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Planungsethik

Eine Einführung für Raumplaner, Landschaftsplaner, Stadtplaner und Architekten

0911
2017
978-3-8385-4875-3
978-3-8252-4875-8
UTB 
Albrecht Müller

Raumplaner, Landschaftsplaner, Stadtplaner und Architekten gestalten die Umgebung, in der wir leben. Sie übernehmen Verantwortung für ihre Planung und müssen sich mit den ethischen Grundlagen ihrer Planung auseinandersetzen. Ausgehend von Beispielen rückt dieses Buch die ethischen Aspekte der Planung in den Blick: Was tun, wenn die Bürger unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was für ein gutes Leben notwendig ist? Wie können die Vor- und Nachteile von Planungen gerecht verteilt werden? Soll der Markt die Verteilung regeln? Welche Bedeutung kommt der Natur zu? Wie lässt sich der Begriff Nachhaltigkeit im Hinblick auf die Planung verstehen?

<?page no="0"?> Albrecht Müller Planungsethik Eine Einführung für Raumplaner, Landschaftsplaner, Stadtplaner und Architekten Philosophie | Architektur Planungsethik Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 0000 UTB (M) Impressum_17.indd 1 08.11.16 14: 37 U T B 4 8 7 5 <?page no="2"?> Prof. Dr. Albrecht Müller wurde 2001 auf die Stiftungsprofessur „Umweltinformation und Umweltethik“ der Deutschen Bundesstiftung Umwelt an die Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen berufen. Er lehrt Umweltethik, Planungsethik, Wirtschaftsethik sowie Partizipation und Mediation. Er leitete die Koordinationsstelle Wirtschaft und Umwelt und ist Ethikbeauftragter der Hochschule. <?page no="3"?> Albrecht Müller Planungsethik Eine Einführung für Raumplaner, Landschaftsplaner, Stadtplaner und Architekten A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany utb-Nr. 4875 ISBN 978-3-8385-4875-3 Umschlagabbildung: kelifamily-stock.adobe.com <?page no="5"?> 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Moral und Ethik in der räumlichen Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1 Moral und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.2 Moral und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.3 Planung und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.4 Vollständige Argumente: Sein-Sollen-Fehlschlüsse vermeiden . . 18 2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3 Räumliche Planung und gutes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3.1 Wo sich Fragen des guten Lebens in der räumlichen Planung stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3.2 John Rawls: Zurückhaltung in Fragen des guten Lebens . . . . . . . 24 3.3 Amartya Sen und Martha Nussbaum: Aussagen zum guten Leben sind notwendig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3.4 Martha Nussbaum: Eine starke und vage Konzeption des guten Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4 Gemeingüter: zwischen Staat und Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4.1 Die Umstände des Lebens selbst gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4.2 Gestaltungsprinzipien für Gemeingüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 5 Bürgerbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 5.1 Befragen statt bevormunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 5.2 Die Planungszelle als Beispiel eines Bürgerbeteiligungsverfahrens 38 5.3 Missbrauch von Bürgerbeteiligungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 39 5.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 6. Gutes Leben und Genügsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 .1 Ein Beispiel: Flächenverbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 .2 Glückseligkeit als letztes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 <?page no="6"?> 6 Inhalt .2.1 Mäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 .2.2 Freigebigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 .3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 7.1 Anthropozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 7.1.1 Grundbedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 7.1.2 Ästhetischer Wert von Natur und Landschaft . . . . . . . . . . 50 7.1.3 Natur und Landschaft als Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 7.1.4 Eigenwert von Natur und Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 7.1.5 John Rawls: eine Vertragstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Rechte der Natur im Rahmen einer Vertragstheorie . . . . . 54 7. 2 Physiozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 7. 2.1 Pathozentrismus (Peter Singer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 7.2.2 Biozentrismus (Albert Schweitzer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 7.2.3 Holismus (Martin Gorke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 7.3 Konvergenz zwischen Anthropozentrismus und Physiozentrismus auf der Handlungsebene? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 7.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 8 Räumliche Planung und Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 8.1 Die Nutzwertanalyse und was dahinter steckt . . . . . . . . . . . . . . . 67 8.1.1 Die Nutzwertanalyse am Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 8.1.2 Diskussion der Nutzwertanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 8.2 Der Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 8.2.1 Prinzipien des Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 8.2.2 Vor- und Nachteile des Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 8.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 9 Räumliche Planung und Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 9.1 Ein Beispiel: Stadtentwicklung mit Baugruppen oder mit Investoren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 9.2 Hintergründe der Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 9.2.1 Harmonie von Egoismus und Allgemeinwohl . . . . . . . . . . 80 9.2.2 Diskussion der Harmoniethese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 9.2.3 Das Pareto-Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 9.2.4 Kritik am Pareto-Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 9.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 <?page no="7"?> 7 Inhalt 10 Räumliche Planung und Gerechtigkeit: das Differenzprinzip . . . . . . . . . 91 10.1 Ein Beispiel: Verteilung von Nutzen und Lasten bei der Einrichtung eines Nationalparks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 10.2 Das Differenzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 10.2.1 Was bedeutet Gleichverteilung in Fragen des Artenschutzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 10.2.2 Wie verteilt das Differenzprinzip die Lasten des Artenschutzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 10.2.3 Ungerecht, durchweg gerecht und vollkommen gerecht . . 96 10.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 11 Räumliche Planung zwischen Strategie und Deliberation . . . . . . . . . . . 99 11.1 Falsche Expertisen: Sagen was man denkt oder Wirkung erzielen? 99 11.2 Ein Plädoyer für Deliberation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 11.3 Zwischen dem Ideal des rationalen Diskurses und den Nötigungen des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 11.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 12 Grenzen des Strebens nach Glück: Der kategorische Imperativ . . . . . . . 107 12.1 Hypothetische und kategorische Imperative . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 12.2 Kein Konflikt zwischen Pflichterfüllung und Glück? . . . . . . . . . . 109 12.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 13 Räumliche Planung und Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 13.1 Kritik am Drei-Säulen-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 13.2 Ein anderes Verständnis von Nachhaltigkeit: Mittel und Selbstzwecke anstelle der drei Säulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 13.2.1 Soziales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 13.2.2 Ökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 13.2.3 Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 13.2.4 Erfüllung der Grundbedürfnisse und gutes Leben im Rahmen der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 13.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 <?page no="8"?> 8 Inhalt 14 Fazit: Zehn Orientierungspunkte für eine nachhaltige räumliche Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Abbildungsverzeichnis: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 <?page no="9"?> 9 Vorwort Die Planungsethik ist noch nicht so etabliert wie beispielsweise die Medizinethik. Sie beruft sich wie auch alle anderen Bereichsethiken auf die Grundlagen der Allgemeinen Ethik. Typischerweise folgt die räumliche Planung dem Dreischritt: Analyse-- Bewertung-- Planung. Dem zweiten Schritt, der Bewertung, wird oft wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Häufig werden Bewertungen lediglich implizit vollzogen. Selbst wenn sie explizit genannt werden, bleiben sie allzu oft ohne Begründung. Die geringe Aufmerksamkeit für die Bewertung und deren Begründung hat Ursachen. Die Studentinnen und Studenten der planenden Disziplinen erhalten in ethischen Fragen oft zu wenig Anleitung. Diese Lücke will das vorliegende Buch schließen. Ausgehend von Beispielen reflektiert es die den Planungen zugrunde liegenden Normen und Werte und trägt dazu bei, eine Planungsethik in der Lehre zu etablieren. Die Studenten bekommen eine Hilfestellung, diese Normen und Werte zu erkennen, zu reflektieren und zu begründen. Die künftigen Planer werden nicht auf eine bestimmte Moral verpflichtet. Das Buch will nicht Moral predigen, sondern Ethik lehren. Wenn der Leser fürchtet, dass die Ethik ihm in planerischen Fragen die richtigen Antworten vorschreiben will, kann er beruhigt werden. Das Buch kann und will nicht planerische Fachfragen lösen und es will keine Antworten oktroyieren. Ein Anspruch auf endgültige Antworten liegt mir fern. Durchgängig und insbesondere dort, wo Positionen des Autors deutlich werden, ist der Leser zur kritischen Auseinandersetzung aufgefordert. Damit kann eine Planungsethik selbstverständlich auch keine Antworten liefern, die man nur noch auf konkrete Fälle anwenden müsste. Gleichwohl verspricht die Auseinandersetzung mit den ethischen Grundlagen der Planung Orientierungspunkte, mehr Umsicht und auf Dauer auch eine größere Sicherheit in den oft vernachlässigen Bewertungsfragen der räumlichen Planung. Für Diskussionen, Kommentare und Korrekturen beim Verfassen dieses Buchs danke ich Maja Messner, Norbert Menz, Uta Eser, Julia Dietrich und Simon Meisch. Dem Narr Francke Attempto Verlag und Frau Isabel Johe danke ich für die Bereitschaft, sich diesem Thema zu widmen und für die freundliche und kompetente Unterstützung bei der Fertigstellung des Buchs. Tübingen im Juni 2017 Albrecht Müller <?page no="11"?> 11 Vorwort 1 Einleitung Die Planer gestalten die Welt, in der wir leben. Und häufig streiten wir darüber, wie diese Welt aussehen soll. Zum einen ist es ein Streit um Fakten. Darum geht es in diesem Buch lediglich am Rande. Zum anderen ist es ein Streit um ethische Fragen. Das ist das Thema dieses Buchs. Wie kann die Planung unser gutes Leben befördern? Wollen wir mehr Gewerbegebiete einrichten oder wollen wir die Streuobstwiesen erhalten? Genügt es Bauplätze effizient zu nutzen oder darf man auch Genügsamkeit etwa im Hinblick auf die beanspruchte Wohnfläche erwarten? Wie sollen Vor- und Nachteile verteilt werden? Muss die einheimische Bevölkerung einen Nationalpark dulden? Wer soll einen S-Bahnanschluss bekommen? Wie die Beispiele andeuten, umfasst die räumliche Planung die Landesplanung, die Regionalplanung, die Flächennutzungsplanung und die Bauleitplanung. Damit richtet sich dieses Buch insbesondere an Landschaftsplaner und Städteplaner und, insofern sie mit räumlicher Planung befasst sind, auch an Architekten. Innerhalb der Ethik können wir zwei große Themen unterscheiden: Fragen des guten Lebens und Fragen der Gerechtigkeit. „Wie werde ich glücklich? “ ist die Frage nach dem guten Leben. Die Planung sollte unsere Umwelt so gestalten, dass sie unser Glück befördert oder ihm wenigstens nicht im Weg steht. Das ist keine einfache Aufgabe, denn Menschen haben unterschiedliche Auffassungen davon, worin ihr Glück besteht. Nachdem einige grundsätzliche Fragen zur Ethik und zur Planung geklärt sind, geht der erste Teil des Buchs (Kapitel 3-) der Frage nach, wie die Planung das Glücksstreben der Menschen unterstützen kann. Gerechtigkeit, das zweite große Thema der Ethik, ist der Leitfaden für den zweiten Teil (Kapitel 7-12). Diese Kapitel gehen der Frage nach „Wer hat worauf Anspruch? “. Es genügt ja nicht, möglichst günstige Umstände für ein gutes Leben zu schaffen, vielmehr müssen diese auch gerecht verteilt werden. Die beiden letzten Kapitel verbinden die Überlegungen zum guten Leben und zur Gerechtigkeit im Hinblick auf die Planung. Mit Planungsethik ist nicht gemeint, dass es moralische Regeln und Werte gäbe, die nur für die räumliche Planung gelten. Planungsethik will vielmehr die Gedanken der philosophischen Ethik für die räumliche Planung fruchtbar machen. Es mag nicht auf den ersten Blick ersichtlich sein, dennoch können wir von maßgeblichen Philosophen wie Aristoteles, Bentham, Kant, Rawls, Habermas oder Nussbaum in den Fragen der räumlichen Planung profitieren. <?page no="12"?> 12 1 Einleitung Kapitel 2 zeigt zunächst auf, wo ethische Überlegungen in die räumliche Planung einfließen. Der gängige Dreischritt Analyse-- Bewertung-- Planung verdeutlicht, dass die Bewertung und damit die Ethik integraler Teil der Planung ist. Insbesondere zwei Fragen werden untersucht: 1. Ist eine ethische Diskussion notwendig, wenn doch das Recht den Handlungsrahmen vorgibt? 2. Tragen Planer Verantwortung, wenn doch die Entscheidungen bei der Politik liegen? Kapitel 3 eröffnet die Diskussion mit der Frage nach dem guten Leben. Ob man für oder gegen den Ausbau des Straßennetzes plädiert, in jedem Fall verfolgt man eine bestimmte Vorstellung vom guten Leben und muss sich mit konkurrierenden Auffassungen auseinandersetzen. Wenn wir bestimmen können, worin ein gutes Leben besteht und was hierfür notwendig ist, können wir Schlussfolgerungen für die Planung ableiten. Allerdings ist eine einheitliche Antwort nicht so einfach zu finden. Wenn Planer die Voraussetzungen für ein gutes Leben schaffen und gerecht verteilen wollen, benötigen sie jedoch zumindest eine vage Vorstellung davon, worin ein gutes Leben besteht. Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum hat zu dieser Diskussion einen Beitrag geleistet, der uns etwas weiter hilft. Da ihre Aussagen für alle Menschen zutreffen sollen, müssen sie notwendig vage bleiben und bedürfen weiterer Konkretion. Wie kann eine Planung vorgehen, die einerseits auf nur vage Aussagen zum guten Leben zurückgreifen kann, andererseits aber sehr konkrete Handlungsoptionen ausarbeiten muss? Das ist die Ausgangsfrage des Kapitels 4 über Gemeingüter, die z. T. auch als Commons bezeichnet werden. Wenn Gruppen von Bürgern ihre Lebensumstände entsprechend ihren eigenen Vorstellungen selbst organisieren, besteht nicht die Gefahr, dass die Planung die tatsächlichen Bedürfnisse der Bürger übersieht und sie mit Strukturen „beglückt“, die sie nicht wollen. Die Aufgabe der Planer ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Gruppen von Bürgern ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen können. Was ist nötig, damit Selbstorganisation gelingt? Bei der Nobelpreisträgerin Elenor Ostrom finden wir Antworten. Das Kapitel 5 zeigt einen anderen Weg auf, die Vorstellungen derer, für die geplant wird, in die Planung aufzunehmen: Bürgerbeteiligung. Zugleich beleuchtet das Kapitel die Schattenseite dieses Ansatzes: den Missbrauch von Bürgerbeteiligung als ein Instrument zur Akzeptanzbeschaffung. Weil die Flächen begrenzt sind und weil verschiedene Wünsche im Konflikt miteinander stehen können, muss sich die Planung mit Genügsamkeit <?page no="13"?> 13 1 Einleitung befassen. Verschiedene Wünsche lassen sich häufig nicht auf der gleichen Fläche erfüllen. Eine Hochwasserretentionsfläche kann nicht mit einem Einkaufszentrum überbaut werden. Soll nicht nur die Befriedigung von Wünschen, sondern auch Bescheidenheit eine Rolle spielen? Kapitel 6 beleuchtet, was Aristoteles’ Tugendethik zu dieser Frage beiträgt. Nun verlassen wir die Fragen des guten Lebens und wenden uns der Gerechtigkeit zu: „Wer hat worauf Anspruch? “. Als erstes stellt sich die Frage: Wer hat berechtigte Ansprüche? Lediglich Menschen (Anthropozentrismus) oder auch die Natur (Physiozentrismus)? Auch die Natur könnte eigenständige Rechte besitzen, unabhängig davon, dass wir Menschen von der Natur abhängen. Verschiedene Varianten des Physiozentrismus argumentieren für eigene Rechte aller empfindungsfähigen Wesen, aller Lebewesen oder der gesamten Natur. Das Kapitel 7 plädiert für den Anthropozentrismus unter anderem auch deswegen, weil der Physiozentrismus umfangreiche Konflikte zwischen den zur Diskussion stehenden Rechten der Natur und den Rechten von Menschen aufwirft und fast keine Lösungsmöglichkeiten aufzeigt. Somit kehren wir zu einer Planung auf anthropozentrischer Grundlage zurück und verstehen Konflikte nicht als Konflikte zwischen Mensch und Natur, sondern als Konflikte zwischen Menschen, die konkurrierende Ansprüche auf die Nutzung der Natur erheben. Die Kapitel 8, 9 und 10 diskutieren drei verschiedene Ansätze zur Lösung von Verteilungskonflikten. Der Utilitarismus (Kapitel 8) plädiert für die Handlungsoption, die die Summe des Glücks der Betroffenen maximiert. Überlassen wir die Verteilung dem Markt, stellt sich eine Verteilung durch Angebot und Nachfrage ein (Kapitel 9). Gegen beide Ansätze gibt es Einwände. Einen meines Erachtens überzeugenden Verteilungsgrundsatz hat der amerikanische Philosoph John Rawls in Form des Differenzprinzips ausgearbeitet. Kapitel 10 stellt Rawls’ Differenzprinzip vor und bezieht es auf einen Konflikt um die Einrichtung eines Nationalparks. In der Planung versuchen wir Konflikte im Gespräch zu lösen. Wie soll man solche Gespräche angehen? Sagt man offen, was man denkt, kann man der Strategie der anderen Seite zum Opfer fallen. Agiert man selbst strategisch, nötigt man die andere Seite zu strategischem Vorgehen und verbaut damit den Weg zu einer offenen Diskussion, die jenseits von Drohungen und Tricks nach einer vernünftigen Lösung sucht. Kapitel 11 plädiert-- mit Einschränkungen-- für den nicht-strategischen, deliberativen Weg. Einerseits soll die Planung die Rahmenbedingungen für ein glückliches Leben gestalten. Andererseits soll sie die Chancen auf ein glückliches Leben <?page no="14"?> 14 1 Einleitung gerecht verteilen. Das Kapitel 12 untersucht-- unter Berufung auf Kant-- die Frage: Was hat im Konfliktfall Vorrang, Glück oder Gerechtigkeit? Das Kapitel 13 führt die vorangegangenen Überlegungen zusammen und formuliert das Nachhaltigkeitskonzept der Brundtland-Kommission mit den Begriffen der philosophischen Ethik. Ökologie und Ökonomie werden verstanden als Mittel für das gute Leben der Menschen. Soziales wird interpretiert als intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit, die dem individuellen Streben nach Glück den Rahmen setzt. Das Kapitel 14 schließt das Buch mit zehn Orientierungspunkten für eine nachhaltige räumliche Planung ab. <?page no="15"?> 15 2.1 Moral und Ethik 2 Moral und Ethik in der räumlichen Planung Was Moral mit Planung zu tun hat, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Bei Planung denken wir zunächst an Skizzen, Pläne, Kostenschätzungen oder Umweltverträglichkeitsprüfungen. An Moral denken wir in diesem Zusammenhang nicht ohne Weiteres. Und dennoch werfen Planungen moralische Fragen auf. Diese sind nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, vielmehr müssen wir sie oft erst ans Licht holen. Bevor wir nach der Moral in der Planung suchen können, sollten wir uns klar machen, was wir da eigentlich suchen. 2.1 Moral und Ethik Was ist Moral? -- Moral bezeichnet die von einer menschlichen Gemeinschaft anerkannten Normen und Werte. Normen sind Regeln für das Zusammenleben von Menschen. „Du sollst nicht lügen“ ist eine Norm. „Planungsgrundlagen sollen vollständig sein“ ist ebenfalls eine Norm. Soll, soll nicht, darf, darf nicht, erlaubt, geboten, verboten sind Erkennungsmerkmale für Normen. Sprechen wir über Planungen, so verwenden wir häufig die Begriffe der Moral: „Die Windkraftanlage soll das Landschaftsbild möglichst wenig beeinträchtigen.“ „Eine zusätzliche Lärmbelastung darf den Anwohnern nicht zugemutet werden.“ Manchmal verstecken die Autoren ihre moralischen Auffassungen auch und lassen sie als Tatsachen erscheinen: „Eine zusätzliche Lärmbelastung ist den Anwohnern nicht zuzumuten“. In diesem Fall muss man ein wenig genauer hinschauen, um festzustellen, dass dies eine Vorschrift ist. Nicht nur Normen, sondern auch Werte sind Bestandteil der Moral. Werte sind materielle oder immaterielle Orientierungsstandards. Jemand sagt: „Planungssicherheit ist ein hohes Gut“. Damit bringt er einen immateriellen Wert zum Ausdruck. Wenn wir von „guter Wasserqualität“ sprechen, dann ist die gute Qualität des Wassers ein materieller Orientierungsstandard. Über die Gültigkeit vieler moralischer Aussagen sind wir uns einig- - auch wenn wir uns nicht immer daran halten. Beispielweise ist es falsch, einen Auftraggeber über die zu erwartenden Kosten zu täuschen. Und es ist richtig, die Planungsgrundlagen sorgfältig zu ermitteln. Es gibt aber auch strittige Fälle: Soll die Qualität des Grundwassers unter allen Umständen erhalten werden? Oder darf sie auch zugunsten von Industrieansiedlungen sinken? Vielleicht darf man den Anwohnern doch mehr Lärm zumuten, etwa zugunsten einer neuen Straße. <?page no="16"?> 16 2 Moral und Ethik in der räumlichen Planung Wenn wir nun beginnen, darüber nachzudenken und zu argumentieren, welche moralischen Vorstellungen gut begründet sind und welche nicht, begeben wir uns in den Bereich der Ethik. Ein anderer Begriff für Ethik ist Moralphilosophie. Die Ethik philosophiert über Moral, um herauszufinden, welche moralischen Auffassungen richtig und welche falsch sind. Moral bezeichnet die von einer menschlichen Gesellschaft anerkannten Normen und Werte. Ethik ist die philosophische Untersuchung der Moral. Sie strebt eine Begründung von Moral an. 2.2 Moral und Recht In den Gesetzen steht, was erlaubt ist und was nicht. Das ist richtig, beantwortet aber nicht alle Fragen. Die Gesetze legen lediglich im juristischen Sinn fest, was erlaubt, geboten oder verboten ist. Die juristische Festlegung muss nicht identisch sein mit dem, was moralisch zulässig ist. Es mag juristisch erlaubt sein, eine Fläche zu versiegeln, eine Bahnlinie zu schließen, eine Stromtrasse zu bauen oder Besucher aus der Kernzone eines Nationalparks auszuschließen. Aber ist es auch moralisch richtig? Es kann einen Unterschied geben zwischen richtig oder falsch im moralischen Sinn und richtig oder falsch im juristischen Sinn. „Legalität“ bezeichnet die Ebene des Rechts. „Moralität“ bezeichnet die Ebene der Moral. Eine Hausbesetzerparole aus den 1980er Jahren spielt auf den Unterschied zwischen Recht und Moral an: „Legal, illegal, scheißegal! “. Es mag gesetzlich erlaubt sein, Häuser leer stehen zu lassen. Die Parole signalisiert, dass es darauf nicht ankomme. Die entscheidende Frage sei, ob es moralisch richtig ist. Die komplexe Diskussion um das Verhältnis von Recht und Moral können wir hier nicht führen. 1 Damit bleibt auch die Frage unbeantwortet, ob und unter welchen Bedingungen es gerechtfertigt sein kann, aus moralischen Gründen gegen das Recht zu verstoßen. Wir können aber festhalten, dass mit dem Hinweis auf das Recht nicht alle Fragen schon erledigt sind, denn man kann auch fragen, ob die Gesetze, so wie sie sind, gut sind oder ob sie verändert werden sollen. Darüber hinaus bleiben auch im Rahmen der Gesetze große Gestaltungsspielräume, 1 Zum Verhältnis von Recht und Moral: Hart (1971) <?page no="17"?> 17 2.3 Planung und Politik die die Planer füllen müssen. Damit stehen sie weiterhin vor moralischen Fragen. Das folgende Beispiel eines moralisch gerechtfertigten, aber illegalen Stauwehres illustriert einen Konflikt zwischen Gesetz und Moral: Um Überschwemmungen der umliegenden Wiesen zu verhindern, hatte das Landratsamt Konstanz die Stockacher Aach ausbaggern lassen. In der Folge bekam die Ablach nur noch einen Liter Wasser pro Sekunde: zu wenig für das Überleben der Flussmuscheln und Groppen in der Ablach. Die Flussmuscheln und Groppen stehen als gefährdete Arten europaweit unter Schutz. Um die Flussmuscheln und Groppen zu schützen, bauten BUND -Mitarbeiter in einer illegalen Aktion ein kleines Stauwehr, das nun wieder genügend Wasser in die Ablach leitet (Frauenheim 2001). Damit verstoßen Sie zwar gegen Gesetze, der Bau des Stauwehrs zugunsten der Flussmuscheln ist jedoch moralisch begründet. Legalität und Moralität können in verschiedene Richtungen weisen: Was illegal ist, kann moralisch durchaus gerechtfertigt sein. 2.3 Planung und Politik „Die Planer erarbeiten lediglich Vorschläge. Die Entscheidungen liegen bei der Politik.“ Wenn diese Auffassung zuträfe, bräuchten Planer keine Verantwortung zu übernehmen. Diese Sicht der Dinge ist jedoch aus mindestens drei Gründen zu einfach. 1. Die Planer engen die Zahl der verfolgten Handlungsalternativen ein. Es ist ein typisches Vorgehen, drei Planungsvarianten auszuarbeiten und diese der Politik zur Entscheidung vorzulegen. Damit scheiden alle anderen denkbaren Optionen aus der Diskussion aus. Manchmal fordert die Politik zusätzliche Planungsvarianten an. In der Regel jedoch können sich die Gemeinderäte, Kreisräte oder Parlamentarier nicht die Zeit nehmen, über zusätzliche Alternativen nachzudenken. Damit werden die von den Planern ausgewählten Optionen bevorzugt. 2. Planer sind häufig nicht lediglich ausführende Organe, sondern wirken bei der Entscheidung zwischen den zur Diskussion stehenden Optionen mit: In der Jury von Wettbewerben bewerten sie die eingereichten Vorschläge und wählen die Gewinner aus. Bei Auftraggebern, Entscheidungsträgern und betroffenen Bürgern werben Sie für die von ihnen favorisierten Planungen. Als Gutachter beschränken sie sich häufig nicht auf eine rein <?page no="18"?> 18 2 Moral und Ethik in der räumlichen Planung beschreibende Perspektive, vielmehr treffen sie oftmals auch in dieser Rolle Wertentscheidungen. Diese sind nicht immer auf den ersten Blick als solche zu erkennen und müssen erst ans Licht gehoben werden. Hierbei helfen die Ausführungen des nächsten Kapitels zum Sein-Sollen-Fehlschluss. 3. Die von der Politik vorgegebenen Gesetze, Richtlinien und Entscheidungen sind in der Regel abstrakt formuliert. Nur so können sie ein gewisses Maß an Allgemeingültigkeit besitzen. So verlangt das Raumordnungsgesetz § 2 (2) Abs. 1: „In den jeweiligen Teilräumen sind ausgeglichene wirtschaftliche, infrastrukturelle, soziale, ökologische und kulturelle Verhältnisse anzustreben.“ Solchermaßen allgemein formulierte Richtlinien lassen den Planern Entscheidungsspielräume, die sie verantwortlich ausfüllen müssen. Die genannten Gründe unterstreichen, dass eine Arbeitsteilung nach der Art „Planer machen Vorschläge, die Politik entscheidet“ der Praxis nicht gerecht wird. Nicht nur die Politiker, sondern auch die Planer müssen Verantwortung übernehmen. 2 Verantwortung bedeutet, auf die Fragen nach den Gründen für die eigene Entscheidung Antworten geben zu können. Wo genau die Grenze der Verantwortung zwischen Planern und Politikern verläuft, ist häufig nicht scharf zu bestimmen. Die verwendeten Beispiele lassen dies in der Regel offen. Selbstverständlich reicht die Verantwortung von Planern nur soweit wie auch ihr Handlungsspielraum reicht. 2.4 Vollständige Argumente: Sein-Sollen-Fehlschlüsse vermeiden Wenn wir über Planungen argumentieren, spielt Moral fast immer eine Rolle. Allerdings ist uns das oft nicht bewusst, denn wir sprechen moralische Aspekte selten ausdrücklich an. Häufig berühren wir die moralische Seite der Planungsentscheidungen nur implizit. Nehmen wir ein Beispiel. Stadtplaner-A und B stützen sich auf die gleiche Voraussetzung, ziehen aber unterschiedliche Schlussfolgerungen. 2 „Die Macht der Planer und Architekten“ untersucht Reuter (1989). <?page no="19"?> 19 2.4 Vollständige Argumente: Sein-Sollen-Fehlschlüsse vermeiden Stadtplaner A Stadtplaner B Voraussetzung Die Sanierung der Altlasten auf dem ehemaligen Firmengelände würde über 10 Mio. € kosten. Die Sanierung der Altlasten auf dem ehemaligen Firmengelände würde über 10 Mio. € kosten. Schlussfolgerung Deshalb soll das Gelände nicht saniert werden. Das Gelände soll dennoch saniert werden. Die Voraussetzung stellt eine Tatsachenaussage dar: Sie beschreibt, was der Fall ist, was die Sanierung kosten würde. Die Schlussfolgerung ist eine moralische Aussage: Das Gelände soll nicht bzw. soll saniert werden. Die Schlussfolgerungen sind aber voreilig, denn die beiden Schlussfolgerungen widersprechen sich. Wie ist es möglich, dass die Stadtplaner A und B auf der Grundlage der gleichen Voraussetzung unterschiedliche Schlüsse ziehen? Die Argumentationen sind unvollständig dargelegt. Beide Stadtplaner haben stillschweigend zusätzliche - jeweils unterschiedliche - Voraussetzungen getroffen. Ergänzen wir die bislang jeweils unausgesprochene Voraussetzung 2, so lauten die nun vollständigen Argumentationen der beiden Stadtplaner folgendermaßen. Stadtplaner A Stadtplaner B Voraussetzung 1 Die Sanierung der Altlasten auf dem ehemaligen Firmengelände würde über 10 Mio. € kosten. Die Sanierung der Altlasten auf dem ehemaligen Firmengelände würde über 10 Mio. € kosten. Voraussetzung 2 Eine Sanierung, die mehr als 10 Mio. € kostet, soll nicht durchgeführt werden. Auch eine Sanierung, die mehr als 10 Mio. € kostet, soll durchgeführt werden. Schlussfolgerung (S) Deshalb soll das Gelände nicht saniert werden. Das Gelände soll dennoch saniert werden. Nach dieser Ergänzung sind die Argumentationen der Stadtplaner A und B vollständig. Die Untersuchung der Argumentationen mag ein wenig pedantisch wirken. Sie hat jedoch einen großen Vorteil: Wenn wir auf die zwischen A und B unterschiedliche Voraussetzung 2 aufmerksam machen, wird deutlich, dass Planungsentscheidungen nicht nur auf Tatsachenaussagen, sondern auch auf normativen oder evaluativen Aussagen aufbauen, die ihrerseits in Frage gestellt oder bekräftigt werden können. Die zwischen A und B unterschiedliche Voraussetzung 2 ist zunächst einmal nur eine Behauptung. Warum soll uns die Sanierung des Gebiets höchstens 10 Mio. Euro <?page no="20"?> 20 2 Moral und Ethik in der räumlichen Planung wert sein? Wer soll die Kosten tragen? Sind die Lasten und Vorteile der Sanierung fair verteilt? Die Voraussetzung 2 muss begründet werden! Damit sind wir mitten in der Planungsethik angelangt. Schauen wir uns das Problem hinter unserem Beispiel nochmals an, nun auf einer abstrakteren Ebene. Die Voraussetzung 1 ist eine Tatsachenaussage. Die Schlussfolgerung ist eine normative Aussage. Der schottische Philosoph David Hume (1739 / 2013, S. 547, Frankena 1974) hat darauf aufmerksam gemacht, dass aus Tatsachenaussagen allein keinen normativen oder evaluativen Aussagen abgeleitet werden können. Vielmehr müssen die Voraussetzungen mindestens eine normative oder evaluative Aussage enthalten. Der direkte Schluss von Tatsachen auf Normen wird als Sein-Sollen-Fehlschluss bezeichnet. Wenn also in der Schlussfolgerung eine Norm oder eine Wertung enthalten sein soll, dann muss in den Voraussetzungen ebenfalls eine Norm oder eine Wertung enthalten sein. Man kann sich das am Beispiel von alkoholischen Cocktails verdeutlichen. Wenn man einen alkoholischen Cocktail mixen will, muss wenigstens eine der Zutaten alkoholisch sein. Anderenfalls kann das Ergebnis kein alkoholischer Cocktail sein. Der direkte Schluss von Tatsachen auf Normen wird als Sein-Sollen-Fehlschluss bezeichnet. Die Tatsache selbst sagt uns noch nicht, ob sie gut oder schlecht ist. In unserem Beispiel: Allein aus der Kostenschätzung von 10 Mio. Euro lässt sich nicht ableiten, ob saniert werden soll oder nicht. Die Redensart, man solle die Zahlen sprechen lassen, führt in die Irre. Es sind nicht die Zahlen, die sprechen. Wir selbst halten 10 Mio. Euro für zu hoch oder für akzeptabel. Der gängige Dreischritt Analyse- - Bewertung- - Planung unterstreicht das Anliegen dieses Kapitels: Aus der Analyse allein ergibt sich keine Planung. Erst wenn der vorgefundene Zustand eine Bewertung erfährt, lässt sich eine Planung entwickeln. Hiermit befasst sich die Planungsethik. Abb. 1: David Hume (1711-1776) <?page no="21"?> 21 2.5 Zusammenfassung 2.5 Zusammenfassung Moral bezeichnet die von einer menschlichen Gesellschaft anerkannten Normen und Werte. Ethik ist die philosophische Disziplin, die die Moral untersucht und sie begründen will. Die Moral kann sich vom Recht unterscheiden: Was juristisch erlaubt ist, muss nicht notwendig moralisch gut sein. Moral und Recht können sogar im Konflikt zueinander stehen. Weil Planer nicht lediglich Ausführungsorgane der Politik sind, sondern auch Entscheidungen treffen, tragen nicht nur Politiker, sondern auch Planer Verantwortung. Wollen wir ethische Fragen in der räumlichen Planung ans Licht holen, so sind David Humes Ausführungen zum Unterschied zwischen Sein und Sollen hilfreich: Aus der Darlegung von Fakten allein lassen sich keine normativen oder wertenden Schlussfolgerungen ziehen. Wer von Tatsachen direkt auf Normen schließt begeht einen Sein-Sollen-Fehlschluss. Häufig werden normative oder wertende Prämissen mitgedacht, aber nicht ausgesprochen. Wenn wir diese impliziten Voraussetzungen herausarbeiten, stoßen wir zu den ethischen Fragen in der räumlichen Planung vor. <?page no="23"?> 23 3.1 Wo sich Fragen des guten Lebens in der räumlichen Planung stellen 3 Räumliche Planung und gutes Leben 3.1 Wo sich Fragen des guten Lebens in der räumlichen Planung stellen Von welchen Zielen lassen wir uns leiten, wenn wir den Raum gestalten? Es versteht sich von selbst, dass die Planung dafür sorgen muss, dass die für das Überleben notwendigen Mittel bereitgestellt werden können. Hierzu gehören Trinkwasser, Nahrung, Wohnung und medizinische Versorgung. Die räumliche Planung muss beispielweise Wasserschutzgebiete ausweisen und Flächen für die Landwirtschaft und Wohnbebauung reservieren. Wir streben jedoch mehr an als nur das Überleben, wir streben ein gutes Leben an. Bildungseinrichtungen, Energieversorgung, Verkehrsinfrastruktur, Gewerbegebiete mit Arbeitsplätzen, Einrichtungen für Sport und Kultur, Naherholungsgebiete, kultivierte und weitgehend unberührte Natur und anderes mehr sollen dazu dienen, das gute Leben zu befördern. Hinter allgemeinen Begriffen wie Energieversorgung oder Verkehrsinfrastruktur verbergen sich unterschiedliche Optionen, zwischen denen wir uns entscheiden müssen. Mehr Straßen oder mehr Schienen? Mehr Windkraft, mehr Wasserkraft, mehr Bioenergie, mehr Photovoltaik? Oder doch nicht ganz so viel davon und dafür weiterhin einen größeren Anteil fossiler Energieträger nutzen? Schließlich ist auch zu fragen, ob wir von allem mehr wollen und ob sich ein gutes Leben möglicherweise auch oder gerade mit einer geringeren materiellen Ausstattung verwirklichen lässt. Diese Fragen delegiert die räumliche Planung typischerweise an die Politik. Die politischen Gremien sind durch Wahlen legitimiert und handeln somit im Auftrag der Bürger. Damit ist das Problem nur vordergründig gelöst. Die Verhältnisse sind etwas komplexer. Es wäre unehrlich, wollten die Planer ihre Mitwirkung an der Diskussion und der Beantwortung dieser Fragen leugnen. Die Fragen des guten Lebens sind eng verwoben mit der Arbeit von planenden Behörden. Hier entwickeln individuelle Planer eigene Lösungsvorschläge und beziehen auch Position in der Diskussion um die richtigen Lösungen. „Die Stadt der kurzen Wege“ wie sie im Französischen Viertel in Tübingen Form annahm, kann den Einfluss von einzelnen Personen auf die Planung illustrieren. Das dort verwirklichte Konzept, Wohnen und Arbeiten zu integrieren, wäre ohne den Stadtplaner Andreas Feldtkeller nicht entstanden (Scharf und Gütschow <?page no="24"?> 24 3 Räumliche Planung und gutes Leben 2015). Die Planung des Französischen Viertels beruht auf bestimmten Vorstellungen vom guten Leben, die nicht jeder teilt. So gab Markus Feldenkirchen (2011) seinem Spiegel-Artikel über das Französische Viertel den Titel „Die grüne Hölle“. Wir sollten den zum Teil erheblichen Einfluss der Planer auf die Rahmendbedingungen unseres Lebens nicht leugnen. Es ist besser, sich diesen Fragen explizit zuzuwenden, anstatt sie hinter scheinbar fachlichen Fragen und sogenannten Sachzwängen zu verbergen. Die Politik entlastet die Planer von ihrer Verantwortung nur in Teilen. 3.2 John Rawls: Zurückhaltung in Fragen des guten Lebens Aus ethischer Perspektive stellt sich die Frage, ob es möglich und zulässig ist, anderen Menschen zu sagen, worin ein gutes Leben besteht. Liberale Denker wie der amerikanische Philosoph John Rawls wollen es den Menschen selbst überlassen zu wählen, worin für sie ein gutes Leben besteht und welche Mittel sie dafür benötigen. Deshalb äußern sie sich nicht zu so konkreten Dingen wie der Ausstattung mit Bildungseinrichtungen oder Verkehrsinfrastruktur oder Wohnformen. Es besteht ja die Gefahr, auch jenen Bürgern Bildungseinrichtungen, Verkehrsinfrastruktur oder bestimmte Wohnformen aufzunötigen, die dies gar nicht wollen. Idealerweise möchte man alle Optionen des guten Lebens gleichermaßen offen halten. Da jedoch der Raum begrenzt ist, müssen wir Prioritäten setzen. Wenn wir offen sein wollen beispielsweise gegenüber verschiedenen Wohnformen, dürfen wir uns nicht auf die gängigen Ein- und Mehrfamilienhäuser beschränken, sondern müssen auch unkonventionelle Formen wie das Wohnen in Bauwägen berücksichtigen. Wenn wir ein Gebiet für Bauwägen ausweisen, kann dort kein konventioneller Wohnungsbau entstehen. Es wird wenig Streit darüber geben, dass wir alle Menschen gerecht behandeln sollen. Aber was müssen wir gerecht verteilen? Als Liberaler plädiert John Rawls für eine gerechte Verteilung der Grundgüter. Dies sind: Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen, Vermögen und Selbstachtung (Rawls 1979, S. 112). Diese Grundgüter soll jeder Mensch in der Weise einsetzen, wie es seiner individuellen Vorstellung vom guten Leben entspricht. Damit kann der Liberalismus es vermeiden, Menschen zu bevormunden. Beispielweise läuft er nicht in Gefahr, die Bewohner von Bauwägen mit Mietwohnungen „beglücken“ zu wollen. Abb. 2: John Rawls (1921-2002) <?page no="25"?> 25 3.3 Amartya Sen und Martha Nussbaum: Aussagen zum guten Leben sind notwendig 3.3 Amartya Sen und Martha Nussbaum: Aussagen zum guten Leben sind notwendig Rawls’ Ansatz leuchtet ein und doch stellen sich neue Fragen. Das wird durch die Arbeiten des Ökonomen Amartya Sen (2002) und der Philosophin Martha Nussbaum (1999) deutlich. Ihre Überlegungen knüpfen an Aristoteles an. Sie machen geltend, dass Ungerechtigkeiten entstehen können, wenn wir uns lediglich bemühen, die Grundgüter gerecht zu verteilen. Nicht jeder Mensch kann die Grundgüter in gleicher Weise für sein gutes Leben nutzen. Nehmen wir Mobilität als Beispiel. Wer körperbehindert ist, muss mehr Aufwand treiben, um sich fortzubewegen, wird also mit den gleichen Grundgütern weniger Mobilität erreichen. Es gibt Unterschiede darin, in welchem Umfang bestimmte Grundgüter die Menschen zu einem guten Leben befähigen. Sen (1992, S. 19-38) unterscheidet persönliche, soziale und umweltspezifische Umwandlungsfaktoren, die es den Menschen in unterschiedlichem Maß ermöglichen, ihre Ressourcen zu nutzen. Körperliche Behinderung ist ein Beispiel für einen persönlichen Umwandlungsfaktor. Das soziale Netzwerk, über das jemand verfügt, illustriert soziale Umwandlungsfaktoren. Wer über ein umfangreiches Netzwerk verfügt, kommt mit der Kündigung seiner Wohnung besser zurecht und wird leichter eine neue Wohnung finden. Ohne Verbindungen gestaltet sich die Suche schwieriger. Schließlich beeinflusst die gesellschaftliche und natürliche Umwelt, wieviel man mit seinen Grundgütern erreichen kann. In einer Region mit günstigen Mieten bekommt man für das gleiche Geld eine größere Wohnung. Die Kritik von Sen und Nussbaum an der liberalen Position von Rawls lautet: Weil die persönlichen, sozialen und umweltspezifischen Umwandlungsfaktoren bei der gleichen Ausstattung mit Grundgütern in unterschiedlicher Weise zu einem guten Leben befähigen, genügt es nicht, sich Gedanken über die gerechte Verteilung der Grundgüter zu machen. Die Gerechtigkeit erfordert, die Möglichkeiten, ein gutes Leben zu führen, gerecht zu verteilen. Wollen wir diese Aufgabe anpacken, stehen wir vor einer Schwierigkeit, mit der die räumliche Planung selten explizit, aber häufig implizit ringt: Sie müsste Abb. 3: Amartya Sen <?page no="26"?> 26 3 Räumliche Planung und gutes Leben definieren können, was für ein gutes Leben notwendig ist. Benötigen wir bessere Möglichkeiten der Mobilität? Und wenn ja, mehr Flugplätze oder mehr Schnellbahntrassen? Mehr Straßen oder mehr Fahrradwege? Mehr öffentlichen Verkehr oder mehr Individualverkehr? Falls wir weniger bebaute Fläche und mehr Natur benötigen, müssen wir entscheiden, ob wir mehr Wert auf die sich selbst überlassene oder auf die kultivierte Natur legen sollen. Mehr Nationalparks oder mehr Streuobstwiesen? Indem wir das eine bevorzugen, stellen wir das andere zurück. Wir müssen entscheiden, was wir bevorzugt bewahren oder entwickeln sollen, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Mobilität versus Natur ist nur ein Beispiel von vielen. Andere Fragen lauten: Wasserschutzgebiete versus Gewerbegebiete, Gewerbegebiete versus Felder, Felder versus Wohngebiete usw. Wenn wir in diesen Konflikten präzise Antworten wagen, sind wir schnell mit dem Vorwurf konfrontiert, andere zu bevormunden. Wie können wir anderen Menschen vorschreiben, dass sie entweder die Natur mehr wertschätzen sollen oder einen Teil der Natur zugunsten von Mobilität opfern sollen? Jede Antwort bevorzugt eine bestimmte Lebensform. In den Fragen des guten Lebens gibt es keine einfachen Lösungen. Bemühen wir uns, die Möglichkeiten für ein gutes Leben gerecht zu verteilen, benötigen wir eine Vorstellung davon, was zu einem guten Leben gehört. Hier gibt es keine eindeutigen Antworten. Es droht Bevormundung, denn es kann und darf unterschiedliche Vorstellungen vom guten Leben geben. Ziehen wir uns auf die gerechte Verteilung der Grundgüter zurück, sind aufgrund unterschiedlicher Umwandlungsfaktoren die Möglichkeiten unterschiedlich verteilt. Allen Menschen die gleichen Grundgüter zuzuweisen führt zu Ungerechtigkeit, denn nicht alle Menschen können die Grundgüter in gleicher Weise für ihr gutes Leben nutzen. <?page no="27"?> 27 3.4 Martha Nussbaum: Eine starke und vage Konzeption des guten Lebens 3.4 Martha Nussbaum: Eine starke und vage Konzeption des guten Lebens Martha Nussbaum (1999) entwickelt eine starke und zugleich vage Konzeption des guten Lebens, die darauf abzielt, beiden Gefahren- - Bevormundung und Ungerechtigkeit-- zu entkommen. Sie bezeichnet ihre Theorie als stark, weil sie „die menschlichen Ziele in allen menschlichen Lebensbereichen ins Auge fasst“ (S. 4). Sie bezeichnet ihre Theorie als vage, denn „sie lässt viele Spezifikationen im Konkreten zu und gibt dennoch, wie Aristoteles es ausdrückt, einen ‚Umriß‘ des guten Lebens“ (S. 4). Indem die Theorie vage bleibt, nimmt sie den einzelnen Menschen die Verantwortung für ihr eigenes Leben nicht ab. Auch die Planer sind nicht aus der Verantwortung entlassen. Es bleibt ihre Aufgabe, für immer wieder neue Konstellationen immer wieder aufs Neue Vorschläge zu erarbeiten, die die Möglichkeiten, ein gutes Leben zu führen, gerecht verteilen. Das ist enttäuschend für Planer, die von der Ethik ausformulierte Konzepte erwarten. Und es ist beruhigend für Planer, die eine Bevormundung durch die Ethik befürchten. Wie geht Nussbaum vor, um einzugrenzen, welche Bedürfnisse allen Menschen gemeinsam sind? Sie geht davon aus, dass die Mythen, die die Menschen im Lauf der Zeit geschaffen haben, Vorstellungen davon enthalten, was den Menschen ausmacht. „Da solche Geschichten große kulturübergreifende Übereinstimmungen aufweisen und bestimmte Erfahrungen als konstitutiv für das Menschsein betrachten, haben wir Grund zu der Hoffnung, durch diese Vorgehensweise und durch den Einsatz unserer Phantasie am Ende zu einer Theorie zu gelangen, die nicht nur unsere eigenen lokalen Traditionen darstellt, sondern auch für kulturübergreifende Spezifikationen offen ist“ (Nussbaum 1999, S. 47). In diesen Mythen kommen Menschen, Tiere und Götter vor. Die Geschichten grenzen den Menschen einerseits gegenüber den Tieren und andererseits gegenüber den Göttern ab. Aus diesen Abgrenzungen leitet Nussbaum eine Liste von Grundfähigkeiten ab, die den Menschen zur Verfügung stehen sollen. Sie betont, dass diese Liste nicht abgeschlossen ist, sondern in der Diskussion weiterentwickelt werden kann. Eines ist wichtig: Es handelt sich um eine Liste Abb. 4: Martha Nussbaum <?page no="28"?> 28 3 Räumliche Planung und gutes Leben von Grundfähigkeiten. Jeder Mensch soll über die genannten Fähigkeiten verfügen können, muss sie aber nicht ausüben. Beispielsweise soll jeder Mensch in der Lage sein, familiäre Beziehungen einzugehen. Aber niemand ist verpflichtet, dies tatsächlich zu tun. Schauen wir uns Martha Nussbaums Liste der Grundfähigkeiten an (Nussbaum 1999, S. 57-58). „1. Die Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen; nicht vorzeitig zu sterben oder zu sterben, bevor das Leben so reduziert ist, daß es nicht mehr lebenswert ist. 2. Die Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen; sich angemessen zu ernähren; eine angemessene Unterkunft zu haben; Möglichkeiten zu sexueller Befriedigung zu haben; sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. 3. Die Fähigkeit unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben. 4. Die Fähigkeit, die fünf Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu urteilen. 5. Die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst zu haben; diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen, und über ihre Abwesenheit traurig zu sein; allgemein gesagt: zu lieben, zu trauern, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden. . Die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen und kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken. 7. Die Fähigkeit, für andere und bezogen auf andere zu leben, Verbundenheit mit anderen Menschen zu erkennen und zu zeigen, verschiedene Formen von familiären und sozialen Beziehungen einzugehen. 8. Die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und pfleglich mit ihnen umzugehen. 9. Die Fähigkeit, zu lachen, zu spielen und Freude an erholsamen Tätigkeiten zu haben. 10. Die Fähigkeit, sein eigenes Leben und nicht das von jemand anderem zu leben. 10a. Die Fähigkeit, sein eigenes Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu leben.“ <?page no="29"?> 29 3.5 Zusammenfassung Auf den ersten Blick mag die Liste trivial erscheinen. Das liegt vielleicht gerade daran, dass Nussbaum tatsächlich die Fähigkeiten herausgearbeitet hat, die das Menschsein widerspiegeln. Wenn Nussbaums Liste der Grundfähigkeiten überzeugt, muss die räumliche Planung darauf hinarbeiten, alle Menschen in der genannten Weise zu befähigen. Wo sind die Anknüpfungspunkte für die räumliche Planung? Nehmen wir Punkt zwei. Gesundheit hat beispielsweise Konsequenzen für die Abwasserentsorgung und -behandlung. Unterkunft konkretisiert sich als Wohnungsbau. Die Fähigkeit, sich von einem Punkt zum anderen zu bewegen begründet ein Verkehrssystem, das keine Region ernsthaft benachteiligt. Punkt 7 spricht von der Fähigkeit, verschiedene Formen von familiären und sozialen Bindungen einzugehen. Die räumliche Planung beeinflusst dies auf vielfältige Weise. Sie kann unsere Umwelt so gestalten, dass sie Begegnungen befördert oder behindert. Sie muss die Balance finden zwischen öffentlichem Raum, der zur Begegnung einlädt und herausfordert und der Privatheit, die es jedem Menschen ermöglicht, sein eigenes Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu leben (Punkt 10a). Auf andere Fähigkeiten hat die räumliche Planung allenfalls indirekten Einfluss. Die räumliche Planung befasst sich allenfalls am Rande damit, kritisch über die eigene Lebensplanung reflektieren zu können (Punkt ). Sie sorgt lediglich dafür, dass es Orte gibt, an denen dies geschehen kann. Angesichts der sehr konkreten Aufgaben der räumlichen Planung ist die Liste tatsächlich vage. Nussbaums Konzeption nimmt der räumlichen Planung ihre Aufgabe nicht ab. Diese muss selbst nach Konkretionen suchen, die unter den jeweiligen Umständen die Möglichkeiten, ein gutes Leben zu führen, in gerechter Weise bereitstellen. 3.5 Zusammenfassung Die räumliche Planung kann sich nicht lediglich auf die Überlegungen zur gerechten Verteilung von Grundgütern-- also auf Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen, Vermögen und Selbstachtung- - beschränken. Sie muss konkretere Dinge planen und verteilen wie Bahnlinien, Autobahnen, Radwege, Windkraftanlagen, Naturschutzgebiete, Naherholungsgebiete, Gewerbegebiete, Bauplätze oder Spielplätze. Um begründen zu können, warum in einer bestimmten Planung das Auto Vorrang vor dem Rad oder die Bahn Vorrang vor der Straße haben soll, benötigt der Planer Vorstellungen davon, was für ein <?page no="30"?> 30 3 Räumliche Planung und gutes Leben gutes Leben notwendig ist. Martha Nussbaums starke und vage Konzeption des guten Lebens hilft ein wenig weiter, ist aber bei Weitem nicht so konkret, dass sich unmittelbare Schlussfolgerungen für konkrete Planungsfragen ableiten ließen. Auch die nächsten beiden Kapitel über Gemeingüter und Bürgerbeteiligung werden keine Rezepte anbieten. Sie werden aber Hinweise zu Lösungswegen aufzeigen. <?page no="31"?> 31 4.1 Die Umstände des Lebens selbst gestalten 4 Gemeingüter: zwischen Staat und Individuum 4.1 Die Umstände des Lebens selbst gestalten Der Liberalismus sieht die Aufgabe des Staates lediglich darin, die Grundgüter gerecht zu verteilen. Wie einzelne Bürger diese Grundgüter für ihr gutes Leben einsetzen, bleibt ihnen selbst überlassen. Anhand der Überlegungen von Martha Nussbaum und Amartya Sen haben wir gesehen, dass es nicht genügt, die Grundgüter gerecht zu verteilen. Es kommt darauf an, die Fähigkeiten, die notwendig sind, um ein gutes Leben zu führen, gerecht zu verteilen. Nussbaums Liste der Grundfähigkeiten ist vage und lässt unterschiedliche Ausgestaltungen zu. Die räumliche Planung hat die Aufgabe, Strukturen zu schaffen, die die Ausbildung dieser Fähigkeiten in konkreten Räumen ermöglichen. Der Planer kann aber nicht ohne Weiteres wissen, welche Planung für bestimmte Menschen an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Situation die Beste ist. Er kann seine Aufgaben auch nicht einfach an die Bürger zurückgeben, damit diese sie nach ihren je persönlichen Vorstellungen lösen. Dafür sind diese Aufgaben zu groß, sie übersteigen die Möglichkeiten des Einzelnen. Individuelle Lösungen und staatliche Lösungen sind zum Glück nicht die einzigen Alternativen. Eine weitere Alternative bieten von Bürgern selbstverwaltete Gemeingüter. Bürger können sich zusammenschließen und ihre Lebensumstände entsprechend ihren Vorstellungen selbst gestalten. Gemeingüter sind beispielweise Bewässerungsanlagen oder Fischgründe, die nicht unter öffentlicher Verwaltung stehen, und sich auch nicht im Privateigentum einzelner befinden. Stattdessen verwalten die Nutzer die Ressource gemeinsam. Die Frage, wie sich Gemeingüter erfolgreich bewirtschaften lassen, steht im Zentrum von Elinor Ostroms Arbeit (1999). Ein Beispiel aus der Stadtplanung sind Baugruppen, die ihr Wohneigentum gemeinsam bauen und verwalten. Die einzelnen Wohnungen werden in der Regel zu Privateigentum, die Gemeinschaftsräume und Gemeinschaftsflächen bleiben Abb. 5: Elinor Ostrom (1933-2012) <?page no="32"?> 32 4 Gemeingüter: zwischen Staat und Individuum Gemeingüter. So entscheidet nicht eine städtische Wohnungsbaugesellschaft oder ein Investor über die Architektur, die Wohnungsgrößen, die Einrichtung von Gemeinschaftsräumen, Dachgärten, Freiflächengestaltung usw. Vielmehr können die zukünftigen Nutzer dies selbst nach ihren eigenen Vorstellungen einrichten. Für kleinere Gruppen, deren Mitglieder jeweils in einer ähnlichen Situation leben, ist es leichter sich eine gemeinsame Vorstellung davon zu erarbeiten, was für ein gutes Leben notwendig ist und was nicht. Sie teilen Traditionen und Erfahrungen und besitzen detailliertere Kenntnisse über die örtlichen Umstände. Auf der Ebene größerer Einheiten, sei es der Stadt, des Landes oder des Staates, wird dies zunehmend schwieriger. Diese Schwierigkeit hat insbesondere zwei Ursachen: 1.) Die Nutzer sind wenig homogen und haben sehr unterschiedliche Interessen. 2.) Die Kommunikation innerhalb sehr großer Gruppen gestaltet sich aufwendig. Eine übergeordnete Einheit, sei sie staatlich oder privat, kann die Bedürfnisse der Bewohner und die Gegebenheiten am Ort nicht in gleicher Weise kennen und berücksichtigen. Der Austausch mit den Betroffenen benötigt eigene Strukturen oder findet gar nicht statt. „Keine Regierung der Welt kann die ganze Palette an Wissen, Instrumenten und Sozialkapital entwickeln, die nötig ist, um nachhaltige Entwicklungsprozesse zu fördern. All diese Dinge müssen ständig an die kulturellen und ökologischen Verhältnisse vor Ort angepasst werden. Das ist eine gewaltige Aufgabe, weshalb ich Folgendes zu behaupten wage: Jeder noch so umfassende Maßnahmenkatalog, der in einem großen Territorium Anwendung finden soll, ist zum Scheitern verurteilt. Denn große Territorien haben immer ökologische Nischen. Die Bedingungen an einem Ort dieses Territoriums können von denen an einem anderen Ort desselben Territoriums sehr verschieden sein. Eine wesentlich erfolgreichere Strategie besteht demnach darin, die Fähigkeiten der Menschen zur Selbstorganisation und zur Kooperation zu stärken“ (Ostrom 2012, S. 30). Ostrom hebt auf die Kenntnis der konkreten Bedingungen ab. Man darf hinzufügen, dass sich nicht nur die empirischen Bedingungen unterscheiden, sondern auch die normativen und evaluativen Vorstellungen davon, worin ein gutes Leben besteht. Werden Ressourcen gemeinsam genutzt, ist zu klären, was jeder Einzelne beitragen muss, und was er entnehmen darf. Es besteht ja die Gefahr, dass eine Ressource verloren geht, weil Einzelne zu viel entnehmen oder zu wenig beitragen. <?page no="33"?> 33 4.1 Die Umstände des Lebens selbst gestalten Wir müssen Gemeingüter (synonym: Gemeinressourcen, Commons, Allmendegüter) von öffentlichen Gütern (synonym: kollektive Güter) unterscheiden. Gemeingüter nehmen ab, wenn sie genutzt werden, sie sind rival. Öffentliche Güter hingegen nehmen nicht ab, wenn sie genutzt werden, sie sind nicht rival. Beide Arten von Gütern ist gemeinsam, dass es schwierig, aber nicht unmöglich ist, Personen von der Nutzung auszuschließen. nicht rival rival Es ist schwierig, aber nicht unmöglich, Personen von der Nutzung auszuschließen öffentliche Güter Bsp.: Sicherheit im öffentlichen Raum Gemeingüter Bsp.: öffentliche Straßen, Fischgründe Tabelle 1: Öffentliche Güter und Gemeingüter Die Sicherheit im öffentlichen Raum ist ein öffentliches Gut: Es ist schwierig, aber nicht unmöglich, jemanden hiervon auszuschließen. Die Sicherheit nimmt nicht ab, wenn viele von ihr profitieren. Öffentliche Straßen oder Fischgründe hingegen sind Beispiele für Gemeingüter. Auch hier ist es schwierig, aber nicht unmöglich, Personen von der Nutzung auszuschließen. Im Unterschied zu den öffentlichen Gütern jedoch nimmt hier die Ressource ab, wenn sie genutzt wird. Bei starker Nutzung bildet sich auf der Straße ein Stau, bei zu hohen Fangquoten nimmt der Fischbestand ab. Ostrom (2012, S. 52) definiert Gemeinressourcen wie folgt: „Gemeinressourcen sind Systeme, bei denen es schwierig, aber nicht unmöglich ist, die legitimen Nutzer auszumachen und alle anderen auszuschließen. Zudem verringert bei diesen Ressourcen die Nutzung des einen die Nutzungsmöglichkeiten des anderen.“ Gemeinressourcen sind keine neue Einrichtung. Es gibt sie bereits in zahlreichen Formen. In unserem Zusammenhang sind sie wichtig, weil sie zwei Probleme vermeiden: Bevormundung und Privatheit. Bevormundung wird vermieden, weil die Planer anderen Menschen nicht im Konkreten vorschreiben müssen, was sie auf welche Weise für ihr gutes Leben bereithalten sollen. Die Probleme ins Private zu verweisen wäre ebenfalls keine gute Lösung: Gemeinressourcen lassen sich entweder von Einzelnen überhaupt nicht bewirtschaften oder ihre Bewirtschaftung durch Einzelne wäre mit großen Effizienzverlusten verbunden. Viele private Bewässerungsanlagen wären höchst ineffizient. Res- <?page no="34"?> 34 4 Gemeingüter: zwischen Staat und Individuum sourcen können nicht nur im Privateigentum und nicht nur durch den Staat erfolgreich geschaffen, erhalten und genutzt werden. Auch freiwillige Selbstverwaltung ist eine Option. Ostroms Vorgehen ist empirisch und nur implizit normativ oder evaluativ. Es ist empirisch, weil sie an Beispielen untersucht, unter welchen Bedingungen Gemeinressourcen auf Dauer erfolgreich bereitgestellt und erhalten werden. Es ist normativ und evaluativ, weil sie- - zu Recht- - voraussetzt, dass wir die Ressourcen für das Überleben und für ein gutes Leben erhalten sollen. Für die Ethik in der räumlichen Planung sind ihre Arbeiten von Bedeutung, weil sie zeigen, welche Rahmenbedingungen die räumliche Planung schaffen muss, damit Bürger die Umstände ihres Lebens möglichst weitgehend in Gemeinschaft und selbstbestimmt einrichten können. Nicht die Planer, sondern die Bürger legen selbst fest, was im Einzelnen für ihr gutes Leben notwendig ist. Die Planer können sich darauf beschränken, die Freiräume und Bedingungen zu schaffen, unter denen die Bürger die Antworten selbst geben können. 4.2 Gestaltungsprinzipien für Gemeingüter Elinor Ostrom (2012, S. 85-87) nennt acht Gestaltungsprinzipien, die dazu beitragen, dass Gemeingüter erfolgreich bewirtschaftet werden. „1. Grenzen zwischen den Nutzern und Ressourcengrenzen Es existieren klare und lokal akzeptierte Grenzen zwischen legitimen Nutzern und Nichtnutzungsberechtigten. Es existieren klare Grenzen zwischen einem spezifischen Gemeinressourcensystem und einem größeren sozioökologischen System.“ Im Fall einer Baugruppe ist eindeutig klar, wer die Eigentümer und somit die Nutzungsberechtigten sind. Ebenso ist klar, wo die Grundstücksgrenzen zu anderen Baugruppen oder zum öffentlichen Raum verlaufen. „2. Übereinstimmung mit lokalen Gegebenheiten (Kohärenz) Die Regeln für die Aneignung und Reproduktion einer Ressource entsprechen den örtlichen Bedingungen, sie überfordern die Menschen nicht und sind aufeinander abgestimmt, das heißt müssen aufeinander bezogen sein. Die Verteilung der Kosten ist proportional zur Verteilung des Nutzens.“ Im Beispiel der Baugruppe geht es um den Grundstückserwerb, den Bau und den Erhalt des Wohneigentums. Hierfür gibt es ein ausformuliertes Immobilienrecht. Dennoch müssen die Mitglieder der Baugruppe beispielsweise den Mehrpreis für <?page no="35"?> 35 4.2 Gestaltungsprinzipien für Gemeingüter eine besonders gut belichtete Wohnung klären und festlegen, nach welchen Regeln die Gemeinschaftsräume und -flächen genutzt und gepflegt werden. „3. Gemeinschaftliche Entscheidungen Die meisten Personen, die von einem Ressourcensystem betroffen sind, können an Entscheidungen zur Bestimmung und Änderung der Nutzungsregeln teilnehmen.“ Die Mitglieder der Baugruppe selbst und nicht Dritte erstellen und ändern die Nutzungsregeln. „4. Monitoring der Nutzer und Monitoring der Ressource Personen, die mit der Überwachung der Ressource und deren Aneignung betraut sind, sind selbst Nutzer oder den Nutzern rechenschaftspflichtig.“ Die Eigentümer bemerken, ob ihre Miteigentümer pfleglich mit dem Eigentum umgehen, ob Reparaturen ausgeführt werden. „5. Abgestufte Sanktionen Die Bestrafung von Regelverletzungen beginnt auf niedrigem Niveau und verschärft sich, wenn Nutzer eine Regel mehrfach verletzen. Die Sanktionen sind glaubhaft.“ Wer die Kehrwoche nicht macht, muss nicht gleich mit Post vom Rechtsanwalt rechnen. Vielmehr werden die Miteigentümer ihn zunächst ermahnen. „. Konfliktlösungsmechanismen Konfliktlösungsmechanismen müssen schnell, günstig, direkt sein. Es gibt lokale Räume für die Lösung von Konflikten zwischen Nutzern sowie Nutzern und Behörden.“ Manchen Baugruppen legen sich darauf fest, dass eine Schlichtung versucht werden muss, bevor der Rechtsweg beschritten werden darf. „7. Anerkennung Es ist ein Mindestmaß staatlicher Anerkennung des Rechts der Nutzer erforderlich, ihre eigenen Regeln zu bestimmen.“ Im Fall der der Baugruppen ist dies gegeben. Die Mitglieder können selbst festlegen, nach welchen Regeln sie ihr Gemeinschaftseigentum nutzen, wie es instand gehalten wird und wie sie die Kosten verteilen. „8. Eingebettete Institutionen Wenn eine Gemeinressource eng mit einem großen Ressourcensystem verbunden ist, sind Governance-Strukturen auf mehreren Ebenen miteinander verknüpft.“ <?page no="36"?> 36 4 Gemeingüter: zwischen Staat und Individuum Hier eignet sich das Beispiel der Baugruppen nicht mehr. Nehmen wir ein großes landwirtschaftliches Bewässerungssystem mit primären, sekundären und tertiären Kanälen. Die Probleme am Staudamm, die sich auf das gesamte System auswirken, sind von anderer Art als die Probleme einer Gruppe von Bauern, die gemeinsam einen Hauptkanal nutzen. Deshalb müssen die Entscheidungsstrukturen, die das gesamte Bewässerungssystem betreffen, anders gestaltet sein, als die Entscheidungsstrukturen für die Hauptkanäle. Diese unterscheiden sich nochmals von den Problemen der Bauern an einem Endkanal. Die Fragen, die sich im überschaubaren Bereich eines Endkanals stellen, werden vermutlich weniger komplex sein und können auf wenig formalisierte Weise gelöst werden. Fragen, die das Bewässerungssystem als Ganzes betreffen, werden ein sehr viel höheres Maß an Formalisierung benötigen. 4.3 Zusammenfassung Gruppen von Bürgern können die Umstände ihres Lebens selbst gestalten, indem sie Gemeingüter eigenverantwortlich verwalten. Dieser Weg vermeidet die Bevormundung durch den Staat oder ein Unternehmen. Elinor Ostrom hat herausgearbeitet, welche Gestaltungsprinzipien zur erfolgreichen Bewirtschaftung von Gemeingütern beitragen. Es zeigt sich, dass es keine einheitliche Lösung für alle Arten von Gemeingütern gibt. Vielmehr müssen die Strukturen sich den jeweils besonderen sozio-kulturellen und physischen Gegebenheiten anpassen. Indem die räumliche Planung die Einrichtung von Gemeingütern unterstützt, kann sie sich in Teilen von der schwierigen Frage entlasten, was im Einzelnen für ein gutes Leben zur Verfügung gestellt werden soll. Die Antwort auf diese Fragen bleibt Bürgern überlassen, die sich zusammenfinden, um ihre Lebensumstände in eigener Verantwortung zu regeln. <?page no="37"?> 37 5.1 Befragen statt bevormunden 5 Bürgerbeteiligung 5.1 Befragen statt bevormunden Das vorige Kapitel über Gemeingüter gibt keine unmittelbare Antwort auf die Frage, was die räumliche Planung bereitzustellen hat, um die Voraussetzungen für ein gutes Leben zu schaffen. Es zeigt aber Strukturen auf, in denen die Bürger ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen können. Auch dieses Kapitel über Bürgerbeteiligung wird die Frage nicht unmittelbar beantworten. Vielmehr verweist es auf Verfahren, die Planer und Politik darin unterstützten, die Vorstellungen der Bürger von einem guten Leben in die Planung aufzunehmen. Gemeingüter stoßen an Grenzen, wenn die Aufgaben zu groß, zu komplex oder zu teuer sind. In diesen Fällen stellt sich erneut die Frage, ob wir auf die Mechanismen des Markts als Lösung vertrauen wollen oder ob die verschiedenen Ebenen der Verwaltung und der politischen Meinungsbildung die besseren Lösungen erbringen. Das Kapitel 9 wird einige Bedenken gegenüber den Mechanismen des Marktes aufzeigen. Die Frage, in welchen Fällen der Markt bessere Lösungen bietet als die staatliche Verwaltung, will ich nicht weiter verfolgen. Dieses Kapitel über Bürgerbeteiligung zeigt auf, wie der Bürgerwille im Rahmen staatlicher Planung besser berücksichtigt werden kann. Die öffentlichen Institutionen und Behörden, die die räumliche Planung steuern, sind-- wenn auch indirekt-- durch Wahlen demokratisch legitimiert. Die gewählte Exekutive kontrolliert-- im Idealfall-- die planenden Behörden. Allerdings ist diese Legitimation nur indirekt. Beispielweise untersteht das Bundesamt für Naturschutz dem Umweltminister, der einer Regierung angehört, die vom Bundestag gewählt wurde. In welcher Weise das Bundesamt für Naturschutz Naturschutzgroßprojekte entwickelt, wird somit nur sehr mittelbar vom Bürger kontrolliert. Auch auf niedrigeren Ebenen staatlicher Organisation ist der Einfluss der Bürger nur indirekt. Mit der Wahl von Gemeinderäten bestimmen die Bürger lediglich darüber, wer über eine Umgehungsstraße entscheidet. Die Entscheidungsgrundlagen haben nicht die Gemeinderäte erarbeitet, das war Aufgabe der Verwaltung. Das, was die von der Umgehungsstraße betroffenen Bürger für notwendig oder überflüssig halten, muss nicht übereinstimmen mit der Auffassung von Gemeinderat und Verwaltung. Hier kann die Einbeziehung der Bürger im Rahmen eines Beteiligungsverfahrens <?page no="38"?> 38 5 Bürgerbeteiligung Abhilfe schaffen. Es gibt verschiedene Verfahren, mit denen Bürger an der Planung beteiligt werden können. Als Beispiel will ich die Planungszelle, die manchmal auch als Bürgerforum bezeichnet wird, skizzieren und diskutieren. 5.2 Die Planungszelle als Beispiel eines Bürgerbeteiligungsverfahrens Das Konzept der Planungszelle hat Peter Dienel (1997) erdacht, um Bürger an Planungsaufgaben zu beteiligen. Nun ist es kaum möglich, alle von einer Planung betroffenen Bürger einzubeziehen. Deshalb werden Bürger in der betroffenen Region nach Zufallsprinzip aus dem Einwohnermelderegister ausgewählt und zu einem Beteiligungsverfahren eingeladen. Die Erfahrung zeigt, dass ca. 5 % der Eingeladenen schließlich an einem Verfahren teilnehmen (Bongardt 1999). Werden 500 Einladungen verschickt, so stellt sich die angestrebte Gruppengröße von 25 Personen ein. Trotz der Einladung nach dem Zufallsprinzip entspricht die Zusammensetzung der Gruppe allerdings nicht mehr ausschließlich dem Zufall, sondern ist auch von anderen Faktoren wie Interesse oder verfügbarer Zeit abhängig. Immerhin ist die Zusammensetzung der Gruppe heterogen. Das Verfahren selbst besteht im ersten Schritt aus einem moderierten Programm, in dem die Bürger sich zunächst sachkundig machen. Das Programm kann Vorträge oder Anhörungen von Experten, Studium von Gutachten und Planungsunterlagen sowie Exkursionen enthalten. Im zweiten Schritt diskutieren die Bürger unterschiedliche Lösungsoptionen und versuchen, möglichst im Konsens eine Empfehlung in Form eines Bürgergutachtens zu erarbeiten. Dieses Gutachten richtet sich dann an das demokratisch legitimierte Entscheidungsgremium. Andere Beteiligungsverfahren laden Vertreter von Interessensverbänden ein. Diese sind allerdings in ihren Positionen häufig festgelegt und können in der Diskussion kaum davon abrücken. Selbst wenn ein Verbandsvertreter aufgrund neuer Einsichten seine Auffassung ändert, kann er nicht ohne Weiteres die Position seines Verbands modifizieren. Gleiches gilt für politische Mandatsträger, die ihren Parteien verpflichtet sind. Demgegenüber hat die Planungszelle den Vorteil, dass ihre Mitglieder in ihren Positionen weniger festgelegt sind. Zudem müssen sie sich nicht gegenüber ihren Verbänden rechtfertigen und haben keine Ämter zu verlieren. Sie haben bessere Voraussetzungen dafür, ihrer Einsicht zu folgen, sich den Regeln des idealen Diskurses anzunähern oder die Position eines unabhängigen Beobachters einzunehmen. <?page no="39"?> 39 5.3 Missbrauch von Bürgerbeteiligungsverfahren Bürgerbeteiligung verfolgt das Anliegen, die Verluste auszugleichen, die bei der Umsetzung des Bürgerwillens auf dem Weg der politischen Meinungsbildung entstehen. Die Empfehlung der Bürger muss eine Empfehlung bleiben, der die legitimierten Gremien folgen können-- oder auch nicht. Ginge die Entscheidungsgewalt auf im Rahmen von Partizipationsverfahren gebildete Gremien über, würden die demokratischen Entscheidungsverfahren unterlaufen. 5.3 Missbrauch von Bürgerbeteiligungsverfahren Beteiligungsverfahren sind nur dann sinnvoll, wenn sie eine ernsthafte Chance haben, die Planung zu beeinflussen. Ist dies nicht der Fall, werden die Teilnehmer nicht als autonome Bürger behandelt, sondern für feststehende Ziele instrumentalisiert. Zwar können die beteiligten Bürger nicht erwarten, anstelle von Gemeinderäten, Kreisräten oder Abgeordneten zu entscheiden. Sie können aber erwarten, dass sich die entscheidungsbefugten Gremien argumentativ mit ihren Empfehlungen auseinandersetzen-- auch und insbesondere dann, wenn die Gremien letztlich den Auffassungen der Bürger nicht folgen. Bislang setzte unsere Argumentation immer voraus, dass Mandatsträger und Planer sich von normativen und wertenden Entscheidungen entlasten wollen, um die Bürger nicht bevormunden zu müssen. Jedoch stellen sich die Umstände bei konkreten Planungsvorhaben allzu häufig anders dar. Die Projekte stehen oft weitgehend fest und Politiker und Planer wollen lediglich „den Bürger mitnehmen“. Hier unterliegen die Bürgerbeteiligungsverfahren der Gefahr, strategisch eingesetzt zu werden, um für weitgehend feststehende Projekte Akzeptanz zu gewinnen (Selle 2013, S. 227-249). Man kann die Rahmenbedingungen eines Beteiligungsverfahrens so setzen, dass es in den tatsächlich wichtigen Fragen kaum etwas verändern kann. Man kann die Information der Bürger so gestalten, dass sie vorab feststehende Lösungen nahelegt. Man kann ein ganzes Verfahren so anlegen, dass die Teilnehmer sich genötigt sehen, sogenannten Sachzwängen zu folgen. Den Unterschied zwischen einem ehrlichen und einem strategisch konzipierten Verfahren markieren die Begriffe Akzeptanz und Akzeptabilität. Akzeptanz ist die empirisch feststellbare Zustimmung zu einer Planung. Akzeptanz lässt sich auch für fragwürdige Projekte gewinnen, indem beispielsweise nur Alternativen mit gravierenden Nachteilen aufgezeigt werden. Es ist möglich, die Fakten einseitig darzustellen und je nach strategischem Ziel die Kosten hoch oder niedrig einzuschätzen. Man kann bevorzugt solche Persönlichkeiten zu <?page no="40"?> 40 5 Bürgerbeteiligung Wort kommen lassen, die das Projekt unterstützen und anderes mehr. Auch auf diesem Weg lässt sich Akzeptanz erreichen. Will man beurteilen, ob eine Planung tatsächlich zustimmungswürdig ist, muss die Diskussion möglichst weitgehend von strategischen Überlegungen freigehalten werden. Akzeptabilität ist eine normative oder wertende Aussage über die Zustimmungswürdigkeit einer Planung. Das Ziel einer Planung, die sich ethisch rechtfertigen lässt, muss Akzeptabilität sein. Auf Strategie zu verzichten und sich in ehrlicher Auseinandersetzung um die beste Lösung zu bemühen, ist ein hoher Anspruch für die räumliche Planung. Ist der Anspruch gemessen an den Schwierigkeiten des Alltags zu hoch? Diese Frage greift das Kapitel 11 auf. Das nun folgende Kapitel  widmet sich einem Aspekt des guten Lebens, der quer liegt zu unseren gängigen Vorstellungen über Wachstum und Wohlstand: Genügsamkeit. 5.4 Zusammenfassung Die Beteiligung der Bürger an der Planung kann die Nachteile repräsentativer Demokratie zumindest in Teilen ausgleichen. Politiker und Planer müssen nicht entscheiden, ohne die Vorstellungen der Bürger zu kennen, sondern können deren Vorstellungen von Anfang an in die Planung einbeziehen. Das entlastet Politik und Planung in Teilen von normativen oder wertenden Entscheidungen. Allerdings wollen Mandatsträger und Planer oft gar nicht entlastet werden, sondern vielmehr Akzeptanz gewinnen für ihre eigenen Konzepte. Die Bürgerbeteiligung ist häufig in Gefahr, instrumentalisiert zu werden. <?page no="41"?> 41 6.1 Ein Beispiel: Flächenverbrauch 6. Gutes Leben und Genügsamkeit 6.1 Ein Beispiel: Flächenverbrauch Die Siedlungs- und Verkehrsfläche nahm in Deutschland im Jahr 2013 täglich um 73 Hektar zu. Eine Ursache hierfür ist, dass die Einwohner zunehmend mehr Wohnfläche in Anspruch nehmen. Waren es im Jahr 2000 noch 39,5 qm pro Einwohner, lag der Wert im Jahr 2013 bei 4,3 qm je Einwohner. Aber nicht nur die Wohnflächen, sondern auch die Verkehrs- und Gewerbeflächen nehmen zu (Umweltbundesamt 2015). In einer eingeschränkten Perspektive bringen neuen Wohngebiete, Gewerbegebiete und Verkehrsflächen gewiss deutliche Vorteile. In einer umfassenden und langfristigen Perspektive kommen Probleme in den Blick. Wir sind auf die Landwirtschaft, auf Landschaften, die der Erholung dienen und auf die biologische Vielfalt angewiesen. In der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt hat sich die Bundesregierung das Ziel gesetzt, die zusätzliche Flächeninanspruchnahme bis zum Jahr 2020 auf 30 ha pro Tag zu begrenzen ( BMU 2007, S. 51). Das Ziel ist anspruchsvoll. Es ist weitgehend Konsens, dass die Innenentwicklung Vorrang haben soll vor der Außenentwicklung. Dieser Weg hat jedoch Grenzen. Wenn alle Baulücken gefüllt sind und nur noch Außenentwicklung in Frage kommt, stellt sich die Frage, ob wir anderen Menschen Vorschriften hinsichtlich ihrer Wohnungsgröße machen dürfen, ob wir ihnen Vorschriften hinsichtlich ihres Lebensstils machen dürfen, ob wir von ihnen verlangen dürfen, dass sie sich bescheiden sollen. Die vorherrschende Auffassung lautet: „Jeder muss für sich selbst entscheiden, worin er sein gutes Leben sehen will.“ Vor diesem Hintergrund untersuchten die Kapitel 4 und 5, wie Bürgerbeteiligung und Gemeingüter die Bürger in ihren häufig verschiedenen Vorstellungen vom guten Leben unterstützen können. Das folgende Kapitel .2 beleuchtet nun die Vorstellungen von Aristoteles. Er ist der Auffassung, dass sich nicht nur individuelle, sondern auch allgemeingültige Antworten auf die Fragen nach dem guten Leben geben lassen. Auch seine Über- Abb. 6: Aristoteles (384-322 v. Chr.) <?page no="42"?> 42 6. Gutes Leben und Genügsamkeit legungen können nur ein gewisses Maß an Konkretion erreichen und selbstverständlich dürfen wir keine Angaben von Quadratmeter Wohnfläche pro Person erwarten. Er äußert sich vielmehr in allgemeiner Form zum richtigen Maß. 6.2 Glückseligkeit als letztes Ziel Das Glück nimmt in Aristoteles’ Ethik die zentrale Stellung ein. Mit Glück meint Aristoteles nicht das Glück des Augenblicks, sondern das Lebensglück. Er geht der Frage nach, wie das Leben als Ganzes gelingen kann. Manche Leser werden Aristoteles’ Überlegungen als moralisierend empfinden, weil er eine klare Position in der Frage bezieht, wie wir leben sollen. Es lohnt sich dennoch und vielleicht gerade deswegen, seine Gedanken nachzuvollziehen. Schließlich streben die meisten-- wenn nicht gar alle-- Menschen nach dem Glück. Auf das Glück im Sinne von günstigem Zufall haben wir keinen Einfluss. Es liegt aber an uns, mit welchen Haltungen wir den äußeren Umständen begegnen. Dieses Kapitel befasst sich mit zwei Tugenden: Mäßigkeit und Freigebigkeit. Aristoteles unterscheidet zwischen Mitteln und Zielen. Die Mittel sind lediglich im Hinblick auf die Ziele wertvoll. Viele Ziele sind wiederum nur Mittel für weitere Ziele. Die Ausweisung von Gewerbeflächen ist ein Mittel, um Gewerbe anzusiedeln. Gewerbe ist ein Mittel, um Arbeitsplätze zu schaffen. Arbeitsplätze sind ein Mittel, um ein Einkommen zu erzielen. Auch das Einkommen ist kein Selbstzweck. Letztlich soll das Einkommen unserem Glück dienen. Lassen wir Aristoteles (1985, S. 10, Buch I, Kapitel 5) selbst sprechen: „Als Endziel in höherem Sinne gilt uns das seiner selbst wegen Erstrebte gegenüber dem eines anderen wegen Erstrebten- […]. Eine solche Beschaffenheit scheint aber vor allem die Glückseligkeit zu besitzen.“ Kommen wir zurück auf unser Beispiel Flächenverbrauch und folgen dabei Aristoteles. In der Regel ist das Gewerbegebiet ein Mittel, um den materiellen Wohlstand zu mehren. Soweit zusätzlicher materieller Wohlstand tatsächlich zu unserem Glück beiträgt, gibt es gute Gründe für ein weiteres Gewerbegebiet. Ist unser materieller Wohlstand hingegen bereits groß genug, so hat ein weiteres Gewerbegebiet keinen Wert oder ist sogar schädlich. Ist die unbebaute Streuobstwiese unserem Glück dienlicher, sollten wir auf das Gewerbegebiet verzichten. Selbstverständlich müssen wir auch berücksichtigen, wer genau den Vorteil von einem Gewerbegebiet oder <?page no="43"?> 43 6.2 Glückseligkeit als letztes Ziel einer Streuobstwiese hat. Das verweist auf die Fragen der Gerechtigkeit, die in den Kapiteln 8, 9, 10 und 13 angesprochen werden. Wir wissen oft nicht zum richtigen Zeitpunkt, wann wir genug haben. Um dies richtig entscheiden zu können, empfiehlt Aristoteles, dass wir uns bestimmte Tugenden aneignen. Sie bringen uns der Glückseligkeit näher. Wir werden tugendhaft, indem wir tugendhaft handeln. Wir müssen die richtigen Handlungen so lange einüben, bis sie uns ganz selbstverständlich werden. Worin in einer bestimmten Situation die tugendhafte Handlung besteht, lässt sich nicht exakt festlegen. Das müssen wir für jede Situation neu herausfinden. Aristoteles beschreibt die Extreme, die wir vermeiden sollen, und empfiehlt uns dann, die Mitte zwischen diesen Extremen zu suchen. Man kann aber nicht berechnen, wo genau die Mitte liegt. Die Mitte immer wieder neu zu finden, ist Aufgabe eines jeden Menschen. Für unser Thema sind zwei Tugenden von besonderer Bedeutung: die Mäßigkeit und die Freigebigkeit. 6.2.1 Mäßigkeit Mit Mäßigkeit ist hier nicht eine mittelmäßige Leistung gemeint, sondern das richtige Maß. Nach Aristoteles charakterisiert Mäßigkeit das richtige Maß im Hinblick auf die Lust des Gefühls und des Geschmacks. Es gibt ein Zuviel und ein Zuwenig an Lust. Wer nach immer mehr Spaß strebt, wird die Glückseligkeit verfehlen. „Ich habe Freude an meinem großen Haus“, ist demnach noch nicht das letzte Wort. Es gibt ein Zuviel an Wohnfläche und ein Zuviel an Freude, ebenso wie ein Zuwenig. Warum es auch zu viel Freude geben kann, leuchtet nicht sofort ein. Aristoteles löst den scheinbaren Widerspruch folgendermaßen auf. „Der Unmäßige begehrt also alles Lustbringende oder das am meisten Lustbringende und wird von den Begierden dermaßen getrieben, daß ihm die Lüste lieber sind als alles andere. Deshalb empfindet er nicht weniger Schmerz, wenn er sie begehrt, als wenn er sie entbehren muß. Denn die Begierde ist mit Schmerz verknüpft, obschon es ungereimt erscheinen könnte, daß man der Lust wegen Unlust empfinden soll“ (S. 70, Buch III , Kapitel 14). Man sollte sich nicht vollständig dem Luxuswohnen verschreiben, denn sowohl das Begehren als auch das Entbehren verursacht Schmerz. So kann man der Lust wegen Unlust empfinden. Nochmals Aristoteles: <?page no="44"?> 44 6. Gutes Leben und Genügsamkeit „Der Mäßige hält in diesen Dingen die Mitte ein. An den Ausschweifungen, die den Unmäßigen zuhöchst erfreuen, erfreut er sich nicht, eher ekeln sie ihn; sodann erfreut er sich an unerlaubten Dingen überhaupt nicht und an erlaubten nicht übermäßig. Ihre Abwesenheit schmerzt ihn und nach ihrem Genuß verlangt ihn nur mäßig, nicht mehr als recht ist, noch zur unrechten Zeit, noch in sonst ungehöriger Weise. Jenes Lustbringende, das zur Gesundheit oder zum Wohlbefinden gehört, begehrt er mit Maß und wie es recht ist, ebenso was sonst noch angenehm ist, soweit es nicht diesem hinderlich oder ungeziemend ist oder seine Vermögensverhältnisse übersteigt. Wer diese Rücksichten hintansetzt, liebt solche Genüsse mehr als schicklich, der Mäßige aber ist nicht so, sondern wie die rechte Vernunft es vorschreibt“ (S. 70, Buch III , Kapitel 14). 6.2.2 Freigebigkeit Freigebigkeit ist die Tugend des richtigen Umgangs mit Vermögen. Auch das ist für die Frage nach der Genügsamkeit relevant. Man kann ein Übermaß und einen Mangel an Vermögen haben. Die Extreme, die wir laut Aristoteles vermeiden sollen, sind Verschwendung und Geiz. Wer die Mitte zwischen Verschwendung und Geiz findet, besitzt die Tugend der Freigebigkeit. Hat man die Tugend der Freigebigkeit erreicht, muss man sich zum Geben nicht zwingen, man gibt vielmehr gerne. Jemand, der gibt, es aber nicht gerne tut, ist nicht wirklich tugendhaft. „…ihm ist das Geld lieber als die edle Tat; so ist aber der Freigebige nicht gesinnt“ (S. 75, Buch IV , Kapitel 2). Hinter der Tugend steht also die richtige Gesinnung. Tugenden sollen uns helfen, glücklich zu werden. Wenn wir nur zähneknirschend von unserem Wohlstand abgeben, können wir nicht glücklich werden. Es wird also darauf ankommen, nicht lediglich an der Oberfläche freigebig zu erscheinen, sondern es tatsächlich zu sein. In einer Tugend muss man sich üben. Man muss immer wieder in angemessener Form geben, bis es einem selbstverständlich vorkommt. Man kann auch zu viel geben, dann ist man ein Verschwender. Der richtige Umgang mit Vermögen bezieht sich nicht nur auf das Geben, sondern auch auf das Nehmen. Man kann zu viel geben, man kann aber auch zu viel nehmen. „Andere wiederum tun im Nehmen zu viel und nehmen woher sie können und was sie können, wie die, die schimpfliche Gewerbe betreiben: Hurenwirte und der- <?page no="45"?> 45 6.3 Zusammenfassung gleichen, und Wucherer, die kleine Summen zu hohen Zinsen ausleihen. Denn alle diese nehmen woher sie nicht sollen und mehr als sie sollen. Als gemeinsam erscheint bei ihnen schimpfliche Gewinnsucht, da sie alle eines Gewinnes und zwar eines kleinen Gewinnes wegen sich Schimpf und Schande gefallen lassen“ (S. 79, Buch IV , Kapitel 3). Laut Aristoteles ist es verfehlt, immer mehr Reichtum anhäufen zu wollen. Aristoteles ist ein Anwalt der Genügsamkeit. Auch beim Vermögen gibt es ein Genug. Der Tugendhafte muss sich das maßvolle Geben und Nehmen nicht abringen, er tut es gerne. Letztlich sind Aristoteles Ausführungen eine Anleitung zum Glücklichsein. 6.3 Zusammenfassung Gemäß Aristoteles ist Glückseligkeit das letzte Ziel, nach dem alle Menschen streben. Andere Ziele erweisen sich letztlich als Mittel für das höchste Ziel und sind nur insofern wertvoll als sie dem letzten Ziel dienen. So rechtfertigen sich auch die Ziele der räumlichen Planung erst durch ihren Beitrag zur Glückseligkeit. Sollen wir unseren Wohlstand mehren oder zufrieden sein, mit dem was wir haben oder uns mit weniger bescheiden? Sollen wir weitere Wohn- und Gewerbegebiete entwickeln oder haben wir bereits genug? Nur wenn beispielweise zusätzliche Wohn- und Gewerbegebiete tatsächlich zur Glückseligkeit beitragen, sind sie gerechtfertigt. Indem wir uns Tugenden wie Mäßigkeit und Freigebigkeit aneignen, fällt es uns leichter zu entscheiden, wann wir genug haben. <?page no="47"?> 47 6.3 Zusammenfassung 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur Fragen zum richtigen Umgang mit der Natur stellen sich in der räumlichen Planung in vielfältiger Weise. Insbesondere die Landschaftsplanung muss den Naturschutz im Blick haben. Aber auch in der übrigen räumlichen Planung ist Naturschutz ein erklärtes Ziel, das allerdings in Konkurrenz zu anderen Zielen steht. So gehen die Erweiterung der Dörfer und Städte und der Ausbau der Infrastruktur häufig zu Lasten des Naturschutzes. In Kapitel 3 hatten wir uns Martha Nussbaums Konzeption des guten Lebens angeschaut. In ihrer Liste von Grundfähigkeiten, über die jeder Mensch verfügen können soll, nennt sie als Punkt 8: „Die Fähigkeit in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und pfleglich mit ihnen umzugehen“ (Nussbaum 1999, S. 58). Diesen Punkt erläutert sie wie folgt. „Die Menschen erkennen, dass sie nicht die einzigen Lebewesen in der Welt sind: Sie sind Wesen, die mit anderen Wesen und mit Pflanzen in einem Universum leben, das ein auf komplexe Weise vernetztes System ist und sie sowohl trägt als auch begrenzt. Von diesem System sind wir auf unzählige Weise abhängig, und wir haben das Gefühl, daß wir ihm einen gewissen Respekt und eine pflegliche Behandlung schuldig sind, auch wenn wir Meinungsverschiedenheiten darüber haben, was genau wir wem aus welchen Gründen schuldig sind. Ein Wesen, das Tiere wie Steine behandeln würde und nicht zu der Einsicht fähig wäre, daß zwischen beidem ein Unterschied besteht, wäre uns wahrscheinlich zu fremd, um wirklich als ein Mensch zu gelten. Gleiches würde für ein Wesen zutreffen, das keinerlei Sinn für die Wunder und Schönheiten der Natur hätte. (Hier beobachten wir möglicherweise, daß ein Teil unserer Art sich gegenwärtig zu etwas anderem entwickelt, als gewöhnlich für menschlich gehalten wurde: vielleicht müssen wir eines Tages entweder unsere Vorstellung vom Menschsein ändern oder eine tiefe Kluft zwischen den menschlichen Lebensformen anerkennen)“ (Nussbaum 1999, S. 54). Nussbaum nennt zwei unterschiedliche Aspekte unseres Verhältnisses zur Natur. ▶ Wir sind von der Natur auf unzählige Weise abhängig. ▶ Wir haben das Gefühl, dass wir der Natur einen gewissen Respekt schulden. <?page no="48"?> 48 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur Schauen wir uns etwas genauer an, welche Argumente sich aus den beiden von Nussbaum genannten Aspekten ableiten lassen. Der erste Gesichtspunkt, der unsere Abhängigkeit von der Natur benennt, verweist auf anthropozentrische Argumente für den Schutz der Natur. Der Anthropozentrismus leitet die Gründe für den Naturschutz aus den Rechten von Menschen ab: Weil Menschen Rechte haben und weil Menschen ein Interesse an der Natur haben, sollen wir die Natur schützen. Zunächst einmal haben Menschen ein Interesse am Erhalt der Lebensgrundlagen. Das nächste Kapitel wird zeigen, dass die anthropozentrischen Argumente damit keineswegs erschöpft sind. Der zweite Gesichtspunkt spricht von Respekt, den wir der Natur schulden und verweist damit auf physiozentrische Argumente für den Schutz der Natur. Der Physiozentrismus postuliert eigene Rechte der Natur oder von Teilen der Natur. Unter physiozentrischer Perspektive sollen wir die Natur nicht lediglich deshalb schützen, weil sie uns Menschen wertvoll ist, sondern weil sie unabhängig vom Menschen Rechte besitzt. Schauen wir uns den Anthropozentrismus und den Physiozentrismus etwas näher an. Die Darstellung der naturethischen Argumente orientiert sich an der Übersicht von Krebs (1997). 7.1 Anthropozentrismus „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“ Diesem Spruch der Umweltbewegung-- angeblich eine Weissagung der Cree-- liegt eine anthropozentrische Position zugrunde. Der Spruch verweist darauf, dass wir auf die Natur angewiesen sind, weil sie uns Nahrung liefert. Neben Nahrung haben Menschen noch andere-- darunter auch nicht materielle-- Bedürfnisse, die wir im Umgang mit der Natur bedenken sollten. Dies soll am Beispiel Windkraft deutlich werden. Der Bau von Windkraftanlagen ist häufig umstritten. Beleuchten wir den Konflikt zunächst aus der Perspektive des Anthropozentrismus: Wir sollen die Natur schützen, weil wir auf die Rechte anderer Menschen Rücksicht nehmen müssen. Zunächst müssen wir auf die Grundbedürfnisse unserer Mitmenschen Rücksicht nehmen. Wenn Windkraft dazu beiträgt, dass alle Menschen ihre Grundbedürfnisse erfüllen können, so ist dies ein starkes Argument für den Ausbau. Und tatsächlich ist der Hinweis, dass die Energiegewinnung aus fossilen Quellen auf Dauer unsere Lebensgrundlagen beschädigt, das prominenteste Argument in dieser Diskussion. <?page no="49"?> 49 7.1 Anthropozentrismus Allerdings können die Windkraftanlagen auch die ästhetische Naturerfahrung beeinträchtigen: Die vom Menschen überformte Welt breitet sich um ein weiteres Stück aus und die wenig berührte Natur wird weiter zurückgedrängt. Über die ästhetischen Argumente hinaus beklagen manche Menschen den Verlust einer Landschaft, die für sie Heimat ist. Grundbedürfnisse, ästhetische Aspekte und Heimatgefühl beschreiben ein instrumentelles Verhältnis zur Natur. Wir können die Natur aber auch unabhängig von ihrem instrumentellen Wert schätzen und einen Eigenwert der Natur benennen. Auch dieser Eigenwert nimmt Schaden durch Windkraftanalgen. Betrachten wir die anthropozentrischen Argumente für den Schutz der Natur ein wenig näher. 7.1.1 Grundbedürfnisse Das Argument der Grundbedürfnisse kommt- - neben dem Hinweis auf den Eigenwert, Schönheit und Erholung-- im § 1 Abs. (1) des Bundesnaturschutzgesetzes zum Ausdruck. „Natur und Landschaft sind auf Grund ihres eigenen Wertes und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen im besiedelten und unbesiedelten Bereich nach Maßgabe der nachfolgenden Absätze so zu schützen, dass 1. die biologische Vielfalt, 2. die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts einschließlich der Regenerationsfähigkeit und nachhaltigen Nutzungsfähigkeit der Naturgüter sowie 3. die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft auf Dauer gesichert sind; -[…]“. Die Natur stellt mit Wasser, Boden, Luft und einem stabilen Ökosystem die Grundlagen menschlicher Existenz bereit. Pflanzen und Tiere liefern Nahrung und Kleidung und sie dienen zur Gewinnung von Medikamenten. Holz dient als Baustoff. In vielfältiger Weise sind wir auf die Natur angewiesen, um unsere Grundbedürfnisse erfüllen zu können. Da wir niemandem die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse verwehren dürfen, müssen wir die Natur, insofern wir sie zur Sicherung unserer Grundbedürfnisse benötigen, schützen. Dies gilt nicht nur für die heute lebenden, sondern auch für die in Zukunft lebenden Menschen und ist somit eine höchst anspruchsvolle Forderung. Zugleich ist dies das stärkste Argument zum Schutz der Natur. <?page no="50"?> 50 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur 7.1.2 Ästhetischer Wert von Natur und Landschaft Der Wert der Natur muss sich nicht auf materielle Aspekte beschränken. Ein Blick vom Berggipfel überwältigt. Die Biene, die von Blüte zu Blüte fliegt, fasziniert uns, auch wenn wir nicht an den Honig als Nahrung denken. Für viele Menschen hat Natur einen ästhetischen Wert. Doch sind nicht alle Menschen in gleicher Weise empfänglich für die ästhetischen Reize der Natur. Insofern ist das Argument schwächer als das Argument der Grundbedürfnisse. Dennoch sollte jeder die Möglichkeit zu naturästhetischen Erfahrungen schützen und bewahren-- und sei es nur um seiner Mitmenschen willen. 7.1.3 Natur und Landschaft als Heimat Die Natur kann uns auch als Heimat wertvoll sein. Eine bestimmte Landschaft-- oft ist es die Landschaft unserer Kindheit-- löst ein Gefühl von Geborgenheit aus. In dieser Landschaft fühlen wir uns zu Hause, wir identifizieren uns mit ihr. Wer von der Schwäbischen Alb kommt, der schätzt die Albkante, wer aus Bremerhaven kommt, schätzt das Wattenmeer. Hinsichtlich des Werts der Natur als Heimat werden die individuellen Unterschiede besonders deutlich. Nicht jeder schätzt die gleiche Landschaft und auch eine Stadt, die eine naturferne Umgebung bildet, kann Heimatgefühle wecken. Der Hinweis auf die Natur als Heimat begründet nicht die vollständige Konservierung der aktuell vorhandenen Landschaft. Diese ist das Produkt menschlicher Überformung und es wäre willkürlich, die aktuelle Form zur einzig schützenswerten zu erklären. Zudem wären wir gezwungen, die aktuellen Wirtschafsformen auf Dauer beizubehalten. Das Argument kann aber begründen, dass Veränderungen in einer Weise vor sich gehen sollen, die es den Bewohnern erlaubt, sich mit der neuen Gestalt anzufreunden. Ein wesentlicher Aspekt hierbei ist, ob die Bürger sich als Mitgestaltende empfinden können oder ob sie sich lediglich als Betroffene der Veränderungen verstehen müssen. 7.1.4 Eigenwert von Natur und Landschaft Der Eigenwert von Natur kann physiozentrisch und anthropozentrisch verstanden werden. Dieses Kapitel erläutert ein anthropozentrisches Verständnis des Eigenwerts: Die Natur besitze einen Wert, der nur ihr eigen ist und nicht <?page no="51"?> 51 7.1 Anthropozentrismus durch etwas anderes ersetzt werden kann. Gleichwohl handelt es sich um einen Wert für Menschen und somit um einen anthropozentrischen Wert. Die Berufung auf Grundbedürfnisse, Ästhetik und Heimat liefert Gründe, mit denen wir erläutern können, warum uns die Natur wertvoll ist. Bei den Grundbedürfnissen steht der materielle Nutzen im Vordergrund. Im Hinblick auf die Heimat kann die Natur einen emotionalen Nutzen bieten. Selbst bei unseren ästhetischen Beziehungen zur Natur kann der Nutzen noch eine versteckte Rolle spielen. Die Natur bietet uns die Gelegenheit zu einer ästhetischen Beziehung. Aber kann die Natur nicht auch einen Eigenwert haben, einfach nur weil sie da ist? Dieser Wert müsste nicht durch einen Nutzen gerechtfertigt werden. Dieser Wert wäre nur der Natur eigen und könnte auf keinem anderen Weg erbracht werden. Der Wert der Natur für die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse lässt sich in dem Maß ersetzen, als wir diese Dinge auf künstlichem Weg bereitstellen können. Der Wert der Natur als Heimat kann ersetzbar sein, indem wir uns mit einer weniger natürlichen Landschaft anfreunden. Zumindest in Teilen lässt sich auch der ästhetische Wert der Natur ersetzen. Auch ein Kunstwerk kann uns ästhetisch ansprechen. Es braucht wenig Mühe, andere Menschen davon zu überzeugen, dass die Natur wertvoll ist, weil sie uns Nahrung, Kleidung und Medizin liefert. Es braucht mehr Mühe, andere Menschen vom Wert der Natur als Heimat und vom ästhetischen Wert der Natur zu überzeugen. Einige werden dabei bleiben, dass die Natur ihnen als Heimat nichts bedeutet. Anderen mag die Natur in ästhetischer Hinsicht nichts sagen. Bei Heimat und Natur kann man erwarten, dass andere Menschen immerhin nachvollziehen können, worum es hier geht, auch wenn ihnen selbst die Natur in dieser Hinsicht nichts bedeutet. Dagegen ist ein Eigenwert der Natur denjenigen, die ihn nicht ohnehin empfinden, nur schwer oder auch gar nicht zu vermitteln. Der Eigenwert ist eine subjektive Empfindung. Wenn wir den Eigenwert der Natur begründen wollen, der sich gerade nicht auf einen Nutzen für uns Menschen stützt, bewegen wir uns argumentativ auf dünnem Eis. Man kann andere Menschen nicht verpflichten, etwas fühlen zu sollen, was sie nicht fühlen. Daher kann man unter Berufung auf den Eigenwert argumentativ nicht viel für den Naturschutz ausrichten. Für wen die Natur auch ohne Nutzenerwägungen wertvoll ist, der wird sich um ihren Schutz bemühen. Wer den Eigenwert der Natur nicht erkennen kann, wird sich durch einen für ihn fiktiven Wert nicht zum Naturschutz motivieren lassen. Hier kommen wir <?page no="52"?> 52 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur an die Grenzen des Argumentierens. Wenn der Eigenwert eine Eingebung ist, die man haben kann oder auch nicht, so lassen sich hieraus keine Pflichten ableiten. 7.1.5 John Rawls: eine Vertragstheorie Dieses Kapitel will darlegen, warum-- zumindest für Anthropozentriker-- die Beziehungen zwischen Menschen von grundsätzlich anderer Art sind, als die Beziehungen zwischen Mensch und Natur. Inwiefern unterscheiden sich die Beziehungen zwischen Menschen von unseren Beziehungen zu Tieren, Pflanzen und der übrigen Natur? Menschen besitzen Rechte und Pflichten gegenüber anderen Menschen. Die Vertragstheorie- - hier in der Version von John Rawls-- begründet diese Rechte und Pflichten durch einen Gesellschaftsvertrag. Wir betrachten zunächst Rawls’ Vertragstheorie, danach werden wir prüfen, ob sich die vertragstheoretische Begründung der Rechte von Menschen ausdehnen lässt, um Rechte der Natur zu begründen. Im Zentrum von Rawls’ Theorie steht ein Gesellschaftsvertrag, der das Zusammenleben der Menschen regelt. Um herauszufinden, an welchen Grundsätzen sich ein Vertrag für eine gerechte Gesellschaft orientieren soll, unternimmt Rawls (1979) folgendes Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, dass die Menschen in einem Urzustand leben, in dem es keine Vereinbarungen gibt. Die Institutionen, die die Gesellschaft erdacht hat, um unser Zusammenleben zu regeln, existieren noch nicht. In dieser Situation reiben sich die Menschen auf in endlosen Verteilungskämpfen um die gesellschaftlichen Güter. Der Kampf geht sowohl um materielle Güter als auch um immaterielle Güter wie Status und Rechte. In dieser Situation würden die Menschen- - Vernünftigkeit und guter Wille vorausgesetzt- - einen Gesellschaftsvertrag anstreben. Dieser soll die Grundstruktur der Gesellschaft festlegen und letztlich allen ein Leben in einer gerechten Gesellschaft ermöglichen. Der Gesellschaftsvertrag beendet die Verteilungskämpfe und etabliert stattdessen eine produktive Kooperation. Die spannende Frage ist: Wie soll der Vertrag gestaltet werden? Wer schwach ist und wenig Chancen hat, würde wohl dafür plädieren, dass der Vertrag die Schwachen schützen soll. Wer stark ist, wird das möglicherweise nicht wollen. Wessen Interessen soll der Vertag Vorrang einräumen? Rawls interessiert sich hier nicht für die Frage, wer sich in der realen Welt durchsetzt. Er sucht vielmehr nach einer Antwort auf die Frage, welche Prinzipien einem gerechten Vertrag zugrunde liegen müssen. Um das Problem zu <?page no="53"?> 53 7.1 Anthropozentrismus lösen, benutzt er einen Kunstgriff, den schon Kinder kennen. Wenn zwei Geschwister ein Stück Kuchen gerecht teilen wollen, muss der Eine das Stück teilen und der Andere darf sich dann das Stück nehmen, das ihm mehr zusagt. Wer teilt, wird so teilen, dass er mit jedem der übrig bleibenden Stücke zufrieden sein kann. Daher wird er möglichst gerecht teilen. Für sein Gedankenexperiment erfindet Rawls den Schleier des Nichtwissens. „Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, daß niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebensowenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, daß die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. Dies gewährleistet, daß niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung“ (Rawls 1979, S. 29). Es ist plausibel, dass sich die Menschen in diesem Vertrag gegenseitig die Menschenrechte garantieren würden. Niemand würde einem Vertrag zustimmen, der die eigene Existenz und Freiheit in Frage stellen kann. Damit ist die Begründung der Menschenrechte im Rahmen von Rawls’ Vertragstheorie skizziert. Rawls nimmt in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ an, dass die Menschen im Urzustand auch nicht wissen, welcher Generation sie einmal angehören werden. Da jeder damit rechnen muss, einer früheren Generation anzugehören, wird man den früheren Generationen keine größeren Restriktionen zumuten als den späteren Generationen. Da jeder damit rechnen muss, einer späteren Generation anzugehören, werden die Vertragspartner späteren Generationen keine höheren Lasten aufbürden als der gegenwärtigen Generation. Hieraus ergibt sich, dass wir die Natur in einer Weise nutzen sollen, die es den späteren Generationen ermöglicht, ihre Bedürfnisse in gleicher Weise zu erfüllen wie die früheren Generationen. Rawls Schlussfolgerung deckt sich mit der Nachhaltigkeitsforderung der Brundtland-Kommission. Nun mag man sich fragen, warum wir unser Handeln an Prinzipien eines Vertrags orientieren sollen, der gar nicht tatsächlich abgeschlossen wurde. Ein hypothetischer Vertrag hat ja keine bindende Kraft. Der Gesellschaftsvertrag <?page no="54"?> 54 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur ist ebenso fiktiv wie die Vorstellung vom Urzustand des Menschen und vom Schleier des Nichtwissens. Die Fiktion hilft uns aber herauszufinden, wie eine gerechte Gesellschaft zu gestalten ist. Nach dieser kleinen Einführung in Rawls’ Vertragstheorie kommen wir auf die Frage nach den Rechten der Natur zurück. Welchen Stellenwert kann die Natur in dieser Theorie einnehmen? Rechte der Natur im Rahmen einer Vertragstheorie Gemäß den vertragstheoretischen Positionen haben Menschen von vornherein einen herausgehobenen moralischen Status, weil kein Vertrag vorstellbar ist, in dem die Existenz und Freiheit der Vertragspartner zur Disposition steht. Tiere und auch die übrige Natur sind nicht in der Lage, Verträge zu verstehen und sich daran zu halten. Die Natur kann daher nicht Vertragspartner sein und genießt nicht den herausgehobenen moralischen Status der Vertragspartner. Da sie nicht moralfähig ist, spielt die Natur zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses keine Rolle. Müssten der Natur-- oder Teilen von ihr-- doch ähnliche Rechte wie Menschen zukommen? Immerhin teilen Mensch und Natur einige Merkmale. Höhere Tiere sind in ähnlicher Weise empfindungsfähig wie Menschen. Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen sind so wie Menschen lebende Wesen. Die Natur als Ganze zeichnet sich-- so wie der Mensch-- durch hohe Komplexität aus. Die Relevanz des Merkmals Moralfähigkeit ist der Relevanz des Merkmals Empfindungsfähigkeit vorgeordnet, denn nur durch die Moralfähigkeit des Menschen ist ein Vertrag überhaupt erst möglich. Das hat Folgen für den moralischen Status von empfindungsfähigen Tieren. Ihr moralischer Status ist dem von Menschen nachgeordnet. Mit Mikroorganismen Pflanzen und Tieren, teilen die Menschen das Merkmal Belebtheit. Auch Belebtheit ist ein nachgeordnetes Merkmal, denn ein Vertrag mit der außermenschlichen belebten Natur lässt sich nicht denken. Daher kommt der belebten Welt ebenfalls ein nachgeordneter moralischer Status zu. Gleiches gilt für das Merkmal Komplexität. Unter Hinweis auf das Merkmal Komplexität, das Menschen wie auch der unbelebten Natur zukommt, lässt sich nicht ableiten, dass die unbelebte Natur den gleichen moralischen Rang besäße wie Menschen. Ohne Moralfähigkeit gäbe es keine moralisch motivierte Rücksicht auf die Empfindungsfähigkeit, das Leben oder die Komplexität. Zuerst schließen die Menschen einen Vertrag unter Gleichen, indem sie sich gegenseitig die Grundfreiheiten garantieren. Erst wenn das Verhältnis der Vertragspartner untereinander geklärt ist, kann das Verhältnis zur Natur geklärt werden. <?page no="55"?> 55 7.1 Anthropozentrismus Im Rahmen von Vertragstheorien ist es durchaus möglich, Tieren und auch weiteren Teilen der Natur einen höheren Status als Dingen zuzuordnen. Unser Verhältnis zu empfindungsfähigen Tieren unterscheidet sich von unserem Verhältnis zur übrigen belebten und unbelebten Natur dadurch, dass wir uns in das Empfinden von Tieren hineinversetzen können. Die Beziehung zu Tieren ist nicht einseitig, sondern wechselseitig. Zu Tieren können wir Beziehungen aufbauen, die über die reine Beobachtung hinausgehen. Tiere können uns etwas über ihre Empfindungen mitteilen und es ist gut, aus Mitgefühl auf ihr Empfinden Rücksicht auf sie zu nehmen. Weil Tiere und auch die übrige Natur nicht die Fähigkeit zu moralisch motivierten Vereinbarungen und entsprechendem Handeln besitzen und somit nicht Vertragspartner sein können, müssen wir ihnen und auch der übrigen Natur gegenüber nicht das gleiche Maß an Rücksicht üben wie gegenüber Menschen. Tiere und die übrige Natur besitzen nicht den gleichen moralischen Status wie Menschen. Es ist eine gute Haltung, den empfindungsfähigen Tieren aus Mitgefühl mehr Rücksicht entgegenbringen als der nicht empfindungsfähigen Natur. Somit kommt empfindungsfähigen Tieren ein Status zwischen Menschen und Dingen zu. Mit dieser Bestimmung unseres Verhältnisses zu empfindungsfähigen Tieren ist noch vieles offen. Die Festlegung konkreter Tier- und Naturschutznormen wird immer dann erleichtert, wenn sich herausstellt, dass Tier- und Naturschutz einerseits und menschliche Bedürfnisse andererseits nicht in Konflikt zueinander stehen. Es lohnt sich daher, im Einzelfall zu prüfen, ob tatsächliche oder nur scheinbare Konflikte vorliegen. Über den Tierschutz hinaus sollen wir mit der nicht empfindungsfähigen belebten Natur und auch mit der unbelebten Natur ebenfalls pfleglich umgehen. Die Gründe hierfür speisen sich nicht aus Rechten der Natur, sondern aus den oben angeführten anthropozentrischen Argumenten (Kapitel 7.1.1-7.1.4). Diskussion der Vertragstheorien Vertragstheorien erklären den moralischen Status von Menschen durch einen hypothetischen Vertrag auf Gegenseitigkeit. An einem solchen Vertrag können jedoch nur moralfähige Menschen beteiligt sein. Somit stellt sich die Frage nach dem moralischen Status von Menschen zu Beginn des Lebens, wenn die Moralfähigkeit noch nicht ausgeprägt ist, und am Ende des Lebens oder bei schwerer Krankheit, wenn sie nicht mehr oder nur unvollständig vorhanden <?page no="56"?> 56 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur ist. Hinsichtlich dieses kontroversen und komplexen Themas möchte ich mich auf zwei Hinweise beschränken. Ein „Dammbruch-Argument“ legt uns nahe, den Kreis jener Wesen, auf die weniger Rücksicht zu nehmen ist, nicht auszuweiten. Es gibt eine heftige Debatte über den moralischen Status von Embryonen und Föten, die nicht den gleichen Status besitzen wie Neugeborene. Wenn wir beginnen, die Rechte von Neugeborenen und schließlich auch Kleinkindern einzuschränken, besteht die Gefahr, dass der Kreis derer, auf die nur eingeschränkt Rücksicht zu nehmen ist, immer größer wird. Eine scharfe Grenze, ab wann ein Mensch moralfähig ist, lässt sich nicht ziehen. Deshalb rät uns dieses Argument, Abstand zu halten von der nur unscharf zu benennenden Grenze, um keinen Dammbruch auszulösen. Als weiteres Argument für den moralischen Status von noch nicht moralfähigen Menschen kommt deren Potenzial zur Moralfähigkeit in Frage. Im Unterschied zu Tieren und der übrigen belebten und unbelebten Natur besitzen Embryonen, Föten und Neugeborene die Anlage zur Moralfähigkeit. Diese Fragen stehen im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Anthropozentrismus und Pathozentrismus. Pathozentriker wollen anhand der skizzierten Fälle die Mängel des Anthropozentrismus aufzeigen. Anthropozentriker wollen zeigen, dass sich die Anfangsstadien menschlichen Lebens und die Rechte geistig schwer kranker Menschen auch auf anthropozentrischer Grundlage verteidigen lassen. 7. 2 Physiozentrismus Es ist unstrittig, dass Eingriffe in die Umwelt, in der wir leben, gerechtfertigt werden müssen. Auf den ersten Blick geht es lediglich um eine Rechtfertigung gegenüber den von einer Planung betroffenen Menschen. Soll eine Windkraftanlage gebaut werden, muss man Gründe haben, warum die Anwohner den Eingriff in die Landschaft dulden sollen. Man muss den Naturschutzverbänden erläutern, dass der Standort so gewählt wurde, dass die Vögel und Fledermäuse möglichst wenig Schaden nehmen. Auf den zweiten Blick stellt sich die Frage, ob die Rechtfertigung gegenüber anderen Menschen überhaupt ausreicht. Physiozentrische Argumente plädieren dafür, eigenständige Rechte nicht auf Menschen zu beschränken. Auch die Natur soll Rechte besitzen. Wenn die Natur eigenständige und nicht nur abgeleitete Rechte besitzt, wenn wir demnach auch Verpflichtungen gegenüber der Natur haben, müssen wir eine Windkraftanlage auch gegenüber den Vögeln und Fledermäusen rechtfertigen. <?page no="57"?> 57 7. 2 Physiozentrismus Die physiozentrischen Positionen lassen sich danach unterscheiden, welche Teile der Natur eigenständige Rechte haben sollen. Der Pathozentrismus verlangt Rechte für empfindungsfähige Tiere, der Biozentrismus für alle Lebewesen und der Holismus für die gesamte Natur. Jede der Positionen wird im Folgenden anhand eines prominenten Vertreters erläutert. 7. 2.1 Pathozentrismus (Peter Singer) Der Pathozentrismus geht ursprünglich auf Jeremy Bentham (1789/ 2013) zurück. In der aktuellen Diskussion ist Peter Singer (199) der prominenteste Vertreter dieser Position. Singer gründet seine Argumentation auf das Gleichheitsprinzip. Es verlangt, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll. Er weist darauf hin, dass Menschen und Tiere Interessen haben, und verlangt, dass die Interessen von Menschen und Tieren in gleicher Weise berücksichtigt werden sollen. Zu Beginn seiner Argumentation legt Singer dar, dass Eigenschaften wie Rasse oder Geschlecht keinen Einfluss darauf haben dürfen, ob wir die Interessen eines Menschen berücksichtigen müssen oder nicht. Wenn Schwarze aufgrund ihrer Hautfarbe benachteiligt werden, verurteilen wir dies als Rassismus. Wenn Frauen aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt werden, verurteilen wir dies als Sexismus. So wie wir die Interessen von Menschen anderer Hautfarbe oder anderen Geschlechts nicht vernachlässigen dürfen, so dürfen wir die Interessen von Tieren, soweit sie ebenfalls Interessen haben, nicht vernachlässigen. Der Umstand, dass Menschen Teil einer anderen Fortpflanzungsgemeinschaft (Spezies) sind, rechtfertigt nicht, die Interessen von Tieren weniger oder gar nicht zu berücksichtigen. Deshalb müssen wir die Interessen von Tieren in gleicher Weise berücksichtigen wie die Interessen von Menschen. Wenn Tiere benachteiligt werden, weil sie einer andern Spezies angehören, müssen wir dies laut Singer als Speziesismus verurteilen. Singer legt dar, dass Tiere ein Interesse daran haben, frei von Schmerzen zu sein. In der Folge haben sie das gleiche Recht wie Menschen, von Schmerzen verschont zu werden. Auch hinsichtlich des Tötens bestreitet Singer, dass es zulässig sein könnte, Tiere anders zu behandeln als Menschen. „Um Speziesismus zu vermeiden, müssen wir zugestehen, dass Lebewesen, die sich in allen relevanten Abb. 7: Peter Singer <?page no="58"?> 58 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur Aspekten ähnlich sind, auch dasselbe Recht auf Leben haben-- und bloße Zugehörigkeit zur eigenen biologischen Spezies kann kein moralisch relevantes Kriterium für dieses Recht sein“ (Singer 1996, S. 52). Diskussion des Pathozentrismus Singer stützt sich auf das Gleichheitsprinzip, gemäß dem Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll. Dieses Prinzip soll nicht in Frage gestellt werden. Allerdings interpretiert Singer den Gleichheitsgrundsatz in einer bestimmten Weise: Er setzt voraus, dass die Interessen das moralisch relevante Merkmal seien, anhand dessen Gleichheit bzw. Ungleichheit zu beurteilen seien. Das versteht sich jedoch nicht von selbst und wäre erläuterungsbedürftig. Singer betont, dass die Interessen von Menschen und Tieren in gleicher Weise Rücksicht verdienen. Es ist aber problematisch, ganz allgemein von der Rücksicht auf die Interessen zu sprechen, denn nicht alle Interessen verdienen die gleiche Rücksicht. Vielmehr kann es aus moralischen Gründen gerade geboten sein, manche Interessen nicht zu berücksichtigen. Andere Interessen können moralisch indifferent sein und wieder andere Interessen müssen zwingend berücksichtigt werden. Gerade die Unterscheidung zwischen berechtigten und nicht berechtigten Interessen ermöglicht ein nach moralischen Gesichtspunkten geordnetes Zusammenleben. Diese Unterscheidung können nur Menschen treffen, Tiere dagegen nicht. Gerade hierauf gründet der moralische Status des Menschen. Ohne ihn gäbe es keine moralische Ordnung (vgl. Kapitel 7.1.5). Ein anderer Schwachpunkt von Singers Position ist die fehlende Abgrenzung gegenüber weiterreichenden Positionen wie z. B. Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Singers Erklärung, warum er den Kreis der zu berücksichtigenden Wesen entlang der Leidensfähigkeit zieht, ist unzureichend. Er verweist lediglich darauf, dass die Fähigkeit Leiden und Freude zu empfinden, eine Vorbedingung ist, um überhaupt Interessen haben zu können (Singer 199, S. 3). Ebenso ließe sich auch eine andere Vorbedingung anführen, etwa am Leben zu sein. Singer führt keine Argumente an, die die von ihm gewählte Vorbedingung der Leidensfähigkeit gegenüber anderen Vorbedingungen auszeichnen. Wir können uns auch fragen, ob alles Leben die gleiche Rücksicht verdient wie das Leben von Menschen. Es gelingt Singer nicht, seine Position gegenüber weiterreichenden Positionen abzugrenzen. Eine weiterreichende Position vertritt Albert Schweitzer in seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Mit Albert Schweitzers biozentrischer Position befasst sich das folgende Kapitel. <?page no="59"?> 59 7. 2 Physiozentrismus 7.2.2 Biozentrismus (Albert Schweitzer) Albert Schweitzer ist der bekannteste Vertreter des Biozentrismus. Seine Argumentation hat die gleiche logische Struktur wie Peter Singers pathozentrische Argumentation. Singer hebt als das Merkmal der Übereinstimmung zwischen Mensch und Tier die Interessen hervor und leitet hieraus Rechte von Tieren ab. Schweitzer hebt den Willen zum Leben als Merkmal der Übereinstimmung zwischen Mensch und belebter Natur hervor und leitet hieraus Rechte der belebten Natur ab. An der Stelle von Interessen steht nun der Wille zum Leben. Schweitzers Überlegungen gehen aus von dem Satz: „Ich bin Leben inmitten von Leben, das leben will.“ (Schweitzer 190, S. 330). Die Ehrfurcht vor dem menschlichen Willen zum Leben ist unbestritten und dient Schweitzers Argumentation als Ausgangspunkt. Er stellt fest, dass nicht nur wir Menschen, sondern die gesamte belebte Welt einen Willen zum Leben besitzt. Wenn wir Gleiches gleich behandeln wollen, dann müssen wir dem Lebenswillen aller anderen Lebewesen die gleiche Ehrfurcht entgegenbringen wie dem Lebenswillen des Menschen. Schweitzer spricht von einer „ins Grenzenlose erweiterten Verantwortung“ (Schweitzer 190, S. 332). Dieser Verantwortung können wir nicht gerecht werden, weil der Lebenswille von Menschen, Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen zu unlösbaren Konflikten führt. Das Prinzip der gleichen Ehrfurcht vor allem Leben lässt sich nie vollständig, sondern immer nur teilweise verwirklichen. Selbst wenn wir uns vegetarisch ernähren, geschieht dies auf Kosten von anderem Leben. Behandelt ein Arzt eine Infektion mit Antibiotika, so tötet er Bakterien. Schweitzer sieht diese Konflikte und sagt, dass der Mensch notwendig schuldig werden muss. Obwohl Schweitzer keinen Ausweg aus diesem Dilemma anbieten will, deutet er am Ende seiner Darlegung der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben doch einen Vorrang des menschlichen Lebens an: „Ethik geht nur so weit, als die Humanität, das heißt die Rücksicht auf die Existenz und das Glück des einzelnen Menschenwesens geht. Wo die Humanität aufhört, beginnt die Pseudoethik“ (Schweitzer 190, S. 348). Abb. 8: Albert Schweitzer (1875-1965) <?page no="60"?> 60 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur Diskussion des Biozentrismus Schweitzers Ethik fordert von uns mehr, als wir zu leisten imstande sind. Es ist nicht möglich, allem Leben mit der gleichen Ehrfurcht zu begegnen, weil das eine Leben auf Kosten des anderen Lebens existiert. Jede Mahlzeit erhält Leben und zerstört zugleich Leben. Schweitzers Entwurf ist irritierend, weil er den Grundsatz „Sollen impliziert Können“ nicht akzeptiert. Da wir nicht auf alles Leben in gleicher Weise Rücksicht nehmen können, sind wir gezwungen, uns zu entscheiden, auf welche Lebewesen wir bevorzugt Rücksicht nehmen. Schweitzers Ethik bietet hier keine Entscheidungshilfe. Gemäß seinem Entwurf gibt es keine Argumente, um Lebewesen mit Bewusstsein einen besseren Schutz zuzusprechen als den übrigen Lebewesen. Leidensfähige Lebewesen genießen den gleichen Schutz wie nicht leidensfähige Lebewesen. Lediglich die Aussage „Ethik geht nur so weit als die Humanität, das heißt die Rücksicht auf die Existenz und das Glück des einzelnen Menschenwesens geht“, deutet einen Vorrang für das Leben von Menschen an. Allerdings steht diese Aussage im Konflikt mit Schweitzers Grundprinzip, das allem Leben das gleiche Recht einräumt. 7.2.3 Holismus (Martin Gorke) Der Holismus erweitert den Kreis der Träger moralischer Rechte radikal: Alle Naturwesen und natürlichen Gesamtsysteme besitzen moralische Rechte. In der deutschsprachigen Debatte ist Martin Gorke (1999) mit seinem Buch: „Artensterben: von der ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur“ als Holist hervorgetreten. Er spricht vom Eigenwert der gesamten Natur und präzisiert dies als „moralischen, also tatsächlichen Eigenwert“ (Gorke 2000, S. 98). Im Holismus werden Tiere, Pflanzen, Mineralien, Wälder und Meere vom Menschen zwar auch als Ressourcen genutzt, aber sie sind nun weit mehr als das. „Sie werden unter holistischer Perspektive zu Subjekten mit einer eigenen, d. h. nicht nur auf den Beobachter bezogenen Wirklichkeit. Sie werden zu ‚Gegenübern‘, die aus sich heraus Rücksicht und Respekt verdienen“ (S. 98). Abb. 9: Martin Gorke <?page no="61"?> 61 7. 2 Physiozentrismus Für den Holismus hat die Natur selbst einen moralischen Status. Gemäß Gorke haben wir Pflichten gegenüber moralischen Objekten (S. 97). Er kommt zu dem Schluss, „dass andere Objekte-- genauso wie wir selbst-- eigenständige Subjekte und damit auch Gegenstände moralischer Verantwortung sind“ (S. 102). Die Zitate verdeutlichen, dass Gorke mit „Eigenwert“ etwas anderes meint als das, was in Kapitel 7.1.4 mit „Eigenwert der Natur“ bezeichnet wurde. Der dort im Rahmen des Anthropozentrismus vorgestellte Begriff des Eigenwerts betont die Unersetzbarkeit der Natur, begründet aber keine Rechte der Natur. Gorke hingegen plädiert für einen eigenen moralischen Status der Natur. 3 Im Holismus haben Menschen Pflichten nicht nur gegenüber anderen Menschen, sondern auch gegenüber der Natur. Gorke kritisiert am Anthropozentrismus, am Pathozentrismus und am Biozentrismus, dass es diesen Positionen nicht gelingt, die Abgrenzung gegenüber der jeweils umfassenderen Position zu begründen. Seine Einwände lauten: Es ist willkürlich, unter Hinweis auf die Kommunikations- oder Kooperationsfähigkeit eine anthropozentrische Grenze zu ziehen. Es ist willkürlich, unter Hinweis auf die Empfindungsfähigkeit eine pathozentrische Grenze zu ziehen. Es ist willkürlich, unter Hinweis auf Komplexität, Ganzheit, Symmetrie und Selbstorganisation eine biozentrische Grenze zu ziehen. Laut Gorke lässt sich nicht begründen, warum wir Pflichten lediglich gegenüber Menschen, lediglich gegenüber empfindungsfähigen Tieren oder lediglich gegenüber allen Lebewesen haben sollten. Da jede Grenze willkürlich ist, müssen wir dem Holismus folgen und auch Pflichten beispielsweise gegenüber Ökosystemen oder Gebirgsformationen anerkennen. Wer sich nicht von der Moral abwenden will, hat gar keine andere Möglichkeit als den Holismus zu akzeptieren. Wer einen ungleichen moralischen Status von Menschen, empfindungsfähigen Tieren, Lebewesen und unbelebter Natur behauptet, muss die unterschiedliche Beurteilung begründen. Gorke ist der Auffassung, dass es keiner der nicht-holistischen Positionen gelingt, die von ihr gezogene Grenze zu begründen. Gorke betont, dass die gleiche moralische Berücksichtigung dennoch eine unterschiedliche Behandlung zulässt oder auch erfordert. Wer mechanischen Druck auf einen Stein ausübt, wird dem Stein, solange dieser nicht zerbricht, 3 Eser und Potthast (1999, S. 54-55) reservieren den Begriff „Eigenwert“ für den anthropozentrischen Eigenwert und verwenden im Rahmen des Physiozentrismus den Begriff „Selbstwert“. Diese ausgesprochen hilfreiche Unterscheidung übernehme ich hier nicht, um den Originaltext von Gorke nicht ändern zu müssen. <?page no="62"?> 62 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur kein Unrecht tun. Wer den gleichen Druck auf eine Blume ausübt, kann ihr durchaus Unrecht tun und im Fall eines schmerzempfindlichen Tiers gilt dies umso mehr. Würde man die Unterschiede zwischen den Entitäten der Natur vernachlässigen, wäre eine ungerechte Behandlung die Folge. Diskussion des Holismus In noch stärkerem Maß als der Biozentrismus gerät der Holismus in unlösbare Konflikte. Es ist schlicht nicht möglich, auf alles was existiert, in gleicher Weise Rücksicht zu nehmen. Gorke sind die Einwände gegen den Holismus durchaus bewusst und er tritt ihnen entgegen. Als Hilfestellung bietet Gorke das Notwehrprinzip und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit an. Aus Notwehr darf ein Mensch auch Cholera-Bakterien töten. Allerdings lässt sich eine systematische vorbeugende Tilgung von Krankheitserregern und Krankheitsüberträgern nicht mit dem Notwehrprinzip rechtfertigen. Das wäre keine Notwehr, sondern eine einseitige Bevorzugung von Menschen gegenüber Krankheitserregern. Holisten müssen diese Konsequenz akzeptieren oder ihre Position überdenken. Einen Vorzug des Holismus sieht Gorke in der Umkehr der Beweislast. Im Holismus steht jede Verfügung über die Natur unter Rechtfertigungszwang. Angesichts der von ihm- - zu Recht- - konstatierten immer beunruhigender werdenden ökologischen Situation der Erde betrachtet er diesen Rechtfertigungszwang als Argument zugunsten des Holismus. Weil die ökologische Situation so beunruhigend ist, bedarf jede Beeinträchtigung der Natur einer Rechtfertigung. Um gegen die Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen zu argumentieren, ist jedoch keine holistische Position notwendig. Hierfür genügt die anthropozentrisch begründete Rücksicht auf die in der Gegenwart und Zukunft lebenden Menschen. Die vorhandenen Rahmenbedingungen zugunsten des Naturschutzes reichen bei Weitem nicht aus. Die Schwierigkeit liegt nicht in einer unzureichenden ethischen Begründung für den Naturschutz. Die Schwierigkeit liegt darin, die rechtlichen Voraussetzungen für einen umfassenden und wirksamen Naturschutz zu schaffen und diese auch umzusetzen. Weitergehende Gesetze, mit denen wir unsere Freiheiten zugunsten der Freiheit anderer Menschen einschränken, sind notwendig. Es genügt nicht, wenn Einzelne Beiträge zum Naturschutz liefern, die von anderen, weniger motivierten Menschen zunichte gemacht werden. Naturschutz, der allein auf dem guten Willen von Einzelnen angewiesen ist, ohne dass diese von entsprechenden Gesetzen unterstütz <?page no="63"?> 63 7. 2 Physiozentrismus werden, kann kaum gelingen. Diese Zusammenhänge werden durch das sogenannte Gefangenendilemma beschrieben, das in Kapitel 9.2.1 erläutert wird. Das Recht aller Menschen auf Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse wird so gut wie nie bestritten. Durchgesetzt ist es noch lange nicht. Es bleibt völlig unklar, wie auf der Grundlage des Holismus ein Naturschutz- und Planungsrecht ausgestaltet werden könnte. Eines der wenigen Kriterien des Holismus ist Notwehr. Wo Notwehr endet, überlässt er allerdings der subjektiven Einschätzungen von Individuen. „Oft ist es deutlich schwieriger, wenn nicht unmöglich, die Grenze des Legitimierbaren im Bereich zwischen Leben und Wohlleben (Luxus) objektiv zu bestimmen. Das bedeutet, dass im Holismus das verantwortungsbewusste Individuum oft selbst herausfinden muss, wo genau bei ihm der Zwang der Notwendigkeit beginnt“ (Gorke 2000, S. 97). Im Unterschied zum Anthropozentrismus muss der Holismus sehr viele weitergehende Einschränkungen der Menschen verlangen und ist dabei auf subjektive Einschätzungen der Menschen angewiesen. Es ist ungleich schwieriger, auf dieser Grundlage Naturschutz durchzusetzen. Mir scheint, dass der Holismus mit dem Verweis auf subjektive Einschätzungen hinsichtlich praktischer Konsequenzen nahe bei dem angelangt ist, was der Anthropozentrismus mit dem Eigenwert-Argument erreicht (Kapitel 7.1.4). Ähnlich wie der Holismus, liefert auch ein anthropozentrisch verstandener Eigenwert Gründe für die Rücksicht auf die Natur jenseits eines instrumentellen Nutzens. Der anthropozentrisch verstandene Eigenwert ist lediglich eine subjektive Empfindung und es ist fraglich, inwieweit sich diese argumentativ vermitteln lässt. Welche praktischen Konsequenzen hieraus folgen, bleibt beim anthropozentrischen Eigenwert wie auch beim Holismus dem subjektiven Empfinden überlassen. Eine deutliche Unterscheidung zwischen dem anthropozentrisch interpretierten Eigenwert und dem holistisch verstandenen Eigenwert liegt in den abstrakten Ansprüchen, die aus dem Eigenwert folgen. Der holistische Eigenwert soll Rechte der gesamten Natur und Pflichten des Menschen gegenüber der Natur begründen. Der anthropozentrische Eigenwert ist bescheidener angelegt: Weil es sich um eine subjektive Empfindung handelt, lässt sich mit Hilfe des Eigenwerts nur wenig begründen. Von anderen Menschen Gefühle einzufordern, die sie nicht haben, ist sinnlos. Es bleibt fraglich, ob der Holismus konkrete Forderungen zum Schutz der Natur auf einem Niveau begründen kann, das über die auch im Anthropozentrismus mögliche Empfindung eines Eigenwerts der Natur hinausgeht. <?page no="64"?> 64 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur Gorkes Kritik am Biozentrismus und am Physiozentrismus ist berechtigt. Beiden Positionen gelingt es nicht, sich gegenüber den weitergehenden Positionen abzugrenzen. Die entscheidende Frage ist, ob der Anthropozentrismus begründen kann, warum lediglich Menschen eigenständige Rechte haben und wir somit auch nur Pflichten gegenüber Menschen, nicht aber gegenüber der Natur haben. Gemäß der in Kapitel 7.1.5 skizzierten Vertragstheorie erkennen Menschen ihre gegenseitigen Rechte in einem Gesellschaftsvertrag an. Die Natur jedoch kann nicht Vertragspartner sein. Gleichwohl können Menschen, nachdem sie die Grundlagen ihres Zusammenlebens geklärt haben, sich über einen pfleglichen Umgang mit der Natur verständigen. 7.3 Konvergenz zwischen Anthropozentrismus und Physiozentrismus auf der Handlungsebene? Bereits der Anthropozentrismus verlangt ein sehr viel höheres Maß an Naturschutz als wir derzeit verwirklichen. Wir verlieren Arten, die uns wertvoll sind und wir beschädigen die Erdatmosphäre in einer Weise, die künftigen Generationen gravierende Probleme bereiten wird. Damit sind nur zwei von sehr vielen Problemen angesprochen. Bryan Norton (1991) vertritt die Auffassung, dass Physiozentrismus und Anthropozentrismus- - trotz Differenzen auf der Begründungsebene- - auf der Handlungsebene letztlich das Gleiche wollen, nämlich den Schutz der Natur vorantreiben. Ob wir das für den Menschen oder für die Natur wollen, spiele keine große Rolle. „Wir sehen einen wachsenden Konsens unter Umweltschützern. Ihr ökologisches Anliegen bringt unterschiedliche Gruppen dazu, dieselbe Umweltpolitik zu verfolgen. Unabhängig davon, ob man Wildvögel gerne schießt oder sie gerne beobachtet, ob man sich für die Rechte von Vögeln einsetzt oder ob man Zugvögel als wichtigen Teil eines ökologischen Gesamtzusammenhangs sieht, bringt unsere wachsende Kenntnis der Ökosysteme all diese Gruppen auf einen gemeinsamen Nenner: Ihr Ziel ist es, Feuchtgebiete entlang der Flugruten zu schützen und wiederherzustellen“ (Norton 1991, S. 202, freie Übersetzung A. M.). Im Hinblick auf den Erhalt von Feuchtgebieten trifft Nortons Analyse zu. In anderen Fragen, wie z. B. beim Ausbau der Windkraftanlagen ist der gemeinsame Nenner sehr viel kleiner und es gibt erhebliche Differenzen auf der Handlungsebene. Der ökologisch aufgeklärte Anthropozentriker wird darauf achten, dass die Arten möglichst wenig beeinträchtigt werden. Er wird auf fossile Energien <?page no="65"?> 65 7.4 Zusammenfassung verzichten und dennoch ein ausreichendes Energieangebot bereitstellen wollen. Um das zu erreichen, nimmt er Verluste beispielsweise von Vögeln in Kauf. Der Pathozentriker und der Biozentriker widersprechen dem. Aufgrund der Rechte individueller Tiere können diese Positionen die Tötung von Tieren lediglich in höchst eingeschränktem Maß in Kauf nehmen. Sie verweisen darauf, dass man die Tötung von Menschen in solchen Fällen nicht hinnähme. Dadurch lassen sich Windkraftanlagen für den Pathozentriker und Biozentriker allenfalls ausnahmsweise rechtfertigen. Die Holisten bringen darüber hinaus Rechte von beispielsweise Bergen oder Wanderdünen in Anschlag. Halten wir fest: Die Konflikte zwischen Anthropozentrismus und Physiozentrismus wirken sich auch auf konkrete Fragen der räumlichen Planung aus. In manchen Fällen führen Anthropozentrismus und Physiozentrismus zu gleichen oder ähnlichen Handlungsempfehlungen im Konkreten. Windkraftanlagen sind ein Beispiel in dem Anthropozentrismus und Physiozentrismus zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Die Planung der Verkehrsinfrastruktur wirft ähnliche Fragen auf. 7.4 Zusammenfassung Der Anthropozentrismus leitet die Gründe für den Naturschutz aus den Rechten von Menschen ab. Aus anthropozentrischer Perspektive sollen wir die Natur schützen, weil wir sie benötigen, um unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen, weil sie uns ästhetisch wertvoll ist und weil sie uns ein Heimatgefühl vermitteln kann. Darüber hinaus kann uns die Natur unabhängig von ihrem instrumentellen Nutzen wertvoll sein, einfach deshalb, weil sie Natur ist. Der Anthropozentrismus muss erklären, warum er lediglich Rechte von Menschen, nicht aber Rechte der Natur akzeptiert. Vertragstheorien können das verständlich machen: Sie begründen die Rechte von Menschen durch einen Vertrag auf Gegenseitigkeit, den Menschen untereinander abschließen. Tiere und die übrige Natur können keine Vertragspartner sein, weil sie nicht vernunftfähig sind. Im Unterschied zum Anthropozentrismus vertritt der Physiozentrismus die Auffassung, dass nicht nur Menschen, sondern auch die Natur bzw. Teile der Natur eigenständige Rechte besitzen. Der Pathozentrismus verlangt eigene Rechte für empfindungsfähige Tiere. Der Biozentrismus weitet die eigenständigen Rechte auf alle Lebewesen aus. Der Holismus spricht von eigenen Rechten auch der unbelebten Natur. Auf der Ebene konkreter Maßnahmen stimmen der Anthropozentrismus und der Physiozentrismus nur in Teilen überein, der <?page no="66"?> 66 7 Räumliche Planung und das Verhältnis zur Natur Konflikt zwischen beiden Positionen lässt sich nicht ohne Weiteres auflösen. Die fehlenden Antworten physiozentrischer Positionen auf konkrete Fragen der räumlichen Planung sind ein starker Grund, den aufgeklärten Anthropozentrismus zu bevorzugen. <?page no="67"?> 67 8.1 Die Nutzwertanalyse und was dahinter steckt 8 Räumliche Planung und Utilitarismus Der Utilitarismus ist eine ethische Theorie, die sich auf die Kurzformel bringen lässt: Tue das, was das Glück in der Welt vermehrt. Bevor wir uns den Utilitarismus näher anschauen, beleuchten wir am Beispiel der Nutzwertanalyse, wie utilitaristische Überlegungen in die räumliche Planung einfließen. 8.1 Die Nutzwertanalyse und was dahinter steckt 8.1.1 Die Nutzwertanalyse am Beispiel Die Nutzwertanalyse ist ein gängiges Planungsinstrument, das wir am Beispiel von verschiedenen Schulhausstandorten verdeutlichen (Tabelle 2, Nutzwertanalyse, Gilgen 200). Um eine Entscheidung zwischen verschiedenen Planungsvarianten zu treffen, wählt der Planer zunächst die für die Entscheidung relevanten Kriterien aus. In der Tabelle 2 ist Lage der Schulanlage ein Hauptkriterium, dem Zentralität untergeordnet ist. Dem Kriterium Zentralität ist wiederum Zentralität bezüglich Wohngebieten untergeordnet. Für die übergeordneten und untergeordneten Kriterien werden die Gewichte g I , g II , g III vergeben. Das Gewicht g des feinsten Kriteriums (z. B. Zentralität bezüglich Wohngebieten) im Verhältnis zu sämtlichen Kriterien errechnet sich als Produkt aus g I , g II und g III (45 ‰ für Zentralität bezüglich Wohngebiet). Im nächsten Schritt beurteilt der Planer mit Hilfe von Punkten (Spalte: n), in welchem Maß die verschiedenen Planungsvarianten den einzelnen Kriterien gerecht werden. So hat die Variante 1 für das Kriterium Zentralität bezüglich Wohngebieten 5 Punkte bekommen. Für jede Variante werden die gewichteten Punkte (Spalte: n*g) zur Gesamtpunktzahl summiert. Die Variante mit der höchsten Punktzahl gilt als die beste Lösung, hier die Variante 2 mit 25 Punkten. <?page no="68"?> 68 8 Räumliche Planung und Utilitarismus Gewicht Variante 1 Variante 2 Variante 3 Kriterien g I g II g III g in ‰ n n*g n n*g n n*g 1. Lage der Schulanlage 30 Zentralität 25 bezgl. Wohngebieten (Erreichbarkeit) 60 45 5 225 7 315 10 450 bezgl. schulischer Dienste 40 30 10 300 1 30 3 90 Kombinierbarkeit 50 mit anderen Schulhäusern 20 30 3 90 10 300 6 180 mit Turnhallen 50 75 5 375 10 750 1 75 mit Spielwiesen 30 45 3 135 5 225 10 450 Immissionen 10 Straßenlärm 100 30 5 150 3 90 10 300 Emissionen 5 Einfluss auf Nachbarschaft 100 15 10 150 5 75 1 15 Gefahrenpotentiale 10 Benutzung Schulanlage 70 21 5 105 2 42 10 210 Schulwege 30 9 1 9 5 45 8 72 2. Eigenschaften Grundstück 10 Parzelle 70 Größe 50 35 5 175 2 70 10 350 Form 50 35 5 175 5 175 8 280 <?page no="69"?> 69 8.1 Die Nutzwertanalyse und was dahinter steckt bauliche, gestalterische Einschr. 30 Topographie 40 12 10 120 10 120 1 12 Bezug Ortsbild 60 18 1 18 10 180 5 90 3. Realisierbarkeit 20 rechtliche Voraussetzungen 70 Eigentumssituation 70 98 10 980 5 490 1 98 Zonentyp 30 42 5 210 10 420 1 42 Akzeptanz 30 Stimmung in der Bevölkerung 50 30 8 240 10 300 3 90 Haltung der Parteien 10 6 6 36 3 18 6 36 Haltung der Lehrerschaft 40 24 4 96 10 240 1 24 4. Kosten 40 Investitionskosten 90 Landkosten 50 180 3 540 10 1800 6 1080 Baukosten 50 180 6 1080 3 540 2 360 Betriebs- und Unterhaltskosten 10 Kombination mit anderen Unterhaltsdiensten 100 40 5 200 10 400 1 40 Total 1000 5409 6625 4344 Tabelle 2: Nutzwertanalyse für drei Varianten nach Gilgen (2006) <?page no="70"?> 70 8 Räumliche Planung und Utilitarismus 8.1.2 Diskussion der Nutzwertanalyse Vorzüge der Nutzwertanalyse Die Nutzwertanalyse ist ein konsistentes und transparentes Verfahren. Die Beurteilung der verschiedenen Planungsvarianten ist in sich widerspruchsfrei: Die Kriterien und ihre Gewichtung werden für jede Variante in gleicher Weise angewandt. Nicht konsistent wäre die Bewertung, wenn etwa im Falle der einen Variante die Zentralität und im Falle der anderen Variante die Kosten besonders hoch gewichtet würden. Sollen die Kriterien neu gewichtet werden, so gilt dies für alle Varianten. Eine Entscheidung auf der Grundlage einer Nutzwertanalyse ist transparent und für Außenstehende nachvollziehbar. Dies liegt insbesondere daran, dass die Nutzwertanalyse zwei Schritte voneinander trennt: Zuerst werden die Kriterien festgelegt und gewichtet. Erst danach werden Punkte dafür vergeben, inwieweit die Varianten die Kriterien erfüllen. Wertungen sind als solche erkennbar. Die Nutzwertanalyse beruht zweifellos auf Fakten. Man kann beispielsweise recht zuverlässig ermitteln, was die verschiedenen Grundstücke kosten, oder man kann mit sozialwissenschaftlichen Methoden die Akzeptanz in der Bevölkerung ermitteln. Aus Kapitel 2.4 wissen wir aber, dass sich aus Fakten alleine keine Bewertungen ergeben. Damit die Nutzwertanalyse zu einer Bewertung führen kann, müssen die Fakten bewertet werden. Dies geschieht an drei Stellen: 1.) Der Planer, der das Schema für die Nutzwertanalyse entwirft, entscheidet, welche Kriterien er aufnimmt und welche er weglässt. So hängt es vom Urteil des Planers ab, ob die Stimmung in der Bevölkerung eine Rolle spielen soll. 2.) Auch die Gewichtung der verschieden Kriterien legt der Planer fest. In unserem Beispiel erhält die Haltung der Lehrerschaft ein größeres Gewicht als die Haltung der Parteien. Das größte Gewicht bekommt die Stimmung in der Bevölkerung. 3.) Die Vergabe der Punkte ist ebenfalls wertend. Es obliegt der Einschätzung des Planers, ob eine bestimmte Grundstücksform vier, fünf oder sechs Bewertungspunkte bekommt. Die Wahl der Kriterien, die Gewichtung der Kriterien und die Vergabe der Punkte sind drei Stellschrauben, an denen die Ansichten und Überzeugungen des Planers eine offensichtliche und entscheidende Rolle spielen. Das Verfahren nimmt hier dem Planer die Entscheidung nicht ab, sondern hilft ihm lediglich, den Entscheidungsprozess zu strukturieren. Der nächste Abschnitt wird zeigen, dass die Struktur des Verfahrens weitere, weniger offensichtliche Normen und Wertungen enthält. <?page no="71"?> 71 8.1 Die Nutzwertanalyse und was dahinter steckt Verrechenbarkeit und Nutzenmaximierung Die Nutzwertanalyse beruht darauf, dass verschiedene Kriterien miteinander verrechnet werden dürfen. In unserem Beispiel geht die Stimmung in der Bevölkerung mit 30 ‰ in die Kalkulation ein. Die Gefahrenpotentiale der Schulwege fließen mit 9 ‰ in die Kalkulation ein. Sind diese beiden Aspekte überhaupt miteinander verrechenbar? Man kann der Ansicht sein, dass diese beiden Kriterien von grundsätzlich verschiedener Art sind und sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Es ist kein Zufall, dass die Nutzwertanalyse mit Punkten rechnet und keine Maßeinheiten angibt. Solche Maßeinheiten müssten beispielsweise die Anzahl der Unfälle auf dem Schulweg ins Verhältnis setzen zur prozentualen Zustimmung zum Standort. Wenn der Planer in jedem Fall den sichersten Standort wählen will, kann er die Sicherheit der Schüler zum K. o.-Kriterium erheben (Gewichtung mit 1000 ‰), sodass unabhängig von anderen Kriterien der Standort mit der höchsten Sicherheit das Rennen macht. Er kann auch ein Kriterium herausnehmen oder mit null gewichten, wenn es überhaupt keinen Einfluss haben soll. Und er kann-- wie im Beispiel-- etwa Gefahrenpotentiale des Schulwegs mit Stimmung in der Bevölkerung verrechnen. Er kann schließlich der Ansicht sein, dass beide Gesichtspunkte eine Rolle für die Entscheidung spielen sollen, sich dies aber nicht in Zahlen fassen lässt. Die Nutzwertanalyse unterstellt zunächst die mathematische Verrechenbarkeit, lässt aber mit der Gewichtung von null oder 1000 ‰ Auswege offen. Eine zweite, in der Regel nicht eigens thematisierte Annahme der Nutzwertanalyse ist die Auffassung, dass der Nutzen maximiert werden soll. Das klingt zunächst selbstverständlich, ist es aber nicht. Das folgende Beispiel soll dies erläutern. Beispiel: Nutzwertanalyse: Zusammenlegung von zwei Schulen A und B repräsentieren zwei Schulen. Die Punkte repräsentieren die Wohnorte der Schüler. Um Kosten zu sparen, will die Gemeinde eine Schule im Teilort A oder im Teilort B schließen und die andere Schule erweitern. Eine Nutzwertanalyse soll als Entscheidungshilfe dienen. Nehmen wir an, dass das Kriterium Zentralität mit großem Gewicht in die Nutzwertanalyse eingeht. Bei den anderen Kriterien wie Eigenschaften der Schulgebäude, Verwertbarkeit, Möglichkeiten für den Ausbau oder Kosten unterscheiden sich die beiden Standorte nur wenig. <?page no="72"?> 72 8 Räumliche Planung und Utilitarismus Musterdatei NFA_UTB.dot 70 In diesem Beispiel wird die Nutzwertanalyse den Standort B bevorzugen. Die Verteilung von Kosten und Nutzen ist jedoch ungerecht: Alle Bürger profitieren von der Kostenersparnis aus der Zusammenlegung, die Lasten tragen allerdings allein die Schüler und Eltern des Standorts A. Es wird viele Fälle geben, in denen nichts gegen die Maximierung des Nutzens spricht. Widerspruch kann sich jedoch regen, wenn die Nutzenmaximierung auf Kosten der Gerechtigkeit erkauft wird. Die Gerechtigkeitsfrage in unserem Beispiel lässt sich u. U. lösen, indem die Bürger von B die Schule und die Bürger von A eine Kompensation bekommen. Das könnte beispielsweise eine neu zu bauende Bücherei sein. Gerechtigkeit und Nutzenmaximierung schließen sich nicht zwingend gegenseitig aus. Um den Gesichtspunkt der Gerechtigkeit einzubringen, könnte man erwägen, die Gerechtigkeit als Kriterium in die Nutzwertanalyse zu integrieren. Damit wäre allerdings Gerechtigkeit abwägbar gegen andere Kriterien. Gerechtigkeit ist jedoch kein weiches Kriterium, das sich einfach mit anderen Gütern verrechnen lässt. Gerechtigkeit ist ein großes Thema und bekommt Raum in den Kapiteln 7.1.5, 12 und 13.2.4. ● ● ● ● ● ● ● ●● ● ● ● ● ● ● ● ● ● B A ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● 20 km, 45 min. Busfahrt In diesem Beispiel wird die Nutzwertanalyse den Standort B bevorzugen. Die Verteilung von Kosten und Nutzen ist jedoch ungerecht: Alle Bürger profitieren von der Kostenersparnis aus der Zusammenlegung, die Lasten tragen allerdings allein die Schüler und Eltern des Standorts A. Es wird viele Fälle geben, in denen nichts gegen die Maximierung des Nutzens spricht. Widerspruch kann sich jedoch regen, wenn die Nutzenmaximierung auf Kosten der Gerechtigkeit erkauft wird. Die Gerechtigkeitsfrage in unserem Beispiel lässt sich u. U. lösen, indem die Bürger von B die Schule und die Bürger von A eine Kompensation bekommen. Das könnte beispielsweise eine neu zu bauende Bücherei sein. Gerechtigkeit und Nutzenmaximierung schließen sich nicht zwingend gegenseitig aus. Um den Gesichtspunkt der Gerechtigkeit einzubringen, könnte man erwägen, die Gerechtigkeit als Kriterium in die Nutzwertanalyse zu integrieren. Damit wäre allerdings Gerechtigkeit abwägbar gegen andere Kriterien. Gerechtigkeit ist jedoch kein weiches Kriterium, das sich einfach mit anderen Gütern verrechnen lässt. Gerechtigkeit ist ein großes Thema und bekommt Raum in den Kapiteln 7.1.5, 12 und 13.2.4. <?page no="73"?> 73 8.2 Der Utilitarismus 8.2 Der Utilitarismus 8.2.1 Prinzipien des Utilitarismus Die ethische Theorie, an der sich die Nutzwertanalyse orientiert, ist der Utilitarismus. Ihr Begründer ist der englische Philosoph und Jurist Jeremy Bentham. Bentham trat u. a. für die Rechte von Frauen ein. Weiterhin lieferte er ethische Argumente, auf die sich bis heute große Teile der Tierschutzbewegung stützen. Die zentrale Maxime des Utilitarismus lautet: Handle so, dass sich das größte Glück für die größte Zahl einstellt. Da Bentham auch den Tierschutz im Blick hatte, ist mit der größten Zahl nicht nur die größte Zahl von Menschen, sondern auch von empfindungsfähigen Tieren gemeint. Höffe (2013, S. 10 f.) identifiziert vier aufeinander aufbauende Prinzipien des Utilitarismus. Das Konsequenzprinzip: Wir sollen eine Handlung anhand ihrer Folgen beurteilen. Man könnte meinen, das verstehe sich von selbst. Man könnte jedoch eine Handlung auch anhand ihrer Motive beurteilen. Ebenso könnten bestimmte Handlungen in sich selbst schlecht sein. Der Akt des Lügens könnte auch unabhängig von seinen Folgen schlecht sein. Das Nutzenprinzip: Aus der Beschreibung der Folgen selbst folgt noch nicht, ob die Handlung gut oder schlecht ist. Die Folgen müssen anhand eines Kriteriums bewertet werden. Ohne ein solches Kriterium bliebe offen, ob die Folgen wünschenswert sind oder nicht. Der Utilitarismus bewertet die Folgen anhand ihrer Nützlichkeit. Diesem Kriterium verdankt der Utilitarismus seinen Namen (utilitas lat.: Nutzen). Eine Handlung-- oder in unserem Fall eine Planung-- ist gut, wenn sie den Nutzen steigert. Das ist allerdings noch recht ungenau. Es muss präzisiert werden, was unter Nutzen zu verstehen ist. Das Hedonismusprinzip: Unter Nutzen versteht der Utilitarismus eine Mehrung des Glücks. Der Hedonismus ist eine Form der Glücksethik. Hedonismus ist eine „ethische Auffassung, nach der menschliches Vergnügen oder Lustgefühl das einzig an sich selbst Gute ist und Unlust oder Schmerz das einzige an sich selbst Schlechte. Alles übrige Gute oder Schlechte besitzt nur bedingten Wert oder Unwert, nämlich in dem Maß, wie es Lust oder Unlust hervorruft“ Abb. 10: Jeremy Bentham (1748-1832) <?page no="74"?> 74 8 Räumliche Planung und Utilitarismus (Hügli und Lübcke 2013, S. 359). Je mehr Glück und je weniger Unlust eine Planung bewirkt, desto besser ist sie. Gerechtigkeit ist im Rahmen des Hedonismus nur von Wert, wenn sie die Summe des Glücks steigert. Das Sozialprinzip: Der Utilitarismus orientiert sich am Glück aller von einer Handlung Betroffenen- - nicht lediglich am eigenen Glück. Er ist also keineswegs eine egoistische Konzeption. Eine gute Handlung mehrt das Glück für möglichst viele Menschen und auch Tiere. Es ist also zu prüfen, auf wen sich eine Planung auswirkt, und dann die Variante zu wählen, die das Glück von möglichst vielen Menschen und Tieren möglichst weitgehend befördert. Lassen wir Bentham 4 selbst sprechen: „Man kann also von einer Handlung sagen, sie entspreche dem Prinzip der Nützlichkeit- […], wenn die ihr innewohnende Tendenz, das Glück der Gemeinschaft zu vermehren, größer ist als irgend eine andere Tendenz, es zu vermindern“ (Bentham 1789/ 2013, S. 57). Bentham gibt auch Hinweise, wie wir die Glückskalkulation vornehmen sollen: „Man addiere die Werte aller Freuden auf der einen und die Leiden auf der anderen Seite. Wenn die Seite der Freuden überwiegt, ist die Tendenz der Handlung im Hinblick auf die Interessen dieser einzelnen Person insgesamt gut; überwiegt die Seite des Leids, ist ihre Tendenz insgesamt schlecht.-[…] Man bestimme die Anzahl der Personen, deren Interessen anscheinend betroffen sind, und wiederhole das oben genannte Verfahren im Hinblick auf jede von ihnen. Man addiere die Zahlen, die den Grad der guten Tendenz ausdrücken, die die Handlung hat-- und zwar in Bezug auf jedes Individuum, für das die Tendenz insgesamt gut ist; das gleiche tue man in Bezug auf jedes Individuum, für das die Tendenz insgesamt schlecht ist. Man ziehe die Bilanz“ (Bentham 1789/ 2013, S. 80). Man kann leicht erkennen, dass gängige Methoden der Planung wie die Nutzwertanalyse in wesentlichen Punkten dem Utilitarismus folgen. Auch die Nutzwertanalyse summiert Nutzen und Schaden der verschiedenen Planungsvarianten und versucht den Nutzen zu maximieren. Damit übertragen sich die Vor- und Nachteile des Utilitarismus auf dieses Planungsinstrument. 4 Diese Darstellung berücksichtigt lediglich die von Bentham vertretene Form des Utilitarismus. Später haben John S. Mill, Henry Sidgwick, John C. Smart, Richard B. Brandt und John C. Harsanyi verschiedene Formen des Utilitarismus ausgearbeitet. <?page no="75"?> 75 8.2 Der Utilitarismus 8.2.2 Vor- und Nachteile des Utilitarismus Einfachheit Der Utilitarismus bietet einfache und schnell nachvollziehbare Lösungen an. Das macht ihn attraktiv für die anwendungsorientierte Ethik. Allerdings kann der Versuch, einen konkreten Fall auf der Basis des Utilitarismus zu lösen, recht aufwändig werden. Man muss für die verschiedenen Planungsvarianten alle Folgen für alle Betroffenen ermitteln und auf einen Nenner bringen, der die Folgen vergleichbar macht. Vergleichbarkeit Am Beispiel der Nutzwertanalyse wurde ein grundsätzliches Problem des Utilitarismus deutlich. Der Utilitarismus muss höchst unterschiedliche Folgen miteinander vergleichen und kann diese auf keinen „gemeinsamen Nenner“ bringen. Wie lässt sich beispielsweise die Sicherheit auf dem Schulweg vergleichen mit der Eignung des für den Schulbau vorgesehenen Grundstücks? Es ist bereits für eine einzelne Person schwierig, unterschiedliche Folgen miteinander zu vergleichen. Eine von allen Betroffenen akzeptierte Vergleichsskala lässt sich nur schwer oder auch gar nicht erreichen. Alltagsintuitionen Der Utilitarismus kann mit unseren alltäglichen Intuitionen im Konflikt stehen. Intuitiv sind wohl die meisten von uns der Überzeugung, dass ein Gutachten eine wahrheitsgetreue Einschätzung geben soll. Der Utilitarismus unterstützt diese Intuition nicht durchgängig, sondern nur dann, wenn die Wahrheit überwiegend gute Folgen hat. Der Konflikt zwischen Utilitarismus und Intuition lässt unterschiedliche Schlüsse zu: Wer von einem ethischen Entwurf erwartet, dass er unsere moralischen Intuitionen erklären kann, wird den Konflikt mit den Intuitionen des Alltags als Mangel des Utilitarismus deuten. Man kann diesen Konflikt aber auch als kritisches Potential gegenüber dem Zeitgeist deuten und loben (Birnbacher 2002, S. 104). Es steht nicht fest, ob der Zeitgeist unrecht oder recht hat. Konflikte des Utilitarismus mit dem Zeitgeist oder mit unseren Intuitionen werden als Anlass betrachtet, um eine bestimmte Position näher zu prüfen. <?page no="76"?> 76 8 Räumliche Planung und Utilitarismus Ungewissheit Wer eine Handlung anhand ihrer Folgen beurteilen will, muss die Folgen kennen. Wir können plausible Vermutungen über die nahe Zukunft anstellen. Gewissheit haben wir nicht. Die ferne Zukunft liegt weitgehend im Dunkeln. Selbst in naturwissenschaftlichen Fragen können wir oft lediglich Wahrscheinlichkeiten, aber keine Gewissheiten angeben. Hinsichtlich des Handelns von Menschen müssen wir meist spekulieren. Welche Folgen die Absenkung des Grundwasserspiegels im Zuge eines Bauvorhabens nach sich zieht, lässt sich einigermaßen zuverlässig abschätzen. Wollen wir vorhersagen, wie gut ein Freizeitpark angenommen wird, bewegen wir uns auf dünnem Eis. Die Ungewissheit über die Folgen bereitet dem Utilitarismus Probleme-- und somit auch allen Planungswerkzeugen, die sich auf ihn stützen. Zukunftsorientierung Als konsequentialistische Ethik hat der Utilitarismus notwendig auch langfristige Folgen im Blick. Dies verträgt sich gut mit dem Nachhaltigkeitsziel. Es geht dem Utilitarismus nicht lediglich um den Nutzen, der für jetzt lebende Generationen anfällt, sondern in gleicher Weise auch um den Nutzen, der für zukünftige Generationen entsteht. Der Flächenverbrauch mag als Beispiel für eine häufig vernachlässigte Folge unserer Planungen dienen. Gerechtigkeit Das entscheidende Kriterium des Utilitarismus ist die Summe des Glücks. Wie das Glück unter den Betroffenen verteilt ist, spielt erst in zweiter Linie eine Rolle. Ein Staudammprojekt zur Energiegewinnung soll das Problem des Utilitarismus mit der Gerechtigkeit illustrieren. Nehmen wir an, dass der Staudamm den Wohlstand in der Region und damit die Summe des Glücks steigert. Nehmen wir weiterhin an, dass für die Verwirklichung des Staudamms ein Dorf umgesiedelt werden muss. Für die Bewohner des Dorfs ist die Glücksbilanz negativ. Sind die positiven Wirkungen für die gesamte Region größer als die Nachteile für das Dorf, so ist der Staudamm aus utilitaristischer Sicht zunächst zu befürworten. Dennoch erscheint es ungerecht, dass Wenige ihr Glück zugunsten der Mehrheit opfern sollen. Gerechtigkeit besitzt im Utilitarismus keinen eigenständigen Wert. Im Unterschied dazu räumen John Rawls’ Überlegungen der <?page no="77"?> 77 8.3 Zusammenfassung Gerechtigkeit eine zentrale Stellung ein. Mit Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit befasst sich das Kapitel 10. Im Utilitarismus kann Gerechtigkeit lediglich auf dem Umweg über die Steigerung des Glücks berücksichtigt werden. Auch das lässt sich an unserem Beispiel zeigen. Wenn durch den Staudamm der Wohlstand in der Region erheblich steigt, wird es keine Schwierigkeiten bereiten, die umgesiedelten Dorfbewohner großzügig zu entschädigen. So wird die Summe des Glücks gesteigert. Auf diesem Umweg kann auch der Utilitarismus die Gerechtigkeit befördern. Es wird aber auch Fälle geben, in denen die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt. Konstruieren wir unser Beispiel folgendermaßen: Für die Dorfbewohner kann der Verlust ihrer Heimat ein so gravierender Schaden sein, dass er sich auch mit einer großzügigen Entschädigung nicht aufwiegen lässt. In diesem Fall würde mit dem Bau des Staudamms das Glück von wenigen geopfert, um das Glück von vielen zu befördern. 8.3 Zusammenfassung Utilitaristische Überlegungen spielen in vielen Planungsentscheidungen eine Rolle. Zum Teil bilden sie die Grundlage von Planungsmethoden, wie wir am Beispiel der Nutzwertanalyse gesehen haben. Der Utilitarismus befürwortet die Handlung, die für möglichst Viele möglichst viel Glück bewirkt. Es ist allerdings nicht einfach, die Folgen einer Handlung abzuschätzen. Die Folgen sind oft unbekannt oder ungewiss und sie lassen sich auch nicht ohne Weiteres vergleichen. Da der Utilitarismus vorrangig die Summe des Glücks und nur in zweiter Linie dessen Verteilung in den Blick nimmt, ist strittig, ob er Gerechtigkeitsfragen adäquat lösen kann. Der Utilitarismus ist zukunftsorientiert und besitzt ein kritisches Potential gegenüber dem Zeitgeist. <?page no="79"?> 79 9.1 Ein Beispiel: Stadtentwicklung mit Baugruppen oder mit Investoren? 9 Räumliche Planung und Markt 9.1 Ein Beispiel: Stadtentwicklung mit Baugruppen oder mit Investoren? Die Stadt Tübingen hatte das ehemalige Gewerbegebiet „Alte Weberei“ gekauft, um es als Wohn- und Gewerbegebiet zu beplanen. In dieser Situation gab es zwei Optionen. Eine Möglichkeit war, das Gelände als Ganzes an einen Investor zu verkaufen, der es nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten entwickelt. Zum anderen gab es die Option, dass die Stadt das Gelände selbst überplant und die Bauplätze zu festen Preisen nach von ihr selbst festgelegten Kriterien vergibt. Im konkreten Fall hat die Stadt den zweiten Weg gewählt und die Bauplätze an Baugruppen vergeben. Der folgende Auszug aus einer Berichtsvorlage gibt die Vergabekriterien wieder. soziale Aspekte (möglichst viele geförderte Wohnungen, Projekte für Menschen, die auf dem Wohnungsmarkt Schwierigkeiten haben und Projekte, in denen junge Familien preiswert bauen können) positive Auswirkungen der Bewerbung auf das gesamte Quartier (Bewerbungen, die mit Gewerbe zur Nutzungsmischung beitragen, soziale Infrastruktur und Projekte, die zu einer Mischung der Altersgruppen beitragen) die „Stimmigkeit“ der Projekte (Projekte, die hinsichtlich Füllungsgrad der Baugruppe, Stabilität der Gruppe und besondere Konzepte in sich stimmig sind) 5 Das Beispiel illustriert zunächst, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, Güter- - in unserem Fall Bauplätze- - zu verteilen. Wir müssen entscheiden, ob und in welchem Umfang eine Verteilung dem Markt überlassen werden soll oder ob auf der Grundlage anderer Kriterien verteilt werden soll. Um diese Entscheidung besser treffen zu können, werfen wir einen Blick auf die Hintergründe der Marktwirtschaft. 5 Quelle: https: / / www.tuebingen.de/ Dateien/ vorlage_13_11_aw_mitteilungen_ueber_vergebene_optionen.pdf (14. 4. 15) <?page no="80"?> 80 9 Räumliche Planung und Markt 9.2 Hintergründe der Marktwirtschaft 9.2.1 Harmonie von Egoismus und Allgemeinwohl Harmonievorstellungen in der Konzeption von Adam Smith Gemäß der verbreiteten Vorstellung konkurrieren auf dem Markt egoistisch motivierte Wettbewerber um die Gunst der Käufer. Zunächst scheint es, als ließe der Markt aufgrund der Konkurrenz keinen Raum für Lösungen im Sinne des Allgemeinwohls. Wie soll dafür Raum bleiben, wenn alle Marktteilnehmer nach ihrem eigenen Vorteil streben? Adam Smith, der Begründer der Volkswirtschaft als Disziplin, hat das Allgemeinwohl aber durchaus zum Ziel. Seine Überlegungen laufen darauf hinaus, dass das egoistische Streben des Einzelnen nicht im Widerspruch zum Allgemeinwohl stehen muss. Das egoistische Streben lässt sich sogar zugunsten des Allgemeinwohls einspannen. Das folgende Zitat illustriert Smiths Vorstellungen: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschensondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil“ (Smith 177/ 2005, S. 17). Anstelle von Eigenliebe verwenden wir heute den Begriff Egoismus. Für Adam Smith ist im Wirtschaftsleben der Egoismus nicht bedenklich. Im Gegenteil: Der Egoismus ist die Quelle für den „Wohlstand der Nationen“-- so der Titel seines bekanntesten Werks. Wir erwarten nicht, dass der Bäcker uns aus Mitgefühl ein Brötchen gibt. Wir erwarten vielmehr, dass der Bäcker an seinen Gewinn denkt und deshalb Brötchen von guter Qualität und zu einem günstigen Preis anbietet und auf diesem Weg viele Kunden anzieht. Sein egoistisches Motiv muss uns nicht beunruhigen, solange sein eigennütziges Handeln zu einem guten Ergebnis führt. Lassen wir nochmals Adam Smith zu Wort kommen. Der Geschäftsmann denkt „eigentlich nur an die eigene Sicherheit und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit fördert, daß ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, Abb. 11: Adam Smith (1723-1790) <?page no="81"?> 81 9.2 Hintergründe der Marktwirtschaft strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.“ (Smith 177/ 2005, S. 371). Die Auffassung, dass egoistisches Handeln im Wirtschaftsleben keineswegs bedenklich, sondern vielmehr dem Allgemeinwohl förderlich ist, prägt auch heute noch in großen Teilen unser Denken über die Wirtschaft. Um die Versöhnung von Egoismus und Allgemeinwohl zu erklären, brauchen wir nicht wie Adam Smith auf die unsichtbare Hand (Gottes) zurückgreifen. Dies zeigt der nächste Abschnitt. Harmonievorstellungen im aktuellen Denken über die Wirtschaft 6 Tabelle 3 illustriert das Gefangenendilemma. Der Name bezieht sich auf die Situation von zwei Gefangenen, die eines gemeinsamen Verbrechens beschuldigt werden. Sie sitzen in getrennten Zellen und können sich nicht absprechen. Der Staatsanwalt bietet jedem von ihnen eine auf ein Jahr verkürzte Haftstrafe an, wenn sie das Verbrechen gestehen und ihren Komplizen dadurch ebenfalls belasten. Der überführte Komplize bekommt in diesem Fall fünf Jahre Haft. Wenn sie beide die Tat gestehen, bekommen beide jeweils eine vierjährige Haftstrafe und wenn sie beide nicht gestehen, werden beide wegen eines geringen Verbrechens zu jeweils zwei Jahren Haft verurteilt. Gefangener B nicht gestehen gestehen Gefangener A nicht gestehen 2 2 1 5 gestehen 5 1 4 4 Tabelle 3: Das Gefangenendilemma am Beispiel von zwei Gefangenen Falls der Gefangene B nicht gesteht, hat A die Wahl zwischen zwei Jahren und einem Jahr Haft. Verhält er sich egoistisch, wird er gestehen, um mit einem Jahr davon-  Diese Darstellung orientiert sich an Homann und Blome-Drees (1992). <?page no="82"?> 82 9 Räumliche Planung und Markt zukommen. Falls B gesteht, hat A die Wahl zwischen fünf und vier Jahren Haft. Ein Egoist wird vier Jahre vorziehen und gestehen. Für B stellt sich die Situation genauso dar. Als Egoist wird auch er gestehen. Damit verfehlen die Gefangenen die für sie als Kollektiv beste Lösung (2 + 2 = 4 Jahre) und die für das Kollektiv schlechteste Lösung (4 + 4 = 8 Jahre) stellt sich ein. In analoger Weise kann das Gefangenendilemma erklären, wie sich das egoistische Streben zweier Konkurrenten am Markt zu ihrem kollektiven Nachteil und zum Wohl der Käufer auswirkt (Tabelle 4). Nehmen wir der Einfachheit halber an, die Produkte von A und B seien von gleicher Qualität. Versetzen wir uns in die Situation des Anbieters A. Er muss sich entscheiden, ob er zu einem hohen oder zu einem niedrigen Preis anbietet. Preisabsprachen sind nicht erlaubt. So muss A seine Entscheidung unabhängig von B treffen und darf sich nicht mit B auf einen hohen Preis verständigen. Für den Fall, dass B zu einem hohen Preis anbietet (linke Spalte), fährt A mit einem niedrigen Preis besser, denn er kann damit rechnen, dass die Kunden bei ihm kaufen werden. Er kann den Absatz steigern und trotz geringem Preis schließlich sogar einen sehr großen Gewinn erwarten. B hingegen wird sein Produkt nicht verkaufen können und muss Verluste befürchten (links unten). Falls B zu einem niedrigen Preis anbietet (rechte Spalte), ist A ebenfalls gut beraten, zu einem niedrigen Preis anzubieten. Würde A nämlich zu einem hohen Preis anbieten, während sein Konkurrent billig anbietet, müsste A mit Verlusten rechnen, während B sehr hohe Gewinne erzielt. Wenn beide niedrige Preise anbieten, teilen sie sich den Markt und beide können einen niedrigen Gewinn erwirtschaften (rechts unten). Für B stellt sich die Situation in gleicher Weise dar, auch er wird billig anbieten. Anbieter B hoher Preis niedriger Preis Anbieter A hoher Preis großer Gewinn großer Gewinn sehr großer Gewinn Verlust niedriger Preis Verlust sehr großer Gewinn niedriger Gewinn niedriger Gewinn Tabelle 4: Anbieter im Gefangenendilemma <?page no="83"?> 83 9.2 Hintergründe der Marktwirtschaft Dieses System, in dem sich die Anbieter gegenseitig unter Druck setzen, führt zu niedrigen Preisen und liegt damit im Interesse der Käufer. Auf den ersten Blick meint man, dass das System einseitig zum Nachteil der Anbieter sei. Wenn wir nun berücksichtigen, dass jeder Anbieter in einer anderen Situation selbst Käufer sein wird, zeigt sich, dass egoistisches Verhalten am Markt den Anbietern und Käufern dient. Homann (1992, S. 2) geht noch einen Schritt weiter und schließt vom Wohl der Anbieter und Konsumenten auf das „Wohl aller Mitglieder der Gesellschaft“. Gemäß dieser Auffassung müssen wir den Egoismus im Wirtschaftsleben nicht fürchten. Es kommt vielmehr darauf an, den Egoismus durch geeignete Regeln des Marktes dem Allgemeinwohl dienstbar zu machen. Doch die Zusammenhänge sind in der Realität nicht so einfach und der Gegensatz zwischen Egoismus und Gemeinwohl lässt sich doch nicht so einfach auflösen wie die Spieltheorie nahelegt. Mehr dazu im folgenden Kapitel. 9.2.2 Diskussion der Harmoniethese Die Konkurrenzsituation kann zumindest in manchen Fällen Eigennutz und Gemeinwohl tatsächlich miteinander versöhnen. Sie nötigt die Anbieter, ihre Mittel effizient einzusetzen und nach innovativen Lösungen zu suchen und auf diesem Weg die zu verteilenden Güter zu vermehren. In unserem Beispiel: Die Bauträger werden die Grundstücke möglichst optimal ausnützen, um möglichst günstige, qualitätsvolle und der Nachfrage entsprechende Wohnungen anzubieten. Schauen wir uns an, was tatsächlich gebaut wird, müssen wir zugestehen, dass der Markt keineswegs durchgängig günstige und qualitätsvolle Bebauungen hervorbringt. Gerade hier kommt die Qualität oft zu kurz. Mit Preisen ausgezeichnet werden meist Planungen, die aus Architektur- oder Stadtplanungswettbewerben resultieren. Sehr selten erreichen die Planungen der Investoren so hohe Qualität. Offenbar kann die Harmoniethese die Realität nur in Teilen richtig erfassen. Wo sind ihre Mängel? <?page no="84"?> 84 9 Räumliche Planung und Markt Positive externe Effekte Ein positiver externer Effekt liegt vor, wenn ein Außenstehender einen Nutzen erhält, für den er nicht bezahlen muss. Dies lässt sich am Beispiel des Denkmalschutzes illustrieren: Ein Investor, der denkmalgerecht saniert, kann nicht notwendig damit rechnen, dass die Käufer den Zusatzaufwand in vollem Umfang honorieren. Wenn er dennoch denkmalgerecht saniert, profitiert die Allgemeinheit, ohne dafür zu bezahlen. Ein Investor, der seine Entscheidungen allein an seinen Gewinnerwartungen orientiert, wird in der Regel mit Abriss und Neubau besser fahren als mit einer aufwändigen Altbausanierung. So kann der Markt dem Denkmalschutz nur unzureichend gerecht werden. Auch der Käufer, der einen höheren Preis für eine denkmalgerechte Altbausanierung bezahlt, erbringt positive externe Effekte für die Allgemeinheit. Er hat den Vorteil, in einem attraktiven historischen Gebäude zu leben. Zugleich finanziert er für die Allgemeinheit den Erhalt dieses Gebäudes und wird nur in Teilen entschädigt. In der Folge sind viele Käufer nicht bereit, die höheren Kosten für eine denkmalgerechte Sanierung zu tragen. Negative externe Effekte Ein negativer externer Effekt liegt vor, wenn ein Außenstehender einen Schaden aufgebürdet bekommt, dafür aber nicht entschädigt wird. Umweltbelastungen können als Beispiel für negative externe Effekte dienen. Nehmen wir eine Bebauung, die den Grundwasserspiegel absenkt. In der Folge gehen Feuchtgebiete und Biotope verloren. Solange der Investor für den Schaden an den Feuchtgebieten nicht oder nur in Teilen aufkommen muss, hat er kein egoistisches Motiv, um das Biotop zu schützen. Auch hier lenkt der Markt den Egoismus keineswegs zugunsten des Allgemeinwohls. Ein großer Teil der Umweltprobleme lässt sich als negative externe Effekte zu Lasten zukünftiger Generationen erklären. Da zukünftige Generationen ihre Interessen am gegenwärtigen Markt nicht geltend machen können, bleiben sie häufig unberücksichtigt. <?page no="85"?> 85 9.2 Hintergründe der Marktwirtschaft Können bessere Regeln des Marktes das Problem vollständig lösen? Angesichts von externen Effekten ist es naheliegend und sinnvoll, die Regeln des Marktes so zu ändern, dass die Urheber negativer externer Effekte die verursachten Kosten tragen müssen und die Nutznießer positiver externer Effekte für die Leistungen, die sie in Anspruch nehmen, bezahlen müssen. Solche Regeln schränken lediglich die Freiheit derer ein, die für die Folgen Ihres Handelns nicht aufkommen wollen. Sie vergrößern die Freiheit derer, die einen Beitrag zum Allgemeinwohl leisten wollen, ohne gesetzliche Regelung aber fürchten müssten, von der Konkurrenz ausgenutzt zu werden. Allerdings kann es nur unzureichend gelingen, alle externen Effekte mit Gesetzen zu regeln. Gesetze hinken den neu entstandenen Problemen immer hinterher. Darüber hinaus wird es kaum möglich sein, für jeden positiven oder negativen externen Effekt ein Gesetz zu erlassen. Es bleiben Regelungslücken, in denen das Gewinnstreben der Marktteilnehmer zu Lasten des Allgemeinwohls geht. Immer, wenn Gewinnstreben und Allgemeinwohl im Gegensatz zueinander stehen, stellt sich die Frage, wie sich ein Unternehmen verhalten soll. Übernimmt ein Unternehmen Mehrkosten, um negative externe Effekte zu vermeiden, während seine Konkurrenten dies nicht tun, so hat das Unternehmen Nachteile am Markt und Gewinneinbußen. Orientiert sich ein Unternehmen ausschließlich am Gewinn und verursacht negative externe Effekte, so setzt es die Konkurrenz durch seine niedrigen Preise unter Druck, sich gleichermaßen zu verhalten. In der Folge wird der Schaden für das Allgemeinwohl immer größer. Es scheint als hätten die Unternehmer lediglich zwei Optionen. Zum einen können sie moralisch begründete Rücksicht auf das Allgemeinwohl nehmen, die allerdings Kosten verursacht und im schlimmsten Fall zum ökonomischen Ruin führt. Zum anderen können sie ohne Rücksicht auf das Allgemeinwohl nach Gewinn streben. Tatsächlich aber gibt es eine große Bandbreite zwischen diesen beiden Extremen. Man kann von einem Unternehmer nicht erwarten, dass er sich ökonomisch ruiniert, aber man kann mehr erwarten als reines Gewinnstreben. 7 In einem angemessenen Umfang kann von einem Unternehmer verlangt werden, dass er zugunsten des Gemeinwohls Abstriche an der ausschließlichen Gewinnorientierung vornimmt. Damit entsteht Spielraum 7 Siehe hierzu Ulrich (2008), Kapitel 4.3 (3). <?page no="86"?> 86 9 Räumliche Planung und Markt für die anderen Unternehmen, ebenfalls von der reinen Gewinnorientierung abzurücken und dem Allgemeinwohl Raum zu geben. Die Realität sieht allerdings allzu häufig anders aus: Unternehmen orientieren sich nur dann am Allgemeinwohl, wenn es sich mit ihrem Gewinnstreben vereinbaren lässt. Nur eingeschränkt können wir damit rechnen, dass das Gewinnstreben der Marktteilnehmer dem Wohl der Allgemeinheit dient. 9.2.3 Das Pareto-Kriterium 8 Externe Effekte können erklären, warum sich häufig keine Harmonie zwischen Gewinnstreben und Allgemeinwohl einstellt: Der Verursacher muss für die negativen Wirkungen seines Handelns nicht aufkommen oder er wird für die positiven Wirkungen seines Handelns nicht honoriert. Heißt das nun, dass der Markt ohne externe Effekte harmonisch perfekt wäre? Wir stellen uns ein freiwilliges Geschäft zwischen zwei Vertragspartnern vor, das keine externen Effekte hat. Greifen wir nochmals das Eingangsbeispiel auf. Nehmen wir an, dass nicht die Kriterien soziale Aspekte, positive Auswirkungen der Bewerbung [um einen Bauplatz] auf das gesamte Quartier und „Stimmigkeit“ der Projekte darüber entscheiden, wer einen Bauplatz bekommt. Nehmen wir an, dass Käufer und Verkäufer es mittels der Preisgestaltung selbst in der Hand haben, welche Geschäfte zustande kommen und welche nicht. Unterstellen wir für diese Diskussion, es gäbe keine externen Effekte, bzw. sie seien ausgeglichen. Die Befürworter eines „freien Marktes“ betonen nun folgenden Aspekt: Die Teilnehmer sind in ihren Entscheidungen frei und werden nicht bevormundet. Ein Bauplatz wird nur dann verkauft werden, wenn Käufer und Verkäufer dem Geschäft freiwillig zustimmen. Damit sei gewährleistet, dass das Geschäft tatsächlich im Interesse der Geschäftspartner liege. Wäre dies nicht der Fall, würden sie keinen Vertrag eingehen. Die Grundlage für diese Auffassung, fasst das sogenannte Pareto-Kriterium 9 (auch: Pareto-Optimalität) zusammen. Der Name verweist auf den italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto (1848-1923). Das Kriterium besagt, ein Geschäft sei dann gerechtfertigt, wenn die beiden Geschäftspartner das Geschäft freiwillig abschließen: 8 Die Kapitel 9.2.3 und 9.2.4 orientieren sich an Ulrich (2008, Kapitel 5.3. (2)). 9 Nicht gemeint ist hier die 80-zu-20-Regel. <?page no="87"?> 87 9.2 Hintergründe der Marktwirtschaft „Als kollektive (volkswirtschaftliche) Wohlfahrtsverbesserungen sollen gemäß dem Pareto-Kriterium nur noch jene sozialen Veränderungen anerkannt werden, durch die sich die (subjektiv beurteilte) Lage von mindestens einem Individuum verbessert, ohne dass sich dadurch die Lage irgend eines anderen Individuums verschlechtert“ (Ulrich 2008, S. 203). Sobald also einer der Geschäftspartner der Ansicht ist, dass er sich schlechter stellt, kann er ein Veto gegen das Geschäft einlegen. Für zwei Personen lassen sich die Verhältnisse wie folgt darstellen: Wohlfahrtsgewinne von B Wohlfahrtsgewinne von A Status quo erlaubte Veränderung Wohlfahrtsverluste von A Wohlfahrtsverluste von B Abb. 12: Die Koordinaten des Pareto-Kriteriums Die Ausgangssituation (Status quo) befindet sich im Schnittpunkt der beiden Achsen. Bewegt man sich auf der x-Achse nach rechts, so symbolisiert dies einen Wohlfahrtsgewinn für A bei gleichbleibender Wohlfahrt von B. Bewegt man sich auf der y-Achse nach oben, so symbolisiert dies eine Wohlfahrtsverbesserung für B bei gleichbleibender Wohlfahrt von A. Das Pareto-Kriterium erlaubt alle Veränderungen nach rechts und nach oben. Nicht erlaubt sind Veränderungen nach links und nach unten, denn dies ginge zu Lasten von A oder B. Zumindest prima facie überzeugt das Pareto-Kriterium, denn es übt keinen Zwang aus und fügt niemandem Schaden zu. <?page no="88"?> 88 9 Räumliche Planung und Markt 9.2.4 Kritik am Pareto-Kriterium Das Pareto-Kriterium erscheint liberal. Indem es nur Veränderungen gestattet, denen beide Vertragspartner freiwillig zustimmen, kann niemand gegen seinen Willen zu etwas gezwungen werden. Ein Geschäft, bei dem man sich schlechter stellt, muss man nicht eingehen. Aber selbst wenn die Vertragspartner ein Geschäft freiwillig abschließen, lassen sich Einwände vorbringen. Wenn die Ausgangsituation beider Vertragspartner verschieden ist, kann von Freiwilligkeit nur bedingt die Rede sein. Wer über Alternativen und genügend Mittel verfügt, kauft oder verkauft ein Grundstück nur dann, wenn er das tatsächlich will. Wer jedoch keine Alternativen und nur geringe Mittel besitzt, sieht sich genötigt, ein Grundstück auch zu schlechten Bedingungen zu erwerben oder zu veräußern. Auf der Grundlage des Pareto-Kriteriums ist auch ein sehr ungleiches Geschäft zu rechtfertigen. Das Pareto-Kriterium nimmt die Ausgangslage als gegeben und nicht kritisierbar hin. Es unterstellt auch bei sehr ungleichen Ausgangsbedingungen Freiwilligkeit, selbst wenn eine der Parteien durch ungünstige Umstände zu dem Geschäft genötigt wird. Jedoch lässt sich auf ein freiwilliges Geschäft nur dann schließen, wenn die Ausganslage der Vertragspartner vergleichbar ist. Wenn allerdings die Ausgangsbedingungen der Vertragspartner sehr unterschiedlich sind, ist das Geschäft nicht wirklich freiwillig. Es ist Zufall, ob die Ausgangslage der Vertragspartner vergleichbar oder sehr unterschiedlich ist. Ob man Land erbt oder nicht, ist Zufall, nicht Verdienst. Über welches Einkommen jemand verfügt, hängt oft nicht allein vom Engagement, sondern auch vom Zufall ab. Es kann durchaus gerechtfertigt sein, solche Ungleichheiten zu mildern. Gerade auf dem Wohnungsmarkt haben Menschen mit geringem Einkommen nur schlechte Chancen und so gibt es gute Gründe, hier nicht ausschließlich den Harmonieversprechen der Marktlösungen zu vertrauen. Auf der Grundlage des Pareto-Kriterium ist das allerdings nicht gegen den Willen der Bessergestellten möglich. 9.3 Zusammenfassung Kapitel 9 untersuchte, ob in der Wirtschaft das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage in der Lage ist, Egoismus und Allgemeinwohl zu versöhnen. Für diese Annahme spricht, dass die Teilnehmer des Marktes sich unter den <?page no="89"?> 89 9.3 Zusammenfassung Bedingungen der Konkurrenz gegenseitig zu Effizienz und Innovation nötigen. Das vermindert Knappheiten und verringert somit Verteilungsprobleme. Externe Effekte liefern Argumente für Einschränkungen und Regulierungen des Marktes. Das Pareto-Kriterium versucht die Ergebnisse des Marktgeschehens zu rechtfertigen, indem es darauf hinweist, dass die Teilnehmer am Markt ihre Geschäfte freiwillig abschließen. Freiwilligkeit herrscht jedoch nur dann, wenn die Vertragspartner vergleichbare Ausgangsbedingungen haben. Ist dies nicht der Fall, kann das Pareto-Kriterium nicht als Rechtfertigung für Problemlösungen durch einen weitgehend unregulierten Markt dienen. <?page no="91"?> 91 10.1 Ein Beispiel: Verteilung von Nutzen und Lasten bei der Einrichtung eines Nationalparks 10 Räumliche Planung und Gerechtigkeit: das Differenzprinzip 10.1 Ein Beispiel: Verteilung von Nutzen und Lasten bei der Einrichtung eines Nationalparks Im freien Markt sind Nutzen und Lasten bzw. Vor- und Nachteile nicht gerecht verteilt. Die vorangegangenen Kapitel zeigten, dass der Utilitarismus und auch das Pareto-Kriterium keine ausreichenden Argumente für eine gerechte Verteilung liefern. Dieses Kapitel erläutert am Beispiel des Nationalparks Nordschwarzwald das von John Rawls entwickelte Differenzprinzip. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Auseinandersetzung um die Einrichtung des Nationalparks Nordschwarzwald. Der Nationalpark soll dem Artenschutz dienen, indem er möglichst viele Arten für zukünftige Generationen bewahrt. Ein Teil der Bevölkerung des Nordschwarzwalds empfand den Nationalpark als Bereicherung, ein anderer Teil jedoch als Bürde. In dem Verein „Unser Nordschwarzwald e. V.“ haben sich die Gegner des Nationalparks zusammengefunden. Viele ihrer Bedenken spiegeln sich in einem Gutachten von Tzschupke (2013). Beispielsweise klagen sie über Nachteile für die regionale Holzwirtschaft, Einschränkungen des Betretungsrechts sowie Einschränkungen beim Sammeln von Beeren und Brennholz. Die hier skizzierte Problemlage findet sich häufig bei Infrastrukturprojekten. Ein Flughafen wird von großen Teilen der Bevölkerung gerne angenommen, aber die Anwohner leiden unter dem Fluglärm. Eine Stromtrasse dient der Stabilisierung des Stromnetzes, jedoch beklagen die Anlieger den Eingriff in das Landschaftsbild. Windkraftanalgen vermeiden in unser aller Interesse die Nachteile der fossilen Energieträger, für die Anwohner können sie eine Belastung sein. Weitere Beispiele sind Straßen, Bahnlinien, Pumpspeicherkraftwerke und Müllverbrennungsanlagen. Immer gibt es aus der Sicht der Allgemeinheit gute Gründe für solche Projekte, aber für die Anwohner ergeben sich ernstzunehmende Nachteile. Darf man die Einwände der betroffenen Anwohner zugunsten des Allgemeinwohls zurückstellen? Der Utilitarismus vernachlässigt die Nachteile für Einzelne, wenn die Summe der Folgen positiv ist. Das ist aus Gründen der Gerechtigkeit nicht befriedigend. Das Pareto-Kriterium lässt Projekte scheitern, wenn Einzelne ein Veto einlegen. So könnten fast keine <?page no="92"?> 92 10 Räumliche Planung und Gerechtigkeit: das Differenzprinzip Infrastrukturprojekte zum Wohl der Allgemeinheit realisiert werden. Das folgende Kapitel stellt John Rawls’ Lösung dieses Konflikts vor. 10.2 Das Differenzprinzip In Kapitel 7.1.5 lernten wir Rawls’ Gedankenexperiment kennen: Welche Vereinbarungen würden wir in einem fiktiven Urzustand treffen, wenn wir nicht wüssten, welche Position wir im tatsächlichen Leben einnehmen? Rawls legt dar, dass wir uns hinsichtlich sozio-ökonomischer Verteilungsfragen auf das sogenannte Differenzprinzip verständigen würden. Dieses Prinzip ist auch für die Verteilung von Nutzen und Lasten bei der Ausweisung eines Nationalparks einschlägig. Das Differenzprinzip lautet: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen“ (Rawls 1979, S. 33). Unter bestimmten Bedingungen lässt das Differenzprinzip Ungleichverteilungen zu. Eine Bedingung formuliert der gerechte Spargrundsatz, auf den wir unten zu sprechen kommen. Rawls nimmt an, dass die Menschen lieber mehr als weniger gesellschaftliche Grundgüter haben möchten. Sie sind vorrangig an ihrem eigenen Wohlergehen interessiert. Warum sollten sie sich dann auf Ungleichverteilungen einlassen? Da sie nicht wissen, ob sie einmal zu den weniger Begünstigten gehören, müssen sie ja befürchten, das „kürzere Hölzchen“ zu ziehen. Rawls nimmt auch an, dass die Menschen risikoscheu sind. Sie würden auf Nummer sicher gehen. Was also könnte dafür sprechen, dass die Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens sich dennoch auf Ungleichverteilungen einlassen? Auf den ersten Blick möchte man annehmen, dass die am wenigsten Begünstigten bei einer Ungleichverteilung notwendig schlechter abschneiden als bei der Gleichverteilung. Das stimmt immer dann, wenn die Größe des „Kuchens“ unveränderlich ist. Dann werden, sobald sich einer ein größeres Stück abschneidet, die übrigen Stücke kleiner. Wenn es aber Möglichkeiten gibt, den Kuchen zu vergrößern, kann ein kleineres Stück vom größeren Kuchen größer <?page no="93"?> 93 10.2 Das Differenzprinzip sein als ein Stück vom kleinen Kuchen, der in gleich große Stücke geteilt wurde. Abb. 13: Ein kleineres Stück vom größeren Kuchen kann größer sein als ein Stück vom kleinen Kuchen, der in gleich große Stücke geteilt wurde. Wenn ich bei einer Ungleichverteilung zu den am wenigsten Begünstigten gehöre, aber dennoch mehr bekomme als bei der Gleichverteilung, dann ist das ein guter Grund, eine Ungleichverteilung zu befürworten. Wenn Gleichverteilung dazu führt, dass der Kuchen gleich bleibt, Ungleichverteilung aber dazu führt, dass der Kuchen wächst, kann es auch aus Eigennutz gute Gründe geben, für die Ungleichverteilung zu plädieren. Das gilt auch dann, wenn man nicht weiß, ob man ein großes oder ein kleines Stück vom vergrößerten Kuchen bekommen wird. Dieser Gedanke steckt hinter Rawls’ Differenzprinzip: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind gerechtfertigt, wenn sie den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen. Der gerechte Spargrundsatz schränkt das Differenzprinzip ein. Er lautet: „Jede Generation empfängt ihren gerechten Teil von ihren Vorfahren und erfüllt ihrerseits die gerechten Ansprüche ihrer Nachfahren“ (Rawls 1979, S. 322). Ein anderer Begriff hierfür wäre intergenerationelle Gerechtigkeit. Wir dürfen nicht auf Kosten zukünftiger Generationen leben, wir müssen aber auch nicht darben, um zukünftigen Menschen ein Leben in Überfluss zu ermöglichen. Der gerechte Spargrundsatz ist gerade im Hinblick auf einen Nationalpark von Bedeutung. Ein Nationalpark dient dem Artenschutz. Er soll dazu beitragen, dass zukünftige Menschen in einer ähnlich wertvollen Umwelt leben können wie die <?page no="94"?> 94 10 Räumliche Planung und Gerechtigkeit: das Differenzprinzip heute lebenden Menschen. Gemäß dem gerechten Spargrundsatz scheiden alle Lösungen aus, die einseitig zu Lasten zukünftiger Menschen gehen. D. h. der Verzicht auf Artenschutz ist somit kein zulässiger Weg. 10.2.1 Was bedeutet Gleichverteilung in Fragen des Artenschutzes? Kommen wir zurück zur intragenerationellen Gerechtigkeit. Rawls hat eine abstrakte Theorie formuliert, die sich nicht zu so konkreten Fragen wie Nutzen und Lasten des Artenschutzes äußert. Die folgenden Ausführungen interpretieren Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit hinsichtlich Fragen des Artenschutzes. Um Ungleichverteilungen bezüglich des Artenschutzes diskutieren zu können, müssen wir zunächst klären, was mit Gleichverteilung gemeint ist. Das Gleichheitsprinzip besagt, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich beurteilt werden soll. Dieses abstrakte Prinzip müssen wir nun auf den Artenschutz beziehen. Die entscheidende Frage lautet: Gleichverteilung oder Ungleichverteilung in welcher Hinsicht? Eine Möglichkeit ist das Pro-Kopf-Prinzip: Jede Person übernimmt die gleichen Lasten für den Artenschutz. Das wäre eine plausible Antwort, wenn jede Person die Natur in gleicher Weise beanspruchte. Wenn aber manche Personen die Natur in höherem Maß beanspruchen als andere, ist das Pro-Kopf-Prinzip ungerecht. Weitestgehend anerkannt-- wenn auch nicht umgesetzt-- ist die Gleichverteilung entlang des Verursacherprinzips. Wer in hohem Maß den Bestand der Arten gefährdet, soll in hohem Maß an den Lasten des Artenschutzes beteiligt werden. Wer nur in geringem Maß die Arten gefährdet, muss nur in geringem Maß die Lasten übernehmen. 10.2.2 Wie verteilt das Differenzprinzip die Lasten des Artenschutzes? Das Differenzprinzip rechtfertigt Ungleichverteilungen dann, wenn sie den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen. Wenn Ungleichverteilungen dies nicht leisten, dann bleibt es bei der Gleichverteilung, so wie sie das Verursacherprinzip vorsieht: Die zu tragenden Lasten richten sich nach dem verursachten Schaden. Damit wir nicht über alle Ursachen des Artenrückgangs sprechen müssen, wählen wir den Straßenbau als Beispiel für eine Ursache des Artenrückgangs. Durch Flächenversiegelung und die Zerschneidung von Biotopen ist der Straßenbau eine der Ursachen für den Rückgang der Arten. Als Beispiel für eine Maßnahme zum <?page no="95"?> 95 10.2 Das Differenzprinzip Artenschutz wählen wir den geplanten Nationalpark Nordschwarzwald. Für die Diskussion unseres Beispiels setzen wir voraus, dass die Bewohner des Nordschwarzwalds den gleichen Anteil am Autoverkehr und damit die gleiche Verantwortung für den Straßenbau und den damit verbundenen Artenrückgang haben wie die übrige Bevölkerung. Wie eingangs dargelegt, empfindet der Verein „Unser Nordschwarzwald“ den Nationalpark als Last. Damit haben wir eine Ungleichverteilung, die der Rechtfertigung bedarf. Die Mitglieder haben den gleichen Anteil an den Ursachen des Artenrückgangs wie alle anderen, möchten jedoch nicht in höherem Maß für die Lasten des Artenschutzes aufkommen müssen. Wie lautet die Antwort des Differenzprinzips? Eine Ungleichverteilung lässt sich dann rechtfertigen, wenn sie den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringt. Bringt die Ungleichheit den Nordschwarzwäldern Vorteile oder würden sie sich bei einer Gleichverteilung besser stellen? Eine Gleichverteilung der Lasten könnte versucht werden, indem viele kleine Naturschutzgebiete über das Land verteilt werden, sodass Nutzungseinschränkungen einigermaßen gleichmäßig auf die Bevölkerung verteilt sind. Das genügt aber für einen wirksamen Artenschutz nicht. Viele kleine Naturschutzgebiete können einen Nationalpark nicht ersetzen. Es kommt ja gerade darauf an, große unzerschnittene Gebiete zu erhalten. Eine andere Lösung bestünde darin, die Ursachen des Artenrückgangs anzugehen, sodass es nicht nötig wird, einen Teil der Bevölkerung überproportional mit Nutzungseinschränkungen im Nationalpark zu belasten. Hinsichtlich des Straßennetzes würde dies einen Verzicht auf weiteren Straßenbau oder einen Rückbau von Straßen erfordern. Auch dies hat Einschränkungen zur Folge. Sie lassen sich aber einigermaßen gleich verteilen. Die entscheidende Frage des Differenzprinzips lautet: Welche Lösung bringt den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil? Stellen sich die Anwohner des geplanten Nationalparks besser, wenn es keinen Nationalpark gibt, dafür aber einen gleichmäßig verteilten Rückbau des Straßennetzes? Oder stellen sie sich besser, wenn sie überproportionale Lasten des Artenschutzes tragen, dafür aber von den Vorteilen eines dichten Straßennetzes profitieren? Wenn die Vorteile des dichten Straßennetzes größer sind als die überproportionalen Lasten durch die Nutzungseinschränkung des Nationalparks, dann <?page no="96"?> 96 10 Räumliche Planung und Gerechtigkeit: das Differenzprinzip sind die überproportionalen Lasten durch das Differenzprinzip gerechtfertigt. Die aus der Perspektive gegenwärtiger Generationen angenehmste Lösung wäre: Straßenbau und keine Einschränkungen durch den Artenschutz. Diesen Weg schließt der gerechte Spargrundsatz aus, denn er ginge zu Lasten zukünftiger Generationen. 10.2.3 Ungerecht, durchweg gerecht und vollkommen gerecht Das Differenzprinzip ist anspruchsvoll. Es verlangt nicht nur einen Vorteil, sondern den größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten Begünstigten. Rawls unterscheidet drei Fälle bei der Anwendung des Differenzprinzips (Rawls 1979, S. 99). Der Fall „ungerecht“ widerspricht dem Differenzprinzip. Der Fall „durchweg gerecht“ erfüllt das Differenzprinzip zum Teil, aber noch nicht in Gänze. Und der Fall „vollkommen gerecht“ erfüllt die Anforderungen des Differenzprinzips vollständig. Ungerecht Die Verteilung von Nutzen und Lasten kann ungerecht sein. Das ist dann der Fall, wenn die Nutznießer der Ungleichverteilung unangemessen bevorzugt werden. In diesem Fall würde eine Schlechterstellung der Nutznießer die Situation der am wenigsten Begünstigten verbessern. Konstruieren wir ein Beispiel: Ein Land entwickelt seine Infrastruktur und verursacht dabei umfangreiche Schäden an der Natur. Um den Artenschutz dennoch aufrecht zu erhalten, müssen große Flächen unter Naturschutz gestellt werden. Dafür wird es notwendig, Teile der Bevölkerung umzusiedeln. Hier sind die Nachteile für die schlechter Gestellten, in diesem Beispiel die Umzusiedelnden, so groß, dass sie durch die verbesserte Infrastruktur nicht aufgewogen werden. Die Vorteile derer, die die Natur schädigen, für die Ausgleichsmaßnahmen aber nicht aufkommen müssen, sind in diesem Fall unangemessen. Um die Ungerechtigkeit zu beheben, müssen die Eingriffe in die Natur reduziert werden, sodass keine so umfangreichen Ausgleichsmaßnahmen 10 mit drastischen Nachteilen für Teile der Bevölkerung mehr nötig sind. 10 Der Begriff Ausgleichsmaßnahmen wird hier nicht im engen Sinne des § 15 Bundesnaturschutzgesetz verstanden. <?page no="97"?> 97 10.2 Das Differenzprinzip Durchweg gerecht Im Fall von „durchweg gerecht“ trägt die Ungleichverteilung zum Wohl der Benachteiligten bei. Das Maximum an Vorteilen für die Benachteiligten ist aber noch nicht erreicht. Eine als „durchweg gerecht“ zu bezeichnende Situation könnte wie folgt aussehen: Es gibt noch sehr wenig (Arten gefährdende) Infrastruktur. Das Straßennetz ist noch wenig ausgebaut. In dieser Situation könnte die Situation der am wenigsten Begünstigten verbessert werden, indem die Infrastruktur ausgebaut wird. Im Beispiel: Die Nordschwarzwälder haben schon einige überproportionale Lasten des Artenschutzes zu tragen, gleichzeitig würden sie sich mit einem dichteren Straßennetz besser stellen. Aufgrund des gerechten Spargrundsatzes würde mehr Straßenbau zugleich mehr Ausgleichsmaßnahmen zugunsten des Artenschutzes in Form eines Nationalparks erfordern. Das verursacht zusätzliche Lasten für die Menschen im Nordschwarzwald. Wenn für sie die Lasten des zusätzlichen Artenschutzes geringer sind als die Vorteile des Straßenbaus, empfiehlt das Differenzprinzip den Ausbau der Straßen und die Einrichtung des Nationalparks. Die Situation der am wenigsten Begünstigten verbessert sich hierdurch. Vollkommen gerecht Anzustreben ist eine vollkommen gerechte Verteilung. Sie ist erreicht, wenn die guten Aussichten der am wenigsten Begünstigten maximiert sind. In dieser Situation kann eine Veränderung der Aussichten der Bevorzugten die Lage der am schlechtesten Gestellten nicht verbessern: Würde man den Bevorzugten etwas wegnehmen, brächte dies Nachteile für die am schlechtesten Gestellten. Würde man den Bevorzugten etwas geben, brächte dies ebenfalls Nachteile für am schlechtesten Gestellten. In unserem Beispiel bedeutet dies: Ein Ausbau des Straßennetzes würde die Situation derjenigen, die Einschränkungen aufgrund des Artenschutzes hinnehmen müssen, verschlechtern. Es würden Ausgleichsmaßnahmen mit erheblichen Nachteilen für einzelne Bevölkerungsgruppen notwendig. Ein Rückbau des Straßennetzes, der weniger Ausgleichsmaßnahmen erfordert, würde die Situation der Benachteiligten jedoch ebenfalls verschlechtern, weil dann die Vorteile des besseren Straßennetzes deutlich geringer ausfielen. Damit würden die Benachteiligten ebenfalls schlechter <?page no="98"?> 98 10 Räumliche Planung und Gerechtigkeit: das Differenzprinzip gestellt. Hier ist das Optimum für die Benachteiligten erreicht. Keine weitere Veränderung kann die Lage der am wenigsten Begünstigten verbessern. 10.3 Zusammenfassung Vermutlich hat John Rawls den Schwarzwald nie besucht. Gleichwohl kann seine Theorie der Gerechtigkeit Hinweise für eine gerechte Verteilung von Nutzen und Lasten bei der Einrichtung eines Nationalparks geben. Sie kann sogar Ungleichverteilungen begründen. Diese sind dann zulässig, wenn sie den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Nutzen bringen. Für das Beispiel des Nationalparks im Nordschwarzwald ergibt sich hieraus: Ungleiche Verteilungen von Vorteilen durch Infrastrukturprojekte (z. B. Straßenbau) und Nachteile durch Ausgleichsmaßnahmen zugunsten des Naturschutzes (z. B. Nationalpark) können gerechtfertigt werden, wenn sie die folgende Bedingung erfüllen: Die Vorteile der Infrastrukturmaßnahmen müssen die Nachteile der Ausgleichsmaßnahmen auch für diejenigen übertreffen, die einen größeren Anteil der Nachteile tragen müssen. <?page no="99"?> 99 11.1 Falsche Expertisen: Sagen was man denkt oder Wirkung erzielen? 11 Räumliche Planung zwischen Strategie und Deliberation 11.1 Falsche Expertisen: Sagen was man denkt oder Wirkung erzielen? Immer wieder stehen Planer vor der Frage, ob sie die Nachteile einer Planung beschönigen oder verschleiern sollten. Ebenso lassen sich die Vorteile übertreiben, um Bedenken gegen das eigene Projekt zu zerstreuen. Wer strategisch mit der Wahrheit umgeht, bleibt nur dann bei der Wahrheit, wenn es seinen Zielen nützt. Wer hingegen in der Beratschlagung (Deliberation) mit anderen die beste Lösung sucht, darf seine Gesprächspartner nicht täuschen. Nur so kann es eine Beratschlagung geben, die den Namen verdient und nicht doch eine strategische Auseinandersetzung ist. Schauen wir uns als Beispiel die Kostenschätzungen für den neuen Stuttgarter Bahnhof an. Im Jahr 2008 kalkulierte die Deutsche Bahn AG die Kosten des Umbaus auf 2,8 Mrd. € . Im Jahr 2009 erhöhte sie den Ansatz auf 4,5 Mrd. € und im Jahr 2015 genehmigte der Aufsichtsrat der Bahn einen Kostenrahmen von 6,5 Mrd. € . Ein von den Kritikern des Projekts in Auftrag gegebenes Gutachten aus dem Jahr 2015 prognostiziert die Kosten mit 9,8 Mrd. € . Die Bahn weist diese Prognose als unhaltbare Spekulation zurück (Milankovic 2015). Zu denken gibt, dass die ersten Kostenschätzungen der Bahn ganz offensichtlich falsch waren. Falsche Kostenschätzungen sind kein Einzelfall, sondern ein systematisches Phänomen. Flyvbjerg und Mitarbeiter haben Kostenschätzungen für öffentliche Bauprojekte untersucht und kommen zu folgendem statistisch signifikanten Ergebnis. Zitat Flyberg et al (2003): ▶ In neun von zehn Verkehrsinfrastrukturprojekten werden die Kosten unterschätzt. Bei Bahnprojekten liegen die tatsächlichen Kosten durchschnittlich 45 % über den anfänglichen Kalkulationen (sd=38).-[…] ▶ Im Durchschnitt aller Projekte liegen die tatsächlichen Kosten um 28 % über den Schätzungen (sd=39).-[…] ▶ Die Unterschätzung von Kosten hat in den letzten 70 Jahren nicht abgenommen. Es scheint kein Lernprozess stattzufinden, in dem die Prognosen präziser werden. <?page no="100"?> 100 11 Räumliche Planung zwischen Strategie und Deliberation ▶ Die Fehlkalkulationen können nicht durch Fehler erklärt werden, sondern sind am ehesten auf strategische Verfälschungen, also Lügen, zurückzuführen. ▶ Verkehrsinfrastrukturprojekte scheinen nicht anfälliger für Kostenunterschätzungen zu sein als andere Großprojekte. Nicht nur im Hinblick auf die Kosten, sondern auch im Hinblick auf andere Auswirkungen einer Planung stellt sich die Frage, ob Planer sagen sollen, was sie denken und wissen oder ob sie versuchen sollen, die von ihnen selbst oder von ihren Auftraggebern gewünschte Wirkung zu erzielen. Je nachdem kann ein Planer aus strategischem Kalkül die Auswirkungen eines Projekts dramatisieren oder verharmlosen, um die gewünschte Entscheidung zu befördern. Unter „Strategie“ sei folgendes verstanden: Die kommunikativen Mittel werden so gewählt, dass sie vermutlich zu einem bereits feststehenden Ziel führen. Wollen wir beispielsweise den CO 2 -Ausstoß senken, werben wir mit den Argumenten, die am meisten „ziehen“. PR -Berater empfehlen, auf moralische Argumente zu verzichten. Eigennutz hingegen sei ein zugkräftiges Argument (Bernays 2013, S. 57). Also setzt die strategische Kommunikation auf Broschüren, die den Leuten erklärt, dass Windkraft den Geldbeutel schont. Bei der strategischen Kommunikation steht das angestrebte Ziel bereits fest. Der Gegensatz hierzu ist die deliberative Kommunikation. In ihr kann man auch über die Berechtigung der Ziele sprechen. Deliberation bedeutet, über die Gründe für oder gegen eine Entscheidung zu argumentieren. Erst danach wird auf der Grundlage der Argumente entschieden (Velasco 2010). Ein deliberatives Kommunikationskonzept will auch den Gegnern der eigenen Auffassung eine Stimme geben und im Gespräch die beste Lösung finden. Die Lösung kann also noch nicht feststehen. Selbstverständlich besitzen die Gesprächsteilnehmer oft feste Überzeugungen. Aber wenn die eigene Überzeugung ohnehin unabänderlich wäre, gäbe es keinen Grund, die Meinungen der Anderen anzuhören. Natürlich kann ein Gesprächspartner vorgeben, für neue Lösungen offen zu sein, tatsächlich aber das Gespräch nur dazu nutzen, seine feststehenden Ziele geschickt durchzusetzen. Damit befindet er sich jedoch im Modus der Strategie, nicht der Deliberation. <?page no="101"?> 101 11.2 Ein Plädoyer für Deliberation 11.2 Ein Plädoyer für Deliberation Der Stratege weiß was er will. Nehmen wir eine Umweltgruppe, die die Windkraft ausbauen will. Geht sie strategisch vor, so wird sie die Windkraft so präsentieren, dass sie als die beste Lösung erscheint, Nachteile werden kaschiert, Verlierer verschwiegen. Ein deliberatives Vorgehen hingegen zieht in Betracht, dass die eigene Auffassung nicht notwendig der Weisheit letzter Schluss ist. Die Verfechter der Windkraft werden weiterhin versuchen, die Gegner zu überzeugen. Sie halten es jedoch für möglich, die eigene Position aufgrund neuer Einsichten zu modifizieren oder im Extremfall sogar grundlegend zu ändern. Deliberation tauscht Argumente aus. Es sind Beiträge von allen Beteiligten nötig. Gerade vom Prüfen aller Argumente erhofft man sich das bestmögliche Ergebnis. Eine Diskussion, in der die Gesprächspartner unehrlich miteinander umgehen, gerät zum strategischen Wettkampf um die Meinungshoheit. Die Konfliktparteien versuchen, mit erfolgversprechenden, aber unaufrichtigen Diskussionsbeiträgen ein vorher feststehendes Ergebnis zu erreichen. In einer tatsächlichen Diskussion hingegen sagen die Gesprächspartner, was sie meinen. Wer die Deliberation ernst nimmt, darf die Kosten des Umweltschutzes nicht ausklammern und muss ehrlich darüber sprechen, wer die Kosten trägt. Schauen wir uns ein Beispiel an: Kann man von einem Anwohner einer geplanten Windkraftanlage erwarten, von der strikten Verfolgung seiner Partikularinteressen abzuweichen und zugunsten des Allgemeinwohls Zugeständnisse zu machen? Der Klimaschützer könnte darauf verweisen, dass Windkraft im Sinne des Allgemeinwohls sei, da dürfe niemand vollständig auf seinen eigenen Vorteil beharren. Der Anwohner hingegen könnte sich zum Egoismus bekennen und jede Lösung ablehnen, die ihm Nachteile bringt. Damit müssten die beiden über das Verhältnis von Gemeinwohl und Individualwohl argumentieren. Tatsächlich gehen die Beteiligten der moralischen Diskussion oft aus dem Weg. Der Anwohner will sich nicht zum Egoismus bekennen und zweifelt lieber die Notwendigkeit einer Windkraftanlage an. Wir könnten auf Wasserkraft oder Photovoltaik setzen und vielleicht ist die Aufregung um die Erderwärmung lediglich eine Strategie von Klimaforschern, die sich weitere Forschungsmittel sichern wollen. Der Klimaschützer möchte den moralischen Zeigefinger vermeiden und appelliert an eigennützige Motive des Anwohners. Als Mitglied einer Energiegenossenschaft könne <?page no="102"?> 102 11 Räumliche Planung zwischen Strategie und Deliberation der Anwohner von der Windkraftanlage profitieren. Windenergie sei eine Win-win- Option. Das muss den Anwohner nicht überzeugen. Aus Eigennutz wird er lieber in eine Windkraftanlage investieren, die nicht an seinem Wohnort gebaut wird. In diesem Beispiel argumentieren der Anwohner und der Windkraftanhänger strategisch. Der Anwohner versteckt sich hinter einem Streit um Fakten und der Befürworter der Windkraft suggeriert eine Win-win-Lösung. Der Kern des Konflikts, ob und in welchem Umfang dem Anwohner ein Opfer zuzumuten ist, kommt nicht zur Sprache. Wenn wir ehrlich sind, werden die Meisten zugeben müssen, dass wir zumindest manchmal in solchen Bahnen denken. Will man Erfolg haben, scheint strategische Kommunikation unumgänglich zu sein. Und doch könnten wir bessere Lösungen erzielen, wenn wir alle wahrhaftig kommunizieren würden. Spionagefilme illustrieren, wie die Lage immer unübersichtlicher wird, je mehr die Protagonisten auf strategische Kommunikation setzen. Man glaubt die Lüge entlarvt zu haben, und stellt fest, dass die vermeintliche Lüge die Wahrheit war, denn der Lügner war selbst belogen worden. Vielleicht ist aber die Geschichte vom belogenen Lügner auch nur eine Lüge. Und so geht es weiter-- strategische Kommunikation vernebelt die Wahrheit. Strategische Kommunikation setzt ein als moralisch gut und sachlich richtig erkanntes Ziel voraus. Aber wie können wir entscheiden, welches Ziel gut und richtig ist? Eine Begründung der Ziele könnte sich stützen auf: ▶ die Tradition ▶ die Intuition ▶ die Natur ▶ die Vernunft ▶ den Diskurs Schließlich ist auch noch eine dezisionistische Position denkbar. Der Dezisionismus besagt, eine Begründung sei gar nicht möglich, man könne Entscheidungen nicht mit vernünftigen Gründen rechtfertigen. Man müsse sie einfach treffen. Wer allerdings für den Dezisionismus argumentiert, gerät in Konflikt mit sich selbst. Denn er bringt nun Gründe für eine Position vor, die gerade behauptet, dass Entscheidungen sich nicht auf der Grundlage von vernünftigen Gründen rechtfertigen lassen. Die Liste der verschiedenen Begründungsansätze könnte der Auftakt für eine metaethische Diskussion sein: Können wir moralische Gewissheiten erlangen und wenn ja auf welchem Weg? Im Rahmen dieser anwendungsorientierten <?page no="103"?> 103 11.2 Ein Plädoyer für Deliberation Diskussion ist es zulässig und angebracht, nur einige kurze Anmerkungen zu machen. Die Tradition als moralischer Leitfaden kann Hinweise geben, als einziges Fundament ist sie zu unzuverlässig. Unsere Vorfahren könnten sich geirrt haben. Wer sich darauf verlässt, dass die Intuition uns die moralisch richtigen Positionen eröffnet, steht vor dem Problem, dass verschiedenen Personen verschiedene Intuitionen haben. Wie kann man entscheiden, wer Recht hat? Die Natur als Quelle moralischer Erkenntnis ist ebenfalls vieldeutig. Welche Beispiele aus der Natur sollen wir zum moralischen Vorbild erheben? Die Beispiele von Kooperation im Tierreich oder die Beispiele von Konkurrenz? Die Natur kann das nicht für uns entscheiden, wir sind auf uns selbst zurückgeworfen. Die Ausführungen zum Sein-Sollen-Fehlschluss in Kapitel 2.4 haben unterstrichen, dass die Darlegung von Fakten allein keine normativen oder evaluativen Schlussfolgerungen begründen kann. Da Tradition, Intuition oder Natur nur unzuverlässige oder gar keine Erkenntnis liefern, widmen wir uns der Vernunft und dem Diskurs. Die Berufung auf die Vernunft hat Kant dargelegt. Die Diskursethik von Jürgen Habermas schließt daran an. Sie stützt sich nicht alleine auf die Vernunft des Einzelnen, sondern auf das Zusammenwirken vernunftbegabter Menschen im Diskurs. Die Wahrheitsansprüche der Diskursethik sind begrenzt. Habermas behauptet nicht, dass die Diskursethik moralische Aussagen abschließend begründen könne. Er beharrt aber auf der Gültigkeit moralischer Normen. Habermas (1992, S. 138) formuliert das folgende Diskursprinzip: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer von rationalen Diskursen zustimmen könnten.“ Dieses Diskursprinzip sagt uns nicht, was etwa im Falle der Windkraft die gültigen Normen sind. Es sagt uns lediglich, wie wir diese Normen finden können: durch rationale Diskurse. Habermas’ Vorgehen ist insofern elegant, als es keine Diskursergebnisse vorwegnimmt und sich damit nicht auf konkrete moralische Positionen festlegt. Allerdings legt er sich auf ein Verfahren- - nämlich den Abb. 14: Jürgen Habermas <?page no="104"?> 104 11 Räumliche Planung zwischen Strategie und Deliberation Diskurs-- fest, das uns die Ausweisung gültiger moralischer Positionen ermöglichen soll. An einen Diskurs werden verschiedene Anforderungen gestellt, die ihn etwa von strategischer Argumentation unterscheiden. Insofern ergeben sich mit den Regeln für einen rationalen Diskurs nun doch normative Forderungen. Rationale Diskurse müssen die folgenden Regeln erfüllen (Tabelle 5, Habermas 1983, S. 97-99 und Alexy 1978). Logisch-semantische Ebene 1.1 Kein Sprecher darf sich widersprechen. 1.2 Jeder Sprecher, der ein Prädikat F auf einen Gegenstand a anwendet, muss bereit sein, F auf jeden anderen Gegenstand, der a in allen relevanten Hinsichten gleicht, anzuwenden. 1.3 Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen. Kompetenz- und Relevanzregeln 2.1 Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt. 2.2 Wer eine Aussage oder Norm, die nicht Gegenstand der Diskussion ist, angreift, muß hierfür einen Grund angeben. Ausschluss von Zwang außer dem des besseren Arguments 3.1 Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. 3.2.a Jeder darf jede Behauptung problematisieren. 3.2.b Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. 3.2c Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. 3.3 Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen. Tabelle 5: Regeln des rationalen Diskurses Für unser Thema ist Regel 2.1 von besonderer Bedeutung: Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt. Strategische Kommunikation genügt dem Anspruch der Diskursethik nicht. Wer etwas sagt, von dem er annimmt, dass es die Diskussion zu dem gewünschten Ergebnis führt, anstatt zu sagen, was er selbst glaubt, verletzt die Diskursregeln. Wenn jeder nur das sagt, was seine jeweiligen persönlichen Ziele befördert, verliert sich der Diskurs in einem Nebel aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und Lügen. Es wird dann immer schwieriger Wahrheit und Lüge zu unterscheiden und es wird kaum gelingen, vernünftige Lösungen herbeizuführen. <?page no="105"?> 105 11.3 Zwischen dem Ideal des rationalen Diskurses und den Nötigungen des Alltags Der Kern des Arguments zugunsten einer deliberativen anstelle einer strategischen Kommunikation lautet: Um die beste Lösung finden zu können, sind wir auf einen rationalen Diskurs angewiesen. Strategische Kommunikation hingegen erschwert oder verhindert das Auffinden der besten Lösung. Wer Kosten „schönrechnet“, behindert den rationalen Diskurs. Wer seine egoistisch motivierte Ablehnung von Windkraft durch eine vorgebliche Sorge um die Zugvögel verschleiert, behindert ebenfalls den rationalen Diskurs. Wer Bürgerbeteiligungsverfahren strategisch einsetzt, erwartet, dass sich die Bürger an Gesprächsgrundlagen halten, die er für sich selbst nicht akzeptiert. Er untergräbt damit die Voraussetzungen für eine vernünftige Lösungssuche. 11.3 Zwischen dem Ideal des rationalen Diskurses und den Nötigungen des Alltags Das Ideal des rationalen Diskurses Wer sich an die Regeln des rationalen Diskurses hält, muss fürchten, von denen übervorteilt zu werden, die sich an die Regeln nur scheinbar halten. Eine Behörde, ein Verband, der auf strategische Kommunikation verzichten will, muss fürchten, von der Strategie der Anderen überrollt zu werden. Wer auf strategische Kommunikation verzichtet, muss fürchten wirkungslos zu bleiben und so vielleicht sogar dem eigenen Anliegen Schaden zuzufügen. Die Nötigungen des Alltags Wer sich dagegen durch die Umstände des Alltags genötigt sieht, strategisch zu kommunizieren, liefert seinem Gegenüber Gründe für eine Gegenstrategie. In einer von Strategie geprägten Kommunikation wird es zunehmend schwieriger und schließlich unmöglich, auf argumentativem Weg gute Lösungen zu erkennen. Eine Frage der Zumutbarkeit Wie können wir dem Konflikt entkommen? Einerseits droht strategische Kommunikation die wahren Ziele zu verschleiern. Legen wir uns andererseits vorbehaltlos auf die Regeln des rationalen Diskurses fest, werden die eigenen <?page no="106"?> 106 11 Räumliche Planung zwischen Strategie und Deliberation Ziele allzu leicht vom strategischen Verhalten der Anderen ausgehebelt. Einen Ausweg bieten Überlegungen zur Zumutbarkeit. 11 In einer Situation, die in hohem Maß von Strategie geprägt ist, müssen wir von uns und den Anderen nicht vollständige Wahrhaftigkeit verlangen. Lediglich im Rahmen des Zumutbaren können wir eine wahrhaftige Kommunikation erwarten. Es ist zumutbar, weniger strategisch zu argumentieren als die Gesprächspartner. Damit liefert man keine Rechtfertigung für ein zunehmend strategisches Agieren des Gegenübers, sondern fordert diesen vielmehr auf, sein strategisches Verhalten ebenfalls abzubauen. Es sei gerne zugestanden: Herauszufinden, was im Einzelfall zumutbar ist, liegt nicht auf der Hand, sondern erfordert Urteilskraft. 11.4 Zusammenfassung Auch wenn der vollständige Verzicht auf Strategie nicht durchgängig zumutbar ist, gibt es doch gute Gründe für eine deliberative Kommunikation. Je stärker die Kommunikation von Strategie geprägt ist, desto schwerer fällt es, sachlich richtige und moralisch gute Ziele zu bestimmten. Strategie jedoch behindert oder verhindert eine offene Diskussion der Ziele. Gerade wenn verschiedene Ziele miteinander in Konflikt geraten, liegt die angemessene Lösung nicht auf der Hand. Das ist die Stärke der Deliberation: Sie hilft, durch ehrliche Argumentation, die richtigen und guten Ziele aufzufinden. Die Essenz dieses Plädoyers für den Vorrang der Deliberation gegenüber der Strategie drückt ein Bonmot von Harry Rowohlt (1992) aus: „Sagen, was man denkt. Und vorher was gedacht haben.“ 11 Diese Überlegungen sind angestoßen durch Ulrich (2008, Kapitel 4.3. (3)). <?page no="107"?> 107 12.1 Hypothetische und kategorische Imperative 12 Grenzen des Strebens nach Glück: Der kategorische Imperativ Insbesondere in Kapitel 3: Räumliche Planung und gutes Leben, Kapitel : Gutes Leben und Genügsamkeit sowie Kapitel 8 Räumliche Planung und Utilitarismus hatten wir Planungsentscheidungen unter der Perspektive des Glücks betrachtet: Welche Lösung mehrt das Glück der Betroffenen? Das Kapitel 10 Räumliche Planung und Gerechtigkeit wählte eine andere Perspektive: Wie lässt sich eine Planung gerecht gestalten? Wie lassen sich Nutzen und Lasten einer Planung gerecht verteilen? In diesem Kapitel nun fragen wir: Gibt es Pflichten, die unseren Planungen Grenzen setzen? Und wenn ja, wie lassen sich solche Pflichten begründen? Pflichten sind das Terrain des Philosophen Immanuel Kant. 12.1 Hypothetische und kategorische Imperative 12 Kant unterscheidet hypothetische und kategorische Imperative. Hypothetische Imperative gelten nur unter einer bestimmten Voraussetzung. Beispiel: Trete der Kammer bei, wenn du den Titel Architekt führen willst. Dieser Imperativ gilt nur, wenn ich den Titel führen will. Die hypothetischen Imperative sind von den jeweils subjektiven Zielen der einzelnen Menschen abhängig. Sie gelten somit auch nur für die jeweiligen Menschen. Für den, der den Titel nicht führen will, gilt dieser Imperativ nicht. Gibt es auch einen Imperativ, der für alle Menschen gilt? Ein solcher Imperativ muss unabhängig sein von den subjektiven Zielen der einzelnen Menschen. Kant behauptet, dass er einen Imperativ gefunden hat, der unabhängig von den jeweils subjektiven Zielen ist. Das ist der kategorische Imperativ (1785 / 1999, S. 45): „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ 12 Diese Darstellung orientiert sich an Ricken (2013, 138 ff.). Abb. 15: Immanuel Kant (1724-1804) <?page no="108"?> 108 12 Grenzen des Strebens nach Glück: Der kategorische Imperativ Maximen sind Lebensregeln, etwa: „Hilf Menschen in Not“. Nun soll man sich fragen, ob man wollen kann, dass diese Maxime ein allgemeines Gesetz wird. Man prüft, ob die Maxime verallgemeinerbar ist, d. h. man prüft, ob alle wollen können, dass die Maxime ein allgemeines Gesetz wird. Alle bedeutet, dass die Adressaten und die Betroffenen das Gesetz wollen können, nur dann ist es verallgemeinerbar. Wenn es Ausnahmen vom Hilfsgebot geben soll, dann müssen sie in die Maxime aufgenommen werden. Beispielsweise kann man das Hilfsgebot auf das Zumutbare einschränken: „Hilf Menschen in Not im Rahmen des Zumutbaren“. Die Verallgemeinerung dieser Einschränkung ist denkbar. Eine andere Einschränkung bringt uns in Schwierigkeiten bei der Verallgemeinerung: Wenn ich annehme, dass ich selbst nie in Not geraten werde, könnte ich fordern, dass lediglich die Hilfsbedürftigen zur Hilfe verpflichtet sind. Aber das kann von den Hilfsbedürftigen nicht akzeptiert werden, denn diejenigen, die Hilfe benötigen, müssten sie selbst leisten. Diese Regel kann also kein allgemeines Gesetz sein, dem ausnahmslos alle zustimmen. Welche planungsrelevanten Maximen könnten verallgemeinert werden? Beispielsweise dürfen Planer sich bei der Ausweisung neuer Gewerbe- und Wohngebiete nicht ausschließlich an den Zielen der Gewerbetreibenden oder denen der Anwohner, Naturschützer, Autofahrer oder ihren eigenen Zielen orientieren. Der Kategorische Imperativ verlangt, dass die Grundsätze der Planer verallgemeinerbar sind. Soll es Ausnahmen geben, so müssen diese Ausnahmen Teil der Maxime und damit verallgemeinerbar sein. Der Kategorische Imperativ prüft nicht die Verallgemeinerbarkeit einzelner Handlungen, sondern die Verallgemeinerbarkeit von Maximen. Schlussfolgerungen auf der Grundlage des kategorischen Imperativs können uns und Anderen Einschränkungen gebieten. Dabei handelt sich um Pflichten, nicht lediglich um Ratschläge. Laut Kant ist es Ausdruck der Freiheit, einer Pflicht zu folgen, die im Einklang mit dem Kategorischen Imperativ steht. Das klingt zunächst wie ein Widerspruch. Wer sich an Pflichten hält, kann ja nicht mehr tun was er will. Wenn man sich die Pflichten allerdings selbst gegeben hat, sieht die Sache anders aus. Seinen eigenen Grundsätzen zu folgen, ist Ausdruck der Freiheit. Kant verwendet hierfür den Begriff Autonomie. Der Gegensatz zu Autonomie ist Heteronomie: Fremdbestimmung. Im kantischen Sinne ist auch fremdbestimmt, wer sich seinen Neigungen überlässt. Schön und gut, möchte man sagen, aber die Menschen geben sich verschiedene Grundsätze und jeder hält sich an seine eigenen Grundsätze. Geben sich Menschen Grundsätze auf der Grundlage von Neigungen, dann ist das <?page no="109"?> 109 12.2 Kein Konflikt zwischen Pflichterfüllung und Glück? nicht Autonomie, sondern Heteronomie, weil nicht die Vernunft, sondern die Neigung die Grundsätze gestaltet. Laut Kant ist die reine Vernunft unabhängig von den subjektiven Zielen einzelner Menschen. Grundsätze, die sich Menschen aus reiner Vernunft heraus geben, hängen nicht von Umständen ab, die von Mensch zu Mensch verschieden sein können. Die aus reiner Vernunft entsprungenen Grundsätze gibt sich der autonome Mensch selbst und akzeptiert damit Pflichten gegenüber anderen Menschen. Die Kantische Pflichtenethik ist immer wieder dem Verdacht ausgesetzt, unser Leben mit Vorschriften in ungebührlicher Weise einengen zu wollen. Bei Licht besehen dienen die Pflichten jedoch der Entfaltung menschlicher Freiheit, nicht ihrer Einengung. Es ist richtig, dass Kants Ethik von einzelnen Menschen Einschränkungen verlangt. Das Kantische Verständnis von Freiheit bedeutet nicht, seinen Neigungen freien Lauf zu lassen. Die Achtung vor dem Glücksstreben der Anderen schränkt meine eigenen Handlungsspielräume ein. Pflichten um der Pflichten willen wären aber auch für Kant eine unzulässige Einschränkung. Pflichten um der Freiheit aller Menschen willen trifft dieser Vorwurf nicht. Bliebe dem Menschen kein Spielraum zu seiner Entfaltung, könnte man von moralischem Rigorismus sprechen. Wenn wir jedoch die Kantischen Pflichten ernst nehmen, vergrößern sich die Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen. Das Bild des moralischen Zeigefingers ist ein Symbol für Heteronomie: Ein anderer sagt, was zu tun sei. Kant vertritt aber eine autonome Moral: Wir geben uns das moralische Gesetz selbst. Es ist unser eigener Verstand, der uns den Weg der Moral weist. Die vorangegangenen Überlegungen mögen recht abstrakt erscheinen. Dennoch sind sie für die Fragen der räumlichen Planung relevant: Wenn die Prinzipien der Planung den eigenen Zielen oder den Zielen der eigenen Gruppe einen höheren Rang einräumen als den Zielen anderer Menschen, geraten sie in Konflikt mit dem kategorischen Imperativ. Unter dieser Perspektive ist beispielsweise auch eine Planung zu prüfen, die immer weitere Flächen für Wohnen, Gewerbe und Verkehr in Anspruch nimmt (vgl. Kapitel .1). 12.2 Kein Konflikt zwischen Pflichterfüllung und Glück? Wenn es beim Flächenverbrauch und sonstigen Fragen der räumlichen Planung keinen Konflikt gäbe zwischen dem Streben nach Glück einerseits und moralischer Pflichterfüllung andererseits, wäre die Aufgabe der Ethik einfacher. Sie <?page no="110"?> 110 12 Grenzen des Strebens nach Glück: Der kategorische Imperativ müsste nur darauf aufmerksam machen, dass wir unser Glück umsichtig und unter langfristiger Perspektive verfolgen sollen. Die Formulierung unser Glück oder Glück des Menschen ist ungenau. Schließlich kann das Glücksstreben des Einen im Konflikt stehen zum Glücksstreben eines Anderen. Eine Umgehungsstraße am Stadtrand bringt Entlastung für die Innenstadt, aber Belastungen am Stadtrand. Vernachlässigen wir heute den Naturschutz, leidet die biologische Vielfalt zulasten zukünftiger Menschen. Die Pflicht kann uns Rücksicht gebieten. Unsere Neigung mag uns den eigenen Vorteil suchen lassen. Der Konflikt zwischen Pflicht und Neigung verringert sich durch folgenden Gedanken (vgl. Höffe 2007, Kapitel 25). Wir müssen auch die Integrität des eigenen Charakters in den Blick nehmen. Wenn wir unseren Begierden nachgehen, obwohl wir wissen, dass wir damit gegen unsere Pflichten verstoßen, dann hat die Pflichtverletzung einen Preis. Zum vollständigen Glück gehört auch die Selbstachtung. Wer nicht im Reinen mit sich selbst ist, kann nicht völlig glücklich sein. Wer immerfort gegen seine eigenen moralischen Einsichten verstößt, dessen Selbstachtung nimmt Schaden. Wer sein eigenes Bild im Spiegel der Moral nicht akzeptieren kann, der ist nicht wirklich glücklich. Wenn wir uns aber in einer schwierigen Situation so verhalten haben, wie wir das von uns erwarten, dann stellt sich ein Gefühl der Zufriedenheit ein darüber, dass wir unseren eigenen Grundsätzen treu geblieben sind. Wer sich vornimmt, aus Rücksicht auf Andere auf Annehmlichkeiten zu verzichten, für den ist der Verzicht immer noch ein Verzicht. Das gute Gefühl, tatsächlich das Richtige getan zu haben, kann den Verzicht aufwiegen-- oder auch nicht. Die Spannung zwischen Pflicht und Neigung muss sich nicht auflösen; sie verringert sich aber. 12.3 Zusammenfassung In welcher Weise die räumliche Planung Güter verteilt, ist nicht lediglich eine Frage des guten Lebens, sondern gemäß Kant vor allem eine Frage der Gerechtigkeit. Maximen müssen verallgemeinerungsfähig sein. Das bedeutet für die Planung, dass sie nicht Partikularinteressen dienen darf. Stehen unsere Pflichten und Neigungen im Konflikt, haben die Pflichten Vorrang. Der Konflikt kann sich aber mildern, wenn wir bedenken, dass unsere Selbstachtung Schaden nimmt, wenn wir unsere Pflichten verletzen. <?page no="111"?> 111 13.1 Kritik am Drei-Säulen-Modell 13 Räumliche Planung und Nachhaltigkeit 13.1 Kritik am Drei-Säulen-Modell Mit ihrem Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ löste die Brundtland-Kommission am Ende der 1980er Jahre die Nachhaltigkeitsdiskussion aus. In diesem Bericht definiert sie Nachhaltige Entwicklung folgendermaßen: „[Nachhaltige] 13 Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff 1987). Die Brundtland-Kommission trifft eine moralische Aussage: Sie tritt für Gerechtigkeit zwischen den Generationen ein und- - wie sie an anderer Stelle deutlich macht-- auch für Gerechtigkeit innerhalb der Generationen. Mit ihrer moralischen Positionierung ist die Nachhaltigkeitsdefinition der Brundtland- Kommission ein guter Anknüpfungspunkt für eine Ethik in der räumlichen Planung. Manche Planungsstudiengänge führen das Adjektiv „nachhaltig“ in ihrem Namen und auch Praktiker der Raum- und Verkehrsplanung orientieren sich am Leitbild der Nachhaltigkeit (z. B. Dietker et al. 2005, S. 1). Ein guter Grund zu untersuchen, was unter nachhaltiger räumlicher Planung verstanden werden soll. Die vorliegende Darstellung stützt sich auf die Gerechtigkeitsforderung der Brundtland-Definition für Nachhaltigkeit und kritisiert das Drei-Säulen-Modell. Stattdessen ordnet sie die Begriffe Ökologie, Ökonomie und Soziales in den Denkrahmen der philosophischen Ethik ein. Schauen wir uns zunächst das Drei-Säulen-Modell an. Das Drei-Säulen-Modell geht zurück auf Überlegungen der IG Chemie-Papier- Keramik und den Verband der Chemischen Industrie: „Beide Organisationen verstehen unter sustainable development eine nachhaltige Entwicklung der Industriegesellschaft, deren Schwerpunkt nicht einseitig im Bereich Umwelt liegen darf. Vielmehr wird die Gleichrangigkeit der drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales als grundlegend eingestuft. Dies erfordert,- […] das Spannungsfeld Mensch, Natur und Wirtschaft in ein neues Gleichgewicht zu überführen“ ( IFOK 1997, S. 23). 13 Im Original heißt es „Dauerhafte Entwicklung“. Mittlerweile hat sich die Übersetzung „Nachhaltige Entwicklung“ durchgesetzt. <?page no="112"?> 112 13 Räumliche Planung und Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit Ökologie Ökonomie Soziales Abb. 16: Drei Säulen der Nachhaltigkeit War der Begriff Nachhaltigkeit bislang eher mit Fragen des Umweltschutzes verbunden, so betont das Drei-Säulen-Modell, dass die zwei anderen Säulen Ökonomie und Soziales den gleichen Rang haben sollen. Das Drei-Säulen-Modell verdient insofern Zustimmung, als es darauf dringt, keine der drei Säulen isoliert zu betrachten. Beispielsweise sollen ökologische Fragen in ihrem ökonomischen und sozialen Kontext untersucht werden. Es wäre naiv, ökologische Probleme losgelöst von wirtschaftlichen und sozialen Aspekten verstehen und lösen zu wollen. Jedoch legt das Drei-Säulen-Modell ein zu einfaches Verständnis des Problems nahe. Nehmen wir als Beispiel die Wärmedämmung von Gebäuden. Wenn wir die Anforderungen an die Dämmung senken, können die Mieten günstiger werden, aber wir müssen Nachteile für die Atmosphäre hinnehmen. Das legt das Gewicht auf die soziale Säule. Wenn wir die Anforderungen erhöhen und nur noch Passivhäuser bauen, steigen die Mieten, aber die Atmosphäre wird entlastet. Das legt das Gewicht auf die ökologische Säule. Das Modell will uns eine Abwägung zwischen Sozialem und Ökologie aufzwingen. Das Konzept der drei Säulen führt in die Irre, weil es versucht, ganz verschiedene Dinge gegeneinander abzuwägen. In diesem Beispiel wird versucht, die Mietkosten sozial schwacher Haushalte abzuwägen gegen den Schutz der Atmosphäre. In einem anderen Beispiel könnte man versuchen, den Gewinn eines Unternehmens gegen den Erhalt einer bedrohten Tierart abzuwägen. Unternehmensgewinne und Schutz der Biodiversität gehören verschiedenen Kategorien an und lassen sich nicht ohne Weiteres auf einen Nenner bringen. <?page no="113"?> 113 13.2 Ein anderes Verständnis von Nachhaltigkeit Über das Gesagte hinaus ist das Drei-Säulen-Modell unbefriedigend, weil es nicht beantworten kann, wie eine Abwägung beispielsweise zwischen Ökonomie und Sozialem vor sich gehen soll. Es bleibt damit intransparent. Wie soll die Rettung eines Unternehmens mit einem Anstieg des Herzinfarktrisikos der Anwohner verrechnet werden? „Abwägung“ ist ein sehr schwammiger Begriff. Daher sollten wir Abwägungen so weit wie möglich vermeiden. Sehr unterschiedliche Dinge auf unklare Weise gegeneinander abzuwägen ist bereits problematisch. Noch schlimmer wird es dadurch, dass unter jedem der Begriffe Ökologie, Ökonomie und Soziales höchst Unterschiedliches versammelt werden kann. Ökonomie kann die Gewinne eines Investors, die Erschließungskosten eines Gewerbegebiets oder die Schaffung von Arbeitsplätzen meinen. Soziales kann die Einrichtung eines Kindergartens, die Anlage eines Parks oder die finanzielle Absicherung der Arbeitslosen bedeuten. 13.2 Ein anderes Verständnis von Nachhaltigkeit: Mittel und Selbstzwecke anstelle der drei Säulen Das Drei-Säulen-Modell trägt nur wenig zum Verständnis und zur Lösung der Nachhaltigkeitsprobleme bei. 14 Hilfreich ist allerdings der Ansatz, soziale, ökonomische und ökologische Fragen nicht isoliert zu betrachten, sondern in Beziehung zueinander zu setzen. Die folgenden Abschnitte beleuchten die drei Begriffe näher und zeigen schließlich auf, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. 13.2.1 Soziales Soziale Angelegenheiten betreffen das Zusammenleben in der Gesellschaft. Lebte jeder Mensch isoliert auf einer Insel ohne Nachfahren, so würden sich keine sozialen Fragen stellen. Wir bräuchten nicht klären, wer welche Ressourcen auf welche Weise nutzen darf und was für die Nachfahren aufgehoben werden soll. Da wir aber in Gemeinschaft mit anderen Menschen leben und auch Nachfahren haben, müssen wir klären, was jedem zusteht. Verteilungsfragen sind zum einen Fragen der Gerechtigkeit zwischen Generationen: intergenera- 14 Zur Kritik am Drei-Säulen-Modell siehe: Brand und Jochum (2000), Ott und Döring (2011) sowie Sachverständigenrat für Umweltfragen (2002). <?page no="114"?> 114 13 Räumliche Planung und Nachhaltigkeit tionelle Gerechtigkeit. Zum anderen sind sie Fragen der Verteilung innerhalb einer Generation: intragenerationelle Gerechtigkeit. Die Brundtland-Kommission benennt zunächst die intergenerationelle Gerechtigkeit: „Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff 1987, S. 4). Anschließend benennt sie die intragenerationelle Gerechtigkeit: „Sogar der enge Begriff Dauerhaftigkeit bedeutet die Verantwortung für soziale Gerechtigkeit zwischen den Generationen, die sich logischerweise auch bezieht auf die Gerechtigkeit innerhalb jeder Generation“ (Hauff 1987, S. 4). Was eine gerechte Verteilung ist, muss von einem unparteiischen Standpunkt aus beurteilt werden. Das dürfte unstrittig sein. Das ist die Grundlage jeglicher Überlegungen zur Gerechtigkeit. Eine Verteilung, die das eigene Geschlecht, die eigene Rasse, die eigene Klasse, die eigene Nation oder die eigene Generation bevorzugt, kann nicht als gerecht gelten. Die vorliegende Darstellung versteht Gerechtigkeit als ein Ziel um seiner selbst willen, nicht als ein Mittel für andere Ziele. Ein entgegengesetzter Standpunkt könnte beispielsweise Gerechtigkeit als ein Mittel für Produktivität sehen. In diesem Fall würde man die Gesellschaft gerecht gestalten, weil man fürchtet, dass Ungerechtigkeit Unruhen provoziert und diese Unruhen die Produktivität beeinträchtigen. Damit wäre Gerechtigkeit nur wertvoll, um die Produktivität zu sichern, aber nicht um ihrer selbst willen. Wird Gerechtigkeit als ein Ziel um seiner selbst willen verstanden, bedarf es keiner weiteren Begründung für Gerechtigkeit. 13.2.2 Ökologie Ökologie ist die Wissenschaft, die sich mit den Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen und mit den Wechselwirkungen zwischen Lebewesen und der unbelebten Natur befasst. Über dieses enge Verständnis hinaus gibt es noch ein normativ gehaltvolles Verständnis von Ökologie, das zum Ziel hat, die belebte und unbelebte Natur zu erhalten. Das Kapitel 7 diskutierte zwei Begründungslinien für den Schutz der Natur: Anthropozentrismus und Physiozentrismus. Ich folge hier der anthropozentrischen Position, die ich für überzeugender <?page no="115"?> 115 halte. Damit komme ich mit geringen normativen Voraussetzungen aus und muss Rechte von Tieren, Pflanzen, Mikroorganismen oder Landschaften nicht begründen. Auch die Argumentation der Brundtland-Kommission ist anthropozentrisch: Wir sollen sorgfältig mit der Natur umgehen, damit zukünftige Menschen ihre Bedürfnisse in gleicher Weise erfüllen können wie die gegenwärtigen Menschen. Damit ist Naturschutz kein Ziel um seiner selbst willen, sondern ein Mittel für menschliche Bedürfnisse. 13.2.3 Ökonomie Wenn wir von ökonomischen Aspekten sprechen, denken wir beispielsweise an Arbeitsplätze, Löhne, Gehälter und Gewinne. Nun fragt sich wiederum, ob wir Löhne, Gehälter und Gewinne um ihrer selbst willen anstreben, oder ob sie ein Mittel für ein weiteres Ziel sind. Ein Gewinn um des Gewinns willen ist eine merkwürdige Vorstellung. Gewinne, Gehälter und Löhne sind keine Selbstzwecke, sondern Mittel, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Dies entspricht der Definition von Wirtschaft: „Unter Wirtschaft kann ganz generell jener Ausschnitt menschlichen Handelns verstanden werden, der in Verfügungen über knappe Mittel zur Erfüllung menschlicher Bedürfnisse besteht“ (Bartling und Lucius 2014, S. 5). Wir können zwei Arten von Bedürfnissen unterscheiden: Grundbedürfnisse und weitergehende Bedürfnisse. Zu den Grundbedürfnissen gehören Nahrung, Kleidung, Wohnung, Medizin und Bildung. Alle Menschen haben solche Grundbedürfnisse, je nach kulturellen und geographischen Gegebenheiten werden sie auf unterschiedliche Weise erfüllt. Die weitergehenden Bedürfnisse unterscheiden sich von Mensch zu Mensch, denn die Vorstellungen vom guten Leben lassen sich nicht vereinheitlichen. Jeder Mensch darf auf seine eigene Weise nach seinem Glück streben, solange er den anderen Menschen das gleiche Recht einräumt. Die Brundtland-Kommission drückt das folgendermaßen aus: „Die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche ist das Hauptziel von Entwicklung. Die Grundbedürfnisse weiter Teile der Bevölkerung in den Entwicklungsländern-- nach Nahrung, Kleidung, Wohnung, Arbeit-- werden nicht befriedigt, und über diese Grundbedürfnisse hinaus haben diese Menschen berechtigte Wünsche nach besserer Lebensqualität. Eine Welt, in der Armut und Ungerechtigkeit herrschen, wird immer ökologischen und anderen Krisen ausgesetzt sein. Dauerhafte 13.2 Ein anderes Verständnis von Nachhaltigkeit <?page no="116"?> 116 13 Räumliche Planung und Nachhaltigkeit Entwicklung erfordert, die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen und für alle die Möglichkeit zu schaffen, ihren Wunsch nach einem besseren Leben zu befriedigen“ (Hauff 1997, S. 47). Auch die Erfüllung von Bedürfnissen ist kein Selbstzweck. Ihre Erfüllung soll zu unserem Glück beitragen. Das Glück schließlich ist ein Selbstzweck, wie das Kapitel .2 unter Berufung auf Aristoteles erläuterte. 13.2.4 Erfüllung der Grundbedürfnisse und gutes Leben im Rahmen der Gerechtigkeit Damit hat Ökonomie einen ähnlichen Status wie Ökologie: Sie ist ein Mittel zur Erfüllung unserer Grundbedürfnisse und dient dem guten Leben. In der Abbildung 17 werden die beiden Mittel Ökonomie und Ökologie als Pfeile dargestellt. Da ökonomische und ökologische Überlegungen in manchen Fällen harmonieren, überlappen sich die beiden Pfeile zum Teil. Erfüllung der Grundbedürfnisse und für das gute Leben. Diese sind Selbstzwecke Ökonomie ist ein Mittel zur Gerechtigkeit innerhalb der Generationen und zwischen den Generationen ist die Grundlage des sozialen Zusammenlebens. Sie ist ein Selbstzweck und begrenzt die Mittel der Ökonomie und Ökologie sowie das Streben nach dem guten Leben. Ökologie ist ein Mittel zur Abb. 17: Nachhaltigkeit in den Begriffen der Philosophie Wir müssen also nicht fragen, welche Säule gestärkt werden soll: Ökologie oder Soziales? Wärmedämmung oder günstige Mieten? Die Frage lautet: Welches Mittel bzw. welche Kombination von Mitteln kann die Grundbedürfnisse und das gute Leben aller Menschen am besten befördern? <?page no="117"?> 117 13.3 Zusammenfassung Ökonomie und Ökologie dienen der Sicherung der Grundbedürfnisse und dem guten Leben. Das gute Leben dient keinem weiteren Zweck und ist in der Grafik als Kreisfläche dargestellt. Die intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit verlangen, dass alle Menschen die gleichen Möglichkeiten haben, nach ihrem guten Leben zu streben. Die Gerechtigkeit begrenzt das Streben nach dem guten Leben, was in der Grafik durch die Hintergrundfärbung außerhalb des weißen Ovals zum Ausdruck kommt. Mit den Worten der Brundtland- Kommission: „Dauerhafte Entwicklung erfordert, die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen und für alle die Möglichkeit zu schaffen, ihren Wunsch nach einem besseren Leben zu befriedigen“ (Hauff 1987, S. 47). Eine Abwägung zwischen Gerechtigkeit einerseits sowie Ökonomie und Ökologie andererseits lässt dieses Verständnis von Nachhaltigkeit nicht zu. Die Gerechtigkeit muss immer gewährleistet sein. 13.3 Zusammenfassung Das Drei-Säulen-Modell legt ein zu einfaches Verständnis von Nachhaltigkeit nahe. Es deutet alle drei Säulen als Zwecke und behauptet, man könne sie gegeneinander abwägen: Obwohl Ökonomie und Ökologie einerseits sowie Soziales andererseits verschiedenen Kategorien angehören, soll zwischen den drei Säulen abgewogen werden. Es ist nicht klar, wie dies nachvollziehbar geschehen kann. Das hier vertretene Nachhaltigkeitsverständnis verzichtet auf die Säulen- Metapher und schließt an die Begriffe der philosophischen Ethik an. Es versteht Ökonomie und Ökologie als Mittel für das gute Leben. Das gute Leben ist ein Selbstzweck. Soziales wird im Sinne der Brundtland-Kommission als intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit verstanden. Auch Gerechtigkeit ist ein Selbstzweck. Im Konflikt zwischen Glücksstreben und Gerechtigkeit hat die Gerechtigkeit Vorrang. <?page no="119"?> 119 13.3 Zusammenfassung 14 Fazit: Zehn Orientierungspunkte für eine nachhaltige räumliche Planung Diese Planungsethik schließt mit 10 Orientierungspunkten. Die Orientierungspunkte beanspruchen nicht, das letzte Wort in Sachen nachhaltige räumliche Planung zu sein. Sie können vielmehr weiterentwickelt werden. Vielleicht enthalten sie sogar Fehler, die behoben werden müssen. Es handelt sich um eine Einführung in die ethischen Fragen der räumlichen Planung, d. h. der Maßstab ist groß, nicht jede argumentative Abzweigung ist berücksichtigt, nicht auf jede Frage findet sich eine Antwort. Die Orientierungspunkte zwingen dem Leser keinen bestimmten Weg auf, sie entheben ihn nicht seiner Verantwortung. Gleichwohl versuche ich, mit Argumenten eine bestimmte Richtung aufzuzeigen. Wenn die Argumente überzeugen, können die Orientierungspunkte dem Leser helfen, seinen Weg durch die Praxis zu finden. Orientierungspunkt 1: Wertesensibel handeln (Kapitel 2) Planer sollen sensibel sein für den normativen und wertenden Gehalt ihrer Arbeit. Es ist falsch, sich hinter sogenannten Sachzwängen zu verstecken. In aller Regel besitzen Planungen Alternativen. Diese Alternativen mögen Mängel haben: zu teuer, nicht im Sinne der Auftraggeber, nicht im Sinne der Nutzer, im Konflikt mit dem Mainstream, nicht gesetzeskonform, im Konflikt mit einem ästhetischen Ideal und anderes mehr. Jedem Ausschluss einer Alternative liegt ein normatives oder wertendes Urteil zugrunde. Alternativen werden verworfen, weil man eine billige, auftraggeberkonforme, nutzerfreundliche, mehrheitsfähige, gesetzeskonforme oder eine einem bestimmten ästhetischen Ideal verpflichtete Lösung für geboten oder für besser hält. Dem Planer sollte bewusst sein, dass er bestimmten moralischen Auffassungen folgt. Nur so kann er sich selbst und anderen gegenüber die angestrebte Lösung mit Gründen rechtfertigen. Unter Umständen muss man die eigene Position korrigieren. <?page no="120"?> 120 14 Fazit: Zehn Orientierungspunkte für eine nachhaltige räumliche Planung Orientierungspunkt 2: Ein gutes Leben befördern (Kapitel 3) Räumliche Planung soll das gute Leben der Menschen befördern. Allerdings gibt es keine feststehende Vorstellung davon, worin ein gutes Leben besteht. Es wird immer wieder von neuem nötig sein, sich darüber zu verständigen, was für ein gutes Leben notwendig ist. Martha Nussbaums Liste der Grundfähigkeiten kann hier ein Stück weiterhelfen. Orientierungspunkt 3: Bevormundung möglichst vermeiden (Kapitel 3) Räumliche Planung soll andere Menschen nach Möglichkeit nicht darin einengen, ihre je individuellen Vorstellungen vom guten Leben umzusetzen. Allerdings wird die räumliche Planung Aussagen darüber, worin ein gutes Leben besteht, nicht vermeiden können, schließlich soll sie eine lebenswerte Umwelt gestalten. Sie kann an einem Ort immer nur eine Planung umsetzen. Auch wenn diese Planung möglichst vielen Vorstellungen gleichzeitig gerecht werden soll, schließt sie doch andere aus und benachteiligt damit manche Lebensformen. Orientierungspunkt 4: Gemeingüter ermöglichen (Kapitel 4) Gemeingüter eröffnen Bürgern die Möglichkeit, ihre Angelegenheiten in Gemeinschaft nach ihren eigenen Vorstellungen zu regeln. Dies kann Planer von der Schwierigkeit entlasten, für andere Menschen zu entscheiden, was für deren gutes Leben hinderlich oder förderlich ist. Wenn Bürger beispielsweise ihre Wohnformen selbst gestalten können, brauchen Architekten und Stadtplaner nicht an deren Stelle zu entscheiden. Den Planern fällt dann die Aufgabe zu, Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer Gemeingüter entstehen und existieren können. Dies schafft Freiheit von eventueller Gängelung durch Staat oder Unternehmen. Die von Elenor Ostrom herausgearbeiteten Gestaltungsprinzipien für Gemeingüter zeigen auf, was für den Erfolg von Gemeingütern notwendig ist. <?page no="121"?> 121 14 Fazit: Zehn Orientierungspunkte für eine nachhaltige räumliche Planung Orientierungspunkt 5: Bürger an der Planung beteiligen (Kapitel 5) Je umstrittener eine Planung ist, desto mehr soll eine Bürgerbeteiligung erwogen werden. Im Fall von konfliktträchtigen Planungen kann Bürgerbeteiligung die Planer von schwierigen normativen und wertenden Entscheidungen entlasten. Allerdings wird die Beteiligung der Bürger zum Teil als Bedrohung für ein geplantes Projekt gesehen. Diese Haltung steht im Konflikt mit Orientierungspunkt 3: Bevormundung möglichst vermeiden. Da die für die Bürgerbeteiligung geschaffenen Gremien keine demokratische Legitimation besitzen, können sie lediglich beraten. Die Entscheidung liegt weiterhin bei der Politik. Bürgerbeteiligung darf nicht strategisch instrumentalisiert werden. Orientierungspunkt 6: Das richtige Maß suchen (Kapitel 6) Wenn das Lebensnotwendige sichergestellt ist, kann mehr materieller Wohlstand ab einem nicht präzis zu bestimmenden Punkt das Glück nicht weiter steigern. Die räumliche Planung soll sich daher nicht lediglich an materiellem Wohlstand, etwa in Form von immer weiter ausgebauten Verkehrswegen, Energieinfrastruktur oder Gewerbegebieten orientieren. Sie soll auch Überlegungen zur Genügsamkeit berücksichtigen. Orientierungspunkt 7: Die Natur für heutige und zukünftige Menschen schützen (Kapitel 7) Die räumliche Planung soll die Natur schützen, weil sie Grundlage unseres Lebens ist, weil sie ästhetisch wertvoll ist und weil sie uns Heimat sein kann. Für viele Menschen besitzt die Natur auch unabhängig von ihrem instrumentellen Wert einen Eigenwert. <?page no="122"?> 122 14 Fazit: Zehn Orientierungspunkte für eine nachhaltige räumliche Planung Orientierungspunkt 8: Gerechtigkeit anstreben (Kapitel 8, 9, 10) Räumliche Planung soll die Möglichkeiten für ein gutes Leben gerecht verteilen. Utilitaristische Ansätze können hier an Grenzen stoßen. Auch der Markt kann Gerechtigkeit nicht sicherstellen. Rawls Differenzprinzip zeigt eine Lösung auf, die marktwirtschaftliche Erwägungen in ein Gerechtigkeitsprinzip einbindet: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen“ (Rawls 1975, S. 33). Orientierungspunkt 9: Wahrhaftigkeit anstreben (Kapitel 11) Gute Planung ist auf wahrheitsgetreue Planungsgrundlagen angewiesen. Je weiter Planer sich von der Wahrheit entfernen, umso schwieriger wird es zu erkennen, auf welche Planungsgrundlagen man sich verlassen kann und auf welche nicht, welche Ziele ernst gemeint sind und welche lediglich aus strategischen Gründen vorgeschoben werden. Jürgen Habermas hat die Regeln für einen rationalen Diskurs herausgearbeitet. Allerdings stößt die Forderung nach Wahrhaftigkeit an Grenzen: Wahrhaftigkeit kann unzumutbare Folgen haben, wenn die Gesprächspartner sehr strategisch agieren. Orientierungspunkt 10: Das Wohl aller Betroffenen anstreben, nicht Partikularinteressen dienen (Kapitel 12) Die räumliche Planung soll sich am Wohl aller Betroffenen orientieren, sie darf nicht lediglich Partikularinteressen dienen. Im Konfliktfall muss das Glücksstreben des Einzelnen hinter Gerechtigkeitsüberlegungen zurückstehen. Der kategorische Imperativ (Kant 1785/ 1999, S. 45) gibt hier eine Hilfestellung: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ <?page no="123"?> 123 Literatur Literatur Alexy, R. (1978): Eine Theorie des praktischen Diskurses. In: Oelmüller (Hg.): Normenbegründung, Normendurchsetzung. Schöningh. Paderborn Aristoteles (1985): Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes herausgegeben von Günther Bien. 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Rom, Palazzo Altemps 8575, https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Aristoteles/ media/ File: Aristotle_ Altemps_Inv8575.jpg 41 Abb. 7 Peter Singer: Von Joel Travis Sage-- Eigenes Werk, CC BY 3.0, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=52494 58 Abb. 8 Albert Schweitzer: Von Bundesarchiv, Bild 183- D011-0041-019 / Unbekannt / CC - BY - SA 3.0, CC BY - SA 3.0 de, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=531572 59 Abb. 9 Martin Gorke: privat 1 Abb. 10 Jeremy Bentham: © Georgios Kollidas/ Fotolia 73 Abb. 11 Adam Smith: Von Etching created by Cadell and Davies (1811), John Horsburgh (1828) or R.C. Bell (1872). - http: / / www.library. hbs.edu/ hc/ collections/ kress/ kress_img/ adam_smith2.htm, Gemeinfrei, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=497250 73 Abb. 14 Jürgen Habermas: Von photographer: Wolfram Huke at en.wikipedia, http: / / wolframhuke.de - Transferred from en. wikipedia; Transfer was stated to be made by User: ojs., CC BY - SA 3.0, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=4437474 101 Abb. 15 Immanuel Kant: Von Gottlieb Doebler-- http: / / www.philosovieth.de/ kant-bilder/ bilddaten.html, Gemeinfrei, https: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=32847847 105 (Nicht in allen Fällen konnten die Rechteinhaber ermittelt werden. Rechtmäßige Ansprüche können beim Verlag geltend gemacht werden.) <?page no="128"?> ,! 7ID8C5-ceihfi! ISBN 978-3-8252-4875-8 Planungsethik Eine Einführung für Raumplaner, Landschaftsplaner, Stadtplaner und Architekten Raumplaner, Landschaftsplaner, Stadtplaner und Architekten gestalten die Umgebung, in der wir leben. Sie übernehmen Verantwortung für ihre Planung und müssen sich mit den ethischen Grundlagen ihrer Planung auseinandersetzen. Ausgehend von Beispielen rückt dieses Buch die ethischen Aspekte der Planung in den Blick: Was tun, wenn die Bürger unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was für ein gutes Leben notwendig ist? Wie können die Vor- und Nachteile von Planungen gerecht verteilt werden? Soll der Markt die Verteilung regeln? Welche Bedeutung kommt der Natur zu? Wie lässt sich der Begriff Nachhaltigkeit im Hinblick auf die Planung verstehen? Philosophie | Architektur Planungsethik Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel