählten amerikanischen Isolationismus aufgewachsen war, während des Zweiten Weltkriegs massiv vom Gegensatz zum Deutschland Hitlers und später dann vom Gegensatz zur Sowjetunion geprägt? Konnte unter diesen starken weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Verstrickungen von Autarkie überhaupt die Rede sein? Stellte außerdem nicht auch die schwarze Bevölkerung mit ihrem Aufbegehren gegen Benachteiligungen allerorten Solidarität und Gerechtigkeit in den USA infrage? Protestierten 1968 nicht weltweit Studierende gegen den starren kulturellen Wertekanon, von dem sie sich eingeschränkt fühlten? Konnte angesichts der Unruhen und der Zweifel an überkommenen Regeln von Integration die Rede sein? Wenn aber schon für die Vereinigten Staaten Vorbehalte gegen eine allzu harmonische Beschreibung von Gesellschaft aufkommen, wie sehr galt das erst für andere Länder und Zeiten? War das nationalsozialistische Deutsche Reich, das schon 39 Parsons, Das System moderner Gesellschaften, S. 126. 40 Ebd., S. 126. 328 <?page no="328"?> aufgrund der Blockade durch die Alliierten sehr autark wirtschaften musste, keine Gesellschaft, weil es nicht über verallgemeinerbare Werte verfügte? Gab es in den Handelsnationen, wie sie Niederländer und Engländer bildeten, keine Gesellschaft, weil schon aufgrund des ebenso regen wie einträglichen Handels Autarkie gar nicht erst angestrebt wurde? Betrachtete der amerikanische Soziologe all die unabhängig gewordenen Kolonien in Afrika weiterhin nur als Anhängsel anderer Gesellschaften, obwohl sie formal selbstständige Staaten geworden waren? Fast scheint es so, als hätte Parsons die Welt nicht so beschrieben, wie sie sich darbot, sondern wie sie aus staatlicher Sicht hätte sein sollen: Die Wirtschaft kümmert sich um Wohlstand für alle; die Politik sorgt für die richtigen Weichenstellungen; die Kultur liefert ebenso anerkannte wie allgemeingültige Werte und Moralvorstellungen; und der Staat hält allseits respektiert alles zusammen. Die Rädchen greifen ineinander und bilden insgesamt eine Gesellschaft, die ungestört von den umgebenden Staaten sich selbstgenügsam entfalten kann. Mitten in einer Welt, in der internationale Verflechtungen stetig zunehmen, lässt Parsons Staat und Gesellschaft zusammenfallen. Es entsteht eine »Container-Theorie der Gesellschaft«, 41 wie Ulrich Beck das Jahrzehnte später nennen wird. Längst waren die Handelsströme weltweit, die politischen Entscheidungen vieler Länder geprägt von der weltpolitischen Großwetterlage des Ost-West-Konflikts, herrschende kulturelle Moralvorstellungen als engstirnig und bestehende Gesetzeslagen von jungen Bürgern als diskriminierend angegrifffen worden. Moderne Staaten, keineswegs harmonische Orte integrativer Solidarität, wie man bei Parsons den Eindruck bekommen könnte, zeigten gleichwohl eine erstaunliche Widerstandskraft gegenüber widerstreitenden Strömungen in der Bevölkerung. Daran mag die Demokratie, die nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit enorm an Verbreitung gewann, ihren Beitrag geleistet haben. Nicht im Deutschland zwischen den Kriegen, aber sonst hat sie sich oftmals als ein Instrument gezeigt, das in der Lage ist, zwischen unterschiedlichen Interessen einen Ausgleich zu fiinden und den Wandel des gesellschaftlichen Lebens mitzugestalten. Auf nationalstaatlicher Ebene ist die moderne Demokratie durchaus erfolgreich und fügt sich damit perfekt ins Gesellschaftsbild Parsons’. 41 Beck, Was ist Globalisierung? , S. 49. 329 <?page no="329"?> Sie tut ebenfalls so, als wäre der Staat ein weitgehend autarker Container, in dem die Bürger unabhängig von der Welt drumherum per Wahl darüber entscheiden könnten, welche Regeln das Zusammenleben prägen, welche kulturellen Werte den Alltag bestimmen, welche Ziele die Politik anstreben und welche wirtschaftlichen Freiheiten die Unternehmen haben sollen. Im Demokratiebetrieb verhält es sich aber nicht anders als im Hafenbetrieb: Neben jedem Container stehen viele, viele andere. Wenn man Parsons’ Ansatz näher betrachtet, kann man sich die Frage stellen, wofür es der Demokratie bedarf. Gehört sie doch zweifellos zum politischen Teilsystem einer Gesellschaft. Dieses triffft kollektiv bindende Entscheidungen, um seine gesellschaftliche Funktion der Zielerreichung (G) zu erfüllen, wobei funktional unerheblich ist, wie diese zustande kommen. Zumal Parsons die Funktion der Integration (I) in einem anderen gesellschaftlichen Teilsystem verortet, das er als »gesellschaftliche Gemeinschaft« 42 bezeichnet. Diese wiederum behaftet er mit hohen Ansprüchen an Homogenität. Wo keine Gemeinsamkeit kultureller Werte und enger solidarischer Zusammenhalt bestehen, kann sich Parsons Gesellschaft nicht vorstellen; nicht umsonst verwendet er hier den Begrifff der Gemeinschaft. Das erinnert überraschend deutlich an Carl Schmitt, der Homogenität über alles andere stellt. Ein Bedarf an Demokratie ergibt sich daraus streng genommen gar nicht mehr, liegt deren Stärke doch gerade darin, Vielfalt auszuhalten, unterschiedliche Vorstellungen in einen Dialog zu setzen und auf diesem Weg immer wieder aufs Neue Kompromisse zu fiinden. Bei Schmitt und Parsons erscheinen Kompromisse hingegen unnötig, weil die Gleichförmigkeit der Volksgemeinschaft und ihre geteilte kulturelle Haltung alles vorzeichnen. Es bedarf lediglich einer entschlossenen Politik, um Entscheidungen kollektiv möglichst wirkungsvoll umzusetzen. Dazu aber braucht man keine Demokratie, sondern nur eine Regierung, welcher Art auch immer. Auf jene integrative Wirkung, die Demokratie angesichts heterogener, moderner Gesellschaften zu entfalten vermag, kann man verzichten, wenn man wie Schmitt und Parsons daran glaubt, dass Gesellschaft immer schon über hohe kulturelle Homogenität integriert sein muss, um überhaupt existieren zu können. Diese Haltung hat bis heute viele 42 Parsons, Das System moderner Gesellschaften, S. 21. 330 <?page no="330"?> Anhänger, obwohl die Faszination moderner Staaten gerade darin besteht, dass sie eine kulturelle Vielfalt, wie sie mit Dutzenden Millionen Einwohnern nunmal einhergeht, auszuhalten vermag. Moderne Demokratien verkraften nicht nur unterschiedliche Religionen, sondern auch unterschiedlichste regionale Traditionen oder widerstreitende politische und wirtschaftliche Haltungen vom Konservatismus über Liberalismus bis hin zum Sozialismus. Adorno ergeht sich demgegenüber nicht in kultureller Homogenität, doch auch er vermag keine Vielfalt zu erkennen. Aus seiner Sicht hat der Kapitalismus längst alles überformt. Nichts vermag die Macht des Marktes zu durchbrechen, der uns alle im Zaum hält. Demokratie reduziert sich dann auf einen Apparat, um dem System Legitimation zu verschafffen. Ihr moderner Wahlmechanismus trägt einen geradezu marktförmigen Wettbewerbscharakter. Allerdings sind die Chancen auf diesem Markt politischer Meinungen nicht gleich verteilt, da jegliche Information einen kapitalistisch geprägten Medienapparat passiert hat. Dieser aber unterliegt der »Kontrolle der Herrschenden«, während die Konsumenten von dieser »Kulturindustrie« so eingenommen werden, »daß sie dem, was ihnen geboten wird, widerstandslos verfallen.« 43 43 Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 141 f. 331 <?page no="331"?> 18 Woher erfuhr nach Habermas und Luhmann die Politik Einschränkungen? Nachdem Fulgencio Batista im März 1953 mit Unterstützung des Militärs die Gewalt in Kuba an sich gerissen hatte, wählte einer seiner Untertanen ein ungewöhnliches Vorgehen, dagegen vorzugehen: Gegen die unrechtmäßige Machtübernahme klagte dieser auf rechtmäßigem Wege. Damit stützte sich der Kläger auf jene Verfassung, zu deren Einführung Batista selbst 13 Jahre zuvor nicht unwesentlich beigetragen hatte. Damals hatte er dafür so viel Zuspruch geerntet, dass er sogar der erste demokratische gewählte Präsident Kubas wurde. Nach Ablauf einer Amtsperiode verwehrte ihm diese Verfassung allerdings die Wiederwahl für die folgenden acht Jahre. Auch danach wollte eine Rückkehr an die Macht auf demokratischem Weg einfach nicht gelingen. Damit konnte sich Batista nicht abfiinden und riss mit Hilfe der Armee die Macht gewaltsam an sich. Genau dagegen wendete sich nun die Klage, die aber in typisch diktatorischem Stil abgewiesen wurde. Nachdem der verfassungsgemäße Weg, der Verfassung wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, vorhersehbar gescheitert war, sah sich der Kläger berechtigt zum bewafffneten Widerstand überzugehen. Er sammelte gut 100 Mitstreiter, um eine Kaserne anzugreifen, deren Besatzung zehnmal stärker war. Man setzte auf den Überraschungsefffekt und darauf, dass sich die Bevölkerung gleich auf die Seite der Rebellen schlagen würde, um den Diktator zu vertreiben. Der Angrifff scheiterte allerdings an einem unglücklichen Zufall und an mangelnder Ortskenntnis mancher Revolutionäre. Viele Angreifer fanden den Tod, neben einigen anderen entkam Fidel Castro nur knapp mit dem Leben. Dieser 25-jährige Jurist war es auch gewesen, der wenige Monate zuvor noch die Klage gegen Batista geführt hatte, und sich diesmal als Angeklagter vor Gericht wiederfand. Dort unternahm er es, sich mit berühmt gewordenen Worten zu verteidigen: »Verurteilt mich; das hat nichts zu bedeuten; die Geschichte 332 <?page no="332"?> wird mich freisprechen! « 1 Als er zwei Jahre später aus der Haft entlassen wurde, ging der ungebrochene Revolutionär mit einigen Dutzend Gleichgesinnten nach Mexiko, um dort militärische Grundlagen einzuüben. Zusammen mit 78 Kämpfern wagte Castro dann einen zweiten Umsturzversuch. Die Rebellen überquerten mit einem kleinen Boot die Karibik und landeten Anfang Dezember 1956 an Kubas Südküste. Regierungstruppen nahmen sofort den Kampf auf, wodurch die meisten Angreifer umkamen. Nur einem Viertel der Truppe gelang die Flucht in die Berge. Von dort aus begannen sie einen Krieg der kleinen Nadelstiche, der ihnen immer mehr Unterstützer zuführte. Batista befahl zwar die Vernichtung der Rebellen, jedoch fanden seine Truppen nie deren Versteck. Castros Kämpfern gelang es außerdem im unwegsamen Gelände immer wieder, den Regierungssoldaten starke Verluste beizubringen, indem sie sie in einen Hinterhalt lockten. Nachdem die Armee bei einer eigenen Offfensive schmerzliche Verluste hinnehmen musste, gingen die Rebellen ab August 1958 zum Gegenangrifff über. Fünf Monate später ergrifff Batista die Flucht und Castro zog siegreich in der Hauptstadt Havanna ein. Die Revolution hatte gesiegt! Zur gleichen Zeit arbeitete Jürgen Habermas am Institut für Sozialforschung, dessen Rückkehr nach Frankfurt unter Max Horkheimer 1951 abgeschlossen worden war. Habermas hatte am 18. Juni 1929 als Sohn des Gummersbacher Geschäftsführers der örtlichen Industrie- und Handelskammer das Licht der Welt erblickt. Aufgewachsen in Hitler-Deutschland musste er im Alter von zehn Jahren dem nationalsozialistischen Jungvolk beitreten. Einer Aufnahme in die Hitlerjugend entging er durch seine Arbeit als Sanitäter und auch von Fronterfahrungen blieb er verschont. Nach dem Krieg studierte Habermas in Göttingen, Zürich und Bonn Philosophie, um nach erfolgreicher Promotion als freier Journalist zu arbeiten. 1956 erhielt er schließlich eine Assistentenstelle am Institut für Sozialforschung, doch sein reges politisches Engagement stieß bei Horkheimer zunehmend auf Ablehnung. Für seine Habilitation musste der junge Philosoph deshalb nach Marburg ausweichen, wo er 1961 die Schrift Strukturwandel der Öffentlichkeit vorlegte, um noch im selben Jahr eine Professur in Heidelberg anzutreten. In seiner vielbeachteten Habilitationsschrift 1 nach Skierka, Fidel Castro, S. 52. 333 <?page no="333"?> betrachtet Habermas Legitimation nicht als etwas, das in Abhängigkeit vom bestehenden Herrschaftstypus einfach beansprucht werden kann, wie Max Weber das nahegelegt hatte. Vielmehr sieht er vom öffentlichen Räsonnement eine rechtfertigende Wirkung ausgehen, die nicht von den Herrschenden gesteuert, sondern von den Beherrschten getragen wird. Bürgerliche Öffentlichkeit läßt sich vorerst als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute begreifen; diese beanspruchen die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit alsbald gegen die öffentliche Gewalt selbst, um sich mit dieser über die allgemeinen Regeln des Verkehrs in der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen. Eigentümlich und geschichtlich ohne Vorbild ist das Medium dieser politischen Auseinandersetzung: das öffentliche Räsonnement. In unserem Sprachgebrauch bewahrt dieses Wort unüberhörbar die polemische Nuance beider Seiten: die Berufung auf Vernunft und ihre verächtliche Herabsetzung zur nörgelnden Vernünftelei zugleich. [...] Die Bürgerlichen sind Privatleute; als solche ›herrschen‹ sie nicht. Ihre Machtansprüche gegen die öffentliche Gewalt richten sich darum nicht gegen die Zusammenballung von Herrschaft, die ›getilgt‹ werden müßte; sie unterlaufen vielmehr das Prinzip der bestehenden Herrschaft. Das Prinzip der Kontrolle, das das bürgerliche Publikum diesem entgegensetzt, eben Publizität, will Herrschaft als solche verändern. Der im öffentlichen Räsonnement sich darstellende Machtanspruch, der eo ipso auf die Form eines Herrschaftsanspruchs verzichtet, müßte, wenn er sich durchsetzen würde, zu mehr als nur zu einer Auswechslung der Legitimationsbasis einer im Prinzip aufrechterhaltenen Herrschaft halten. 2 Basierend auf den sich verbreitenden Zeitungen hat das lesekundige Bürgertum des 19. Jahrhunderts, also das Bürgertum des Deutschen Bundes und später des Kaiserreichs, angefangen, politische Fragen zu erörtern. Themen, von denen die Bürger ohne massenmediale Verbreitung noch wenige Jahrzehnte zuvor nichts mitbekommen hatten, wurden vielerorts im kleinen Kreis ebenso wie in öfffentlicher Runde diskutiert. Zwangsläufiig wurden auch Entscheidungen der Regierung 2 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 86 f. 334 <?page no="334"?> Gegenstand solcher Diskussionen. Wenn das öffentliche Räsonnement dann zu einem anderen Ergebnis kommt, stellt das letztendlich die Richtigkeit der Regierungsentscheidung infrage - und beansprucht dadurch zugleich die Legitimität der eigenen Haltung kraft des öffentlichen Abwägens der Argumente. Durch die Restauration nach Napoléons Niederlage waren die Bürgerlichen von der Herrschaft durch die machtbewussten Monarchen ausgeschlossen worden, am politischen Geschehen nahmen sie auf diese Weise gleichwohl Anteil. Niemand konnte sie hindern, sich über die großen Fragen der Zeit auszutauschen. Und niemand konnte sie hindern, Für und Wider in öfffentlichen Diskussionsrunden abzuwägen. Gleichzeitig beansprucht, was unter solchen Bedingungen aus dem öffentlichen Räsonnement resultiert, Vernünftigkeit; ihrer Idee nach verlangt eine aus der Kraft des besseren Arguments geborene öffentliche Meinung jene moralisch prätentiöse Rationalität, die das Rechte und das Richtige in einem zu treffen sucht. 3 Abgeschnitten von den Hebeln der Macht, wurden die Diskussionen nicht durch die Machtverhältnisse entschieden, sondern durch die Kraft der Argumente. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Bürgertum nicht mehr von der Macht abgeschnitten. Die Demokratie gewährte allen Zugang zur Macht. Dennoch sieht Habermas bis heute keine idealen Bedingungen für das öfffentliche Räsonnement, weil sich in der medialen Öfffentlichkeit ein Konsens nicht aus einer gleichberechtigten Diskussion ergibt. Der hergestellte Konsensus hat natürlich mit öffentlicher Meinung, mit der endlichen Einstimmigkeit eines langwierigen Prozesses wechselseitiger Aufklärung im Ernst nicht viel gemeinsam; denn das ›allgemeine Interesse‹, auf dessen Basis allein eine rationale Übereinstimmung öffentlich konkurrierender Meinungen zwanglos sich einspielen konnte, ist genau in dem Maße geschwunden, in dem die publizistischen Selbstdarstellungen privilegierter Privatineressen es für sich adoptierten. 4 3 Ebd., S. 119 f. 4 Ebd., S. 291. 335 <?page no="335"?> Einem vernunftgemäßen Konsens steht im Wege, dass die Zugänge zur Öfffentlichkeit ungleich verteilt sind. Da die großen Massenmedien Radio, Fernsehen und Zeitungen maßgeblich von Macht und Geld getragen werden, besteht keine Chancengleichheit der Interessen. Ein Chefredakteur oder ein Konzernchef kann mehr Einfluss geltend machen als ein Fließbandarbeiter und das auch für private Vorteile nutzen. Eine auf diesem Wege hergestellte und verbreitete öfffentliche Meinung ist weniger das Ergebnis eines zwanglos herbeigeführten Konsens unter den Bürgern, denn einer massenmedialen Großwetterlage. Trotzdem ergibt sich daraus eine legitimierende Wirkung für die Politik. So wird ein als Publikum desintegriertes Publikum der Staatsbürger mit publizistischen Mitteln derart mediatisiert, daß es einerseits für die Legitimation politischer Kompromisse beansprucht werden kann, ohne andrerseits an effektiven Entscheidungen beteiligt oder der Beteiligung auch nur fähig zu sein. 5 Für den gewöhnlichen Bürger besteht keine Möglichkeit an der öfffentlichen Diskussion teilzunehmen. Er kann sie mitverfolgen, dazu beitragen kann er nicht. Dennoch verstehen sich die Massenmedien in ihrer öfffentlichkeitswirksamen Aufarbeitung aktueller Themen auch als Stellvertreter der Bevölkerung. Sie beanspruchen für ihre öfffentlich ausgehandelten Positionen Legitimation - und sie tun das durchaus unter Verweis auf ein öfffentliches Räsonnement. Allein dieses Räsonnement schließt einen Großteil der Bevölkerung aus und es entfaltet nicht das volle Potenzial der »zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede.« 6 Ende der 1950er-Jahre ging die Konfrontation zwischen Ost und West, zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen der Sowjetunion und den USA in eine neue Runde. Der Kalte Krieg näherte sich bedrohlich der Anwendung von Massenvernichtungswafffen. Von 1959 an stationierten die USA Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen in der Türkei. Unmittelbar an der südlichen Grenze der Sowjetunion wurden Wafffen aufgestellt, deren Zerstörungskraft 5 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 325. 6 Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 605. 336 <?page no="336"?> weit über diejenige jener Bomben hinausgingen, die 1945 das Leben in den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki weitgehend auslöschten und damit den Zweiten Weltkrieg beendeten. Zudem begannen die US-Amerikaner U-Boote mit Atomraketen zu bestücken und auf diesem Wege an sowjetisches Gebiet heranzuführen. Die Sowjets erkannten darin eine massive Bedrohung und rangen um eine passende Antwort. Den Boden dafür bereiteten die USA selbst im benachbarten Kuba. Die revolutionäre Regierung dort war den US- Amerikanern ein Dorn im Auge. Castro hatte sich bei der Landreform am Vorgehen der USA in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg orientiert. Die Pächter bekamen das Land, das sie bebauten, und die reichen Landbesitzer, zu denen auch Castros Vater zählte, eine geringe Entschädigung. Anders als in Japan waren diesmal aber US-amerikanische Konzerne betrofffen. Zusammen mit geflohenen reichen Kubanern ersuchten diese um staatliche Unterstützung. Die USA gewährten diese und beteiligten sich an Tausenden Sabotage-Aktionen von kubanischen Produktionsanlagen und an Dutzenden Mordanschlägen auf Castro, die allesamt erfolglos blieben. Schließlich trainierte man Freiwillige für einen Angrifff auf die Insel und überließ ihnen sogar Kriegsflugzeuge. Im April 1961 begann die Invasion in der Schweinebucht, mit der man binnen dreier Tage kläglich scheiterte. Aber Castro war nun gewarnt, dass den US-Amerikanern jedes Mittel recht war, und brauchte gegenüber dem mächtigen Nachbarn dringend einen schlagkräftigen Partner. Was lag für die Sowjetunion näher als die Situation dazu zu nutzen, um auf Kuba Atomwafffen zu stationieren? Anfang Oktober 1962 erreichten die ersten sowjetischen Raketen die Insel, die von US-amerikanischen Aufklärungsflügen unter Verletzung des kubanischen Luftraums bald schon entdeckt wurden. Militärisch betrachtete der US-Verteidigungsminister Robert McNamara das nicht als neuartige Bedrohung, verfügten die Sowjets doch bereits über Interkontinental-Raketen, mit denen sie atomare Sprengköpfe nach Amerika abfeuern konnten, während die USA deutlich mehr Nuklearwafffen besaßen: »Meine persönliche Meinung ist, dass sich überhaupt nichts ändert.« 7 Es ging also um die symbolische Strahlkraft, die davon ausging, dass die Sowjetunion in Lateinamerika, im erklärten Hinterhof der USA, Raketen stationierte, weshalb Präsident 7 nach Greiner, Die Kuba-Krise, S. 51. 337 <?page no="337"?> John F. Kennedy argwöhnte: »Sie [die Sowjets] würden ansonsten so aussehen, als wären sie mit uns gleich.« 8 Auch befürchtete er, dass der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow ihn für ängstlich halten könnte und man deshalb unbedingt Stärke beweisen müsse. Am 22. Oktober 1962 informierte Kennedy die Weltöfffentlichkeit über die sowjetischen Raketen in Kuba und kündigte eine Seeblockade der Insel an. Zugleich wurden in Florida 120 000 Soldaten zusammengezogen, fast so viele wie bei der Invasion der Normandie im Zweiten Weltkrieg. Zwei Tage darauf begann die Seeblockade. Während die US-Amerikaner trotz der nuklearen Bedrohung verwegen agierten, überwog auf sowjetischer Seite Risikovermeidung, allen voran bei Chruschtschow: »Es ist doch so, [...] wir wollten keinen Krieg anzetteln. Wir wollten sie bloß einschüchtern und die anti-kubanischen Kräfte abschrecken.« 9 Am 26. Oktober entgeht ein sowjetisches U-Boot knapp einem Torpedo. Am selben Abend hält ein US-Zerstörer Kurs auf ein anderes sowjetisches U-Boot, das aufgetaucht im Atlantik liegt und gerade noch rechtzeitig abtauchen kann, bevor es gerammt wird. In einem weiteren Fall setzen US-Amerikaner Unterwasserbomben ein, die allerdings zu schwach sind, um das U-Boot zu zerstören. Die sowjetischen Kapitäne reagieren besonnen und fliehen. In den USA wurde währenddessen die Invasion Kubas vorbereitet. Präsident Kennedy konnte sich nur mit Mühe gegen seine militärischen Berater behaupten, die gerne losgeschlagen hätten. Auf der Gegenseite waren Castro die Vorbereitungen nicht entgangen und er rief 350 000 Kubaner an die Wafffen. Er war zur Verteidigung mit allen Mitteln bereit, notfalls auch mit Atomwafffen! Was hatte er zu verlieren? Wenn die US-Amerikaner mit ihrer gesammelten militärischen Schlagkraft angegrifffen hätten, wäre Kuba ohnehin nicht zu retten gewesen. Für Chruschtschow sah die Sache anders aus. Eine Invasion der Insel war politisch schwer hinnehmbar, aber kein Weltuntergang, ein Atomkrieg hingegen schon. Er wollte sich weder auf das Spiel mit dem Feuer einlassen, das die USA zu treiben schienen, noch wollte er für die Verteidigung Kubas die ganze Menschheit opfern. Am 27. Oktober tauchte ein US-Aufklärungsflugzeug über Sibi- 8 nach Greiner, Die Kuba-Krise, S. 52. 9 nach ebd., S. 66. 338 <?page no="338"?> rien auf, woraufhin sowjetische Jagdflugzeuge aufstiegen. Beinahe zeitgleich schoss eine sowjetische Luftabwehrstellung, trotz anderslautender Befehlslage, auf Kuba eines jener US-amerikanischen Flugzeuge ab, die nun häufiig in den Luftraum eindrangen. Die Welt stand am Abgrund; oder um es mit Chruschtschow zu formulieren: »Jeder Trottel kann einen Krieg anfangen, und wenn er es einmal gemacht hat, sind selbst die Klügsten hilflos, ihn zu beenden - besonders, wenn es ein atomarer Krieg ist.« 10 Die Lösung brachte Geheimdiplomatie. Kennedy nahm auf inofffiiziellen Wegen ohne Kenntnis der Militärs Kontakt zum sowjetischen Regierungschef auf und erläuterte seine schwierige Lage: Wenn er den Militärs nachgibt, gibt es Krieg; wenn er zu mehr Zurückhaltung aufruft, steht er als Schwächling da. Am 28. Oktober erklärte Chruschtschow sich bereit, Atomwafffen und Flugzeuge von Kuba abzuziehen, wenn die USA im Gegenzug von ein Invasion der Insel Abstand nähmen. Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach Beginn der Kuba-Krise musste Chruschtschow seinen Posten räumen. Seine Parteifreunde hatten seine Bereitschaft zur Deeskalation als Schwäche aufgefasst. Noch schlimmer erging es Kennedy, der nur ein Jahr nach der Krise im November 1963 erschossen wurde. Bis heute ist ungeklärt, ob von einem kommunistischen Einzeltäter oder durch die Verschwörung jener Kreise, die gegenüber Kuba gerne eine härtere Gangart angeschlagen hätten. Zwei Jahre nach der Kuba-Krise übernahm Habermas 1964 in Frankfurt die Nachfolge von Horkheimer, wegen dem er wenige Jahre zuvor die Stadt verlassen hatte. Ein halbes Jahrzehnt später wurde der eineinhalb Jahre ältere, am 8. Dezember 1927 geborene Niklas Luhmann Professor für Soziologie in Bielefeld. Der Sohn eines Brauereibesitzers wurde im Alter von 16 Jahren Luftwafffenhelfer und geriet in Kriegsgefangenschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er Rechtswissenschaft in Freiburg und arbeitete ab 1954 als Verwaltungsbeamter in seiner Heimatstadt Lüneburg. 1960 erhielt er ein Stipendium für ein Studium der Verwaltungswissenschaften an der US-amerikanischen Harvard University, wo er Talcott Parsons kennenlernte. Nach seiner Rückkehr beendete Luhmann seine Verwaltungslaufbahn und wechselte in die Wissenschaft, wo er sich schnell 10 nach ebd., S. 89. 339 <?page no="339"?> etablierte. Noch im Jahr seiner Berufung nach Bielefeld veröfffentliche Luhmann das Buch Legitimation durch Verfahren, worin der gelernte Jurist die legitimierende Kraft prozessualer Abläufe darlegt. Legitimation durch Verfahren führt demnach nicht unbedingt zu realem Konsens, zu gemeinschaftlicher Harmonie der Ansichten über Recht und Unrecht und auch nicht zu dem, was Parsons rätselvoll ›articulation of power with real commitments‹ nennt. Überhaupt kann Legitimität als ›Internalisierung‹ einer Institution, als persönliche Einverseelung sozial gebildeter Überzeugungen nicht vollständig begriffen werden. Vielmehr geht es im Kern um einen Vorgang der Umstrukturierung von Rechtserwartungen, also des Lernens im sozialen System, der weitgehend dagegen indifferent gemacht werden kann, ob derjenige, der seine Erwartungen ändern muß, zustimmt oder nicht. Es scheint, daß damit ein Verhältnis von Individuum und Sozialordnung angebahnt wird, das auf stärkerer Systemtrennung beruht und dadurch ein höheres Potential für Komplexität aufweist: Die Sozialordnung kann auf diese Weise von der Eigenart individueller Persönlichkeiten als Motivierungssystemen weitgehend unabhängig gestellt werden und eben deshalb eine ausgeprägte Individualisierung der Persönlichkeiten erlauben. Ganz allgemein wird man die soziale Funktion eines Konfliktlösungsmechanismus nicht als Auslösung bestimmter psychischer Prozesse des Akzeptierens zu begreifen haben, sondern eher als Immunisierung des sozialen Systems gegen diese Prozesse. 11 Weber unterscheidet verschieden geartete Muster des Legitimitätsanspruchs, den Herrschende ganz unabhängig davon hegen, ob das als Rechtfertigung taugt. Habermas begnügt sich nicht mit Ansprüchen, sondern sucht nach einer echten Grundlage für Legitimität, und fiindet sie im öfffentlichen Räsonnement. Je freier über eine Sache diskutiert wurde, desto legitimer ist ein resultierender Konsens. Was aber, wenn sich kein Konsens fiindet? Wie soll man im Falle von Streitigkeiten weitermachen? Luhmanns Antwort lautet: Da helfen nur Verfahren! Sie können Legitimation für die Option der einen oder anderen Seite herstellen, ohne dass sich die Streitenden deshalb einig 11 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 119 f. 340 <?page no="340"?> sein müssen. Verfahren machen unabhängig von persönlichen Empfiindlichkeiten und Überzeugungen. Ganz offfensichtlich hat der Jurist hier stellvertretend ein gewöhnliches Gerichtsverfahren vor Augen. Aber selbstverständlich ist das auch auf politische Wahlen oder Ausschreibungen von Wirtschaftsunternehmen oder wissenschaftliche Karrierewege anwendbar. Und ebenso offfensichtlich strukturieren solche Verfahren die Erwartungen der Beteiligten: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mit einer bestimmten Haltung als Gewinner aus dem Verfahren hervorgehe? Die Individuen stellen sich darauf ein, was erfolgversprechend ist. Erstaunlicherweise werden die Verfahrensergebnisse häufiig ganz unabhängig davon anerkannt, ob die Beteiligten sie für gerechtfertigt halten oder nicht. Schon die Erwartungssicherheit sorgt für Legitimation. Verfahren erfüllen hier die Funktion, Akzeptanz bei unterschiedlichen Aufffassungen herzustellen. Mit dieser funktionalen Sicht verhält sich Luhmann gegenüber der inhaltlichen Rechtfertigung ebenso indiffferent wie Max Weber. Die Funktion des Verfahrens der politischen Wahl [...] liegt nach alldem nicht genau in der Richtung der offiziellen Zielangabe, die besten Repräsentanten des Volkes für politische Ämter auszulesen. Die Wahl leistet an kritischer Stelle einen Beitrag zur Ausdifferenzierung des politischen Systems. Sie beschafft dem politischen System hohe Komplexität und strukturelle Unbestimmtheit, vor allem eine gewisse Unberechenbarkeit der Entscheidungslagen als Anreiz für die systeminterne Konstruktion und Eliminierung von Alternativen. Das politische System kann sich so zahlreichen und rasch fluktuierenden Bedürfnissen der Gesellschaft besser anpassen. Die Wahl zwingt außerdem den einzelnen, eine Vielzahl möglicher Entscheidungsmotive selbst zu eliminieren [...], und entlastet damit das politische System von direkter Bindung an andere gesellschaftliche Rollen. Sie dient schließlich der Absorption von Protesten. Eine ungewöhnlich hohe operative Autonomie des politischen Systems ist die Folge. Daß dessen Entscheidungen durchgehend Zustimmung finden, kann durch Veranstaltung von Wahlen allein kaum gewährleistet werden, aber ein durch Wahlen gebildetes politisches System kann so viel Alternativen erlangen, daß es sich in seinen selektiven Entscheidungsverfahren selbst legitimieren kann. 12 12 Ebd., S. 173. 341 <?page no="341"?> Der Politik misst Luhmann aufgrund des Wahlverfahrens höhere Anpassungsfähigkeit bei. Wenn die Wähler zwischen verschiedenen Alternativen entscheiden, können sie dabei ihre aktuelle Situation einfließen lassen. Für das politische System ergibt sich daraus mehr Unbestimmtheit und damit ein größerer Möglichkeitsraum. Zugleich zwingt das Verfahren zur Entscheidung, kann aber dennoch auf breite Zustimmung hofffen, weil sich bei Protest stets darauf verweisen lässt, dass das Verfahren jedem offfen steht. Verschafffen damit Verfahren unabhängig von ihrer Ausgestaltung Legitimation? Ist nicht eher die Ausgestaltung des Verfahrens, die darin geborgene Chancengleichheit entscheidend dafür, ob den Ergebnissen Anerkennung erwächst? Regt sich nicht gerade heftiger Protest gegen Verfahren, die von vornherein unfair erscheinen? Erschienen die politischen Wahlen in der DDR etwa nicht als Farce? Führte das dynastische Vererbungsverfahren der Monarchie tatsächlich zu Akzeptanz? Ein Verfahren verschaffft noch keine Legitimität, sondern bei seiner Ausgestaltung werden ganz wesentlich jene Kriterien eine Rolle spielen, die Habermas beim öfffentlichen Räsonnement wichtig waren: Das Verfahren muss möglichst offfen für alle sein und zugleich Chancengleichheit für die Beteiligten herstellen: Unter diesen Voraussetzungen kann es dann im Sinne Luhmanns Konflikte kanalisieren und Entscheidungen legitimieren. Den Wahlen misst Luhmann eine große Rolle bei der Ausdiffferenzierung des politischen Systems bei, womit er an die Gliederung der Gesellschaft in Teilsysteme anknüpft, wie sie sein Lehrmeister Parsons vertreten hat. Diese funktionale Diffferenzierung erläutert Luhmann 1970 im Aufsatz Gesellschaft: Funktionale Differenzierung beruht auf dem Prinzip der Ungleichheit der Untersysteme und macht deren gesellschaftliche Umwelt, wie leicht einzusehen, dadurch komplexer und schwieriger. Diese Zunahme an Innenkomplexität muß kompensiert werden durch steigende Anforderungen an die Ordnungsleistung des Gesamtsystems, vor allem dadurch, daß die ungleichmachenden Differenzierungsgesichtspunkte den Systemproblemen des Gesamtsystems entnommen werden, so daß diese durch spezialisierten Kräfteeinsatz besser gelöst werden können. Deshalb läuft ungleiche Differenzierung immer auf funktionale Differenzierung hinaus: funktional für 342 <?page no="342"?> das Gesamtsystem. In dem Maße, als diese Funktionalität gesichert ist, können alle Untersysteme sich darauf verlassen, daß die Gesamtordnung hält: daß politische Macht anrufbar und entscheidungsfähig ist, daß Geld seinen Wert behält, daß Wahrheiten feststellbar sind, daß Kinder mit Liebe gezeugt und großgezogen werden, da für alle Eventualitäten des Lebens spezialisierte Organisationen bereitstehen in dem Sinne, daß das Versagen des einen Leistungsgefüges zur Aufgabe des anderen wird. [...] Das technisch Mögliche ist nicht immer auch wirtschaftlich möglich, oder rechtlich möglich, oder politisch möglich. Alle Einzelsysteme entwerfen infolge ihrer abstrahierten Funktionsperspektive und ihrer generalisierten Indifferenz einen zu weiten Horizont von Möglichkeiten. Was alles kann im Namen passionierter Liebe, wertfreier Wahrheitssuche, politischer Demokratie, wirtschaftlicher Profitmaximierung, im Interesse hygienischer Lebensführung, Bewahrung des kulturellen Erbes, militärischer Sicherheit usw. gefordert werden! Funktional differenzierte Gesellschaften leisten durch ihre Struktur eine laufende Überproduktion von Möglichkeiten. [...] Das bestätigt die oben getroffene Feststellung, daß das Gesellschaftssystem Reduktion selbstkonstituierter Komplexität leisten muß. Auf die alten Formeln anspielend, könnte man daher sagen: das Ganze ist weniger als die Summe seiner Teile. 13 Die Anspielung bezieht sich auf Aristoteles, der gut 2300 Jahre zuvor sinngemäß geschrieben hatte, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sei: »Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, daß das Ganze eines ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist nicht nur seine Elemente. Die Silbe nämlich ist nicht einerlei mit ihren Elementen (Buchstaben), das ba nicht einerlei mit b und a.« 14 Demgegenüber geht Luhmann davon aus, dass die einzelnen Teilsysteme der Gesellschaft wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft usw. in sich einen größeren Raum an Möglichkeiten generieren, als in der Gesellschaft insgesamt realisiert werden kann. Die Gesellschaft und in ihr die Teilsysteme schränken sich gegenseitig ein. Indem jedes Teilsystem eine bestimmte Funktion für die Gesellschaft als umfassendes Gesamtsystem erfüllt, kann es nicht alles zulassen. Was wirtschaftlich lukrativ 13 Luhmann, Soziologische Aufklärung 1, S. 148 f. 14 1041b in Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden. Band 5, S. 168. 343 <?page no="343"?> erscheint, kann rechtlich verboten sein. Was politisch per Beschluss angestrebt wird, kann wissenschaftlich widersinnig sein. Die Teilsysteme bauen eine Komplexität auf, die von dem in der Gesellschaft Möglichen wieder reduziert wird. »Die Funktion der Gesellschaft liegt danach in der Ausgrenzung unbestimmbarer und der Einrichtung bestimmter oder doch bestimmbarer, für ihre Teilsysteme und letztlich für das Verhalten tragbarer Komplexität.« 15 Doch nicht nur der Gesellschaft fällt eine Funktion zu, im Rahmen funktionaler Diffferenzierung erfüllen auch alle Teilsysteme jeweils eine Funktion. Im Falle des politischen Systems liegt diese darin, kollektiv bindende Entscheidungen herbeizuführen, wie Luhmann noch im Jahr vor Antritt seiner Professur im Aufsatz Soziologie des politischen Systems ausführt: »Das politische System wird, mit anderen Worten, durch Ausdiffferenzierung und durch die Bedingungen hoher Systemautonomie in die Lage versetzt, entscheiden zu können, und die spezifiisch politische Funktion wird auf der Ebene konkreter Interaktion dadurch erfüllt, daß diesen Entscheidungen bindende Wirkung verschaffft wird.« 16 Nach Jahren des sogenannten Wirtschaftswunders brachte der Ölpreisschock 1973 die Wirtschaft erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg ins Stocken. Auslöser dafür war der sogenannte Jom-Kippur-Krieg, der vierte arabisch-israelische Krieg innerhalb von 25 Jahren. Die Vorgeschichte beginnt schon mit dem Ersten Weltkrieg, wenn man davon absieht, dass die Rückkehr der Juden ins gelobte Land eine viel ältere Geschichte ist. Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches an der Seite des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns wurde Palästina vom Völkerbund unter britische Verwaltung gestellt, die den schwer zu vereinbarenden Auftrag erhielt, den Juden eine Rückkehrmöglichkeit einzuräumen und zugleich die ansässige Bevölkerung zu schützen. Die Briten teilten das Gebiet in zwei Teile, aus denen die beiden heutigen Staaten Jordanien und Israel hervorgegangen sind. Nur in Letzterem durften sich einwandernde Juden ansiedeln. Aufgrund der Verfolgung durch die deutschen Nationalsozialisten hatten sich schon vor Ende des Zweiten Weltkriegs viele Juden nach Palästina gerettet. Während Jordanien davon unberührt seine 15 Luhmann, Soziologische Aufklärung 1, S. 149. 16 Ebd., S. 159. 344 <?page no="344"?> Selbstständigkeit als Staat erlangte, barg im anderen Teil Palästinas die Staatsgründung Schwierigkeiten. Hier trafen Neuankömmlinge auf Alteingesessene, Juden auf Muslime, von Europa und Nordamerika unterstützte Israelis auf von den arabischen Nachbarländern unterstützte Palästinenser. Die Nachfolge-Organisation des Völkerbundes, die Vereinten Nationen, traten für eine Teilung des kleinen Landes ein, um Siedlungsräume von Juden und Palästinensern zu trennen. Der jüdische Nationalrat nahm den Vorschlag an und erklärte in der Nacht zum 15. April 1948 die Unabhängigkeit Israels, die jedoch von Jordanien, Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien, dem Libanon und dem Irak sofort mit einer Kriegserklärung beantwortet wurde. Sie alle wollten keinen jüdischen Staat in Palästina dulden, doch Israel blieb siegreich. Es folgten zwei weitere Kriege, wobei im zweiten Ägypten, Syrien und Jordanien Gebiete an Israel verloren. Am 6. Oktober 1973 eröfffneten Ägypten und Syrien mit einem Angrifff am höchsten jüdischen Feiertag zu Jom Kippur den vierten arabisch-israelischen Krieg. Um Westeuropäer und Nordamerikaner von einer Unterstützung Israels abzubringen, drosselten die arabischen Länder die Ölförderung, was einen heftigen Preisausschlag zur Folge hatte. Innerhalb eines Tages verdoppelte sich der Ölpreis. Doch schon eine Woche später hatte Israel den Krieg gewonnen. Der Ölpreis aber stieg weiter und erreichte binnen eines Jahres den vierfachen Wert gegenüber dem Vorkriegsstand. Für die Industrieländer bedeutete das einen herben Einschnitt, da die Abhängigkeit vom Öl hoch war. Verwöhnt von gut zwei Jahrzehnten Wirtschaftswunder ging das Wachstum in Deutschland schlagartig zurück und die Arbeitslosenzahlen stiegen an. Die Zeiten der Vollbeschäftigung waren vorbei. Im selben Jahr 1973 veröfffentlichte Habermas das Buch Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Darin unterteilt er Parsons’ AGIL-Schema in zwei unterschiedliche gesellschaftliche Erfordernisse: Die beiden Ausdrücke ›Sozialintegration‹ und ›Systemintegration‹ stammen aus verschiedenen Theorietraditionen. Von sozialer Integration sprechen wir im Hinblick auf Institutionensysteme, in denen sprechende und handelnde Subjekte vergesellschaftet sind; Gesellschaftssysteme erscheinen hier unter dem Aspekt einer Lebenswelt, die symbolisch strukturiert ist. Von Systemintegration sprechen wir im Hinblick auf die spezifischen Steuerungsleistungen eines selbstgeregelten Sys- 345 <?page no="345"?> tems; Gesellschaftssysteme erscheinen hier unter dem Aspekt der Fähigkeit, ihre Grenzen und ihren Bestand durch Bewältigung der Komplexität einer unsteten Umwelt zu erhalten. Beide Paradigmata, Lebenswelt und System, haben ein Recht; ein Problem stellt ihre Verknüpfung dar. Unter dem Aspekt der Lebenswelt thematisieren wir an einer Gesellschaft die normativen Strukturen (Werte und Institutionen). Wir analysieren Ereignisse und Zustände in Abhängigkeit von Funktionen der Sozialintegration (in Parsons’ Sprache: integration und pattern maintenance), während die nicht-normativen Bestandteile des Systems als einschränkende Bedingungen gelten. Unter dem Systemaspekt thematisieren wir an einer Gesellschaft die Mechanismen der Steuerung und die Erweiterung des Kontingenzspielraums. Wir analysieren Ereignisse und Zustände in Abhängigkeit von Funktionen der Systemintegration (in Parsons’ Sprache: adaptation und goal-attainment), während die Sollwerte als Daten gelten. Wenn wir ein soziales System als Lebenswelt auffassen, dann wird der Steuerungsaspekt ausgeblendet; verstehen wir eine Gesellschaft als System, so bleibt der Geltungsaspekt, also der Umstand, daß die soziale Wirklichkeit in der Faktizität anerkannter, oft kontrafaktischer Geltungsansprüche besteht, unberücksichtigt. 17 Vereinfacht könnte man sagen, dass für Habermas einerseits die sozialintegrativen Mechanismen dafür sorgen, dass die Gesellschaft zusammenhält. Abgeleitet von Parsons sind dafür Integration über Normen und Strukturerhaltung über Kultur zuständig. Andererseits sorgen systemintegrative Mechanismen dafür, dass die technischen und organisatorischen Errungenschaften um uns herum funktionieren. Dafür stehen bei Parsons die wirtschaftliche Anpassung und die politische Zielerreichung. Beides, Sozial- und Systemintegration würden gebraucht, damit das gesellschaftliche Leben intakt ist. Habermas befürchtet nun, dass eine ökonomische Krise, wie eben der Ölpreisschock, die Systemintegration aus der Balance bringt und in der Folge dann sogar die Sozialintegration gefährdet. »Die ökonomische Krise folgt aus widersprüchlichen Systemimperativen und bedroht die Systemintegration; sie ist zugleich eine soziale Krise, in der die Interessen von handelnden Gruppen aufeinanderstoßen und die soziale 17 Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 13 fff. 346 <?page no="346"?> Integration der Gesellschaft in Frage stellen.« 18 1981 lässt Habermas die Theorie des kommunikativen Handelns folgen. Dort erläutert er, dass die immer weiter fortschreitende Systemdiffferenzierung, wie sie Weber schon beschrieben und Parsons sowie Luhmann eingehend analysiert hatten, schlussendlich eine Verselbstständigung gegenüber der Lebenswelt der Menschen bedeutet. Nicht nur die Krise systemintegrativer Mechanismen gefährdet die Sozialintegration, sondern auch ihre stetige Steigerung. Auf dieser Analyseebene bildet sich die Entkopplung von System und Lebenswelt so ab, daß die Lebenswelt, die mit einem wenig differenzierten Gesellschaftssystem zunächst koextensiv ist, immmer mehr zu einem Subsystem neben anderen herabgesetzt wird. Dabei lösen sich die systemischen Mechanismen immer weiter von den sozialen Strukturen ab, über die sich die soziale Integration vollzieht. Moderne Gesellschaften erreichen [...] eine Ebene der Systemdifferenzierung, auf der autonom gewordene Organisationen über entsprachlichte Kommunikationsmedien miteinander in Verbindung stehen. Diese systemischen Mechanismen steuern einen von Normen und Werten weitgehend abgehängten sozialen Verkehr, nämlich jene Subsysteme zweckrationalen Wirtschafts- und Verwaltungshandelns, die sich nach Webers Diagnose gegenüber ihren moralisch-praktischen Grundlagen verselbständigt haben. 19 Geld, Macht und Organisationen durchdringen demnach immer mehr jeden Winkel des Lebens, wodurch sie schließlich die für die soziale Integration so wichtige sprachliche Verständigung der Menschen verdrängt. Es komme zu einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch Systemimperative: Am Ende verdrängen systemische Mechanismen Formen der sozialen Integration auch in jenen Bereichen, wo die konsensabhängige Handlungskoordinierung nicht substituiert werden kann: also dort, wo die symbolische Reproduktion der Lebenswelt auf dem Spiel steht. Dann nimmt die Mediatisierung der Lebenswelt die Gestalt einer Kolonialisierung an. 20 18 Ebd., S. 47 f. 19 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2, S. 230. 20 Ebd., S. 293. 347 <?page no="347"?> Die naturwüchsige Form der Abstimmung der Menschen untereinander ist für Habermas jene Einigung, wie sie sich aus dem miteinander Reden ergibt. Wie schon in seiner Schrift über den Strukturwandel der Öfffentlichkeit geht er auch hier davon aus, dass auf sprachlichem Wege aufgrund der Argumente zwanglos eine Verständigung erzielt werden kann. Die Modernisierung überformt nun diese Verständigungsprozesse mit nicht-sprachlichen Medien der Systemwelt: Macht und Geld. Verständigung wird durch Einflussnahme ersetzt. Aber war nicht immer schon der Alltag weit weg von gleichberechtigter Abstimmung der Beteiligten? Wurde nicht immer schon Zustimmung mit Einfluss statt mit Argumenten herbeigeführt? Angesichts jahrhundertelang währender Monarchie bricht sich hier einerseits keine Verschlechterung Bahn; andererseits geht das Versprechen einer aufgeklärten Modernisierung auch weit darüber hinaus. Habermas ist nicht zu widersprechen, dass ungleiche Durchsetzungsfähigkeiten sich für die Unterlegenen stets empörend anfühlen - im Zeitalter der Demokratie umso mehr. Der Philosoph spricht sich nicht gegen Modernisierung aus und auch nicht gegen Systemdiffferenzierung, solange sie Bereiche der sozialen Integration außen vor lässt. Aber genau diese Grenze scheint ihm immer weiter überschritten zu werden. Weder die Säkularisierung der Weltbilder noch die strukturelle Differenzierung der Gesellschaft haben per se unvermeidliche pathologische Nebenwirkungen. Nicht die Ausdifferenzierung und eigensinnige Entfaltung der kulturellen Wertsphären führen zur kulturellen Verarmung der kommunikativen Alltagspraxis, sondern die elitäre Abspaltung der Expertenkulturen von den Zusammenhängen kommunikativen Alltagshandelns. Nicht die Entkoppelung der mediengesteuerten Subsysteme, und ihrer Organisationsformen, von der Lebenswelt führt zu einseitiger Rationalisierung oder Verdinglichung der kommnunikativen Alltagspraxis, sondern erst das Eindringen von Formen ökonomischer und administrativer Rationalität in Handlungsbereiche, die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht widersetzen, weil sie auf kulturelle Überlieferung, soziale Integration und Erziehung spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung angewiesen bleiben. 21 21 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2, S. 488. 348 <?page no="348"?> Experten, also Politiker, Top-Manager, Juristen oder auch Wissenschaftler koppeln sich Habermas zufolge von den Alltagsgesprächen der Normalbürger ab. Auf deren kommunikativen Austausch wirkten zudem Geld und Macht immer mehr ein. Kultur und soziales Miteinander würden immer stärker von Wirtschaft und Verwaltung geprägt. Grundlegende Veständigungsprozesse werden demnach nicht von jener kommunikativen Rationalität getragen, wie sie für eine offfene Gesprächskultur kennzeichnend wäre, stattdessen herrschen auch in alltäglichen Unterhaltungen ökonomisches oder machtbewusstes Kalkül vor. Das öfffentliche Räsonnement hat dann keinen Ort mehr. Das kann für die Demokratie nicht folgenlos bleiben, denn sie beansprucht nach Habermas einen unbedingten Vorrang in der Lebenswelt. Der Kapitalismus aber geht darüber ungehindert hinweg. Zwischen Kapitalismus und Demokratie besteht ein unauflösliches Spannungsverhältnis; mit beiden konkurrieren nämlich zwei entgegengesetzte Prinzipien der gesellschaftlichen Integration um den Vorrang. Wenn man dem in demokratischen Verfassungsgrundsätzen ausgedrückten Selbstverständnis traut, behaupten moderne Gesellschaften den Primat der Lebenswelt gegenüber den aus ihren institutionellen Ordnungen ausgegliederten Subsystemen. Der normative Sinn der Demokratie läßt sich gesellschaftstheoretisch auf die Formel bringen, daß die Erfüllung der funktionalen Notwendigkeiten systemisch integrierter Handlungsbereiche an der Integrität der Lebenswelt, d. h. an den Forderungen der auf soziale Integration angewiesenen Handlungsbereiche ihre Grenze finden soll. Andererseits kann die kapitalistische Eigendynamik des Wirtschaftssystems nur in dem Maße gewahrt bleiben, wie der Akkumulationsprozeß von Gebrauchswertorientierungen abgekoppelt wird. Der Antriebsmechanismus des Wirtschaftssystems muß von lebensweltlichen Restriktionen, also auch von den ans administrative Handlungssystem gerichteten Legitimationsforderungen möglichst freigehalten werden. Der systemische Eigensinn des Kapitalismus läßt sich gesellschaftstheoretisch auf die Formel bringen, daß die funktionalen Notwendigkeiten der systemisch integrierten Handlungsbereiche erforderlichenfalls auch auf Kosten einer Technisierung der Lebenswelt erfüllt werden sollen. Der Systemfunktionalismus Luhmannscher Prägung verwandelt dieses praktische Postulat unauffällig in ein theo- 349 <?page no="349"?> retisches und macht es damit in seinem normativen Gehalt unkenntlich. 22 An Luhmann bemängelt Habermas also, dass seine Theorie der funktionalen Diffferenzierung die systemischen Mechanismen zur modernen Normalität erhebt, ohne die lebensnotwendige soziale Integration zu berücksichtigen. Habermas hält demgegenüber an dem Vorgehen von Platon fest, wonach der analytische Kenntnisgewinn erst durch den Wertmaßstab gewonnen werden kann. Luhmann vermag demnach an der Welt, wie sie ist, nichts zu bemängeln. Habermas demgegenüber bleibt in seinem Festhalten an staatlicher Demokratie und normativ-kultureller Integration stark an Staaten oder Wertegemeinschaften gebunden. Leben wir aber nicht längst in einer Weltgesellschaft? Ist nicht ein grundlegendes Dilemma, dass Demokratie nationalstaatlich verankert ist, während der Kapitalismus sich global entfaltet und international enge Abhängigkeiten geschafffen hat? Habermas baut stark auf der Theorie von Parsons auf, der unter Gesellschaft die staatliche Zusammenfassung einer Nation verstand. Wie für Aristoteles war auch für Parsons Selbstgenügsamkeit das entscheidende Kriterium. Wie Aristoteles an der Polis hielt Parsons aus diesem Grund am Nationalstaat fest. Doch so wie damals die Polis im Reich aufging, so droht heute der Nationalstaat in der Weltgesellschaft aufzugehen. Von der Eigenständigkeit einer nationalen Gesellschaft kann keine Rede mehr sein. Luhmann hat bei Parsons studiert und lehnt sich ebenfalls in vielerlei Hinsicht stark bei ihm an. Hinsichtlich der Bedeutung des Staates löst er sich allerdings von seinem Lehrer und versteht funktionale Diffferenzierung als weltweiten Vorgang. Das fällt ihm umso leichter, als dass er ab 1984 in Soziale Systeme Gesellschaft auch nicht mehr als Ansammlung von Menschen oder Bürgern oder Handlungen betrachtet, sondern als Kommunikationszusammenhang. »Gesellschaft betreibt Kommunikation, und was immer Kommunikation betreibt, ist Gesellschaft.« 23 Für die Gesellschaft ist demnach unbedeutend, was in den psychischen Systemen, den Gehirnen der Menschen, vor sich geht, solange sich das nicht in Kommunikation äußert, wobei nicht nur Sprachliches kommunikative Wirkungen mit sich führen kann, sondern etwa auch Gesten oder 22 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2, S. 507 f. 23 Luhmann, Soziale Systeme, S. 555. 350 <?page no="350"?> das Fernbleiben von einer Verabredung. Wenn das Handeln einzelner Menschen hingegen keine kommunikativen Folgen hat, wenn ein Eremit einen Baum fällt, dann ist das gesellschaftlich unbedeutend. Was immer kommunikativ stattfiindet, ist für Luhmann Teil der Gesellschaft, gleichgültig ob jemand seinem Kind eine Gute-Nacht- Geschichte vorliest oder ein Staatschef mit Krieg droht. Wenn man Gesellschaft auf diese Weise als umfassendes Kommunikationssystem versteht, kann nichts außer Kommunikation auf die Gesellschaft einwirken, was Luhmann als operative Geschlossenheit betrachtet und in seinem Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft wie folgt ausführt: Die Gesellschaft ist ein kommunikativ geschlossenes System. Sie erzeugt Kommunikation durch Kommunikation. Ihre Dynamik besteht im Einwirken von Kommunikation auf Kommunikation [...], nie aber in der Umgestaltung der äußeren Umwelt. Man kann die Dinge nicht zurechtreden, so wenig wie man sie wegdenken oder umdenken kann. Gesellschaft ist daher ein vollständig und ausschließlich durch sich selbst bestimmtes System. Alles, was als Kommunikation bestimmt wird, muß durch Kommunikation bestimmt werden. Alles, was als Realität erfahren wird, ergibt sich aus dem Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation, und nicht aus einem Sichaufdrängen der irgendwie geordnet vorhandenen Außenwelt. 24 Wenn Luhmann von Gesellschaft spricht, meint er keine Menschen, keine Gedanken, keine Maschinen, keine Gebäude, sondern ausschließlich Kommunikation, gleichgültig ob mit Worten oder Gestik. Die Kommunikation aber kann auf nichts anderes unmittelbar einwirken. Sie kann keine Steine versetzen, sondern sie kann nur dazu aufffordern. Zugleich kann auch nichts auf sie einwirken als Kommunikation. Man kann denken, was man will, solange man es nicht zum Ausdruck bringt, bleibt es gesellschaftlich folgenlos. Alles, was nicht kommunizieren kann, hat keinen unmittelbaren Einfluss auf Gesellschaft. Das Wetter oder ein Erdrutsch werden erst dadurch gesellschaftlich bedeutsam, dass darüber gesprochen wird. Auf seine Umwelt kann eine Gesellschaft deshalb nicht unmittelbar reagieren, sondern nur insofern sie über Kommunikation sich bemerkbar zu 24 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 95 f. 351 <?page no="351"?> machen versteht. Solange das nicht geschieht, kann radioaktive Strahlung oder ein Ozonloch unbeachtet sein Unwesen treiben. In seinem Buch Ökologische Kommunikation aus dem Jahr 1986 erläutert Luhmann dazu: »Die Gesellschaft ist ein zwar umweltempfiindliches, aber operativ geschlossenes System. Sie beobachtet nur durch Kommunikation. Sie kann nichts anderes als sinnhaft kommunizieren und diese Kommunikation durch Kommunikation selbst regulieren.« 25 Kommunikation fiindet längst weltweit statt, also ist auch die Gesellschaft global. Bestimmend sei demnach heutzutage nicht die Aufteilung in Nationalstaaten, sondern die funktionale Diffferenzierung von Teilsystemen. Die Funktionssysteme entfalten um ihre spezielle Codierung eine hohe Eigendynamik: Im Wirtschaftssystem dreht sich alles um zahlen oder nicht zahlen, im Rechtssystem alles um Recht oder Unrecht, im Wissenschaftssystem alles um wahr oder falsch und im politischen System alles um mehr oder weniger Macht. Aus der funktionalen Diffferenzierung ergibt sich, dass die Politik ebenso wenig über andere Funktionssysteme bestimmen kann wie Wirtschaft, Wissenschaft oder Recht. Alle Funktionssysteme widersetzen sich einer Zentralisierung. Vor allem muß man einsehen, daß Theorien der Hierarchie oder der Delegation oder der Dezentralisierung, die immer noch von einer Spitze oder einem Zentrum ausgehen, die heutigen Sachverhalte nicht adäquat erfassen können. Sie setzen eine Kanalisierung des Kommunikationsflusses voraus, die nicht besteht und auch nicht hergestellt werden kann. 26 Bezüglich der ökologischen Probleme, die in den 1980er-Jahren immer mehr in den Vordergrund treten, kommt Luhmann angesichts der funktionalen Diffferenzierung zu dem Schluss, dass die moderne Gesellschaft nur entlang ihrer Funktionssysteme zu reagieren vermag. Was diese Systeme nicht verarbeiten können, bleibt in der Gesellschaft folgenlos. Ökologische Probleme können als Kosten im Wirtschaftssystem sichtbar werden, als Forschungsfragen im Wissenschaftssystem oder als politische Bewegung im politischen System. An der funktionalen Diffferenzierung selbst können sie jedoch nichts ändern. Und selbst wenn die ökologischen Probleme die Gesellschaft insgesamt zu gefähr- 25 Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 63. 26 Ebd., S. 203. 352 <?page no="352"?> den imstande sind, so bedeutet das nicht, dass die Funktionssysteme damit einen angemessenen Umgang fiinden. Jedes System verarbeitet ökologische Fragen weiter nach seinem eigenen Code. Es kann nicht anders. Das politische System allein dürfte somit einer ökologischen Katastrophe nicht gewachsen sein. Seine Einwirkungsmöglichkeiten auf Wirtschaft, Wissenschaft oder das Recht reichten nicht aus. Das gleiche gilt folglich auch für die Demokratie. Für Luhmann tritt sie als ein Verfahren auf, um das politische System mit Legitimation zu versorgen, auch wenn in der Bevölkerung kein Konsens herrscht. Statt für die Herrschaft des Volkes steht Demokratie dann nur noch für ein konfliktregulierendes Auswahlverfahren, aus dem die Besetzung einer staatlichen Regierung resultiert, die wiederum nur den Bruchteil eines weltpolitischen Systems darstellt, das gegenüber anderen weltgesellschaftlichen Teilsystemen nur seine Funktion erfüllen kann. Wenn das kein Anlass zu Politikverdrossenheit ist! An die Zeit vor der Machtergreifung Adolf Hitlers können sich wohl beide kaum erinnern: Luhmann war kurz zuvor gerade fünf Jahre alt geworden und Habermas noch nicht einmal vier. Anschließend erlebten sie eine Zeit des Ausnahmezustands, geprägt von einer stetig zunehmenden Vereinnahmung des gesamten deutschen Gesellschaftslebens durch nationalsozialistisches Gedankengut. Hitler und seine Anhänger waren allgegenwärtig. Es war eine Zeit wirtschaftlicher Erholung und ideologischer Vereinheitlichung gleichermaßen, die lange Zeit Deutschland groß und stark erscheinen ließ. Die Macht Hitlers wuchs enorm an, ehe 1941 der Krieg gegen Russland seine Wende nahm und das Deutsche Reich in den folgenden Jahren einen gewaltigen Niedergang erlebte. Luhmann und Habermas verbrachten ihre frühe Jugend entsprechend in einem zerbombten und besiegten Land, dessen Wirtschaft am Boden lag, dessen Politik Millionen Menschenleben gekostet hatte, dessen Rechtssystem diesen Namen nicht verdiente und dessen Wissenschaft sich vollständig einer Ideologie verschrieben hatte. Als wäre die von Weber beschriebene funktionale Diffferenzierung für ein paar Jahre außer Kraft gesetzt worden, hatten sich alle gesellschaftlichen Bereiche einem Führer unterstellt, um nach großspuriger Euphorie in eine furchtbare Katastrophe zu rennen. Unmittelbar nach dem totalen Zusammenbruch erlebten Luhmann und Habermas einen erneuten Aufschwung, diesmal unter jenen streng geordneten Verhält- 353 <?page no="353"?> nissen, welche die westlichen Alliierten nach Deutschland gebracht hatten. Der Rechtsstaat kehrte zurück, die Wirtschaft folgte befreit von politischer Führung marktwirtschaftlichen Regeln, die Wissenschaft wurde wieder zu einem Ort der Diskussion und in der Politik hielt eine repräsentative Demokratie Einzug. 15 Jahre später konnte man auf ein erstaunliches Wirtschaftswunder zurückblicken. Die BRD hatte sich nach der völligen Zerstörung der Infrastruktur und der moralischen Bankrotterklärung in einen ebenso wohlhabenden wie angesehenen Staat verwandelt. Die deutsche Welt war in bester Ordnung. Parsons’ ebenso auf den Staat zentrierte wie Integration beschwörende Theorie schien hier ihre volle Bestätigung gefunden zu haben. Entsprechend geordnet fallen die Beschreibungen Luhmanns und Habermas’ aus. Sie setzen zwar auf die Überlegungen des US-Amerikaners auf, ihre theoretischen Weiterentwicklungen weisen allerdings darüber hinaus. Habermas befürchtet aufgrund der Eigendynamik von Teilsystemen Probleme für die lebensweltliche Verständigung und mithin die Integration. Nach dem er selbst den hohen Anpassungsdruck seitens der Nazis erlebt hat, hält Luhmann demgegenüber integrative Mechanismen für weniger bedeutsam, sondern sieht die Eigenart der modernen Gesellschaft gerade darin, dass das Zusammenleben unabhängig davon funktioniert. Bei allen Unterschieden scheint beiden Ansätzen nicht nur ihr Bezug auf Parsons gemeinsam, sondern auch jener auf die wohlgeordneten Verhältnisse in Deutschland. Dadurch begünstigt hegen beide Ansätze sehr hohe Ansprüche an Gesellschaft. Sowohl Habermas’ Vertrauen in die Kraft herrschaftsfreier Diskurse als auch Luhmanns rigide Diffferenzierung in Funktionssysteme sind nur unter sehr disziplinierten und klar strukturierten Bedingungen denkbar. Genau dafür ist Deutschland bekannt. Jenseits der Staatsgrenzen und erst recht jenseits des Kontinents sieht die Welt anders aus. Habermas und Luhmann öfffneten zwar beide gleichermaßen den Blick für die Weltgesellschaft, letztlich aber stets durch die Brille ihrer vertrauten wohlgeordneten Welt. Ohne Zweifel bedarf die Demokratie geordneter Verfahren, die im Sinne Luhmanns konfliktregulierend wirken und es so ermöglichen, politische Entscheidungen ohne Blutvergießen zu trefffen. Die Ausgestaltung dieser Verfahren ist aber keinesfalls gleichgültig, sondern es macht einen Unterschied, inwiefern sie Habermas’ Ansprüche an kommunikative Rationalität einzulösen verstehen. Dabei besteht die 354 <?page no="354"?> Schwierigkeit gerade darin, den Menschen jenen Einfluss zu geben, der ihnen aufgrund ihrer Gleichheit als freie Vernunftwesen zusteht, und politischen Entscheidungen erst jene Legitimation zu verschafffen vermag, die in der Moderne nur von den Individuen und ihrer gleichrangigen Partizipation abgeleitet werden kann. Die Verfahren müssen verhindern, das Geld und Macht in die Entscheidungsprozesse über Gebühr eindringen können. Wie man heute sehen kann, hebelt ansonsten einerseits Lobbyismus die Gleichheit aus, weil Interessen an Gewicht gewinnen, die sich aufgrund ihrer fiinanziellen Möglichkeiten besser bemerkbar machen können; andererseits führen enge politische Machtzirkel die Demokratie ad absurdum, wenn Macht nicht mehr vom Volk verliehen wird, sondern politische Institutionen danach zu streben scheinen, Einfluss und Positionsvergabe von demokratischen Prozessen zu entkoppeln, wie das in internationalen Organisationen häufiig festzustellen ist. Es kommt dann gewissermaßen zu einem Kurzschluss: Die Mächtigen verleihen sich selbst Macht. Ähnliches kann auch innerhalb eines Staates geschehen, wenn eine bestehende Machtposition dazu genutzt wird, die demokratischen Verfahren selbst zu beeinflussen, was den Weg in die Autokratie weist. Eine zusätzliche Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass demokratische Verfahren heute so gebaut sein müssen, dass sie imstande sind, die neuerdings zunehmende Fragmentierung des Öfffentlichen einzubinden. Repräsentative Demokratie war eng mit jener kanalisierten Öfffentlichkeit verknüpft, wie sie national ausgerichtete, unidirektionale Massenmedien hervorgebracht hatten. Im Zeitalter interaktiver Medien fällt diese Kanalisierung weg, was einerseits die Legitimität repräsentativer Demokratie aushöhlt, weil das von Habermas genannte öfffentliche Räsonnement ebenfalls fragmentiert; andererseits eröfffnen die technologischen Neuerungen völlig neue Möglichkeiten politischer Partizipation. 355 <?page no="355"?> 19 Woher entsprangen für Beck und Meyer Zweifel an funktionaler Differenzierung? Im selben Jahr 1986, in dem Niklas Luhmann sein Buch über ökologische Kommunikation veröfffentlichte, kam es zur Kernschmelze im sowjetischen Atomkraftwerk von Tschernobyl. Dort sollte testweise ein Stromausfall simuliert werden, wozu die Reaktorleistung reduziert und das Sicherheitssystem abgeschalten wurden. Aufgrund hoher Stromnachfrage kam mittags aber die Anweisung, diesen Vorgang bei halber Leistung zu stoppen. Beim gedrosselten Betrieb baute sich im Reaktor eine sogenannte Xenonvergiftung auf, die bei Fortsetzung der Simulation spät abends die Reaktivität abzuwürgen drohte. Statt mit einer Notabschaltung die unsichere Situation zu beenden, wollte die Mannschaft die Leistung steigern, indem sie am 26. April um 0: 32 Uhr die Steuerstäbe komplett aus dem Reaktor herausfuhr. Um 1: 23 Uhr wurde für die beabsichtigte Simulation die Wärmeabfuhr unterbrochen, wodurch die Reaktivität zunahm. Zugleich ging die Xenonvergiftung rapide zurück, was die Leistungszunahme enorm beschleunigte. 40 Sekunden nach Versuchsbeginn leitete der Schichtleiter aufgrund der schnell steigenden Temperatur im Reaktor die Notabschaltung ein. Dazu wurden die Steuerstäbe wieder eingefahren. Diese jedoch bremsten konstruktionsbedingt zu Beginn des Eintauchens die Reaktivität nicht, sondern erhöhten sie zunächst zusätzlich. Nur vier Sekunden später kam es zu einer Explosion, die das tausend Tonnen schwere Dach wegsprengte. Trotz erheblicher Schäden meldete die Kraftwerksleitung drei Stunden später, der Reaktor sei intakt. Nach Tagesanbruch wurde das Ausmaß deutlicher und Luftaufnahmen bestätigten eine Katastrophe. Gewaltige Mengen radioaktiven Materials waren aus dem Reaktor geschleudert worden. Dennoch spielte die sowjetische Regierung den Vorfall herunter und evakuierte die Bewohner der nahe gelegenen Stadt Prypjat erst am folgenden Tag. Das Ausland informierte man 356 <?page no="356"?> nicht. Schon am nächsten Morgen aber wurde in einem 1200 Kilometer entfernten schwedischen Kernkraftwerk Alarm ausgelöst. Die regelmäßig überprüfte Arbeitskleidung der Angestellten wies erhöhte Radioaktivität auf. Nachdem vor Ort nichts Ungewöhnliches festgestellt werden konnte, kam aufgrund der vorherrschenden Windrichtung der Verdacht auf, dass die Ursache in der Sowjetunion zu suchen sei. Noch am selben Abend sah sich die sowjetische Regierung gezwungen, den Unfall zugeben. Über 200 000 Menschen aus der unmittelbaren Umgebung mussten umgesiedelt werden, die Folgen wirkten europaweit. Wind und Wetter führten zu stark erhöhten Strahlenwerten nicht nur in der Sowjetunion, sondern insbesondere auch in Deutschland, Österreich, Schweden, Norwegen, Rumänien, Griechenland und sogar Schottland. Bis heute ist Wildfleisch aus dem Alpenraum teilweise gesundheitsgefährdend verstrahlt. Ebenfalls 1986 veröfffentlichte der Münchner Soziologe Ulrich Beck sein Buch Risikogesellschaft: Die Risikogesellschaft ist im Gegensatz zu allen früheren Epochen (einschließlich der Industriegesellschaft) wesentlich durch einen Mangel gekennzeichnet: der Unmöglichkeit externer Zurechenbarkeit von Gefahrenlagen. Im Unterschied zu allen früheren Kulturen und gesellschaftlichen Entwicklungsphasen, die sich in vielfältiger Weise Bedrohungen gegenübersahen, ist die Gesellschaft heute im Umgang mit Risiken mit sich selbst konfrontiert. 1 Schon vor der Katastrophe von Tschernobyl war der 1944 geborene Beck zu dem Schluss gekommen, dass die moderne Gesellschaft immer mehr in die Folgen ihrer eigenen Entwicklung verstrickt wird. 1984 waren bei einem Unfall aus einem Chemiewerk im indischen Bhopal ätzende Dämpfe ausgetreten, an denen Zehntausende Menschen qualvoll starben und eine halbe Million dauerhafte Verletzungen erlitten. In Mitteleuropa beobachtete man in den 80er-Jahren, wie Industrieabgase stellenweise zum Absterben ganzer Wälder führen konnten. Die fortschreitende Modernisierung macht sich durch die Belastung von Böden, Wasser oder Nahrungsmitteln mit Umweltgiften bemerkbar. Die Gesellschaft muss sich zunehmend mit selbst verursachten Problemen befassen. Sie wird reflexiv. 1 Beck, Risikogesellschaft, S. 300. 357 <?page no="357"?> Was im Hinblick auf ein einzelnes Produkt ›unbedenklich‹ sein mag, ist vielleicht in dem ›Sammelbecken des Endverbrauchers‹, zu dem der Mensch im fortgeschrittenen Stadium der Totalvermarktung geworden ist, äußerst bedenklich. [...] Mit anderen Worten: die Unbedenklichkeiten summieren sich bedenklich. 2 Und das für alle gleichermaßen, meint Beck. In der Umweltverschmutzung, im Smog, in der radioaktiven Strahlung, in der Trinkwasserbelastung erkennt er einen demokratisierenden Efffekt. Alle seien betrofffen. Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch. Mit der Ausdehnung von Modernisierungsrisiken - mit der Gefährdung der Natur, der Gesundheit, der Ernährung etc. - relativieren sich die sozialen Unterschiede und Grenzen. Daraus werden immer noch sehr verschiedene Konsequenzen gezogen. Objektiv entfalten jedoch Risiken innerhalb ihrer Reichweite und unter den von ihnen Betroffenen eine egalisierende Wirkung. Darin liegt gerade ihre neuartige politische Kraft. In diesem Sinne sind Risikogesellschaften gerade keine Klassengesellschaften; ihre Gefährdungslagen lassen sich nicht als Klassenlagen begreifen, ihre Konflikte nicht als Klassenkonflikte. 3 Von Krankheiten und Hunger waren reiche Leute in der Vergangenheit oftmals weniger betrofffen, weil sie sich bessere Versorgung und Wohnverhältnisse leisten konnten. Moderne, von der Gesellschaft verursachte Gefahren, meint Beck, schlössen hingegen niemanden mehr aus. Für Radioaktivität oder die Klimaerwärmung ist das offfensichtlich, weniger dagegen für die Verschmutzung von Böden, Wasser und Luft. Bezogen auf einen einzelnen Staat kann man auch hier oft von gleichmäßiger Betrofffenheit sprechen. Aber gilt das auch weltweit? Gibt es nicht, wenn man sich beispielsweise den Smog in Chinas Städten vor Augen hält, große Unterschiede zwischen den Staaten hinsichtlich der Umweltverschmutzung? Und sind diese Unterschiede nicht teilweise dadurch bedingt, dass die reichen Länder, die unerwünschten Folgen ihres Wohlstands nur allzu gerne den armen Ländern überlassen? Alte Schifffe werden auf den Stränden dort ihrem 2 Beck, Risikogesellschaft, S. 34 f. 3 Ebd., S. 48. 358 <?page no="358"?> Schicksal überlassen; Bergbau, der Rohstofffe für die Industrieländer fördert, vergiftet das Trinkwasser; Ölförderung verseucht die Böden. Ganz offfensichtlich wird die Menschheit mit den Folgen moderner Produktion und Lebensart konfrontiert, aber nicht alle in gleicher Weise. Ökologisch mutet die Risikogesellschaft auf eine Art demokratisch an, wie sie es in politischer Hinsicht schon lange ist: Demokratie gibt es auf staatlicher Ebene, nicht aber auf globaler. Manche Risiken sind grenzüberschreitend, andere unterscheiden sich stark von Land zu Land. Ähnliches gilt auch für andere Gesichtspunkte, die Beck der reflexiven Modernisierung zuschreibt. Eine Risikogesellschaft sieht er nämlich nicht nur in ökologischer Hinsicht heraufziehen, sondern auch in sozialer. Der Gesellschaftsaufbau folge nicht mehr dem, der industriellen Klassengesellschaft. Auf der einen Seite sind die Relationen sozialer Ungleichheit in der Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik weitgehend konstant geblieben. Auf der anderen Seite haben sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung radikal verändert. Die Besonderheit der sozialstrukturellen Entwicklung in der Bundesrepublik ist der ›Fahrstuhl-Effekt‹: Die ›Klassengesellschaft‹ wird insgesamt eine Etage höher gefahren. Es gibt - bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten - ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum. In der Konsequenz werden subkulturelle Klassenidentitäten und -bindungen ausgedünnt oder aufgelöst. Gleichzeitig wird ein Prozeß der Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang gesetzt, der das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterläuft und in seinem Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt. 4 Die Sozialisten sprachen von Klassen immer schon in einem internationalen Sinne, weshalb sich Lenin 1914 über die Zustimmung der deutschen SPD zu den kriegsnotwendigen Krediten aufregen konnte. Die deutschen Sozialdemokraten hatten sich damit vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur hinter den Kaiser, sondern mehr noch hinter die staatliche Trennung der Arbeiterklasse gestellt. Beck spricht hier nun lediglich von der Bundesrepublik Deutschland, wo die Klassengesellschaft zerfalle. Ein wohlfahrtsstaatlicher Fahrstuhlefffekt löse die 4 Ebd., S. 122. 359 <?page no="359"?> Menschen aus ihren Klassenbezügen heraus und setze eine Individualisierung frei. Sie begännen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Stellung verschiedene Lebensstile und Zusammengehörigkeiten zu entfalten. Ihr Leben erscheint nicht mehr als unentrinnbares Klassenschicksal, sondern als Folge persönlicher Entscheidungen. Damit wird jeder Lebensweg, jede individuell getrofffene Wahl zu einem Risiko, dessen Eingehen man laut Beck nur noch reflexiv sich selbst zuschreiben kann. Kommt aber nicht auch hier ein national geprägter Blick zum Vorschein? Hat Beck hier nicht dem internationalen Charakter von Klassen zu wenig Beachtung geschenkt? Schlägt sich nicht die Wohlstandsmehrung global höchst unterschiedlich nieder? Für viele Menschen außerhalb der Wohlfahrtsstaaten spielt Individualisierung keine Rolle. Ebenso wie bei Umweltproblemen entwickeln sich Risiken auch in sozialer Hinsicht nicht global demokratisch, sondern entlang der Staatsgrenzen teilweise sehr unterschiedlich. Den modernen Mechanismen der Macht und des Geldes gelingt es noch immer, Wohlstand und Risiken ungleich zu verteilen. In anderer Hinsicht wirkt sich Modernisierung allerdings zweifellos global aus: Der Fortschritt kennt keine Grenzen. Fortschritt ersetzt Abstimmung. Mehr noch: Fortschritt ist ein Ersatz für Fragen, eine Art Vorauszustimmung für Ziele und Folgen, die unbekannt und unbenannt bleiben. [...] Nur ein Teil der gesellschaftsgestaltenden Entscheidungskompetenzen wird im politischen System gebündelt und den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie unterworfen. Ein anderer Teil wird den Regeln öffentlicher Kontrolle und Rechtfertigung entzogen und an die Investitionsfreiheit der Unternehmen und die Forschungsfreiheit der Wissenschaft delegiert. 5 Beck erkennt hier eine Subpolitik, also Mechanismen mit unverkennbar politischen Folgen, die sich der klassischen Machtpolitik ebenso entziehen wie jeder demokratischen Entscheidungsfiindung. Die technisch-ökonomische Entwicklung fällt also zwischen die Kategorie von Politik und Nichtpolitik. Sie wird etwas Drittes, gewinnt den prekären Zwitterstatus einer Subpolitik, in der die 5 Beck, Risikogesellschaft, S. 301 f. 360 <?page no="360"?> Reichweite der ausgelösten Gesellschaftsveränderungen sich umgekehrt proportional zu ihrer Legitimation verhält. 6 Die moderne Demokratie, angetreten um die Gestaltung der Gesellschaft dem Willen des Volkes zu unterwerfen, wird in ihrer Maßgeblichkeit vom technischen Fortschritt überholt. An die Stelle gleichberechtigter Mitbestimmung tritt Veränderung durch Innovation. Mehr noch als durch freie Wahlen wird das gesellschaftliche Leben durch Technologien bestimmt, deren Einführung sich jenseits demokratischer Steuerung vollzieht. Wie wir zusammenleben, regeln weniger bevölkerungsweite Abstimmungsverfahren denn von Unternehmen herbeigeführte technische Entwicklungen. Das Auto, der Fernseher, das Mobiltelefon prägen unseren Alltag mehr als jedes Wahlergebnis. Luhmann spricht von Legitimation durch Verfahren, um die Wirkung von Wahlen oder Verhandlungen vor Gericht zu beschreiben. Technische Neuerungen haben solche Verfahren nicht durchlaufen, sondern beruhen allein auf dem rechtsstaatlichen Prinzip, dass erlaubt ist, was nicht verboten ist. Sie beziehen ihre Rechtfertigung aus der Freiheit einzelner, mit ausreichend Ressourcen, Kunden und Nachahmern vollendete Tatsachen zu schafffen. Einmal etabliert, verändern Innovationen das Leben, bevor man über die Erwünschtheit auch nur diskutieren konnte. Dass technische Neuerungen die Welt verändern, mag etwa angesichts von Karl Marx’ einprägsamer Beschreibung der industriellen Revolution nichts Neues sein, unbestritten aber haben sie früher wie heute Folgen, die jegliche demokratische Selbststeuerung der Gesellschaft unterlaufen. Zum Zeitpunkt des Reaktorunfalls in Tschernobyl war Michail Sergejewitsch Gorbatschow seit einem Jahr Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Der neue, am 31. März 1931 im Süden Russlands geborene Machthaber war von Beginn an als Reformer aufgetreten, zunächst ohne dass sich etwas erkennbar veränderte. Im Zuge der Nuklearkatastrophe zeigte sich allerdings das ganze Ausmaß des ebenso undurchsichtigen wie unfähigen Staatsapparates. Millionen Menschen wurden bewusst falsch informiert und völlig ahnungslos gesundheitsgefährdender Strahlung ausgesetzt. Regierungen, zumal sowjetische, waren noch nie darum verlegen, gegenüber der Bevölkerung Gefahren herunterzuspielen; diesmal aber 6 Ebd., S. 304. 361 <?page no="361"?> musste die sowjetische Führung feststellen, dass sie selbst ebenfalls mit Fehlinformationen versorgt wurde, und das von untergeordneten Stellen. Das Geschwür der Vertuschung durchzog längst die gesamte Sowjetunion. Deshalb setzte sich Gorbatschow unter dem Schlagwort Glasnost für mehr Transparenz und für mehr Presse- und Meinungsfreiheit ein und er ließ Taten folgen. Noch im Laufe des Jahres wurden erste Regimekritiker aus dem Gefängnis entlassen. 1987 ließ der Generalsekretär mit Perestroika ein Programm zur Umgestaltung der Sowjetunion folgen, um der schwierigen wirtschaftlichen Lage zu begegnen. Während im Westen der Wohlstand wuchs, gab es im Osten keinen Fortschritt mehr. Im Zuge der Perestroika sollten die Staatsunternehmen ihre Einnahmen und Ausgaben selbst unter Kontrolle halten und die Verantwortung dafür übernehmen, nachdem sie zuvor jahrzehntelang nur Ausführungsorgane der Zentralregierung gewesen waren. Ein Jahr später schon wurden erstmals auf genossenschaftlicher Basis Privatunternehmen zugelassen und ab Mitte 1988 erfolgte eine Hinwendung zu freieren Wahlen und mehr Rechtsstaatlichkeit. Der Reformprozess nahm an Fahrt auf. Die Entwicklung übertrug sich auf die sozialistischen Länder Mitteleuropas. Im Frühling 1989 ließ die polnische Regierung die Streikbewegung Solidarność zu, die seit einem Jahrzehnt im Untergrund für mehr Pressefreiheit und bessere Lebensmittelversorgung eintrat. Auch zu den Wahlen im Juni wurde Solidarność zugelassen und gewann diese sogleich deutlich. Einen Monat zuvor waren in Ungarn die Überwachungsanlagen an der Grenze zu Österreich abgebaut worden und ab 10. September ließ man DDR-Bürger über diese Grenze ungehindert ausreisen. Zugleich wuchsen in Leipzig die sogenannten Montagsdemonstrationen immer weiter an. Um die ostdeutsche Regierung zu Reformen zu drängen, fanden sich dort im Oktober Woche für Woche Zehntausende ein und riefen: Wir sind das Volk! In der Folge wurde der seit fast zwei Jahrzehnten amtierende Staatschef der DDR und Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Erich Honnecker, am 17. Oktober entlassen. Doch das genügte nicht, um den Reformdrang abzufedern. Zweieinhalb Wochen später demonstrierten am Berliner Alexanderplatz eine halbe Million Menschen. Außerdem nahm der Ausreisestrom über Ungarn weiter zu. Angesichts der Aussichtslosigkeit, die Ausreisewilligen aufzuhalten, wurde am Abend des 9. November 1989 die Reisefreiheit für 362 <?page no="362"?> DDR-Bürger verkündet. Wenige Stunden später drängten sich an den Grenzübergängen solche Menschenmengen, dass die Beamten vor Ort die Grenze komplett öfffneten, ohne entsprechende Anweisung dazu erhalten zu haben. Zehntausende strömten noch in der Nacht über die Grenze nach Westen. Die Grenzbefestigungen, die 1961 quer durch Europa errichtet worden waren, um Ausreisen aus den sozialistschen Ländern zu verhindern, waren Vergangenheit. Die Mauer war gefallen! Ohne Blutvergießen hatte eine gewaltige Revolution den gesamten sogenannten Ostblock erfasst: von der innerdeutschen Grenze bis zum Pazifiik und vom Schwarzen bis zum Nordmeer. Den Weg dafür freigemacht hatte Gorbatschow, indem er die sogenannte Breschnew-Doktrin fallen ließ, mit der sein Amtsvorvorvorgänger Leonid Breschnew 1968 den Einmarsch der Sowjetarmee in sozialistische Länder wie Ungarn, die DDR, die Tschechoslowakei oder Polen mit der Begründung rechtfertigte, dass durch Unruhen dort die sozialistische Staatengemeinschaft insgesamt bedroht sei. Über Jahrzehnte hinweg wagte es deshalb kein sozialistisches Land, Reformen auf den Weg zu bringen. Bewegungen wie die Solidarność wurden statt dessen allerorten unterdrückt. Nun konnte sich der Reformwille ungebremst entfalten. Nach dem Fall der Mauer forderten die Demonstranten in der DDR nicht mehr nur das Ende der SED- Herrschaft, sondern von Mitte November an gingen sie noch einen Schritt weiter und riefen: Deutschland einig Vaterland! War die Protestbewegung anfangs von Gruppierungen getragen worden, die in der DDR eine eigenständige, freiheitliche Entwicklung anstrebten und dem Kapitalismus eher skeptisch gegenüberstanden, so wagten sich nach erfolgtem Umsturz all jene aus der Deckung, die sich vom Wohlstand der BRD angezogen fühlten. Unverhohlen wurde die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gefordert. Angesichts der Hunderttausende, die Ostdeutschland bereits Richtung Westen verlassen hatten und der vielen Weiteren die sich auf den Weg machten, stand die Überlebensfähigkeit der DDR ohnehin in Frage. Nach zähen Verhandlungen fügten sich alle beteiligten Staaten (Frankreich, Großbritannien, die Sowjetunion, Polen und die USA) dem Schritt, der offfenbar unausweichlich war, und nachdem die BRD den Sowjets weit mehr als 50 Milliarden D-Mark zugesichert hatte, kam es am 3. Oktober 1990 zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Danach flossen jährlich über vier Prozent der westdeutschen Wirt- 363 <?page no="363"?> schaftsleistung, insgesamt über eine Billion Euro für Aufbauhilfen und sozialstaatliche Leistungen nach Ostdeutschland ab. Ein gutes Jahr später hatte sich auch die Sowjetunion aufgelöst. 13 Sowjetrepubliken hatten ihre neuen Freiheiten gegenüber Moskau genutzt und ihre Unabhängigkeit erklärt. Im Dezember 1991 wurde offfiiziell die Auflösung der Sowjetunion besiegelt. Der zuvor von Moskau streng zusammengehaltene Ostblock zerbrach; jedes Land ging fortan seinen eigenen Weg. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erfährt der Begrifff Globalisierung einen rasanten Aufstieg. Jahr für Jahr nimmt seine Verwendung in den 1990ern zu. Nur so richtig zu fassen bekommt das Phänomen niemand. Zunächst wurde die Ursache im anwachsenden Welthandel gesehen. Tatsächlich beschleunigte sich mit dem Ende der Trennung nach Ost und West der Welthandel nochmals. Immer schneller legte der Warenaustausch zu. Doch auch zur Zeit des Kalten Kriegs, sogar vor dem Ersten Weltkrieg gab es schon einen erstaunlich regen Welthandel. Trotzdem fand das Wort weiterhin breite Verwendung, weil es so trefffend erschien: Nehmen nicht auch die Kapitalbewegungen auf den Finanzmärkten rasant zu, viel schneller als die Weltproduktion? Spricht man nicht von transnationalen Unternehmen, weil Konzerne ohne Unterlass auf der ganzen Welt ihre Standorte verteilen und die Produktion verlagern? Hören wir nicht alle die gleiche Musik, sehen die selben Serien oder essen das gleiche Essen: Burger, Pizza, Chop Suey? Forscher konnten in allen Punkten zeigen, dass seit geraumer Zeit schon diese Dinge sich internationalisieren: Teilweise seit dem Zweiten Weltkrieg, teilweise seit der Industrialisierung, teilweise auch schon lange vorher. Der Austausch von Ressourcen, Waren, Kapital und Kultur nimmt immer schon in dem Maße zu, wie die Transport-, Verkehrs- und Kommunikationsströme zunehmen. Im Wesentlichen hängt er von den entsprechenden Kosten und der Geschwindigkeit ab, mit der Waren, Personen, Kommunikation und Daten transportiert werden. Zu Lande waren das bis ins 18. Jahrhundert zu Fuß oder mit der Kutsche nur wenige Dutzend Kilometer am Tag. Erst mit dem Bau von befestigten Überlandstraßen, vor allem aber mit der Eisenbahn änderte sich das ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Hundert Jahre später nimmt die Reisegeschwindigkeit zu Lande mit Bahn oder Automobil nicht mehr nennenswert zu. Seit den 1960er-Jahren sind 364 <?page no="364"?> Technologie und Infrastruktur ebenso verbreitet wie ausgereift. Die Luftfahrt ist zwar jüngeres Phänomen, aber auch sie beschleunigt sich seit Jahrzehnten nicht mehr. Zu Wasser benötigte man mit Segelschifffen für eine Überquerung des Atlantiks noch Wochen, mit Einführung der Dampfschifffe im 19. Jahrhundert und später dann mit Motorschifffen dauert sie nurmehr wenige Tage, was sich mittlerweile ebenfalls seit Jahrzehnten nicht mehr verändert hat. Ähnliches gilt für die Kosten, die für Fracht schon seit den 1960ern nicht mehr nennenswert sinken. 7 Im Personenverkehr zu Lande und in der Luft setzt die Stabilisierung der Preise 20 Jahre später ein. Wenn man also von der reinen Zunahme absieht, dann gehen technologisch vom Verkehr seit Jahrzehnten keine nennenswerten Impulse mehr aus, die die Globalisierung hätten anfeuern können. Anders verhält sich das für Kommunikation und Datenaustausch. Lange Zeit über die Postkutsche eng verbunden mit dem Personenverkehr, entkoppelt sich der Nachrichtenaustausch ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch Einführung der Telegraphie. Fortan war ein Austausch binnen Stunden über Kontinente hinweg möglich, doch die Kosten waren hoch und der Umfang begrenzt. In den folgenden Jahrzehnten wurde weltweite Kommunikation immer billiger und hielt in den Alltag Einzug. Eine letzte bedeutende Veränderung erfährt die Datenübertragung mit der Einführung des Internet. Sie erfolgt jetzt nicht nur mit annähernd Lichtgeschwindigkeit, sondern auch noch zu so niedrigen Kosten, dass sie in den Industrieländern für die breite Bevölkerung erschwinglich wird. Weltweite Kommunikation mit Maximalgeschwindigkeit gibt es heute für Firmen ebenso wie für Privatpersonen zu Spottpreisen. Unvorstellbar große Datenmengen stehen beinahe überall auf der Welt kostengünstig zur Verfügung. Bereits während der Kuba-Krise kamen im militärischen Umfeld erste Konzepte zu einem dezentralen Netzwerk auf, das im Falle eines Krieges die Vernichtung einzelner Knoten überstehen sollte. 1969 wurde ein Projekt genehmigt, bei dem vier Universitäten durch ein Netzwerk verbunden wurden, um mehrere Großrechner miteinander verknüpfen und so die gesamte Rechenleistung ausschöpfen zu können. Zu diesem Arpanet kam im weiteren Verlauf durchschnittlich jeden Monat ein weiterer Rechner hinzu. Das Netzwerk wuchs stetig, 7 Bundeszentrale für politische Bildung, Transport- und Kommunikationskosten. 365 <?page no="365"?> blieb aber vorerst auf Universitäten beschränkt, ehe 1990 die allgemeine Freigabe erfolgte. Das Internet war geboren. Bis dahin hatte das Netzwerk zum Austausch von Daten zwischen Computern oder von elektronischer Post anstelle des Briefversands gedient. In den folgenden beiden Jahren stellte der britische Physiker Tim Berners Lee vom europäischen Kernforschungsinstitut CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) in Genf die Grundlagen des heute allgegenwärtigen World Wide Web (WWW) vor: Er entwickelte einen ersten Browser, mit dem man die Informationen von entfernten Rechnern abrufen und sich anzeigen lassen konnte. Die Webseiten verknüpfte man untereinander durch Hyperlinks. Der Aufschwung des Internet begann. Rasant an Fahrt gewann er 1993 mit Einführung des ersten grafiischen Browsers. Binnen eines halben Jahres wurde dieser auf zwei Millionen Rechnern installiert. Nur sieben Jahre später gab es 250 Millionen Internetnutzer und nochmal gut sieben Jahre später sind es über drei Milliarden: die halbe Weltbevölkerung. Mit Einführung des Internet ist weltweiter Datenaustausch in riesigen Mengen auch für die breite Bevölkerung zumindest in den Industrieländern erschwinglich, aber immer mehr auch darüber hinaus. Die Rede von der Globalisierung verbreitet sich just von dem Moment an, von dem an die Kosten für einen internationalen Datenverkehr keine Rolle mehr spielen. Weltweit beteiligen sich Jung und Alt an globalen, sozialen Netzwerken. Firmen wickeln die interne Zusammenarbeit über ortsunabhängige, elektronische Plattformen ab. Der rasante Börsenhandel ist ohne kostengünstige Transaktionen in Sekundenbruchteilen nicht denkbar. Internationale Kommunikation nahm über Jahrhunderte hinweg in dem Maße zu, wie Preis und Übertragungsdauer abnahmen. Im Zeitalter der Globalisierung sinkt beides auf nahezu null. Schneller und billiger geht es nicht. Bei Handels- und Personenverkehr ist noch eine Beschleunigung oder eine Verbilligung denkbar, bei Kommunikation und Datenaustausch kaum. Oftmals wird mit der Globalisierung ein Niedergang des Nationalstaats in Verbindung gebracht. Nicht so vom 1935 geborenen USamerikanischen Soziologen John W. Meyer, der seit Jahrzehnten Organisationen untersucht. 1997 schreibt er zusammen mit drei Kollegen im Aufsatz Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat: 366 <?page no="366"?> Das enorme Wachstum nationalstaatlicher Strukturen, Bürokratien, Programme, Budgets und Steuerungskapazitäten seit dem Zweiten Weltkrieg widerlegt zugleich die verbreitete These, daß die Globalisierung das Ende der nationalstaatlichen ›Souveränität‹ bedeute [...]. Natürlich stellt die Globalisierung die Staaten vor neue Probleme, aber gleichzeitig stärkt sie das weltkulturelle Prinzip, daß die Nationalstaaten die Hauptverantwortlichen dafür sind, diese Probleme im Namen ihrer Gesellschaften zu identifizieren und zu lösen. Das Wachstum des Aufgaben- und Verantwortungsbereichs des Staates führt vielleicht zur Entstehung unübersichtlicher und zersplitterter Strukturen, aber sicherlich nicht zu seiner Schwächung. Der Staat mag heute weniger Autonomie haben als früher, aber er hat unbestreitbar auch mehr zu tun; und die meisten Staaten sind heute auch in der Lage, mehr zu tun als je zuvor. 8 Die Autoren sehen keine Abschafffung des Staates, sondern eine weltweite Standardisierung im Gange, die sie in vier Punkten zusammefassen: Erstens zeigen Nationalstaaten ein hohes Maß an Isomorphie in ihren Strukturen und politischen Programmen. Zweitens bemühen sie sich tapfer, dem Modell des rationalen Akteurs gerecht zu werden. Drittens, und teilweise als Folge des letzteren, zeigen sie eine beträchtliche und manchmal extreme Entkopplung zwischen formalen Zwecken und realen Strukturen, Intentionen und Ergebnissen. Und viertens betreiben sie einen immer weitergehenden Ausbau weitgehend standardisierter formaler Strukturen. Die weite Verbreitung dieser Merkmale wird nur dann verständlich, wenn man den Nationalstaat wenigstens zum Teil als Konstruktion einer übergreifenden Kultur begreift und nicht als eigenständigen Akteur, die rational auf interne und externe Bedingungen reagiert. 9 Unter Isomorphie versteht Meyer einen Vorgang, den er auch an vielen anderen Organisationen beobachtet. Jede Organisation muss Strukturen aufbauen, was aber auf ganz unterschiedliche Weise geschehen kann. Lagen hier in der Vergangenheit teilweise gewaltige Unterschiede vor, so stellen die Neo-Institutionalisten um Meyer ein 8 Meyer, Weltkultur, S. 103 f. 9 Ebd., S. 95 f. 367 <?page no="367"?> Einschwenken auf gleichartige Muster fest. Um den eigenen Organisationsstrukturen Legitimität zu verschafffen, ihr So-und-nicht-anders- Sein zu begründen, greift man auf etablierte Modelle zurück, die ihre Rechtfertigung aus einer übergreifenden Kultur beziehen. Der Begrifff Kultur bezieht sich hierbei darauf, wer als handlungsfähig, wer als reale und relevante Einheit angesehen und welches Verhalten als akzeptabel und vernünftig erachtet wird; kurz: was institutionalisiert ist. Eine Religionsgemeinschaft existiert nur solange, fiindet also nur so lange als Institution Berücksichtigung, wie sie von ihren Mitgliedern und anderen Organisationen als solche akzeptiert und beachtet wird. Ebenso funktioniert ein Staat erst und nur solange, wie man an der Geschichte der USA, Israels oder der DDR verfolgen kann, wie er als solcher von den Bürgern und anderen Staaten anerkannt wird. »Kultur hat einerseits eine ontologische Seite, indem sie Akteuren und Handlungen, Mitteln und Zwecken Realität zuschreibt, und andererseits eine bedeutungsgebende Seite, indem sie Akteuren und Handlungen, Mitteln und Zwecken Sinn und Legitimität verleiht.« 10 Die Kultur und die durch sie legitimierten Institutionen regeln, wer auf welche Weise als Akteur anerkannt wird und wer nicht. Das gilt nicht nur für Organisationen, sondern auch für Personen. Nicht nur für Frauen und Sklaven hat sich ihr Status und die damit verbundene kulturell anerkannte Handlungsfähigkeit im Laufe der Jahrhunderte massiv verändert, sondern ebenso für Adlige oder den gewöhnlichen männlichen Untertan. Die Anerkennung von Akteuren, Personen und Organisationen gleichermaßen hängt davon ab, inwieweit sie sich den institutionalisierten Vorgaben fügen. Individuen laufen Gefahr, für nicht zurechnungsfähig erklärt zu werden, wenn sie von gesellschaftlichen Erwartungen zu weit abweichen. Organisationen müssen um ihre Glaubwürdigkeit und Anerkennung fürchten, wenn sie erwartete Strukturen nicht vorweisen können. Nationalstaaten übernehmen der Weltkultur entsprechende Organisationsmuster unabhängig davon, ob die landesspezifiische Lage eine ausreichende Grundlage dafür bietet. Auch Staaten ohne nennenswerten Wissenschaftsbetrieb haben einen Wissenschaftsminister, auch Staaten ohne durchsetzungsfähige Umweltschutzrichtlinien haben einen Umweltschutzminister. Nicht weil sie bewirken können oder sollen, sondern 10 Meyer, Weltkultur, S. 29. 368 <?page no="368"?> weil die weltweite, westlich geprägte Staatengemeinschaft das vorlebt und das - ausgesprochen oder nicht - als selbstverständlich ansieht. Meyer nennt das Entkopplung: Es werden organisatorische Strukturen aufgebaut, die in der Praxis folgenlos bleiben. Stellt Meyer damit nicht die funktionale Diffferenzierung infrage? Für Funktionalisten wie Talcott Parsons oder Niklas Luhmann setzt sich die soziale Welt aus Systemen zusammen, die eine Funktion für die Gesellschaft erfüllen. Die Neo-Institutionalisten stellen demgegenüber fest, dass Organisationen Strukturen aufbauen, die nicht funktional sind, die teilweise sogar so weit von Systemanforderungen entfernt sind, dass sie nur durch Entkopplung aufrecht erhalten werden können. Sie erfüllen von außen herangetragene kulturelle Erwartungen, ohne Rücksicht auf interne funktionale Erfordernisse. Während funktionale Diffferenzierung nahelegt, dass Teilsysteme notwendige Aufgaben ausfüllen, geht der Neo-Institutionalismus davon aus, dass gesellschaftliche Akteure sich stark danach richten, was kulturell erwünscht ist. Der Funktionalismus eigne sich hervorragend »als Ideologie der akteurzentrierten Rationalisierung«, 11 er verhilft etablierten Akteuren dazu, ihre Existenz zu rechtfertigen. In Ländern mit und ohne nennenswerten Wissenschaftsbetrieb können sich Wissenschaftsministerien gleichermaßen auf ihre gesellschaftliche Funktion berufen. Demgegenüber legt eine institutionalistische Sicht entkoppelte Strukturen offfen. Entkopplung sieht Meyer nicht nur bei Organisationen am Werk, sondern auch bei Individuen: In bezug auf Individuen stellt sich heraus, daß ihre Einstellungen und Meinungen oft von ihrem tatsächlichen Verhalten abgekoppelt sind (ein berühmter Fall von Entkopplung, der den üblichen Theorien der Personalität so viel Kopfzerbrechen bereitet, obwohl er doch ein ganz grundlegender und bedeutsamer Sachverhalt zu sein scheint). 12 Ebenso erkenne man bei den Menschen Isomorphie, die sich in einem »stark standardisierten Individualismus« 13 äußere. Wo Beck eine Notwendigkeit zu risikobehafteten Entscheidungen sieht, gehen 11 Ebd., S. 92. 12 Ebd., S. 72. 13 Ebd., S. 71. 369 <?page no="369"?> Neo-Institutionalisten davon aus, dass Individualisierung eng kulturellen Erwartungen folgt und gerade deshalb trotz aller vermeintlichen Entscheidungsfreiheit erstaunlich gleichförmig ausfällt. Ebenso tritt auch die Demokratie auf der ganzen Welt mit erstaunlich ähnlichen Erwartungen und Grundlagen auf, die sie jedoch nicht überall gleichermaßen zu erfüllen vermag und mancherorts es auch zu Entkopplungen kommt. Aus institutionalistischer Sicht ist Demokratie längst ein Teil jener Weltkultur, dessen Umsetzung jeder Staat vorzunehmen oder zumindest vorzugeben hat. Sie ist dann aber gerade keine Form der Volksherrschaft, sondern ein Verfahren der Regierungsbildung, das formal demokratischen Regeln entsprechen muss. So zerstörerisch Entkopplung für das Funktionieren einer Demokratie ist, so selbstverständlich muss sie aus Sicht des Neo-Institutitonalismus erscheinen. Die Vorgaben der westlich geprägten Weltgemeinschaft sind hochgradig standardisiert, die örtlichen Bedingungen damit aber oft nicht in Einklang zu bringen. Wobei Entkopplung nicht nur den Gegebenheiten geschuldet sein muss, sondern durchaus von Machthabern gezielt genutzt werden kann, um Demokratie zu heucheln und Autokratie zu leben. Damit verhält es sich mit der Demokratie ähnlich wie mit dem Nationalstaat in Zeiten der Globalisierung: Als Teil der Weltkultur bleibt die Bedeutung ungeschmälert, die ursprünglichen Ansprüche lassen sich aber nicht mehr erfüllen. Demokratie ist legitim, weil sie als Teil der Weltkultur auftritt, doch sie vermag immer weniger das politische Geschehen tatsächlich zu legitimieren. Am 28. Oktober 1955 wird William ›Bill‹ H. Gates III im Haus eines wohlhabenden, US-amerikanischen Rechtsanwalts geboren. Mit 13 Jahren begann er sich für Computer zu interessieren, zu denen er in einer Schule erstmals Zugang bekam. Drei Jahre vor der Entwicklung des ersten Mikroprozessors, der die heutigen kompakten Rechner ermöglicht, bekam er die Möglichkeit Rechenzeit auf einem Großrechner zu nutzen, dessen Rechenleistung hinter einem heutigen Mobiltelefon zurückblieb. Ein Jahr später gründete er zusammen mit seinem Schulfreund Paul Allen seine erste Firma für die Entwicklung von Computerprogrammen. 1975 brach Gates sein Studium an der Harvard University ab, um sich voll seiner neuen Firma Microsoft zu widmen. Der Durchbruch gelang 1980. IBM, der führende Hersteller für Großrechner, benötigte dringend ein Betriebssystem für die aufkommenden Heim- 370 <?page no="370"?> Computer. Die Unternehmen Apple sowie Commodore hatten erstmals massentaugliche Personal Computer (PC) entwickelt und IBM hatte nichts entgegenzusetzen. Die Hardware für einen eigenen PC konnte man selbst entwickeln, das nötige Betriebssystem jedoch nicht. Microsoft nahm den Auftrag an und kaufte den Tüftler Tim Paterson mitsamt seiner Software 86-DOS ein. Diese wurde weiterentwickelt, in MS-DOS (MicroSoft Disk Operating System) umbenannt und IBM zur Verfügung gestellt. Erst nach Verkauf der ersten PC mit diesem Betriebssystem stellte man dort erschrocken fest, dass Paterson seine Software vom Konkurrenten Digital Research abgekupfert hatte. Diesen brachte IBM daraufhin mit der Zahlung von 800 000 Dollar davon ab, rechtlich dagegen vorzugehen. Nun war der Weg frei, um die starke Stellung auszuspielen, die IBM aufgrund der Verbreitung seiner Großrechner genoss. Viele Firmen bezogen ihre PC vom gewohnten Computer-Lieferanten und erhoben damit zugleich MS-DOS zum Standard-Betriebssystem, weil ihre Mitarbeiter auch privat nutzen wollten, was sie aus der Firma kannten. Die Software war der Konkurrenz nicht überlegen, aber dank IBM war sie bald weit verbreitet. In den folgenden Jahren grifff Microsoft neue Entwicklungen frühzeitig auf, so dass viele damit erstmals durch den DOS-Nachfolger Windows, der nach dem Ende der Zusammenarbeit mit IBM entstand, in Berührung kamen. Die beiden zentralen Bedienkonzepte des neuen Betriebssystems waren von der Konkurrenz abgeschaut worden: die grafiische Oberfläche von Apple und die Anzeige mehrerer Fenster von Unix. Microsoft nutzte seine Marktposition und verhandelte mit Herstellern von Software sowie Hardware in einer Härte, die den Wettbewerb gezielt unterlief. Mit über 90 Prozent Marktanteil über Jahrzehnte hinweg erreichte man geradezu eine Monopolstellung und Bill Gates wurde der reichste Mensch der Welt. Einen Teil seines Vermögens übertrug er an die zusammen mit seiner Frau gegründete Bill and Melinda Gates Foundation (BMGF). Die größte Stiftung der Welt verwaltet ein Vermögen von fast 50 Milliarden Dollar. Bei der BMGF handelt es sich allerdings nicht um eine rein wohltätige Einrichtung, sondern sie dient unter anderem auch der Steuervermeidung: Microsoft schleust laut einem Bericht des US-Senats jährlich 371 <?page no="371"?> rund 4,5 Milliarden US-Dollar am Fiskus vorbei, indem man die Gelder in karibischen Steueroasen verschwinden lässt. Die Summe der vorbeigeschleusten Steuergelder übersteigt somit deutlich die Einnahmen der Stiftung, die bei jährlich rund 3,6 Milliarden US-Dollar liegen. 14 Ausgestattet mit enormen Kapitalreserven und regelmäßigen Einnahmen fördert die Stiftung heute Projekte, die sie als wohltätig ausgibt: Durch Entwicklung neuer Nutzpflanzen und Impfstofffe sollen Hunger und Seuchen besiegt werden. Dabei investiert Stiftung gezielt in Projekte von Unternehmen, an denen sie selbst Anteile hält. So fördert sie die Entwicklung gentechnisch veränderter Pflanzen etwa durch den Agrarkonzern Monsanto, der bekannt dafür ist, Bauern in armen Ländern mit Klagen zu überziehen. Der Drohkulisse der Anwälte haben die armen Landwirte nichts entgegenzusetzen und verpflichten sich, ihr Saatgut zukünftig ebenfalls von Monsanto einzukaufen statt kostenfrei das eigene zu verwenden. Die Bauern verlieren ihre Unabhängigkeit und Monsanto steigert seine Gewinne, an denen die Gates-Stiftung wiederum beteiligt ist. Bei den Impfstofffen gibt es ähnliche Verquickungen. Impfungen gegen Malaria oder Aids wären in der Tat ein großer Fortschritt, bislang aber konnte die Stiftung keine Erfolge melden. Zugleich sind die Kosten für gängige Impfungen in den letzten zehn Jahren um ein Vielfaches gestiegen, ohne dass sich die Wirkstofffe entsprechend verbessert hätten. Sowohl Pharma-Konzerne als auch die BMGF verdienen daran bestens, während arme Länder Mühe haben, die lebensnotwendigen Impfstofffe zu bezahlen. Daneben fiinanziert die Stiftung zu elf Prozent die Weltgesundheitsorganisation WHO und bringt damit mehr Geld dort ein als jede Regierung der Welt. Der damit verbundene Einfluss bewirkt, dass Aufträge der WHO häufiig an jene Pharma-Konzerne vergeben werden, an denen die Gates-Stiftung beteiligt ist. Die BMGF verfügt insgesamt über ein größeres Budget als etwa Albanien oder Senegal. Ohne jegliche demokratische Beteiligung lenken hier einige wenige das Geld unversteuert am Gemeinwesen vorbei und in selbstbestimmte Kanäle. Profiitieren können davon offfenbar Konzerne, was nicht zur Verbesserung der Lage in Entwicklungsländern 14 Spät, Bill Gates zwischen Schein und Sein. 372 <?page no="372"?> beiträgt. Mitten in einer selbsternannten kapitalistischen Demokratie erwuchs aus einem monopolistischen Geschäft ein Reichtum, der jenseits jeder demokratischen Kontrolle Einfluss auf das Gemeinwesen nimmt. Im 20. Jahrhundert ließ sich in den Industrieländern funktionale Diffferenzierung vergleichsweise klar an verschieden ausgerichteten Organisationen ablesen. Unternehmen orientierten sich an Wirtschaftlichkeit, Gerichte am Recht, Wissenschaften an Erkenntnis, Kirchen an religiösen Fragen, Regierungen und Behörden an Machtverhältnissen. Die jeweils anderen funktionalen Erfordernisse traten vorwiegend als begrenzende Faktoren auf. Konzerne müssen sich an Gesetze halten. Juristen können wissenschaftliche Erkenntnisse nicht außer Kraft setzen. Kirchen haben politische Entscheidungen zu akzeptieren. Universitäten und Staaten verfügen nicht über beliebig viel Geld. Im Zuge der Globalisierung gehen diese Eindeutigkeiten immer mehr verloren. Da tauchen Berichte auf, wonach Wissenschaftler in enger Verbindung zur Wirtschaft stehen und Studienergebnisse veröffentlichen, die Unternehmen in die Hände spielen, sich später aber als nicht korrekt erweisen. Da unterzeichnen Regierungen internationale Handelsverträge, deren Inhalte von eben jenen Konzernen erarbeitet wurden, denen sie dann auch am meisten nutzen. Da entziehen sich transnationale Unternehmen der staatlich geregelten Besteuerung, indem sie Gewinne geschickt ins Ausland verlagern. Da sprechen US-Gerichte US-Ölkonzerne von einer Strafzahlung frei, die das Gericht eines armen Landes wegen massiver Umweltverschmutzung verhängt hatte. Da entscheiden Schiedsgerichte der Welthandelsorganisation WTO darüber, ob Subventionen demokratisch gewählter Regierungen zulässig sind. Da sollen Universitäten die Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen intensivieren, um von diesen Forschungsgelder einzusammeln, von denen sie dann abhängig sind. Da setzen sich christliche Creationisten und islamische Salafiisten über staatliches Recht hinweg. Da privatisieren Staaten Infrastruktur für Wasser, Strom, Telekommunikation oder Eisenbahn, die sich marktwirtschaftlichem Wettbewerb entziehen und in ein Monopol münden. Da setzen Geldgeber in verschuldeten Staaten Privatisierungen und Strukturanpassungen durch, wodurch Vermögende und Konzerne zu Spottpreisen an Volkseigentum gelangen, während das dem Volk Armut und Hunger bringt. Und da gründen Milliardäre Stiftungen, 373 <?page no="373"?> um die Gewinne ihrer Unternehmen nicht versteuern zu müssen und für massiven politischen Einfluss nutzen zu können. In vielen Bereichen verschränken sich wirtschaftliche, politische, juristische, wissenschaftliche und religiöse Fragen unentwirrbar. Oft erscheint das als skandalös. Wird es aber nicht auch immer häufiiger schulterzuckend als Normalität hingenommen? Erscheint uns die Vermischung vormals streng getrennter Interessenlagen mittlerweile nicht allgegenwärtig? Wirkt funktionale Diffferenzierung nicht wie die allzu schöne, ordentliche Beschreibung vergangener Zeiten? Im Buch Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter drückt Beck 2002 seinen Eindruck folgendermaßen aus: Globalisierung ist eine Niemandsherrschaft. Niemand hat sie angefangen, niemand kann sie aufhalten, niemand ist verantwortlich. Das Wort ›Globalisierung‹ steht für organisierte Unverantwortlichkeit. Du hältst Ausschau nach jemandem, an den du dich wenden kannst, bei dem du dich beschweren kannst, gegen den du demonstrieren kannst. Aber es gibt keine Institution, keine Telefonnummer, keine Email-Adresse. Alle sind oder sehen sich als Opfer, keiner als Täter. Selbst die Konzernherren, die ›modernen Prinzen‹, die umworben werden wollen, müssen, ihrem Selbstverständnis nach, ihr Denken und Handeln auf den Altären des Shareholder Value opfern, wollen sie ihrerseits nicht gefeuert werden. Je mehr der Globalisierungsdiskurs alle Kapillaren des sozialen Lebens durchringt, desto machtvoller werden weltwirtschaftliche Akteure und Strategien. Diese diskursive Meta-Macht der Globalisierung konkretisiert sich nicht zuletzt im Prinzip TINA: There Is No Alternative. 15 Es scheint, als hätten die Staaten die Kontrolle abgegeben. Dabei ging es der Politik stets um Ressourcenkontrolle, schon absolutistische Fürsten versuchten, die volle Macht über das Land und seine Bewohner zu gewinnen. Gewerbe und Handel genossen stets deshalb mehr Freiheiten als die Bevölkerung, weil sie die Wirtschaftskraft eines Staates steigerten, was dem Staat wiederum zusätzliche Einnahmen und Ressourcen sicherte. In den Weltkriegen wurden die Unternehmen von den Staaten unter vollständige Kontrolle gebracht. Auch nach 1945 fühlten sich Konzerne lange Zeit stark ihrem 15 Beck, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter, S. 102. 374 <?page no="374"?> Heimatstaat verbunden. Das blieb auch während des Kalten Krieges so. Ab 1990 grifff dann mit Outsourcing die Verlagerung von Firmenstandorten vermehrt um sich. In den Industrieländern entziehen sich die Finanzströme transnationaler Konzerne mittlerweile großenteils dem staatlichen Zugrifff zur Besteuerung. Reiche Länder stehen trotzdem noch vergleichsweise gut da, wenn man bedenkt, dass nach dem Ende der Kolonialzeit überall auf der Welt Staaten entstanden sind, deren Ressourcenausstattung weit hinter jener von Konzernen zurückbleibt. Sie haben kaum Möglichkeiten, große Unternehmen zur Einhaltung staatlicher Vorgaben zu zwingen, denn das würde Beck zufolge schlicht mit der »Exit-Option« 16 beantwortet werden: Es ist die genaue Umkehrung des Kalküls der klassischen Macht- und Herrschaftstheorie, das die Machtmaximierung transnationaler Unternehmen ermöglicht. Das Zwangsmittel ist nicht der drohende Einmarsch, sondern der drohende Nicht- Einmarsch der Investoren oder ihr drohender Ausmarsch. Es gibt nur eines, das schlimmer ist, als von Multis überrollt zu werden: nicht von Multis überrollt zu werden. 17 Funktionale Diffferenzierung im Zeitalter souveräner Nationalstaaten hieß, dass eine demokratisch gewählte Regierung die Spielregeln politisch vorgibt, in deren Rahmen Unternehmen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten schalten und walten dürfen. Mit der Globalisierung hat diese Welt ihre schlichte Ordnung verloren. Völlig unüberschaubar ist längst geworden, woran sich jene politischen Entscheidungen orientieren, die Wirtschaft, Wissenschaft und Recht den Rahmen vorgeben sollen. Die Akteure bedienen sich noch immer bereitwillig den Teilsystemen moderner Staaten, je nach Ressourcenausstattung tun sie das aber unterschiedlich erfolgreich und rekombinieren die verschiedenen Sphären virtuos. Konzerne entziehen sich nationalem Recht mithilfe internationaler Organisationen oder dem Einfluss ausländischer Regierungen. Juristen verfassen für Lobbygruppen Gesetzesentwürfe, die von Regierungsparteien verabschiedet werden. Universitäten liefern passgenaue Studienergebnisse zur Zulassung von Medikamenten, die ebenjenen Unternehmen dienen, die Forschungsgelder zur Verfügung stellen. Kirchen treten als Träger wohltätiger 16 Ebd., S. 99. 17 Ebd., S. 97. 375 <?page no="375"?> Einrichtungen auf, die größtenteils staatlich fiinanziert werden, aber bei Einstellungen Jahrhunderte nach Einführung der Religionsfreiheit konfessionelle Zugehörigkeit fordern. Staaten brechen internationales Recht, wenn es eigenen Interessen zuwider läuft und machen dabei gerne gemeinsame Sache mit heimischen Firmen. Werden in den großen Organisationen die Grenzverläufe nicht immer undurchsichtiger? Erreichen nicht etwa Entscheidungen transnationaler Konzerne mittlerweile ähnlich wie politisch herbeigeführte eine kollektive Verbindlichkeit, wenn etwa Internet-Unternehmen Inhalte abweichend vom jeweils landesspezifiisch geltenden Recht zulassen oder blockieren? Optimieren sich Behörden, Forschungseinrichtungen und Krankenhäuser nicht längst intern im Stile von Wirtschaftsunternehmen? Lässt sich die Stiftung von Bill und Melinda Gates überhaupt noch in eine funktionale Diffferenzierung einordnen oder nicht gerade in den Versuch von deren Überwindung? Verfolgt sie nicht ebenso sehr wirtschaftliche Ziele mit politischen Mitteln, wenn sie ihren Einfluss bei der WHO zur Auftragsvergabe an bestimmte Firmen nutzt, wie sie politische Ziele mit wissenschaftlichen Mitteln verfolgt, wenn sie die Forschung an genmanipuliertem Saatgut fiinanziell massiv fördert? Doch nicht nur das Aufgehen des Staates in einer globalen Welt raubt funktionaler Diffferenzierung ihre wohlgeordneten Muster des 20. Jahrhunderts. An die Stelle internationaler Kriege und weltweiter Systemkämpfe treten immer mehr innerstaatliche Konflikte und Terror. Politik, Wissenschaft, Recht, Wirtschaft und Religion gehen allzu häufiig auf in einem ebenso undurchsichtigen wie unredlichen Brei aus Partikularinteressen. Die daraus resultierenden Flüchtlingsströme sind wiederum eine Herausforderung für die Idee repräsentativer Demokratie in den Aufnahmeländern. Repräsentation geht von der Stellvertretung einer weitgehend stabilen Bevölkerung auf einem weitgehend stabilen Territorium aus. Wanderungsbewegungen durchbrechen das Konzept. Flüchtlinge haben keine Repräsentanten, Ansässige hingegen sehen ihren Einfluss zurückgehen und auf dem Kriegsgebiet werden ohnehin jegliche demokratische Verfahren gewaltsam unterdrückt. Vorindustrielle Fertigung war Handarbeit mithilfe von Werkzeugen. Industrielle Fertigung stützt sich auf Maschinen, nutzt einerseits fossile Energiequellen und führt andererseits mechanische Automa- 376 <?page no="376"?> tisierung ein. Maschinen können gleiche Abläufe in hoher Zahl wiederholen. Der Aufwand für Wiederholungen sinkt gegenüber dem Handwerk, der für Variation steigt. Mit Einführung der computergestützten Digitalisierung können Abläufe variiert werden. Maschinen lassen sich nun vielfältig einsetzen. In der Fertigung sinkt damit der Aufwand für Variationen bei gleichzeitig hohen Anforderungen an Expertise vor Ort. Die Einführung des Internet ermöglicht die Kopplung digitaler Automaten über Netzwerke. Maschine und Algorithmus werden räumlich getrennt, zugleich stehen variable, automatisierte Dienste weltweit zur Verfügung. Die Anforderungen an lokale Expertise sinken. Wurden im Industriezeitalter Maschinen von Menschen überwacht, werden heute Maschinen und Automaten wiederum von Automaten überwacht. Menschen werden nur noch informiert - und auch selbst von Automaten überwacht: durch Mobiltelefone, Kameras, Zutrittskarten, Internet-Tracking, Datenanalyse usw. Zugleich steht damit jedem einzelnen eine eigene Publikations- und Recherchemöglichkeit zur Verfügung. Im Industriezeitalter war die Vervielfältigung Verlagen mit entsprechenden Maschinen vorbehalten. Noch im Zeitalter der Digitalisierung bedurfte es für Publikationen erheblicher Expertise und aufwändiger Vertriebsstrukturen. Erst mit dem Internet und seinem automatisierten Netzwerk stehen Publikationsmöglichkeiten jedem ohne großen Aufwand zur Verfügung. Das hat erhebliche Auswirkungen auf Öfffentlichkeit. Vor dem Internet-Zeitalter traten die Bürger als Konsumenten vorgefertigter Publikationswaren auf, wie sie das ebenso für vorgefertigte Konsumartikel waren. Beim Kiosk holte man sich Kaugummi, Zigaretten und Zeitungen. Das öfffentliche Räsonnement, dem Jürgen Habermas solche Bedeutung beimisst, fand fast ausschließlich in redaktionell betreuten Bereichen statt. Mit dem Internet verlässt die öfffentliche Diskussion die breitenwirksamen Redaktionsräume einerseits und die Isolation des Stammtisches andererseits. Jeder kann über alles öffentlich diskutieren. Und er muss sich dabei nicht an die Regeln des guten Geschmacks oder der guten Sitten halten. Öfffentliches Räsonnement ist daraus allerdings nicht entstanden, stattdessen fiinden sich im virtuellen Raum Gleichgesinnte zusammen, um sich gegenseitig in ihren vorgefertigten Meinungen zu bestätigen. Jeder kann sich als Teil einer Bewegung fühlen, gleichgültig wie randständig seine Haltung ist. 377 <?page no="377"?> Erweckte die begrenzte Anzahl öfffentlicher Publikationen zuvor den Eindruck einer allen gemeinsamen »Hintergrundrealität«, 18 so zersplittert dieser gemeinsame Bezugsrahmen im Internet in eine Unmenge unterschiedlicher Realitäten. Ebenso wie die stark an staatlichen Grenzen ausgerichteten großen Zeitungen zwei Jahrhunderte lang eine »vorgestellte politische Gemeinschaft«, 19 eine nationale Identität zu stiften vermochten, so dienen heute Internetgemeinschaften ebenfalls der Identitätsstabilisierung, allerdings nicht einer nationalen, vielmehr kann Identität heute an verschiedenste Merkmale, auch an dumpfen Hass anknüpfen. Es entsteht kein globales alle einbeziehendes Räsonnement, weil zwar Publikationsmöglichkeiten allgemein geworden, die Rezeptionskapazitäten aber nicht gestiegen sind. Der Mensch kann nicht mehr Kommunikation verarbeiten, nur weil mehr zur Verfügung steht. Im Internet liegen die Voraussetzungen für eine »herrschaftsfreie Diskussion« 20 im Sinne Habermas’ vor, jedoch genügen dafür weder die Verarbeitungskapazitäten der Menschen noch ihr Verständigungswille. Viele streben keine Aushandlung von Positionen und schon gar keine Konsensfiindung an. Für eine Demokratie, die auf Diskussion und Vermittlung unterschiedlicher Positionen beruht, ist das eine beunruhigende Botschaft. Zumal sie noch an einer anderen Stelle eine Kraftquelle verliert. Beginnend mit der modernen Demokratie in den USA und in der Französischen Revolution ging die Volksherrschaft stets mit der Volksarmee einher, auf erstaunlich ähnliche Weise wie zuvor der Adel stets Vorrechte mit seiner kriegerischen Leistungsfähigkeit begründete. Schon mit den Atomwafffen lag die alles auslöschende militärische Schlagkraft längst nicht mehr beim Massenheer, sondern bei der Verfügungsgewalt über vergleichsweise wenige Raketen. Die digitale Automatisierung lässt nun langsam aber sicher die Ablösung der Volksarmee auch unterhalb der Schwelle des Atomkriegs unaufhaltsam näher rücken. Wenn in Zukunft die Verteidigung von Automaten übernommen wird, welche Auswirkungen hat das auf Demokratie? Bedeutet das, wie man kurzschlüssig annehmen könnte, die Herrschaft dessen, der Verfügungsgewalt über die Kriegsautomaten ausübt, so wie die Ritter durch Verfügungsgewalt über Pferd und Rüstung ihre Herrschaft 18 Luhmann, Die Realität der Massenmedien, S. 173. 19 Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 14. 20 Habermas und Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, S. 138. 378 <?page no="378"?> behaupten konnten? Oder bedeutet die Automatisierung eine weitergehend offfensive Kriegführung der reichen demokratischen Staaten, wie sie schon durch die Überlegenheit in der Luft mehrfach zum Tragen kam? Oder folgt aus der Globalisierung eine Auflösung nationalstaatlicher Kriegführung und die Nutzung vernetzter digitaler Automaten zur Unterdrückung von Unruhen unabhängig von der Regierungsform? Ebenso wie Beck hat Meyer erfahren, dass sich aktuelle Ereignisse einer stark funktionalistischen Sichtweise entziehen. Während Habermas und Luhmann die geordnete Nachkriegswelt sicherlich als erfreuliche Wendung gegenüber den prägenden Kriegserfahrungen der Jugend empfanden, haben Beck und Meyer davon wenig mitbekommen, sahen aber in ihrer Jugend das funktionalistische Ordnungsdenken in der Realität immer wieder verletzt. Für Beck sieht sich die Moderne mit ihren eigenen Folgen konfrontiert, für Meyer folgt sie kulturellen Vorgaben, die aber noch aus der Moderne stammen. Die digitale Automatisierung aber scheint auch diese Grundlagen zu zerstören. Hier kommen die kulturellen Vorgaben nicht mehr von oben, sondern entstehen aus dem Netzwerk heraus bzw. erfahren eine heftige Zersplitterung. Die Einheitlichkeit von Weltkultur und Moderne zerbröselt. 379 <?page no="379"?> 20 Wozu Demokratie? Jede moderne Politik beruht auf Immanuel Kants Einsicht, dass Vernunftwesen frei entscheiden. Daraus folgt, dass Menschen über ihr Leben selbst bestimmen. Was sie tun und was nicht, legen sie selbst fest. Diese Entscheidungsfreiheit mag durch äußere Umstände eingeschränkt sein, doch auch wenn Natur oder andere Menschen die Freiräume begrenzen, obliegt es jedem Vernunftwesen, innerhalb seiner Möglichkeiten Entschlüsse zu fassen. Selbstbestimmt zu leben, ist somit naturgegeben, bildet zugleich aber auch ein anzustrebendes Ideal; denn der Mensch ist nicht nur gezwungen, seinem Leben eine Richtung zu geben, sondern fühlt sich umso freier, je uneingeschränkter seine Entscheidungsmöglichkeiten sind. Wer aber für sich Vorrechte fordert, stellt seinen Freiheitsdrang über den anderer. Er missachtet somit jene natürliche Freiheit, die zwischen Vernunftwesen grundsätzliche Ranggleichheit herstellt. Das Streben nach Selbstbestimmung äußert sich individuell in der basalen liberalen Idee, derzufolge jeder aufgrund seiner natürlichen Freiheit tun kann, wonach ihm der Sinn steht. Wie von Thomas Hobbes beschrieben, mündet solcherlei willkürliches, individuelles Treiben in eine chaotische, gefährliche Welt, weshalb gesellschaftliche Regeln und ihre Durchsetzung durch eine übergeordnete Macht unabdingbar erscheinen. Da es jedoch niemanden gibt, dessen Regeln sich der Mensch unterstellen könnte, muss er sich diese selbst geben. Die Notwendigkeit zur Selbstbestimmung besteht somit nicht nur auf individueller, sondern zugleich auf kollektiver Ebene. Die Menschen müssen selbst entscheiden, wie sie ihre gemeinsame Welt gestalten wollen, sie müssen sich allgemein verbindliche Regeln geben. Dazu bedarf es eines gemeinsamen Beschlusses, der Jean-Jacques Rousseau zufolge auf einem gemeinsamen Willen beruhen muss. Allerdings können die beiden Ebenen der Selbstbestimmung, die individuelle einerseits und die kollektive andererseits, jederzeit in Widerspruch zueinander geraten. Auf der einen Seite fordert deshalb der Liberalismus eines John 380 <?page no="380"?> Locke oder eines John Stuart Mill unantastbare Rechte für das Individuum. Grundrechte und Eigentumsrechte sollen dem Einzelnen Sicherheit geben und ein Rechtsstaat soll ihm diese garantieren. Auf der anderen Seite kann das unkoordinierte Treiben der Individuen soziale Kräfte entfalten, die, wie Karl Marx feststellt, niemand gewollt hat, die sich aber nicht so einfach eindämmen lassen. Wenn der selbstbestimmte Mensch sich nunmehr keinen religiösen Vorgaben mehr unterwirft, warum sollte er sich dann einer ungesteuerten sozialen Dynamik unterwerfen? Nur, was genau soll unternommen werden, um das gemeinsame Schicksal in den Grifff zu bekommen? Schnell ist man dabei, einer vermeintlich höheren Einheit einen eigenen Willen zu unterstellen, ganz so als bildete eine große Menschenmenge ebenso wie ein einzelner Mensch eine Einheit, als bestünde sie nicht aus Millionen verschiedener Menschen. Dann aber setzt man genau wie Hobbes an die Stelle des Kampfes aller gegen alle einen Leviathan und an die Stelle des Chaos die Despotie. Jede moderne Politik steht vor diesem Dilemma der Unvereinbarkeit von individueller und kollektiver Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung der Individuen beeinträchtigt die Freiheit der Gesamtheit, während umgekehrt die Selbstbestimmung der Gesamtheit die Freiheit der Individuen beeinträchtigt. Von entscheidender Bedeutung ist folglich, wie diese beiden Pole miteinander vermittelt werden. Die Antwort der Demokratie darauf lautet: durch Partizipation! Die Menschen sollen alle gemeinsam darüber bestimmen, wie sie Zusammenleben wollen. Von maßgeblicher Bedeutung ist dabei das Verfahren, mit dem Partizipation hergestellt wird. In der modernen Demokratie vertraut man bislang fast durchgängig auf Repräsentation, obwohl sie in der politischen Philosophie eine untergeordnete Rolle spielt. Sie hat sich wohl etabliert, weil es im 18. Jahrhundert schlicht nahe lag. Zunächst einmal erschien das Prinzip vertraut: In den USA kannte man repräsentative Parlamente vom Mutterland England und schon vor der Unabhängigkeit gab es Volksvertretungen in einzelnen Kolonien; in Frankreich war die Revolution aus der Ständeversammlung hervorgegangen, die sich selbst als repräsentatives Gremium sah. Nicht nur in den beiden Vorreiterstaaten der Demokratie verfügte man über entsprechende Erfahrungen, darüber hinaus verstanden sich absolutistische Herrscher ebenso wie Adelsversammlungen seit Jahrhunderten als Repräsentanten - allerdings nicht etwa als Repräsentanten der 381 <?page no="381"?> Bevölkerung, sondern des Reiches; erst Napoléon bezeichnete sich als Kaiser der Franzosen im Gegensatz zu den Königen von Frankreich zuvor. Das Prinzip der Repräsentation hatte sich gewissermaßen aus vordemokratischer Zeit hinübergerettet. Es versprach zudem ein logistisches Problem zu lösen: Anders als beim verhältnismäßig kleinen antiken Vorbild Athen sah man in den flächigen modernen Territorialstaaten keine Möglichkeit, die Bevölkerung insgesamt an der Regierung zu beteiligen; eine begrenzte Anzahl Vertreter konnte man hingegen an einem Ort versammeln. Außerdem erhofffte man sich von Repräsentation zwei weitere Efffekte: einen aristokratischen im Sinne Platons und einen republikanischen im Sinne Ciceros. Im Parlament sollten sich zum einen die Besten über das Schicksal des Landes beraten; zum anderen hofffte man durch die Vermischung von Herrschaftsformen, das jeweils Beste daraus zusammenführen zu können. Was sich nach einer gelungenen Synthese anhört, bleibt nicht ohne Folgen in demokratischer Hinsicht, denn Parlamente bilden in Wirklichkeit keine Versammlung der besten Bürger, sondern vielmehr Ausschüsse der einflussreichsten Parteien. Debatten dort nehmen nicht die Form konstruktiver, gemeinsamer Beratung an, sondern diejenige eines konfrontativen, taktisch geprägten Schlagabtauschs. Von einem aristokratischen Charakter fehlt jede Spur. Unter denjenigen, die sich eigentlich repräsentiert fühlen sollen, herrscht ein anderes Bild vor: Parlamentarier verkörpern keine platonische Elite, sondern Experten in Sachen Parteipolitik. Dennoch verschaffft das politische System den Parteivertretern eine privilegierte Position, was ihren Einfluss auf kollektiv verbindliche Entscheidungen betriffft. Sie entscheiden in Vertretung des Volkes darüber, wie dessen Zusammenleben ausgestaltet wird. Aus demokratischer Sicht sollten sie damit das Bindeglied zwischen der Selbstbestimmung des Einzelnen und der Selbstbestimmung der Gesellschaft insgesamt bilden. Die Synchronisation reduziert sich jedoch im Wesentlichen auf die Wahlen im Rhythmus von einigen Jahren. Den Alltag dominieren demgegenüber drei andere Schnittstellen: die zur Partei, die zu Interessenvertretungen und die zur medialen Öfffentlichkeit. In diesem Umfeld müssen Parlamentarier für alle verbindliche Entscheidungen abwägen, wobei sie nicht zuletzt für sich selbst Sorge tragen müssen, denn das Prinzip der Repräsentation raubt Unabhängigkeit. Um ihr Auskommen zu sichern, müssen sie sich den 382 <?page no="382"?> Vorgaben ihrer Partei unterordnen und gegenüber internen Konkurrenten behaupten; um eine Wiederwahl zu ermöglichen, müssen sie dem Wähler und den Journalisten gegenüber glaubwürdig und vertrauenswürdig erscheinen; um nach ihrem aktuellen Engagement in andere Positionen zu gelangen, müssen sie sich bei einflussreichen politischen Institutionen und Lobbygruppen profiilieren. Die Situation der Abgeordneten ist vergleichbar mit einer vertrieblichen Position in der Wirtschaft. Ein gewöhnlicher Verkäufer muss den Vorgaben seines Unternehmens Folge leisten, dem Käufer glaubwürdig erscheinen und darauf achten, bei etwaigen Konkurrenten oder Verhandlungspartnern zu profiilieren, um nach dem Ende seines aktuellen Engagements woanders unterzukommen. Statt unabhängiger Volksvertreter schaffft Repräsentation abhängige Stellvertreter. Statt Aristokraten bringt es Karrieristen hervor. Der Beruf des Politikers, will er erfolgreich sein, unterscheidet sich nicht von anderen in großen Organisationen, wie an der Beschreibung des Bundestagsabgeordneten Marco Bülow deutlich wird: Wenn man die Karriereleiter hinaufwill, sollte man sich eher zurückhalten, wenn strittige Entscheidungen anstehen. Zeichnet sich dann aber eine Lösung ab oder will die Fraktionsspitze mehrheitlich einen bestimmten Kurs durchsetzen, dann ist es vorteilhaft, sich in gut gewählten Worten dieser Mehrheitsmeinung anzuschließen. Förderlich sind auch eingestreute Reden, um die Position der Fraktionsspitze zu stützen, die Gemeinsamkeit zu beschwören und die Kritiker in die Schranken zu weisen. [...] Aufstiegsdienlich ist natürlich die sichtbare Nähe zu den großen Namen in der Fraktion und Partei. Es bleibt nicht ohne Wirkung bei den Parlamentskollegen, wenn sie mitbekommen, dass man in gutem Kontakt mit den Parteigranden steht. Im kleinen Kreis sollte man auch diejenigen ernst nehmen, die man eigentlich nicht ertragen kann. Ein gutes Namensgedächtnis, kleine Gefälligkeiten und dauernde Höflichkeit können jeden weiterbringen. Aber man sollte sich nicht zu nett geben. Nur wer beweist, dass mit ihm im Zweifel nicht zu spaßen ist, dem traut man zu, dass er selbstbewusst Verantwortung übernehmen kann. Befolgt man diese Tipps, stehen einem viele Wege offen. Dann geht es nur noch darum, die Konkurrenten auszustechen... 1 1 Bülow, Wir Abnicker, S. 79. 383 <?page no="383"?> Angesichts ihres Einflusses müssen Parlamentarier zur Elite gezählt werden, womit sie in einem prinzipiellen Widerspruch zur Idee demokratischer Gleichheit stehen. Sie entscheiden über die Verteilung von Posten und Ressourcen in enormem Ausmaß, zugleich sind sie aber für Einflussnahmen durch Dritte adressierbar. Während sie über die Verwendung riesiger Summen bestimmen, sind für sie selbst vergleichsweise kleine Summen oder andere Gefälligkeiten lukrativ. Jede Interessenvertretung kann unter diesen Umständen ihre Bemühungen auf wenige fokussieren, wogegen man bei unverstellt demokratischen Entscheidungen schon der Bevölkerung insgesamt Vorteile verschafffen müsste. Doch die Bürger entscheiden nicht, sondern sie wählen; und so wie Repräsentation Interessenvertreter zur Beeinflussung einiger weniger einlädt, so verführen Wahlen zu Klientelpolitik. Das Wahlsystem ermöglicht es Parteien, verschiedenen Bevölkerungsgruppen jeweils in einzelnen Punkten Begünstigungen versprechen und sich auf diesem Weg eine Mehrheit Stück für Stück zusammensetzen, auch wenn jede Versprechung für sich nicht mehrheitsfähig wäre. Man kann versuchen mit Fragen der Steuer-, Ausländer- oder Wafffengesetzgebung Wahlen gewinnen, um dann schul-, gesundheits- oder wirtschaftspolitische Entscheidungen zu trefffen. Repräsentation zeitigt deshalb auf dreierlei Weise ein undemokratisches Ungleichgewicht: Erstens verfügen Repräsentanten schon aufgrund ihrer Rolle über mehr Einfluss als ihre Mitbürger; zweitens erleichtert jede Machtbündelung bei wenigen Personen immer auch Einflussnahme durch fiinanzkräftige Dritte; drittens entkoppelt es politische Entscheidungen von der unmittelbaren Zustimmung des Volks. Umso drängender stellt sich die Frage der Legitimation. Folgt man Niklas Luhmann, resultiert diese in modernen Demokratien aus Verfahren. Allerdings kann nicht jedes beliebige Verfahren gleichermaßen Legitimität herstellen. Inwiefern das tatsächlich glückt, verhält sich nicht zu allen Zeiten und in allen kulturellen Umgebungen gleich. Wenn das dynastische Prinzip den Sohn als König nachzurücken gestattet, handelt es sich dabei streng genommen ebenso um ein Verfahren wie bei Wahlen in Mehr- oder auch in Einparteiensystemen. Welches Vorgehen überzeugt, hängt davon ab, welche Ansprüche herangetragen werden. Max Weber unterscheidet hier grundsätzlich drei Ausprägungen: Tradition, Charisma, Legalität. Legitimität hängt demnach davon ab, worin man sein Zutrauen setzt: Wenn man ers- 384 <?page no="384"?> tens davon ausgeht, dass Eignung vererbt wird, können traditionelle Verfahren Legitimation vermitteln. Wenn man zweitens auf herausragende individuelle Fähigkeiten setzt, rechtfertigt Charisma Vertrauen. In beiden Fällen legt man das gemeinsame Schicksal in die Hände einer auserwählten Persönlichkeit. Sie muss die richtigen Entscheidungen trefffen. Sobald man drittens die Regierung nicht einer Person allein anvertrauen will, bedarf es eines Regelwerks, auf welchem Weg Beschlüsse zu fassen sind. Es kommt nicht darauf an, wer etwas entschieden hat, sondern wie die Entscheidung zustande kam. Man schenkt dem Verfahren mehr Vertrauen als dem Entscheider. Legalität verschaffft Legitimität, ganz im Sinne Luhmanns. Dieser spricht Verfahren eine legitimierende Wirkung zu, ohne näher darauf einzugehen, wie sie konkret ausgestaltet sind. Das aber ist nicht gleichgültig. Nicht alle Verfahrensregeln werden unterschiedslos als fair angesehen, vielmehr entzünden sich an ihrer konkreten Ausgestaltung regelmäßig Diskussionen. Diktatoren müssen nicht notwendig ihrer Willkür freien Lauf lassen, sie können ihre Macht auch über geregelte Verfahren ausüben; dennoch erkennen nur wenige sie als legitim an. Nicht umsonst hat Weber Legitmitätsansprüche unterschieden, ohne daraus abzuleiten, wer seine Herrschaft tatsächlich als mehr oder weniger berechtigt ansehen darf. Er hat sich darauf beschränkt, zu untersuchen, auf welcher Grundlage jemand Herrschaft für sich beansprucht, ganz unabhängig davon ob das anerkannt wird. Ansprüche allein verschafffen noch keine Legitimität. Alles hängt davon ab, inwiefern sie Anerkennung von denjenigen erfahren, denen gegenüber Herrschaft beansprucht wird: von den Beherrschten. Wenn diese im Gefolge Kants von der Gleichrangigkeit aller Vernunftwesen überzeugt sind, folgt daraus eine Maßgabe: Legitimität erwächst in dem Maße, in dem ein gleichrangiger Einfluss auf kollektiv bindende Entscheidungen ermöglicht wird. In demokratischer Hinsicht unterscheiden sich Verfahren folglich dahingehend, inwiefern sie diesen Anspruch erfüllen. Die naheliegende Maximalforderung, wonach alle an allen Entscheidungen in gleichem Umfang beteiligt werden sollten, lässt sich allenfalls in sehr kleinen Gruppen erfüllen, denn sie leidet an einem begrenzten Durchsatz. Die Anzahl Entscheidungen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums getrofffen werden können, fällt sehr gering aus. Will man gleichzeitig Handlungsfähigkeit bewahren, lässt sich die Maximalforderung nicht aufrechterhalten. Handlungsfähig- 385 <?page no="385"?> keit aber muss als wesentliche Voraussetzung von Selbstbestimmung angesehen werden. Wer nicht handlungsfähig ist, weil sich der Entscheidungsprozess zu langwierig gestaltet, kann keinen Einfluss auf voranschreitende Entwicklungen nehmen. Die grundsätzliche Frage bleibt also: Welche Verfahren sind in der Lage, individuelle und kollektive Selbstbestimmung so zu vermitteln, dass das Gemeinwesen handlungsfähig bleibt und die Menschen möglichst gleichrangig am Entscheidungsprozess mitwirken können? Da in einer Demokratie grundsätzlich auch über Entscheidungsverfahren entschieden werden kann, ist auch von Bedeutung, welches Verhalten durch Verfahren prämiert oder erleichtert wird. Denn jedes, gleichgültig ob legitim oder nicht, hat den Efffekt, dass es Erwartbarkeiten regelt: Ergebnisse kommen nicht willkürlich zustande, sondern resultieren aus einem nachvollziehbaren Vorgang. Dieser Vorteil der Vorhersehbarkeit ist untrennbar mit dem Nachteil verbunden, dass sich genau dies ausnutzen lässt. Wo immer Regularien das Geschehen bestimmen, suchen fiindige Menschen danach, sich das Regelwerk zunutze zu machen. Darin liegt das Kerngeschäft der Juristen ebenso, wie die Kunstfertigkeit mancher Empfänger staatlicher Sozialleistungen. Je komplizierter das Regelwerk, desto kreativer der Umgang damit. Nun pflegt eine Republik einen vielschichtigen Aufbau als Grundprinzip. Von ihren komplizierten Verfahren profiitieren jene, die über die nötigen Ressourcen verfügen, um die Schwachstellen der Verfahren ausfiindig zu machen und für sich zu nutzen: Parteien, Interessenvertretungen, Konzerne. Wenn sich der republikanische Aufbau verkompliziert, geht das stets auf Kosten der normalen Bürger, während schlagkräftige Organisationen ihren Vorteil daraus ziehen. Steigende Komplexität liegt deshalb im Interesse derjenigen, die bereits über große Ressourcen verfügen. Anders als von den Nutznießern gerne dargestellt, handelt es sich deshalb womöglich gar nicht so sehr um eine unvermeidliche Eigendynamik der Moderne. Komplexe Verfahren, gleichgültig in welchem Umfeld, begünstigen diejenigen mit guter Ressourcenausstattung und ermöglichen diesen auf dem gleichen Wege die Komplexität weiter zu steigern. Es ergibt sich ein selbstverstärkender Prozess. Auf diese Weise entstehen juristische Bereiche, die ohne kostspielige Expertise nicht bewältigbar sind. Das versorgt ganze Berufsgruppen mit gutdotierten Aufträgen. Der Republik wohnt deshalb eine Tendenz inne, sich in einen Ort 386 <?page no="386"?> verselbständigter Komplexitätssteigerung zu entwickeln, denn die Experten machen sich auf diese Weise selbst unabkömmlich. Was ansonsten nur jenen hilft, die sich entsprechende Expertise zukaufen können und die Offfenheit des Repräsentativsystems für Lobbyismus erlaubt es einflussreichen Interessenvertretern, auf einen Komplexitätszuwachs der Gesetzgebung in ihrem Sinne hinzuwirken. Zugleich verfügen sie über die nötige Ressourcenausstattung um komplizierte Konstellationen optimal auszunutzen. Doch nicht nur der zunehmende Komplexitätsgrad von Republiken bedeutet eine schleichende Abwendung vom demokratischen Prinzip des gleichen Einflusses für alle, sondern elementare republikanische Institutionen tragen bereits einen undemokratischen Kern in sich. Die Idee der Gewaltenteilung, wie sie schon bei John Locke zu fiinden ist, soll Stabilität verleihen. Diese wird allerdings dadurch erkauft, dass manche Veränderung verhindert wird, sollte sie auch von der Mehrheit getragen sein. Jedem Stabilitätsstreben wohnt ein konservatives Moment inne, da es nur durch Bewahren des Etablierten zu erreichen ist. Davon profiitieren nicht alle in gleichem Maße, sondern insbesondere jene, die sich im komplizierten Geflecht einrichten konnten. Was zwangsläufiig zur Unzufriedenheit derjenigen führt, die sich übervorteilt und um ihren Einfluss betrogen fühlen. Unglücklicherweise bedeutet jene Stabilität, welche die Republik verspricht, eben deshalb nicht unbedingt friedliche Verhältnisse. Vielmehr befördert sie gewisse Konflikte dadurch, dass manche Veränderungen sich nicht mehr auf ordnungsgemäßem Wege herbeiführen lassen, was den Wunsch wecken kann, für die Überwindung der Widerstände andere Formen der Auseinandersetzung zu ergreifen bis hin zur Hinwendung zu undemokratischen Führungsfiiguren. Das oberste Ziel der Republik, die Beschränkung der Macht, wird auf diesem Weg vor allem gegenüber dem Volk erreicht. Tatsächlich wirkt der Rahmen dessen, was die Bevölkerungsmehrheit durch sein Wahlverhalten beeinflussen kann, auf viele sehr eingeschränkt. Anders verhält sich das gegenüber bereits geballter Macht, also genau dort, wo es auf Machtbegrenzung eigentlich ankäme. Wie schon in der späten römischen Republik, gelingt es auch in modernen Zeiten mächtigen Personen zuweilen sich über republikanische Beschränkungen hinwegzusetzen, während im Kontrast dazu das Repräsentativsystem, selbst wenn es ordnungsgemäß funktioniert, von Zeit zu Zeit Entschei- 387 <?page no="387"?> dungen triffft, die gemäß den heute allgegenwärtigen Umfragen in klarem Widerspruch zur Haltung der Bevölkerungsmehrheit stehen. Die Republik begrenzt die Macht demokratischer Entscheidung, ohne die Macht undemokratischer Einflüsse wirklich im Zaum zu halten. Bei alledem sind Machthaber, Parteien und Interessenverbände stets daran interessiert, den Wahlen immerfort eine hohe legitimierende Kraft zu bescheinigen, zugleich aber ihre Politik vom unmittelbaren Einfluss der Menschen so weit wie möglich zu entkoppeln. Denn sofern eine Institution als legitim gilt, wird sie John Meyer zufolge schon allein deshalb aufrechterhalten, was nicht ausschließt, dass unter der Oberfläche Entkopplung sich Bahn bricht. Das gilt zweifellos auch für die Republik, in der es keine institutionalisierte Instanz gibt, die von einer Stärkung der Demokratie profiitieren könnte: nicht die Behörden, nicht die Parteien, nicht die Interessenvertreter, nicht die Experten. Allen Etablierten kann nur an einer Steigerung der Komplexität gelegen sein, weil sie ihre Privilegien und ihre Vorteile schützt. Gleichwohl muss es aus demokratischer Sicht darum gehen, den Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Freiheit zu entfalten. Ursprünglich geschafffen, um individuelle und kollektive Selbstbestimmung zu verzahnen, versteht es die Republik nicht mehr, ihr Versprechen überzeugend einzulösen. Jene Institutionen, die ursprünglich die Demokratie gegen Usurpation schützen sollten, unterlaufen selbst demokratische Mitbestimmung. Gewaltenteilung verstärkt die Komplexitätszunahme und prämiert auf diese Weise diejenigen, die über teure Expertise verfügen, während gewöhnliche Bürger im gleichen Maß an Einfluss verlieren. Repräsentation erzeugt Positionen, die den oftmals unvereinbaren Ansprüchen von Parteien, Interessenvertretern und Bürgern ausgesetzt sind. Statt in eine Vermittlungsfunktion mündet diese Konstellation häufiig in die Entkopplung von Wahlgetöse und politischen Entscheidungen. Wahlen erweisen sich als Instrument zur kollektiven Selbstbestimmung untauglich, weil die Wähler nicht darüber entscheiden, wie sie zusammenleben möchten, sondern lediglich zwischen dem Personal verschiedener Parteien optieren können, deren programmatische Bündelung angesichts der politischen Themenvielfalt jede Diffferenzierung unmöglich macht und schlussendlich sogar unverbindlich bleibt. Wir leben als Konsumenten selbstbestimmter denn als Bürger. Im Supermarkt dürfen wir die Inhalte selbst zusammenstellen und nehmen darüber sogar Einfluss auf das zukünftige 388 <?page no="388"?> Angebot. Bei der Wahl bekommt man einige wenige bereits gefüllte Einkaufswagen angeboten, in denen oftmals etwas anderes drin ist als versprochen und sich Unerfreuliches zuweilen ganz unten verbirgt. Demokratie, wie wir sie kennen, wird dem Anspruch auf kollektive Selbstbestimmung nicht gerecht und gerät zusätzlich aus Gründen unter Druck, die nicht ihrem republikanischen Aufbau anzulasten sind. Die moderne Demokratie wird als eine Einheit betrachtet, die an der Staatsgrenze endet, auf deren anderer Seite die nächste Einheit beginnt. Es wird so getan als stünden sich an den Grenzen gänzlich verschiedene Gruppen gegenüber, die im Stile Carl Schmitts jeweils wie gleichförmige Massen behandelt werden können. Wer aber von solcherlei Einheiten ausgehen muss, um sich Politik überhaupt vorstellen zu können, der wird offfensichtliche Heterogenität innerhalb des Volkes nicht wahrhaben wollen, sondern jede Abweichung als Gefährdung der Homogenität betrachten. Genau so ging und geht jede politische Haltung vor, die sich auf eine einzelne Nation wie etwa das ›deutsche‹Volk beruft. Der Homogenitätsglaube stützt sich auf Einheiten, die er, da sie so nicht bestehen, umso dringender einfordern muss. Jeglicher Nationalismus zielt deshalb stets darauf ab, alles Abweichende zu eliminieren, um jene Gleichförmigkeit erst herzustellen, deren Vorhandensein er bereits vorausgesetzt hatte. Das geht nur zu Lasten individueller Freiheit. Man löst das Dilemma zwischen individueller und kollektiver Selbstbestimmung einseitig dahingehend auf, dass man das Kollektiv als ebenso homogen wie vorrangig betrachtet. Eine solche Fiktion der Einheitlichkeit ist keine Erfiindung der Moderne, sondern lässt sich schon in christlichen Vorstellungen des Mittelalters fiinden, wie sie auch Thomas von Aquin vertritt. Diese bezogen sich ebenfalls nicht auf Einheiten, die auf Erden tatsächlich aufffiindbar waren, sondern leiteten sich allein aus der christlichen Idee eines pyramidenförmigen Aufbaus ab, an dessen Spitze Gott steht. Damals wie heute ist Einheitlichkeit nicht etwa gegeben, sondern wird um ihrer selbst Willen gefordert. Diese Tradition schlägt sich nieder, wenn Parteien, die sich selbst als christlich beschreiben, Ansprüche auf nationale Einheit erheben, während viele Christen eine Ungleichbehandlung in Abhängigkeit von der Herkunft aus Glaubensgründen ablehnen. Zudem erweist sich bei demokratischen Abstimmungen regelmäßig, dass es um die nationale Homogenität nicht gut bestellt ist, denn Ergebnisse fallen selten eindeutig aus, vielmehr zeigt sich 389 <?page no="389"?> häufiig, dass große Teile der Bevölkerung gegensätzlicher Ansicht sind. Wer von abgegrenzten Nationen ausgeht, betont häufiig auch deren Souveränität. Innerhalb der Staatsgrenzen, gilt das Volk dann als Souverän im Sinne Jean Bodins. Auch wenn zumindest im Westen die Kirche als Gegenspieler zum Staat tatsächlich keine konkurrierenden Ansprüche mehr stellt, so führt die absolutistische Idee der Souveränität dennoch in die Irre; denn im Inneren besteht das Grundprinzip der Moderne, wie von Max Weber, Talcott Parsons und Niklas Luhmann beschrieben, in funktionaler Diffferenzierung, sodass sich Wirtschaft, Wissenschaft, Recht oder Religion nicht so einfach der Politik unterordnen lassen. Der politische Entscheidungsspielraum stellt sich in der Praxis deutlich kleiner dar, als er in der Theorie souveräner Staaten dargestellt wird. Beinahe mehr noch gilt das nach außen: Die Abhängigkeiten von anderen Staaten und der Einfluss dessen, was dort vor sich geht, lässt die Rede von souveränen Entscheidungen geradezu absurd erscheinen. Der moderne Staat gibt sich gerne als souveräne Einheit, ohne es zu sein. In keiner modernen Demokratie können die Menschen als homogene Einheit angesehen, politische Entscheidungen ohne Rücksicht auf andere gesellschaftliche Bereiche getrofffen und internationale Bindungen ignoriert werden. Die Idee vom souveränen Nationalstaat begleitet die moderne Demokratie von Beginn an und streng genommen war sie immer schon Fiktion. Auch wenn sich die Realität immer weiter davon zu entfernen scheint, hat die Republik das bislang offfenbar ausgehalten. Jüngeren Datums ist eine Entwicklung, die der Demokratie eine wesentliche Grundlage zu rauben droht. Obwohl Freiheit und Selbstbestimmung im Menschen vernunftbedingt von Natur aus angelegt sind, kam die tatsächliche Mitbestimmung der Bürger, wenn man von der athenischen Demokratie absieht, historisch relativ spät zum Zug. Sie tritt genau dann in Erscheinung, als der militärische Bereich eine Demokratisierung erfährt. Wie schon im antiken Athen beginnt in Amerika und Europa die Macht ans Volk überzugehen, als dieses für die Landesverteidigung nicht mehr nur unverzichtbar ist, sondern auch jeder Bürger gleichermaßen zur Wehrhaftigkeit des Gemeinwesens beiträgt. Mit massenhaft verfügbaren Handfeuerwafffen hatte die Größe des Heeres entscheidende militärische Bedeutung gewonnen. Doch spätestens mit Einführung von Massenvernichtungswafffen verliert das Massenheer wieder an 390 <?page no="390"?> Relevanz. Das allein konnte der Notwendigkeit demokratischer Legitimation von Herrschaft allerdings noch nichts anhaben, denn weiterhin blieben die Bürger Grundlage jener enormen Produktivität, die für moderne Wafffensysteme nötig ist. Doch mit der Automatisierung könnte nun erstmals der Mensch für die industrielle Produktion an Bedeutung verlieren. In einem zukünftigen Zeitalter fortgeschrittener Robotik dürften industrielle Produktion und Militärwesen nicht mehr auf den Menschen angewiesen sein. In der Antike, im Mittelalter und auch in der Moderne lag die Herrschaft zumeist bei denen, die über die schlagkräftigsten Wafffen verfügten. Wie wird sich die Situation darstellen, wenn Automatisierung dafür sorgt, dass es keiner Menschen mehr bedarf, um kriegsentscheidende Wafffensysteme herzustellen? Es eröfffnen sich allerdings zugleich neue Chancen für eine weitergehende Demokratisierung. Der Bildungsstand ist so hoch wie nie, was die Menschen besser befähigt, sich in kollektive Selbstbestimmung einzubringen. Außerdem stehen viel mehr Informationen zur Verfügung. Immer mehr Menschen sehen sich dadurch im Stande, Sachlagen selbstständig zu beurteilen. Das führt zu einer Emanzipation vom Führungsanspruch der Eliten, wodurch gleichzeitig infrage gestellt wird, ob diese sich tatsächlich auf höhere Befähigung berufen können. Mag Repräsentanten ursprünglich mit Ehrfurcht begegnet worden sein, so meinen immer mehr Menschen zu erkennen, wie sehr ein jeder, an welcher Position er auch stehe, den Verlockungen persönlicher Motiven ausgesetzt ist. Anstatt einer Demokratie, in der die Interessen jedes Einzelnen gleich viel wert sein sollten, präsentiert sich vielen die moderne Republik als ein System, in dem von all der angesammelten Komplexität nur unzureichend verborgen Positionen und Gefälligkeiten fern jeden Gemeinwohls verteilt werden. Durch höhere Bildung und bessere Information gewinnen nicht nur immer mehr Menschen einen ernüchternden Eindruck vom republikanischen Politikbetrieb, sondern zugleich verbessert sich auch ihre politische Urteilsfähgikeit. Verfügten amerikanische Farmer im 18. Jahrhundert tatsächlich kaum über Informationen zu anstehenden Entscheidungen, so hat sich die Situation grundlegend geändert. Jeder kann sich heute Einblick verschafffen. Mit dem Internet wuchs neben der Informationsfülle auch der kommunikative Austausch und veränderte die republikanische Öf- 391 <?page no="391"?> fentlichkeit. Lange Zeit war es nur einigen Medien vorbehalten Informationen und Einschätzungen zu verbreiten, was innerhalb eines Staates zu dem geführt hat, was Luhmann die gemeinsame Hintergrundrealität nannte. Da die klassischen Massenmedien sich in ihrer Verbreitung für gewöhnlich an den staatlichen Grenzen orientierten und zudem ihre Zahl begrenzt war, blieb die Berichterstattung in ihrer Vielfalt überschaubar. Der öfffentliche Diskurs konnte dadurch als bekannt vorausgesetzt werden, zugleich galt er als allgemeines Stimmungsbild - nicht zuletzt in Ermangelung eines breiteren Bildes, was wiederum daran lag, dass sich gewöhnliche Bürger nicht ohne Weiteres einbringen konnten. Die Teilnahme am Diskurs bildete folglich ein äußerst eng gefasstes Privileg. Grundsätzlich durfte sich zwar jeder öfffentlich äußern, die Chancen darauf, wahrgenommen zu werden, waren allerdings höchst ungleich. Praktisch handelte es sich somit um eine Öfffentlichkeit der Publizisten, hergestellt von Medienprofiis. Es fand ein öfffentlicher Diskurs der Wenigen statt, dem die Vielen lediglich als Publikum beiwohnen durften. Im Resultat muss die Öfffentlichkeit des 18., 19. und 20. Jahrhunderts als höchst elitäre Angelegenheit bezeichnet werden. Von einem herrschaftsfreien Diskurs im Sinne von Jürgen Habermas konnte keine Rede sein, wie dieser selbst feststellte. Nun besteht das Grundprinzip der Demokratie allerdings in der Einbindung aller in öfffentliche Vorgänge; es trägt grundsätzlich einen anti-elitären Charakter. Indem sie erstmals eine demokratische Öffentlichkeit ohne privilegierten Zugang verspricht, erscheint Digitalisierung deshalb verheißungsvoll. Mit der Verbreitung des Internet beginnt die einheitliche Öfffentlichkeit großer Medien zu bröckeln. Plötzlich kann sich jeder öfffentlich bemerkbar machen und sich an ein Publikum wenden - ohne dass von Profiis moderierte Medien dazwischengeschaltet sind. Öfffentlichkeit beginnt, demokratisch zu werden, was in der repräsentativ geprägten Politik offfenbar Unsicherheit auslöst. Unmoderierter Realitätskontakt musste bislang innerhalb der streng kanalisierten, republikanischen Verfahren nicht verarbeitet werden. Repräsentation und massenmediale Publizität sind über ihre elitären Prinzipien offfenbar zu eng verschränkt, um mit der ganzen Vielfalt und Breite einer demokratischen Öfffentlichkeit zurechtzukommen. So sehr die Fragmentierung des Diskurses das republikanische Politikverständnis vor Probleme stellen mag, ebenso 392 <?page no="392"?> sehr bedeutet es in demokratischer Hinsicht einen Fortschritt. Die Bürger sind in der Lage, auf der Grundlage des demokratischen Anspruchs auf gleichberechtigten, politischen Einfluss ihre Stimme zu erheben. Es ist nicht ihre Schuld, dass politische Institutionen, deren Konstruktionsprinzipien aus dem 18. Jahrhundert stammen, damit nicht umzugehen verstehen. Aus politischer Sicht erstaunt nicht, was es im Internet gibt, sondern was es dort nicht gibt. Erstmals in der Menschheitsgeschichte wäre es möglich, die Haltung aller Mitglieder eines Gemeinwesens einzufangen, auch wenn dieses so groß ist, dass es sich nicht versammeln kann. Doch es ist noch nicht einmal der Versuch erkennbar, dem einen politischen Wert beizumessen und ihm einen angemessenen Rahmen zu geben. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass Repräsentanten den neuen Artikulationsmöglichkeiten ihrer Mitbürger wenig begeistert gegenüberstehen. Entsprechend verhalten sind die Bemühungen, die Technologie für eine Belebung der Demokratie zu nutzen, stattdessen überlässt man es kommerziellen Plattformen, politische Stimmungen unstrukturiert einzufangen und ohne jede demokratische Balance ihr Unwesen treiben zu lassen, solange es nur die Kunden bei der Stange hält. Wirtschaftsunternehmen und Spiele- Plattformen sind längst in der Lage, im Internet personifiizierte Zugänge zu erstellen, auf politischer Seite dagegen herrscht Wildwuchs. Gerade so, als würde man es lieber gar nicht so genau wissen wollen, unternimmt man nichts, um die Haltung der Bürger zu erfassen. Stattdessen wird das Bild von Diskussionsforen geprägt, in denen manche mit einer Sintflut an immer gleichen Beiträgen alles ersticken. Wenn einmal eine Debatte interessant und politisch relevant zu werden verspricht, ohne der unaufhörlichen Polemik zu erliegen, versinkt sie am Ende doch oft im endlosen Strom der Kommunikationsschnipsel. Gleichgültig wie bedenkenswert ein Beitrag auch sein sollte, fast alles geht gleichermaßen in der Menge unter. Eine Demokratie aber lebt davon, dass sich mehrheitsfähige Positionen durchsetzen, ohne dass jeder Einzelne sich gleichermaßen zu allem irgendwie äußern muss. Es genügt völlig, sich einer überzeugenden Äußerung anzuschließen. In einer Demokratie hat eine Stimme, die sich ohne viel Aufhebens der Position eines anderen anschließt, das gleiche Gewicht wie diejenige, die sich lautstark und ausdauernd bemerkbar macht. Es entscheiden nicht Penetranz und Durchsetzungsfähigkeit, sondern 393 <?page no="393"?> Überzeugungskraft und Integrationsfähigkeit. Das Internet böte die Möglichkeiten für eine Plattform, auf der einerseits eine tatsächlich für alle offfene Diskussion stattfiinden kann, andererseits sich die Haltung der Bevölkerung einfangen lässt, ohne dass jeder noch einmal das Gleiche schreiben muss, denn es würde genügen, die Zustimmung auszuzählen. Bei alledem droht der Demokratie allerdings auch Gefahr. Eine erfolgreiche Republik baut intern auf Diffferenzierung auf, sie teilt Gewalten und Aufgaben. Ebenso scheint sie auch im gesellschaftlichen Umfeld funktionaler Diffferenzierung zu bedürfen. Eine Republik funktioniert, so lange Wissenschaft, Wirtschaft, Recht oder Religion jeweils relativ unabhängig voneinander ihrer Eigendynamik nachgehen. Sobald aber eine wirtschaftliche oder rechtliche Krise zu Tage tritt oder ein Bereich dominant wird und sei es die Politik selbst, gerät sogleich auch die Republik in eine Krise. Nachdem sie schon ihre Bedeutung verloren zu haben schienen, bereiten mancherorts sogar wieder religiöse Ansprüche politische Schwierigkeiten. Während diese Bedrohung als rückwärtsgewandt gilt, beginnt der wissenschaftlichtechnologische Bereich damit, Gesellschaft in einem Maße umzugestalten, das alle politischen Entscheidungsprozesse unterläuft. Neue Technologien entfalten subpolitische Kräfte in einer Geschwindigkeit, mit der republikanische Politik kaum Schritt zu halten vermag. All die Punkte, die heute als Gefahr der Demokratie angesehen werden, entpuppen sich eher als Gefahr für die Republik. Die Demokratie hingegen könnte sogar davon profiitieren, weil Digitalisierung den Menschen eine Stimme verschaffft, die über ihr direktes Umfeld hinaus hörbar ist, und weil sich damit politische Mitbestimmung für alle öfffnen lässt. Republikanische Nationalstaaten stehen der Selbstbestimmung dagegen im Weg. Indem sie die Regeln des Zusammenlebens nicht den Menschen, sondern Repräsentanten in die Hand geben, verwirklichen sie nicht jene Demokratie, die sie versprechen. Politische Philosophie weist darauf hin, dass Gewaltenteilung, Repräsentation, Parteiwesen, Nationalstaatlichkeit oder Republikanismus nicht unausweichlich sind. Sie nimmt noch nicht mal Eigentum, Volksgemeinschaften oder Rechtsprechung durch Richter als unumstößlich gegeben hin. Vielmehr lässt sich mit ihr all das in bester sokratischer Tradition infrage stellen. Zwei Eckpfeiler der politischen Philosophie widerstehen allerdings 394 <?page no="394"?> so lange man von der Vernunft des Menschen ausgeht: Freiheit und Ranggleichheit. Daraus leitet sich das Anrecht auf individuelle und kollektive Selbstbestimmung ab. Wenn die Menschen ihr Zusammenleben und ihr politisches System selbst frei und gleichberechtigt gestalten sollen, führt an der Demokratie kein Weg vorbei. Das heißt aber nicht, dass das Zusammenleben in Nationalstaaten gefasst sein muss. Warum sollte ein Mensch, der nach Demokratie strebt, ihrer nicht teilhaftig werden dürfen, nur weil er im falschen Staat geboren ist? Die Republik muss auch nicht notwendig die beste Form der Demokratie sein. Warum sollte ein Mensch, der nach anderen Formen strebt, diese nicht erproben dürfen? Repräsentation muss nicht notwendig über Parteilisten erfolgen. Warum sollte ein Mensch seinen Repräsentanten nicht frei wählen und unabhängig von Wahlperioden sein Vertrauen einem anderen aussprechen dürfen? 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Gerlinde Mautner Wissenschaftliches Englisch Stilsicher schreiben in Studium und Wissenschaft 2, aktual. und erw. Auflage 2016, 264 Seiten, Broschur ISBN 978-3-8252-4621-1 In Studium und Wissenschaft ist Englisch keine Fremdsprache. Um die Sprache wirkungsvoll und stilistisch angemessen einzusetzen, braucht es aber besondere sprachliche Kenntnisse. Die kompakte Darstellung bietet die nötigen Grundlagen, um Bachelor- und Masterarbeiten, Dissertationen oder sonstige wissenschaftliche Arbeiten in englischer Sprache zu verfassen. Das Buch richtet sich an Studierende mit deutscher Muttersprache und berücksichtigt typische Fehler von native speakers des Deutschen. Gerlinde Mautner ist Professorin am Institute for English Business Communication der Wirtschaftsuniversität Wien. Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter www.uvk.de Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. <?page no="403"?> Weiterlesen bei utb. Christiane Beinke, Melanie Brinkschulte, Lothar Bunn, Stefan Thürmer Die Seminararbeit Schreiben für den Leser 3., völlig überarbeitete Auflage 2016, 242 Seiten, Broschur ISBN 978-3-8252-8631-6 Anschaulich und praxisorientiert bietet das Buch einen Einstieg in das Verfassen einer Seminararbeit. Es richtet sich dabei an Studierende, die noch wenig Erfahrung im akademischen Schreiben haben. Auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse der Schreibforschung und der langjährigen Erprobung in der Unterrichtspraxis zerlegen die Autoren das Schreiben in Einzeltätigkeiten, wie z.B. Ideen sammeln und sortieren, eine Fragestellung entwickeln und eingrenzen, Einleiten, Argumentieren, Überarbeiten auf verschiedenen Ebenen. Die überarbeitete und aktualisierte Neuauflage berücksichtigt individuelle Schreibstrategien und enthält ein neues Kapitel, das auf das mehrsprachige Schreiben eingeht. Dr. Christiane Beinke ist Koordinatorin für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Göttingen. Dr. Melanie Brinkschulte vertritt eine Professur in der Fachdidaktik Deutsch und leitet das Internationale Schreibzentrum der Universität Göttingen. Lothar Bunn ist Koordinator für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Münster. Dr. Stefan Thürmer ist Sprachlehrer am Lehrgebiet für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Münster. Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter www.uvk.de Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung.