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Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten

0716
2018
978-3-8385-4910-1
978-3-8252-4910-6
UTB 
Markus Thomas Münter

Strategien von Unternehmen und Verhalten von Managern mit Mikroökonomie verstehen Mikroökonomie ist spannend! Das beweist Markus Thomas Münter in seinem Lehrbuch. Er verlässt sich bei der Stoffvermittlung nicht auf den überstrapazierten homo oeconomicus, sondern fundiert mikroökonomische Theorie durch empirische Daten, Praxisbeispiele und verhaltensökonomische Erkenntnisse. Auf diese Weise vermittelt er zudem Methoden der Strategieentwicklung, die auch später im Berufsleben nützlich sind.

UVK Verlag München Markus Thomas Münter Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten Dr. Markus Thomas Münter ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Mikroökonomie, an der htw saar. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlag 2018 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co KG Lektorat: Rainer Berger, München Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: © Robert Daley, iStock Druck und Bindung: CPI, Clausen & Bosse, Leck UVK Verlag Nymphenburger Str. 48 80335 München Telefon: 089/ 452174-66 www.uvk.de Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 72070 Tübingen Telefon: 07071/ 9797-0 www.narr.de UTB-Nr. 4910 ISBN 978-3-8252- 4910-6 Zusatzmaterialien online Sie können Zusatzmaterialien zum Buch auf Titelebene unter www.utb-shop.de (Reiter »Zusatzmaterial«) herunterladen! Vorwort Klagen über realitätsferne Lehre, fehlende Anwendbarkeit der Methoden und das vermeintlich offensichtliche Versagen der Volkswirte und der Volkswirtschaftslehre im Zusammenhang mit der Finanz- und Schuldenkrise des vergangenen Jahrzehnts gehören fast zum guten Ton. Viele Studierende beklagen zudem einen hohen Abstraktionsgrad von Modellen, unrealistische Annahmen betreffend der Rationalität von Entscheidern und den übermäßigen Einsatz von Mathematik - oftmals wird dann gefordert, Lehrstühle oder Professuren für Volkswirtschaftslehre umzuwidmen in stärker anwendungsbezogene Themenbereiche. Anwendungsorientierte Mikroökonomie, wie sie an internationalen Business Schools gelehrt wird, hat allerdings heute kaum noch etwas mit der manchmal auf angewandte Mathematik reduzierte Mikroökonomie der 1980er- oder 1990er-Jahre zu tun. Im Wesentlichen lassen sich die Veränderungen in drei Stoßrichtungen für erfolgreiche Lehre fassen:  ein fundierter Abgleich von Empirie und Theorie,  Berücksichtigung von verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen und  anwendungsorientierte Methoden zur Strategieentwicklung für Unternehmen. Dabei gleicht der immer schon überstrapazierte und entsprechend gescholtene Homo oeconomicus mittlerweile Schrödingers Katze: Kiste nicht öffnen, sonst könnte es sein, dass sie tot ist. Wir haben mittlerweile, auch durch Nobelpreise an Herbert Simon, Reinhard Selten, Daniel Kahneman oder Richard H. Thaler belohnt, einige robuste Erkenntnisse darüber, in welchen Situationen Menschen nahezu rational entscheiden, und wann und insbesondere warum sie davon abweichen. An vielen Hochschulen wird bereits heute eine anwendungsorientierte Mikroökonomie gelehrt, die in industrie- oder unternehmensspezifischen Fallstudien vor dem Hintergrund von Digitalisierung und globalem Wettbewerb zentrale empirische Beobachtungen gut erklären kann. Zudem liefert sie Handlungsanweisungen für Unternehmensstrategie und die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. So betitelt der Economist diese Entwicklung schon 2012 mit „A Golden Age of Micro“ und zeigt, dass Amazon, Google, Facebook und eBay in ihren Strategieabteilungen führende akademische Mikroökonomen beschäftigen. In diesem Kontext ist Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten im Rahmen meiner Vorlesungen in Saarbrücken entstanden. Studierende haben keine Berührungsängste mit modellhafter Abstraktion, wenn die Herleitung aus ihrer wahrgenommenen Realität erfolgt, nachvollziehbar und direkt ist. Empirie, Verwendung tatsächlicher Unternehmensdaten und Fallstudien orientiert an aktuellen Entwicklungen schaffen hierfür eine tragfähige Grundlage - um diesen Punkt klar zu machen: Zweiseitige Märkte in digitalen Geschäftsmodellen sind wichtiger als ein vermeintliches Giffen-Gut irgendwann im 18. Jahrhundert irgendwo in Schottland, wenn Mikroökonomie bei Studierenden ein Fundament für spätere Entscheidungen in Unternehmen legen soll. Zur Daseinsberechtigung der Mikroökonomie in der Ausbildung von Betriebswirten an anwendungsorientierten Hochschulen reicht es nicht, eine abstrahierende Sicht auf ökonomische Zusammenhänge zu vermitteln oder lediglich die Grundlagen für betriebswirtschaftliche Fächer wie Marketing oder Controlling zu schaffen. Vielmehr Vorwort 6 muss in der Lehre auch aufgezeigt werden, welche mikroökonomischen Methoden in der Unternehmenspraxis wirklich angewendet werden. Versteht man diese Konzepte als allgemein anwendbare „Werkzeuge“, dann wird aus der oft gefürchteten und mutmaßlich realitätsfernen Mikroökonomie ein Schweizer Taschenmesser, welches Studierende - gerade beim Einstieg in Strategieabteilungen oder Managementberatungen - unmittelbar einsetzen können. Dinge, die in diesem Buch stehen - und Dinge, die nicht in diesem Buch stehen Zielgruppe dieses Buches sind Studierende in den ersten Semestern betriebswirtschaftlicher Bachelorstudiengänge, deren mögliche Entwicklungslinien das Management von Unternehmen oder ein Einstieg in die Managementberatung sind. Der Schwerpunkt dieses Lehrbuchs zielt auf die aus Managementperspektive relevanten mikroökonomischen Konzepte, die regelmäßig in der täglichen Praxis vorkommen und für strategische Entscheidungen genutzt werden - unter anderem Preisdiskriminierung, Economies of Scale, Spieltheorie, Umgang mit Unsicherheit, Eintrittsbarrieren oder Sunk Costs - oder zum Verständnis von Marktstrukturen, Innovationen und Wettbewerbsverhalten notwendig sind. Der Fokus liegt auf Konzepten, die starke Querverbindungen zu betriebswirtschaftlichen Fächern haben und in Masterstudiengängen weiterführend in den Bereichen Industrieökonomie, Managerial Economics oder Wettbewerbspolitik vertieft werden. Zudem kommt natürlich Mathematik zum Einsatz - eine der zentralen Fragen ‚im richtigen Leben‘ ist ja fast immer: Rechnet sich das? Im Umkehrschluss bleiben viele Bereiche der Mikroökonomie außer Betracht, die mir in über 15 Jahren Unternehmensberatung und Management nie begegnet sind oder keinen engen Bezug zur Betriebswirtschaftslehre und Managemententscheidungen haben. Zudem werden wesentliche Themen - Marktversagen, öffentliche Güter, natürliche Ressourcen oder Arbeitsmarkt - ausgeklammert: In den meisten Curricula werden diese Inhalte in der Wirtschaftspolitik abgedeckt. Zudem werden Themen ausgespart, die ich vielleicht spannend finde, die aber bei Licht betrachtet in Breite und Tiefe nur für Studierende der Volkwirtschaftslehre auf dem Weg in eine wissenschaftliche Laufbahn wesentlich sind - im Anhang zu ► Kapitel 1 sind ausgezeichnete weiterführende Lehrbücher angeführt. Danke Ich danke meinen Studierenden - durch Diskussionen in den Vorlesungen, aber insbesondere im Rahmen von Abschlussarbeiten habe auch ich hoffentlich ein bisschen mehr Klarheit gewinnen können. Fabiane Mihut-Albeck gebührt mein allergrößter Dank für ihre Unterstützung im Vorfeld und beim akribischen Korrekturlesen, Philipp Klenner für hilfreiche Hinweise zu Kapitel 4, Steffen Häfele vom Bundeskartellamt für hilfreiche Tipps zu Kapitel 7 und Rainer Berger für die hervorragende und umsichtige verlegerische Betreuung. Dieses Buch ist zu weiten Teilen an der LaTrobe University in Melbourne geschrieben - Alex Maritz & Anahita Amirsardari: thanks mates, for making life and work so easy down under. Danke meinen Kolleginnen und Kollegen an der htw saar für die Möglichkeit, Wissenschaft zu betreiben. Meiner Frau Cecile dafür, dass dieses Leben möglich ist. Melbourne, Hamburg und Saarbrücken, im Juli 2018 Markus Thomas Münter Inhalt Vorwort ...........................................................................................................................................................................5 Abkürzungsverzeichnis ......................................................................................................................................... 10 Verzeichnis mathematischer und ökonomischer Variablen................................................................. 11 1 Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten ........................................... 15 1.1 Mikroökonomie zwischen Empirie, Theorie und Experimenten ........................................ 16 1.2 Märkte, Angebot und Nachfrage................................................................................................... 22 1.3 Preiselastizität und Grenzerlöse ..................................................................................................... 34 1.4 Zusammenfassung .............................................................................................................................. 44  Kontrollfragen....................................................................................................................................................... 45  Literatur................................................................................................................................................................... 45 2 Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte ........................................... 49 2.1 Kundenverhalten und Nachfrageentscheidungen.................................................................. 50 2.2 Marktabgrenzung und Produktkategorien................................................................................ 61 2.3 Netzwerkeffekte und mehrseitige Märkte ................................................................................. 75 2.4 Zusammenfassung .............................................................................................................................. 87  Kontrollfragen....................................................................................................................................................... 87  Literatur................................................................................................................................................................... 88 3 Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics...................................................... 91 3.1 Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit............................................................................ 92 3.2 Begrenzte Rationalität und Behavioral Economics ...............................................................108 3.3 Zusammenfassung ............................................................................................................................124  Kontrollfragen.....................................................................................................................................................125  Literatur.................................................................................................................................................................126 4 Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen ...................................................................131 4.1 Unternehmen, Unternehmensziele und Strategien..............................................................132 4.2 Wettbewerbsvorteile, Marktstruktur und unternehmensspezifische Fähigkeiten....138 4.3 Wettbewerb und Innovationen ....................................................................................................149 4.4 Zusammenfassung ............................................................................................................................164  Kontrollfragen.....................................................................................................................................................165  Literatur.................................................................................................................................................................165 Inhalt 8 5 Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen ..................... 171 5.1 Produktionsfunktion und Technologie ..................................................................................... 173 5.2 Kurzfristige Entscheidungen: abnehmendes Grenzprodukt und Produktivität......... 179 5.3 Langfristige Entscheidungen: technischer Fortschritt und Skalenerträge................... 187 5.4 Zusammenfassung ............................................................................................................................ 199  Kontrollfragen..................................................................................................................................................... 200  Literatur ................................................................................................................................................................ 200 6 Kosten, Restrukturierung und M&A......................................................................................... 203 6.1 Kostenfunktion, Entscheidungen und Wettbewerbsfähigkeit ......................................... 204 6.2 Kurzfristige Entscheidungen: Fixkosten und Grenzkosten ................................................ 209 6.3 Langfristige Entscheidungen: Anpassung der Kostenstruktur......................................... 216 6.4 Kostenseitige Wettbewerbsvorteile und M&A ...................................................................... 226 6.5 Zusammenfassung ............................................................................................................................ 236  Kontrollfragen..................................................................................................................................................... 237  Literatur ................................................................................................................................................................ 237 7 Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik...... 241 7.1 Entscheidungen eines Unternehmens bei vollständiger Konkurrenz ........................... 242 7.2 Produzenten- und Konsumentenrente als Maßstab für ökonomische Wohlfahrt .. 251 7.3 Monopol und marktbeherrschende Unternehmen.............................................................. 257 7.4 Wettbewerbsbeschränkungen, Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsbehörden .. 265 7.5 Zusammenfassung ............................................................................................................................ 273  Kontrollfragen..................................................................................................................................................... 274  Literatur ................................................................................................................................................................ 275 8 Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht................................................................................................................................. 277 8.1 Formen und Voraussetzungen von Preisdiskriminierung.................................................. 278 8.2 Direkte Preisdiskriminierung und Marktsegmentierung.................................................... 280 8.3 Indirekte Preisdiskriminierung und zweiteilige Tarife ......................................................... 285 8.4 Bundling ................................................................................................................................................ 294 8.5 Zusammenfassung ............................................................................................................................ 301  Kontrollfragen..................................................................................................................................................... 301  Literatur ................................................................................................................................................................ 303 Inhalt 9 9 Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie....................................................................305 9.1 Nash-Gleichgewichte in simultanen Spielen...........................................................................308 9.2 Risikoaversion und gemischte Strategien ................................................................................320 9.3 Sequentielle Entscheidungen und Commitment...................................................................325 9.4 Zusammenfassung ............................................................................................................................331  Kontrollfragen.....................................................................................................................................................332  Literatur.................................................................................................................................................................334 10 Strategischer Wettbewerb im Oligopol ..................................................................................337 10.1 Kapazitätsentscheidungen und Strategien beim Cournot-Wettbewerb......................340 10.2 Sequentielle Entscheidungen und Strategien bei Stackelberg-Wettbewerb .............352 10.3 Preisentscheidungen und Strategien bei Bertrand-Wettbewerb....................................357 10.4 Strategischer Wettbewerb bei Produktdifferenzierung......................................................365 10.5 Relevanz für Unternehmensstrategien ......................................................................................374 10.6 Zusammenfassung ............................................................................................................................379  Kontrollfragen.....................................................................................................................................................380  Literatur.................................................................................................................................................................381 Stichwortverzeichnis ............................................................................................................................................385 - Abkürzungsverzeichnis B2B Business to Business B2C Business to Consumer BPO Business Process Outsourcing bspw. beispielsweise CAGR Compound Annual Growth Rate (durchschnittliche jährliche Wachstumsrate) d.h. das heißt EBIT Earnings before Interest and Tax F&E Forschung und Entwicklung FTE Full Time Equivalents (Vollzeitarbeitskräfteäquivalent) ggfs. gegebenenfalls GuV Gewinn- und Verlustrechnung GWB Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung M&A Mergers and Acquisitions (Unternehmenszusammenschlüsse und -übernahmen) p.a. per annum (pro Jahr) PEST politisch-rechtliche, ökonomische, soziale und technologische Unternehmensumwelt RoE Return on Equity (Eigenkapitalrentabilität) ROIC Return on Invested Capital (Rentabilität des investierten Kapitals) SCP Structure-Conduct-Performance SIEC Significant Impediment on Effective Competition SSNIP Small but Significant Non-Transitory Increase in Price SWOT Stärken-Schwächen- und Chancen-Risiken-Analyse TEUR Tausend Euro TK Transaktionskosten z.B. zum Beispiel Verzeichnis mathematischer und ökonomischer Variablen 𝑳 𝒊 Lerner-Index 𝑹 𝟐 Bestimmtheitsmaß 𝑾 𝑹 risikobehafteter Erwartungswert des Vermögens 𝑾 𝑺 sicherheitsäquivalentes Vermögen 𝒆 𝑻𝑪 Gesamtkostenelastizität 𝒒 𝑫 nachgefragte Menge 𝒒 𝑺 angebotene Menge 𝒓 𝑫 Fremdkapitalzins 𝒓 𝑺𝑯 Eigenkapitalrenditeerwartung 𝒔 𝒊 Marktanteil von Unternehmen i 𝒛 𝒊 Zahlungsbereitschaft (Reservationspreise) 𝜺 𝑰 Einkommenselastizität der Nachfrage 𝜺 𝑿𝒀 Kreuzpreiselastizität der Nachfrage 𝜺 𝒑 Preiselastizität der Nachfrage 𝝈 𝟐 Varianz einer Verteilung ∆ absolute Differenz 𝟏/ 𝒃 Indikator für die Größe des Marktes 𝑨 technologische Effizienz 𝑨𝑷 Produktivität 𝑨𝑻𝑪 totale Durchschnittskosten 𝑨𝑽𝑪 variable Durchschnittskosten 𝑪𝑺 Konsumentenrente 𝑫 Nachfrage 𝑫𝑾𝑳 Deadweight Loss (Wohlfahrtsverlust) 𝑬 Preiselastizität einer Marktseite bei Netzwerkeffekten 𝑬𝑲 Eigenkapital 𝑬𝑼 erwarteter Nutzen 𝑬𝑽 Erwartungswert eines Ereignisses Verzeichnis mathematischer und ökonomischer Variablen 12 𝑭𝑪 Fixkosten 𝑭𝑲 Fremdkapital 𝑮𝑹𝑺 Grenzrate der Substitution 𝑮𝑹𝑻 Grenzrate der technischen Substitution 𝑰 Einkommen 𝑲 (Gesamt-)Kapital, Kapitaleinsatz 𝑳 Arbeit, Anzahl der Mitarbeiter 𝑴𝑪 Grenzkosten 𝑴𝑬𝑺 Minimimum Efficient Size (Mindestbetriebsgröße) 𝑴𝑷 Grenzprodukt 𝑴𝑹 Grenzerlös 𝑷𝑪𝑴 Preis-Kosten-Marge (Deckungsbeitrag) 𝑷𝑺 Produzentenrente 𝑸 Produktionsmenge oder Kapazität aller Unternehmen 𝑹 Erlöse (Umsatz) 𝑺 Angebot 𝑺𝑪 Sunk Costs 𝑻 Technologie, technologischer Pfad 𝑻𝑪 Gesamtkosten 𝑽 Unternehmenswert 𝑽𝑪 variable Kosten 𝑾 Vermögen 𝑾𝑨𝑪𝑪 Weighted Average Cost of Capital 𝒁 Lagrange-Funktion 𝒂 maximale Zahlungsbereitschaft 𝒃 Steigung der Nachfragefunktion 𝒅 totales Differential 𝒏 Zahl der Unternehmen 𝒑 Preis 𝒑𝒓 Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses 𝒒 Produktionsmenge oder Kapazität eines Unternehmens Verzeichnis mathematischer und ökonomischer Variablen 13 𝒓 Kapitalmarktzins, Diskontierungszinssatz 𝒕 Zeit 𝒖 Nutzen 𝒗 Wert in der Wertfunktion 𝒘 Lohnsatz (Stundenlohn, Monats- oder Jahresgehalt) 𝒘/ 𝒓 Lohn-Zins-Verhältnis 𝜶 partielle Produktionselastizität des Kapitals 𝜷 partielle Produktionselastizität der Arbeit 𝜸 industriespezifischer Grad horizontaler Produktdifferenzierung 𝜽 Stärke des indirekten Netzwerkeffektes 𝝀 Lagrange-Multiplikator 𝝁 Grad der Verlustaversion 𝝅 Gewinn 𝝎 Grad der Risikoaversion 𝝏 partielle Ableitung 1 Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten Unternehmerische Entscheidungen zu treffen, ist ein bisschen wie Kochen - es funktioniert irgendwie, auch wenn man es nicht kann, aber meist nicht sonderlich gut. Beim Kochen schaut man zunächst anderen zu, ab und an blickt man in ein Kochbuch, auf die Packung einer Tütensuppe oder in eine App - aber meistens nutzt man schlicht die Zutaten, die gerade in der Küche zu finden sind. Kochbücher sind keine wissenschaftlichen Lehrbücher. Kochanleitungen beschreiben, je nach Anspruchsniveau, das schrittweise Vorgehen, um eine vorgekochte Tomatensuppe zu erwärmen, oder vielleicht sogar etwas aufwendigere Speisen zuzubereiten (Kolmar 2017 und Barham 2001). Folgt man den Anweisungen auf der Rückseite der Tütensuppe oder im Kochbuch, hat man danach meist ein vernünftiges Essen auf dem Tisch - allerdings versteht man selten, weshalb. Und genauso, wie man irgendwie kochen muss, auch wenn man es nicht richtig kann, müssen Manager Entscheidungen treffen. Natürlich kann man sich auch Essen kommen lassen - Lieferheld, Deliveroo oder Delivery Hero sei dank - und Manager in Unternehmen können McKinsey & Company, Bain & Company oder BCG kommen lassen, aber auf Dauer ist das ein teurer Spaß. In diesem Sinne ist Mikroökonomie kein Kochbuch: Mikroökonomie versucht keine schrittweisen Anleitungen für unternehmerisches Handeln oder Entscheidungen zu liefern. Im Mittelpunkt steht, Ursachen für das beobachtbare Verhalten und die Entscheidungen von Menschen in ökonomischen Situationen zu erklären, um herauszuarbeiten, welche Auswirkungen sich für Märkte, Unternehmen und Wettbewerb ergeben. Dennoch liefern die Beobachtungen natürlich Orientierungspunkte für künftige Entscheidungen und die Einordnung von Wettbewerbssituationen insbesondere aus Managementperspektive. Die mikroökonomische Perspektive ist mindestens dreigeteilt:  Entscheidungen von Kunden in unterschiedlichen Situationen und Rahmenbedingungen - bspw. beim Kauf eines Smartphones - beschreiben und erklären können.  Strategische Entscheidungen von Managern in Unternehmen - bspw. die Festlegung von Produktionskapazitäten oder Preisen für die nächste Smartphone-Generation - herleiten und begründen können.  Das Zusammenspiel der Entscheidungen, die Interaktion von Unternehmen und Kunden in Märkten und die Auswirkungen auf Preise, Mengen, Marktstrukturen oder Gewinne der Unternehmen - den Niedergang von Nokia und Research in Motion sowie den gleichzeitigen Erfolg von Samsung und Apple - nachvollziehen und quantifizieren können. Mikroökonomie analysiert die Entscheidungen von Kunden und Unternehmen, deren Zusammenspiel und die Funktionsweise von Märkten. Mikroökonomie kann für mindestens zwei Zielgruppen wichtige Unterstützung bieten: einerseits für Unternehmen, die Strategien für unterschiedliche Wettbewerbssituationen entwickeln wollen, andererseits für staatliche Institutionen wie bspw. Wettbewerbsbehörden, deren Ziel die Funktionsfähigkeit von Märkten ist. Makroökonomie dagegen betrachtet die gesamte Volkswirtschaft und versucht, Erklärungen für Arbeitslosigkeit, Inflation, Konjunkturzyklen und Wachstum zu geben. Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 16  Lernziele Dieses Kapitel beschäftigt sich mit  den Zielsetzungen von Mikroökonomie aus Managementperspektive,  dem Zusammenspiel von Theorie und Empirie zur Ableitung von ‚Stadtplänen für Märkte und Wettbewerb‘,  den grundlegenden Zusammenhängen von Angebot und Nachfrage sowie der Bestimmung eines Marktgleichgewichtes und  der Preiselastizität der Nachfrage und Grenzerlöse als Messgrößen der Effekte von Preisänderungen auf die nachgefragte Menge und Umsätze. 1.1 Mikroökonomie zwischen Empirie, Theorie und Experimenten Weshalb befinden sich in vielen Städten der Welt die Filialen von Burger King und McDonald’s in unmittelbarer Nähe zueinander? Weshalb verkauft Microsoft die Produkte Word, Excel und PowerPoint einzeln, aber auch in einem Office Paket - und zu welchem Preis? Wie viele Mitarbeiter muss Osram entlassen, weil die EU Kommission die Produktion konventioneller Glühbirnen untersagt hat? Wieso bietet die Deutsche Bahn eine Bahncard 50 an - und wie legt sie deren Preis optimal fest? Kann BMW durch strategisches Verhalten dem neuen Konkurrenten Tesla den Marktzutritt sperren? Was ist der Wert des 50: 50-Jokers bei Wer wird Millionär? Mikroökonomie versucht, derartige Fragestellungen zu beantworten. In den folgenden Kapiteln werden die notwendigen Konzepte und Frameworks dazu entwickelt und angewendet. Abbildung 1.1: Wasserflaschenpark. Mikroökonomie analysiert Märkte und das Verhalten von Käufern und Verkäufern - man kann sich einige der grundlegenden Fragestellungen an folgendem Beispiel klar machen. An einem 4,50 2,00 0,50 3,00 5,00 4,00 1,50 2,50 3,50 1,00 1,50 2,50 3,50 4,50 0,50 2,00 3,00 4,00 5,00 1,00 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 Mikroökonomie zwischen Empirie, Theorie und Experimenten 17 sehr heißen Feiertag, an dem alle Geschäfte geschlossen sind, befinden sich 20 Menschen in einem weitläufigen Park - die eine Hälfte besitzt je eine geschlossene 1Liter Wasserflasche (ohne Kohlensäure und absolut identischer Qualität und Temperatur) und ist in keiner Weise durstig, die andere Hälfte ist sehr durstig, besitzt aber keine Wasserflaschen. Die Situation lässt sich in etwa wie in ► Abbildung 1.1 beschreiben: Die zehn Besitzer der Wasserflaschen (schwarze Figuren) wären im Prinzip bereit, ihre Wasserflaschen zu verkaufen, die zehn potenziellen Kunden (graue Figuren) wären grundsätzlich bereit, dafür zu bezahlen. Allerdings unterscheiden sich die Preisvorstellungen der Verkäufer und die Zahlungsbereitschaft der Durstigen, zudem kennen weder Verkäufer noch Käufer die Preisvorstellungen und Zahlungsbereitschaft der jeweils anderen Marktseite. Was wird nun passieren? Wie viele Flaschen werden verkauft, zu welchen Preisen? Wie finden sich potenzielle Verkäufer und Käufer? Wie kann ein Verkäufer den höchsten Preis erzielen, wie kann ein Käufer den niedrigsten Preis erzielen? Modelle, Stadtpläne und Mikroökonomie Realität ist in ihrer Komplexität nicht beschreibbar, daher basiert Wissenschaft auf Abstraktion. Wissenschaft versucht, Regelmäßigkeiten der Realität zu identifizieren, zu erklären und - wo angebracht - nutzbar zu machen. Um diese Regelmäßigkeiten in ihrer komplexitätsreduzierten Form greifbar zu machen, werden Modelle verwendet. Modelle können, neben einer vereinfachenden Abbildung der Wirklichkeit, der wahrgenommenen Realität insbesondere Entscheidbarkeit hinzufügen - das ist offensichtlich für jeden Stadtplan bis hin zu Google Maps. In diesem Sinne versorgt Mikroökonomie künftige Manager mit Stadtplänen für Wettbewerb und Märkte: Mit empirisch belastbaren, wenngleich abstrahierend modellhaften Abbildungen wird Entscheidbarkeit hinzugefügt - und diese ist schließlich zentral, wenn Mikroökonomie als erklärend für Entscheidungen, die Manager in Unternehmen treffen, verstanden wird. In Analogie zu den Stadtplänen gilt aber auch: Kein Modell kann alle Aspekte der Realität gleichzeitig abdecken - so hat Google Maps unterschiedliche Sichten für Autofahrer (mit Verkehrs- und Stauinformationen), für Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs (mit Abfahrtszeiten und Umsteigeverbindungen) oder für Touristen (mit Hinweisen auf Sehenswürdigkeiten) - weil sonst der Blick für wesentliche Informationen verstellt wird. Modelle vereinfachen und abstrahieren immer, um die Realität handhabbar zu machen. Zudem werden Zusammenhänge und Elemente herausgestellt, die für Entscheidungen wesentlich erscheinen: So sind in Stadtplänen Hauptverkehrstraßen in grün oder orange markiert, obwohl dies nicht der Realität entspricht, und in deutlich vergrößertem Maßstab eingezeichnet (Meyer 1996). In ähnlicher Weise stellen mikroökonomische Modelle unterschiedliche Aspekte - bspw. in ► Kapitel 3 Entscheidungen bei begrenzter Rationalität, in ► Kapitel 8 Preisstrategien oder in ► Kapitel 10 strategischen Wettbewerb - aus Perspektive der jeweiligen Entscheidungssituation besonders heraus. Mikroökonomische Analysen basieren auf Regelmäßigkeiten in Entscheidungen und typischen Entwicklungen in Märkten. Um Regelmäßigkeiten wissenschaftlich zu identifizieren, werden zwei sich ergänzende wissenschaftstheoretische Perspektiven, wie in ► Abbildung 1.2 dargestellt, eingenommen: Deduktion und Induktion. Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 18 Deduktion bedeutet, dass aus einer Menge plausibler Annahmen durch logisches Schließen und Ableiten eine Theorie entwickelt wird. Diese kann durch Falsifikation - den Nachweis falscher Schlussfolgerung oder Verletzung logischer Regeln - widerlegt werden. Aus gegebenen Rahmenbedingungen und Überlegungen (einem Modell) können dann Hypothesen formuliert werden, d.h. aus allgemeinen theoretischen Überlegungen wird auf einen besonderen Fall geschlossen, der in der Realität erwartet wird. So hat Einstein 1918 theoretisch Gravitationswellen vorhergesagt, der Nachweis in der Realität ist erst 98 Jahre später gelungen (Einstein 1918 und Abbott et al. 2016). Induktion geht genau den anderen Weg: Auf Basis von Empirie - der systematisch, aber ausschnittsweise beobachteten Realität - wird ein regelmäßiges Muster vermutet und abstrahierend sowie verdichtend auf ein allgemeines Modell geschlossen. Empirische Modelle können durch Beobachtung eines widersprüchlichen Einzelfalls falsifiziert werden, allerdings kann eine induktive Schlussfolgerung niemals verallgemeinert werden (Popper 1934). So ging man in Europa, auf Basis konsistenter empirischer Beobachtungen, sehr lange davon aus, dass alle Schwäne weiß sind - und entwickelte auch Erklärungen, warum es überhaupt nicht anders sein kann. 1697 hat dann der niederländische Seefahrer de Vlamingh in Australien erstmals schwarze Schwäne beobachtet - die ganze Theorie weißer Schwäne war falsch (Taleb 2007). Abbildung 1.2: Empirie, Hypothesen und Theorie als Basis für Managemententscheidungen. Im Zusammenspiel von Induktion und Deduktion werden dann Hypothesen möglich, die einen Abgleich von Modell (der theoretischen und abstrakten Vorstellung der Realität) und Fakten (der empirischen Beobachtung und Einordnung der Realität) ermöglichen (Blaug 1992 und Münter 1999). Entscheidungen von Managern sind immer Hypothesen auf Basis eines Modells, welches sich in der Realität bewähren muss - ohne ein Modell ist eine logische Entscheidung nicht möglich, da die bloße Wahrnehmung der Realität keine Entscheidbarkeit herbeiführt. So hilft es einem Manager relativ wenig, stundenlang eine Bilanz anzusehen, wenn er das Modell (doppelte Buchführung, Aktiva vs. Passiva, periodengerechte Abgrenzung und die zugehörigen Rechnungslegungsvorschriften) nicht kennt - ein Betrachten der Realität ohne Modell ermöglicht keine Schlussfolgerung und fundiert keine Entscheidung. Modelle (Theorie) Fakten (Empirie) Induktion Deduktion Entscheidungen (Hypothesen) modellhafte Abstraktion der Kosten als Kostenfunktion Kosten aus Analyse der GuVs der vergangenen Jahre Mikroökonomie zwischen Empirie, Theorie und Experimenten 19 Modelle, Daten, Ökonometrie und stilisierte Fakten Aus mikroökonomischer Sicht sind Modelle theoriegeleitete Vorstellungen und Abbildungen der Realität, die empirisch fundiert sind. Empirische Daten der Entscheidungen - sei es von Kunden oder Managern - können aus Markt- und Wettbewerbsanalysen stammen. Zahlen, Daten und Fakten zu einzelnen Unternehmen aus der Unternehmensberichterstattung (Geschäftsberichte mit Gewinn- und Verlustrechnung, Bilanz, insbesondere aber Lagebericht und Strategiepräsentationen) spiegeln immer Entscheidungen in Märkten wider. Wenn der Marktanteil von Villeroy & Boch in China ansteigt, dann ist das ein Abbild zahlreicher Entscheidungen von Kunden, des Managements von Villeroy & Boch sowie indirekt auch der Rückwirkungen der Entscheidungen der Wettbewerber von Villeroy & Boch, deren Marktanteile zurückgehen. Um den Zusammenhang zwischen Werbeaufwand und Gewinn eines Unternehmens systematisch zu analysieren, können bspw. Fakten aus der GuV oder Bilanz entnommen werden. Durch statistische Analysen und Methoden werden regelmäßige Muster in den Daten erkennbar, die dann zu modellhaften Erklärungen verdichtet werden, wie in ► Abbildung 1.3 skizziert. Abbildung 1.3: Empirie und Theorie. Dieser wechselseitige Abgleich von Daten und theoretischen Modellen wird als Ökonometrie bezeichnet - sie umfasst mathematische Datenanalyse und statistische Methoden, um theoretische Modelle anhand von Daten empirisch zu überprüfen, zu quantifizieren oder zu kalibrieren. In der Regel kommen hier verschiedene Formen von Regressionsanalysen auf Basis von Querschnittsdaten (einzelner oder vieler verschiedener Unternehmen einer oder mehrerer Industrien) oder Zeitreihendaten (Entwicklung bestimmter Größen im Zeitablauf) zum Einsatz und können mit Statistikprogrammen oder Excel durchgeführt werden (Kennedy 2008 sowie Davis und Pecar 2013). Modelle (Theorie) zur Erklärung der beobachteten Realität Fakten (Empirie) als beobachtete Realität Analyse der Zeitreihen- oder Querschnittsdaten mit Statistik (Ökonometrie) 3 1 2 π 0 0 Werbeaufwand 0 π = π (Werbeaufwand) Werbeaufwand Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 20 In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften werden Daten und Ergebnisse empirischer Studien in stilisierte Fakten verdichtet. Stilisierte Fakten beschreiben regelmäßig beobachtbare („typische“) und als wesentlich erachtete Grundzusammenhänge empirischer Studien, bspw. zwischen Werbeaufwand und Gewinn eines Unternehmens, und können als robuste empirische Regelmäßigkeiten dann Grundlage eines Modells sein. Das heute gängige Verständnis des Begriffs stilisierter Fakten geht auf Kaldor (1961) zurück: „Any theory must necessarily be based on abstractions; but the type of abstraction chosen cannot be decided in vacuum: it must be appropriate to the characteristic features of the economic process as recorded by experience. Hence the theorist, in choosing a particular theoretical approach, ought to start off with a summary of the facts which he regards as relevant to his problem. Since facts, as recorded by statisticians, are always subject to numerous snags and qualifications, and for that reason are incapable of being accurately summarized, the theorist, in my view, should be free to start off with a ‘stylized’ view of the facts - i.e. concentrate on broad tendencies ignoring individual detail, and proceed on the ‘as if’ method, i.e. construct a hypothesis that could account for these ‘stylized’ facts, without necessarily committing himself on the historical accuracy, or sufficiency, of the facts or tendencies thus summarized.“ (Kaldor 1961, S. 177 f.). Dabei ist zwangsläufig, dass immer auch den stilisierten Fakten widersprechende Beobachtungen aufzufinden sind: Wesentlich ist, sorgfältig zwischen Regelmäßigkeiten und Ausnahmen zu trennen. Ein theoretisches Modell beschreibt eine mögliche Erklärung einer regelmäßigen und als typisch erachteten empirischen Beobachtung. Damit geht - im Gegensatz zu einer zufälligen Koinzidenz - eine Beschreibung einer Kausalitätsbeziehung einher, d.h. einer funktionalen Ursache-Wirkungs-Beziehung zur Erklärung eines Effektes. Im Rahmen eines Modells zu erklärende oder erklärbare Größen werden als endogene Variablen bezeichnet: in mikroökonomischen Modellen bspw. der Gewinn. Die zur Erklärung herangezogenen Größen sind exogene Variablen - bspw. die Marktstruktur oder die Wettbewerbsintensität in einer Industrie, können aber auch vom Unternehmen steuerbare Größen wie der Marketingaufwand oder die F&E-Strategie sein. Die funktionale Beziehung zwischen exogener und endogener Variable kann nur einen Teilaspekt einer Erklärung geben - zudem kann die Beziehung wechselseitig kausal sein. Sowohl endogene wie exogene Variablen können zudem von Größen außerhalb des Modells beeinflusst sein. In ► Abbildung 1.3 rechts ist zu sehen, dass offenbar eine Wirkung des Werbeaufwands auf den Gewinn 𝜋 von Villeroy & Boch vorliegt - der Gewinn 𝜋 ist mathematisch gesehen hier eine Funktion 𝜋 𝜋 𝑀 des Werbeaufwands 𝑀 . Ist der Werbeaufwand sehr gering, ist der Gewinn negativ, mit steigendem Werbeaufwand steigt der Gewinn zunächst überproportional an. Allerdings hält dieser Effekt nicht an: Ab einem bestimmten Punkt reduziert steigender Werbeaufwand den Gewinn. Ein Manager von Villeroy & Boch kann jetzt dieses empirisch fundierte Modell nutzen, um künftige Entscheidungen über den Werbeaufwand zu treffen, um den Gewinn zu steigern. Mikroökonomie zwischen Empirie, Theorie und Experimenten 21 Experimente und Behavioral Economics Entscheidungen lassen sich empirisch nur ex post und indirekt - etwa über die Analyse getroffener Kaufentscheidungen oder umgesetzter Unternehmensstrategien - beobachten. Die indirekte Analyse von Entscheidungen auf Basis von Markt- und Wettbewerbsdaten hat mehrere Defizite, unter anderem Datenbeschaffung und -qualität, Vergleichbarkeit der Daten aus verschiedenen Industrien, Märkten, Regionen und Zeiträumen sowie die Auswahl und Spezifikation der richtigen ökonometrischen Methoden. Ein wesentlicher Nachteil ist aber, dass der Entscheidungsprozess nicht direkt beobachtbar ist: So sind zwar Folgen der Entscheidungen selbst, manifestiert in Marktanteilen oder Absatzzahlen von Smartphones, erkennbar, aber die eigentliche Entscheidung, die Rahmenbedingungen der Entscheidung oder die alternativ betrachteten Produkte sind nicht beobachtbar. Vor diesem Hintergrund führen Mikroökonomen seit den 1980er-Jahren verstärkt Experimente durch. Ziel ist, unter kontrollierten Laborbedingungen das Entscheidungsverhalten und insbesondere die Interaktion von Menschen in strategischen Entscheidungssituationen zu beobachten und zu analysieren. Ein starker Treiber für diese Experimente ist es, zu überprüfen, ob Menschen tatsächlich vollständig rational entscheiden und handeln, oder ob regelmäßige Abweichungen von vollständiger Rationalität beobachtet werden können: Tatsächlich haben die experimentell gewonnenen Erkenntnisse einen deutlichen Beitrag zur Entstehung von Behavioral Economics, der verhaltenswissenschaftlichen Analyse ökonomischer Entscheidungen, geleistet (weiterführend hierzu ► Kapitel 3). In den vergangenen Jahrzehnten wurden verstärkt Experimente durchgeführt, um individuelles Entscheidungsverhalten, dessen Einflussfaktoren und entstehende dynamische Interaktion zu untersuchen. Um die Robustheit der abgeleiteten Aussagen sicherzustellen, erweisen sich aktuell standardisierte, computer- und simulationsgestützte Laborexperimente als wegweisend für die weitere Forschung. Der Vorteil von ökonomischen Laborexperimenten ist, dass das Entscheidungsverhalten direkt, unter kontrollierten und veränderbaren Rahmenbedingungen beobachtet werden kann. Somit kann eine einfache Prüfung der Konsistenz von Entscheidungen und Handlung, sowie des Ausschließens von alternativen Erklärungen stattfinden. Zudem können Erklärungen gefunden werden, die in abstrakten Daten (wie einer Bilanz oder Gewinn- und Verlustrechnung) nicht erkennbar sind oder sich nicht einzelnen Entscheidungen zuordnen lassen. Mit Laborexperimenten sind aber eine Reihe von Nachteilen und Herausforderungen verbunden. Teilnehmer an einem Experiment sind sich natürlich über die Teilnahme bewusst. Damit rufen Laborsituationen bestimmte Verhaltensweisen hervor und unterdrücken andere: Es gibt Hinweise darauf, dass Teilnehmer sich den Erwartungen des Forschers oder gemäß des ‚üblichen Ergebnissen‘ eines Experiments verhalten wollen, zudem unterscheidet sich die Laborsituationen in monetären und sozialen Nachwirkungen drastisch von Entscheidungen im richtigen Leben. Daneben werden zahlreiche Experimente, im Wesentlichen aus Kostengründen, mit Studierenden an Hochschulen durchgeführt, die eben gerade kein repräsentatives Abbild aktueller Entscheider in realen Märkten sind. Jedoch bestätigen, wenngleich seltene, Tests mit Managern typische Ergebnisse der Experimente mit Studierenden (Kagel und Roth 2016 sowie Davis und Holt 1993). Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 22 Die Herausforderungen der Laborexperimente können in Teilen durch Feldexperimente gelöst werden - hier wird das Experiment, unbewusst für die Teilnehmer, in realen Umgebungen durchgeführt, bspw. mit tatsächlichen Kunden in Form unterschiedlicher Produktangebote oder Preise in ansonsten identischen Supermarktfilialen. Zudem werden diese Feldexperimente auch von Unternehmen, insbesondere auch online, durchgeführt - so zeigt bspw. der Versicherer CosmosDirekt potenziellen Kunden in Abhängigkeit der IP-Adresse unterschiedliche Produktpakete oder Produktanordnungen auf der Website, um das Entscheidungsverhalten der Kunden besser kennenzulernen (Levitt und List 2009, List und Reiley 2007 sowie Gneezy und List 2006). 1.2 Märkte, Angebot und Nachfrage Mikroökonomie beschäftigt sich mit der Funktionsweise von Märkten und den daraus entstehenden Marktergebnissen. Umgangssprachlich werden auf einem Markt Waren zwischen Käufern und Verkäufern gehandelt. Um - auch für die nachfolgenden Kapitel - begriffliche Klarheit zu schaffen: Märkte sind Institutionen (Systeme, Regeln, Muster und Strukturen), in denen wiederkehrend Transaktionen zwischen Marktteilnehmern angestrebt oder durchgeführt werden. Im Einzelfall kann ein Markt räumlich, zeitlich oder inhaltlich eng definiert werden, bspw. als deutscher Automobilmarkt im Jahr 2018, auf dem Personenkraftwagen von Unternehmen verkauft und von Endkunden gekauft werden. Aber auch der automatisierte Handel zwischen Hochleistungscomputern über Rechenkapazität beschreibt einen Markt, ebenso wie der globale Handel von Emissionsrechten zwischen Unternehmen und Staaten. Märkte als Institution Märkte als Institutionen unterscheiden sich in ihren Systemen, Regeln, Mustern und Strukturen unter anderem nach gehandelten Produkten und Dienstleistungen, der Rolle und Anzahl der Marktteilnehmer, nach dem (Stand-)Ort, dem institutionellen Organisationsgrad, dem Informationsgrad der Marktteilnehmer sowie der Art der Preis- und Mengenbestimmung. Die Institutionen sowie insbesondere die Preis- und Mengenbestimmung können zahlreiche Ausprägungen annehmen - die Bandbreite reicht von spontanen Transaktionen, bei denen sich die Marktteilnehmer immer wieder neu auf die Art der Abwicklung der Transaktion verständigen und den Preis verhandeln, über Auktionen mit veränderlichen Preisen (wie bspw. bei der Versteigerung von Antiquitäten oder Werbeplätzen bei Google) bis hin zu regulierten Märkten, in denen der Staat oder der Betreiber des Marktes sowohl mögliche Transaktionen als auch Modelle und Vorgehensweise zur Preisfindung sowie Abwicklung der Transaktionen festlegt. Dies ist bspw. der Fall beim Handel von Wertpapieren. Der Betrieb des Marktes (die Börse) sowie die Teilnahme sind genehmigungs- und anmeldepflichtig, die Art der durchführbaren Geschäfte, die möglichen Produkte sowie die Art der Preisermittlung und Abwicklung einer Transaktion sind in Deutschland über das Börsen- und das Wertpapierhandelsgesetzt nahezu vollständig determiniert, zudem wird jede Transaktion von der Börsenaufsicht und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht überwacht. Außerdem verändern sich Märkte teilweise drastisch im Zeitablauf getrieben durch Veränderungen der Präferenzen der Kunden, Innovationen und technologischen Neuerungen auf Märkte, Angebot und Nachfrage 23 Seite der Unternehmen und Regulierung durch den Staat und veränderte Institutionen sowie durch Rückwirkungen aus Veränderungen in anderen Märkten. Produktmärkte, Faktormärkte und Transaktionskosten Eine erste hilfreiche und vereinfachende Strukturierung ist, die Marktteilnehmer als Käufer (die Nachfrageseite) und Verkäufer (die Angebotsseite) eines Produktes, einer Dienstleistung oder eines sonstigen Gutes (bspw. Rechte, Informationen, Daten oder Derivate auf originäre Produkte) zu klassifizieren. Wenn die Angebotsseite durch Unternehmen gegeben ist, werden diese in Summe als Industrie (bspw. Telekommunikationsindustrie, Pharmaindustrie oder Finanzdienstleistungsindustrie) bezeichnet. Übergeordnet sind Wirtschaftszweige (wie bspw. verarbeitendes Gewerbe, Bildung oder Baugewerbe), untergeordnet sind Produkte (bspw. auf Basis der SIC/ ISIC-Klassifizierung als PKWs, Girokonten oder Smartphones). In Produktmärkten werden physische oder digitale Produkte zwischen Unternehmen (B2B) oder zwischen Unternehmen und Kunden (B2C) gehandelt, in Faktormärkten werden Arbeit und Kapital als Einsatzfaktoren für Produktion und Dienstleistung auf dem Arbeitsmarkt und dem Kapitalmarkt gehandelt. Mit der Durchführung einer Transaktion auf einem Markt sind Kosten verbunden: Such- und Informationskosten der Marktteilnehmer, Provisionen, Dienstleistungen von Intermediären zur Anbahnung oder Abwicklung der Transaktion und die Nutzung des Marktes als solcher. Diese Kosten werden als Transaktionskosten bezeichnet. Wenn diese Transaktionskosten zu hoch sind, kommt eine Transaktion entweder nicht zustande, oder aber sie wird in einer anderen Institution - bspw. einem Unternehmen - abgebildet (► Kapitel 4). Marktangebot, Marktnachfrage, Preise und Mengen Eine zentrale mikroökonomische Fragestellung ist, wie sich in einem Markt durch das Zusammenspiel von Käufern und Verkäufern Preise und Mengen bilden. Die Analyse von Märkten im Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage versucht - aus unterschiedlichen Blickwinkeln - herauszufinden, welche Anzahl an Transaktionen, mit welchen Mengen und zu welchen Preisen, zustande kommen und wie groß die Erlöse, als Preis multipliziert mit Menge, sind. So wurden durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage 2016 in Deutschland 23,7 Mio. Smartphones zu einem durchschnittlichen Preis von 407 EUR verkauft (Statista 2017). Damit ergibt sich ein Erlös (gleichbedeutend mit Umsatz) im Gesamtmarkt von 9,65 Mrd. EUR. Um eine erste Erklärung für das Zustandekommen dieses Marktergebnisses zu verstehen, werden jetzt Nachfrageseite und Angebotsseite getrennt voneinander betrachtet. In ► Abbildung 1.4 links ist die (hypothetische) Nachfrage nach Smartphones in Deutschland abgebildet, die bspw. über eine Kundenbefragung der Zahlungsbereitschaft („Wären Sie bereit, für 150 EUR ein Smartphone zu kaufen? “) ermittelt werden kann. Die individuelle Zahlungsbereitschaft eines Kunden gibt an, welchen Preis dieser Kunde maximal für ein Smartphone einer bestimmten Qualität oder Marke zu zahlen bereit wäre. In ► Abbildung 1.4 rechts sind die individuellen Zahlungsbereitschaften durch eine - vereinfachend linear angenäherte - Linie als Nachfragekurve des gesamten Marktes verbunden. Durch die Schnittpunkte mit der Preis- und Mengenachse können jetzt zwei wichtige Informationen ermittelt Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 24 werden: (1) Kein Kunde ist bereit, mehr als 1.000 EUR für ein Smartphone zu bezahlen, und (2) 40 Mio. Kunden würden ein Smartphone zu einem Preis von 0 (also geschenkt) annehmen. Abbildung 1.4: Zahlungsbereitschaft und Nachfragekurve für Smartphones. Die Nachfragekurve verläuft fallend: Je höher der Preis, desto niedriger ist die Nachfrage nach einem Produkt. Aus diesen Informationen lässt sich eine - hier vereinfachend linear angenommene - Nachfragefunktion rekonstruieren. Eine (inverse) Nachfragefunktion beschreibt den wechselseitigen funktionalen Zusammenhang zwischen nachgefragter Menge 𝑞 (in Mio. Smartphones) in Abhängigkeit des Preises 𝑝 bei sonst unveränderten Rahmenbedingungen, in diesem Beispiel als (1.1) 𝑝 𝑞 𝑎 𝑏𝑞 1000 25𝑞 . 𝑎 bezeichnet die maximale Zahlungsbereitschaft im Markt (1000 EUR) und 𝑏 gibt die Steigung der Nachfragefunktion an, die hier wegen 𝑏 25 beträgt. Mit jeder Preissenkung um 25 EUR steigt die nachgefragte Menge an Smartphones um 1 Mio. an. Umgekehrt kann man durch Division der maximalen Zahlungsbereitschaft mit der Steigung der Nachfragefunktion die maximale Nachfrage des Marktes als 𝑞 40 ermitteln, maximal 40 Mio. Stück. ist ein Indikator für die Größe der Nachfrage in einem Markt. Determinanten der Zahlungsbereitschaft der Kunden und des Verlaufs und der Lage der Nachfragekurve in einem Markt sind neben dem Preis auch das Einkommen, die Preise anderer Produkte, das Verhalten anderer Kunden, die Qualität der Produkte und das Marketing der Unternehmen (weiterführend ► Kapitel 2 und ► Kapitel 3) - so steigt die Nachfrage nach Smartphones mit steigendem Einkommen, aber insbesondere mit günstigen Datentarifen. In ► Abbildung 1.5 ist skizziert, dass eine Veränderung der Zahlungsbereitschaft aller Kunden die Nachfragekurve parallel verschiebt, eine Veränderung der Größe des Marktes führt zu einer Drehung der Nachfragekurve. Menge q Preis p 0 1 10 individuelle Zahlungsbereitschaft verschiedener Kunden 1000 40 Menge q Preis p 0 1 10 1000 ist die höchste Zahlungsbereitschaft im Markt 1000 40 tatsächlich maximale Zahl der Kunden, wenn der Preis auf 0 gesenkt wird Nachfragekurve als modellhafte (hier lineare) Abbildung der Zahlungsbereitschaften der Kunden Märkte, Angebot und Nachfrage 25 Abbildung 1.5: Veränderungen der Nachfragefunktion. In gleicher Weise wie auf der Nachfrageseite kann man durch Befragung der Unternehmen oder Marktforschung deren individuelle Bereitschaft ermitteln, in Abhängigkeit eines erzielbaren Preises ein Smartphone anzubieten. Determinanten des Angebots sind neben dem erzielbaren Preis ganz wesentlich Technologie, Produktionskapazität und Kostensituation eines Unternehmen sowie die mit einem bestimmten Preis verbundene Gewinnerwartung, aber auch das Verhalten der Wettbewerber (vgl. weiterführend ► Kapitel 5, ► Kapitel 6, ► Kapitel 7 und ► Kapitel 10) - wenn die Kosten für die Herstellung von Touchscreens sinken, werden die meisten Smartphone-Hersteller ihre Produktion und das Angebot ausweiten, dagegen führen Produktionsausfälle bei Chiplieferanten zu einem Rückgang des Angebots. In ► Abbildung 1.6 links ist das (hypothetische) Angebot verschiedener Unternehmen angegeben, zu einem bestimmten Preis Smartphones am Markt anzubieten. Die individuelle Bereitschaft der Unternehmen, Smartphones anzubieten, steigt, je höher der erzielbare Preis ist. In ► Abbildung 1.5 rechts sind die individuellen Angebote der Unternehmen mit einer Angebotskurve des gesamten Marktes verbunden. Die Angebotsfunktion beschreibt den funktionalen Zusammenhang zwischen angebotener Menge 𝑞 (wieder in Mio. Stück) in Abhängigkeit des Preises 𝑝 bei sonst unveränderten Rahmenbedingungen. Diese lässt sich - anlog zur Nachfragefunktion - rekonstruieren und ergibt sich als (1.2) 𝑝 𝑞 360 2𝑞 . Ab einem erzielbaren Preis von 360 EUR werden Smartphones angeboten, mit jedem zusätzlichen Marktpotenzial von 1 Mio. Stück werden Unternehmen in den Markt eintreten, die Produktion ausweiten und ihre Preise um 2 EUR erhöhen. Menge q Preis p 0 40 1 10 1000 Menge q Preis p 0 40 1 10 Menge-q Preis p 0 40 1 10 Menge q Preis p 0 40 1 10 1000 25 50 32 ursprüngliche Nachfragefunktion Rückgang Zahlungsbereitschaft - a sinkt Anstieg Größe des Marktes - b sinkt Rückgang Größe des Marktes - b steigt 1000 1000 800 p p q a bq 1000 25q p p q a bq 800 25q p p q a bq 1000 20q p p q a bq 1000 40q Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 26 Abbildung 1.6: Individuelles Angebot und Angebotskurve für Smartphones. In einem stark vereinfachten Modell können nun Angebots- und Nachfragekurve zusammen betrachtet werden. Offensichtlich ergibt sich in ► Abbildung 1.7 links ein Schnittpunkt von Angebot und Nachfrage, der als Marktgleichgewicht wechselseitig die Menge und den Preis bestimmt. Ein Marktgleichgewicht ist die einzige Preis-Mengen-Kombination, an dem die nachgefragte Menge 𝑞 exakt der angebotenen Menge 𝑞 entspricht. Durch den Schnittpunkt der beiden Kurven wird der Gleichgewichtspreis bestimmt, der die nachgefragte Menge und die angebotene Menge ausgleicht. Eine wesentliche Erkenntnis ist: Jeder Kunde, dessen Zahlungsbereitschaft größer oder gleich dem Gleichgewichtpreis ist, kann zu diesem Preis ein Smartphone kaufen - jedes Unternehmen, dass zu diesem Gleichgewichtspreis oder darunter bereit ist anzubieten, kann zu diesem Preis ein Smartphone verkaufen. Genau unter dieser Bedingung kommen Transaktionen zustande. Durch Gleichsetzen der beiden Funktionen (1.1) und (1.2) mit (1.3) 𝑝 𝑞 𝑝 𝑞 als (1.4) 1000 25𝑞 360 2𝑞 und Auflösen nach 𝑞 𝑞 ergibt sich, dass im Marktgleichgewicht eine Menge von 𝑞 𝑞 23,704 Mio. Smartphones angeboten werden. Setzt man diese Menge nun wieder entweder in die Nachfragefunktion (1.1) oder in die Angebotsfunktion (1.2) ein, ergibt sich ein Marktpreis von 𝑝 𝑞 𝑝 𝑞 407,41 EUR - beide Werte dieses einfachen Modells bestätigen die tatsächlich in Deutschland beobachteten Mengen und Preise im Jahr 2016 für den gesamten Markt hinreichend gut. Allerdings vereinfacht das Modell sehr stark: Man kann weder erkennen, wie viele Smartphones einzelne Unternehmen zu welchem Preis verkaufen, noch ist, wie anhand von ► Abbildung 1.7 rechts auf Basis der ursprünglichen Marktforschungsdaten deutlich wird, im realen Markt Preisdispersion zu beobachten, d.h., nicht jedes Smartphone gleicher Qualität und Marke wird zum gleichen Preis verkauft. Menge q Preis p individuelles Angebot verschiedener Unternehmen in Abhängigkeit des Preises 0 40 1 360 1000 Menge q Preis p 0 40 1 Angebotskurve als modellhafte (hier lineare) Abbildung individueller Angebote der Unternehmen unter einem Preis von 360 EUR bietet kein Unternehmen ein Smartphone an bei einem Preis von 440 EUR werden 40 Mio. Smartphones angeboten 360 440 1000 Märkte, Angebot und Nachfrage 27 Abbildung 1.7: Marktgleichgewicht als Schnittpunkt von Angebots- und Nachfragekurve. Ein einheitlicher Marktpreis und ein Marktgleichgewicht ist typisch und zu erwarten, wenn  die gehandelten Produkte absolut identisch sind, so dass keine Produktdifferenzierung vorliegt oder Kunden Präferenzen für einen bestimmten Verkäufer haben,  alle Marktteilnehmer über die gleichen vollständigen Informationen verfügen, also jeder Marktteilnehmer alle anderen Marktteilnehmer kennt und/ oder über deren Zahlungsbereitschaft und Preisvorstellung Kenntnis hat,  Wettbewerb zwischen den Verkäufern herrscht, d.h. keine Absprachen über Preise oder anderweitige strategische Verhaltensweisen vorliegen,  beide Marktseiten zahlreiche Marktteilnehmer haben, so dass keiner der Marktteilnehmer durch sein Verhalten Preise oder Mengen beeinflussen oder sogar festlegen kann, und  eine Koordination auf den Gleichgewichtpreis möglich ist. Wenn eine oder mehrere dieser Anforderungen nicht hinreichend erfüllt sind, kann es sein, dass unterschiedliche Marktpreise zu einem Zeitpunkt existieren. In den folgenden Kapiteln werden sukzessiv diese vereinfachenden Annahmen aufgeboben, um ein detailliertes Bild des Marktmechanismus, der Entscheidungen der Kunden und insbesondere der strategischen Entscheidungen der Unternehmen zu erhalten. Ein Markt, für den die genannten Anforderungen allerdings recht gut erfüllt sind, ist der Aktienmarkt:  Eine Daimler-Aktie ist durch ihre ISIN DE0007100000 ein homogenes Produkt, die Preise an den verschiedenen Börsen sind bei Aktien sehr hoher Liquidität in jedem Zeitpunkt nahezu identisch, zudem spielt es für die Kunden keine Rolle, an welcher Börse oder über welchen Broker sie die Aktie kaufen.  Die Marktteilnehmer, d.h. Käufer und Verkäufer, können zu jedem Zeitpunkt das Orderbuch der jeweiligen Börsen einsehen - dort sind identisch zu einer Angebots- und einer Menge q Preis p 0 40 360 1000 407,4 23,7 Nachfragekurve Angebotskurve Menge q Preis p 0 40 1 360 1000 407,4 23,7 Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 28 Nachfragefunktion alle aktuell gebotenen Kauf- und Verkaufspreise und die jeweiligen Stückzahlen aufgelistet (  www.onvista.de/ aktien/ orderbuch/ Daimler-Aktie-DE0007100000 oder innerhalb der Deutschen Börse  www.boerse-frankfurt.de/ aktien/ orderbuch).  Alle Marktteilnehmer konkurrieren - jeder möchte für sich individuell den jeweils besten Verkaufs- oder Kaufpreis realisieren.  Beide Marktseiten bestehen aus vielen Tausend Marktteilnehmern und jeder Marktteilnehmer ist - relativ zur Größe des Marktes betrachtet - klein und kann den Aktienkurs (den Preis der Aktie) nicht maßgeblich beeinflussen.  Die Deutsche Börse (wie auch andere Börsenbetreiber) koordiniert Angebot und Nachfrage für jede Aktie zu jedem Zeitpunkt über Market Maker oder Designated Sponsors auf den Gleichgewichtspreis. In der Folge schwanken allerdings die Aktienpreise sehr stark: Ein Marktgleichgewicht bedeutet nicht stabile oder starre Preise, sondern ein nahezu sofortiger Ausgleich von Angebot und Nachfrage durch Preisflexibilität führt zu ständiger Preisanpassung und schwankenden Preisen. Marktmechanismus und Veränderungen eines Marktgleichgewichtes Ob ein Marktgleichgewicht erreicht wird, hängt unter anderem davon ab, ob Abweichungen von einem Marktgleichgewicht im Zeitablauf durch Mengen- und Preisanpassungen korrigiert werden. In ► Abbildung 1.8 links liegt ein Preis 𝑝 zufällig über dem Gleichgewichtspreis 𝑝 . In der Folge übersteigt bei diesem Preis 𝑝 das Angebot der Unternehmen die Nachfrage der Kunden, so dass es zu einem Überschussangebot kommt - bspw. in Form zu viel produzierter Ware oder einem hohen Lagerbestand. Dieses Überschussangebot können die Unternehmen beseitigen, indem sie die Preise von 𝑝 auf 𝑝 senken. Damit steigt die nachgefragte Menge der Kunden an und das Marktergebnis bewegt sich in Richtung des Marktgleichgewichtes. Abbildung 1.8: Überschussangebot und Überschussnachfrage. Menge q Preis p 0 q 0 p 0 D S p 1 Überschussangebot: S > D q D q S Menge q Preis p 0 q 0 p 2 D S p 0 Überschussnachfrage: D > S q S q D Märkte, Angebot und Nachfrage 29 Analog, in ► Abbildung 1.8 rechts dargestellt, folgt aus einem Preis 𝑝 𝑝 eine Überschussnachfrage. Die Unternehmen können nun die Preise erhöhen, in der Folge geht die nachgefragte Menge zurück und das Marktgleichgewicht wird wieder erreicht. Ohne Preisflexibilität und die ausgleichende Wirkung der Preise kann kein Marktgleichgewicht erreicht werden. Abbildung 1.9: Verschiebung von Angebots- oder Nachfragefunktion und Anpassung des Marktgleichgewichtes. In ähnlicher Weise wird ein neues Markgleichgewicht determiniert, wenn sich die Rahmenbedingungen im Markt ändern und sich die Angebotsund/ oder Nachfragekurve verschieben. In ► Abbildung 1.9 links erhöhen die Unternehmen für jeden Preis ihre angebotene Menge, so dass sich die Angebotskurve nach rechts verschiebt. Der Grund hierfür könnten bspw. Kostensenkungen bei Zulieferern sein. In der Folge wird das höhere Angebot auch verkauft, allerdings müssen die Unternehmen die Preise reduzieren, um die höhere Produktionsmenge zu verkaufen. In ► Abbildung 1.9 rechts steigt die Nachfrage - bspw. aufgrund zunehmenden Einkommens. In der Folge verschiebt sich die Nachfragekurve nach rechts - die Unternehmen können jetzt mehr absetzen und zudem die Preise erhöhen. Wie stark diese Effekte sind, wird wesentlich durch den Verlauf und die Steigung der Nachfrage- und der Angebotskurve bestimmt und in ► Kapitel 1.3 erläutert. Die Effekte der Anpassung an ein (neues) Marktgleichgewicht in ► Abbildung 1.8 und ► Abbildung 1.9 erfordern je nach Marktsituation, Informationsstand der Marktteilnehmer und Ausmaß der Anpassung natürlich Zeit und einen Lernprozess der Marktteilnehmer - man kann nicht davon ausgehen, dass jeder Markt in jedem Zeitpunkt im Gleichgewicht ist, sondern man wird in der Regel dynamische Anpassungsprozesse beobachten. Daneben kann es aber sein, dass kein Marktgleichgewicht zustande kommt:  Angebots- und Nachfragekurve schneiden sich nicht - dies kann eintreten, wenn grundsätzlich die Zahlungsbereitschaft aller Kunden unterhalb der Preisvorstellungen der Unternehmen liegen: Dies ist in der Pharmaindustrie und bei Medikamentenpreisen der Fall. Menge q Preis p 0 q 0 p 0 D S S‘ p 1 q 1 Menge q Preis p 0 q 0 p 0 D S p 1 q 1 D‘ Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 30  Nicht-Ausschließbarkeit des Konsums - es kann sein, dass ein Unternehmen nicht ausschließen kann, dass Kunden, die nicht bezahlt haben, trotzdem das Produkt nutzen: Dies ist der Fall bei öffentlichen Gütern wie bspw. öffentlichem Rundfunk oder Leuchttürmen. Ein Unternehmen wird diese Produkte oder Dienstleistungen nicht anbieten, weil entweder kein Preis erhoben werden kann, oder das Preismodell wäre nicht effizient, so dass keine Gewinne erzielt werden können.  Informationsasymmetrie - Käufer und Verkäufer haben keine vollständige Transparenz über die Produkte oder über Angebot und Nachfrage oder können diese nicht effektiv herstellen: Dies kann bei Gebrauchtwaren passieren, von denen die Kunden per se schlechte Qualität annehmen und dementsprechend eine geringe Zahlungsbereitschaft haben. In allen diesen Fällen liegt Marktversagen vor - der Markt existiert entweder nicht oder funktioniert nur sehr eingeschränkt - und es kann zu staatlichem Handeln kommen, indem der Staat entweder den Markt bereitstellt, den Markt reguliert oder selbst als staatliches Unternehmen aktiv wird. Derartige Fälle werden entsprechend im Rahmen von Wirtschaftspolitik diskutiert (vgl. weiterführend Fritsch 2011). Bei öffentlichem Rundfunk greift der Staat in Deutschland durch Gebührenfinanzierung in den Markt ein, Leuchttürme werden steuerfinanziert an der Küste aufgestellt, im Gesundheitsmarkt werden verschiedene wirtschaftspolitische Instrumente der Preisbindung von Medikamenten, der Pflichtmitgliedschaft in Krankenversicherung sowie der Subvention von F&E-Aufwendungen kombiniert, bei Informationsasymmetrie versucht der Staat oder ein Marktbetreiber durch Garantien oder Zertifikate die Informationsasymmetrie zu reduzieren. Aus diesem Grund bewähren sich auch Händlerbewertungen auf Auktionsplattformen wie eBay: Die Produktqualität wird indirekt durch die Bewertung der Händler erkennbar.  Case Study │ Wasserflaschenpark Marktgleichgewichte und Gleichgewichtspreise können unter anderem dann zustande kommen, wenn - wie oben angeführt - keine Informationsasymmetrie vorliegt, keine Transaktionskosten anfallen und ein Koordinationsprozess auf den Gleichgewichtspreis stattfindet. Das nachfolgende Beispiel soll diese Punkte herausstellen - was passiert, wenn diese Rahmenbedingungen nicht erfüllt sind? Die zehn potenziellen Verkäufer und die zehn potenziellen Käufer von Wasserflaschen aus ► Abbildung 1.1 befinden sich immer noch im Park. Eine kurze, mit den jeweiligen Marktteilnehmern individuell durchgeführte Marktforschung hat bei den durstigen Menschen eine Zahlungsbereitschaft wie in ► Abbildung 1.10 links gezeigt ergeben: Kunde K1 wäre bereit 5 EUR zu zahlen, Kunde K2 4,50 EUR und so fort in Schritten von 0,50 EUR bis zu Kunde K10 mit 0,50 EUR. Ebenso wurden die Besitzer der Wasserflaschen befragt, zu welchem Preis 𝑝 sie ihre Wasserflasche verkaufen würden - die Werte sind ebenfalls in ► Abbildung 1.10 links eingetragen: Verkäufer V1 würde für 0,50 EUR verkaufen bis aufsteigen in 0,50 EUR Schritten hin zu Verkäufer V10 mit einer Preisvorstellung von 5 EUR. Märkte, Angebot und Nachfrage 31 Wie viele Flaschen Wasser werden nun zu welchem Preis gehandelt? Die Antwort auf diese Frage hängt signifikant von den Institutionen des Marktes und dem Informationsgrad der Marktteilnehmer ab. In einem Markt ohne Transaktionskosten und bei vollständiger Information würde ein (hypothetischer und ebenfalls kostenloser) Marktkoordinator die Angebots- und Nachfragekurven auf Basis der Zahlungsbereitschaften und der Preisvorstellungen als (1.5) 𝑝 𝑞 0 0,5𝑞 und (1.6) 𝑝 𝑞 5 0,5𝑞 ermitteln und den Gleichgewichtspreis am Schnittpunkt beider Funktionen als 𝑝 𝑝 2,75 berechnen. Diesen Wert teilt er dann allen potenziellen Käufern und Verkäufern mit: K1 bis K 5 und V1 bis V5 werden unmittelbar zu diesem Preis Transaktionen abwickeln. Der Grund dafür ist, dass ihre Zahlungsbereitschaften über dem Preis resp. ihre Preisvorstellungen unter dem Preis liegen - alle führen Transaktionen aus, die mindestens ihren ursprünglichen Erwartungen entsprechen. D.h., es finden fünf Transaktionen zu einem Preis von 2,75 EUR und Gesamterlösen von 13,75 EUR statt. Dieses Ergebnis kann in der Realität tatsächlich entstehen, allerdings nur bei vollständiger Information aller Marktteilnehmer und einem Koordinationsprozess auf den Gleichgewichtpreis, der insbesondere durch wechselseitiges Lernen im Zeitablauf entstehen kann - dies ist in vielen Märkten der Fall, in denen aufgrund von bisherigen Geschäftsbeziehungen oder aber durch Big Data und die Verfügbarkeit von Preisen im Internet hohe Transparenz über Zahlungsbereitschaften der Kunden und Preisvorstellungen der Anbieter vorliegen. 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 5 5,5 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Preis p Menge q p(q) = 5,5 - 0,5q p(q) = 0 + 0,5 q Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 32 Abbildung 1.10: Nachfrage und Angebot an Wasserflaschen. 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 5 5,5 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Preis p K1 K2 K10 V10 V1 V2 K9 V9 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 5 5,5 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Preis p K1 K2 V1 V2 Menge q Menge q Märkte, Angebot und Nachfrage 33 Transaktionen können aber generell dann zustande kommen, wenn die Zahlungsbereitschaft mindestens dem geforderten Preis entspricht. In ► Abbildung 1.10 sind zwei weitere - von sehr vielen - möglichen Institutionen eingezeichnet, die beschreiben, wie dieser Markt funktionieren könnte und wie Preise und Mengen zustande kommen. In der Mitte ist der Fall beschrieben, in dem Käufer K1 zufällig horizontal auf Verkäufer V10 trifft. Die Zahlungsbereitschaft von 5,00 EUR entspricht genau dem geforderten Preis von 5,00 EUR, so dass eine Transaktion stattfindet. In der Folge kann es - wie eingezeichnet K2 mit V9, K3 mit V8, usw. - zufällig zu neun weiteren derartigen horizontalen Transaktionen kommen, in denen jeweils der von den Verkäufern geforderte Preis zustande kommt und die Kunden ihrer individuellen Zahlungsbereitschaft entsprechend bezahlen. In Summe werden zehn Transaktionen mit Erlösen von 27,50 EUR durchgeführt, der Durchschnittspreis jeder Wasserflasche entspricht mit 2,75 EUR exakt dem Gleichgewichtspreis - wobei jetzt aber jeder Kunde einen anderen Preis zahlt. Rechts in ► Abbildung 1.10 ist eine weitere denkbare Konstellation abgebildet - statt horizontaler Transaktionen finden jetzt vertikale Transaktionen statt. Tatsächlich sind nun nicht mehr zehn, sondern nur noch fünf Transaktionen möglich. Welcher Preis in diesen Paarungen bezahlt wird, hängt davon ab, wie und in welcher Reihenfolge Informationen ausgetauscht werden - falls immer zuerst der Verkäufer seinen niedrigen Preis nennt und die Käufer darauf eingehen, wird ein Erlös von 7,50 EUR und ein Durchschnittspreis von 1,50 EUR erzielt; nennt immer zuerst der Kunde seine Zahlungsbereitschaft, betragen die Erlöse 20 EUR bei einem Durchschnittspreis von 4,00 EUR; wenn Verhandlungen zwischen beiden stattfinden, kann der Preis auch dazwischen liegen (vgl. auch ► Tabelle 1.1). Marktergebnisse im Wasserflaschenpark Modell Marktgleichgewicht horizontale Transaktionen vertikale Transaktionen (1) vertikale Transaktionen (2) ohne TK mit TK ohne TK mit TK ohne TK mit TK ohne TK mit TK Anzahl Transaktionen 5 4 10 8 5 4 5 4 Durchschnittspreis 2,75 2,75 2,75 2,75 4,00 3,75 1,50 1,75 höchster Preis 2,75 2,75 5,00 4,50 5,00 4,50 2,50 3,00 niedrigster Preis 2,75 2,75 0,50 1,50 3,00 3,00 0,50 1,00 Erlös 13,75 11,00 27,50 22,00 20,00 15,00 7,50 7,00 Tabelle 1.1: Marktergebnisse im Wasserflaschenmarkt. Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 34 Schließlich kann es - in allen drei Fällen - sein, dass Transaktionskosten entstehen, bspw. in Form der Informationsbeschaffung oder des Informationsaustausches, die faktisch einer Teilnahmegebühr für den Markt entspricht. In ► Tabelle 1.1 sind die resultierenden Effekte für alle Marktmechanismen angegeben unter der Annahme, dass jede Marktseite pro potenzieller Transaktion einen Betrag von 0,50 EUR bezahlen muss - so erhöht sich natürlich die Preisvorstellung jedes Verkäufers um 0,50 EUR, gleichzeitig sinkt die Zahlungsbereitschaft jedes potenziellen Käufers um 0,50 EUR. In der Folge gehen die Zahl der Transaktionen und die Erlöse im Markt zurück, niedrige und hohe Preise werden tendenziell aus dem Markt eliminiert. Welches der möglichen Marktergebnisse in der Realität tatsächlich eintritt, hängt vom Informationsaustausch und der Wettbewerbsdynamik im Markt ab. Unterschiedliche Marktmechanismen, Informationsasymmetrie, die Abfolge von Transaktionen und die Höhe von Transaktionskosten können zu sehr unterschiedlichen Marktergebnissen - Preisen, Mengen und Erlösen - führen. Die beiden Fälle vertikaler und horizontaler Transaktionen zu jeweils unterschiedlichen Preisen können nur bei starker und dauerhafter Informationsasymmetrie der Marktteilnehmer und fehlendem Wettbewerb der Verkäufer untereinander entstehen oder Bestand haben - ein weiterer Beleg dafür, dass ein Gleichgewichtspreis bei Wettbewerb und bei im Zeitablauf lernenden Marktteilnehmern entstehen kann. 1.3 Preiselastizität und Grenzerlöse Eine zentrale Managementaufgabe ist - neben den Gewinnen - die Umsätze (Erlöse) zu steigern. Dies gilt insbesondere für Geschäftsmodelle mit hohen Fixkosten und niedrigen variablen Kosten. So ist für die Deutsche Bahn, für ein Museum, aber auch für ein Mobilfunkunternehmen die Kostenbasis mittelfristig unveränderbar und unabhängig der tatsächlichen Zahl an Kunden. Entscheidungen zielen dann wesentlich auf Umsatzsteigerungen. Gerade zum Jahresende, wenn die geplanten Umsatzziele noch nicht erreicht sind, werden oft Preissenkungen durchgeführt - ob das Ziel einer Umsatzsteigerung durch Preissenkungen erreicht werden kann, hängt von der Preiselastizität der Nachfrage ab. Unternehmen versuchen oft, durch Preissenkungen den Absatz zu steigern - Grundlage für diese Überlegung ist der fallende Verlauf der Nachfragekurve: Bei reduziertem Preis steigt typischerweise die von den Kunden nachgefragte Menge. Dabei verfolgen Unternehmen, offenbar mit sehr unterschiedlichem Erfolg, verschiedene Strategien:  Praktiker - über viele Jahre hat die damals europaweit tätige Baumarktkette mit dem Marketingslogan „20 % auf alles. Außer Tiernahrung“ und entsprechend regelmäßigen Preissenkungen bundesweit geworben. Nach einem Verlust von 555 Mio. EUR im Jahr 2011 stellte Praktiker 2013 beim Amtsgericht Saarbrücken einen Insolvenzantrag, der Geschäftsbetrieb wurde 2014 vollständig eingestellt, in der Folge verloren etwa 20.000 Menschen ihren Job.  Edeka - seit vielen Jahrzehnten verteilt Edeka wöchentlich, über Mailings oder als Beilage in kostenlosen Zeitungen, regionale Angebotsblätter. Dort werden differenzierte Preis- Preiselastizität und Grenzerlöse 35 senkungen für einzelne Produkte wochenweise angekündigt - bspw. 4 % auf Glasreiniger, 7 % auf Geschirrspülmittel oder 3 % auf Kaffee. Edeka erzielte 2014 einen Gewinn vor Steuern von 355 Mio. EUR und gehört zu den erfolgreichsten Retailern weltweit. Preiselastizität der Nachfrage Ein analytisches Framework, um zu überprüfen, wie stark der Effekt einer Preissenkung auf die nachgefragte Menge der Kunden ist, ist die Preiselastizität der Nachfrage. Die Grundüberlegung einer Preisänderung ist in ► Abbildung 1.11 links dargestellt: In Abhängigkeit der Steigung der Nachfragekurve führt eine Preissenkung zu einem unter- oder überproportionalen Anstieg der Nachfrage, genauso wird eine Preiserhöhung einen unter- oder überproportionalen Rückgang der nachgefragten Menge zur Folge haben. Für die Nachfragefunktion (1.7) 𝑝 𝑞 𝑎 𝑏𝑞 100 0,02𝑞 sind ausgehend von einem aktuellen Preis 𝑝 20 diese Effekte berechnet: Die Menge verändert sich ausgelöst durch eine 1 %-Preisänderung um jeweils 0,25 %. Abbildung 1.11: Preisänderungen und Auswirkungen auf die nachgefragte Menge. Die Preiselastizität der Nachfrage 𝜀 beschreibt die prozentuale Veränderung der nachgefragten Menge infolge einer 1 %-Preisänderung. Sie kann durch endliche Differenzen von nachgefragter Menge ∆𝑞 und Preisen ∆𝑝 in Bezug zum ursprünglichen Niveau der Menge 𝑞 und des Preises 𝑝 als (1.8) 𝜀 ä ä ∆ / ∆ / ∆ ∆ ermittelt werden oder auch für ∆→ 0 auf Basis eines Differentials als (1.9) 𝜀 beschrieben werden. Eine Elastizität misst allgemein die marginale prozentuale Auswirkung (den Effekt) einer prozentualen Veränderung einer Variable im Nenner auf eine andere Variable im Zähler - hier einer Preisänderung und deren Effekt auf die nachgefragte Menge. Die Preiselastizität im vorangegangenen Beispiel beträgt (1.10) 𝜀 → , / , / , 0,25 und q p 0 A B 4000 3990 20,0 20,2 C 19,8 4010 +1 % -1 % -0,25 % +0,25% q p 0 Preiserhöhung (1 % nach oben) Preissenkung (1 % nach unten) A B C Anstieg der Menge (x % mehr) Rückgang der Menge (y % weniger) Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 36 (1.11) 𝜀 → , / , / , 0,25 , die Werte sind beide negativ und gleich groß. Die Ursache für das negative Vorzeichen ist der fallende Verlauf der Nachfragekurve - Preisänderungen haben in diesem Fall immer gegenläufige Mengeneffekte zur Folge. Dass die Effekte gleich groß sind, liegt daran, dass der Ausgangspunkt der Preisänderung derselbe ist. Dies wird anhand von ► Abbildung 1.12 deutlich - hier sind Preiselastizitäten für die Nachfragefunktion (1.7) an verschiedenen Positionen der Nachfragefunktion (1.7) berechnet. Die Preiselastizität der Nachfrage strebt für sehr kleine Preise gegen Null: eine prozentuale Preisänderung hat dort nahezu keinen Effekt auf die nachgefragte Menge. Umgekehrt strebt die Preiselastizität der Nachfrage gegen minus unendlich bei Preisen nahe der maximalen Zahlungsbereitschaft der Kunden. Abbildung 1.12: Preiselastizität entlang einer linearen Nachfragekurve. Offenbar kann die Preiselastizität zwei unterschiedliche Ausprägungen annehmen:  Unelastische Nachfrage - wenn die Preiselastizität der Nachfrage zwischen 0 und -1 liegt, führt eine Preisänderung zu einem unterproportionalen Effekt auf die nachgefragte Menge - die prozentuale Preisänderung ist größer als die prozentuale Mengenänderung.  Elastische Nachfrage - wenn die Preiselastizität der Nachfrage zwischen -1 und minus unendlich liegt, führt eine Preisänderung zu einem überproportionalen Effekt auf die nachgefragte Menge - die prozentuale Preisänderung ist kleiner als die prozentuale Mengenänderung. Ein Unternehmen kann anhand der Höhe der Preiselastizität der Nachfrage abschätzen, wie stark sich die Nachfrage bei einer Preiserhöhung oder Preissenkung verändert. Dazu kann Gleichung (1.9) umgestellt werden zu (1.12) 𝜀 ⋅ , p unelastisch elastisch q 0 5000 100 Δp ΔQ ε p → 0 ε p → -  ε p = - 1 50 2500 ε p = - 1,5 2000 60 20 4000 ε p = - 0,25 Preiselastizität und Grenzerlöse 37 d.h. die prozentuale Änderung der Menge ergibt sich aus Multiplikation der prozentualen Preisänderung mit der (hier konstant angenommenen) Preiselastizität der Nachfrage 𝜀 . Beträgt die Preiselastizität 𝜀 4 , dann ergibt sich bei einer geplanten Preissenkung von 5 % über (1.13) 𝜀 ⋅ 4 ⋅ 5 % 20 % , dass die nachgefragte Menge um 20 % steigen wird. Entsprechend würde bei einer Preiserhöhung von 3,5 % die Menge wegen 𝜕𝑞 𝑞 ⁄ 4 ⋅ 3,5 % 14 % um 14 % zurückgehen. Allgemein kann die Preiselastizität der Nachfrage anhand einer Nachfragefunktion (1.14) 𝑝 𝑎 𝑏𝑞 mittels eines totalen Differentials (der Ableitung nach allen Variablen) zu (1.15) 𝑑𝑝 𝑑𝑎 𝑏𝑑𝑞 𝑞𝑑𝑏 ermittelt werden. Wenn die maximale Zahlungsbereitschaft und die Größe des Marktes unverändert bleiben, dann gilt 𝑑𝑎 0 und 𝑑𝑏 0 , so dass sich Gleichung (1.15) zu (1.16) 𝑑𝑝 𝑏𝑑𝑞 vereinfacht. Der absolute Effekt einer Preisänderung auf die nachgefragte Menge beträgt dann (1.17) , so dass sich, bezogen auf die aktuelle Preis-Mengen-Kombination die Preiselastizität als (1.18) 𝜀 ergibt. Bei einer linearen Nachfragefunktion wird die Preiselastizität durch die inverse Steigung und die aktuelle Preis-Mengen Kombination bestimmt. Determinanten und empirische Werte der Preiselastizität Die Preiselastizität der Nachfrage wird empirisch wesentlich durch vier Größen bestimmt, die aus Managementperspektive vor einer geplanten Preisänderung analysiert werden müssen:  Dringlichkeit der Nachfrage - wenn ein Produkt (tatsächlich oder vom Kunden empfunden) dringend benötigt wird, dann ändert eine Preiserhöhung die Nachfrage nur in geringem Maß oder überhaupt nicht. Je höher die Dringlichkeit ist, desto geringer ist die Preiselastizität der Nachfrage. Dies gilt insbesondere für lebensnotwendige Produkte wie Wasser oder Medikamente, aber auch für Produkte, von denen Menschen abhängig sind: Drogen, Zigaretten und Alkohol. Wenn bspw. eine Abhängigkeit eines Kunden von WiFi oder Breitbandanschluss gegeben ist, dann wird er bei einer Preissenkung nicht deutlich mehr nachfragen - bei einer Preiserhöhung wird entsprechend die Nutzung nur unterproportional zurückgehen. Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 38  Substitutionsmöglichkeiten und Grad der Produktdifferenzierung - wenn Kunden bei einer Preiserhöhung eines Produktes leicht und schnell auf ein alternatives Produkt (eines anderen Unternehmens oder aber auf eine andere Produktkategorie) ausweichen können, dann haben Preisänderungen große Effekte auf die nachgefragte Menge. Je größer die Substitutionsmöglichkeiten, desto höher die Preiselastizität der Nachfrage. Der Preissetzungsspielraum für einen Kaffeeproduzenten ist relativ gering - Kunden weichen entweder auf andere Marken oder Hersteller aus oder trinken künftig Tee, wenngleich der Effekt ggfs. erst zeitversetzt stattfindet. Wenn allerdings hohe Produktdifferenzierung gegeben ist, weil Kunden bspw. eine hohe Markenloyalität haben, dann können Unternehmen geringe Preiselastizitäten für Preiserhöhungen nutzen: Apple kann - wenngleich bei geringem Marktanteil - sehr hohe Preise für Smartphones durchsetzen, ohne Kunden an günstigere Anbieter zu verlieren.  Einkommensanteil - wenn für ein Produkt nur sehr kleine Beträge in Relation zum Einkommen aufgewendet werden, haben Preisänderungen sehr geringe Effekte: eine Preiserhöhung bei Apps für Smartphones ist preisunelastisch und wird die nachgefragte Menge kaum verändern. Ein hoher Einkommensanteil - bei Miete, Steuern, Kleidung oder Lebensmitteln - führt dann zu stärkeren und dauerhaften Anpassungen der Nachfrage und ggfs. des Lebensstils. Mit dauerhaft steigenden Mieten verlassen bspw. Menschen boomende Großstädte und suchen günstigere Mietverhältnisse in anderen Städten, mit steigender Einkommensteuerlast ziehen Menschen in Regionen mit niedrigerer Einkommenssteuer.  Wettbewerbsintensität und Marketing-Aufwand - je höher die Wettbewerbsintensität eines Marktes ist (bspw. durch eine größere Zahl konkurrierender Unternehmen), desto höher die Preiselastizität der Nachfrage. Unternehmen können zwar insbesondere durch Marketingaufwand die Besonderheiten des eigenen Produktes herausstellen, aber dieser Effekt schlägt sich umso weniger in einer reduzierten Preiselastizität nieder, je höher die Wettbewerbsintensität ist. Diese vier Determinanten finden sich indirekt erklärend auch in ► Tabelle 1.2 wieder. Natürlich sind die empirischen Studien nur eingeschränkt vergleichbar, die Daten stammen aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Zeiträumen, aber: geschäftliche Flugreisen sind dringender als private Urlaubsflugreisen, der Kinderarztbesuch in den USA hat - anders als Medikamente - keine Alternative, Menschen können weder auf Mobiltelefonie, noch auf Breitbandanschlüsse verzichten, die Abhängigkeit von Zigaretten ist höher als von Marihuana oder Bier, und kurzfristig können Kraftstoffe kaum ersetzt werden, mittelfristig schon stärker. Bijmolt et al. (2005) haben in einer übergreifenden Studie mit insgesamt 1851 Produktmärkten einen Mittelwert der Preiselastizität von 𝜺 𝒑 𝟐, 𝟔𝟐 ermittelt, dabei liegen 50 % der Effekte zwischen 3 und 1, 81 aller Werte zwischen 0 und 4 . Als einfache Faustregel kann man auf Basis dieser Untersuchungen festhalten, dass eine 1 % Preissenkung die Nachfrage im Durchschnitt um 2,62 % erhöht, in 50 % der Fälle wird der Effekt zwischen 1 % und 3 % Nachfragesteigerung liegen. Aus Managementperspektive heißt das, das Werte dieser Größenordnung auch typischerweise in Business Cases (der Planung eines neuen Produktes, Geschäftsmodells oder Projektes) oder der strategischen Mehrjahresplanung aufzufinden sein sollten. Wenn dies nicht der Fall ist, sondern bspw. 12 % Mengensteigerung bei gleichzeitiger Preiselastizität und Grenzerlöse 39 Preiserhöhung von 4 % geplant ist (entsprechend einer positiven Preiselastizität 𝜀 % % 3,0 ), muss es entweder eine gute andere Erklärung (eine drastische Verschiebung der Nachfragekurve nach rechts oben oder einen Marktaustritt von Wettbewerbern) geben, oder aber die Planung wird sich womöglich nicht erfüllen. empirische Preiselastizität der Nachfrage Erbsen -2,80 relativ hohe Preiselastizität  damit geringe Dringlichkeit und viele Alternativen Erfrischungsgetränke -2,59 Zahnpasta -2,00 Urlaubsflugreisen -1,90 Grillhähnchen -1,80 Bier -1,20 Frühstückscerealien -1,14 Marihuana -1,00 Kinobesuche -0,90 relativ geringe Preiselastizität  damit steigende Dringlichkeit und wenige Alternativen Geschäftliche Flugreisen -0,80 Medikamente -0,68 Lebensmittel -0,63 Breitbandzugang -0,43 Mobiltelefonie -0,41 Rindfleisch -0,35 Kraftstoffe langfristig -0,31 Zigaretten -0,30 Kraftstoffe kurzfristig -0,09 Kinderarztbesuche -0,03 Tabelle 1.2: Empirische Preiselastizitäten Datenquelle: Bijmolt et al. 2005, Goldman and Grossman 1978, Hoch et al. 1995, Havranek et al. 2012, Huang und Lin 2000, Farelly und Bray 1998 und Deaton 1990. Die Preiselastizität der Nachfrage wird neben dem aktuellen Preis insbesondere durch die Steigung der Nachfragekurve bestimmt. Je steiler die Nachfragekurve verläuft, desto weniger stark reagiert die Nachfrage auf Preisänderungen. In ► Abbildung 1.13 ist dies an zwei extrem verlaufenden Nachfragekurven verdeutlicht. Für eine nahezu horizontal verlaufende Nachfragekurve (links) konvergiert die Preiselastizität gegen minus unendlich: mit einer ge- Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 40 ringen Preisreduktion wäre ein starker Mengenanstieg verbunden - umgekehrt würde eine Preiserhöhung aufgrund geringer Dringlichkeit des Produktes einen starken Nachfragerückgang bedeuten. Für eine nahezu vertikale Nachfragekurve (rechts) strebt die Preiselastizität gegen Null: Eine Preissenkung hat keine Auswirkung auf die Menge - entsprechend kann eine Preiserhöhung sehr effektiv eingesetzt werden, ohne dass die Nachfrage deutlich zurückgeht. Die Zahlungsbereitschaft der Kunden und der Preissetzungsspielraum der Unternehmen ist umso größer, je kleiner die Preiselastizität der Nachfrage ist. Abbildung 1.13: Effekte einer Preissenkung bei hoher und niedriger Preiselastizität. Die Preiselastizität der Nachfrage ist im Zeitablauf natürlich nicht konstant. In vielen Märkten steigt die Preiselastizität im Zeitablauf: Im Laufe eines Produktlebenszyklus lernen Kunden alternative Produkte kennen, neue Unternehmen bieten Substitute an und die Wettbewerbsintensität nimmt zu, und das genutzte Produkt ist tatsächlich oder wirkt für den Kunden nach einiger Zeit weniger innovativ, so dass die Zahlungsbereitschaft sinkt und die Preiselastizität zunimmt. Unternehmen versuchen daher insbesondere mit Marketing die Einzigartigkeit des Produktes herauszustellen und die Dringlichkeit beim Kunden zu erhöhen, d.h. die Preiselastizität der Nachfrage immer wieder zu senken, um letztlich höhere Preise durchsetzen zu können. In empirischen Studien zeigt sich bspw. für Automobile, dass die Preiselastizität umso geringer ist, je aktueller das Modell auf dem Markt erhältlich ist, und je höher der marken- oder modellspezifische Marketingaufwand ist. Kurz nach Markteinführung kaufen Frühadopter mit niedriger Preiselastizität und hoher Zahlungsbereitschaft zu relativ hohen Preisen. Zudem ist bei hoher Markenloyalität von Bestandskunden zu beobachten, dass zwar die Preiselastizität geringer ist, aber tatsächliche Preisänderungen - bspw. bei Kaffee - zu deutlich stärkeren Mengenreaktionen führen. Über zahlreiche Studien hinweg zeigt sich, dass sich die Preiselastizität - trotz strategischer Maßnahmen der Unternehmen - nach der Produktneueinführung etwa innerhalb von vier Jahren halbiert, aber in späten Phasen aufgrund zunehmender Produktdifferenzierung und stärkerer Kundenbindung auch wieder ansteigen kann (Bijmolt et al. 2005, Berry et al. 2004, Krishnamurthi und Raj 1991, Simon 1979, Vakratsas und Ambler 1999 sowie Tellis 1988). q p 0 hohe Preiselastizität q p 0 niedrige Preiselastizität Preiselastizität und Grenzerlöse 41 Erlöse und Grenzerlöse Die zentrale Bedeutung der Preiselastizität der Nachfrage für Entscheidungen wird deutlich, wenn die Erlöse in die Analyse einbezogen werden. Die Erlöse 𝑅 eines Unternehmens ergeben sich allgemein durch Multiplikation des Preises 𝑝 mit der Menge 𝑞 als (1.19) 𝑅 𝑝𝑞 . Für die auf Basis von Gleichung (1.7) in ► Abbildung 1.11 rechts verwendeten Werte ergeben sich für die Erlöse (1.20) 𝑅 , 20,0 ⋅ 4.000 80.000 (1.21) 𝑅 , 19,8 ⋅ 4.010 80.598 und (1.22) 𝑅 , 20,2 ⋅ 3.990 79.398 . Die Preisänderungen um 1 % haben zwar, wie oben gezeigt, symmetrische Effekte auf die Mengen, aber nicht auf die Erlöse - offensichtlich steigen die Erlöse in diesem Beispiel bei einer Preissenkung um 0,7475 % an, bei einer Preiserhöhung gehen sie um 0,7525 % zurück. Die Begründung hierfür ergibt sich wieder aus der Preiselastizität der Nachfrage:  Unelastische Nachfrage - wenn die Preiselastizität der Nachfrage zwischen 0 und -1 liegt, führt eine Preisänderung zu einem unterproportionalen Effekt auf die nachgefragte Menge - in diesem Fall steigen die Erlöse bei einer Preiserhöhung an und ein Unternehmen kann durch eine Preiserhöhung die Erlöse steigern.  Elastische Nachfrage - wenn die Preiselastizität der Nachfrage zwischen -1 und -∞ liegt, führt eine Preisänderung zu einem überproportionalen Effekt auf die nachgefragte Menge - in diesem Fall steigen die Erlöse bei einer Preissenkung an und ein Unternehmen kann durch eine Preissenkung die Erlöse steigern. Analytisch kann dieser Effekt anhand der Erlösfunktion (1.23) 𝑅 𝑝 𝑞 𝑞 bestimmt werden. Um allgemein die Veränderung der Erlöse in Abhängigkeit von Preisen und Mengen zu ermitteln, kann man die Grenzerlöse 𝑴𝑹 betrachten - der Grenzerlös ist der zusätzlich entstehende Erlös, wenn die verkaufte Menge 𝑞 minimal erhöht wird. Dieser Wert kann - weil Preis und Menge wechselseitig entlang der Nachfragekurve D voneinander abhängen - positiv oder negativ sein. Der Grenzerlös für die Nachfragefunktion (1.14) ergibt sich durch die erste Ableitung der Erlösfunktion in Bezug auf die Menge als (1.24) 𝑀𝑅 𝑝 𝑞 𝑞 . Erweitert man diese Gleichung, so erhält man über (1.25) 𝑝 𝑞 𝑝 𝑞 𝑝 1 , wobei (1.26) 𝑝 1 0 für 𝜀 1 und (1.27) 𝑝 1 0 für 𝜀 1 Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 42 ist. Der Grenzerlös ist positiv, wenn 𝜀 1 ist - die Erlöse eines Unternehmens steigen bei einer Preiserhöhung genau dann, wenn die Nachfragefunktion unelastisch ist. Wenn dagegen 𝜀 1 ist, dann sinken die Erlöse bei einer Preiserhöhung infolge elastischer Nachfrage. Zudem ist der Grenzerlös gleich dem Preis, wenn - wie aus (1.25) zu erkennen ist - die Preiselastizität der Nachfrage gegen - ∞ strebt. Abbildung 1.14: Erlöse, Nachfragekurve und Grenzerlöse. unelastisch elastisch p, R in EUR 0 5000 100 31 R = p q = 100 q - 0,02q 2 30 57 56 q unelastisch elastisch p, MR. R in EUR 0 5000 100 q R MR>0 MR<0 D D Preiselastizität und Grenzerlöse 43 In ► Abbildung 1.14 oben sind Nachfragekurve und Erlöskurve für die Nachfragefunktion (1.7) eingezeichnet. Aufgrund des quadratischen Terms in der Erlösfunktion (1.28) 𝑅 𝑝 𝑞 𝑞 𝑎 𝑏𝑞 𝑞 𝑎𝑞 𝑏𝑞 100𝑞 0,02𝑞 ist die Erlöskurve bei einer linearen Nachfragekurve eine umgedrehte Parabel. Im elastischen Bereich der Nachfragekurve steigen die Erlöse bei Mengenerhöhungen an: Bei einer Preissenkung von bspw. 57 EUR auf 56 EUR steigt die Menge und die Erlöse an - das Unternehmen erzielt infolge der Preissenkung höhere Umsätze. Im unelastischen Bereich der Nachfragekurve gehen die Erlöse bei Mengenerhöhungen zurück: Bei einer Preissenkung von bspw. 31 EUR auf 30 EUR steigt zwar auch die Menge, aber der Preiseffekt dominiert den Mengeneffekt bei den Erlösen - die Erlöse gehen zurück. Der Grenzerlös für die Nachfragefunktion (1.18) ergibt sich als (1.29) 𝑎 2𝑏 100 0,04𝑞 , d.h. die Grenzerlösfunktion 𝑀𝑅 verläuft linear mit exakt halber Steigung der Nachfragefunktion und entspricht für jede Menge der Steigung der Erlösfunktion. In ► Abbildung 1.14 unten ist der Grenzerlös, Erlös und Nachfragefunktion eingezeichnet. Der Erlös wird maximiert, wenn eine Preis-Mengen-Kombination gewählt wird, bei der die Grenzerlöse 𝑀𝑅 0 sind und die Preiselastizität der Nachfrage 𝜀 1 beträgt - keine Veränderung der Preise oder Mengen kann dann die Erlöse steigern. Damit ergibt sich eine einfache Faustregel insbesondere für Vertriebsabteilungen: Wenn der Grenzerlös positiv ist, führt eine Preissenkung zu einer Erlös- und Umsatzsteigerung, wenn der Grenzerlös negativ ist, führt eine Preiserhöhung zu einer Erlös- und Umsatzsteigerung. Ob dies tatsächlich eine gute Strategie ist, hängt von der Wettbewerbs- und Kostensituation des Unternehmens ab (vgl. weiterführend ► Kapitel 7, ► Kapitel 8 und ► Kapitel 10). Abbildung 1.15: Grenzerlös als Verlust und Zuwachs von Erlösen bei Preisänderungen. Der Grenzerlös lässt sich in zwei Effekte zerlegen, wie in ► Abbildung 1.15 dargestellt. Vor einer Preissenkung beträgt der Erlös links 𝑅 𝑝 𝑞 und entspricht der Fläche 𝐴 𝐵 . Bei einer Preissenkung von 𝑝 auf 𝑝 steigt die Menge von 𝑞 auf 𝑞 an und der neue Erlös beträgt 𝑅 𝑝 𝑞 und entspricht der Fläche 𝐵 𝐶 . Der Erlös verringert sich um - 𝐴 infolge des niedrip, R, in EUR 0 a/ b a A B C p 1 p 2 q 1 q 2 q p, R, in EUR 0 a/ b a A B C p 3 p 4 q 3 q 4 q Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 44 geren Preises (Preiseffekt), wächst aber um 𝐶 aufgrund steigender Menge (Mengeneffekt) an, so dass der Gesamteffekt als Grenzerlös 𝑀𝑅 𝐴 𝐶 0 positiv ist, weil die Preisänderung im elastischen Teil der Nachfragekurve stattfindet. In ► Abbildung 1.15 rechts ist der Fall zu sehen, dass die Grenzerlöse 𝑀𝑅 𝐴 𝐶 0 negativ sind: Der Erlösverlust 𝐴 aus einer Preissenkung von 𝑝 auf 𝑝 dominiert den Effekt eines Erlöszuwachses 𝐶 aufgrund der Mengensteigerung von 𝑞 auf 𝑞 , da die Preissenkung im unelastischen Bereich der Nachfragefunktion stattfindet. Der neue Erlös 𝑅 𝑝 𝑞 𝑝 𝑞 𝑅 ist geringer als der vorherige Erlös. 1.4 Zusammenfassung Mikroökonomie versucht, Ursachen für das beobachtbare Verhalten und die Entscheidungen von Menschen in ökonomischen Situationen zu erklären, um herauszuarbeiten, welche Auswirkungen sich für Märkte, Unternehmen und Wettbewerb ergeben. Mikroökonomische Modelle liefern Orientierungspunkte für künftige Entscheidungen und die Einordnung von Wettbewerbssituationen insbesondere aus Managementperspektive. Mikroökonomie analysiert die Entscheidungen von Kunden und Unternehmen, deren Zusammenspiel und die Funktionsweise von Märkten anhand empirischer Methoden (Ökonometrie, Labor- und Feldexperimente) und theoretischer Modelle. Modelle können, neben einer vereinfachenden Abbildung der Wirklichkeit, der wahrgenommenen Realität insbesondere Entscheidbarkeit hinzufügen. In diesem Sinne versorgt Mikroökonomie künftige Manager mit Stadtplänen für Wettbewerb und Märkte: Mit empirisch belastbaren, wenngleich abstrahierend modellhaften Abbildungen wird beobachteten Fakten - einer Markt- oder Wettbewerbssituation - Entscheidbarkeit hinzugefügt. Ein zentrales Analyseobjekt sind Märkte und das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Märkte sind Institutionen (Systeme, Regeln, Muster und Strukturen), in denen wiederkehrend Transaktionen zwischen Marktteilnehmern angestrebt oder durchgeführt werden. Ein durch einen Gleichgewichtspreis determiniertes Marktgleichgewicht ist die einzige Preis- Mengen-Kombination, an dem die nachgefragte Menge exakt der angebotenen Menge entspricht. Ob und wie schnell dieses tatsächlich eintritt, hängt vom Informationsaustausch, der Wettbewerbsdynamik im Markt und den Lernprozessen der Marktteilnehmer ab. Unterschiedliche Marktmechanismen, Informationsasymmetrie, die Abfolge von Transaktionen und die Höhe von Transaktionskosten können zu sehr unterschiedlichen Marktergebnissen - Preisen, Mengen und Erlösen - führen. Die Nachfrageseite eines Marktes lässt sich als Preis-Mengen-Kombinationen entlang der Nachfragefunktion beschreiben. Die Preiselastizität der Nachfrage dient zur Abschätzung der Reaktion des Effektes auf die nachgefragte Menge als Reaktion auf eine Preisänderung. Preiselastizität und Grenzerlöse sind zentrale Management-Tools bei der Analyse der Nachfrage und Ableitung von Preis- oder Vertriebsstrategien: Bei positivem Grenzerlös und/ oder einer Preiselastizität kleiner -1 kann ein Unternehmen den Umsatz durch eine Preissenkung steigern, bei negativem Grenzerlös sollte das Unternehmen die Preise erhöhen, um die Umsätze zu steigern. Zusammenfassung 45  Kontrollfragen [1] Geben Sie eine präzise Definition für Mikroökonomie! Warum ist Mikroökonomie Bestandteil aller wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge? [2] Was sind Vor- und Nachteile ökonomischer Modelle? Welche Rolle spielen stilisierte Fakten? Wie werden mikroökonomische Modelle entwickelt? [3] Wie verlaufen Angebots- und Nachfragekurve typischerweise? Welche Faktoren bestimmen den Verlauf von Angebots- und Nachfragekurven? [4] Was ist ein gleichgewichtiger Marktpreis? Nehmen Sie Bezug zu Produkten, deren Preise im Gleichgewicht resp. nicht im Gleichgewicht sind. [5] Ermitteln Sie Marktergebnisse für Marktgleichgewicht, horizontale und vertikale Transaktionen für den Wasserflaschenmarkt aus der Case Study bei je acht Marktteilnehmern, Zahlungsbereitschaften in 1 EUR-Schritten von 1 EUR bis 8 EUR und potenziellen Angeboten in 1 EUR-Schritten von 3 EUR bis 10 EUR. Erläutern Sie Ihre Ergebnisse. [6] Beschreiben Sie das Konzept der Preiselastizität der Nachfrage. Wovon hängt diese ab, gibt es Unterschiede zwischen kurz- und langfristiger Sicht? Wie kann man empirisch die Preiselastizität der Nachfrage ermitteln? [7] Erläutern Sie das Konzept des Grenzerlös und nehmen Sie Bezug zum Preis- und Mengeneffekt. Welche Faustregel lassen sich aus der Analyse von Grenzerlösen aus Managementperspektive ableiten? [8] Bei einer Preiselastizität von -1,3 erhöht ein Eisverkäufer die Preise um 4 % - was passiert qualitativ und quantitativ mit seinem Umsatz? Ermitteln sie auch den Preis- und Mengeneffekt des Grenzerlöses. [9] Bestimmen Sie die Nachfragefunktion, die Preiselastizität der Nachfrage nach Brötchen einer Bäckerei in der Mainzer Straße in Saarbrücken sowie Erlöse und Grenzerlöse! [10] Sie sind Direktor des Guggenheim-Museum in Bilbao. Aktuell betragen die Eintrittspreise 20 EUR, Sie haben jährlich 400.000 Besucher, die Umsätze betragen 8 Mio. EUR pro Jahr. Die Nachfragefunktion kennen Sie aus einer Marktforschung als 𝑝 100 - 0,0002 𝑞 (mit q als Zahl der Besucher). Die Guggenheim Foundation in New York verlangt höhere Umsätze von Ihnen und drängt Sie zu einer schnellen Entscheidung - sollten Sie die Preise erhöhen oder senken? Beantworten Sie die Frage anhand der Preiselastizität der Nachfrage und einer Zeichnung. Was wäre der optimale Preis, um die Erlöse zu maximieren?  Literatur Weiterführende Lehrbücher Belleflamme, P. und Peitz, M., Industrial organization: markets and strategies, London 2015. Hirschey, M., Managerial economics, London-Boston 2015. Kreps, D., A course in microeconomic theory, Princeton 1990. Mas-Colell, A. Winston, M.D. und Green, J.R., Microeconomic Theory, New York 1995. McGuigan, J.R., Moyer, R.C. und Harris, F.H.B., Managerial economics: applications, strategy, and tactics, Mason 2015. Mikroökonomie, Wettbewerb und strategisches Verhalten 46 Tremblay, V.J und Tremblay, C.H., New perspectives on industrial organization, New York 2014. 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Vakratsas, D. und Ambler, T., How advertising works: what do we really know? , Journal of Marketing, 1999, 63, 1, 26-43. 2 Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte Sucht ein Kunde bei großen Onlineplattformen wie Amazon nach einem Reiseführer für China, wird nach dem Anklicken des ersten Suchtreffers unterhalb des eigentlichen Produktes eine Zeile an Produkten in der Kategorie „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch“ angezeigt: ein Sprachführer für Chinesisch, ein Bildwörterbuch, Stadtführer für Beijing und Shanghai sowie ein Buch über Verhaltensregeln für China. Allerdings werden nahezu jedem Besucher der Amazon-Website unterschiedliche Produkte angezeigt - die Auswahl der vorgeschlagenen Produkte und das Preisniveau ist für jeden potenziellen Kunden personalisiert. Um präzise die richtigen Produkte vorzuschlagen, analysiert Amazon zahlreiche Parameter wie bspw. das bisherige Kundenverhalten (d.h. sowohl Kaufentscheidungen wie auch Nicht- Kaufentscheidungen), die Internetnutzung, das Surf- und Suchverhalten über Cookies, zieht aus IP-Adressen, Lokations- und Bewegungsdaten Rückschlüsse auf den sozialen Status, das Alter und weitere demographische Details des Kunden - und berücksichtigt natürlich auf Basis gewählter Bezahlverfahren und Kreditwürdigkeitsprüfung das Einkommen des Kunden. Aus Managementperspektive können daraus zahlreiche Entscheidungen abgeleitet werden:  Produktangebot und -portfolio - um in Vertrieb und Marketing die jeweils richtigen Produkte einzelnen Kunden oder Kundengruppen anbieten zu können.  Preise einzelner Produkte und Preisstruktur - um den für Kunden oder Marktsegmente richtigen Preis oder die Preisstruktur über mehrere Produkte hinweg festzulegen oder die Rückwirkungen von Preisänderungen von Produkten der Wettbewerber auf die eigene Nachfrage abschätzen zu können.  Marktsegmente und Produktdifferenzierung - um auf Basis vertikaler oder horizontaler Produktdifferenzierung entweder bestehende Marktsegmente besser adressieren zu können oder diese durch Differenzierung und Preismodelle zu etablieren. Der von Amazon angewendete Predictive Analytics Algorithmus basiert unter anderem auf der mikroökonomischen Grundüberlegung der Nutzenmaximierung auf Basis der Präferenzen von Kunden (Siegel 2016, Nichols 2013 und  aws.amazon.com/ de/ aml). In ähnlicher Weise wie Amazon kennen Netflix, Facebook oder Google die Präferenzen der Kunden und versuchen künftiges Kundenverhalten vorherzusagen, um jedem einzelnen Kunden die richtigen Produkte für den nächsten Kauf vorzuschlagen. Das ist insbesondere dann möglich, wenn Kunden ihre jeweiligen Präferenzen auf sozialen Netzwerken, in Bewertungsportalen oder durch ihr Surf-Verhalten direkt oder indirekt offenlegen. Unabhängig davon basieren Kundenverhalten und Kaufentscheidungen natürlich oft auf Routinen, früheren Entscheidungen, Adaption des Verhaltens oder der Entscheidungen anderer Menschen und psychologischen Einflüssen - diese Aspekte werden in ► Kapitel 3 betrachtet. Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 50  Lernziele Dieses Kapitel beschäftigt sich mit  den Grundlagen von Kundenverhalten und Nachfrageentscheidungen auf Basis von Präferenzen und Budgetbeschränkungen,  der Definition eines Marktes, Möglichkeiten der Marktabgrenzung und Produktkategorien sowie  Besonderheiten des Nachfrageverhaltens bei direkten und indirekten Netzwerkeffekten und deren  Rückwirkungen auf zwei- und mehrseitige Plattformen. 2.1 Kundenverhalten und Nachfrageentscheidungen Das Verhalten von Kunden und die Entscheidung zum Kauf eines Produktes kann aus zahlreichen Perspektiven analysiert werden, wie in ► Abbildung 2.1 angedeutet. Das Kundenverhalten umfasst natürlich nicht nur den Konsum eines Produktes, sondern erstreckt sich über die Erwartung der Nutzung, die Informationsbeschaffung, die Durchführung des Kaufs, die eigentliche Nutzung, das Eigentum und den Besitz wie auch - bspw. bei Reisen - die Erinnerungen (Deaton 1992 sowie Kahneman und Tversky 2003). Zudem fragt ein Kunde ggfs. nicht ein Produkt per se nach, sondern eine Mischung aus Eigenschaften des Produktes (Lancaster 1971). Damit ist klar, das Kundenverhalten einerseits eine zeitliche Dimension hat und ggfs. stark durch Emotionen geprägt oder überlagert ist. Abbildung 2.1: Kundenverhalten, mögliche Sichtweisen und Einflussfaktoren. Das Verhalten von Kunden lässt sich wesentlich durch den Wunsch, Nutzen (Zufriedenheit) aus dem Konsum bestimmter Produkte zu erzielen, erklären. Menschen tun Dinge, die ihren Nutzen steigern, und vermeiden Dinge, die ihren Nutzen reduzieren, müssen dabei aber die Begrenztheit von Einkommen und Zeit berücksichtigen. Nutzen kann aus dem eigentlichen Kundenverhalten Mikroökonomie (Einkommen, Preise, Präferenzen) Psychologie/ Verhaltenswissenschaft Soziologie Demographie Marketing Umwelt (PESTEL) intrapersonell (Haltungen, Glaube Lebensstil, Persönlichkeit etc.) interpersonell (Imitation, Differenzierung, Benchmarking etc.) Kundenverhalten und Nachfrageentscheidungen 51 Verbrauch oder funktionalen Gebrauch des Produktes entstehen, aber auch durch Anerkennung anderer Menschen aufgrund des Besitzes oder Eigentums, durch ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe oder durch einen bestimmten damit verbundenen Lebensstil oder Lebenseinstellungen sowie durch Signalisierung bestimmter Wertvorstellungen (Solomon 2014 und bspw. auch Sinus Milieus des Sinus-Instituts). Präferenzen Kundenverhalten wird einerseits durch den Überlebenswillen der Menschen und lebensnotwendige Bedarfe geprägt, die Entscheidungen werden aber in ganz wesentlichen Teilen durch Präferenzen beeinflusst oder bestimmt. Aus mikroökonomischer Perspektive beschreiben Präferenzen die Vorlieben (respektive Abneigungen) gegenüber alternativen Produkten auf Basis einer Rangordnung, die dann eine bestmögliche Auswahl aus Alternativen ermöglicht. Die Notwendigkeit zur Auswahl und Entscheidung zwischen Alternativen ergibt sich aus Knappheit: begrenztem Einkommen und gegebenen Preisen, begrenzter Zeit zum Konsum und ggfs. begrenzter Kompatibilität der Produkte. Präferenzen sind teilweise intrapersonell angelegt - Menschen sind unterschiedlich, haben unterschiedliche Vorlieben - aber auch endogen: Präferenzen werden durch Marketing zum Aufbau von Markenloyalität, interpersonelle Vergleiche in sozialen Medien und gesellschaftlichen Gruppen, Gewohnheiten, Kultur und Märkte oder auch die Einkommens- und Vermögenssituation geprägt und verändert (Bagwell 2007 und Bowles 1998). Das Phänomen „Keeping up with the Joneses” beschreibt, dass der Vergleich, die Imitation, der Wunsch nach Zugehörigkeit und gleichzeitiger Differenzierung zwischen Kunden eine wesentliche Determinante von Konsummustern darstellt. Alfred Sloan, früherer CEO der General Motors Corporation, hat daraus in den 1930er-Jahren eine noch heute funktionierende Strategie für Produktdifferenzierung in der Automobilindustrie abgeleitet: Zumindest in Deutschland kann man durch Analyse der parkenden Autos in einem Wohngebiet eine treffsichere Schätzung von Einkommen und sozialem Status der Wohnbevölkerung vornehmen (Gali 1994 und Ghemawat 2002). Rationale Entscheidungen, Nutzen und Grenznutzen Eine eindeutige und rationale Entscheidung auf Basis gegebener Präferenzen bei beschränktem Einkommen und gegebenen Preisen ist möglich, wenn folgende Anforderungen erfüllt sind:  Vollständige Präferenzen - um entscheiden zu können, muss ein Kunde eine eindeutige Rangordnung über alle Produkte und deren Kombinationsmöglichkeiten erstellen können. Zudem muss diese Rangordnung transitiv sein, d.h. im Fall von Smartphones, wenn Apple gegenüber Samsung bevorzugt wird, und Samsung gegenüber Huawei, dann muss auch Apple gegenüber Huawei bevorzugt werden.  Nutzenmaximierung - um den Nutzen zu maximieren, müssen Menschen entsprechend ihrer Präferenzen und gegebenen Budgetbeschränkung (Einkommen und Preise) entscheiden. Sie berücksichtigen im Rahmen einer vollständig rationalen Kosten-Nutzen- Abwägung alle relevanten Informationen, Nutzen oder Kosten und versuchen so zumin- Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 52 dest, ihren Nutzen (die Zufriedenheit) durch das gewählte Konsumverhalten zu steigern oder zu maximieren.  Opportunitätskosten - sind die oft unsichtbaren oder impliziten Kosten (entgangener Nutzen), die damit verbunden sind, dass aufgrund einer Entscheidung für ein Produkt ein bestmögliches alternatives Produkt nicht konsumiert werden kann - sie entstehen, weil ein Geldbetrag nur eine Verwendung hat und damit für andere Ausgaben nicht zur Verfügung steht. Die Gründe hierfür sind wesentlich begrenzte Zeit und begrenztes Einkommen. Opportunitätskosten sind zwar keine tatsächlichen Kosten, sind aber implizit Grundlage rationaler Entscheidungen und müssen immer berücksichtigt werden.  Sunk Costs - viele Entscheidungen finden vor dem Hintergrund von Ausgaben (Kosten) statt, welche in der Vergangenheit getätigt wurden und auch durch eine neue Entscheidung nicht rückgängig gemacht werden können. Sunk Costs (irreversible Vergangenheitskosten) sind zwar tatsächliche Kosten, sind aber aufgrund ihrer spezifischen Verwendung (der Semesterbeitrag vom letztem Jahr) für künftige Entscheidungen irrelevant und dürfen für eine rationale Entscheidung nicht berücksichtigt werden (vgl. weiterführend ► Kapitel 3 und ► Kapitel 6).  Case Study │ Entscheidung für ein wirtschaftswissenschaftliches Studium Man kann sich die vier Bedingungen vollständig rationaler Entscheidungen sehr gut anhand der Entscheidung für ein wirtschaftswissenschaftliches Studium verdeutlichen:  Vollständige Präferenzen - vor der Bewerbung um einen Studienplatz hat ein Studierender zunächst alle Studiengänge in eine eindeutige Rangfolge gebracht und danach alle Hochschulen des präferierten Studiengangs ebenfalls in eine eindeutige Reihe gebracht.  Nutzenmaximierung - ein Studierender wählt dann - bei gegebenen Budget - einen Studiengang und Studienort, der sein künftiges Einkommen, die Karrieremöglichkeiten, das Wohlbefinden und das Ansehen maximieren.  Opportunitätskosten - ein Studierender hat bei der Wahl des Studiengangs BWL alle parallel nicht realisierbaren Möglichkeiten, bspw. ein Zahnmedizinstudium, abgewogen und diese Opportunitätskosten (insbesondere das entgangene mögliche höhere Einkommen) bei seiner Entscheidung berücksichtigt.  Sunk Costs - sollte, wider Erwarten, ein Studierender im sechsten Semester kurz vor Abgabe der Bachelorarbeit feststellen, dass die Studienwahl nicht seinen Präferenzen entspricht, wechselt er umgehend den Studiengang, denn die bisherigen Investitionen in Lernen und Studiengebühren sind Sunk Costs. Es liegt auf der Hand, dass zahlreiche Entscheidungen - nicht nur die Wahl des Studiengangs - auf Basis von Routinen oder ohne vollständiges Abwägen aller Alternativen getroffen werden - die Auswirkungen begrenzter Rationalität auf Entscheidungen werden im nachfolgenden ► Kapitel 3 betrachtet. Kundenverhalten und Nachfrageentscheidungen 53 Abbildung 2.2: Nutzen, Einkommen und Preise. Der Zusammenhang zwischen Kaufentscheidungen, Einkommen, Preisen und Nutzen kann, wie in ► Abbildung 2.2 gezeigt, konzeptionell erfasst werden, um Prognosen von Kaufentscheidungen abzuleiten. Hierfür ist notwendig, Nutzen greifbar zu machen: Nutzen ist ein theoretisches Konstrukt und kann nicht direkt beobachtet oder gemessen werden. Allerdings kann man Nutzen indirekt bestimmen: Man kann Kunden betreffend der Veränderung des Nutzens bei nochmaligem oder weiterem Konsum eines bestimmten Produktes - bspw. eines Stückes Schokolade - fragen, ob das letzte Stück, besser/ genauso gut/ schlechter als das unmittelbar zuvor gegessene Stück Schokolade geschmeckt hat. Für die allermeisten Menschen wird hier in Experimenten beobachtet, dass zumindest nach einer größeren Menge an Schokolade die Zufriedenheit nicht weiter ansteigt und die Vorfreude auf das nächste Stück abnimmt. Diese Veränderung des Nutzens bei einer marginalen Ausdehnung des Konsums eines Produktes wird als Grenznutzen bezeichnet: Es beschreibt den zusätzlichen Nutzen aus der letzten konsumierten Einheit eines Produktes (Luce 2014) - bei positivem Grenznutzen steigt der Nutzen, bei negativem Grenznutzen geht der Nutzen zurück. Im oberen Teil der ► Abbildung 2.3 ist der Grenznutzen als Funktion der Produkte Mikroökonomie-Lehrbuch und Bier eingezeichnet. Für viele Menschen führt zunehmendes Lesen in Mikroökonomie-Lehrbüchern zu zunehmender Zufriedenheit aufgrund anwachsenden Wissens, allerdings wird der Grenznutzen als Zuwachs an Wissen immer geringer: Der Zuwachs an Wissen im linken Beispiel nimmt ab, so dass zwar der Nutzen steigt, aber mit immer kleiner werdender Zuwachsrate. Im Gegensatz dazu führt zunehmender Konsum von Bier ab einer bestimmten Menge oftmals zu negativem Grenznutzen. Typischerweise beenden Menschen den Konsum eines Produktes, bevor der Grenznutzen negativ wird. Präferenzen Budgetgerade implizit und explizit gegeben Konzept zur Erklärung beobachtbares Verhalten (revealed preference) Prognose von Konsumentscheidungen Kaufentscheidungen Budgetbeschränkungen Indifferenzkurve Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 54 Abbildung 2.3: Graphische Darstellung von Nutzen und Grenznutzen Der Grenznutzen beschreibt die Veränderung des Nutzens in Abhängigkeit der konsumierten Menge - mathematisch ist das die Ableitung einer Nutzenfunktion 𝑢 𝑞 nach der Menge 𝑞 , so dass sich allgemein mit (2.1) 0 und 0 ergibt, dass der Grenznutzen MU positiv ist, aber mit zunehmendem Konsum eines Produktes abnimmt - gleichbedeutend mit Nutzen, der mit abnehmender Rate ansteigt. Da jeder Mensch andere Präferenzen hat, unterscheiden sich natürlich die individuellen Nutzenfunktionen, die allgemein - bspw. für zwei Produkte Wohnen 𝑊 und Party machen 𝑃 - durch (2.2) 𝑢 𝑊, 𝑃 dargestellt werden und verschiedene mathematische Formen, bspw. 𝑢 𝑊, 𝑃 𝑊 𝑃 oder 𝑢 𝑊, 𝑃 𝑊 , 𝑃 , , annehmen kann, die der Bedingung (2.1) genügen. Grenznutzen und Nutzen aus Wohnen und Party Um den Zusammenhang zwischen Grenznutzen und Nutzen über mehrere Produkte hinweg zu verdeutlichen, werden die Entscheidungen einer Studentin analysiert. Die Studentin verfügt über 800 EUR monatlich frei verfügbares Einkommen (Budget), wovon allerdings monatlich 200 EUR für lebensnotwendige Einkäufe verwendet werden. Die restlichen 600 EUR gibt die Studentin vollständig für die zwei Produkte Wohnen 𝑊 und Party machen 𝑃 aus. In ► Abbildung 2.4 sind die Produkte Wohnen (in Abhängigkeit der Quadratmeterzahl) und Party machen (abends Weggehen pro Monat) dargestellt. Die betrachtete Studentin wohnt aktuell in Nutzen Mikroökonomie Bier Nutzen 0 0 Grenznutzen Mikroökonomie Grenznutzen Bier 0 0 Kundenverhalten und Nachfrageentscheidungen 55 einer kleinen Wohnung mit 25 m 2 und geht durchschnittlich 16-mal jeden Monat abends aus. Zwar würde der Nutzen sowohl mit einer größeren Wohnung als auch mit häufigerem Weggehen ansteigen, aber nur unterproportional. Insbesondere würde bspw. der Nutzen einer 10 m 2 größeren Wohnung, einem Zuwachs von 25 m 2 auf 35 m 2 , deutlich ausfallen, ein Zuwachs um 10 m 2 von bspw. 60 m 2 auf 70 m 2 würden den Nutzen deutlich geringer ansteigen lassen. Abbildung 2.4: Nutzen und Grenznutzen für Wohnungsgröße und Partys. Die erste Ableitung der jeweiligen Nutzenfunktionen (die durch Beobachtung oder Befragung ermittelt und ökonometrisch geschätzt wurde) gibt dann, wie ► Abbildung 2.4 angegeben, den Grenznutzen jedes Produktes an. Indifferenzkurven und Grenzrate der Substitution Der Nutzen, den die Studentin aus dem Konsum beider Produkte gemeinsam erzielt, ist in ► Abbildung 2.5 links oben dargestellt: Die Studentin hat sich für die Kombination einer 25 m 2 großen Wohnung und 16-mal Party machen pro Monat entschieden, wie durch den Punkt A angezeigt. Wären - aus Sicht der Studentin - auch die Punkte A‘ und A‘‘ möglich gewesen, weil diese auf Basis ihrer individuellen Präferenzen das gleich Nutzenniveau erbringen, kann man die Punkte A, A‘ und A‘‘ mittels einer Indifferenzkurve verbinden. u(m 2 ) Nutzen steigt an Grenznutzen nimmt ab 0 10 20 30 40 50 60 70 80 m 2 Beispiel einer spezifischen Nutzenfunktion MU(m 2 ) MU(partys) u(partys) Nutzen steigt an Grenznutzen nimmt ab 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Parties 0 10 20 30 40 50 60 70 80 m 2 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Partys u u qm qm , u u party party , 𝜕u 𝜕qm MU 0,5 ∙ qm , 𝜕u 𝜕party MU 0,7 ∙ party , Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 56 Abbildung 2.5: Nutzenfunktion und Indifferenzkurven. Eine Indifferenzkurve bildet die Präferenzen eines Kunden ab und zeigt Punkte gleichen Nutzenniveaus aus dem Konsum mehrerer Produkte an: Die Studentin wäre in diesem Beispiel bereit, in eine kleinere Wohnung mit nur 20 m 2 umzuziehen, wenn sie dafür statt 16-mal jetzt 20-mal pro Monat Party machen kann - und so einen Tausch (Trade-Off) von 5 m 2 gegen viermal Weggehen vorzunehmen. In ► Abbildung 2.5 rechts oben ist zu sehen, dass sich das Tauschverhältnis entlang der Indifferenzkurve verändert: Je mehr von einem Produkt vorhanden ist, umso mehr wird gegen ein anderes Produkt eingetauscht. Der Tausch entlang einer Indifferenzkurve kann präziser als Grenzrate der Substitution, d.h. die relative Bereitschaft ein Produkt durch ein anderes zu ersetzen, gemessen werden. Um diese zu ermitteln, kann für eine Nutzenfunktion 𝑢 𝑊, 𝑃 zunächst das totale Differential als (2.3) 𝑑𝑢 𝑑𝑊 𝑑𝑃 , ermittelt werden. Hier bezeichnet den Grenznutzen des Wohnens und 𝑑𝑊 die Veränderung der Wohnfläche aufgrund einer Konsumentscheidung, so dass 𝑑𝑊 die Veränderung des Nutzens aufgrund einer Veränderung der Wohnfläche beschreibt. Da der Nutzen entlang einer Indifferenzkurve konstant ist, ist die durch das totale Differential beschriebene Veränderung 𝑑𝑢 0 , so dass (2.3) umgestellt werden kann zu Wohnungsgröße in m 2 A‘ A A‘‘ Party machen pro Monat 20 25 40 12 20 16 Wohnungsgröße in m 2 A‘ A A‘‘ Party machen pro Monat 20 25 40 12 20 16 dP dW Wohnungsgröße in m 2 A‘ A‘‘ Party machen pro Monat 20 25 40 12 20 16 Wohnungsgröße in m 2 B‘ A‘ C‘ A A‘‘ B‘‘ Party machen pro Monat B C‘‘ 20 25 40 12 20 16 10 gleiches Nutzenniveau Tausch ~ -4/ 5 Tausch ~ -4/ 15 Grenzrate der Substitution ~ - 8/ 25 A steigendes Nutzenniveau Kundenverhalten und Nachfrageentscheidungen 57 (2.4) . Die Grenzrate der Substitution als Tauschverhältnis 𝑑𝑊 𝑑𝑃 ⁄ der beiden Produkte entspricht den Grenznutzenverhältnissen und misst die Veränderungen der Mengen der beiden Produkte an einem Punkt einer Indifferenzkurve - die Bereitschaft von einem Produkt etwas aufzugeben hängt davon ab, wie hoch der relative Grenznutzen der betrachteten Produkte ist. Die Indifferenzkurven verlaufen konvex gekrümmt zum Ursprung, wenn ein Kunde auf keines der beiden Produkte vollständig verzichten würde - das wiederum impliziert, dass Kunden Vielfalt an Konsummöglichkeiten bevorzugen. In ► Abbildung 2.5 rechts unten ist zu sehen, dass natürlich nicht nur eine, sondern unendliche viele Indifferenzkurven für einen Kunden existieren. Je weiter rechts oben eine Indifferenzkurve liegt, desto höher ist das Nutzenniveau. Die Indifferenzkurve durch die Punkte C, C‘ und C‘‘ zeigt ein höheres Nutzenniveau an - das ist unmittelbar klar, wenn man C‘ und A vergleicht: Die Wohnung ist mit 25 m 2 gleich groß, dafür kann die Studentin statt 16-mal hier 20-mal Weggehen - die Frage ist jetzt, warum sie das nicht tut. Budgetbeschränkung und Konsummöglichkeiten Die Ursache hierfür liegt im begrenzten verfügbaren Einkommen und den Preisen für Wohnen und Party machen. Die Konsummöglichkeiten der Studentin unterliegen einer Budgetbeschränkung, die sich aus dem monatlichen Einkommen (Budget) in Höhe von 𝐼 800 , den lebensnotwendigen Supermarkteinkäufen 𝑆 200 sowie den Preisen für Wohnen in Höhe 𝑝 8 je m² und Party machen in Höhe von 𝑝 25 ergeben. Die Konsummöglichkeiten ergeben sich dann aus einer Budgetbeschränkung in Form von (2.3) 𝐼 𝑆 𝑝 𝑊 𝑝 𝑃 als (2.4) 800 200 8𝑊 25𝑃 oder (2.5) 600 8𝑊 25𝑃 . Die Budgetbeschränkung in (2.5) zeigt, dass, nach Abzug der Ausgaben 𝑆 für den Supermarkt, noch 600 EUR übrig bleiben, die entsprechend individueller Präferenzen für Wohnen und Party machen verwendet werden können. Man kann Gleichung (2.5) bspw. auflösen nach P und erhält mit (2.6) 𝑃 𝑊 die maximale Anzahl an Party machen in Abhängigkeit der Wohnungsgröße. Würde die Wohnung nicht existieren, 𝑊 0 , dann kann die Studentin vom verfügbaren Budget offenbar 𝑃 600/ 25 24 pro Monat Party machen. Umgekehrt kann man Gleichung (2.5) umstellen zu (2.7) 𝑊 𝑃 , Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 58 so dass sich für 𝑃 0 eine maximale Wohnungsgröße von 𝑊 600/ 8 75 m 2 ergibt. Zudem wird die Steigung der Budgetgeraden durch die relativen Preise der beiden Produkte festgelegt, in diesem Fall mit (2.8) 𝑝 / 𝑝 . In ► Abbildung 2.6 links oben ist nun Gleichung (2.5) mit den Informationen aus (2.6) und (2.7) als Budgetgerade abgebildet. Die Budgetgerade beschreibt die Konsummöglichkeiten bei gegebenen Einkommen und gegebenen Preisen - alle Punkte darunter und darauf sind möglich, alle darüber sind unmöglich. Die Lage der Budgetgeraden wird durch das Einkommen bestimmt. Bei niedrigerem Einkommen verschiebt sie sich parallel nach unten, mit steigendem Einkommen parallel nach oben, da die Steigung bei konstanten Preisen unverändert bleibt. Wenn sich das Preisverhältnis ändert, wie in ► Abbildung 2.6 links unten aufgrund einer Preisreduktion bei Party machen eingezeichnet, dreht sich die Budgetgerade um den Punkt des Produktes, der konstant geblieben ist. In ► Abbildung 2.6 rechts oben ist die Budgetgerade mit den Indifferenzkurven aus ► Abbildung 2.5 kombiniert: Die Studentin wählt offenbar Punkt A, weil bei gegebenen Preisen und verfügbarem Einkommen hier die höchstmögliche Indifferenzkurve erreicht wird und die Budgetgerade diese Indifferenzkurve gerade tangiert. Abbildung 2.6: Budgetgerade und Nutzenmaximierung. In ► Abbildung 2.6 rechts unten ist der Effekt einer Preisreduktion für Party machen zu sehen: Die hier betrachtete Studentin bleibt in ihrer Wohnung und wird künftig häufiger Weggehen - sie erhöht durch Wahl von C‘ ihr Nutzenniveau gegenüber A. 600 / 25 = 24 = verfügbares Budget geteilt durch Preis für Weggehen Wohnungsgröße in qm Party machen pro Monat 24 75 Wohnungsgröße in qm Party machen pro Monat 24 75 niedrigeres Einkommen: 400 30 Party machen billiger: 20 16 50 C‘ A 25 20 16 Wohnungsgröße in qm 24 75 30 Party machen pro Monat B‘ A‘ A A‘‘ B‘‘ Party machen pro Monat 20 25 40 12 20 16 10 Wohnungsgröße in qm 24 75 C‘ Steigung = - 8 / 25 = Verhältnis der Preise = relatives Preisverhältnis 600 / 8 = 75 = verfügbares Budget geteilt durch Preis für Wohnen Kundenverhalten und Nachfrageentscheidungen 59 Anhand von ► Abbildung 2.6 rechts oben lassen sich nun vier Beobachtungen machen und zentrale Schlussfolgerungen ziehen:  Nutzenmaximierung - bei Punkt A und der Kombination aus Wohnen auf 25 m 2 und 16mal Party machen maximiert die Studentin ihren Nutzen bei gegebenen Preisen und dem verfügbaren Einkommen entsprechend ihrer Präferenzen.  Eindeutig bestmögliche Produktkombination - Punkt A wird offensichtlich gegenüber B‘‘ vorgezogen, denn bei gleicher Wohnungsgröße wird seltener Party gemacht. Damit wird aber auch A gegenüber B‘ vorgezogen: B‘‘ und B‘ haben dasselbe Nutzenniveau, so dass A aus Perspektive der Studentin auch besser als B‘ ist.  Preisverhältnisse entsprechen den Grenznutzenverhältnissen - die Steigung der Indifferenzkurve entspricht beim Punkt A der Steigung der Budgetgeraden. Die Steigung der Budgetgeraden wird vom relativen Preisverhältnis von Wohnen und Party machen bestimmt, die Steigung der Indifferenzkurve wird vom Verhältnis der Grenznutzen beider Produkte bestimmt.  Opportunitätskosten - wenn die Studentin häufiger Party machen möchte, muss sie auf Wohnraum verzichten: Die Opportunitätskosten je Party machen zu 25 EUR betragen bei einem Quadratmeterpreis von 8 EUR entsprechend 3,125 m 2 - sie muss auf 3,125 m 2 Wohnfläche verzichten, um einmal häufiger Party zu machen. Da an Punkt A die Preisverhältnisse den Grenznutzenverhältnissen entsprechen, d.h. (2.8) ⁄ ⁄ gilt, kann nach Umformung zu (2.9) ⁄ ⁄ allgemein formuliert werden, dass bei rationalen Kaufentscheidungen das Verhältnis von Grenznutzen zu Preis über alle Produkte gleich ist - dies gilt natürlich nicht nur für zwei Produkte, sondern prinzipiell für alle Produkte, die ein Kunde konsumiert. Daraus ergibt sich eine weitere Erklärung, weshalb Punkt B‘ nicht gewählt wird. Bei B‘ ist offensichtlich die Steigung der Indifferenzkurve steiler als die Budgetgerade, so dass wegen (2.10) ⁄ ⁄ offenbar der Grenznutzen aus 20-mal Party machen nicht groß genug ist, um in einer nur 10 m 2 großen Wohnung bei gegebenen Preisverhältnissen zu leben. Das hier zugrundeliegende Konzept der Grenzrate der Substitution mag auf den ersten Blick theoretisch erscheinen, lässt sich aber empirisch in vielen Situationen beobachten, insbesondere im Rahmen von internationalem Handel oder an Wertpapierbörsen beim Tausch von Renditeerwartungen unterschiedlicher Wertpapier. Aber schon Kinder auf dem Schulhof verhalten sich entsprechend, wenn sie bspw. Fußballbilder miteinander tauschen und relativ teure Bilder von Ronaldo gegen eine Vielzahl relativ billiger Bilder weniger namhafter Spieler handeln. Aus Managementperspektive kann aus empirischen Konsummustern - wie bspw. vom Statistischen Bundesamt oder von Marktforschungsunternehmen wie GfK oder Nielsen veröffentlicht Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 60 - bei gegebenen Preisen indirekt auf die Präferenzen der Kunden zurückgeschlossen werden. Insbesondere können Entscheidungen für das eigene Produktportfolio oder Preisstrategien abgeleitet werden, wenn Preisveränderungen von Produkten beobachtet werden, die einen maßgeblichen Anteil am Budget oder Einkommen eines Kunden ausmachen, wie bspw. Wohnungsmiete oder Lebensmittelpreise. Zahlungsbereitschaft, Nutzen und Konsumentenrente Das Konzept aus Indifferenzkurven und Budgetgeraden findet zahlreiche Anwendungsfelder in der Marktforschung und bei der Abschätzung von relativen Preiselastizitäten, ermöglicht aber auch (zumindest für den Fall, dass die Nachfrage nach einem Produkt nicht stark vom Einkommen beeinflusst wird) eine Begründung für Nachfragefunktionen und macht Nutzen näherungsweise messbar. In ► Abbildung 2.7 links oben ist zu sehen, dass bei einer gegebenen Schar an Indifferenzkurven eines Kunden bei veränderten Preisverhältnissen die jeweils nachgefragte Menge der beiden Produkte angepasst wird. Wenn der Preis von Produkt 2 von 𝑝 2 über 1 auf 0,5 bei unverändertem Preis 𝑝 von Produkt 1 zurückgeht, dreht sich die Budgetgerade nach außen und wird flacher - Produkt 2 wird relativ zu Produkt 1 günstiger. Die Nachfrage steigt entlang der Preis-Konsum-Kurve, die durch die Tangentialpunkte von Indifferenzkurven und Budgetgeraden zustande kommt, damit von 5 über 15 auf 25 Stück an. Überträgt man diese Preis-Mengen-Koordinaten nach links unten, so kann für Produkt 2 aus der Abfolge der nutzenmaximierenden Tangentialpunkte A, B und C jetzt eine Nachfragekurve entlang A‘, B‘ und C‘ konstruiert werden - mit sinkenden Preisen wird mehr nachgefragt. Abbildung 2.7: Individuelle Nachfragekurve und Nutzenmaximierung. 0 0 q 1 q 2 p 2 q 2 A B C A‘ B‘ C‘ 6 5 4 5 15 25 2 1 0,5 p 2 =2 p 2 =1 p 2 =0,5 5 15 25 q p . . . 3 2 1 0 q* p* a z i 1 2 3 … individuelle Nachfragekurve Preis-Konsum-Kurve Konsumentenrente Marktabgrenzung und Produktkategorien 61 Wenn aus der Nutzenmaximierung die Nachfragekurve abgeleitet werden kann, dann findet sich der Nutzen indirekt auch in der Nachfragefunktion wieder: Im rechten Teil der ► Abbildung 2.7 ist für eine vereinfachend linear und stetig angenommene Nachfragefunktion (2.11) 𝑝 𝑎 𝑏𝑞 eingezeichnet. Bei einem Preis 𝑝 ∗ ist der Kunde offenbar bereit, eine Menge 𝑞 ∗ zu kaufen. Wäre der Preis höher, würde der Kunde nach Maßgabe der Nachfragekurve und entsprechend seiner individuellen Nutzenmaximierung und Zahlungsbereitschaft 𝑧 weniger kaufen. Da der Preis bis zu einer Menge 𝑞 ∗ aber unter der jeweiligen Zahlungsbereitschaft 𝑧 des Kunden liegt, entsteht ein individueller Nutzen 𝑢 𝑧 𝑝 ∗ genau in Höhe dieser Differenz. Allgemein ergibt sich der (Netto-)Nutzen eines Kunden aus dem Konsum einer bestimmten Menge 𝑞 ∗ eines Produktes zu einem Preis 𝑝 ∗ aus der Summe der individuellen Nutzen bemessen durch die Dreiecksfläche zwischen der Nachfragefunktion und dem Preis als (2.12) 𝐶𝑆 ∗ ⋅ 𝑞 ∗ und wird als Konsumentenrente bezeichnet (vgl. weiterführend ► Kapitel 7 und ► Kapitel 8). 2.2 Marktabgrenzung und Produktkategorien Nachfrageveränderungen einzelner Kunden oder ganzer Marktsegmente können bspw. durch Änderungen der Präferenzen (gestiegene Vorliebe für gesunde Ernährung), durch Veränderung der relativen Preise (Preisreduktionen für Telekommunikation und Datennutzung), durch Einkommensänderungen (Netto-Gehaltserhöhungen auf Basis einer Einkommensteuersenkung), durch die Verfügbarkeit neuer Produkte auf Basis von Innovationen (Smartphones und Apps) oder aufgrund von Deregulierung von Märkten (Fernbusse in Deutschland) entstehen. Oftmals haben die Nachfrageveränderungen wechselseitige Effekte, die aus der Art und Beziehung der Produkte untereinander stammen, und die Größe eines Marktes oder der Marksegmente beeinflussten. Zudem können das Zusammenspiel veränderter Präferenzen oder Zahlungsbereitschaft und Produktinnovationen zur Entstehung neuer Marktsegmente führen, gleichzeitig können Unternehmen auch aktiv ein neues Marktsegment adressieren und versuchen, dieses zu etablieren. Größe eines Marktes Die Nachfragekurve und die Größe eines Marktes können anhand der Zahl der Kunden und deren individueller Zahlungsbereitschaft bestimmt werden. Die Zahlungsbereitschaft selbst kann durch vier (kombinierbare) Möglichkeiten per Marktforschung ermittelt werden:  direkte Kundenbefragung,  direktes/ indirektes Beobachten der tatsächlichen Entscheidungen,  ökonometrische Schätzung der Nachfrage bei Preisvariationen und  Analogieschlüsse aus Kaufentscheidungen anderer Produkte. Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 62 In ► Abbildung 2.8 links ist beispielhaft das Ergebnis einer Marktforschung zur Ermittlung der Kombination aus Anzahl der Kunden und Zahlungsbereitschaft für ein Tablet abgebildet. Aus den empirischen Daten links lässt sich mit Statistikprogrammen wie Excel oder SPSS über eine Regressionsanalyse unmittelbar die empirische Nachfragefunktion - die per se beliebige lineare oder nicht lineare funktionale Formen annehmen kann - als (2.13) 𝑝 𝑝 𝑞 𝑎 𝑏𝑞 1000 0,0025𝑞 bestimmen, die hier vereinfachend als lineare Funktion angenommen und geschätzt ist. Abbildung 2.8: Empirische Ermittlung der Nachfragekurve und Nachfragefunktion. Die Nachfragefunktion beschreibt die wechselseitige Abhängigkeit der nachgefragten Menge vom Preis eines Produktes, in der 𝑎 die maximale Zahlungsbereitschaft in diesem Markt benennt - in diesem Fall ist offenbar genau ein Kunde bereit, bis zu 1000 EUR zu bezahlen - und 1/ 𝑏 ein Indikator für die horizontale Größe des Marktes ist: Je kleiner 𝒃 , desto größer der Markt. Wenn jeder Kunde maximal ein Tablet kauft, ergibt sich für die maximale Anzahl an Kunden bei einem Preis von 𝑝 0 nach Umstellen von (2.13), dass mit (2.14) 𝑞 𝑝 , 400.000 maximal 400.000 Tablets nachgefragt werden, jede Preiserhöhung führt zu einem Rückgang der nachgefragten Menge. Von der, durch die Parameter 𝑎 und 𝑏 bestimmten, Größe des Marktes abhängig ist das durch Erlöse 𝑅 (Umsatz) gemessene Marktvolumen, dass sich bei einem Marktpreis 𝑝 ∗ und der durch die Nachfragefunktion bestimmten Menge 𝑞 ∗ als 𝑅 𝑝𝑞 ergibt. maximale Zahlungsbereitschaft 0 100 400 900 p 1000 q 900 q 400 q 100 0 100 400 900 p 1000 400.000 b 0,0025 p p q a bq 1000 0,0025q Marktabgrenzung und Produktkategorien 63 Abbildung 2.9: Marktgröße und Marktvolumen als Erlöse. Marktgröße, Marktsegmente und Marktanteile Häufig lässt sich ein Markt in unterschiedliche Segmente abgrenzen, die entweder aufgrund demographischer, sozioökonomischer, psychographischer oder verhaltensbasierter Merkmale der Kunden ohnehin existieren oder durch Produktdifferenzierungsstrategien der Unternehmen aktiv geschaffen werden (Dickson und Ginter 1987). Der Zusammenhang zwischen Marktsegmenten und der Größe eines Marktes lässt sich für drei Unternehmen nachvollziehen, die hochpreisige Tablets anbieten. In ► Abbildung 2.10 sind die hypothetischen Ergebnisse einer Marktforschung in einer bestimmten Region angegeben - unterstellt ist, dass aufgrund perfekter Produktdifferenzierung jeder potenzielle Kunde Stammkunde seiner Marke ist, und keine Wechselbereitschaft zu einer anderen Marke hat. Aufgrund der Nachfragefunktionen 𝐷 für die einzelnen Unternehmen (2.15) 𝐷 : 𝑝 𝐴𝑝𝑝𝑙𝑒 𝑝 𝑞 𝑎 𝑏 𝑞 1000 0,0025𝑞 , (2.16) 𝐷 : 𝑝 𝑆𝑎𝑚𝑠𝑢𝑛𝑔 𝑝 𝑞 𝑎 𝑏 𝑞 800 0,001𝑞 und (2.17) 𝐷 : 𝑝 𝐻𝑢𝑎𝑤𝑒𝑖 𝑝 𝑞 𝑎 𝑏 𝑞 800 0,004𝑞 erkennt man, dass die potenziellen Kunden von Apple zwar mit 𝑎 1000 eine höhere Zahlungsbereitschaft als die Kunden von Samsung und Huawei aufweisen, aber potenziell am meisten Kunden ein Samsung-Tablet erwerben, da mit 𝑏 0,001 das Marktsegment größer als die Marktsegmente von Apple mit 𝑏 0,0025 und Huawei mit 𝑏 0,004 ist. Umgekehrt ist die Preiselastizität der Nachfrage 𝜀 bei jedem Preisniveau für Apple am niedrigsten, für Huawei am höchsten. p 0 0 q p q a -b p* q* Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 64 Abbildung 2.10: Zahlungsbereitschaften für verschiedene Marken. Die Größe des Gesamtmarktes ergibt sich nun aus horizontaler Addition der drei Nachfragekurven, d.h. für jeden Preis wird die maximale Nachfrage der drei Segmente addiert. In ► Abbildung 2.11 sind die Nachfragefunktionen (2.15) bis (2.17) entsprechend eingezeichnet - die aggregierte Nachfragekurve verläuft flacher als die einzelnen Nachfragekurven. Abbildung 2.11: Horizontale Addition der Marktsegmente zur Ermittlung der Marktnachfrage. Bei einem Preis von 600 EUR würden 160.000 Tablets von Apple, 200.000 von Samsung und 50.000 von Huawei abgesetzt werden, so dass im gesamten Markt 𝑄 𝑞 𝑞 𝑞 410.000 Tablets verkauft werden. Die Marktanteile 𝑠 𝑞 𝑄 ⁄ der Stückzahlen ergeben sich als 𝑠 39,0 % , 𝑠 48,8 % und 𝑠 12,2 % . Würde der Preis nur 250 EUR betragen, würden die Unternehmen im Markt 𝑄 𝑞 𝑞 𝑞 300.000 550.000 137.500 987.500 Tablets verkaufen, so dass sich die Marktanteile zu 𝑠 30,4 % 8,6 % , 𝑠 55,7 % 6,9 % und 𝑠 13,9 % 1,7 % verändern, weil die einzelnen Marktsegmente bei unterschiedlichen Preisen unterschiedliche Größen haben - Apple würde zwar absolut wachsen, aber bei ‐0,0025 maximale Zahlungsbereitschaft 0 100 400 900 Anzahl der Kunden maximale Zahlungsbereitschaft 0 Anzahl der Kunden maximale Zahlungsbereitschaft 0 Apple Samsung Huawei 800 1000 400.000 200.000 Anzahl der Kunden -0,001 -0,004 q ,Q in Tsd. p D H p=1000 p=800 D A D S p=600 1.400 410 p=250 988 D H+ +D A +D S Marktabgrenzung und Produktkategorien 65 sinkenden Preisen aufgrund der geringsten Preiselastizität der Nachfrage am deutlichsten Marktanteile verlieren. Bei einem Preis von 800 EUR oder mehr würde Apple stark profitieren: Der Marktanteil würde, wie aus ► Abbildung 2.11 zu erkennen ist, auf 𝑠 100 % ansteigen, denn keines der anderen Unternehmen hat Kunden mit einer derart hohen Zahlungsbereitschaft. Die Marktanteile 𝑠 𝑅 𝑅 ⁄ der Erlöse sind in diesem Fall identisch mit den Marktanteilen in Stückzahlen, da alle Unternehmen den gleichen Preis von 600 EUR resp. 250 EUR je Stück erzielen. Marktanteile in Stückzahlen und in Erlösen können sich unterscheiden, wenn die Preise der Produkte unterschiedlich sind und die Unternehmen ein unterschiedliches Produktportfolio anbieten, wie bspw. in der Automobilindustrie (vgl. weiterführend ► Kapitel 10 zu strategischem Wettbewerb und den Auswirkungen auf Marktanteile und Gewinne). Die Lage der Nachfragekurve ist zwar für die Unternehmen einer Industrie auf Basis von Einkommen, Bevölkerung und Preisen anderer Produkte teilweise vorbestimmt, Unternehmen können aber die Lage der Nachfragefunktion beeinflussen. In ► Abbildung 2.12 sind die beiden polaren Fälle dargestellt: Links können die Unternehmen die Zahlungsbereitschaft aller potenziellen Kunden in gleichem Maß erhöhen, so dass sich die Nachfragekurve parallel nach oben verschiebt, rechts vergrößert sich der Markt durch Ausdehnung auf neue Kundensegmente auf mehr Kunden bei konstanter Zahlungsbereitschaft. Abbildung 2.12: Beeinflussung der Nachfrage und Marktgröße durch Unternehmen. Unternehmen können die Lage der Nachfragekurve wesentlich durch zwei Strategien versuchen zu beeinflussen: Marketing als direkte oder indirekte Beeinflussung der Präferenzen, Werbung in vorhandenen Zielgruppen oder Adressierung neuer Kundensegmente sowie Produktqualität in Form von Ausstattungsmerkmalen, Technologie oder Zusatzleistungen (Chatmi und Elasri 2017, Sridhar et al. 2014 sowie Dorfman und Steiner 1954). Beide Strategien können zu höheren Werten von 𝑎 (höhere Zahlungsbereitschaft) oder niedrigeren Werten von 𝑏 (mehr Kunden) führen. Allerdings zeigt sich in empirischen Studien, dass Marketing oft einen stärkeren Effekt auf 𝑏 bspw. durch die Adressierung neuer Kundensegmente hat, wohingegen einer Verbesserung der Technologie, Qualität und Leistungskomponenten der Produkte stärker auf die Zahlungsbereitschaft 𝑎 aller Kunden wirkt (Levin und Reiss 1989, Johnson und Myatt 2006 sowie Ashley et al. 1980). Aus Managementperspektive ist wesentp 0 q a‘ p 0 q a b‘ < b b höhere Zahlungsbereitschaft mehr Kunden Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 66 lich, diese separaten Effekte unternehmens- oder industriespezifisch zu ermitteln, um so Entscheidungen über die optimalen F&E- und Marketing-Investitionen und deren Relation zueinander zur Beeinflussung der Nachfrage treffen zu können. Produktkategorien und deren empirische Ermittlung Vor einer Entwicklung von Strategien zur Beeinflussung der Nachfrage ist eine Analyse der Einflussfaktoren der Nachfragefunktion notwendig, die auch die Abgrenzung von Märkten und Marksegmenten ermöglicht. Hierbei sind unter anderem die in ► Abbildung 2.13 dargestellten Fragestellungen zentral, die nachfolgend beantwortet werden. Abbildung 2.13: Möglichkeiten zur Klassifizierung von Produkten und Nachfragestruktur. Niveauänderungen des Einkommens, sowohl des Einkommens einzelner Kunden wie auch das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ganzer Nationen, beeinflussen die nachgefragte Menge. Der Effekt kann - in Analogie zur Preiselastizität der Nachfrage - anhand der Einkommenselastizität der Nachfrage (2.18) 𝜀 ∆ ∆ ≅ für ∆ → 0 bestimmt werden. Die Einkommenselastizität beschreibt den prozentualen Anstieg der nachgefragten Menge 𝑞 bei einem 1 %-Anstieg des Einkommens 𝐼 - dieser Wert kann positiv oder negativ sein: Produktkategorien und Nachfragestruktur Was passiert mit der Nachfrage bei Einkommenssteigerungen? Unterscheiden sich die Produkte der Wettbewerber? Warum wird das Produkt nachgefragt? steigt > normale Produkte fällt > inferiore Produkte nein > homogene Produkte ja > heterogene Produkte funktional nicht funktional vertikale Produktdifferenzierung horizontale Produktdifferenzierung „Bandwagon“/ Imitation „Snob“/ Abgrenzung In welcher Beziehung stehen die Produkte zueinander? substitutive Produkte komplementäre Produkte Netzwerkeffekt direkte Netzwerkeffekte indirekte Netzwerkeffekte Marktabgrenzung und Produktkategorien 67  𝜺 𝑰 𝟎 : normale Produkte - mit steigendem Einkommen steigt die nachgefragte Menge dieser Produkte:  Wenn 𝜀 ∈ 0, 1 handelt sich um lebensnotwendige Produkte, deren Nachfrage zwar mit steigendem Einkommen ausgedehnt wird, allerdings unterproportional - dies gilt bspw. für Herrenbekleidung und Grundnahrungsmittel.  Wenn 𝜀 1 handelt es sich um Luxusprodukte, deren Nachfrage mit steigendem Einkommen überproportional ansteigt - typischerweise werden diese Produkte zudem erst ab einer bestimmten Höhe des Einkommens überhaupt nachgefragt, wie bspw. Luxusuhren von Panerai oder Übernachtungen in Luxus-Hideaways wie Schloss Elmau.  𝜺 𝑰 𝟎 : inferiore Produkte - mit steigendem Einkommen geht die nachgefragte Menge dieses Produktes zurück: Der Grund hierfür ist, dass mit steigendem Einkommen der Erwerb von Produkten höherer Qualität oder besserem Ansehen möglich wird. Ein typisches Beispiel sind Zimmer in Wohngemeinschaften. Menschen mieten mit steigendem Einkommen nicht größere Zimmer in WGs, sondern wechseln quantitativ und qualitativ in eine eigene Wohnung. Empirische Einkommenselastizitäten der Nachfrage Produkt/ Dienstleistung Einkommenselastizität Produktkategorie Automobile 2,46 Luxusprodukte Möbel 1,48 Essen in Restaurants 1,40 Damenbekleidung 1,07 Leitungswasser 1,02 Herrenbekleidung 0,75 lebensnotwendige, normale Produkte Tabak und Zigaretten 0,64 Treibstoffe und Heizungsöl 0,48 Elektrizität 0,20 Margarine -0,20 inferiore Produkte Schweinefleisch -0,20 öffentlicher Nahverkehr -0,36 Tabelle 2.1: Empirische Einkommenselastizitäten Datenquelle: Houthakker und Taylor 1970, Taylor und Halvorsen 1977, Ward und King 1973 sowie Wold und Jureen 1953, vgl. auch Frank und Cartwright 2013. Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 68 In ► Tabelle 2.1 sind die Einkommenselastizitäten aus einer Reihe von empirischen Studien wiedergegeben. Mit deutlich steigendem Einkommen nimmt die Nachfrage nach Autos (sowohl der Wert als auch die Anzahl der Autos) überproportional zu, der Verbrauch von Leitungswasser steigt mit steigendem Einkommen überproportional beim Wechsel von Dusche zu Badewanne und zur Bewässerung des eigenen Gartens und der Konsum von Schweinefleisch und Fahrten im öffentlichen Nahverkehr werden bei steigendem Einkommen zugunsten von höherwertigem Fleisch und Fahrten im eigenen Auto reduziert. Alle diese Effekte finden natürlich sukzessiv im Zeitablauf statt und nur bei hinreichenden und dauerhaften Änderungen des verfügbaren Einkommens, entsprechend verändert sich auch der Ausstattungsgrad der Haushalte mit Konsumelektronik oder Haushaltsgeräten (Statistisches Bundesamt 2017). Die nachgefragte Menge eines Produktes wird natürlich direkt durch den Preis des Produktes beeinflusst (vgl. ► Kapitel 1 zur Preiselastizität der Nachfrage), aber auch indirekt durch die Preise anderer Produkte. Dieser indirekte Effekt kann durch die Kreuzpreiselastizität der Nachfrage (2.19) 𝜀 ∆ ∆ ≅ für ∆ → 0 gemessen und bewertet werden. Die Kreuzpreiselastizität (2.19) beschreibt die prozentuale Veränderung der nachgefragten Menge eines Produktes 𝑥 nachfolgend einer 1 %-Veränderung des Preises 𝑝 eines anderen Produktes 𝑦 - dieser Wert kann positiv oder negativ sein:  𝜺 𝒙𝒚 𝟎 : substitute Produkte - mit der Preiserhöhung von Produkt x steigt die Nachfrage nach Produkt y. Die Produkte sind aus Kundensicht offenbar relevante Alternativen, so dass bei einer relativen Preisänderungen die Nachfrage auf das jetzt relativ günstigere Produkt fällt: Ein Preisanstieg für Rindfleisch erhöht indirekt die Nachfrage nach Schweinefleisch und Geflügel; werden die Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr deutlich erhöht, weichen Kunden auf substitute Produkte wie Fahrrad oder Auto aus.  𝜺 𝒙𝒚 𝟎 : komplementäre Produkte - mit der Preiserhöhung von Produkt x fällt die Nachfrage nach einem anderen Produkt y. Die Produkte haben aus Kundensicht offenbar einen Verwendungszusammenhang, so dass bei einer Preiserhöhung eines der Produkte die Nachfrage beider Produkte zurückgeht: Ein Preisanstieg oder eine Steuererhöhung auf Kraftstoffe reduziert mittelfristig die Nachfrage nach Autos mit hohem Verbrauch; steigen die Preise für eine Spielekonsole, nimmt die Nachfrage nach komplementären Spielen ab. In ► Tabelle 2.2. sind die Kreuzpreiselastizitäten aus einer Reihe von empirischen Studien wiedergegeben, die typische Ergebnisse zeigen - bei spürbaren Preiserhöhungen wechseln Kunden von ihrem bisherigen Produkt zu einem substituten Produkt, das in ähnlicher Weise verwendet oder konsumiert werden kann. Marktabgrenzung und Produktkategorien 69 Gerade der Vergleich aus Margarine und Butter sowie die Asymmetrie der Effekte zeigt, dass natürlich die grundlegenden Präferenzen eine zentrale Rolle spielen: Menschen wechseln bei Preiserhöhungen von Margarine in stärkerem Ausmaß zu Butter als umgekehrt. Dagegen ist der komplementäre Charakter von Unterhaltungselektronik und Lebensmitteln mit 𝜀 0,72 Ausdruck eines Lebensstils: Je größer der Flachbildschirm zu Hause, desto häufiger und mehr wird vor dem Fernseher gegessen. Alle diese Effekte finden natürlich ebenfalls im Zeitablauf statt und werden zudem beeinflusst von Rahmenbedingungen wie den persönlichen Präferenzen, dem Marketing und natürlich dem kulturellen und soziökonomischen Umfeld. Empirische Kreuzpreiselastizitäten der Nachfrage Produkt Produkt mit Preisänderung Kreuzpreiselastizität Produktkategorie Butter Margarine 0,81 substitute Produkte Margarine Butter 0,67 Erdgas Heizöl 0,44 Rindfleisch Schweinefleisch 0,28 Elektrizität Erdgas 0,20 Gemüse Früchte 0,05 Unterhaltungselektronik Lebensmittel -0,72 komplementäre Produkte Frühstückscerealien fangfrischer Fisch -0,87 Tabelle 2.2: Empirische Kreuzpreiselastizitäten Datenquelle: Deaton 1987, Deaton 1990, Taylor und Halvorsen 1977 sowie Wold und Jureen 1953, vgl. auch Frank und Cartwright 2013. Aus Managementperspektive sind die Konzepte der Einkommens- und Kreuzpreiselastizitäten - in Ergänzung zur Preiselastizität der Nachfrage - immer dann wichtig, wenn Veränderungen der Konsummuster der Kunden beobachtet werden. Diese können einerseits veränderte Präferenzen signalisieren, andererseits können diese Veränderungen des Einkommensniveaus oder Änderungen der relativen Preise konkurrierender oder im Verwendungszusammenhang stehender Produkte ausgelöst sein. Für Unternehmen wie Amazon sind insbesondere negative Kreuzpreiselastizitäten und die Einkommenselastizität relevant: Wenn ein Kunde nach einem Produkt sucht, wird Amazon zusätzlich zu diesem Produkt insbesondere Produkte mit komplementären Eigenschaften platzieren, das absolute Preisniveau der vorgeschlagenen Produkte richtet sich nach der kundenspezifischen Einkommenselastizität. Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 70 Horizontale und vertikale Produktdifferenzierung Produkte innerhalb einer Produktklasse - Fahrräder, Joghurt oder BWL-Hochschulen genauso wie Mikroökonomie-Lehrbücher - sind selten homogene Produkte mit der Möglichkeit perfekter Substitution. Unternehmen versuchen, Produkte oder Dienstleistungen zu differenzieren, d.h. Unterschiedlichkeit innerhalb des eigenen Produktportfolios oder gegenüber Wettbewerbern herzustellen und dann in der Vermarktung zu positionieren. Ziele der Produktdifferenzierung sind:  Erhöhung der Zahlungsbereitschaft - wenn die Präferenzen der Kunden für ein Produkt, bspw. Autos, heterogen sind, dann kann die Zahlungsbereitschaft einzelner Kunden oder eines Marktsegmentes erhöht werden, wenn Produkte stärker differenziert werden und so besser den vorhandene Präferenzen entsprechen. In der Folge können - bei sonst gleichen Rahmenbedingungen - höhere Preise durchgesetzt werden.  Reduktion der Wettbewerbsintensität - wenn Kunden die Produkte von Wettbewerbern als enge Substitute betrachten und beliebig zu Konkurrenzprodukten wechseln oder wechseln würden, liegt hohe Wettbewerbsintensität vor. Produktdifferenzierung kann über Markenloyalität auf Basis von Branding, Wechselbarrieren infolge technologischer Inkompatibilität oder Positionierung des Unternehmens die Wettbewerbsintensität (die Rückwirkungen der strategischen Aktionen der Wettbewerber) reduzieren und die Gewinne erhöhen (weiterführend ► Kapitel 10). Produktdifferenzierung kann zwei Dimensionen annehmen, die signifikante Auswirkungen auf Marktstruktur und Wettbewerbsintensität einer Industrie haben (Shaked und Sutton 1987 sowie Gabszwicz und Thisse 1986 und weiterführend ► Kapitel 10):  Horizontale Produktdifferenzierung - Produkteigenschaften und/ oder -qualität unterscheiden sich zwar ggfs. geringfügig, sind aber funktional nahezu identisch. Allerdings stimmen die Kunden nicht in der subjektiven Präferenzordnung überein (Socken in schwarz vs. rot vs. gelb. vs. grün, Coke und Pepsi, Biersorten, Automarken etc.). Kunden haben offenbar einen unterschiedlichen Geschmack oder anderweitig unterschiedliche Präferenzen. In der Konsequenz sind einige Kunden bereit, für Coke mehr als für Pepsi zu bezahlen - bei anderen Kunden ist es umgekehrt. Unternehmen können horizontale Produktdifferenzierung primär durch Marketing etablieren und verstärken - bspw. durch Branding und Markenbewusstsein - technologische Unterschiede spielen eine untergeordnete Rolle.  Vertikale Produktdifferenzierung - Produkteigenschaften und/ oder -qualität unterscheiden sich funktional und alle Kunden stimmen in der objektiven Präferenzordnung überein (DSL mit 20Mbit vs. 50 Mbit vs. 100 Mbit, …), haben aber aufgrund von unterschiedlichem Nutzungsverhalten oder -anforderungen unterschiedliche Zahlungsbereitschaften. In der Konsequenz sind einige Kunden bereit, DSL mit 100 Mbit zu kaufen, andere nicht. Unternehmen können vertikale Produktdifferenzierung primär durch qualitative und technologische Eigenschaften begründen und ausbauen, sekundär kann durch Marketing der Effekt verstärkt werden. Marktabgrenzung und Produktkategorien 71 Horizontale Differenzierung alleine ermöglicht meist keine Preisdiskriminierung, wenn die Kundengruppen ähnlich groß sind: Die Preise von Speiseeis in der Eisdiele, Downloads von Musiktiteln, Kinobesuche oder Biersorten liegen sowohl über Unternehmen hinweg als auch im Portfolio eines Unternehmens sehr nah beieinander oder sind sogar identisch. Bei vertikaler Differenzierung (schnelles vs. langsames DSL) ist Preisdiskriminierung die Regel, allerdings sind nicht die objektiven Leistungsunterschiede für die Preisunterschiede erklärend, sondern die Unterschiede in der Zahlungsbereitschaft (vgl. weiterführend ► Kapitel 7 und ► Kapitel 10). Typischerweise werden gemischte Strategien angewendet, um die Effekte von horizontaler und vertikaler Produktdifferenzierung wechselseitig zu verstärken (Degryse 1996 sowie Ferreira und Thisse 1996). Banken versuchen seit Langem, per se standardisierte und homogene Produkte und Dienstleistungen wie Zahlungsverkehr, Girokonto oder EC-Karten horizontal und vertikal zu differenzieren, ebenso investieren Lebensmittelkonzerne stark in die Produktdifferenzierung von Mineralwasser. Allerdings führt nur eine von einer großen Kundengruppe wahrgenommene Produktdifferenzierung zur Reduktion von Wettbewerbsintensität und zu einer relevanten Erhöhung der Zahlungsbereitschaft - Fans einer Marke oder Technologie- Nerds verzerren hier oft das Bild. Blindtests von Produkten zeigen, dass Produktdifferenzierung verloren geht, wenn Branding, Farbgebung oder Look and Feel des Produktes nicht mehr erkennbar sind, so dass in zahlreichen Industrien - gerade bei Konsumprodukten und Lebensmitteln - ein großer Teil vermeintlich wahrgenommener Produktdifferenzierung alleine auf strategischen Marketing-Investitionen basiert (Nenycz-Thiel und Romaniuk 2014 sowie Yamada et al. 2014). Damit Produktdifferenzierung aus Managementperspektive strategisch eingesetzt werden kann, müssen die Präferenzen der Kunden entweder exogen unterschiedlich und adressierbar oder mindestens durch Marketing beeinflussbar sein. Je größer die wahrgenommene Differenzierung, desto stärker kann die Zahlungsbereitschaft beeinflusst werden, desto geringer ist der Wettbewerbsintensität durch substitute Produkte, desto stärker ist die Möglichkeit zur Marktsegmentierung. Produktdifferenzierung ist eine wesentliche Strategie, um die Wettbewerbsintensität deutlich zu reduzieren - allerdings sind typischerweise signifikante Investitionen in Marketing und Technologie notwendig. Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 72  Case Study │ Horizontale und vertikale Produktdifferenzierung in der Automobilindustrie In der Automobilindustrie - wie in ► Abbildung 2.14 unvollständig und nur für die jeweiligen Modellplattformen für das Jahr 2017 skizziert - sind vertikale und horizontale Produktdifferenzierung durch umfangreiche und langjährige Investitionen in Technologie und Marketing seit Langem gut etabliert und wirken sich signifikant positiv auf die Gewinne der Unternehmen aus (Goldberg 1995, Guajardo et al. 2015 und Berry et al. 2004). Typische vertikale Produktdifferenzierung in der Automobilindustrie erfolgt über Motor- und Fahrleistung, Haltbarkeit und Zuverlässigkeit, Größe, Innenausstattung wie Multimedia, Sicherheitsausstattung sowie Service und Garantieleistung. Die horizontale Produktdifferenzierung wird über die Marke, das Design, das Look and Feel, den Status und die relative Positionierung der Marke in Abgrenzung oder Annäherung zu anderen Marken hergestellt. Verknüpft und verstärkt werden beide Dimensionen durch Produktproliferation (d.h. das Besetzen nahezu beliebiger Marktnischen durch Coupe-, Cabrio-, SUV-, Sport-, Van- oder Kombi-Modelle) und durch die Möglichkeit, dass der Kunde sein Auto personalisiert - über die üblichen Extras bis hin zu Spezialanbietern und Tunern (Fujimoto 2014). Abbildung 2.14: Horizontale und vertikale Produktdifferenzierung (Produktklassen entsprechend Klassifizierung der EU Kommission). Eine grundlegende Präferenzverschiebung der letzten Jahrzehnte ist der zunehmende Wunsch von Kunden, Produkte zu individualisieren oder zu personalisieren. Unternehmen können Produkte in Modulen oder Varianten (Mass Customization und Mass Personalization) anbieten, um die Zahlungsbereitschaft für individualisierte Produkte zu erhöhen und Nischen in Marktsegmenten zu adressieren. Starbucks hat für ein per se homogenes Produkt, Kaffee, durch unterschiedliche Bechergrößen und starke vertikale und horizontale Differenzierung hohe Margen etabliert. Seit 2010 ermöglicht Starbucks Kunden im Shop zudem durch How- Ever-You-Want-It-Frappuccino eine nahezu vollständige Personalisierung inklusive (häufig falsch geschriebenen) Kundennamen auf dem Becher - 2016 mit einer Bruttomarge von etwa vertikale Produktdifferenzierung Kleinstwagen Kleinwagen Oberklasse Mittelklasse obere Mittelklasse Luxusklasse Volkswagen Audi BMW Mercedes Fox UP Smart Fortwo A1 i3 Mini Polo 1er A3 A4 A6 A8 3er 5er 7er A-Klasse A-Klasse C-Klasse E-Klasse S-Klasse Golf Passat horizontale Produktdifferenzierung Marktabgrenzung und Produktkategorien 73 40 %, die zudem mit einer CAGR von ca. 15 % wächst. Unternehmen wie MyMuesli können den Preis für Haferflocken von 0,39 EUR für 500 Gramm durch Personalisierung auf Basis umfangreicher Konfigurationsmöglichkeiten auf deutlich über 10 EUR treiben (Abraham et al. 2017, Vesanen 2007, Starbucks 2016 und FAZ 2016). Marktabgrenzung Aus Managementperspektive ist es eine zentrale Fragestellung, den relevanten Markt für ein Unternehmen und dessen Produkte abzugrenzen: einerseits um alle Kundengruppen und Marktsegmente für eine Marktanalyse zu erfassen, andererseits um alle Wettbewerber und deren Strategien, Geschäftsmodelle und Produkte für eine Wettbewerbsanalyse zu betrachten. In ► Abbildung 2.15 ist zu sehen, dass die Abgrenzung eines Marktes oder von Marktsegmenten entlang mehrerer Dimensionen erfolgen muss:  Technologische Dimension - im Mittelpunkt stehen materielle, technische oder funktionale Produktähnlichkeit sowie Produktions- und Herstellungsverfahren und Geschäftsmodelle: aus technologischer Perspektive sind Sportwagen, Kleinwagen und SUVs, aber auch Traktoren, LKW und Busse in einem Markt.  Nachfrageseitige Dimension - alle Produkte, die aus Kundensicht als alternative Problemlösung betrachtet werden, werden in einem Markt zusammengefasst. Dies ist messbar über signifikant positive Kreuzpreiselastizität, da die Kunden hier bei Preisänderungen zu substituten Produkten abwandern: PKW, Fahrräder, öffentlicher Personennahverkehr, Fernbusse oder Mitfahrzentralen sind hier ein Markt. Substitutionslücken bestimmen dann die Grenzen eines Marktes.  Angebotsseitige Dimension - in zahlreichen Industrien erfolgt die Marktabgrenzung auf Basis eines im Zeitablauf entstandenen Wettbewerberverhaltens: Mercedes, BMW oder Lexus sind in einem Markt Wettbewerber, in einem anderen Segment konkurrieren Dacia, Kia oder Lada. Die Marktabgrenzung erfolgt über die strategische Wahrnehmung und das Verhalten der Unternehmen. Alle Abgrenzungen entlang dieser drei Dimensionen müssen zudem räumliche oder zeitliche Aspekte berücksichtigen. Typischerweise ist dennoch keine eindeutige Abgrenzung möglich: Mehrproduktunternehmen lassen sich nicht eindeutig zuordnen, Kundengruppen stimmen in ihren Kreuzpreiselastizitäten oder der Wechselbereitschaft zu anderen Marken nicht überein. Zudem verändern Produktinnovationen, bspw. die Konvergenz von Produkten wie E-Mail, Stadtplan, Navigationssystem, Hotelkatalog, Telefonie, Fotografie und Musik in ein Smartphone, und insbesondere Digitalisierung - bietet Google Käse an, weil bei Google in den Google Shopping-Suchergebnissen Käse platziert ist? - bisherige Marktgrenzen immer wieder oder etablieren neue Märkte und Ökosysteme (Schmidt et al. 2016, Fiegenbaum und Thomas 1995, Gambardella und Torrisi 1998, Malhotra und Gupta 2001, vgl. auch ► Kapitel 4). In der Konsequenz ist die Marktabgrenzung situativ und unternehmensspezifisch. Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 74 Abbildung 2.15: Marktabgrenzung in verschiedenen Dimensionen. Aus wettbewerbspolitischer Perspektive ist die Abgrenzung des relevanten Marktes ebenfalls zentral: Hier muss abgeschätzt werden, ob bspw. ein Unternehmenszusammenschluss in einem Markt zu einem Anstieg der Marktmacht führt (vgl. weiterführend ► Kapitel 7). Die Wettbewerbspolitik verwendet mittlerweile den auf Kreuzpreiselastizitäten basierenden SSNIP-Test (Small but Significant and Nontransitory Increase in Price). Der Test prüft, ob Kunden als Reaktion auf eine angenommene (oder tatsächlich simulierte oder in einem abgegrenzten Testmarkt durchgeführte) kleine, signifikante und dauerhafte Erhöhung der Preise (oft angenommen 5 % oder 10 %) für ein Produkt auf verfügbare Substitute ausweichen. Alle Produkte, auf die ausgewichen wird, gehören dann zum relevanten Markt: Damit sind alle oben genannten Dimensionen empirisch umfasst. Im Rahmen einer Marktanalyse in der Rasierindustrie wäre bspw. zu ermitteln, ob unterschiedliche elektrische oder Nassrasierer, Enthaarungsmittel oder Elektro- oder Laserepilation zu ein und demselben Markt gehören, d.h. ob Kunden eines dieser Produkte zu anderen Produkten oder Dienstleistungen wechseln würden, wenn der Preis dauerhaft um 5 % bis 10 % erhöht wird. Die Prüfung wird so lange auf verfügbare Produkte angewendet, bis eine Reihe von Produkten identifiziert ist, für die eine Preiserhöhung keinen Substitutionseffekt zur Folge hat - diese Produkte und die anbietenden Unternehmen sind dann außerhalb des relevanten Marktes (Motta 2004, Monteiro und Foss 2017 sowie Filistrucchi et al. 2014). Wenn bei einer bspw. zehnprozentigen dauerhaften Preiserhöhung Kunden nicht von diesem Produkt zu einem anderen wechseln, hat das betrachtete Unternehmen zumindest in diesem Marktsegment Marktmacht oder eine Monopolstellung. Problematisch an der Anwendung des SSNIP- Tests ist, dass er nur funktioniert, wenn positive Preise möglich sind: Bei kostenlosen Dienstleistungen wie Internetsuche oder Social-Media-Mitgliedschaft ist auf diesem Weg keine Marktabgrenzung möglich. technologisch > Produkteigenschaft, Herstellungsverfahren und Materialien > Sportwagen, PKW, LKW, Busse, Traktoren, … nachfrageseitig > Kreuzpreiselastizität > PKW, Fahrräder, Tram, Bahn, … angebotsseitig > Industriegruppen und direkte Wettbewerber > Mercedes, Toyota, Renault räumlich/ zeitlich Netzwerkeffekte und mehrseitige Märkte 75 2.3 Netzwerkeffekte und mehrseitige Märkte In zahlreichen Märkten und Industrien spielen Netzwerkeffekte für Produkte und Geschäftsmodelle eine wesentliche Rolle. Der Nutzen für Kunden entsteht hier in Teilen aus der Verwendung oder dem Konsum des Produktes, zum überwiegenden Teil aber, weil andere Kunden das Produkt ebenfalls nutzen: Kein Kunde wäre gerne oder dauerhaft einziges Mitglied bei Facebook - weil aber alle bei Facebook sind, führt ein selbstverstärkender Effekt dazu, dass mit zunehmender Mitgliederzahl und wachsendem Marktanteil von Facebook alle bei Facebook sein wollen (Rohlfs 1974). Dieser Effekt der Nutzensteigerung auf Basis von Netzwerkeffekten kann zu einer Verdrängung von Wettbewerbern führen: So hat Facebook relativ rasch nach dem Markteintritt die vormaligen Marktführer in Deutschland Wer-kennt- Wen, SchülerVZ, StudiVZ und Stayfriends vom Markt oder in Nischen verdrängt. Netzwerkeffekte können in zwei Formen auftreten:  Direkte Netzwerkeffekte entstehen, wenn der Nutzen eines Kunden mit der Zahl der Mitglieder eines Netzwerkes ansteigt. Der Nutzen entsteht durch die Möglichkeit direkter Kommunikation mit anderen Mitgliedern des Netzwerkes, bspw. in Kommunikationsmärkten (Telekommunikationsnetz, WhatsApp, Skype etc.), aber auch in sozialen Netzwerken wie Facebook, Instagram oder Snapchat - wäre ein Kunde das einzige Mitglied einer dieser Social-Media-Plattformen, würde kein Nutzen entstehen. Märkte, in denen direkte Netzwerkeffekte dominieren, werden als Netzwerkmärkte bezeichnet.  Indirekte Netzwerkeffekte entstehen, wenn durch die wachsende Zahl der Nutzer eines Produktes oder einer Dienstleistung die Entstehung und das Angebot von komplementären Produkten gefördert werden - und damit indirekt der Nutzen, Mitglied des Netzwerkes zu sein, durch die Zahl anderer Kunden ansteigt. Kunden kommunizieren hier nicht direkt miteinander, aber sie verwenden dieselben komplementären Produkte: Je mehr Kunden ein bestimmtes Medienformat (bspw. bei DVDs BluRay vs. HD-DVD, bei Videokassetten Beta vs. Video 2000 vs. VHS) kaufen, desto mehr verschiedene Kauf- und Leihvideos werden angeboten, ähnliches gilt bei Spielekonsolen (bspw. Xbox vs. Playstation vs. Wii) für die Zahl und Vielfalt der angebotenen Spiele oder bei Betriebssystemen für PCs oder Smartphones für die Anwendungssoftware und Apps. Märkte, die von indirekten Netzwerkeffekten geprägt sind, werden als Systemmärkte bezeichnet. In zahlreichen Industrien und Geschäftsmodellen sind direkte und indirekte Netzwerkeffekte verknüpft: Ein Mobilfunkkunde entscheidet sich aufgrund direkter Netzwerkeffekte eines Family-and-Friends-Preismodells und kostenloser Gespräche innerhalb eines Netzes (sogenannter On-Net-Tarife) für einen Mobilfunkanbieter, aufgrund indirekter Netzwerkeffekte wird für Android oder iOS als Betriebssystem entschieden, um entweder bestimmte Apps aus Google Play oder iTunes nutzen zu können oder Kompatibilität mit bereits vorhandenen Endgeräten oder Datenformaten herzustellen. Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 76 Entscheidungen zum Beitritt in ein einzelnes Netzwerk Die Entscheidungen von Kunden und Unternehmen in Netzwerk- oder Systemmärkten weichen deutlich von den Entscheidungen in normalen Produktmärkten ab, da der Nutzen eines Kunden jetzt aus zwei Komponenten besteht: einem Stand-alone-Nutzen aus der Verwendung einer bestimmten Technologie oder eines Produktes und dem eigentlichen Netzwerkeffekt, der in Abhängigkeit der Zahl der Mitglieder den Nutzen steigert. In ► Abbildung 2.16 links ist eine Situation skizziert, in der ein einzelnes Netzwerk (welches nicht in unmittelbarem Wettbewerb zu anderen Netzwerken steht) bereits existiert, aber aktuell noch wenige Mitglieder hat - typische Beispiele sind das Faxgerät kurz nach der Markteinführung (zunächst unter den Produktnamen Bildtelegraph oder Hellschreiber) im Jahr 1930 oder die Minidisc von Sony im Jahr der Markteinführung 1992. Abbildung 2.16: Entscheidung für ein einzelnes Netzwerk. Ein potenzieller neuer Kunde wird vor seiner Entscheidung zum Beitritt zu einem Netzwerk neben den Kosten des Beitritts (bspw. den Anschaffungskosten des Faxgerätes und dem Erlernen der Bedienung) insbesondere Erwartungen über die künftige Größe des Netzwerkes bilden und den Stand-alone-Nutzen des Gerätes bewerten. Offensichtlich ist der Standalone-Nutzen eines Faxgerätes nicht vorhanden, denn der Nutzen entsteht nur durch andere Kunden, mit denen über das Faxgerät kommuniziert werden kann. Dagegen hat ein Minidisc- Player auch einen Stand-alone-Nutzen, denn für private Musikaufzeichnungen oder Sicherheitskopien sind keine anderen Nutzer der Technologie notwendig. In einem frühen Stadium eines Marktes mit geringer Zahl an Mitgliedern eines Netzwerkes werden sich nur Kunden mit einer hohen Stand-alone-Bewertung das Gerät, und damit den Zugang zum Netzwerk, beschaffen, in späteren Phasen - nach Erreichen einer kritischen Masse an Kunden und entsprechender Marktdurchdringung oder Verbreitung der Technologie - dominiert dagegen, wie in ► Abbildung 2.16 rechts skizziert, der Netzwerkeffekt (Economides 1996). Erwartungen der Kunden an die Mitgliederzahl eines Netzwerkes sind ausschlaggebend dafür, ob sich ein Netzwerk etablieren kann: Zeit Zahl der Mitglieder kritische Masse Netzwerkeffekt dominiert Stand-alone- Effekt dominiert Faxgeräte Minidisc 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 ? Netzwerkeffekte und mehrseitige Märkte 77  Erwartungen einer geringen Mitgliederzahl - wenn die überwiegende Zahl potenzieller Kunden erwartet, dass ein Netzwerk langfristig nur wenige Mitglieder haben wird, werden sie nicht beitreten. In der Konsequenz werden nur Kunden mit hoher Stand-alone- Bewertung das Produkt kaufen - meist wird dann die kritische Masse nicht erreicht und das Produkt verschwindet vom Markt. Dieser Fall ist bei der Minidisc eingetreten: Im Jahr 2013 stellte Sony endgültig die Produktion und den Vertrieb von Minidisc-Playern ein.  Erwartungen einer hohen Mitgliederzahl - wenn eine große Zahl potenzieller Kunden erwartet, dass ein Netzwerk langfristig eine hohe Mitgliederzahl haben wird, werden viele auf Basis dieser (sich dann selbst erfüllenden) Erwartung beitreten. Damit steigt (unabhängig der Stand-alone-Bewertungen) tatsächlich die Zahl der Mitglieder an und viele andere Kunden sehen ihre Erwartung steigender Mitgliederzahl bestätigt - die kritische Masse wird erreicht und das Netzwerk etabliert sich im Markt. Nach Erreichen der kritischen Masse wächst die Mitgliederzahl des Netzwerkes dann häufig exponentiell. Dieser Fall ist bei CDs und CD-Playern eingetreten - zahlreiche Kunden erkannten den überlegenen Nutzen der CD gegenüber LPs (längere Laufzeit, bessere Haltbarkeit, geringeres Gewicht und kleineres Format) und haben (richtigerweise) erwartet, dass sich die CD inkl. CD-Player gegen LP und Plattenspieler durchsetzt und als Systemmarkt etabliert.  In der Konsequenz existieren langfristig auch nur große Netzwerke - bei Nichterreichen der kritischen Masse kollabiert das Netzwerk, bei Überschreiten der kritischen Masse (oft auch als Tipping Point bezeichnet) stabilisiert es sich aufgrund selbstverstärkenden Wachstums bei großer Mitglieder- oder Nutzerzahl. Netzwerkeffekte spielen aber nicht nur für Entscheidungen von Endkunden eine Rolle: Auch Unternehmen müssen über den Beitritt zu Netzwerken entscheiden, bspw. betreffend IT- Betriebssystemen in Abhängigkeit der Vielfalt an Software, Banken bei Geldautomaten-Netzwerken oder Hotels für Buchungssysteme.  In Märkten mit Netzwerkeffekten entsteht ein Henne-Ei-Problem: die kritische Masse beschreibt die notwendige Zahl an Mitgliedern, damit das Netzwerk für weitere Kunden attraktiv ist - ist das Netzwerk klein, tritt aufgrund aktueller Größe niemand dem Netzwerk bei. So hat auch das Faxgerät lange die kritische Masse nicht erreicht, weil potenzielle Kunden aufgrund der geringen Zahl an angeschlossenen Geräten keine Zahlungsbereitschaft entwickelten. Das Erreichen der kritischen Masse bei Faxgeräten hat bis in 1960er-Jahr gedauert: Der Erfolg wurde eingeleitet, als Xerox 1964 Druckern eine Fax-Funktionalität hinzufügte - die Verbreitung an Faxgeräten in Multifunktionsdruckern nahm schnell zu, die kritische Masse wurde erreicht und nachfolgend war das Henne-Ei-Problem gelöst. Entscheidungen zum Beitritt bei konkurrierenden Netzwerken Wenn mehrere Plattformen oder Netzwerkbetreiber konkurrieren, sind die Entscheidungen der Kunden komplexer. In ► Abbildung 2.17 ist eine Wettbewerbssituation skizziert, in der zwei Plattformbetreiber (bspw. Social-Media-Plattformen A und B oder aktuell die Karrierenetzwerke Xing und LinkedIn) mit unterschiedlicher Kundenzahl bereits auf dem Markt etabliert sind. Eine Anzahl potenzieller Neukunden hat unterschiedliche Präferenzen: Einige haben eine Präferenz für Plattform A, andere für Plattform B. Zudem prüft eine weitere Plattform C - für die sich ggfs. auch Kunden interessieren - den Markteintritt. Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 78 Abbildung 2.17: Entscheidungen von Kunden und Unternehmen in Netzwerkmärkten. In einer anfänglichen Situation geringer Mitgliederzahl und ähnlicher Marktanteile beider Plattformen A und B werden alle Kunden entsprechend ihrer originären Präferenzen, auf Basis ihrer jeweiligen Stand-alone-Bewertung, über den Beitritt zu einem der Netzwerke entscheiden - bei Xing und LinkedIn werden diese Stand-alone-Bewertungen neben der Funktionalität der Plattformen natürlich durch den unmittelbaren Kollegen- oder Freundeskreis geprägt. Wenn die Präferenzen der potenziellen Neukunden gleichverteilt sind, dann werden in der Konsequenz die Marktanteile beider Plattformen zufällig schwanken, so dass bei zwei Plattformen die Marktanteile um 50 % pendeln, wie in ► Abbildung 2.18 links zu sehen. Abbildung 2.18: Wettbewerb zwischen inkompatiblen Netzwerken. Wenn allerdings eine Plattform - zufällig aufgrund der Reihenfolge des Beitritts neuer Mitglieder - einen relevanten Vorsprung beim Marktanteil erreicht, treten neben die Standalone-Bewertungen jetzt Netzwerkeffekte aufgrund der relativen Marktanteile. Sobald der Netzwerkeffekt den Stand-alone-Effekt dominiert, werden zahlreiche potenzielle neue A B ? ? C Neukunden Wettbewerb zwischen Plattformen Markeintritt neuer Plattformen 👤 👤 A 👤 B 👤 C 👤 A 👤 A 👤 B 👤 👤 👤👤👤 👤 👤 👤 👤 👤 Netzwerkeffekte und mehrseitige Märkte 79 Mitglieder nicht mehr entsprechend ihrer eigenen Präferenzen, sondern zugunsten des größeren Netzwerkes entscheiden (► Abbildung 2.18 rechts). In der Folge wird der Marktanteil des Marktführers gegen 100 % streben (Winner-takes-it-all-Märkte), der Wettbewerber verliert zunehmend Marktanteile: Wettbewerbsprozesse dieser Art erklären die Verdrängung von Wer-kennt-Wen durch Facebook, den überragenden Marktanteil von Microsoft DOS und nachfolgend Windows gegenüber allen anderen Betriebssystemen in den 1990er- und 2000er-Jahren, und dass VHS sich gegenüber den konkurrierenden Videoformaten Beta und Video 2000 durchsetzen konnte (Arthur 1989, David 1985 sowie Liebowitz und Margolis 1995). Hat sich eine kritische Masse von Kunden für ein Netzwerk entschieden, kann es zu einem Lock-in-Effekt kommen. Die Kunden sind dann aufgrund von Investitionen in Endgeräte, Lern- oder Gewöhnungseffekten stark an ihre Entscheidung gebunden, und beeinflussen auch die Entscheidungen anderer Kunden. Wenn Netzwerkeffekte den Stand-alone-Effekt nicht eindeutig dominieren oder Kunden stark heterogene Präferenzen haben, können konkurrierende Netzwerke auch dauerhaft koexistieren: Dies ist - zumindest aktuell - der Fall bei Spielekonsolen oder bei Betriebssystemen für Smartphones. Netzwerkeffekte führen häufig zu einem De-facto-Standard der verwendeten Technologie mit einer Tendenz zu einem natürlichen Monopol (vgl. weiterführend ► Kapitel 7) und marktbeherrschender Stellung des Unternehmens, aufgrund eines zufälligen oder kleinen Ereignisses in der Vergangenheit, welches über Pfadabhängigkeiten die künftige Entwicklung eines Marktes Technologie und Marktführerschaft festschreibt (Arthur 1989). Eine Pfadabhängigkeit schränkt mögliche künftige Strategien aufgrund der bisher erfolgten Entscheidungen und Investitionen ein oder macht einen Wechsel zeitaufwendig oder kostspielig - künftige Entscheidungen sind also nicht unabhängig vom Status quo und bisherigen Entscheidungen. Zudem entstehen signifikante strategische Eintrittsbarrieren (vgl. weiterführend ► Kapitel 4), so dass die dominante Technologie durch einen Lock-in-Effekt alternative technologische Entwicklungen verhindert oder versperrt - Kunden können dann dauerhaft nicht auf andere IT-Plattformen oder Medienformate ausweichen und sind an ein Unternehmen oder eine Technologie gebunden. Eine dauerhafte Koexistenz mehrerer Netzwerke ist nur dann möglich, wenn die Netzwerke untereinander vollständig oder teilweise kompatibel sind - die Kunden müssen sich dann weder dauerhaft noch eindeutig entscheiden und können ggfs. auch gleichzeitig bei mehreren Plattformen Kunde sein (sogenanntes Multihoming). Aus Managementperspektive sind bei Wettbewerb in Netzwerk- und Systemmärkten zahlreiche Besonderheiten für strategische Entscheidungen zu beachten, die wechselseitig voneinander abhängen (Farrell und Klemperer 2007, Katz und Shapiro 1986 und 1994, Shy 2011 sowie Koski und Kretschmer 2004):  Aufbau der Kundenbasis und Erreichen der kritischen Masse - in Netzwerk- und Systemmärkten muss durch geeignete Strategien schnelles Wachstum der Kundenzahl zur Etablierung der kritischen Masse oder sogar eines Lock-in-Effektes erreicht werden. In zahlreichen Fällen geschieht dies durch Freemium-Modelle, in denen eine kostenlose Variante des Produktes angeboten (Adobe Acrobat Reader, Skype oder Spotify) wird, durch dauerhaft kostenlose Angebote (Facebook, Google Search oder Android) oder durch präzi- Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 80 se Adressierung von Frühadoptern in Nischenmärkten, die dann für die Entscheidungen der Spätadopter maßgeblich sind.  Erwartungsmanagement - da die Erwartungen der Kunden für die Etablierung eines Netzwerkes resp. eines großen Marktanteils wesentlich sind, versuchen Unternehmen durch Marketinginvestitionen die Erwartungsbildung der Kunden betreffend der tatsächlichen oder künftigen Größe eines Netzwerkes zu beeinflussen: Parship als Marktführer bei Partnervermittlung in Deutschland signalisiert den Kunden direkt den größten Nutzen und zieht so weitere Kunden an.  Komplementäre Produkte - das Offenlegen von Schnittstellen unterstützt die Entstehung und Verbreitung komplementärer Produkte und Dienstleistungen, die wiederum den Nutzen einer Plattform erhöhen und neue Mitglieder anziehen - so konnte Google den Vorsprung bei der Vielfalt an Apps seit 2015 von 1,3 Mio. gegenüber 1,2 Mio. bei Apple auf 2,8 Mio. gegenüber 2,2 Mio. im Jahr 2017 aufgrund des offenen Betriebssystems Android ausbauen - im gleichen Zeitraum ist der Marktanteil von Android von 76 % auf 82 % gestiegen, der Marktanteil von iOS ging von 18 % auf 14 % zurück (Daten weltweit; Quelle  idc.com und  statista.com).  Wechselkosten (Switching Costs) - wenn Kunden in Endgeräte einer bestimmten Technologie investiert haben oder zeitaufwendig über Jahre hinweg ihr Facebook-Profil gepflegt haben, verhindern technische, monetäre oder soziale Wechselkosten, dass zu einem leistungsfähigeren Netzwerk oder einer besseren Technologie gewechselt wird. Wenn Unternehmen bei großem Marktanteil die Wechselkosten zu einer konkurrierenden Lösung erhöhen können, wird der Marktanteil stabilisiert. Wechselkosten sind durch Inkompatibilität bedingt. So erhöht Apple die Wechselkosten seiner Kunden jährlich durch neue Steckersysteme, Ladegeräte oder notwendige Softwareupgrades, Banken erschweren bewusst den Wechsel der Kontoführung und Mobilfunkunternehmen haben über lange Jahre die Mitnahme der Rufnummer verhindert oder verzögert. Wechselkosten sind umso höher, je ausgeprägter der Lock-in-Effekt und je geringer die Kompatibilität ist.  Standard Wars versus koordinierte Standardisierung - die Unternehmen müssen entscheiden, ob sie (ggfs. mit hohen Investitionen) versuchen, ihre Technologie oder ihr Produkt als Standard im Markt zu etablieren (wie im Fall VHS gegen Beta gegen Video 2000), oder ob sie (unter Verzicht auf Marktdominanz und hohe Marktanteile) mit anderen Unternehmen einen gemeinsamen Standard etablieren (wie im Fall CDs und CD-Player durch Sony und Philips auf Basis des Redbook-Standards).  Grad an Kompatibilität - wenn andere Unternehmen bereits relevante Marktanteile gewonnen haben, dann kann durch teilweise oder vollständige Kompatibilität der verwendeten Technologie Zugang zu deren Kundenbasis hergestellt werden. Umgekehrt kann ein marktführendes Unternehmen Kompatibilität einschränken oder unterbinden. In Deutschland versuchen bspw. die Sparkassen durch hohe Gebühren (d.h. begrenzte Kompatibilität) an den Geldausgabeautomaten ihre Marktanteile zu stabilisieren, Mobilfunkunternehmen haben über lange Jahre durch Terminierungs- und Roamingentgelte ihre Marktanteile stabilisiert - beide Strategien wurden wettbewerbspolitisch mittlerweile eingeschränkt.  Wettbewerb im Markt oder um den Markt - da Netzwerkeffekte zu Marktdominanz bei Technologie oder Marktanteilen führen können, müssen Unternehmen entscheiden, ob sie „im Markt“ oder „um den Markt“ konkurrieren. Diese Entscheidung wird maßgeblich Netzwerkeffekte und mehrseitige Märkte 81 von Wechselkosten, Kompatibilität und dem bereits erreichten Marktanteil anderer Netzwerke beeinflusst. Die Relevanz und die wechselseitigen Abhängigkeiten dieser Fragestellungen werden deutlich, wenn man den Markteintritt von Paydirekt (dem Onlinebezahlverfahren deutscher Banken und Sparkassen) im Jahr 2016 analysiert. Ein Onlinebezahlsystem basiert auf direkten und indirekten Netzwerkeffekten: je mehr Kunden das Bezahlsystem nutzen, desto mehr Händler haben ein Interesse, das Bezahlsystem ebenfalls zu implementieren, so dass selbstverstärkende Netzwerkeffekte stattfinden. Paydirekt konkurriert unter anderem mit PayPal, Amazon Payments und SofortÜberweisung, die alle bereits eine kritische Masse erreicht haben, sowohl die angebundenen Shops wie auch die Endkunden haben umfangreiche Wechselkosten und insbesondere PayPal und Amazon Payments verhindern Kompatibilität zu ihren Netzwerken - in der Folge bleibt der Markterfolg von Paydirekt aus (Nestler 2016 und Atzler 2017). Plattformen als zwei- und mehrseitige Märkte Warum versuchen viele Unternehmen, Werbung bei Facebook zu platzieren, weshalb bietet Amazon anderen Unternehmen auf Amazon Marketplaces die Möglichkeit, Produkte zu verkaufen? Die Erklärung ist, dass indirekte Netzwerkeffekte auch entstehen können, weil der Nutzen einer Gruppe von Marktteilnehmern durch die Existenz und Größe einer anderen Gruppe von Marktteilnehmern ansteigt. Unternehmen, die Plattformen betreiben, führen mehrere Nutzer- oder Kundengruppen derart zusammen, dass Kommunikation oder Transaktionen nur aufgrund der Existenz der Plattform möglich werden, wobei die Plattform - anders als bspw. ein Supermarkt - nicht als Zwischenhändler tätig wird, sondern lediglich den Marktplatz in Form eines mehrseitigen Marktes bereitstellt. Amazon Marketplaces kann als zweiseitige Plattform auf Basis indirekter Netzwerkeffekte betrachtet werden: je mehr Endkunden die Amazon Plattform besuchen oder nutzen, desto mehr Shops werden eröffnet, desto attraktiver wird die Plattform für beide Marktseiten - je mehr Teilnehmer auf der einen Marktseite sind, desto mehr Teilnehmer werden auf der anderen Marktseite angezogen et vice versa. Das wechselseitige Zusammenspiel indirekter Netzwerkeffekte über mehrere Marktseiten oder Kundengruppen führt oftmals zu Plattformgeschäftsmodellen, die als zwei- oder mehrseitige Märkte bezeichnet werden (Evans et al. 2006, Rysman 2009 sowie Rochet und Tirole 2003). Die allgemeine Logik eines zwei- oder allgemeiner mehrseitigen Marktes ist in ► Abbildung 2.19 gezeigt:  es gibt zwei (oder mehr) komplementäre und interagierende Marktseiten A und B oder Nutzergruppen - Mitglieder von Facebook und werbetreibende Unternehmen oder Spielentwickler,  beide Marktseiten profitieren von der Plattform durch wechselseitige indirekte Netzwerkeffekte mit Wachstum und Größe der jeweils anderen Gruppe - je mehr Mitglieder Facebook hat, desto attraktiver ist die Plattform für Spielentwickler und werbetreibende Unternehmen, Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 82  innerhalb einer oder beider Marktseiten existieren starke direkte oder indirekte Netzwerkeffekte, um eine kritische Masse an Kunden oder Anbietern zu erzielen - im Fall von Facebook starke positive direkte Netzwerkeffekte der Mitglieder untereinander,  es gibt eine kostenlose oder subventionierte Marktseite A, die zahlreiche Mitglieder auf Basis signifikanter direkter (und teilweise auch indirekter) Netzwerkeffekte anzieht - wenngleich mit absolut niedriger Zahlungsbereitschaft und relativ hoher Preiselastizität der Nachfrage - für Mitglieder ist Facebook dauerhaft kostenlos,  eine zweite bezahlte oder hoch bepreiste Marktseite B, auf der aufgrund der großen Mitgliederzahl auf Marktseite A Dienstleistungen bereitgestellt oder entwickelt werden - typischerweise subventioniert die Marktseite mit relativ schwachen Netzwerkeffekten die Marktseite mit stärkeren Netzwerkeffekten bei entsprechend geringerer Preiselastizität der Nachfrage - Spieleentwickler zahlen an Facebook Lizenzgebühren, um Spiele an Mitglieder verkaufen zu können, ebenso werden Werbeplätze gebucht,  und eine Plattform oder ein Plattformunternehmen, welche Interaktionen oder Transaktionen zwischen und den wechselseitigen Zugang zu den Marktseiten auf Basis indirekter und direkter Netzwerkeffekte ermöglicht (Evans und Schmalensee 2016 sowie Bolt und Tieman 2008). Abbildung 2.19: Zweiseitige Märkte, Netzwerkeffekte und Preise. Zur Veranschaulichung sind in ► Abbildung 2.20 die Plattformen von Facebook und Google dargestellt. Eine Marktseite von Facebook besteht aus Mitgliedern, die aufgrund direkter Netzwerkeffekte Mitglied bei Facebook werden oder geworden sind. Je größer die Zahl der Mitglieder, desto größer ist der Nutzen jedes einzelnen Mitglieds. Mit zunehmender Mitgliederzahl entstehen aber für Unternehmen Anreize, auf der Facebook-Plattform Produkte für die Mitglieder von Facebook anzubieten - in Form von Spielen, Apps, Werbung oder durch Nutzung der Mitgliederdaten: Diese Produkte sind komplementär zur eigentlichen Plattform und stellen indirekte Netzwerkeffekte für alle Facebook-Mitglieder dar. Marktseite A Marktseite B Plattform indirekte Netzwerkeffekte zwischen den Marktseiten Netzwerkeffekte innerhalb einer Marktseite Preis p B Preis p A Netzwerkeffekte und mehrseitige Märkte 83 Abbildung 2.20: Geschäftsmodelle von Facebook und Google als mehrseitige Märkte. Analog kann das Geschäftsmodell von Google als mehrseitiger Markt in ► Abbildung 2.20 rechts dargestellt werden. Die Kunden nutzen Suchfunktionen, Stadt- und Routenplaner, die Videoplattform, das Smartphone-Betriebssystem und viele weitere Funktionalitäten kostenlos. Durch zunehmende Nutzerzahl der Plattform entstehen selbstverstärkende indirekte Netzwerkeffekte: Der Google-Suchalgorithmus wird durch eine wachsende Zahl an Suchanfragen verbessert und zieht mehr Kunden an, so dass jetzt mehr Unternehmen Interesse daran haben, ihre Website für Suchanfragen bei Google zu optimieren - dies führt wiederum zu besseren Suchergebnissen für Kunden. Zudem entstehen weitere indirekte Netzwerkeffekte, weil Unternehmen Anreize bekommen, weitere Apps oder Dienstleistungen für Google-Nutzer zu entwickeln. Je vielfältiger und qualitativ hochwertiger wiederum die angebotenen Dienstleistungen sind, umso stärker werden neue Mitglieder angezogen, so dass erneut ein sich selbst verstärkender Effekt entsteht. In der Folge entsteht ein Ökosystem auf Basis indirekter Netzwerkeffekte, für das eine eindeutige Marktabgrenzung schwierig ist (Filistrucchi et al. 2014.) In der gleichen Geschäftsmodell-Logik funktionieren auch andere zwei- oder mehrseitige Plattformen - wie OpenTable, eBay, LinkedIn, Booking, Parship, Uber, Airbnb oder TripAdvisor - aber diese Geschäftsmodelle sind in keiner Weise auf digitale Plattformen beschränkt, wie in ► Tabelle 2.3 zu sehen ist: Auch Kreditkartensysteme wie Visa oder Master, Zeitungen wie die FAZ oder die Süddeutsche Zeitung, klassische Einkaufszentren wie das Main-Taunus-Zentrum oder Spielekonsolen wie die xBox oder Playstation sind mehrseitige Plattformen. Facebook Produkte für Mitglieder Produkte für/ von Unternehmen indirekte Netzwerkeffekte (Werbung, Apps, Big Data, B2B2C etc.) zweiseitiger Markt je mehr Mitglieder, desto größere Vielfalt an Produkten direkte Netzwerkeffekte (p2p Kommunikation) je mehr Mitglieder, desto größerer Nutzen Google 1998 Suche Google 2016 search operating system ... Advertisements Big Data Videos ... Unternehmen/ bepreister Markt Endkunden/ kostenloser Markt ecosystem Maps Traffic Information A B 👤 👤👤👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 84 Plattformgeschäftsmodelle Plattform Marktseite 1 Marktseite 2 kostenlose/ niedrig bepreiste Marktseite bezahlte/ hoch bepreiste Marktseite Beispiel Spielekonsolenhersteller Endkunden Spieleentwickler Konsole Spiele xBox, Playstation, Wii Smartphone- Betriebssysteme Endkunden App- Entwickler Betriebssystem Apps Android Kreditkartenanbieter Endkunden Händler Kartennutzung Nutzung der Terminals und Zahlungsabwicklung Visa, Mastercard Formate für Dokumentenaustausch Endkunden Unternehmen PDF Reader PDF Writer Adobe Dating- Portale Endkunden werbetreibende Unternehmen Frauen Männer Parship, ElitePartner, match.com etc. Social-Media- Plattform Mitglieder werbetreibende Unternehmen Mitgliedschaft Werbung Facebook, Instagram etc. Jobportale Arbeitssuchende Arbeitgeber Suchen Anzeigen schalten Monster, Stepstone etc. Zeitungen Zeitlungsleser Inserenten Zeitung Anzeigen FAZ, Süddeutsche Zeitung etc. B2B- Marktplätze Endkunden Shops Mitgliedschaft Abwicklung und Zahlungsverkehr Amazon Marketplaces, Alibaba, Expedia, Booking etc. Reisebewertung Endkunden Hotels Bewertungen Hotelbuchung TripAdvisor etc. Tabelle 2.3: Plattformgeschäftsmodelle auf Basis mehrseitiger Märkte und indirekter Netzwerkeffekte. Netzwerkeffekte und mehrseitige Märkte 85 Wettbewerb und Strategien bei mehrseitigen Plattformen Die Zahl der konkurrierenden Plattformen und die Wettbewerbssituation wird wesentlich dadurch bestimmt, ob die Kunden nur bei einer der Plattformen (Singlehoming) oder bei mehreren Plattformen gleichzeitig (Multihoming) Mitglied sind, und ob über die Plattformgrenzen hinweg Kommunikation möglich und zumindest teilweise Kompatibilität gegeben ist. Ist Multihoming möglich und sind die zusätzlichen Kosten für die Nutzung mehrerer Plattformen gering, kann dauerhaft Wettbewerb zwischen Plattformen bestehen - dies ist der Fall bei Buchungsplattformen oder Jobportalen. Sind die Investitionen oder Wechselkosten hoch oder eine der Plattformen hat bereits eine kritische Masse erreicht, ist Singlehoming die Regel - dies ist der Fall bei Social-Media-Plattformen oder Spielekonsolen. Mit zunehmender Produktdifferenzierung zwischen den Plattformen nimmt die Wettbewerbsintensität ab. In Deutschland ist daher der Markt für Partnerschaftsplattformen noch stark in einzelne Marktsegmente fragmentiert, zudem können Menschen kostenlose Apps wie Tinder über Facebook nutzen. Dagegen ist bei Karriereplattformen der Wettbewerb in Deutschland mittlerweile auf LinkedIn und Xing reduziert: Die Produktdifferenzierung ist gering, die Kosten für Multihoming steigen dagegen für jeden Kunden mit zunehmender Zahl an Kontakten insbesondere aufgrund steigender Wechselkosten an. Zentrale Bedeutung kommt der Preisstruktur zwischen und auf beiden Marktseiten zu: Ein Plattformunternehmen muss die Preise für beide Marktseiten so wählen, dass - neben der Erzielung von Gewinnen - insbesondere Anreize für beide Marktseiten entstehen, in großer Zahl Mitglied auf der Plattform zu werden. Empirisch werden hier in Abhängigkeit des Geschäftsmodells (► Tabelle 2.3) Preismodelle beobachtet, die grundlegend durch die asymmetrische Preissetzung einer Plattform gegenüber zwei Marktseiten A und B wie folgt erklärt werden können (Rochet und Tirole 2003, Krüger 2009 und Armstrong 2006). Die Nachfrage 𝑞 der Marktseite A und die Nachfrage 𝑞 der Marktseite B ist durch (2.20) 𝑞 𝐷 𝑝 , 𝑞 und (2.21) 𝑞 𝐷 𝑝 , 𝑞 gegeben - offensichtlich hängt die Nachfrage einer der Marktseiten jeweils vom Preis der Nutzung der Plattform (vereinfachend in Form einer Mitgliedsgebühr) und der Nachfrage bzw. Mitgliederzahl der anderen Marktseite ab. Die direkte Preiselastizität beider Marktseiten 𝑖 kann dann - bei jeweils unveränderter Zahl der Mitglieder der anderen Marktseite - durch die Ableitung der Nachfragefunktion bei einer Preisänderung (2.22) 𝜀 für 𝑖 𝐴, 𝐵 bestimmt werden. Die wechselseitige Stärke des indirekten Netzwerkeffektes kann durch (2.23) 𝜃 und 𝜃 als Elastizität des Netzwerkeffektes bestimmt werden - je größer bspw. 𝜃 , desto stärker wächst die Nachfrage 𝑞 von Marktteilnehmern auf der Marktseite B aufgrund steigender Mitgliederzahlen 𝑞 auf Marktseite A an. Die Preiselastizität beider Marktseiten 𝑖 in Abhängig- Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 86 keit der Zahl der Mitglieder der anderen Marktseite kann durch das totale Differential der Nachfragefunktion als (2.24) Ε für 𝑖 𝐴, 𝐵 beschrieben werden. Differenziert man nun beide Nachfragefunktionen (2.20) und (2.21) nach den Preisen beider Marktseiten (2.25) und und setzt (2.22) und (2.23) ein, dann ergeben sich die Preiselastizitäten beider Marktseiten in Abhängigkeit beider Preiselastizitäten und der Stärke der Netzwerkeffekte als (2.26) Ε und Ε . Die absolute Preiselastizität Ε der Marktseite A wird bestimmt durch die direkte Preiselastizität 𝜀 in Abhängigkeit von der wechselseitigen Elastizität der Netzwerkeffekte 𝜃 𝜃 und der Zahl der Teilnehmer auf der anderen Marktseite. Wie in ► Kapitel 1 erläutert, ist nun - bei sonst gleichen Bedingungen - die Zahlungsbereitschaft und der Preissetzungsspielraum der Unternehmen umso größer, je kleiner die Preiselastizität ist. Aus (2.26) kann allgemein begründet werden, dass ein Plattformunternehmen asymmetrische Preise gegenüber den Marktseiten in Abhängigkeit der relativen Preiselastizitäten stellt - in Extremfällen werden auf einer Marktseite Preise gleich 0 gesetzt oder sogar Zahlungen für die Teilnahme an einer Plattform geleistet, die andere Marktseite subventioniert dann über entsprechend hohe Preise und steht alleine für die Erlöse (Evans und Schmalensee 2007 und 2016). Aus Managementperspektive sind bei mehrseitigen Plattformen zusätzlich zu den Entscheidungen wie bei Netzwerken (Angebot komplementärer Produkte, Aufbau von Wechselkosten oder Kompatibilität vor dem Hintergrund von Singlevs. Multihoming) insbesondere folgende Entscheidungen notwendig:  Preisstrategie und Preisstruktur der Marktseiten - zahlreiche Clubs, Diskotheken und Partnerschaftsplattformen (jeweils zur Anbahnung heterosexueller Partnerschaften) - bieten Frauen kostenlosen oder vergünstigen Eintritt oder Mitgliedschaft, somit wird die Zahlungsbereitschaft von Männern erhöht. Preismodelle müssen nicht nur die Zahlungsbereitschaft einer Marktseite berücksichtigen, sondern insbesondere sicherstellen, dass die andere Marktseite über die Elastizität des Netzwerkeffektes hinreichende Anreize für die Mitgliedschaft oder Teilnahme an der Plattform hat. So zeigen Voigt und Hinz (2015), dass die Erlöse einer Onlinepartnerschaftsplattform maximiert werden, wenn 36,2 % Frauenanteil erreicht wird - die Erlöse sind dann um 17,2 % größer als bei einer 50: 50- Aufteilung zwischen Männern und Frauen.  Anzahl, Zusammenspiel und relative Größe der Marktseiten - bspw. hat eBay mit Käufern und Verkäufern zwei Marktseiten, LinkedIn hat mit Berufstätigen, Arbeitgeber- Unternehmen und Recruiting-Unternehmen drei Marktseiten. Zudem muss das Plattformunternehmen festlegen, welche Transaktionen (bspw. Kommunikation und Produkte) über die Plattform möglich sind, insbesondere um zu verhindern, dass die beiden Marktseiten künftig an der Plattform vorbei ihre Transaktionen abwickeln. Die relativen Größen- Zusammenfassung 87 verhältnisse der Marktseiten müssen die Anreizstruktur zur Mitgliedschaft auf der Plattform sicherstellen. 2.4 Zusammenfassung Rationales Kundenverhalten ist geprägt durch Entscheidungen, die auf Präferenzen basieren, den Nutzen steigern und durch Budgetbeschränkungen limitiert sind. Aus nutzenmaximierendem Verhalten kann auf die Nachfrage eines Kunden oder - in aggregierter Weise - eines Marktsegmentes oder eines gesamten Marktes rückgeschlossen werden. Präferenzen und Nachfrage sind natürlich weder im Zeitablauf stabil, noch exogen vorgegeben: Unternehmen können insbesondere durch Produktqualität und Marketing die Lage der Nachfragekurve beeinflussen und die Zahlungsbereitschaft der Kunden und die Größe des Marktes verändern. Zudem verändert sich die Nachfrage infolge von Einkommensänderungen und relativen Preisänderungen, so dass unterschiedliche Produktkategorien und deren Wechselbeziehung identifiziert werden können. Aus Managementperspektive sind insbesondere die Formen der Produktdifferenzierung und Personalisierung zentral, denn mit steigender, von den Kunden wahrgenommener Produktdifferenzierung reduziert sich die Wettbewerbsintensität. In zahlreichen neuen Geschäftsmodellen - insbesondere bei direkter Kommunikation auf Social-Media-Plattformen - hängt der Nutzen nicht vom Konsum eines Produktes, sondern über Netzwerkeffekte von der Zahl anderer Kunden auf derselben Plattform ab. In zahlreichen von Netzwerkeffekt geprägten Industrien dominieren wenige Unternehmen nach Erreichen einer kritischen Masse. Zudem können Unternehmen Geschäftsmodelle auf Basis indirekter Netzwerkeffekte realisieren, indem mehrere Marktseiten auf Plattformen zusammengeführt werden.  Kontrollfragen [1] Beschreiben Sie praktische Anwendungsfelder der Analyse von Kundenverhalten aus mikroökonomischer Perspektive sowie deren Grenzen, Vor- und Nachteile! [2] Definieren Sie knapp Nutzen, was ist Grenznutzen? Was ist eine Budgetbeschränkung, wovon hängt sie im Wesentlichen ab? [3] Beschreiben Sie knapp den Unterschied zwischen normalen und inferioren Gütern und geben Sie zwei Beispiele! Was sind substitute und komplementäre Güter, wie kann man deren Beziehung messen? [4] Was beschreibt die Einkommenselastizität der Nachfrage, was kann man aus ihrer Höhe ablesen? [5] Wie kann man einen Markt abgrenzen, welche Möglichkeiten haben Unternehmen, die Nachfragefunktion zu beeinflussen? [6] Nennen Sie Ziele, Formen und Effekte unterschiedlicher Formen der Produktdifferenzierung! Kundenverhalten, Marktabgrenzung und Netzwerkeffekte 88 [7] Was sind typische Besonderheiten von Netzwerk- und Systemmärkten? [8] Definieren Sie direkte und indirekte Netzwerkeffekte und geben Sie jeweils zwei Beispiele! [9] Wovon hängt das Zustandekommen eines Netzwerkes ab? Welche Rolle spielen hier Erwartungen? Beschreiben Sie typische Strategien von Unternehmen in Netzwerkmärkten! [10] Erläutern Sie die Grundidee von Plattformen als mehrseitige Märkte! Worauf basiert der Wettbewerbsvorteil? Nennen und erläutern Sie drei aktuelle Beispiele digitaler Plattformen unter Bezug auf Single-/ Multihoming sowie Asymmetrie der Preisstruktur!  Literatur Abraham, M., Mitchelmore, S., Collins, S., Maness, J., Kistulinec, M., Khodabandeh, S., Hoenig, D. und Visser, J., Profiting from personalization, BCG Perspectives 2017. Armstrong, M., Competition in two-sided markets, Rand Journal of Economics, 2006, 37, 3, 668-691. Arthur, W.B., Competing technologies, increasing returns, and lock-in by historical events, Economic Journal, 1989, 99, 394, 116-131. Ashley, R., Granger, C. W. und Schmalensee, R.H., Advertising and aggregate consumption: an analysis of causality, Econometrica, 1980, 48, 5, 1149-1167. Atzler, E., Paydirekt droht erneut verkorkstes Jahr, Handelsblatt, 31. Mai 2017, 8. Bagwell, K., The economic analysis of advertising, in: Armstrong, M. und Porter, R. 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Begründet ist dieses Verhalten durch Risiko: Menschen ist klar, dass künftige Entwicklungen nicht vollständig absehbar sind und möchten sich dagegen absichern oder zumindest mögliche Auswirkungen kennen, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit drehen sich immer um die Frage, wieviel Risiko ein Mensch bereit ist einzugehen, und ob und in welcher Weise sich dieses Risiko lohnt - Menschen lassen hier vor dem Hintergrund ihrer individuellen Risikoeinstellung und Risikoaversion die Erwartungen über wahrscheinliche künftige Entwicklungen in ihre Entscheidungen einfließen. Menschen, die vermeintlich kein Risiko eingehen wollen, halten an bestehenden Lösungen oder Strategien fest - gerade in Unternehmen werden häufig Routinen („das haben wir schon immer so gemacht“) angewendet. Dieser sogenannte Status-quo-Effekt beschreibt, dass Menschen bspw. Strategien, Kaffeetassen oder Angewohnheiten stärker wertschätzen, wenn sie diese besitzen oder schon länger verwenden. Derartiges Verhalten wird oft als irrational beschrieben und im Rahmen von Behavioral Economics analysiert. Behavioral Economics - verhaltenswissenschaftliche Erklärungen für ökonomische Entscheidungen - wurde wesentlich begründet durch die Arbeiten von Simon (1955) zu begrenzt rationalen Entscheidungen in Unternehmen und Tversky und Kahneman (1971 ff.) in Form von Experimenten zu Risikoeinstellung, Präferenzen und Entscheidungen. Menschen weichen offenbar - nicht immer, aber regelmäßig und vorhersagbar - systematisch von maximierendem Verhalten ab. So beschreiben zahlreiche empirische Studien und Experimente zu Framing, dass Präferenzen nicht absolut stabil sind, sondern durch eine veränderte Anordnung von Produkten beeinflusst werden können. Emotionen, Wahrnehmungsverzerrungen und Verlustängste bestimmen mit, wie entschieden wird - und zwar sowohl als begrenzt rationaler Kunde bei Kaufentscheidungen, wie auch als begrenzt rationaler Manager bei strategischen Entscheidungen (DellaVigna 2009 und Powell et al. 2011). Eine Entscheidungssituation, die das typische Zusammenspiel beider Aspekte - Risiko und Behavioral Economics - verdeutlicht, ist die Situation eines Fußballtorwarts vor dem Elfmeter. Ein Torwart kennt meist die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Schüsse und die Stärken des Schützen, gleichzeitig erwarten die Zuschauer und Mitspieler nicht, dass der Torwart den Ball hält - dies geschieht zumindest in der Bundesliga nur in 18,9 % der Fälle. Vom Schützen wiederum wird allgemein erwartet, dass er trifft. Zunächst wird der Torwart einen Erwartungswert bilden und eine Entscheidung bei gegebenen Wahrscheinlichkeiten treffen - eben- Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 92 so wägt der Schütze alle denkbaren Strategien vor den möglichen Wahrscheinlichkeiten des Verhaltens des Torwarts ab: Beide treffen eine Entscheidung unter Unsicherheit. Wenn der Torwart bei seiner Entscheidung allerdings an die letzten Elfmeter zurückdenkt, um eine optimale Entscheidung abzuleiten, unterliegt er der Gambler’s Fallacy (Spielerfehlschluss): Wahrscheinlichkeiten basieren auf dem Gesetz der großen Zahl und stellen sich, aufgrund der Unabhängigkeit nacheinander eintretender Ereignisse bei fehlender serieller Korrelation, nicht unmittelbar ein oder gleichen sich bereits in kleinen Stichproben aus - auch im Spielcasino kommt nicht „endlich“ eine ungerade Zahl, weil zuvor eine Reihe gerader Zahlen gekommen ist, da Zufälle keine Erinnerung haben (Tversky und Kahneman 1971). Darüber hinaus wird die Situation von Emotionen und Erwartungen überlagert: Schützen schießen zu etwa 28 % in die Mitte - dort bleibt der Torwart aber nur in etwa 10 % der Fälle stehen. Ein Torhüter könnte - vielleicht - seine Chancen erhöhen, indem er einfach stehen bleibt. Trifft dann allerdings der Schütze, wird der Torwart aufgrund des offensichtlichen Nichtstuns ausgepfiffen. Damit unterliegt der Torwart einem emotionalen Action Bias (Handlungsdrang), der ihm einen Anreiz gibt, in eine der Ecken zu springen und maßgeblich von Spielstand und Spielsituation beeinflusst wird (Bar-Eli et al. 2007, Dohmen 2008 sowie Misirlisoy und Haggard 2014). Einem ähnlichen Handlungsdrang unterliegen Manager aufgrund von Quartals-, Monats- oder Wochenberichten - typischerweise kann man als Vorstand dem Aufsichtsrat nicht mitteilen, dass im letzten Quartal ‚nichts‘ unternommen wurde (Cyert und March 1963, Gavetti und Rivkin 2007 sowie Brunsson 1982). Was Torwart und Schütze aus strategischer und spieltheoretischer Perspektive tun sollten, wird in ► Kapitel 9 fortgeführt.  Lernziele Dieses Kapitel beschäftigt sich mit  Entscheidungen unter dem Einfluss von Risiko und Unsicherheit, der Rolle von Risikoeinstellung und Risikoaversion und der Wahrnehmung von Risiken,  Abweichungen von optimierendem oder maximierendem Verhalten aufgrund begrenzter Rationalität von Kunden und Managern und  psychologischen Effekte und verhaltenswissenschaftlichen Regelmäßigkeiten wie Verlustaversion und der Auswirkung in Form von Besitzstandseffekt oder Framing. 3.1 Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit Nahezu alle menschlichen Entscheidungen finden unter dem Einfluss von Risiko und Unsicherheit statt. Die Ursache dafür liegt in der eingeschränkten Möglichkeit, sowohl die Gegenwart in ihren Zuständen vollständig zu erfassen, als auch alle möglichen Aktionen aller Marktteilnehmer zu antizipieren und die Zukunft in allen denkbaren Ausprägungen perfekt vorherzusehen:  Umwelt-/ Rahmenbedingungen - typischerweise können weder Manager in Unternehmen noch Kunden für ihre Entscheidungen alle aktuellen Rahmenbedingungen und Umweltzustände - bspw. im Rahmen einer PEST-Analyse - und deren Veränderungen erfas- Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit 93 sen. Diese sind entweder nicht verfügbar, oder die Informationsbeschaffung und -verarbeitung dauert zu lange oder ist zu kostspielig.  Wettbewerberverhalten - zahlreiche Entscheidungen von Unternehmen müssen das aktuelle Verhalten der relevanten Wettbewerber berücksichtigen, aber auch deren künftige Entscheidungen antizipieren - dies gelingt nur in Teilen (vgl. auch ► Kapitel 9 zu Spieltheorie und ► Kapitel 10 zu strategischem Wettbewerb).  Rückwirkungen eigener Entscheidungen - eigene Entscheidungen können beabsichtigte und erwartete oder aber unbeabsichtigte und unerwartete Auswirkungen haben oder Reaktionen bei anderen hervorrufen.  Zufälle - zahlreiche Entwicklungen erscheinen in Entscheidungssituationen tatsächlich zufällig, weil eine Abhängigkeit von Ereignissen, Strategien oder Handlungen (auch in der Rückschau) entweder tatsächlich nicht vorliegt oder nicht festgestellt werden kann und so keine kausale Erklärung möglich ist. Manager in Unternehmen oder Kunden müssen aber trotzdem entscheiden - in der Konsequenz werden in Unternehmen Annahmen über mögliche künftige Entwicklungen getroffen und diese Prognosen oder Planungen mit Wahrscheinlichkeiten in Szenarien hinterlegt. In der Zukunft wird sich dann eine der möglichen Entwicklungen als tatsächliche Realität konkretisieren. Toner et al. (2015) haben aus Managementperspektive die Kernrisiken und Einflussfaktoren für strategische Entscheidungen entlang der vier Dimensionen makroökonomisches Umfeld, Technologie, Wettbewerbsumfeld und Kunden aufgelistet: Ein Unternehmen muss mindestens 80 sich wechselseitig beeinflussende und mit Unsicherheit behaftete Entwicklungen im Blick behalten und bei Entscheidungen berücksichtigen. Aus ökonomischer Perspektive liegt unvollständige Information vor, die bei Entscheidungen berücksichtigt werden muss. Zusammenfassend kann man die Rahmenbedingungen, das Wettbewerberverhalten, Rückwirkungen eigener Entscheidungen sowie Zufälle als mögliche Ereignisse beschreiben, die mit Wahrscheinlichkeiten eintreten. Die Art und der Grad an unvollständiger Information wird nachfolgend Knight (1921) klassifiziert:  Risiko - beschreibt eine Entscheidungssituation, für die alle möglichen künftigen Ereignisse bekannt sind und jeweils objektive Wahrscheinlichkeiten vorliegen. Entscheidungen können dann anhand von Erwartungswerten abgeleitet werden.  Unsicherheit - beschreibt eine Entscheidungssituation, in der entweder nicht alle möglichen Ereignisse bekannt sind und/ oder keine objektiven Wahrscheinlichkeiten vorliegen. Entscheidungen unter Risiko und somit objektive Wahrscheinlichkeiten liegen bspw. bei Glücksspielen wie Roulette oder Würfeln vor - mit der Wahrscheinlichkeit von 1/ 6 wirft ein Spieler mit einem Würfel eine Eins - und dort, wo aufgrund empirischer Daten aus der Vergangenheit oder wiederholbarer Situationen die Schätzung von Wahrscheinlichkeiten oder einer Wahrscheinlichkeitsverteilung möglich ist. Entscheidungen bei Unsicherheit sind dann typisch, wenn Ereignisse nur einmalig auftreten oder aber lediglich subjektive Wahrscheinlichkeiten (bspw. auf Basis von Einschätzungen oder Vermutungen eines Managers) vorliegen. Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 94 In der Realität lassen sich beide Fälle schwer trennen - zum einen scheint die Fähigkeit von Menschen, mit Risiko und Wahrscheinlichkeiten umzugehen, generell begrenzt und die Wahrnehmung von Wahrscheinlichkeiten ist durch psychologische Effekte verzerrt, zum anderen gelten auch objektive Wahrscheinlichkeiten nur bei Vorliegen des Gesetzes der großen Zahl und struktureller Stabilität der Wahrscheinlichkeitsverteilung (Tversky und Kahneman 1971, 1973 und 1974, Gigerenzer 1990, March und Shapira 1987 sowie Taleb et al. 2009). Wird anhand von Experimenten untersucht, ob Menschen lieber auf Basis subjektiver Wahrscheinlichkeiten und Unsicherheit oder auf Basis objektiver Wahrscheinlichkeiten und Risiko entscheiden, wird regelmäßig Risiko - mit bekannter Wahrscheinlichkeitsverteilung - gegenüber Unsicherheit bevorzugt, selbst bei identisch wahrgenommenen Wahrscheinlichkeiten (Ellsberg 1961 sowie Camerer und Weber 1992). Erwartungswert und Varianz Eine erste Möglichkeit, Entscheidungen unter Risiko zu treffen, ist, über alle möglichen Ereignisse, unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeitsverteilung, den Erwartungswert zu bestimmen und anhand der Varianz das Risiko zu beurteilen:  Ereignisse - beschreiben vollständig alle denkbaren zukünftigen Situationen - bei sechsseitigen Würfeln bspw. die Zahlen 1 bis 6.  (Eintritts-)Wahrscheinlichkeit - beschreibt die relative Häufigkeit, dass ein bestimmtes Ereignis auftritt oder eintritt. Wahrscheinlichkeiten können als Verteilungen oder diskrete Werte gegeben sein - im Fall des Würfels betragen die Wahrscheinlichkeiten je 1/ 6 je Ereignis und addieren sich in Summe zu 1.  Erwartungswert - entspricht dem mit Eintrittswahrscheinlichkeiten 𝑝𝑟 (Probability) gewichteten Wert der Auszahlungen ( 𝑥 bis 𝑥 ) aller 𝑛 möglichen Ereignisse: 𝐸𝑉 𝑥 𝑝𝑟 ⋅ 𝑥 𝑝𝑟 ⋅ 𝑥 ⋯ 𝑝𝑟 ⋅ 𝑥 - im Fall eines sechsseitigen perfekten Würfels 𝐸𝑉 𝑥 1 6 ⁄ ⋅ 1 1 6 ⁄ ⋅ 2 1 6 ⁄ ⋅ 3 1 6 ⁄ ⋅ 4 1 6 ⁄ ⋅ 5 1 6 ⁄ ⋅ 6 3,5 .  Varianz - misst als ein typisches Maß für Risiko die quadrierten und gewichteten Abweichungen zwischen Erwartungswert und tatsächlich eingetretenen Ereignissen: 𝜎 𝑝𝑟 𝑥 𝐸𝑉 𝑥 𝑝𝑟 𝑥 𝐸𝑉 𝑥 ⋯ 𝑝𝑟 𝑥 𝐸𝑉 𝑥 - im Fall des sechsseitigen Würfels 𝜎 1/ 6 1 3,5 1/ 6 2 3,5 . . . 1/ 6 6 3,5 2,92 . Je niedriger die Varianz ist, desto geringer sind die Abweichungen vom Erwartungswert, umso geringer ist das Risiko. Hohe Werte der Varianz zeigen dagegen an, dass die Ereignisse weit gestreut vom Erwartungswert liegen und ein hohes Risiko besteht. Strategische Entscheidungen unter Risiko - die Investition in einen neuen Flughafen und dessen Fertigstellungsdatum, die Festlegung einer globalen Marketingstrategie eines Konsumgüterherstellers oder die Ausrichtung auf Elektromobilität eines Automobilherstellers - sind strukturell Spielsituationen auf Basis von Zufällen (Münzwurf, Lotterien, Würfeln oder Roulette) nicht unähnlich. In ► Abbildung 3.1 sind drei Glücksspiele abgebildet: In Abhängigkeit von Kopf und Zahl entstehen mit je 50 %-Wahrscheinlichkeiten die angegebenen Auszahlungen. Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit 95 Abbildung 3.1: Glücksspiele mit Kopf oder Zahl. Bietet man Studierenden eine jeweils einmalige Teilnahme an den drei Spielen an, so nimmt eine überwiegende Mehrheit von etwa 85 % an Spiel 1 teil, bei Spiel 2 geht die Bereitschaft stark zurück und an Spiel 3 wollen nur noch etwa 5 % der Studierenden teilnehmen. Betrachtet man in ► Tabelle 3.1 den Erwartungswert und die Varianz der drei Spiele, wird eine erste Erklärung für diese Entscheidungen deutlich. Zwar steigt der Erwartungswert von Spiel 1 über Spiel 2 zu Spiel 3 an, aber das wahrgenommene Risiko ausgedrückt durch die Varianz nimmt deutlich zu und dominiert offenbar die Entscheidungen der potenziellen Mitspieler - das Risiko, einen relativen hohen Betrag von 2.500 EUR zu verlieren, schreckt von der Teilnahme an Spiel 3 ab. Münzwurf Glücksspiele Spiel 1 Spiel 2 Spiel 3 Kopf 199 300 5000 Zahl -1 -100 -2500 Erwartungswert 99 100 1250 Varianz 10.000 40.000 14.062.500 erwarteter Nutzen bei 3.000 EUR Vermögen 24,913 24,907 24,211 Tabelle 3.1: Münzwurf Glücksspiele, Erwartungswert und Varianz. Spiel 1: Bei Kopf gewinnen Sie 199 EUR, bei Zahl verlieren Sie 1 EUR. Spiel 2: Bei Kopf gewinnen Sie 300 EUR, bei Zahl verlieren Sie 100 EUR. Spiel 3: Bei Kopf gewinnen Sie 5.000 EUR, bei Zahl verlieren Sie 2.500 EUR. 15 % nein 95 % nein 5 % ja 45 % nein 85 % ja 55 % ja Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 96 Nutzenfunktion und Risikoaversion Die Entscheidung über die einmalige Teilnahme an diesen Spielen wird aber (in den allermeisten Fällen) nicht getroffen, nachdem die Spieler explizit Erwartungswerte und Varianzen berechnet haben. Die Entscheidung basiert vielmehr auf einer Abwägung des Nutzens an diesem Spiel teilzunehmen und der daraus möglichen Veränderung des Vermögens. Abbildung 3.2: (Erwarteter) Nutzen und (Erwartungswert des) Vermögens. In ► Abbildung 3.2 links ist eine Situation anhand einer Nutzenfunktion von Neumann- Morgenstern skizziert, in der zwei Personen - eine mit einem bisherigen Vermögen von 100 EUR, eine andere mit einem bisherigen Vermögen von 100.000 EUR - jeweils 100 EUR geschenkt bekommen. Die Person mit dem geringen Vermögen wird sich über die Verdopplung des Vermögens und einen Zuwachs von 100 % sicher stärker freuen als die vermögende Person, deren Vermögen um 0,1 % ansteigt. Dahinter liegt als Begründung, dass Vermögen (in nahezu allen Gesellschaften) einen Nutzen erbringt, aber der Grenznutzen mit zunehmendem Vermögen abnimmt (von Neumann und Morgenstern 1944) - gleiches gilt bei Entscheidungen von Managern für den Gewinn in Unternehmen. In ► Abbildung 3.2 rechts ist zu sehen, dass der Grenznutzen einer Erhöhung des Vermögens umso größer ist, je geringer das Vermögen ist - die Nutzenfunktion 𝑢 des Vermögens 𝑊 verläuft dann typischerweise konkav und kann allgemein anhand von (3.1) 𝑢 𝑢 𝑉𝑒𝑟𝑚ö𝑔𝑒𝑛 𝑊 beschrieben werden, in der 𝜔 1 zunächst die Krümmung der Nutzenfunktion einer Person beschreibt. Anhand der Nutzenfunktion (3.1) kann jetzt der erwartete Nutzen der Teilnahme an den Glücksspielen aus ► Abbildung 3.1 überprüft werden. Eine Studentin hat aktuell ein Gesamtvermögen W von 3.000 EUR bei einem zunächst willkürlich angenommenen Wert 𝜔 0,4 , so dass ihr aktuelles Nutzenniveau (3.2) 𝑢 𝑊 3000 , 24,595 beträgt. Der erwartete Nutzen 𝐸𝑈 bei der Teilnahme an einem Glücksspiel kann allgemein als 0 100 100.000 200 100.100 (erwarteter) Nutzen (Erwartungswert des) Vermögens A B W 1 W 2 EU 1 EU 2 W 1 + x A‘ W 2 + x B‘ U (erwarteter) Nutzen (Erwartungswert des) Vermögens U Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit 97 (3.3) 𝐸𝑈 𝑝𝑟 𝑊 𝑥 𝑝 𝑝𝑟 𝑊 𝑥 𝑝 ⋯ 𝑝𝑟 𝑊 𝑥 𝑝 beschrieben werden, wobei 𝑝 den Preis der Teilnahme am Glücksspiel bezeichnet und 𝑥 bis 𝑥 die möglichen risikobehafteten Gewinne oder Verluste. Nimmt die Studentin kostenlos, mit 𝑝 0 , an einem der drei Spiele aus ► Abbildung 3.1 teil, wird ihr Vermögen mit jeweils 50 % Wahrscheinlichkeit um 𝑥 ansteigen oder um 𝑥 zurückgehen, so dass sich (3.4) 𝐸𝑈 𝑆𝑝𝑖𝑒𝑙 1 0,5 3.000 199 , 0,5 3.000 1 , 24,913 (3.5) 𝐸𝑈 𝑆𝑝𝑖𝑒𝑙 2 0,5 3.000 300 , 0,5 3.000 100 , 24,907 und (3.6) 𝐸𝑈 𝑆𝑝𝑖𝑒𝑙 3 0,5 3.000 5.000 , 0,5 3.000 2.500 , 24,211 ergeben. Hier ergeben sich zunächst zwei zentrale Beobachtungen:  die Bewertung auf Basis der Reihenfolge des erwarteten Nutzens weicht vom Erwartungswert der Spiele ab (siehe auch ► Tabelle 3.1) und  die Studentin würde aus dem Vergleich ihres aktuellen Nutzenniveaus (3.2) mit den möglichen erwarteten Nutzen aus (3.4) bis (3.6) an den Spielen 1 oder 2 teilnehmen, nicht aber an Spiel 3. Wenn die Studentin frei entscheiden kann, nimmt sie an Spiel 1 teil - es hat für sie bei gegebenem Ausgangsvermögen den höchsten erwarteten Nutzen - Spiel 3 würde sie definitiv ablehnen, da der erwartete Nutzen geringer ist als der Nutzen ihres aktuellen Vermögens. Die Ursache für diese Entscheidung ist, dass die Studentin offenbar vor dem Risiko des Verlustes von 2.500 EUR zurückschreckt. Allgemein wird dieses Verhalten als Risikoaversion mit einer Präferenz für sichere gegenüber unsicheren Vermögenssituationen gleicher Erwartungswerte beschrieben:  bei Entscheidungen zwischen mehreren alternativen Strategien mit identischen Erwartungswerten wird immer die Strategie mit dem niedrigsten Risiko gewählt,  bei Entscheidungen zwischen mehreren alternativen Strategien mit identischen Risiken wird immer die Strategie mit dem höchsten Erwartungswert gewählt,  bei Entscheidungen zwischen mehreren alternativen Strategien mit unterschiedlichen Erwartungswerten wird immer die Strategie mit dem höchsten erwarteten Nutzen gewählt,  die Nutzenfunktion von Menschen mit Risikoaversion verläuft konkav, der Grenznutzen nimmt mit zunehmendem Vermögen unterproportional zu und 𝜔 1 beschreibt den Grad der Risikoaversion - je kleiner 𝜔 , desto größer die Risikoaversion. Empirische Messung von Risikoeinstellung Ein experimentelles Verfahren zur Messung der Risikoneigung oder -aversion ist, potenziellen Spielern in zehn aufeinander folgenden Spielrunden die Teilnahme an zwei Lotterien anzubieten, deren Attraktivität (gemessen durch die Erwartungswerte) sich sukzessiv von Lotterie A zu Lotterie B verschiebt (Holt und Laury 2002). Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 98 Holt-Laury-Lotterie zur empirischen Ermittlung der Risikoneigung Lotterie A Lotterie B Differenz der Erwartungswerte bei der Lotterien Spielrunde Wahrscheinlichkeit Auszahlung Wahrscheinlichkeit Auszahlung Erwartungswert Wahrscheinlichkeit Auszahlung Wahrscheinlichkeit Auszahlung Erwartungswert pr x pr y EV(A) pr x pr y EV(B) Δ EV = EV(A) - EV(B) 1 0,10 2,00 0,90 1,60 1,64 0,10 3,85 0,90 0,10 0,48 1,17 2 0,20 2,00 0,80 1,60 1,68 0,20 3,85 0,80 0,10 0,85 0,83 3 0,30 2,00 0,70 1,60 1,72 0,30 3,85 0,70 0,10 1,23 0,50 4 0,40 2,00 0,60 1,60 1,76 0,40 3,85 0,60 0,10 1,60 0,16 5 0,50 2,00 0,50 1,60 1,80 0,50 3,85 0,50 0,10 1,98 -0,18 6 0,60 2,00 0,40 1,60 1,84 0,60 3,85 0,40 0,10 2,35 -0,51 7 0,70 2,00 0,30 1,60 1,88 0,70 3,85 0,30 0,10 2,73 -0,85 8 0,80 2,00 0,20 1,60 1,92 0,80 3,85 0,20 0,10 3,10 -1,18 9 0,90 2,00 0,10 1,60 1,96 0,90 3,85 0,10 0,10 3,48 -1,52 10 1,00 2,00 0,00 1,60 2,00 1,00 3,85 0,00 0,10 3,85 -1,85 Tabelle 3.2: Holt-Laury-Lotterie, Zahlenwerte teilweise gerundet Vgl. Holt und Laury 2002, S. 1645. In ► Tabelle 3.2 sind die Lotterien A und B beschrieben. Lotterie A hat eine dauerhaft geringere Varianz als Lotterie B und bis zur vierten Spielrunde ist der Erwartungswert von A größer als der Erwartungswert von B. Ein risikoneutraler Teilnehmer sollte die Lotterie mit dem höchsten Erwartungswartungswert ohne Berücksichtigung der Varianz wählen, so dass bis Runde 4 Lotterie A und ab Runde 5 Lotterie B gewählt wird - wechselt ein Teilnehmer früher zur Lotterie B, ist er offenbar risikofreudig - je später ein Teilnehmer zu Lotterie B wechselt, desto höher ist sein Grad an Risikoaversion. Tatsächlich ergibt sich - wie in ► Tabelle 3.3 dargestellt - über zahlreiche Experimente und Studien hinweg kein eindeutiges Bild. Im Durchschnitt zeigen etwa zwei Drittel der Teilnehmer an derartigen Holt-Laury-Lotterien risikoaverses Verhalten, etwa 20 % sind risikoneutrale Entscheider und ca. 15 % zeigen risikofreudiges Entscheidungsverhalten, aber die Ergebnisse der einzelnen Studien variieren stark. Daneben ist inkonsistentes oder sogar irrationales Verhalten zu beobachten. Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit 99 Empirische Risikoeinstellungen Studie risikofreudig risikoneutral risikoavers irrational sonstige Teilnehmer Holt und Laury 2002 7,1 % 23,0 % 58,3 % 13,2 % Studierende Anderson und Mellor 2009 4,7 % 20,8 % 74,5 % Studierende Mascalet et al. 2009 2,7 % 10,2 % 87,1 % Studierende, Selbstständige und Angestellte Pennings und Smidts 2000 61,0 % 4,0 % 35,0 % Unternehmenseigentümer Bellemare und Shearer 2006 17,6 % 13,7 % 37,3 % 31,4 % Mitarbeiter eines Holzunternehmens Günther und Detzner 2012 18,7 % 17,0 % 29,4 % 35,0 % Geschäftsführer Günther und Detzner 2012 18,0 % 27,0 % 26,0 % 29,0 % Mitarbeiter im Controlling Tabelle 3.3: Empirische Risikoeinstellungen in Holt-Laury-Lotterien Vgl. weiterführend auch Vanini 2016. Risikoaversion und Risikoprämie Menschen, die risikoavers entscheiden, lehnen faire Spiele ab. Faire Spiele haben einen Erwartungswert von Null: Die Gewinn- und Verlustchancen sind gleich groß. In diesem Fall kann ein aktuell vorhandenes sicheres Vermögen mit einem unsicheren Erwartungswert in gleicher Höhe verglichen werden. Ein solches faires Spiel ist in ► Abbildung 3.3 links abgebildet. Einem potenziellen Spieler mit einer Nutzenfunktion 𝑢 𝑢 𝑊 𝑊 , wird angeboten, 50 EUR in einem Glücksspiel zu setzten, das über einen Münzwurf und jeweils 50 % Wahrscheinlichkeit bei 10 EUR oder 90 EUR für ihn endet. Die Gewinnchance und das Verlustrisiko sind mit (3.7) 𝐸𝑉 𝑥 0,5 ⋅ 40 0,5 ⋅ 40 0 gleich groß, so dass der Erwartungswert des Vermögens (3.8) 𝐸𝑉 𝑊 0,5 ⋅ 50 40 0,5 ⋅ 50 40 50 exakt dem Einsatz entspricht, d.h. ein faires Spiel darstellt. Es gibt drei mögliche Entscheidungen des Spielers:  er lehnt das faire Spiel ab - damit bewertet er die sicheren 50 EUR höher als den riskanten Erwartungswert von 50 EUR - der Spieler ist risikoavers und setzt seine 50 EUR nicht für das Spiel ein. Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 100  er nimmt das faire Spiel an - er bewertet die sicheren 50 EUR geringer als den riskanten Erwartungswert von 50 EUR - dieser Spieler ist risikofreudig und setzt seine 50 EUR für das Spiel ein und hat nach dem Münzwurf entweder 10 EUR oder 90 EUR.  er ist indifferent gegenüber der Teilnahme am fairen Spiel - die sicheren 50 EUR werden offensichtlich genauso hoch bewertet wie der riskanten Erwartungswert von 50 EUR - dieser Spieler ist risikoneutral. Abbildung 3.3: Faires Spiel und Risikoprämie. Aus ► Abbildung 3.3 links ist zu erkennen, dass ein risikoaverser Spieler mit der Nutzenfunktion 𝑢 𝑢 𝑊 𝑊 , dieses faire Spiel ablehnt. Die beiden möglichen Ereignisse, Verlust von 40 EUR und Gewinn von 40 EUR, ergeben auf der Nutzenfunktion die Punkte A und B. Deren jeweiliges Nutzenniveau beträgt 𝑢 𝑊 10 10 , 3,16 und 𝑢 𝑊 90 90 , 9,49 , allerdings jeweils mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 %. Der erwartete Nutzen des fairen Spiels kann dann auf der Verbindungslinie AB der unsicheren Ereignisse auf Höhe des Erwartungswertes 𝐸𝑉 𝑊 50 bei Punkt C abgelesen werden als (3.9) 𝐸𝑈 𝑊 0,5 ⋅ 10 , 0,5 ⋅ 90 , 6,32 . Dieser erwartete Nutzen ist allerdings geringer als der Nutzen aus dem vorhandenen Vermögen von 50 EUR, (3.10) 𝑢 𝑊 50 , 7,07 , so dass der Spieler das Spiel wegen 𝐸𝑈 𝑊 6,32 7,07 𝑢 𝑊 ablehnt. In der ► Abbildung 3.3 links ist dies auch daran zu erkennen, dass der Punkt C unterhalb Punkt B liegt, da die Verbindungslinie AB der unsicheren Ereignisse unterhalb der konkaven Nutzenfunktion der sicheren Vermögen liegt. Eine risikoaverse Person ist allgemein bereit, für den Ausschluss oder die Reduktion von Risiken zu bezahlen. Dieser Betrag wird als Risikoprämie bezeichnet: Die Risikoprämie ist der Differenzbetrag zwischen einer sicheren und einer unsicheren Vermögenssituation bei gleichem Nutzen. In ► Abbildung 3.3 rechts ist die Risikoprämie als Verbindung von Punkt C als 6,32 Erwartungswert des Vermögens W erwarteter Nutzen U 0 A B 10 90 C D 3,16 9,49 7,07 = erwarteter Nutzen U 0 A B 10 90 50 C E 39,9 6,32 3,16 9,49 Erwartungswert des Vermögens W 50 % 50 % 50 U-=-U(W)-=-W 0,5 U-=-U(W)-=-W 0,5 Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit 101 horizontale Linie bis zum Punkt E auf der Nutzenfunktion eingezeichnet. Am Punkt E ist offenbar der Nutzen gleich groß wie bei Punkt C, allerdings ist der Nutzen hier sicher - anders als bei Punkt C. Der sichere Nutzen bei E basiert auf dem sicherheitsäquivalenten Vermögen 𝑊 , das den gleichen Nutzen wie die Teilnahme am fairen Spiel ergibt. Die Risikoprämie RP ergibt sich über (3.11) 𝑢 𝑊 𝑊 , 6,32 und das sicherheitsäquivalente Vermögen (3.12) 𝑊 6,32 39,90 als (3.13) 𝑅𝑃 𝑊 𝑊 50 39,90 10,10 , d.h. der Spieler wäre bereit, bis 10,10 EUR zu bezahlen, um nicht am riskanten Spiel teilnehmen zu müssen. Diese Überlegung ist nicht nur abstrakt richtig: Viele Menschen schließen Versicherungen ab, um Vermögensrisiken zu begrenzen oder auszuschließen - der Versicherungsbeitrag entspricht einem Teil der Risikoprämie. Ebenso kaufen Menschen Fahrscheine für den öffentlichen Nahverkehr, um den Schaden zu begrenzen, falls man ohne Ticket erwischt wird. Gleiches gilt für Parkgebühren - es wird das Risiko eines Strafzettels und den damit verbundenen Kosten gegenüber dem Preis des Parkens abgewogen. Abbildung 3.4: Grad der Risikoaversion und Höhe der Risikoprämie. Die Höhe der Risikoprämie hängt vom Grad der Risikoaversion ab. Je höher die Risikoaversion, desto größer ist der Betrag, den ein risikoaverser Entscheider aufwenden würde, um ein Risiko zu begrenzen oder zu eliminieren - umgekehrt gilt natürlich auch, dass ein geringerer Grad an Risikoaversion zum Falschparken und Schwarzfahren verleitet. In ► Abbildung 3.4 ist 0 A B C E EV(W) EU 0 A‘ B‘ C‘ E‘ EV(W) W A W B W R W A W B W S ‘ W R W S RP‘ RP EU schwache Risikoaversion starke Risikoaversion Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 102 eine Situation abgebildet, die durch die riskanten Vermögenssituation 𝑊 und 𝑊 , und den risikobehafteten Erwartungswert des Vermögens 𝑊 vollständig beschrieben ist - die Abbildungen unterscheiden sich aufgrund unterschiedlicher Risikoaversion zweier Entscheider lediglich durch die Krümmung der Nutzenfunktion. Ist die Risikoaversion links relativ gering ausgeprägt, ist die Risikoprämie geringer als im Fall relativ starker Risikoaversion rechts, da der Grad der Risikoaversion sich auf das sicherheitsäquivalente Vermögen niederschlägt, so dass (3.14) 𝑅𝑃 𝑊 𝑊 𝑊 𝑊 ′ 𝑅𝑃‘ .  Case Study | Wer wird Millionär In zahlreichen Ländern läuft seit Jahrzehnten sehr erfolgreich die Gameshow Wer wird Millionär - ein Kandidat kann hier 15 Fragen beantworten, mehrere Joker einsetzen und in Deutschland bis zu 1 Mio. EUR gewinnen (vgl. zu den Regeln  wikipedia.org/ wiki/ Wer_wird_Millionär). Das Spiel basiert zwar in Teilen auf Wissen, aber üblicherweise entstehen Situationen, in denen der Kandidat nicht mehr weiter weiß und - unter Risiko - abwägen muss, ob er das Spiel beendet und den bisherigen Gewinnbetrag behält, oder ob er zufällig eine der verbleibenden Antworten wählt. Wenn der Kandidat richtig liegt, steigt seine Gewinnstufe an und er kann weiterspielen, wenn er falsch liegt, fällt sein Gewinn auf eine darunter liegende Stufe und er scheidet aus. Zahlreiche Studien haben das Spiel zum Anlass genommen, die Risikoaversion und das Entscheidungsverhalten der Kandidaten empirisch zu untersuchen: Männer und Frauen unterscheiden sich nicht signifikant in ihrer Risikoeinstellung, jüngere Kandidaten sind risikoaverser als ältere Kandidaten und die relative Risikoaversion bleibt während des Spiels mit zunehmender Gewinnhöhe konstant (Hartley et al. 2014, Daghofer 2007 sowie Franzen und Pointner 2009). Um künftig Wer wird Millionär mit mikroökonomischem Blick zu verfolgen, kann man strukturell folgende Situation betrachten:  Eine Teilnehmerin bei Wer wird Millionär hat eine Nutzenfunktion 𝑢 𝑊 𝑊 , . Sie steht bei 64.000 EUR und kann bei einer falschen Antwort zurückfallen auf 16.000 EUR.  Bei zwei verbleibenden Antwortalternativen hat sie keine Ahnung betreffend der 125.000 EUR Frage und keinen Joker mehr - was wird sie tun?  Wie hoch ist die Risikoprämie, was sagt sie in diesem Fall aus? Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit 103 Überträgt man zunächst das aktuelle Gewinnniveau von 64.000 EUR sowie die beiden möglichen zufälligen Ereignisse 16.000 EUR oder 125.000 EUR auf eine gekrümmte Nutzenfunktion, kann die Situation anhand von ► Abbildung 3.5 analysiert werden. Der Nutzen beträgt für die Kandidatin 𝑢 𝑊 64.000 , 765,08 auf der Gewinnstufe 64.000 EUR. Zwar ist der Erwartungswert des Weiterspielens 𝐸𝑉 𝑊 1 2 ⁄ ⋅ 16.000 1 2 ⁄ ⋅ 125.000 70.500 größer als die gegenwärtig erreichte Gewinnstufe, dagegen sinkt aber der erwartete Nutzen, wenn sie zufällig einer der beiden verbleibenden Antworten wählt, auf 𝐸𝑈 𝑊 1 2 ⁄ ⋅ 16.000 , 1 2 ⁄ ⋅ 125.000 , 738,14 . Bei der gegebenen Risikoaversion würde die Kandidatin nicht Zocken, sondern das Spiel mit 64.000 EUR beenden wollen. Abbildung 3.5: Entscheidung bei Wer wird Millionär. Wenn der Moderator die Kandidatin auffordert und drängt weiterzuspielen, dann widerspricht dies der Risikopräferenz der Kandidatin - in letzter Konsequenz wäre sie bereit, eine Risikoprämie zu bezahlen, damit sie aufhören darf. Diese ergibt sich aus ► Abbildung 3.5 als Abstand zwischen den Punkten E und F und über 𝐸𝑈 𝑊 738,14 mit (3.15) 𝑊 𝐸𝑈 𝑊 , 60.288,32 mit (3.16) 𝑅𝑃 64.000- 60.288,32 3.711,68 . Fernsehsender könnten mit einer kleinen Regeländerung Teile der Gewinnsumme von den Kandidaten in Form der Risikoprämie zurückbekommen. F erwarteter- Nutzen 0 A B 16.000 125.000 64.000 C 333,02 1143,26 U-=-U(W)-=-W 0,6 D erwartete- Gewinnhöhe 765,08 60.288,32 70.500 738,14 E 50 % = 50 % Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 104 Risikoprämie, Kapitalmärkte und Unternehmenswert Eine Risikoprämie kann auch in einem zweiten grundlegenden Fall auftreten: als notwendige Zahlung an einen Entscheider, so dass dieser ein Risiko übernimmt oder eingeht. Diese Erklärung ist bspw. zentral für die Analyse von Portfolioentscheidungen in Finanz- und Kapitalmärkten, in denen zwischen einer vermeintlich risikolosen Anlage (Tagesgeld oder Festgeld mit niedriger, aber stabiler Rendite) gegenüber riskanteren Anlageformen (Aktien mit höherer, aber schwankender Rendite) entschieden werden muss. Die Risikoprämie drückt in diesem Fall die notwendigerweise erwartete Überschussrendite der risikobehafteten Anlage gegenüber der risikolosen Anlage aus, so dass ein privater oder institutioneller Anleger bereit ist, das Risiko zu tragen. Diese Überlegung ist grundlegend für das Capital-Asset-Pricing- Modell zur Bestimmung des Wertes risikobehafteter Investitionen oder der Kurse risikobehafteter Wertpapiere - und indirekt der Kapitalkosten und des Wertes eines Unternehmens. Unternehmerisches Handeln bedeutet Risikoübernahme sowie Eigenkapitaleinsatz und erfolgt insbesondere dann, wenn gegenüber anderen Handlungsalternativen eine positive Risikoprämie erzielt werden kann (Markowitz 1952, Sharpe 1964). Bonuszahlungen an Manager, die an den Aktienkurs eines Unternehmens gekoppelt sind, sind Anreize auf Basis einer Risikoprämie. Risikoeinstellung und Managerverhalten Nahezu alle Menschen sind in vielen Entscheidungssituationen risikoavers - d.h. nicht, dass keine riskanten Sportarten betrieben werden, dass Menschen nicht Lotto spielen oder dass Manager keine Risiken eingehen: Risikoaversion beschreibt lediglich die Grundeinstellung, Risiken vor dem Hintergrund eines abnehmenden Grenznutzens des Vermögens abzuwägen. Menschen unterscheiden sich interpersonell in ihrer Risikoaversion und diese erscheint im Zeitablauf nicht stabil. Zahlreiche Studien zeigen, dass die Risikoaversion mit absoluter und relativer Höhe des Einkommens zunimmt, dass demographische Merkmale wie Alter oder Größe der Familie die Risikoaversion steigen lassen und insbesondere die Erfahrung (Erfolg und Misserfolg) in bestimmten Risikosituationen, Rahmenbedingungen der Entscheidung und natürlich die absolute Höhe des Risikos und der maximalmögliche Verlust die Einschätzung des Risikos beeinflussen (March und Shapira 1987, Pratt 1964, Holt und Laury 2002 sowie Kahneman und Tversky 1979). Zudem wird das Verhalten in Risikosituationen durch die Möglichkeit, Risikomanagement zu betreiben oder sich gegen die Risiken zu versichern, beeinflusst. Aus Managementperspektive ist eine zentrale Frage, welchen Grad an Risikoaversion Entscheider im Unternehmen haben, in welcher Weise riskante und unsichere Entscheidungen beeinflusst werden, und welche Rahmenbedingungen der Organisation eines Unternehmens und insbesondere Vergütungssysteme das Verhalten von Managern in Risikosituationen beeinflussen. Ziel ist hier immer, durch das Design der Organisation und der Entscheidungsprozesse Risiken zunächst transparent zu machen und dann Entscheidbarkeit zu erzielen. In zahlreichen Organisationen und Unternehmen sind Risikomanagement und -kultur sowie die Abgrenzung zu Unsicherheit allerdings unterentwickelt: So werden bspw. variable Anreize in Vergütungssystemen (erfolgsabhängige Bonuszahlungen als Form einer Risikoprämie) als Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit 105 erklärend für zu große Risikoübernahme durch Manager und als einen indirekten Treiber der Finanz- und Staatsschuldenkrise ab 2007 angesehen. Empirisch ist der Zusammenhang bislang nicht eindeutig geklärt. Einige Untersuchungen zeigen einerseits einen positiven Zusammenhang zwischen Risikoneigung von Managern und Unternehmenserfolg, da eine niedrigere Risikoaversion dazu führt, dass riskantere Investitionen mit höheren Renditen durchgeführt werden, andererseits nimmt die Varianz des Unternehmenserfolg zu. Die Bereitschaft, größere Risiken einzugehen, hängt neben den positiven Anreizen bei Erfolgen insbesondere auch von negativen Sanktionen (Rückzahlung von Gehältern oder Einbehalt von Boni) und der Haftung für unternehmerisches Handeln bei Misserfolgen ab. Insbesondere die Wahrnehmung und Einschätzung potenzieller Risiken und deren symmetrische oder asymmetrische Rückwirkung auf das eigenen Einkommen haben einen wesentlichen Einfluss auf Risikoeinstellung und -verhalten von Managern (Ross 2004, Holmström 1999, Carpenter 2000 sowie Coles et al. 2006). Risikomanagement und die Reduktion von Risiko und Unsicherheit Unternehmen betreiben strategisches Risikomanagement, um Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit zu optimieren. Im Mittelpunkt steht die Identifikation und Analyse möglicher Risiken und die Bewertung über Erwartungswerte, Varianzen und Simulationsrechnungen, ob das Risiko akzeptabel erscheint oder durch geeignete Maßnahmen reduziert werden soll. Daneben gibt es zahlreiche gesetzliche Vorschriften, um Risiken zu managen oder zu reduzieren: bspw. ist ein Risikomanagementsystem für kapitalmarktnahe Unternehmen in Deutschland im Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich vorgeschrieben, Banken und Finanzdienstleister müssen zudem die Mindestanforderungen an das Risikomanagement der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht im Abgleich mit der jeweiligen Unternehmensstrategie erfüllen. Alle Methoden und Maßnahmen zur Reduktion von Risiken zielen zunächst auf eine bessere Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten oder das Ausnutzen des Gesetzes der großen Zahl. Dies kann bei Unternehmen entweder unternehmensintern erfolgen, durch Inanspruchnahme des Marktes in Form von Versicherungen oder dem Kapitalmarkt oder durch Signaling:  Information - Beschaffung zusätzlicher und ergänzender Information ermöglicht eine bessere Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten und möglichen Ereignissen sowie ggfs. die Umwandlung von Unsicherheit zunächst in Risiko oder sogar in Sicherheit. Typischerweise erfolgt dies durch Beobachtung von Marktpreisen für Risiken (bspw. Risikoaufschläge bei Wertpapieren), durch Unternehmensberater oder Marktforschung. Der maximale Preis für die Information ergibt sich wieder aus der Risikoprämie.  Versicherung - schließt Risiken aus oder reduziert mögliche finanzielle Schäden. Die Möglichkeit der Versicherung basiert auf dem Gesetz der großen Zahl. Zwar werden sich einige Risiken materialisieren, aber durch Pooling aller übernommenen voneinander unabhängigen Risiken kann eine Versicherung als Unternehmen auf Basis erhobener Risikoprämien existieren und die Risiken tragen und Schadenfälle decken.  Diversifikation - sprichwörtlich „nicht alles auf eine Karte setzen“. Typisch ist Diversifikation (Aufteilung und Streuung des Gesamtrisikos auf ein Portfolio mehrerer Projekte) in allen Märkten mit technologischen Unsicherheiten oder hoher F&E-Intensität sowie Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 106 allgemein bei Kapitalanlagen. Diversifikation basiert auf negativ korrelierten Ereignissen, d.h. es wird in Projekte mit (erwartet) gegenläufiger Ereignisausprägung investiert, um das absolute Risiko zu reduzieren. Sind unternehmensintern keine derartigen Projekte vorhanden, kann ein Unternehmen alternativ über den Kapitalmarkt in ein anderes Unternehmen oder direkt in Form einer Unternehmensübernahme investieren, um das Risiko zu streuen und so zu reduzieren (vgl. auch ► Kapitel 6).  Signaling beschreibt eine Möglichkeit, einem anderen Marktteilnehmer oder Wettbewerber glaubwürdig Information zu kommunizieren, die anderweitig nicht beobachtbar oder zu ermitteln ist (Spence 1973 und 2002). Signaling reduziert asymmetrische oder den Grad unvollständiger Information und kann eingesetzt werden, um risiko- und unsicherheitsreduzierende Informationen an Kunden oder Zulieferern zu übertragen, dass die Zusammenarbeit und Geschäftsbeziehung keine Risiken mit sich bringt. Typische Formen sind neben detaillierten Geschäftsberichten zur Risikosituation insbesondere die Beschaffung von Kreditratings oder Zertifikate über die Einhaltung von Umwelt- oder Qualitätsstandards, aber auch indirekte Signale wie Hochhäuser von Banken im Zentrum der jeweils teuersten Metropolen eines Landes - Banken stellen intangible Dienstleistungen her, aber durch teure Immobilien wird finanzielle Solidität signalisiert. Damit ein Empfänger diese Information als glaubwürdig einordnet, muss die Erstellung oder die Übermittlung des Signals kostspielig oder aufwendig sein, oder aber es muss für Dritte schwierig oder riskant sein, das Signal zu fälschen oder zu imitieren. Signaling ist die wesentliche ökonomische Erklärung für teure Verlobungsringe oder für teure Maßanzüge: Beide helfen, die Unsicherheit der anderen Marktseite über die finanzielle Situation - zum einen eines potenziellen Ehepartners, zum anderen eines potenziell neuen Geschäftspartners - zu reduzieren. Damit hat Signaling auch für Studierende eine unmittelbare Bedeutung, denn die Einstellung eines neuen Mitarbeiters gleicht für den Arbeitsgeber einer Lotterie mit hoher Unsicherheit. Durch einen aufwendig erworbenen und mit Opportunitätskosten verbundenen Studienabschluss, und entsprechenden Fähigkeiten, werden dem künftigen Arbeitgeber risikoreduzierende Informationen für die Bewerberauswahl signalisiert - so fällt die Risikoprämie, im Gegenzug steigen Gehalt und Wahrscheinlichkeit einer Anstellung an. Gewichtung von Risiko und schwarze Schwäne Selbst bei vorliegenden objektiven Wahrscheinlichkeiten entscheiden Menschen teilweise nicht wie oben beschrieben zugunsten eines maximal erwarteten Nutzens. Die Ursache liegt in der eingeschränkten Fähigkeit, Risiken zu verstehen und Wahrscheinlichkeiten korrekt wahrzunehmen: Geringe Wahrscheinlichkeiten werden subjektiv größer wahrgenommen, große Wahrscheinlichkeiten dagegen verkleinert. So werden Autofahrten und Flugreisen zwar von vielen Menschen als zumindest mit Risiken behaftet betrachtet, aber typischerweise ist die subjektive Angst vor einem Flugzeugabsturz entgegen den Wahrscheinlichkeiten groß, wirklich mit Risiken behaftet ist dagegen die oft als sicher eingeschätzte Auto- oder Taxifahrt zum und vom Flughafen. Entscheidungen bei Risiko und Unsicherheit 107 Abbildung 3.6: Tatsächliche und wahrgenommene Wahrscheinlichkeiten. In ► Abbildung 3.6 ist eine Gewichtungsfunktion tatsächlicher und wahrgenommener Wahrscheinlichkeiten zu sehen, die sich in Experimenten bei der Einschätzung oder Beurteilung von Risikosituationen ergibt. Stark vereinfacht kann man drei Bereiche der Wahrnehmung von Risiken benennen: Sehr niedrige Wahrscheinlichkeiten werden überschätzt (Bereich A), moderate Wahrscheinlichkeiten werden deutlich unterschätzt (Bereich B) und für hohe Wahrscheinlichkeiten (Bereich C) wächst die Wahrnehmung schnell an (Kahneman und Tversky 1979 sowie Tversky und Kahneman 1992). Die Gewichtungsfunktion verläuft in der Nähe der Extremwerte von 0 % und 100 % relativ steil, so dass Menschen hier sehr stark auf eine Veränderung der Wahrscheinlichkeit reagieren. So sind Menschen bereit, deutlich höhere Beträge zu bezahlen, um ein Risiko von 1 % auf 0 % zu reduzieren als von 50 % auf 40 %, obwohl die Risikoreduktion im zweiten Fall größer ist. Durch die Überschätzung geringer Wahrscheinlichkeiten lässt sich bspw. die Teilnahme an Lotterien mit geringen Erwartungswerten erklären, aber auch die zu starke Absicherung gegenüber kleinen Risiken in Form von Versicherungen. Entlang des S-förmigen, nicht linearen Verlaufs der Gewichtungsfunktion verändert sich die Wahrnehmung kleiner Unterschiede in Wahrscheinlichkeiten. So ist eine mögliche Erklärung für das sogenannte Allais-Paradoxon gegeben: Hierbei wird in Experimenten regelmäßig beobachtet, dass Menschen einen Anstieg der Wahrscheinlichkeit von 10 % auf 11 % anders bewerten und Entscheidungen treffen als bei einem Anstieg von 99 % auf 100 %. Aus Managementperspektive ist zentral, neben der eigentlichen Risikoaversion auch die Wahrnehmung der Risiken durch Manager zu betrachten. Bietet man Managern - vor dem Hintergrund von Risiko oder Unsicherheit - drei verschiedene Szenarien einer Investitionsrechnung oder der Entwicklung eines Geschäftsmodelles als Base Case, Best Case und Worst Case zur Auswahl an, entsteht aufgrund einer Aversion gegen Extremfälle (Extremness Aversion) eine Tendenz zur Wahl der mittleren Variante und mithin die unbegründete Erwarkorrekte (lineare) Einschätzung wahrgenommene Wahrscheinlichkeit 0 100 % tatsächliche Wahrscheinlichkeit 50 % 100 % 30 % 70 % A C B 30 % empirische Einschätzung (weighting function) Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 108 tung, dass dieser Fall auch eintritt. In gleicher Weise wird beobachtet, dass Manager überrascht werden von Ereignissen, die am Rand einer Wahrscheinlichkeitsverteilung liegen. Diese Realisierung vermeintlich unwahrscheinlicher Ereignisse wird mittlerweile auch sprichwörtlich unter dem Begriff schwarze Schwäne geführt, von denen man lange dachte, dass sie nicht existieren (Simonson und Tversky 1992, Garbuio et al. 2014 und Taleb 2007). 3.2 Begrenzte Rationalität und Behavioral Economics In ► Kapitel 2 wurden Entscheidungen von Menschen, egal ob als Kunden oder Manager, als vollständig rational auf Basis von Präferenzen ohne jegliche Emotionen oder Wahrnehmungsverzerrung beschrieben, die ihren Nutzen maximieren. Diese Sicht stellt offenbar ab auf Menschen ähnlich Mr. Spock (perfekte Rationalität ohne jegliche Emotion) aus Star Trek, Sheldon Cooper (stabile Präferenzen) aus Big Bang Theory und Sherlock Holmes (perfekte kognitive Fähigkeiten) in den Romanen von Arthur Conan Doyle - extrem clevere Typen, die ständig maximieren. Mr. Spock, Sheldon Cooper und Sherlock Holmes sind die Prototypen des (oft kritisierten) Homo oeconomicus, allerdings ist Spock Vulkanier, Cooper leidet am Asperger Syndrom und Holmes ist drogenabhängig - zudem sind alle drei Fiktion. Tatsächlich werden zahlreiche Entscheidungen aber nicht vollständig rational getroffen und weichen signifikant und in systematischen Mustern von maximierendem Verhalten ab. Diese Entscheidungen werden im Rahmen von Behavioral Economics analysiert und Erklärungen basieren insbesondere auf psychologischen und verhaltenswissenschaftlichen Experimenten und Beobachtungen. Eine zentrale Begründung begrenzt rationaler Entscheidungen basiert evolutionsbiologisch auf zwei verschiedenen Funktionsweisen des menschlichen Gehirns - auf schnellem und langsamen Denken (Kahneman 2003 und 2011):  Schnelles Denken (System 1) - Entscheidungen basieren zentral auf Intuition, Instinkt und Routinen. Es fasst schnelle, einfache, automatisierte Entscheidungen und Verhaltensweisen zusammen, die das Überleben sichern und erleichtern. Die Erklärung hierfür sind im Wesentlichen Evolution (es bewährt sich, auf der Straße vor quietschenden Reifen ohne lange Nachzudenken zur Seite zu springen), Emotionen und Routinen (adaptive Wiederholung von in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen). Schnelles Denken fällt Menschen leicht, es kostet wenig Gehirnkapazität (im limbischen System), verbraucht wenig Energie und ist nicht anstrengend.  Langsames Denken (System 2) - Entscheidungen basieren auf Nachdenken und Anwendung von Logik. Es fasst Entscheidungen und Verhaltensweisen zusammen, die mentale Konzentration, detaillierte Verarbeitung von Informationen oder Anwendung komplexer Entscheidungsregeln erfordern. Langsames Denken fällt Menschen schwer, da hier viel Gehirnkapazität (im Frontallappen) und Energie benötigt wird. Das menschliche Gehirn vermeidet langsames Denken aktiv, es schaltet „automatisch“ in schnelles Denken, um Energie zu sparen. Begrenzte Rationalität und Behavioral Economics 109 Abbildung 3.7: Beobachtete Entscheidungen auf Basis vollständiger und begrenzter Rationalität vs. schnelles und langsames Denken. Das menschliche Gehirn entscheidet im Wesentlichen alleine, ob eine Aufgabe durch schnelles oder langsames Denken gelöst wird: Viele Menschen können nicht verhindern, dass ihr Gehirn eine Aufgabe wie 4 2 automatisch durch schnelles Denken löst, dagegen benötigt eine Aufgabe wie 231 86 19.865 langsames Denken und viele Menschen empfinden in Anbetracht dieser Aufgabe unmittelbar Anstrengung. Die Neigung zu schnellem Denken schränkt Menschen im Prozess der Informationswahrnehmung, der Informationsverarbeitung und in der eigentlichen Entscheidung ein. In der Folge werden zahlreiche Entscheidungen begrenzt rational getroffen (Simon 1955 und 1957, March und Simon 1958 sowie March 1991):  unvollständige Erfassung der Situation - zahlreiche Entscheidungssituationen sind komplex, und die möglichen Strategien und deren Wechselwirkungen mit denkbaren Zielen nicht vollständig beschreibbar,  unvollständige Information - zahlreiche Entscheidungssituationen weisen eine Mischung aus Unsicherheit, Risiko und absolut fehlender Information auf,  kognitive Beschränkungen - Menschen besitzen eingeschränkte intellektuelle Fähigkeiten und sind beschränkt oder verzerrt in Wahrnehmung, Lernen, Erinnern und planvollem Vorgehen, und  zeitliche Limitierung in der Entscheidungsfindung - viele strategischen Entscheidungen, gerade auch in Unternehmen, können aufgrund begrenzter Zeit nicht vollständig durchdacht werden. Menschen (Entscheider als Kunden oder Manager) erkennen durchaus die Begrenztheit ihrer Rationalität - vor diesem Hintergrund werden nur wenige Alternativen geprüft und die Entscheidungsfindung wird anhand von Heuristiken vorgenommen. Zudem tritt neben das Ziel der Maximierung von Nutzen oder Gewinn die Suche nach Gut-genug-Lösungen (Satisfivollständige Rationalität Irrationalität begrenzte Rationalität beobachtete Entscheidungen ‚langsames‘ Denken ‚schnelles‘ Denken Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 110 cing), die dann erreicht sind, wenn ein bestimmtes Anspruchs- oder Zufriedenheitsniveau, eine Höhe des geplanten Gewinns oder eine Wahrung des Status quo erreicht sind. Dieses Verhalten ist in gleicher Weise bei Managern, bei der Suche nach einem Job, beim täglichen Weg an die Hochschule und bei der Wahl des Lebenspartners zu beobachten. Grundlegend neue Entscheidungen werden nur getroffen, wenn eine deutliche Abweichung vom Anspruchsniveau festgestellt wird, ansonsten dominieren Routinen, die bisherige Entscheidungen fortschreiben oder inkrementell auf Basis lokaler Suche adaptiv weiterentwickeln, und so den Status quo festigen oder sichern (Lindblom 1959 sowie Levinthal und March 2007). Eine Gut-genug-Lösung kann durchaus konsistent mit maximierendem Verhalten sein: Satisficing kann auch entstehen, wenn in Anbetracht aller Opportunitätskosten einer Alternative, Suchkosten nach besseren Alternativen und insbesondere zeitlichen Beschränkungen entschieden wird - also Maximierung mit zahlreichen Nebenbedingungen. Eine derartige Gut-genug-Lösung kann eine Erklärung für ein zumindest teilweise beobachtetes Verhalten von Taxifahrern in New York bieten. Taxifahrer in New York müssen zwei Tage im Voraus entscheiden, ob Sie einen Wagen anmieten - dann zahlen Sie eine Mietgebühr für 12 Stunden Nutzung und können alle Erlöse behalten. Am betreffenden Tag sind die Mietgebühren entscheidungsirrelevante Sunk Cost und daher ist die einzige wesentliche Entscheidung, wie viele Stunden das Taxi genutzt wird. Dabei gibt es zwei mögliche Umweltzustände: gute Tage (Regen, Schnee, U-Bahn-Ausfälle) mit vielen Fahrgästen und schlechte Tage (Sonne, planmäßiger U-Bahn-Betrieb) mit eher wenigen Fahrgästen. Maximierendes Verhalten der Taxifahrer und eine positive Elastizität des erzielbaren Einkommens liegt vor, wenn - wie in ► Abbildung 3.7 links zu sehen - an guten Tagen die vollen 12 Stunden gearbeitet wird, an schlechten Tagen aber der Wagen frühzeitig an das Taxiunternehmen zurückgegeben wird, weil keine weiteren Erlösen möglich sind. Abbildung 3.8: Schematisches Verhalten von Taxifahrern in New York. Eine empirische Studie von Camerer et al. (1997) zeigt, dass tatsächlich ein Verhalten wie in ► Abbildung 3.7 mitte beobachtet werden kann. Die Erklärung ist, dass ein mental gesetztes Zieleinkommen (als Referenzpunkt) pro Tag angestrebt wird, um die Kosten der Miete des Arbeitsstunden an guten Tagen Arbeitsstunden an schlechten Tagen 12 h gute Tage schlechte Tage Einkommen Arbeitsstunden an guten Tagen Arbeitsstunden an schlechten Tagen 12 h Arbeitszeit Arbeitszeit Zieleinkommen = satisficing Verhalten Vorhersage-des-Verhaltens tatsächliches-Verhalten Begrenzte Rationalität und Behavioral Economics 111 Fahrzeugs zu decken. Sobald dieses übertroffen ist, wird an diesem Tag die Arbeit eingestellt - wird es nicht erreicht, wird die Arbeit fortgesetzt. In einer neueren Untersuchung hat Farber (2015) gezeigt, dass nicht alle Taxifahrer so handeln - insbesondere ältere und erfahrene Fahrer weisen ein stärker maximierendes Verhalten auf und optimieren ihr Einkommen nicht nur tageweise. Heuristiken und Faustregeln Zahlreiche begrenzt rationale Entscheidungen können auf die Anwendung von Heuristiken zurückgeführt werden (Gigerenzer und Selten 2002 sowie Kahneman 2003). Eine Heuristik besteht in der Anwendung meist einfacher Regeln zur Entscheidungsfindung bei begrenztem Wissen, unvollständiger Information oder begrenzter Zeit. Der Schwerpunkt von Heuristiken liegt auf Effizienz (Geschwindigkeit, geringen Kosten und Komplexitätsreduktion), nicht in der Suche bestmöglicher Entscheidung, und oft wird nur eine begrenzte Anzahl an Alternativen oder Strategien geprüft. Auf Basis von Heuristiken getroffene Entscheidungen weichen typischerweise von einer optimalen Entscheidung (und maximierendem Verhalten) ab - die Distanz zu einer theoretisch bestmöglichen Entscheidung bestimmt dann die Qualität der Heuristik. Heuristiken decken den Bereich von systematischen und logischen, aber vereinfachenden Entscheidungsregeln bis hin zu Trial and Error - dem schlichtem iterativen Ausprobieren und Abbruch der Suche nach der Lösung bei Auffinden einer Gut-genug-Lösung - ab. Vereinfachende Entscheidungsregeln basieren auf Faustregeln: Es erfolgt eine systematische oder willkürliche Vereinfachung des Entscheidungsproblems und die Anwendung einer in der Vergangenheit funktionalen Entscheidungsregel. So ersetzen viele Menschen die Berechnung von 19 21 mit 20 20 und liegen im Ergebnis nur um 0,25 % falsch, andere Menschen lesen keine Bedienungsanleitungen und können so mit einer Waschmaschine keine optimalen, aber durch „alles zusammen bei 40 Grad und immer maximale Schleuderdrehzahl“ eine Gutgenug-Lösung erreichen. Wahrnehmungsverzerrungen und Entscheidungen Die Experimente und Untersuchungen von Tversky, Kahneman und Thaler legen einen Schwerpunkt auf das Verständnis von verhaltensbedingten Heuristiken. Diese haben sich über evolutorische Prozesse entwickelt und Menschen unterliegen psychologisch bedingten Wahrnehmungsverzerrungen (Cognitive Biases), auf deren Basis Einschätzungen vorgenommen und die eigentliche Entscheidung in komplexen Situationen getroffen wird - typischerweise mit dem Ergebnis von Gut-genug-Lösungen, die zumindest teilweise in Widerspruch zu maximierendem Verhalten stehen. Verhaltensbedingte Heuristiken liefern Erklärungen für systematische Abweichungen von optimalen Entscheidungen. Aus mikroökonomischer Perspektive sind für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen, und die darauffolgende Entscheidung, insbesondere folgende - wenngleich nicht trennscharf abzugrenzende und sich wechselseitige beeinflussende - Wahrnehmungsverzerrungen relevant (DellaVigna 2009, Camerer et al. 2011, Kahneman 2011 und Thaler 2015): Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 112  Confirmation Bias (Bestätigungsverzerrung oder selektive Wahrnehmung) - Informationen werden so ausgewählt und interpretiert, dass eigene Überzeugungen und Annahmen bestätigt, erklärt und verstärkt werden. Im Gegenzug werden unpassende Informationen ausgeblendet oder unterdrückt (kognitive Dissonanz), so dass entlang Routinen an bisherigen Entscheidungen oder Strategien festgehalten wird und Pfadabhängigkeiten begründet sind. Dies ist häufig bei Marktforschung und Wettbewerbsanalyse zu beobachten: Marktforschung wird häufig verwendet, um bestehende Annahmen zu bestätigen und ggfs. Mitarbeiter und Manager von eigenen Annahmen zu überzeugen. Auch rein stochastischen Ereignissen wird Bedeutung zugeschrieben, so dass Manager - je nach Blickwinkel - bestätigende oder widerlegende Informationen in zufällige Muster hinein interpretieren. Die Qualität einer Entscheidung kann dagegen verbessert werden, indem bewusst nach widerlegenden Informationen gesucht wird (Nickerson 1998).  Availability Bias (Verfügbarkeitsheuristik) - die Beurteilung eines Sachverhalts oder einer Information wird dominiert von leicht verfügbaren Daten, deutlicher Erinnerung an bestimmte Fakten (an was sich erinnert wird, muss offenbar wichtig sein) oder Analogieschlüssen, auch wenn diese in keinem Zusammenhang mit der Frage oder Entscheidung stehen. Damit entsteht eine Tendenz, dass singuläre Ereignisse oder kürzlich gemachte Erfahrungen systematisch überbewertet werden. Auf die Frage, ob die Bevölkerung von Manchester oder Leicester größer ist, ziehen viele deutsche Studierende die völlig irrelevante, aber einfach verfügbare Information heran, dass es in Manchester zwei bekannte Fußballvereine gibt - und antworten zufällig richtig. Britische Studierende dagegen besitzen zu beiden Städten sehr viele Informationen und können diese Frage zu einem geringeren Prozentsatz richtig beantworten (Tversky und Kahneman 1973). Abbildung 3.9: Verfügbarkeitsheuristik und Städtegrößen (eigene Daten aus diversen Vorlesungen in Saarbrücken, München, Hatfield und London von 2014 bis 2017).  Representativeness (Repräsentativheuristik) - bei der Einordnung von Information dominieren ‚offensichtliche Fakten‘ - man erachtet diese Fakten fälschlicherweise als statistisch repräsentativ. Die Repräsentativheuristik basiert darauf, dass Menschen aufgrund einer aufmerksamkeitsbedingten Übergewichtung bestimmter Ausprägungen eines beobachteten Ereignisses oder einer Falschzuordnung auf die Grundgesamtheit möglicher Welche Stadt hat mehr Einwohner: Leicester oder Manchester? Frage 1 Welche Stadt hat mehr Einwohner: Saarbrücken oder Mönchengladbach? Frage 2 ca. 72 % aller Deutschen beantworten diese Frage richtig, nur 53% der Briten ca. 81 % aller Briten beantworten diese Frage richtig, nur 48 % der Deutschen Leicester 343.000 Manchester 395.000 Saarbrücken 177.000 Mönchengladbach 255.000 Begrenzte Rationalität und Behavioral Economics 113 Ereignisse die Bayes-Regel bedingter Wahrscheinlichkeiten verletzen (Kahneman und Tversky 1972 sowie Tversky und Kahneman 1974).  Case Study | Tilman der Lastwagenfahrer Wird eine Person als „Tilman ist ein asketischer Mann, 42 Jahre alt, trägt eine randlose Brille, hört gerne Mozart und spielt regelmäßig Schach“ beschrieben und daneben ein Foto eines, augenscheinlich stereotypen Schönheitsidealen entsprechenden, weißen Mannes gezeigt, dann wird die überwiegende Mehrzahl befragter Menschen die Frage „Ist Tilman a) Lastwagenfahrer oder b) Professor für Schönheitschirurgie? “ mit b) beantworten. Allerdings beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass er Schönheitschirurg ist, nur etwa 0,8 % - in 99, 2 % der Fälle ist er Lastwagenfahrer: Bei in Deutschland ca. 1 Mio. Lastwagenfahrern im Alter von 25 bis 65 Jahren und ca. 40 Professoren für Schönheitschirurgie zwischen 40 und 60 Jahren, gibt es im Alter von 42 Jahren eine Grundgesamtheit von ca. 25.000 Lastwagenfahrern und ca. 2 Professoren für Schönheitschirurgie. Selbst wenn man unterstellt, dass die Kombination randloser Brillen, Mozart und Schach bei Professoren für Schönheitschirurgie bspw. 100-fach überrepräsentiert ist, d.h. bei Professor für Schönheitschirurgie in 50 % der Fälle, bei Lastwagenfahrern nur in 0,5 % der Fälle vorkommt, ergeben sich 0,5 % ∙ 25.000 = 125 Lastwagenfahrer, die zur Beschreibung passen, aber nur 50 % ∙ 2 = 1 Professoren für Schönheitschirurgie. Diese (und einige weitere) Heuristiken in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Information prägen und verzerren signifikant Entscheidungen von Menschen (in gleicher Weise von Kunden und Managern).  Overconfidence (Selbstüberschätzung) - beschreibt die systematische Überschätzung eigener Fähigkeiten und Kenntnisse und insbesondere der Präzision resp. Richtigkeit ihrer Entscheidung. Zahlreiche Experimente zeigen, dass Menschen glauben, besser als der Durchschnitt Auto zu fahren, bessere Aktienanlageentscheidungen als andere treffen zu können, die Gewinnchancen beim Lotto durch Auswahl eigener Zahlen zu erhöhen oder sogar zufällige Münzwürfe vorherzusagen. In weniger ‚zufälligen‘ Situationen verstärkt sich diese Tendenz zu Überoptimismus und der Kontrollillusion noch deutlicher und wird wesentlich von einer Bestätigungsverzerrung verstärkt: In der Konsequenz zeigen empirische Studien, dass Manager Erfolge auf ihre eigenen Fähigkeiten zurückführen, Misserfolge werden dagegen mit Pech und unerwarteten Strategien der Wettbewerber oder ‚Ungerechtigkeit des Marktes‘ begründet (Svenson 1981, Russo und Shoemaker 1992, Klayman et al. 1999, Garbuio et al. 2014 sowie Malmendier und Tate 2005). Die Selbstüberschätzung und der Überoptimismus von Managern steigt insbesondere an, wenn in den Vorjahren die Unternehmensgewinne oder Aktienkursentwicklung überdurchschnittlich war (Malmendier und Tate 2015, Chen et al. 2015 und Ben-David et al. 2007). Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 114 Zwei Geschäftsmodelle, die auf Selbstüberschätzung und Überoptimismus basieren und die Zahlungsbereitschaft der Kunden steigern, sind Fitnessclubs und aktiv gemanagte Investmentfonds. Einerseits überschätzen Menschen ihre Disziplin (die Fähigkeit, sich im Zeitablauf an getroffene Entscheidungen zu halten), regelmäßig trainieren zu gehen, und zahlen zu viel, andererseits behaupten Fondsmanager implizit immer wieder, zufällige Entwicklungen auf effizienten Kapitalmärkten vorhersagen zu können. Empirisch ist allerdings immer wieder nachgewiesen, dass Aktienkursentwicklungen einem (komplizierten) Random Walk entsprechen - also im Kern rein zufällig sind (DellaVigna und Malmendier 2006 sowie Pütz und Ruenzi 2011).  Group Think und Herd Behavior (Herdenverhalten) - Entscheidungen werden maßgeblich davon beeinflusst, ob sie alleine und unabhängig oder in Gruppen getroffen werden: Häufig kommt es - gerade in Gruppen gut informierter Individuen - zur Zustimmung zu Entscheidungen, die sich als falsch herausstellen. Zwei Ursachen erscheinen ausschlaggebend: die Vermutung betreffend der Kompetenz der anderen und fehlende Energie, jede Diskussion zu führen - beides führt, verstärkt durch eine Bestätigungsverzerrung, zu falschem Übereinkommen auf gemeinsame Entscheidungen („Go-with-the-Flow”). Oftmals wächst Herdenverhalten mit der Zahl der Manager oder Größe des Vorstandes sowie der Aufspaltung von Verantwortung an. Eine Lösungsmöglichkeit bei Fluggesellschaften und in Unternehmensberatungen ist das sogenannte „Obligation-to-Dissent“-Prinzip, d.h. die Verpflichtung, auch in großen Gruppen oder gegenüber hierarchisch Vorgesetzten begründet zu widersprechen (Esser 1998).  Sunk Cost Fallacy (Sunk-Cost-Denkfehler) - rationale Entscheidungen erfordern, dass Sunk Costs bei künftigen Entscheidungen unberücksichtigt bleiben (► Kapitel 2). In zahlreichen Entscheidungssituationen halten sich Menschen aber nicht daran: So hat Thaler (1980) in einem Experiment gezeigt, dass die Anzahl an Pizzastücken, die in einem „All- You-Can-Eat“-Restaurant gegessen werden, davon abhängig ist, ob und wieviel die Menschen bezahlt haben. Gibt man einer Gruppe A von Kunden unmittelbar nach Betreten des Restaurants und deren Bezahlung am Eingang das Geld zurück, essen diese, bis sie satt sind. Mitglieder einer Kontrollgruppe, die das Geld nicht zurückerhalten, essen dagegen solange weiter, bis das Gefühl entsteht, dass mindestens Nutzen im Wert der Bezahlung erreicht ist - im Durchschnitt etwa 40 % mehr. Just und Wansik (2011) bestätigen dies: bei einer Preisreduktion von 50 % essen die Kunden 27,9 % weniger in einem „All- You-Can-Eat“-Restaurant - im Widerspruch zu Sunk Costs. Ebenso stapeln sich in Schuhschränken Schuhe, die entweder aus der Mode gekommen sind oder nicht passen - die Tatsache, dass diese Schuhe in der Vergangenheit viel Geld gekostet haben, verhindert, dass diese Schuhe weggeben werden. Sunk Costs sind aber in der Vergangenheit angefallene Kosten, die nicht zurückgewonnen werden können, d.h. diese Kosten sind irrelevant für künftige Entscheidungen - Menschen halten aber irrational an vergangenen Entscheidungen fest, sehen sich schlechte Filme im Kino zu Ende an (nicht aber zu Hause, weil dort nicht bezahlt wurde), lesen gekaufte schlechte Bücher zu Ende, aber nicht geliehene oder geschenkte (weil wiederum nicht bezahlt wurde) - so dass grundsätzlich die mentale Rechtfertigung eines in der Vergangenheit bezahlten Kaufpreises den Grund für die Nichtbeachtung der Sunk Costs darstellt (vgl. auch ► Kapitel 6 zu Managemententscheidungen). Begrenzte Rationalität und Behavioral Economics 115 Verlustaversion und die Asymmetrie von Risiken Neben den Wahrnehmungs- und Entscheidungsverzerrungen zeigt sich in Experimenten, dass Menschen Risiken und Unsicherheit asymmetrisch beurteilen - potenzielle Verluste wiegen regelmäßig stärker als potenzielle Gewinne - und zur Bewertung Referenzpunkte heranziehen, die den aktuellen Status quo oder eine Ausgangsituation in die Entscheidung einbeziehen. Die Grundüberlegung kann man anhand folgender Entscheidungssituationen nachvollziehen (Tversky und Kahneman 1981):  Situation 1 - Spieler haben die Wahl zwischen den folgenden Optionen: [A] ein sicherer Gewinn von 240 EUR. [B] ein Gewinn von 1.000 EUR mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 % oder ein Gewinn von 0 EUR mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 %. In Situation 1 wählten 84 % der Teilnehmer Option A - den sicheren Gewinn von 240 EUR gegenüber einem unsicheren Erwartungswert von 𝐸𝑉 𝑊 0,75 ⋅ 1000 0,25 ⋅ 0 250 und damit ein Hinweis auf die Risikoaversion der Teilnehmer.  Situation 2 - Spieler haben die Wahl zwischen den folgenden Optionen: [C] ein sicherer Verlust von -750 EUR [D] ein Verlust von -1.000 EUR mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 % oder ein Verlust von 0 EUR mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 %. In Situation 2 haben sich 87 % der Teilnehmer für Option D entschieden - es gibt offenbar eine Präferenz, einen riskanten Erwartungswert von 𝐸𝑉 𝑊 0,75 ⋅ 1000 0,25 ⋅ 0 750 einem sicheren Ereignis in gleicher Höhe vorzuziehen. Dieses Ergebnis ist nicht konsistent mit Risikoaversion, sondern beschreibt eine Verlustaversion: Bei möglichen Verlusten steigt die Risikoneigung an und ein unsicheres Ereignis wird einem sicheren Ereignis bei gleichem Erwartungswert vorgezogen - offenbar dominiert die Hoffnung, mit 25 % Wahrscheinlichkeit gar keinen Verlust zu erleiden. Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 116 Abbildung 3.10: Verlustaversion vs. Risikoaversion anhand der Wertfunktion. In ► Abbildung 3.10 ist die Grundüberlegung der Prospect Theory anhand einer Wertfunktion (in Analogie zur Nutzenfunktion) gezeigt. Sie beschreibt unter der Grundbeobachtung einer Verlustaversion (Loss Aversion), wie Menschen bei gegebenen Anfangsausstattungen (Referenzpunkten) Gewinne und Verluste bewerten. Kahneman und Tversky haben über zahlreiche Experimente den Verlauf der Wertfunktion 𝑣 als (3.17) 𝑣 𝑥 𝑥 𝑓ü𝑟 𝑥 0 𝜇 𝑥 𝑓ü𝑟 𝑥 0 mit Werten von 𝜔 0,88 und 𝜇 2,25 geschätzt - natürlich unterscheiden sich auch hier, ähnlich einer Nutzenfunktion, die Parameter und so die Präferenzen der Menschen. Allgemein wird, ausgehend von einem Referenzpunkt, ein möglicher Gewinn positiv bewertet, ein Verlust in gleicher Höhe aber nicht - entlang der gestrichelten Linie - gleich stark, sondern etwa 2,25-fach stärker negativ. Kommt eine Kundin in einen Kiosk, um ihren Lottogewinn vom vergangenen Wochenende einzulösen, und erhält 40 EUR, freut sie sich zunächst - wenn sie dann allerdings unmittelbar danach an ihrem Auto einen Strafzettel in Höhe von 40 EUR vorfindet, ist in Summe die Emotion und so die Bewertung der Gesamtsituation negativ - obwohl die absolute Höhe des Vermögens gleich geblieben ist. Um den negativen Nutzen des Strafzettels von 40 EUR zu kompensieren, wäre entsprechend (3.17) ein Lottogewinn von etwa 90 EUR notwendig gewesen. Die Bewertung von Gewinnen und Verlusten wird relativ zu einem Referenzpunkt vorgenommen, der die aktuelle Situation eines Kunden und Managers beschreibt. Die Verlustaversion erklärt indirekt den Status-quo-Bias: Menschen bevorzugen Situationen des Erhalts von Vermögen, der Reputation oder der aktuellen Tätigkeit und Position gegenüber einer riskan- Gewinne Wert Verluste -100 +100 + v v ~ - 2,25 v - - + + Verlustaversion Risikoaversion Referenzpunkt Begrenzte Rationalität und Behavioral Economics 117 ten Veränderungen weg von diesem Referenzpunkt, da selbst bei gleichen Wahrscheinlichkeiten positiver oder negativer Veränderungen mögliche Verluste einer veränderten Situation stärker bewertet werden als mögliche Gewinne. Dies gilt insbesondere auch für Kunden: Aufgrund eines Default-Effekt (Voreinstellungsüberzeugung) wird ein Produkt- oder Ausstattungsvariante präferiert, die bereits vom Unternehmen angeboten wird - tatsächlich fällt es Menschen schwer, Sonderausstattung nach einer Autoprobefahrt abzuwählen. Der Default- Effekt hat wesentlichen Einfluss auf die Auswahl eines Produktes und erhöht systematisch die Zahlungsbereitschaft der Kunden (Brown und Krishna 2004 sowie Johnson et al. 2012). Insbesondere auch staatliche Institutionen versuchen durch das Setzten von Default- Optionen (Standardvorgaben) mit entsprechender Positionierung oder Beschreibung von Produktalternativen den Kunden zu einer - aus wirtschaftspolitischer Perspektive bevorzugten - Entscheidung „anzustupsen“ (Nudging). Dies erfolgt durch symbolische Hinweise auf Lebensmitteln (Ampelsysteme) zur Unterstützung einer gesunden Lebensweise ebenso wie die Positionierung gesunder und ungesunder Lebensmittel in einer Kantine oder durch die automatisierte Voreinstellung (Widerspruchslösungen) zur Organspende oder betrieblicher Altersvorsorge, die aktiv abgewählt werden muss (Sunstein und Thaler 2008, Bruttel et al. 2014 und Dams et al. 2015). Framing und die Darstellung von Entscheidungssituationen Aus der Prospect Theory ergeben sich zahlreiche Implikationen für Geschäftsmodelle und Marketing-Strategien. Viele basieren darauf, dass durch Framing (die Beschreibung oder Anordnung sowie der Kontext eines Entscheidungsproblems) die Entscheidung beeinflusst werden kann. Entscheidungen von Menschen lassen sich zunächst maßgeblich durch die Darstellung und Anordnung (sowie den Wortlaut) einer Entscheidungssituation beeinflussen. Tversky und Kahneman (1981) haben dazu folgende Situation in zwei Varianten beschrieben: Stellen Sie sich vor, dass sich die USA auf den Ausbruch einer ungewöhnlichen asiatischen Krankheit vorbereiten, von der erwartet wird, dass 600 Personen daran sterben werden. Es wurden zwei alternative Programme entwickelt, die Krankheit zu bekämpfen. Nehmen Sie an, dass die Folgen der beiden Programme genau bekannt sind: Variante 1  Wenn Programm A umgesetzt wird, werden 200 Personen gerettet.  Wenn Programm B umgesetzt wird, besteht eine Wahrscheinlichkeit von einem Drittel, dass 600 Personen gerettet werden, und eine Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln, dass niemand gerettet wird. Variante 2  Wenn Programm C umgesetzt wird, werden 400 Personen sterben.  Wenn Programm D umgesetzt wird, besteht eine Wahrscheinlichkeit von einem Drittel, dass niemand sterben wird, und eine Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln, dass 600 Menschen sterben werden. Offensichtlich sind die Programme A und C sowie B und D identisch - allerdings hat in Variante 1 mit 72 % die Mehrheit Programm A gewählt, in Variante 2 aber nur 22 % das äquivalente Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 118 Programm C. Die Ursache liegt in positiven vs. negativen Framing. Menschen entscheiden zugunsten der positiv dargestellten sicheren Variante und gegen eine unsicher dargestellte negative Variante. Framing spielt auch für Kauf- und Nachfrageentscheidungen eine zentrale Rolle. In ► Abbildung 3.11 links sind in einem Experiment zwei Studentenapartments A und B positioniert, die bei Studierenden zu 50 % den Präferenzen entsprechen (Simonson und Tversky 1992) - A ist näher am Campus, hat aber eine höhere Miete, bei B ist es umgekehrt. Fügt man nun in ► Abbildung 3.11 rechts ein drittes Apartment C hinzu, dürfte sich nichts ändern: Apartment B dominiert Apartment C bei Kosten und Nähe zum Campus, so dass weiterhin je 50 % der Studierenden entsprechend ihrer Präferenzen A und B wählen müssten - C ist eine irrelevante Alternative. Abbildung 3.11: Framing von Studentenapartments. Tatsächlich nimmt auch niemand C - aber die Existenz von Apartment C beeinflusst die Entscheidung zwischen A und B: Durch die sehr gute Vergleichbarkeit von B und C gewinnt B an Attraktivität und die Nachfrage verteilt sich jetzt A: 30 % und B: 70 %. Dieser Effekt wird als Decoy-Effekt bezeichnet (Ariely und Wallsten 1995 sowie Ariely 2008): Eine irrelevante Entscheidungsoption, die asymmetrisch dominiert wird, beeinflusst die Präferenzen und das Nachfrageverhalten. Dieser Effekt ist umso stärker, je schwächer die ursprünglichen Präferenzen ausgeprägt sind, je größer die Unsicherheit über die Entscheidungssituation ist und je besser die Vergleichbarkeit der irrelevanten Option ist. Der Decoy-Effekt kann in unterschiedlichen Varianten in zahlreichen Geschäftsmodellen beobachtet werden. Aktuell entsteht bspw. ein neuer Markt für Elektrofahrräder. Potenzielle Kunden haben nur eine vage Idee betreffs relevanter Ausstattungsmerkmale (Batteriekapazität, Ladedauer, Gewicht, Reichweite etc.) und entsprechend schwach ausgeprägte Präferenzen. In Märkten dieser Art haben Kunden eine Tendenz, bei zwei angebotenen Fahrrädern - deren Unterschiede eben nicht eindeutig zu erkennen sind - das günstigere zu erwerben, wie in ► Abbildung 3.12 angenommen, A: 80 % und B: 20 %. Fügt man nun ein drittes, besser ausgestattetes, aber auch erheblich teureres Rad hinzu, würden bei vollständigen und konsis- Miete Entfernung vom Campus B A Entfernung vom Campus B A C Miete Begrenzte Rationalität und Behavioral Economics 119 tenten Präferenzen maximal 20 % der Kunden - nur die, die zuvor Rad B gewählt hatten - zu Rad C wechseln: ein Teil derjenigen, die eine hohe Zahlungsbereitschaft und hohes Qualitätsinteresse haben. Tatsächlich wechseln aber in Experimenten jetzt zahlreiche Kunden weg von Rad A hin zu B und C. Das bedeutet zum einen, dass die Präferenzen nicht stabil und robust gegen Veränderungen der Auswahlmöglichkeiten sind, zum anderen für den Fahrradhändler aber auch eine Erlössteigerung von ca. 40 %. Bike A 1.000 EUR Bike B 1.500 EUR Bike C 3.000 EUR Abbildung 3.12: Framing mit Fahrrädern. In ähnlicher Weise findet sich Framing auch bei Bechergrößen von Starbucks, Speichervarianten von Apple-Endgeräten oder beim Angebot an Weinen eines Winzers - immer wird mit einer teuersten, ggfs. irrelevanten Option, versucht, die Präferenzen zu verzerren, die Zahlungsbereitschaft zu erhöhen und die Entscheidungen zu beeinflussen. Auch Medien und Zeitschriften wenden Framing an. Der Economist hat 2006 die in ► Abbildung 3.13 dargestellten Produktoptionen und Preise angeboten - auf den ersten Blick erscheint es, als ob die digitale Variante kostenlos im Print- und Digital-Paket enthalten ist. Ariely (2008) hat in einem Experiment zunächst überprüft, wie groß die Nachfrage nach den drei Varianten ist, und bestätigt, dass niemand die Print-Variante alleine wählt. experimentelle Ergebnisse für Rad A und B Vorhersage bei Hinzufügen von Rad C experimentelle Ergebnisse bei Hinzufügen von Rad C Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 120 Abbildung 3.13: Preisstruktur und Angebote des Economist. Wenn man diese vermeintlich irrelevante Print-Variante jedoch entfernt, dann ist der einfache Vergleich zwischen dem Kombiprodukt Print und Digital einerseits und Digital alleine andererseits nicht mehr möglich. In der Folge verschieben sich die Nachfrageanteile drastisch. Durch das Hinzufügen einer vermeintlich irrelevanten Variante kann der Anteil der teuren Abos von 32 % auf 84 % gesteigert werden, hier gleichbedeutend Erlösanstieg von ca. 42 % bei Umstellung von zwei auf drei Varianten. Endowment-Effekt, Tassen, Aufzüge und IKEA Zahlreiche Geschäftsmodelle - Fitnessstudios, Streamingdienste, Softwarepakete oder Zeitungen - bieten sogenannte 30-Tage-kostenlos-Probeabonnements an. Die ökonomische Begründung hierfür ist nicht, dass der Kunde vom Produkt oder der Produktqualität überzeugt werden muss, sondern, dass durch den kostenlosen Zugang ein Endowment-Effekt (Besitzstandseffekt) ausgelöst wird, der die Zahlungsbereitschaft dauerhaft erhöht. Der Endowment-Effekt ist in zahlreichen Experimenten, unter anderem mit Kaffeetassen, nachgewiesen. Er beschreibt, dass die Wertschätzung von Gegenständen davon beeinflusst wird, ob eine Person den Gegenstand aktuell besitzt oder nicht, so dass die Zahlungsbereitschaft beeinflusst wird (Knetsch 1989, Kahneman et al. 1990 und 1991). In Experimenten wurden hier in einer Gruppe von Studierenden willkürlich Tassen an die Hälfte der Teilnehmer verteilt, die andere Hälfte der Gruppe erhielt keine Tassen. Werden die (unfreiwilligen) Besitzer der Tasse nach einer Weile befragt, zu welchem Preis sie die Tasse verkaufen würden, ergibt sich über verschiedene Experimente hinweg ein Mittelwert von etwa 6 USD - befragt man die tassenlosen Teilnehmer nach ihrer Zahlungsbereitschaft für eine der Tassen, ergeben sich im Mittel knapp 3 USD. Ermöglicht man zwischen den beiden Gruppen Käufe und Verkäufe, werden über alle Experimente hinweg nur etwa 15 % bis 20 % der Tassen entsprechend drei Versionen Print und Digital Print Digital zwei Versionen Produktvariante Preis Nachfrageanteil Nachfrageanteil Preis Begrenzte Rationalität und Behavioral Economics 121 der individuellen Zahlungs- und Verkaufsbereitschaft gehandelt - bei zufällig und gleichverteilten Zahlungs- und Verkaufsbereitschaften wäre aber zu erwarten, dass 50 % der Tassen durch Transaktionen ihren Besitzer wechseln (► Kapitel 1 zum Beispiel Wasserflaschenpark: dort wurden im Marktgleichgewicht 50 % der Wasserflaschen gehandelt). Sobald ein Teilnehmer einen nahezu beliebigen Gegenstand oder ein Produkt besitzt, steigt die Wertschätzung - derartige Experimente sind in der Folge mit Schokoladenstücken, Eintrittskarten, Lotterielosen, Stiften, Legofiguren, Papierwürfeln oder unbekannten Kontakten bei Facebook durchgeführt worden. Der zentrale Grund hierfür liegt wieder in der Verlustaversion, die durch eine zufällige Zuordnung eines Gegenstands erzeugt wird. Die Wertschätzung selbst lässt sich unter anderem durch folgende Faktoren steigern:  Zeit - mit zunehmendem Zeitraum, den ein Teilnehmer mit dem willkürlich zugeteilten Produkt verbringt, steigt die Wertschätzung unterproportional an (Strahilewitz und Loewenstein 1998).  Erlebnisse (Shared Experience) - wenn mit dem zugeteilten Produkt gemeinsame Erfahrungen gemacht werden (bspw. mit der Tasse eine Aufzugfahrt unternommen wird), steigt die Wertschätzung ebenfalls an (Kahneman et al. 1990).  IKEA-Effekt - wird ein Produkt zumindest teilweise vom Kunden selbst zusammengebaut, steigt die Wertschätzung. In Erwartung dieser gesteigerten Wertschätzung steigt die Zahlungsbereitschaft der Kunden bereits im Vorfeld, so dass de facto für selbstzusammengebaute Möbel höhere Preise verlangt werden können als vom Unternehmen zusammengebaute (Norton et al. 2012 und Mochon et al. 2012). Wie stark sich Präferenzen durch den Endowment-Effekt verzerren lassen, zeigt ein weiteres Experiment mit drei getrennten (aber jeweils repräsentativen) Gruppen an Studierenden. Die Teilnehmer in Gruppe 1 - als Vergleichs- und Referenzgruppe - dürfen frei zwischen einer Tasse oder Schokolade im gleichen Wert wählen. 59 % der Teilnehmer entscheiden sich für die Tasse, so dass hiermit eine Prognose für die Präferenzen auch der Gruppe 2 und 3 vorliegt. In Gruppe 2 erhalten alle Teilnehmer zunächst eine Tasse, in Gruppe 3 erhalten alle zunächst Schokolade (die nicht gegessen werden darf). Nach 90 Minuten wird den Teilnehmern der Gruppen 2 und 3 jeweils angeboten, ihre Tassen in Schokolade oder Schokolade in Tassen einzutauschen. 89 % in Gruppe 2 behalten die Tasse, 90 % in Gruppe 3 behalten die Schokolade, die ursprüngliche Verteilung der Präferenzen ist nicht stabil, sondern der ‚zugeordnete‘ Besitz von Kaffeetassen oder Schokolade verzerrt die Präferenzen so stark, dass nicht mehr zum präferierten Produkt gewechselt wird (Knetsch 1989 und List 2004). Gerade die Ausprägung gemeinsamer Erlebnisse - auch nur über einen kurzen Zeitraum - erklärt wesentlich, weshalb Autohändler Probefahrten ermöglichen, teure Lautsprecher ein Wochenende lang zu Hause ausprobiert werden dürfen oder warum Boutiquen das Zurücklegen von Kleidung anbieten - alleine die Gewissheit, dass ein Kleidungsstück auf die Käuferin wartet, erhöht die Kauf- und Zahlungsbereitschaft. In gleicher Weise bewerten Menschen aufgrund des Endowment-Effekts teilweise eigene Vermögensgegenstände - Wertpapiere, Wohneigentum, gebrauchte Autos - deutlich höher als potenzielle Käufer und halten zum einen zu lange an diesen fest, zum anderen können überhöhte Preisvorstellungen entstehen (Barberis und Thaler 2003 sowie Shleifer 2000). Umgekehrt wird der Endowment-Effekt selbst Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 122 durch häufige Markttransaktionen (jeder Marktteilnehmer besitzt ein Produkt nur kurz), durch Erfahrung der Käufer und Verkäufer und durch strategische Anreize für effizienten Handel reduziert (List 2003 und Tontrup 2017). Abbildung 3.14: Endowment-Effekt und Loss Aversion am Beispiel Streamingdienstleister. In ► Abbildung 3.14 ist der Effekt eines kostenlosen Probemonats bei Streamingdienstleistern wie AmazonPrime, Netflix, Maxdome oder Watchever zu sehen - alle bieten 2017 einen kostenlosen Probemonat, danach ist ein Basisabonnement für 7,99 EUR erhältlich. Unterstellt man, dass zunächst eine Zahlungsbereitschaft von bspw. 3,50 EUR pro Monat vorliegt, dann verschiebt sich durch den kostenlosen Probemonat der Referenzpunkt eines Kunden. Durch den kostenlosen Probemonat wird ein Endowment-Effekt erzeugt, der die Zahlungsbereitschaft erhöht. Um die Verlustangst zu kompensieren, sind die Kunden jetzt - entsprechend Formel (3.17) - bereit, etwa 8 EUR pro Monat zu zahlen. Ein Streaminganbieter verzichtet auf einmalige 3,50 EUR, um danach pro Jahr statt 12 ⋅ 3,50 𝐸𝑈𝑅 42 𝐸𝑈𝑅 einen Erlös von 11 ⋅ 7,99 87,89 𝐸𝑈𝑅 zu erzielen - mehr als eine Verdopplung des Umsatzes. Mit dem Endowment-Effekt sind zahlreiche Implikationen für Unternehmensorganisation und Strategie verbunden: Menschen halten zu stark und zu lange an (zufällig entstandenen oder vorgefundenen) Strategien und Organisationen fest und erschweren Veränderungsprozesse. Gerade der IKEA-Effekt bestärkt Manager darin, an einer selbst entwickelten Unternehmensstrategie festzuhalten: Unternehmen halten zu lange an Produktportfolios und Unternehmensbereichen fest und wechselseitig verstärken sich Effekte des Überoptimismus und der Bestätigungsverzerrung. Unternehmen beschäftigen sich tendenziell zu stark mit dem Bestandsstatt mit Neugeschäft und investieren zu viel in die Ausschöpfung vorhandener Zahlungsbereitschaft Wert -3,50 +3,50 + x ~ v - - + + + v +7,99 R‘ A B R Referenzpunkt verschoben durch kostenlosen Probemonat ursprüngliche Zahlungsbereitschaft neue Zahlungsbereitschaft Begrenzte Rationalität und Behavioral Economics 123 Technologien (Exploitation), anstatt in die Erforschung neuer Technologien (Exploration) (Garbuio et al. 2014, Levinthal und March 2003 und Teece 2007). Fairness und Altruismus Nutzenmaximierung eines Menschen beinhaltet implizit Egoismus. Wie stark der Egoismus und indirekt die Nutzenmaximierung eines Menschen ausgeprägt ist, kann experimentell anhand des Ultimatumspiels überprüft werden (Güth et al. 1982, Binmore et al. 1985, Güth und Tietz 1990, Kahneman et al. 1986 sowie Thaler 1988). Das Spiel basiert in seiner einfachsten Form auf folgenden Regeln:  Zwei Spieler - ein Vorschlagender und ein Antwortender, die simultan entscheiden und ihre Entscheidung bekanntgeben.  Geldbetrag - der Vorschlagende erhält einen Geldbetrag 𝑊 , bspw. 10 EUR, der beiden Spielern bekannt ist, zur Aufteilung zwischen beiden Spielern.  Entscheidung des Vorschlagenden - der Vorschlagende muss entscheiden, welchen Anteil 𝑣 des Geldbetrags er für sich behält und welchen Anteil 1 𝑣 er bereit ist, an den Antwortenden abzugeben.  Entscheidung des Antwortenden - der Antwortende muss entscheiden, welchen Anteil 𝑣 des Geldbetrags er mindestens für sich erwartet oder fordert.  Keine Kommunikation oder Verhandlung - das Spiel ist ein einmaliges Spiel, Informationen können nicht ausgetauscht werden und es können keine Vereinbarungen getroffen werden.  Verteilung des Geldes - beide Spieler erhalten die jeweiligen Beträge 𝑣 ⋅ 𝑊 und 1 𝑣 ⋅ 𝑊 , wenn das Angebot des Vorschlagenden mindestens der Forderung oder Erwartung des Antwortenden entspricht, 1 𝑣 𝑣 - in diesem Fall wird das Geld entsprechend dem Vorschlag verteilt, andernfalls erhält kein Spieler Geld. Abbildung 3.15: Ultimatumspiel. Angebot? Vorschlagender 👤 das Geld Antwortender Annehmen oder ablehnen? 👤 Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 124 Bei vollständiger Rationalität, Nutzenmaximierung und Egoismus sollte folgendes Ergebnis zu beobachten sein:  der antwortende Spieler erwartet die minimalmögliche Summe, 0,01 EUR, da er hiermit seinen Nutzen gegenüber 0 EUR erhöht und sicherstellt, dass er von jedem Angebot des Vorschlagenden profitiert, das darüber liegt,  der vorschlagende Spieler sollte diese Erwartung und das Verhalten des Antwortenden antizipieren und genau 0,01 EUR anbieten, den Rest des Betrages - bei 10 EUR somit 9,99 EUR für sich behalten und  die Aufteilung des Geldes kommt (immer) entsprechend dem Vorschlag zustande (Rubinstein 1982). In Laborexperimenten bestätig sich dieses Ergebnis nicht. Einerseits erwarten die antwortenden Spieler typischerweise einen Anteil, der deutlich über einer Minimalforderung liegt, andererseits bieten die vorschlagenden Spieler auch deutlich größere Anteile an. Die antwortenden Spieler erwarten Anteile von 20 % bis 50 %, die vorschlagenden Spieler bieten Anteile zwischen 30 % und 50 % an. In derartigen Spielsituationen findet keine vollständige Nutzenmaximierung statt, sondern Spieler erwarten Fairness, bieten diese aber auch an. Wie hoch die Neigung zu Fairness tatsächlich ist und ob eine Verteilung des Geldes zustande kommt, hängt unter anderem von der Anonymität oder der wechselseitigen Kenntnis der Spieler, Rollenverteilung und Rahmenbedingungen (Chef, Mitarbeiter und Geburtstagskuchen), potenziellen Wiederholungen des Spiels und der Möglichkeit zum Aufbau von Reputation im Zeitverlauf sowie der Höhe des Geldbetrags (10 EUR vs. 1 Mio. EUR) ab. Die Aufteilung eines Geldbetrags kann aber - neben Fairness - auch auf Altruismus beruhen. In diesem Fall beziehen Entscheider in einem dynamischen Kalkül den Nutzen anderer in ihre eigene Nutzenfunktion mit ein. Aus Managementperspektive ergeben sich mit Fairness und Altruismus insbesondere Implikationen für Verhandlungssituationen (Gehalts- oder Tarifverhandlungen, Unternehmenszusammenschlüsse oder langfristige Verträge wie Outsourcing) sowie beim Aufbau von Reputation in Organisationen oder gegenüber Wettbewerbern (vgl. auch ► Kapitel 9 zu Spieltheorie und ► Kapitel 10 zu strategischen Wettbewerb). 3.3 Zusammenfassung Entscheidungen und das Verhalten von Menschen werden von Risiko, Unsicherheit und begrenzter Rationalität beeinflusst. Entscheidungen bei unvollständiger Information - Risiko oder Unsicherheit - werden in Abhängigkeit möglicher Umweltzustände von Risikoaversion geprägt: Menschen bevorzugen bei gleichem Erwartungswert sichere gegenüber unsicheren Ergebnissen, lehnen faire Spiele ab und maximieren ihren Erwartungsnutzen. Der Grad an Risikoaversion variiert über Personengruppen und in Anbetracht der Entscheidungssituation. Zudem werden Wahrscheinlichkeiten entsprechend der Gewichtungsfunktion von Kahneman und Tversky verzerrt wahrgenommen. Durch Risikomanagement in Form von Zusammenfassung 125 Versicherung, Diversifikation, Informationsbeschaffung oder Signaling kann eine bessere Einschätzung der Risiken oder eine Risikoreduktion erreicht werden. Zahlreiche empirisch beobachtbare Entscheidungen weichen in systematischen und vorhersagbaren Mustern von maximierendem Verhalten ab. Die Ursache liegt in begrenzter Rationalität und schnellem Denken, die sich in der Anwendung von Heuristiken niederschlägt. Kunden wie Manager suchen hier vor dem Hintergrund begrenzter Information oder beschränkter kognitiver Fähigkeiten nach Gut-genug-Lösungen. Menschen entscheiden regelmäßig unter dem Einfluss von Wahrnehmungsverzerrungen und weisen eine starke Verlustaversion auf, gleichzeitig werden Entscheidungen von Endowment-Effekten (willkürlichen oder zufälligen Anfangsausstattungen) oder durch Framing (Anordnung von Optionen) geprägt und beeinflusst. Sowohl die Beobachtungen der Entscheidungen unter Risiko wie auch bei begrenzter Rationalität zeigen, dass Nutzenmaximierung auf Basis vollständiger Rationalität eher die Ausnahme als die Regel ist. Vielmehr können menschliche Entscheidungen in ökonomischen Situationen dann gut nachvollzogen werden, wenn alle drei Perspektiven - Rationalität, begrenzte Rationalität sowie Risiko und Unsicherheit - auf eine Entscheidungs- oder Wettbewerbssituation integriert eingenommen werden. Aus Managementperspektive ergeben sich vielfältige Implikationen: einerseits Möglichkeiten, auf Basis begrenzt rationalen Verhaltens der Kunden Geschäfts- und Preismodelle zu entwickeln, um den Gewinn zu steigern, andererseits muss immer eine Einschätzung der Risikoneigung und Rationalität der eigenen Mitarbeiter wie auch der Wettbewerber vorgenommen werden.  Kontrollfragen [1] Beschreiben Sie praktische Anwendungsfelder der Analyse von Entscheidungen unter Risiko und begrenzter Rationalität aus mikroökonomischer Perspektive sowie deren Grenzen, Vor- und Nachteile! [2] Ermitteln Sie den ‚risikooptimalen Ticketpreis‘ auf Basis einer Risikoprämie für einen potenziellen Schwarzfahrer mit einer Risikoaversion 𝜔 0,8 und einem Vermögen von EUR 200, einer Strafgebühr von EUR 150 und einer Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, von 3 %. Wie verändert sich der Ticketpreis in Abhängigkeit von Vermögen, Risikoaversion und Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden? [3] Career-Katja und Poker-Pete verdienen aktuell EUR 75.000 fix. Beide erhalten ein Angebot, in den Vertrieb zu wechseln, dort wird das Gehalt allerdings eine variable Komponente in Höhe von EUR 40.000 beinhalten, die nur mit 40 % Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann:  Wahrscheinlichkeit Einkommen 0,60 EUR 60.000 0,40 EUR 100.000  Wie hoch ist der Erwartungswert des Einkommens des neuen Jobs? Katja ist stark risikoavers, ihre Nutzenfunktion ist gegeben durch 𝑈 𝑊 , - wird sie den neuen Job Entscheidungen bei Risiko und Behavioral Economics 126 annehmen? Pete ist weniger risikoavers, seine Nutzenfunktion ist gegeben durch 𝑈 𝑊 , - wird er den neuen Job annehmen? [4] Ein Teilnehmer bei „Wer wird Millionär“ hat eine Nutzenfunktion 𝑈 𝑊 𝑊 , . Er steht bei 125.000 EUR, kann zurückfallen auf 16.000 EUR und hat noch den 50: 50-Joker. Bei vier verbleibenden Antwortalternativen hat er keine Ahnung betreffend der 500.000 EUR Frage - was wird er tun? Wie hoch ist hier die Risikoprämie, was sagt sie in diesem Fall aus? Sollte der Kandidat den 50: 50-Joker ziehen? Welchen Wert hat der Joker für ihn? Zeichnen Sie beide Fälle und beschreiben Sie die Unterschiede. [5] Definieren Sie Unsicherheit und Risiko! Beschreiben Sie das Phänomen Risikoaversion. Wie lässt sich Risikoaversion messen? Was versteht man unter einer sogenannten Risikoprämie? [6] Wo liegen die wesentlichen Unterschiede zwischen traditioneller Mikroökonomie und Behavioral Economics? Erläutern Sie die Grundüberlegungen von begrenzter Rationalität! [7] Was ist eine Heuristik, wann kommt sie zum Einsatz? Beschreiben Sie drei typische Wahrnehmungsverzerrungen! [8] Wie sehen typische Ergebnisse des Ultimatumspiels aus? Welche Rolle spielt Fairness im einmaligen und im wiederholten Ultimatumspiel? [9] Was ist Framing? Erläutern Sie drei typische Konsumgüterbereiche, in denen Hersteller oder Händler diesen Effekt nutzen, um den Gewinn zu steigern! Was beschreibt der Endowment-Effekt? Erläutern Sie drei typische Konsumgüterbereiche, in denen Hersteller oder Händler diesen Effekt nutzen! [10] Erläutern Sie die Grundaussage der Prospect-Theorie von Kahnemann und Tversky und geben Sie zwei Beispiele!  Literatur Anderson, L.R. und Mellor, J., Are risk preferences stable? Comparing an experimental measure with a validated survey-based measure, Journal of Risk and Uncertainty, 2009, 39, 2, 137-160. Ariely, D. und Wallsten, T.S., Seeking subjective dominance in multidimensional space: an explanation of the asymmetric dominance effect, Organizational Behavior and Human Decision Processes, 1995, 63, 3, 223-232. Ariely, D., Predictably irrational: the hidden forces that shape our decisions, New York 2008. Armstrong, M. und Huck, S., Behavioral economics as applied to firms: a primer, CESifo Working Paper Series, 2010, No. 2937. 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Zur gleichen Zeit entwarfen auch Albert Hammel und Knut Johansen in Dänemark, Magnus Volk in Großbritannien, Siegfried Marcus in Österreich und Léon Serpollet in Frankreich motorbetriebene Fahrzeuge - eine Häufung ähnlicher Innovationen begründete die weltweite Automobilindustrie. Das Unternehmen von Carl Benz schloss sich - nahe an der Insolvenz und auf Druck der Deutschen Bank - 1926 mit dem Unternehmen des Konkurrenten Gottlieb Daimler zusammen. Daimler produzierte mit dem Konstrukteur Wilhelm Maybach seit 1889 einen Stahlradwagen und verkaufte diesen seit 1901 unter dem Markennamen Mercedes. Léon Serpollet wechselte 1889 aus der eigenen Werkstatt in die des Fahrradherstellers Armand Peugeot. Daimler-Benz, zwischenzeitlich als DaimlerChrysler und jetzt als Daimler, und Peugeot gehören, nach mehr als 100 Jahren, noch heute zu den führenden Herstellern von Automobilen. Daimler hat 2016 einen Gewinn von 8,8 Mrd. EUR erzielt und beschäftigt weltweit 282.488 Menschen - über den Werdegang von Hammel, Johansen, Volk und Marcus ist weiter nichts bekannt. Geschichte berichtet meist von Gewinnern (Münter 1999). Wachstum und Wohlstand einer Volkswirtschaft, von Nationen, Kulturen und Gesellschaften, werden begleitet und geprägt von der Entstehung von Unternehmen, der Entwicklung und dem Niedergang unterschiedlicher Industrien. Doch der Wandel einer Industrie ist nur das Abbild des Zusammenspiels von Kunden und Unternehmen, vor allem aber des Wettbewerbs der Unternehmen um die Gunst der Kunden und fortwährender Innovationen von Produkten, Prozessen oder Geschäftsmodellen. Wettbewerb ist ein komplexer dynamischer Prozess. Die Dynamik des Prozesses beruht auf der strategischen Interaktion von Unternehmen im Zeitablauf, die einerseits immer wieder neue Chancen ergreifen und andererseits immer wieder aufs Neue mit Wettbewerbern konfrontiert werden, die in irgendeiner Weise Wettbewerbsvorteile besitzen. Unternehmen versuchen - getrieben von der Gefahr, Verluste zu erleiden und ihrer Existenz beraubt zu werden - Gewinne zu erzielen, um ihr Überleben zu sichern. Durch den Wettbewerb zwischen Unternehmen entstehen immer wieder neue Marktstrukturen, in denen sich die veränderten Wettbewerbspositionen der Unternehmen im Zeitablauf widerspiegeln. Geprägt wird der langfristige Wettbewerb von Innovationen, die teilweise in Folge von Forschung und Entwicklung innerhalb einer Industrie zustande kommen, teils aber auch in anderen Industrien entstehen und dann adaptiert werden, oder durch Start-ups hervorgebracht werden. So entstehen aktuell - bei Unternehmen wie Google, Tesla oder in wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen - Technologien für autonomes Fahren, Elektroantriebe, Vernetzung von Fahrzeugen oder Geschäftsmodelle wie Car Sharing oder Ride Hailing, so dass auch die Existenz etablierter Unternehmen wie Daimler immer wieder durch mögliche disruptive Innovationen bedroht wird. Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 132  Lernziele Dieses Kapitel beschäftigt sich mit  Existenz und den Zielen eines Unternehmens, um ein grundlegendes Verständnis zu entwickeln, wie und in welchen Dimensionen strategische Entscheidungen von Managern getroffen werden,  Wettbewerbsanalyse anhand von Structure-Conduct-Performance- und Five-Forces- Framework zum Zusammenhang von Marktstruktur, Strategie und Gewinn,  Market-based View und Resourced-based View zur Erklärung von Wettbewerbsvorteilen und Gewinn,  dem langfristigen Zusammenspiel und Entwicklungsmustern von Innovationen, Marktstruktur und Wettbewerb in technologischen Regimes. 4.1 Unternehmen, Unternehmensziele und Strategien Die Entstehung eines Unternehmens und der Markteintritt basiert entweder auf der Kombination von neuem Wissen und Gewinnstreben - oft entstehen so neue Märkte oder Industrien wie im Fall von Daimler-Benz - oder auf dem Erkennen von Gewinnmöglichkeiten in bestehenden Märkten oder Industrien, wie mit dem Eintritt von Google 1998 in die damals bereits sechs Jahren bestehende Suchmaschinenindustrie. Das allgemein verfügbare Wissen einer Gesellschaft zu einem Zeitpunkt bestimmt die Entstehung von Märkten, Unternehmen und Industrien. Ursächlich für die Entstehung von neuem Wissen, das schließlich in neuen Produkten, neuen Märkten und neuen Unternehmen verkörpert wird, ist das Streben von Individuen nach Erkenntnis und die Unzufriedenheit mit bestehenden Erklärungen und Problemlösungen - sei es in F&E-Abteilungen von Unternehmen, in Garagen in Kalifornien oder an Hochschulen und Universitäten. Neues Wissen wird dann in Unternehmen umgesetzt, wenn bei gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen Unternehmertum (Entrepreneurship) möglich ist und unternehmerisches Handeln die Aneignung von Gewinnen (Appropriierbarkeit) erlaubt (Schumpeter 1911, Kirzner 1973 und Audretsch 1995). Theorie der Unternehmung, Transaktionskosten und die Grenzen eines Unternehmens Die Theorie der Unternehmung (Theory of the Firm) umfasst wirtschaftswissenschaftliche, (organisations-)soziologische und verhaltenswissenschaftliche Modelle zur Entstehung, Strategie und Verhalten eines Unternehmens, um folgende Fragestellungen zu beantworten:  Existenz - warum gibt es überhaupt Unternehmen, warum gründen Menschen ein Unternehmen, was ist ein Unternehmen, was sind Alternativen zu einem Unternehmen, wie unterschiedlich sind Unternehmen?  Grenzen - wo verlaufen die Grenzen eines Unternehmens in vertikaler (bspw. betreffend der Wertschöpfungskette) und horizontaler (bspw. betreffend der Unternehmensgröße) Dimension und wie sind diese begründet? Unternehmen, Unternehmensziele und Strategien 133  Organisation - wie sind Unternehmen organisiert, warum gibt es Hierarchien und wie werden Entscheidungen getroffen und umgesetzt, wie wirkt sich in nichteigentümergeführten Unternehmen die Trennung von Eigentum und Management aus?  Strategie - wie bestimmen Unternehmen ihre Strategien, unterscheiden sich diese innerhalb einer Industrie und wenn ja, weshalb? Wie interagiert ein Unternehmen mit Umwelt und Wettbewerbern? Damit verbunden sind Fragen, ob, wie und weshalb sich Start-ups von eigentümergeführten Mittelständlern oder internationalen Aktiengesellschaften mit angestellten Managern unterscheiden, wie sich diese Unterschiede in Finanzierung, Strategie oder Unternehmenserfolg niederschlagen und ob kleine Start-ups systematische Vorteile bei Innovationen gegenüber großen Unternehmen haben. Unternehmen lassen sich in zwei Dimensionen erkennen:  Unternehmen als Organisation - ein Unternehmen ist eine Gruppe von Eigentümern, Managern und Mitarbeitern (i.e., Arbeit) kombiniert mit Maschinen, Finanzanlagen, Infrastruktur, Rechten und vor allem Wissen (i.e., Kapital), die so organisiert werden, dass sie Produkte oder Dienstleistungen herstellen können (i.e., Produktion). Unternehmen sind Organisationen in Form von langfristigen Verträgen mit Arbeit und Kapital (i.e., Managern und Mitarbeitern einerseits und Anteilseignern und Kreditgebern andererseits).  Unternehmen als Alternative zum Markt - ein Unternehmen integriert Transaktionen (Funktionen, Tätigkeiten, Bereiche etc.), die alternativ auch im Markt oder über Zulieferer und unternehmensübergreifende Partnerschaften durchführbar wären, da die Koordination unternehmensintern effektiver und/ oder kostengünstiger erfolgen kann. Existenz und Umfang eines Unternehmens sind eine Alternative zur Abbildung von Transaktionen im Markt. Die dauerhafte Existenz eines Unternehmens im Wettbewerb ist nur möglich, wenn das Unternehmen Produkte oder Dienstleistungen herstellen kann, die nicht in alternativen Konstellationen - durch eine Behörde, durch einen Privathaushalt, durch eine beliebige Ansammlung von Menschen in der U-Bahn oder durch einen Sportverein - besser oder kostengünstiger produziert werden können. Die Vorteilhaftigkeit und die Grenzen eines Unternehmens gegenüber anderen Konstellationen ergeben sich daher in einer Kombination aus:  Effizienzvorteilen aus Größe oder Umfang des Unternehmens, insbesondere kostenseitig auf Basis von Economies of Scale oder Scope, aus Arbeitsteilung oder Spezialisierung oder aufgrund von Lernkurveneffekten (weiterführend ► Kapitel 6) - in allen Fällen nehmen die Durchschnittskosten (bspw. Stückkosten) eines Unternehmens mit zunehmender Größe ab.  Transaktionskostenvorteilen in Form geringerer unternehmensinterner Koordinations- oder Überwachungskosten gegenüber alternativer Nutzung des Marktes - Tätigkeiten werden im Unternehmen abgebildet, statt am Markt zugekauft.  Unternehmensspezifischen Fähigkeiten aufgrund von Ressourcen, bspw. in Form von Wissen, Mitarbeitern, Technologie, Patenten und Strategien. Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 134 Zentrale Bedeutung kommt den Transaktionskosten - Kosten, die mit der Beschaffung, Koordination und Steuerung von Informationen und Ressourcen im Rahmen von Marktbeziehungen, Produktion oder Dienstleistung entstehen - zu, die entweder im Markt oder in Unternehmen entstehen. Wenn Transaktionskosten einer regelmäßig benötigten Ressource innerhalb des Unternehmens geringer sind als über den Markt, wird eine Transaktion (bspw. die Tätigkeit eines Mitarbeiters in der Marketingabteilung) internalisiert, im Unternehmen abgebildet und eine Stelle geschaffen, sonst wird eine Transaktion über den Markt abwickelt (bei einem Zulieferer wie einer Marketingagentur zugekauft). Abbildung 4.1: Transaktionen im Markt vs. Transaktionen in Unternehmen. In ► Abbildung 4.1 sind Transaktionen im Markt (zwischen Individuen) und innerhalb von Unternehmen gegenübergestellt. Je höher die strategische Bedeutung und Regelmäßigkeit einer Transaktion, desto stärker sind die Anreize, sie in ein Unternehmen zu bündeln oder zu kapseln. Innerhalb des Unternehmens finden Transaktionen dann auf Basis von Organisation und Hierarchie statt und ersetzen Suchkosten und Verhandlungen im Markt. Unternehmen wachsen, je besser und stabiler Transaktionen integrierbar sind. Die Transaktionskosten umfassen alle Kosten, die mit der Anbahnung, dem Abschluss und der Durchführung der Transaktionen und Verträge verbunden sind. Dies sind vor Vertragsabschluss Kosten für Informationsbeschaffung und Vertragsverhandlungen sowie nach Vertragsabschluss für Koordination, Überwachung und Kontrolle der Dienstleistung und der möglichen Risiken aus dem Vertrag (Coase 1937, Williamson 1975, Foss 2003 sowie Hart und Holmstrom 2010). Deutlich wird dies bei Make or Buy und Outsourcing-Entscheidungen - von strategisch irrelevanten Bereichen wie Kantinenbetrieb, Gebäudemanagement oder Lohn- und Gehaltsabrechnung bis hin zu strategisch wesentlichen Bereichen wie Zahlungsverkehrs- und Wertpapierabwicklung bei Banken, Betrieb von IT-Plattformen oder Software. Der Umfang der Transaktionskosten bestimmt dann mit, welche Tätigkeiten im Unternehmen selbst durchgeführt werden. Aus Managementperspektive ist neben der Höhe der Transaktionskosten zentral, die Qualität der am Markt verfügbaren Dienstleistungen und deren strategische Bedeutung zu beurteilen, insbesondere vor dem Hintergrund der Abhängigkeit von Dienstleistern im Zusammenhang mit eigenen Kernkompetenzen. So sorgt die Fremdvergabe des Kantinenbetriebs vielleicht für kurzfristigen Unmut bei den Mitarbeitern, das Outsourcing der 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 👤 Unternehmen, Unternehmensziele und Strategien 135 IT eines Telekommunikationsanbieters kann aber mitentscheidend über Überlebensfähigkeit und Gewinn sein. Unternehmensziele Unternehmen können sich bisweilen ihre Ziele frei definieren: „Marktführer“, „höchste Kundenzufriedenheit“, „Wachstum in Asien“ oder auch „beste Unternehmenskultur“. Aus ökonomischer Perspektive sind diese Ziele - wenn überhaupt - Mittel zum Zweck. Unternehmen können dauerhaft nur existieren, wenn Strategien auf das Ziel der Gewinnerzielung ausgerichtet sind. Aus mikroökonomischem Blickwinkel wird daher die  Überlebensfähigkeit eines Unternehmens und dessen Profitabilität  in Abhängigkeit vom Wettbewerbsumfeld (Market-based View)  auf Basis der Ressourcen und Fähigkeiten eines Unternehmens (Resource-based View)  und dessen Innovations- und Entwicklungsfähigkeit betrachtet. Die Überlebensfähigkeit eines Unternehmens ist insbesondere dann gesichert, wenn dauerhaft nicht negative ökonomische Gewinne erzielt werden und die Eigenkapitalgeber eine, ihren Erwartungen entsprechende, Rendite auf das eingesetzte Kapital erhalten. Aus statischer Perspektive - und ohne Berücksichtigung von Rechnungslegungsvorschriften, Steuern oder Bilanzeffekten - ergeben sich Gewinne 𝜋 eines Unternehmens in jedem Zeitpunkt aus der Differenz von Erlösen 𝑅 abzüglich der Gesamtkosten 𝑇𝐶 als (4.1) 𝜋 𝑅 𝑇𝐶 . Die Erlöse 𝑅 entsprechen dem Preis 𝑝 multipliziert mit der Produktionsmenge 𝑞 , die Gesamtkosten 𝑇𝐶 fassen alle Kosten des Unternehmens für Arbeit und Kapital zusammen (vgl. weiterführend ► Kapitel 6). Insbesondere sind in den Gesamtkosten aus ökonomischer Perspektive auch die Eigenkapitalkosten enthalten, welche die Renditeerwartung der Eigentümer (bei kapitalmarktorientierten oder -notierten Unternehmen in Form von Dividenden) widerspiegeln: betriebswirtschaftlicher Gewinn (vor Opportunitätskosten in Form einer Ausschüttung an die Eigenkapitalgeber) weicht deshalb von ökonomischem Gewinn ab. Langfristig und in dynamischer Sicht sind aus Eigentümerperspektive der Erhalt des Unternehmens zur regelmäßigen Erzielung von Gewinnen und die Maximierung des Unternehmenswertes das übergeordnete Ziel. Der Unternehmenswert 𝑉 entspricht der Summe aller diskontierten künftigen Gewinne 𝜋 (4.2) 𝑉 ∑ 𝜋 . . . . . Mit zunehmender zeitlicher Entfernung nimmt der diskontierte Beitrag der Gewinne zum aktuellen Unternehmenswert ab. Daraus lässt sich als Faustregel einfach ableiten, dass bei konstanter Gewinnerwartung, 𝜋 𝜋 ⋯ 𝜋 , in der Zukunft und bei gleichbleibendem Diskontierungsfaktor, 𝑟 𝑟 ⋯ 𝑟 , der Unternehmenswert (4.2) auf Basis einer unendlichen Reihe zu (4.3) 𝑉 𝜋 . . . . Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 136 umformuliert werden kann. Der Diskontierungsfaktor 𝑟 der künftigen Gewinne (4.4) 𝑟 ⋅ 𝑟 ⋅ 𝑟 𝑊𝐴𝐶𝐶 für jeden Zeitpunkt 𝑡 ergibt sich aus den durchschnittlichen Fremdkapitalkosten 𝑟 (bspw. aufgrund der Zinssätze von Krediten und Anleihen) und den Eigenkapitalkosten 𝑟 gewichtet mit den jeweiligen Anteilen des Eigenkapitals 𝐸𝐾 und des Fremdkapitals 𝐹𝐾 am Gesamtkapital 𝐾 𝐸𝐾 𝐹𝐾 eines Unternehmens. Die Eigenkapitalkosten 𝑟 ergeben sich als Opportunitätskoten aus der Renditeerwartungen der Eigenkapitalgeber auf Basis alternativ möglicher Investitionen (bspw. in andere Unternehmen). Der Diskontierungsfaktor entspricht dem WACC (Weighted Average Cost of Capital), der unternehmensspezifisch bestimmt werden kann. Ein Unternehmen erzielt aus dieser Perspektive einen positiven ökonomischen Gewinn (Economic Profit), wenn die Rentabilität des investierten Kapitals (Return on Invested Capital) über den gewichteten durchschnittlichen Kapitalkosten (WACC) liegt. Die gewichteten Eigen- und Fremdkapitalkosten lagen in Deutschland 2015 bei ca. 9,6 % (mit industriespezifischen Unterschieden und in Abhängigkeit der Finanzierungsstruktur des Unternehmens, KPMG 2016), so dass ein Unternehmen unter der Annahme konstanter Gewinne in Höhe von 100 Mio. EUR (in Form eines Free Cashflow) dann entsprechend (4.2) und (4.4) mit (4.5) 𝑉 , , . . , . . , , . . , . . 100 91,241 . . 15,988 . . 0 1.041,667 einen indikativen Unternehmenswert von 1,041 Mrd. EUR hat - oder einfacher über (4.3) als 𝑉 100/ 0,096 1.041,667 . Liegt der tatsächliche Unternehmenswert (bspw. gemessen durch Marktkapitalisierung an der Börse) darüber, dann liegen offenbar am Kapitalmarkt steigende Gewinnerwartungen vor, et vice versa. Steigende Gewinnerwartungen oder fallende Kapitalkosten erhöhen den Unternehmenswert und perspektivisch den Aktienkurs eines kapitalmarktnotierten Unternehmens. Aus langfristiger Perspektive sind alle Managemententscheidungen auf die Steigerung des Unternehmenswertes ausgerichtet - in Unternehmen entstehen so Entscheidungskonflikte über die Gewichtung kurz- und langfristiger Ziele, insbesondere weil angestellte Manager kurzfristige Ziele im Rahmen ihrer Bonusregelungen verfolgen, Eigentümer aber alleine am langfristigen Unternehmenswert interessiert sind. Gewinnmaximierung und Überlebensfähigkeit Zur analytischen Vereinfachung wird unterstellt, dass Unternehmen kurzfristig Gewinne und langfristig den Unternehmenswert maximieren - so kann sehr einfach ein mathematisches Instrumentarium zur (auch im Wortsinne mathematischen) Ableitung einer bestmöglichen Strategie herangezogen werden. Tatsächlich muss ein Unternehmen dazu vollständige Informationen über alle denkbaren Strategien sowie perfekte Voraussicht besitzen, vollständig rational eine Strategie auswählen und diese auch präzise umsetzen können. Analog zu dieser Argumentation wird das Verhalten der Unternehmen interpretiert, „als ob“ sie den Gewinn maximieren: Es spielt auf kurze Sicht keine Rolle, ob alle Unternehmen ex ante tatsäch- Unternehmen, Unternehmensziele und Strategien 137 lich den Gewinn maximieren, denn langfristig bleiben nur solche Verhaltensweisen und Unternehmen überlebensfähig, die tatsächlich optimale Strategien entwickeln und sich an veränderte Wettbewerbs- und Umweltbedingungen anpassen und schließlich ex post gewinnmaximierendes Verhalten aufweisen. Hierfür gibt es empirisch keine eindeutige Bestätigung, zudem können Unternehmen zumindest temporär andere Ziele priorisieren (Marktanteile, Corporate Social Responsibility, Empire-Building durch Unternehmenszusammenschlüsse, Technologieführerschaft und einige mehr). Gegen die Hypothese der Gewinnmaximierung selbst - ob in der absoluten oder abgeschwächten „als ob“-Version - werden zahlreiche empirische Beobachtungen und theoretische Überlegungen angeführt. Für das Überleben eines Unternehmens sind Gewinne notwendig, nicht aber Gewinnmaximierung. Allerdings sind Gewinne nicht hinreichend für das Überleben eines Unternehmens: Beobachten strategische Investoren oder Finanzinvestoren, dass ein Unternehmen sein Gewinnpotenzial nicht ausschöpft, kann es zu einer feindlichen Unternehmensübernahme (Hostile Takeover) kommen. Hier werden Eigentümer und Management des Unternehmens ersetzt, um eine Steigerung des Gewinns und Unternehmenswertes zu erreichen - zumindest der Versuch der Gewinnmaximierung kann also die Chancen auf Eigenständigkeit eines Unternehmens verstärken. Unternehmensstrategien In der wissenschaftlichen Diskussion haben sich drei - nicht widerspruchsfreie und ergänzende - Perspektiven auf Zielsetzungen und Strategien von Unternehmen herausgebildet (Alchian 1950, Alchian und Demsetz 1972, Donaldson 1990, Grant 1996, Nelson und Winter 1982, Rumelt et al. 1991 und Hart 1995):  Industrieökonomische Perspektive und strategisches Management - Unternehmensziel ist es, den Gewinn (kurzfristig) und den Unternehmenswert (langfristig) zu maximieren. Der Fokus der Untersuchungen im Rahmen von Industrieökonomie und strategischem Management liegt auf der Ableitung oder Begründung optimaler Entscheidungen, um Orientierungspunkte und Leitplanken für Unternehmensentwicklung und Strategieauswahl zu geben - Strategien werden rational abgeleitet und zielen auf Gewinnmaximierung.  Verhaltenswissenschaftliche und evolutorische Perspektive - Unternehmen sind komplexe, sozioökonomische Organisationen, innerhalb derer unterschiedliche und auch widersprüchliche Zielsetzungen (bspw. zwischen Managern oder als Silo-Denken zwischen Abteilungen) existieren. Der Fokus der Analysen liegt auf tatsächlich beobachtetem Verhalten: Manager agieren begrenzt rational und betreiben Satisficing, Entscheidungen basieren pfadabhängig auf bisherigen Entscheidungen, innerhalb des Unternehmens wird kontrovers über Zielsetzungen verhandelt - Strategie basiert auf Routinen und wird von Zufällen beeinflusst.  Corporate-Governance-Perspektive - zahlreiche Unternehmen bestehen aus Eigentümern, Managern und Mitarbeitern. Mit diesen getrennten Rollen gehen Interessen- und Zielkonflikte einher. Es kann insbesondere sein, dass Manager - statt den Gewinn oder Unternehmenswert zu maximieren - mit diskretionärem Handlungsspielraum ihren Status quo und ihre Budgets maximieren, ohne dass dies von Eigentümern beobachtet oder Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 138 sanktioniert werden kann. Der Fokus der Corporate-Governance-Forschung (zu Regeln und Grundsätzen der Unternehmensführung auf Basis einer Unternehmensverfassung) liegt auf diesen möglichen Interessenkonflikten infolge der Trennung von Management und Eigentümern in kapitalmarktorientierten Unternehmen - Strategie wird von Organisationsstruktur, Hierarchien und Entscheidungsmodellen mitbestimmt. Zusammengenommen ist infrage zu stellen, ob Unternehmen tatsächlich die Zielsetzung verfolgen, den Gewinn zu maximieren (oder andere Größen wie Marktanteil des Unternehmens oder den Status quo und das Gehalt der Manager) und ob ihnen dies generell möglich ist, insbesondere ob alle notwendigen Informationen vorliegen und diese auch für optimale Entscheidungen verwendet werden. In der Regel wird man in Industrien über die Unternehmen hinweg eine Vielfalt an Strategien beobachten können, die zumindest kurzfristig evolutorisch koexistieren, ohne jeweils gewinnmaximierend zu sein (Jovanovic 1982, Malerba und Orsenigo 1996 sowie Münter 1999). Die Wettbewerbsintensität bestimmt dann darüber, ob und wie schnell nicht optimale Strategien aussortiert werden: „If one thinks within the frame of evolutionary theory, it is nonsense to presume that a firm can calculate an actual ‘best’ strategy. […] There are certain characteristics of a firm's strategy, and of its associated structure, that management can have confidence will enhance the chances that it will develop the capabilities it needs to succeed. […] there is a lot of room in between, where a firm (or its management) simply has to lay its bets knowing that it does not know how they will turn out. Thus diversity of firms is just what one would expect under evolutionary theory. It is virtually inevitable that firms will choose somewhat different strategies […]. Inevitably firms will pursue somewhat different paths. Some will prove profitable, given what other firms are doing and the way markets evolve, others not. Firms that systematically lose money will have to change their strategy and structure and develop new core capabilities, or operate the ones they have more effectively, or drop out of the contest.” (Nelson 1991, S. 69). 4.2 Wettbewerbsvorteile, Marktstruktur und unternehmensspezifische Fähigkeiten Der dauerhafte Erfolg von Unternehmen basiert auf einer Kombination der richtigen Strategie und dem Ausnutzen von unternehmens- oder industriespezifischen Wettbewerbsvorteilen. Temporäre oder dauerhafte Wettbewerbsvorteile schlagen sich dabei in relativ höhere Gewinne eines Unternehmens nieder, weil das Unternehmen entweder  höhere Preise als die Wettbewerber aufgrund höherer Zahlungsbereitschaft der Kunden, Qualität der Produkte oder Produktdifferenzierung durchsetzen kann,  geringere Kosten auf Basis von Economies of Scale, Economies of Scope oder kostengünstigerem Zugang zu Arbeits- und Kapitalmarkt hat, oder aufgrund von  Positionierung im Wettbewerbsumfeld oder unternehmensspezifischen Fähigkeiten nicht angreifbar ist. Wettbewerbsvorteile, Marktstruktur und unternehmensspezifische Fähigkeiten 139 Unternehmen wenden Strategien an, um auf Basis dieser Wettbewerbsvorteile ihre jeweiligen Ziele zu erreichen. Strategie kann allgemein beschrieben werden als  die langfristige Ausrichtung eines Unternehmens und die Leitplanken aller Entscheidungen und Stoßrichtung aller Aktivitäten,  unter Berücksichtigung der Marktstruktur und möglicher Strategien aller Wettbewerber,  um Wettbewerbsvorteile auf Basis und durch Gestaltung der unternehmensspezifischen Fähigkeiten in einem dynamischen Wettbewerbsumfeld auszunutzen oder zu realisieren  mit dem übergeordneten Ziel, robuste Profitabilität und die Überlebensfähigkeit des Unternehmens zu sichern. Strategie stellt immer eine Hypothese dar, die sich in künftiger Entwicklung als richtig oder falsch herausstellt (Porter 1996, Rumelt und Lamb 1997 sowie Rumelt 2011). Auf welcher Basis Unternehmen ihre heterogenen Strategien bestimmen, entwickeln und anwenden, wie die Wettbewerbsvorteile begründet sind und weshalb Gewinne erzielt werden, kann aus zwei - sich wiederum ergänzenden - Perspektiven erklärt werden: Positionierung im Wettbewerb und unternehmensspezifische Fähigkeiten.  Market-based View (marktorientierter Strategieansatz) - der Erfolg eines Unternehmens ist maßgeblich durch die richtige Positionierung innerhalb der Marktstruktur, das strategische Verhalten des Unternehmens und die Attraktivität des Marktes geprägt. Wettbewerbsvorteile ergeben sich daraus, „im richtigen Markt“ zu sein.  Resource-based View (ressourcenorientierter Strategieansatz) - der Erfolg eines Unternehmens ist maßgeblich durch die unternehmensspezifischen Fähigkeiten, die vorhandenen Kernkompetenzen sowie deren Weiterentwicklung geprägt. Wettbewerbsvorteile ergeben sich daraus, „die richtigen Fähigkeiten“ zu besitzen. Market-based View als Erklärung für Wettbewerbsvorteile Wettbewerbsvorteile können durch das Wettbewerbsumfeld unterstützt werden. Im Marketbased View adaptieren Unternehmen Marktchancen, die sie aufgrund der Markt- und Wettbewerbsanalyse erkannt haben. In der Konsequenz existiert ein Unternehmen als Abbildung einer Marktchance und positioniert sich in einem attraktiven Markt oder Marktsegment. Die Gewinne selbst sind wesentlich durch das Wettbewerbsumfeld und die Attraktivität des Marktes bedingt, bspw. eine generell hohe Zahlungsbereitschaft bei geringer Preiselastizität der Nachfrage oder aufgrund vorhandener Trends und Marktwachstum, und Markteintritte neuer Unternehmen finden aufgrund umfangreicher Eintrittsbarrieren nicht statt. Unternehmen einer Industrie weisen dementsprechend eine ähnliche Profitabilität oder Eigenkapitalrentabilität auf, da diese deutlich durch den Markt und nur in geringer Weise durch die spezifischen Fähigkeiten der Unternehmen bestimmt werden. So haben 2012 bis 2016 im Großraum München alle privaten Klinikbetreiber von positiven Marktbedingungen infolge von chinesischem und arabischem Medizintourismus profitiert, in gleicher Weise konnte sich in den Jahren 2010 bis 2016 kein deutscher Energieversorger den negativen Markteffekten der Energiewende entziehen. Umgekehrt unterscheidet sich die Profitabilität über verschiedene Märkte und Industrien hinweg - so weisen Unternehmen in der Pharma-, Telekommunikations- oder Finanzdienstleistungsindustrie systematisch höhere Gewinne auf als Fluggesell- Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 140 schaften oder Callcenter. Strategieentwicklung aus Perspektive des Market-based View konzentriert sich darauf, den „richtigen Markt“ zu finden: durch Analysen zu Wettbewerbs- und Marktposition, Identifikation und Analyse von Chancen und Risiken im Marktumfeld sowie die Existenz und der Aufbau von Markteintrittsbarrieren. In der Folge investieren die Unternehmen bspw. stark in Eintrittsbarrieren, um die eigene Positionierung abzusichern, aber weniger in die Fähigkeiten der eigenen Mitarbeiter durch Fort- und Weiterbildung. Der Market-based View erklärt bspw. die extrem hohe Profitabilität aller Bratwurststände am Nürnberger Christkindlesmarkt in identischer Höhe. Der Markt ist aufgrund hoher Zahlungsbereitschaft der Kunden attraktiv, der Marktzutritt für Wettbewerber ist aufgrund behördlicher Genehmigung unterbunden und die notwendigen Kernkompetenzen (die Beschaffung und das Grillen von Bratwürsten sowie das Entgegennehmen von Bargeld) sind nahezu irrelevant. Marktstruktur, SCP-Framework und Five-Forces-Framework Analysen im Market-based View sind geleitet durch das Structure-Conduct-Perfomance- Framework (Bain 1956, Mason 1939, Porter 1981, Barney 1986 und Geroski 1990), das wesentliche empirische Erkenntnisse der industrieökonomischen Forschung zu Marktstruktur, Erfolgsfaktoren von Unternehmen und deren Gewinnen zusammenfasst, wie in ► Abbildung 4.2 dargestellt. Abbildung 4.2: Structure-Conduct-Performance-Framework. Aus SCP-Perspektive beeinflussen exogene Faktoren wie das politische, ökonomische, soziale und rechtliche Wettbewerbsumfeld die allgemeine Nachfragestruktur und Marktgröße sowie technologische Möglichkeiten den Wettbewerb innerhalb einer Industrie. Die Marktstruk- Zahl und Größenverteilung der Unternehmen (horizontale Konzentration) Eintrittsbarrieren und industriespezifische Kostenstrukturen Produkteigenschaften und -differenzierung Structure Marktstruktur Conduct Strategien der Unternehmen Performance Profitabilität der Unternehmen Strategische Ausrichtung und Verhalten sowie Organisation der Unternehmen Preismodelle und -strategien Produktstrategie und Marketing F&E-Aufwand und Innovationsziele Gewinne und Profitabilität (RoE, etc.) Unternehmenswachstum Effizienz (ökonomische Wohlfahrt) und Preise technologischer Fortschritt und Innovationsergebnisse (Produkt vs. Prozess) Nachfragestruktur PEST- Umweltbedingungen S C P technologische Möglichkeiten Appropriierungsbedingungen Wettbewerbsvorteile, Marktstruktur und unternehmensspezifische Fähigkeiten 141 tur bestimmt dann maßgeblich das Zusammenspiel der Unternehmensstrategien und diese in der Folge das Marktergebnis und den Erfolg einzelner Unternehmen, bspw. die Gewinne der Unternehmen, aber auch deren Wachstum. Damit ist klar, dass aus dem Marktergebnis Rückkopplungen auf Strategien auf Marktstruktur entstehen, so dass das SCP-Framework die wechselseitigen Abhängigkeiten im Wettbewerb beschreibt. Abbildung 4.3: Marktstruktur, Produktdifferenzierung und Wettbewerbsintensität. Marktstruktur beschreibt, wie in ► Abbildung 4.3 zu sehen, die Zahl und Größenverteilung der Unternehmen innerhalb einer Industrie - im einfachsten Fall von einem Unternehmen (einem Monopol) über wenige Unternehmen (in einem Oligopol) bis hin zu vielen Unternehmen (in vollständiger Konkurrenz). Damit sind allerdings weitreichende strategische Implikationen verbunden:  Monopol oder marktbeherrschendes Unternehmen - das Unternehmen befindet sich alleine auf dem Markt oder besitzt einen überragenden Marktanteil. Derartige Unternehmen sind im Prinzip frei in ihrer Strategiewahl, da Rückwirkungen (auch potenzieller) Wettbewerber ausbleiben - die Wettbewerbsintensität ist sehr gering (vgl. weiterführend ► Kapitel 7 und ► Kapitel 8). Unternehmen können sehr hohe Gewinne erzielen, aber aufgrund fehlender Konkurrenz ist oftmals auch Ineffizienz zu beobachten.  Wettbewerb im Oligopol - die Unternehmen stehen in wechselseitiger strategischer Interaktion, so dass jedes Unternehmen bei der Wahl der eigenen Strategie die Strategien der Wettbewerber berücksichtigt - die Wettbewerbsintensität nimmt mit steigender Unternehmenszahl ceteris paribus zu und wird bestimmt von strategischen Verhalten der Unternehmen (vgl. weiterführend ► Kapitel 9 und ► Kapitel 10). Unternehmensgewinne sind typisch, die Höhe hängt aber wesentlich vor der Art des Wettbewerbs ab.  Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz - relativ zur Größe des Marktes sind alle Unternehmen klein, die Produkte unterscheiden sich aus Kundenperspektive nicht wahrnehmbar. Durch die Wettbewerbssituation und das Verhalten der Wettbewerber ist das Produktdifferenzierung homogene Produkte Monopol Oligopol vollständige Konkurrenz Automobile, Unterhaltungselektronik, Pharmaunternehmen Restaurants, Musik, Wohnungen, … nationale Fußballligen, Suchmaschinen Transport, Energie, Bahn, Banking, Telekommunikation kostenlose E-Mail-Services, Gemüse, Blumen, … soziale Netzwerke, Börsen, Betriebssysteme Marktstruktur zunehmende Wettbewerbsintensität zunehmende Wettbewerbsintensität Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 142 eigene strategische Verhalten eingeengt und vorbestimmt - die Wettbewerbsintensität ist sehr hoch (vgl. weiterführend ► Kapitel 7). Unternehmen erzielen allenfalls temporär Gewinne, die Profitabilität liegt nahe bei Null. Die Rahmenbedingungen des Wettbewerbsprozesses und die Marktstruktur selbst sind wesentliche Determinanten möglicher Strategien und des Verhaltens der Unternehmen - bspw. nimmt mit der Zahl der Unternehmen die Wettbewerbsintensität zu, mit höherem Grad an Produktdifferenzierung nimmt sie ab. Industrien unterscheiden sich in ihrer horizontalen Konzentration der Verteilung der Marktanteile. Marktanteile können hoch konzentriert bei wenigen Unternehmen sein (wie bspw. in der deutschen Mobilfunkindustrie mit drei Anbietern Telefónica, Vodafone und Deutsche Telekom) oder niedrig konzentriert bei vielen kleinen Unternehmen mit minimalen Marktanteilen (wie bspw. Restaurants, Wohnungsvermieter oder Bäckereien). Die Konzentration wird bestimmt durch die Dynamik der Zahl der Anbieter und die Veränderung der Marktanteile im Zeitablauf, ob also viele Unternehmen in den Markt ein- oder austreten, und wie unterschiedlich die Wachstumsraten sind. Empirisch zeigt sich, dass Gewinne der Unternehmen umso höher sind, je höher die horizontale Konzentration einer Industrie ist, und dass Gewinne einzelner Unternehmen positiv mit Marktanteilen korreliert sind. Markteintrittsbedingungen spielen eine zentrale Rolle für die Marktstruktur und die horizontale Konzentration der Unternehmen einer Industrie. Eintrittsbarrieren beschreiben alle Bedingungen, die entweder dazu führen, dass ein neu eintretendes Unternehmen einen Wettbewerbsnachteil oder höhere Kosten im Vergleich zu etablierten Unternehmen hat, oder überhaupt nicht in den Markt eintreten kann, so dass Eintrittsbarrieren die Wettbewerbsintensität für etablierte Unternehmen reduzieren. Typischerweise sind die Kosten des Markteintritts - bspw. in Form einer produkt- oder unternehmensspezifischen Marketingkampagne - zudem Sunk Costs, d.h. sie sind industriespezifisch und können beim Marktaustritt nicht zurückgewonnen werden (vgl. weiterführend ► Kapitel 6). Markteintrittsbarrieren können unter anderem in folgenden Formen vorliegen (Geroski et al. 1990):  Strategische Eintrittsbarrieren basieren auf strategischen Entscheidungen der etablierten Unternehmen, die darauf abzielen den Marktzutritt gegenüber neuen Unternehmen zu versperren, zu erschweren oder kostspieliger zu machen. Etablierte Unternehmen investieren bspw. freiwillig in Sunk Costs (umfangreiche Marketinginvestitionen, die den Aufbau von Reputation und Markenloyalität fördern; F&E-Investitionen, die schnellen technischen Fortschritt ermöglichen; Nutzung von direkten und indirekten Netzwerkeffekten zur Etablierung eines mehrseitigen Marktes etc.), die potenziellen Wettbewerbern die Unattraktivität des Markteintritts signalisieren sollen: Unternehmen, die in den Markt eintreten, müssen dauerhaft ebenfalls dieses Investitionsniveau finanzieren können - viele werden dadurch vom Markteintritt abgehalten (vgl. weiterführend ► Kapitel 9 und 10).  Strukturelle Eintrittsbarrieren sind bestimmt durch industriespezifische Technologie und Produktionsfunktion (Fixkostendegression, zunehmende Skalenerträge, Economies of Scale oder vertikale Integration), die in einer Industrie zu einer Mindestbetriebsgröße und entsprechend hohem Kapitalbedarf führen. Zudem können strukturelle Eintrittsbarrieren in strategische Eintrittsbarrieren überführt werden (vgl. weiterführend ► Kapitel 6). Struk- Wettbewerbsvorteile, Marktstruktur und unternehmensspezifische Fähigkeiten 143 turelle Eintrittsbarrieren können auch entstehen, wenn Unternehmen aufgrund von langjähriger Erfahrung Lernkurveneffekte in niedrigere Kosten umwandeln können - Alter und Erfahrung etablierter Unternehmen sind dann ein Indiz der Eintrittsbarrieren für neue Unternehmen.  Rechtliche Eintrittsbarrieren sind bestimmt durch Eigentumsrechte, Gesetzgebung und Regulierung, die nur eine bestimmte Zahl an Unternehmen (Taxidienste, Notare etc.) zulassen, oder durch Patente oder Lizenzen (Gebrauchsmuster, Copyrights etc.), die anderen Unternehmen den Marktzutritt versperren oder kostspieliger machen. Eintrittsbarrieren ermöglichen eine erste Trennung zwischen etablierten Unternehmen und neuen Unternehmen: Ein etabliertes Unternehmen hat einen Wettbewerbsvorteil auf Basis der getätigten Sunk-Cost-Investitionen und industriespezifischer Erfahrung gegenüber einem neuen Unternehmen, der sich in Reputation, stärkerer Kundenloyalität, absolut niedrigeren Kosten oder höherer Innovationsfähigkeit niederschlagen kann. Porter (1980, 1981 und 1985) hat das SCP-Framework in das Five-Forces-Framework zu einem Managementkonzept verdichtet, um die Attraktivität eines Marktes oder einer Industrie, gemessen an der Profitabilität der Unternehmen und der Stabilität der Gewinne, zu ermitteln und strategische Entscheidungen, bspw. zu Markteintritt oder Investitionen, abzuleiten. Abbildung 4.4: Five-Forces-Framework und PEST-Analyse. Wettbewerbsintensität Bedrohung durch neue Anbieter Verhandlungsstärke und Marktmacht der Zulieferer Bedrohung durch Substitute 2 1 3 5 4 Verhandlungsstärke und Marktmacht der Kunden politisches und rechtliches Umfeld soziokulturelle Faktoren technologische Entwicklungen makroökonomische Rahmenbedingungen Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 144 Ausgehend von empirischen Studien stellen sich fünf interdependente Größen, wie in ► Abbildung 4.4 dargestellt, als maßgeblich für die Höhe der Gewinne in einer Industrie heraus: [1] Wettbewerbsintensität und Wahl der strategischen Parameter: Die Profitabilität einer Industrie ist umso geringer, je höher die Wettbewerbsintensität und je geringer die horizontale Konzentration ist. Die Wettbewerbsintensität ist umso geringer, je geringer die Zahl der Unternehmen und je höher der Grad an Produktdifferenzierung ist. Konkurrieren die Unternehmen über Preise, sind wechselseitige Preisunterbietungen die Regel - so sinken die Gewinnmargen und die Profitabilität geht zurück. Dagegen ist die Profitabilität der Unternehmen höher, wenn über langfristige Kapazitäten und auf Basis von Produktdifferenzierung konkurriert wird (vgl. weiterführend ► Kapitel 10). [2] Bedrohung durch neue Unternehmen und Umfang der Eintrittsbarrieren: Je niedriger die Eintrittsbarrieren sind, desto mehr Eintritte in die Industrie finden statt, desto höher ist die Wettbewerbsintensität und desto geringer die Profitabilität. Eintrittsbarrieren auf Basis von Sunk Costs können allerdings auch Austrittsbarrieren darstellen (Caves und Porter 1977 sowie Rosenbaum und Lamort 1992): Unternehmen sind dann gezwungen, in der Industrie zu bleiben, und die Wettbewerbsintensität erhöht sich - mit negativem Effekt auf die Profitabilität. [3] Verhandlungsstärke und Marktmacht der Zulieferer: Wenn die Zulieferer in Verhandlungen auf Preise oder Qualität starken Einfluss nehmen können, oder die Abhängigkeit von einzelnen Zulieferern groß ist (wie bspw. in komplexen internationalen Zuliefererketten), ist die Profitabilität einer Industrie gering. Das ist insbesondere bei einer kleinen Zahl an Zulieferern der Fall, die einer großen Zahl an Kunden gegenüberstehen, oder wenn hohe Wechselkosten von einem Zulieferer zu einem anderen entstehen. [4] Verhandlungsstärke und Marktmacht der Kunden: Je höher die Verhandlungsmacht der Kunden ist, je stärker diese gebündelt auftreten oder je sporadischer die Kundenbeziehungen sind, desto geringer ist die Profitabilität einer Industrie. [5] Bedrohung durch Substitute und Ersatzprodukte: Je stärker Kunden auf alternative Produkte und Dienstleistungen ausweichen können und je höher die Preiselastizität der Nachfrage ist, desto geringer sind die Möglichkeiten der Unternehmen, hohe Preise durchzusetzen, und desto geringer sind die Gewinne innerhalb einer Industrie. Aus Managementperspektive muss das Five-Forces-Framework immer in eine übergreifende Analyse des Wettbewerbsumfelds, wie bspw. anhand des PEST-Frameworks, eingebunden werden, da in vielen Industrien relevante Einflussfaktoren (bspw. technologische Veränderungen wie Digitalisierung oder neue rechtliche Rahmenbedingungen zur Energiewende) außerhalb des engen Wettbewerbsumfelds entstehen und Auswirkungen auf die Profitabilität einer Industrie entwickeln. Zudem verändern sich aufgrund dieser exogenen Veränderungen die Markt- und Industriegrenzen (Malhotra und Gupta 2001). Somit ist das Five-Forces- Framework in der Anwendung rein deskriptiv, es können keine logischen oder quantitativen Aussagen abgeleitet werden, so dass ergänzend spieltheoretische Modelle wie in ► Kapitel 9 und ► Kapitel 10 herangezogen werden müssen. Wettbewerbsvorteile, Marktstruktur und unternehmensspezifische Fähigkeiten 145  Case Study | Fluggesellschaften Zahlreiche Industrien werden im Rahmen von Markt- und Wettbewerbsanalysen regelmäßig anhand des Five-Forces-Frameworks durchleuchtet - so hat die International Air Transport Association durch McKinsey wiederholt die geringe Profitabilität von Fluggesellschaften im Vergleich zu anderen Industrien analysiert (IATA 2013): [1] sehr hohe Wettbewerbsintensität - aufgrund einer großen Zahl an Unternehmen, geringer Produktdifferenzierung, zunehmend internationalem Wettbewerb, saisonabhängiger niedriger Kapazitätsauslastung und Tendenz zu Preiskämpfen. [2] starke und wachsende Bedrohung durch neue Unternehmen - aufgrund von Deregulierung internationaler Märkte, geringen Sunk Costs durch Leasing von (Gebraucht-) Flugzeugen und niedrigem Investitionsbedarf wegen geringer Mindestbetriebsgröße aufgrund relativ geringer Economies of Scale. [3] hohe Verhandlungsstärke und Marktmacht der Zulieferer - insbesondere durch nur zwei Anbieter für neue Langstreckenflugzeuge (Boeing und Airbus), aufgrund von geringer Zahl an internationalen Drehkreuzen (Frankfurt am Main, Singapore, Istanbul etc.) mit hohen Gebühren und marktmächtigen Gewerkschaften mit hohem Streikrisiko des Bordpersonals. [4] moderate bis hohe Verhandlungsstärke und Marktmacht der Kunden - begründet in schwach wahrgenommener Produktdifferenzierung und hoher Preistransparenz, die aufgrund der Bündelung und Kontingentierung der Nachfrage durch Buchungs- und Flugportale ansteigt bei weiterhin hoher Wechselbereitschaft der Kunden aufgrund schwach wirksamer Loyalitätsprogramme. [5] moderate bis hohe Bedrohung durch Substitute und Ersatzprodukte - im nationalen Bereich zunehmend durch Hochgeschwindigkeitszüge (Deutschland, Frankreich, Benelux, China, Japan etc.), international bei Geschäftsreisen durch Substitute wie Web- oder Videokonferenzen. Alle Faktoren zusammengenommen erklären konsistent, weshalb Fluggesellschaften typischerweise - gerade im Vergleich mit Unternehmen anderer Industrien - eine geringe Profitabilität aufweisen und oft nicht in der Lage sind, ihre gewichteten Kapitalkosten (WACC) zu decken oder einen ökonomischen Gewinn zu erzielen (Bundesverband deutscher Fluggesellschaften 2013). Resource-based View als Erklärung für Wettbewerbsvorteile Wettbewerbsvorteile können durch unternehmensspezifische Fähigkeiten begründet sein. Im Resource-based View repräsentieren Unternehmen Fähigkeiten und Kernkompetenzen - in der Konsequenz existiert ein Unternehmen als Abbildung von tangiblen und intangiblen Ressourcen und entwickelt auf dieser Basis Strategien (Penrose 1959, Wernerfelt 1984, Prahalad und Hamel 1990, Rumelt et al. 1991, Teece 2007 sowie Teece et al. 1997). Diese Kernkompetenzen basieren auf statischen Fähigkeiten wie Qualifikation oder Erfahrung der Mitarbeiter, oder beruhen auf Technologie, Organisation und Management des Unternehmens, Effizienz und Kostenstruktur sowie hoher Produktqualität und Reputation des Unternehmens. Die Fä- Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 146 higkeiten schlagen sich nieder in höherer Zahlungsbereitschaft der Kunden und/ oder geringerer Durchschnitts- oder Grenzkosten. Die Gewinne sind wesentlich durch diese unternehmensspezifischen Fähigkeiten bestimmt - Unternehmen innerhalb einer Industrie oder eines Marktes unterscheiden sich deutlich in ihrer Profitabilität, wenn die Fähigkeiten heterogen sind. Unternehmen mit geringen Gewinnen erreichen nicht die Profitabilität erfolgreicher Unternehmen, weil ihnen entweder der Zugang zu den notwendigen Ressourcen fehlt, oder weil sie die Fähigkeiten nicht adaptieren, imitieren oder erlernen können. Strategieentwicklung aus Perspektive des Resource-based View versucht im Wesentlichen, die „richtigen Fähigkeiten“ zu identifizieren und zu nutzen: So werden Wettbewerbsvorteile aus einer unternehmensinternen Kernkompetenzensowie Stärken-/ Schwächen-Analyse abgeleitet. Zudem wird stark in Kernkompetenzen investiert, Fähigkeiten werden weiterentwickelt und vorhandene Kompetenzen durch Imitationsbarrieren (Patente, Abschottung von IP, Mitarbeiterbindung etc.) geschützt. In der Folge investieren die Unternehmen bspw. stärker in Mitarbeiterkompetenzen, um die unternehmensspezifischen Fähigkeiten auszubauen, dagegen weniger in Marketing zum Aufbau von Eintrittsbarrieren. Profitables Wachstum eines Unternehmens und die langfristige Überlebensfähigkeit einer Organisation hängen insbesondere von dynamischen Fähigkeiten ab (Dynamic Capabilities). Diese beschreiben die Anpassungsfähigkeit eines Unternehmens und bestehen darin, als Organisation zu lernen, neue Kernkompetenzen (bspw. neue Mitarbeiter, aber auch ein zugekauftes Unternehmen) zu integrieren, die vorhandenen Fähigkeiten auf neue Märkte oder an veränderte Umweltbedingungen anzupassen und Innovationen oder neue Geschäftsmodelle hervorzubringen. Gerade diese intangiblen und schwer beschreibbaren Fähigkeiten - Unternehmenskultur, Erfahrung einer Organisation oder die Fähigkeit eines Unternehmens zu strategischem Wandel oder Weiterentwicklung - können eine zentrale Rolle für den Erfolg eines Unternehmens spielen.  Case Study | RyanAir Der Resource-based View erklärt bspw. die extrem hohe Profitabilität von RyanAir, wie in ► Abbildung 4.5 skizziert, im Vergleich zu Wettbewerbern: Die Airline-Industrie ist aufgrund hoher Wettbewerbsintensität und geringen Eintrittsbarrieren seit Jahrzehnten von sehr geringer Profitabilität und einer hohen Zahl an insolvenzbedingten Marktaustritten geprägt. Offensichtlich kann RyanAir nicht imitierbare Fähigkeiten, niedrige Kostenstrukturen und hohes strategisches Geschick nutzen, um in einem per se unattraktiven Markt robust hohe Gewinne zu erzielen (IATA 2013 und Bundesverband Deutscher Fluggesellschaften 2013). Unter anderem hat RyanAir vor dem Hintergrund einer Analyse der Transaktionskosten die Grenzen des Unternehmens enger gezogen als die Wettbewerber:  RyanAir kann mit einem Fünftel der Mitarbeiter und der Hälfte an Flugzeugen nahezu 80 % der Passagierzahl von Lufthansa abwickeln,  RyanAir kann mit etwa der gleichen Mitarbeiterzahl wie AirBerlin nahezu die dreifache Passagierzahl abwickeln, Wettbewerbsvorteile, Marktstruktur und unternehmensspezifische Fähigkeiten 147  die Effizienz gemessen in Passagieren je Flugzeug oder Passagieren je Mitarbeiter von RyanAir liegt drastisch über den Wettbewerbern und macht den strategischen Handlungsbedarf bei Lufthansa deutlich und erklärt den Marktaustritt von AirBerlin. In der Folge machte RyanAir im Jahr 2014 je Passagier einen Gewinn von 17 EUR, Lufthansa von 4 EUR und AirBerlin von -9 EUR. Abbildung 4.5: Unterschiede bei Profitabilität auf Basis von unternehmensspezifischen Fähigkeiten Daten eigene Berechnungen aus jeweiliger Unternehmensberichterstattung, Aktienkursdaten nach  comdirect.de. Determinanten der Profitabilität von Unternehmen Natürlich lässt sich die analytische Trennung der Wettbewerbsvorteile von Market-Based View oder Resource-based View in der Realität nur unscharf wiederfinden - jedes Unternehmen versucht im richtigen Markt mit den richtigen Fähigkeiten zu agieren. Beide Sichten gemeinsam finden sich entsprechend integriert in der sogenannten SWOT-Analyse (unternehmensinterne Stärken und Schwächen, unternehmensexterne Chancen und Risiken) wieder. Das wesentliche Augenmerk des Market-based View liegt auf dem Erkennen von Marktchancen, der Resource-based View geht von den Stärken und Fähigkeiten eines Unternehmens zur Bewertung und Entwicklung von Strategien aus. Allerdings kann empirisch untersucht werden, welches der Modelle zur Erklärung von Wettbewerbsfähigkeit eine bessere Erklärung für die Gewinne von Unternehmen bietet. Man prüft, welche Anteile der Gewinne durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Industrie Passagiere 2014: ca. 32 Mio. Flugzeuge 2014: 132 Mitarbeiter 2014: ca. 8.500 Passagiere je Flugzeug: ca. 242.000 Passagiere je Mitarbeiter: ca. 3.764 Mitarbeiter je Flugzeug: ca. 64 EBIT 2014: -283,4 Mio. EUR Ø EBIT pro Passagier: - 9 EUR MarketCap 2015: 130 Mio. EUR Passagiere 2014: ca. 106 Mio. Flugzeuge 2014: 668 Mitarbeiter 2014: ca. 118.000 Passagiere je Flugzeug: ca. 158.000 Passagiere je Mitarbeiter: ca. 898 Mitarbeiter je Flugzeug: ca. 176 EBIT 2014: 459,0 Mio. EUR Ø EBIT pro Passagier: 4 EUR MarketCap 2015: 6,4 Mrd. EUR Passagiere 2014: ca. 81 Mio. Flugzeuge 2014: 318 Mitarbeiter 2014: ca. 9.000 Passagiere je Flugzeug: ca. 686.000 Passagiere je Mitarbeiter: ca. 9.000 Mitarbeiter je Flugzeug: ca. 76 EBIT 2014: 1.420,2 Mio. EUR Ø EBIT pro Passagier: 17 EUR MarketCap 2015: 16,7 Mrd. EUR Air Berlin Lufthansa Ryan Air Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 148 erklärt werden können, und welche Anteile der Gewinne unternehmensspezifischen Fähigkeiten zugeordnet werden können. In empirischen Studien (Cubbin 1988, McGahan und Porter 1999 und 2003, Rumelt 1991, Schmalensee 1985 und Bradley et al. 2013) zeigt sich, dass die Profitabilität (gemessen in Gewinnen, Eigenkapitalrentabilität oder Cashflow) über verschiedene Industrien hinweg langfristig unterschiedlich ist. In ► Abbildung 4.6 ist der Return on Invested Capital ausgewählter Industrien für den Zeitraum 1965 bis 2007 als Median und in Bandbreiten des 2. und 3. Quartils zu sehen - offenbar eine Bestätigung des Market-based View, denn Pharma- oder Telekommunikationsindustrie weisen über mehr als vier Jahrzehnte eine systematisch höhere Profitabilität als Metallverarbeitung oder Fluggesellschaften auf. Abbildung 4.6: Profitabilität ausgewählter Industrien im Zeitraum 1965 bis 2007, Median und Bandbreite 2. und 3. Quartil des Return on Invested Capital (links) und Determinanten der Gewinne 2007 bis 2011 (rechts) Datenquelle: Bradley et al. 2013. Dagegen zeigt sich in einer McKinsey-Studie von 2014, dass für 2.288 Unternehmen im Zeitraum 2007 bis 2011, in ► Abbildung 4.6 rechts, durchschnittlich 60 % des absoluten Gewinns eines Unternehmens durch Unternehmenseffekte (den Resource-based View) und 40 % durch Industrieeffekte (den Market-based View) erklärt werden können. Der Anteil des Unternehmenseffektes ist besonders hoch bei sehr erfolgreichen Unternehmen (Quintil 1), wie auch bei den Unternehmen mit den absolut geringsten Gewinnen (Quintil 5). Wenn die Unternehmen durchschnittliche Gewinne (wie in Quintil 2 bis 4) erzielen, haben Unternehmens- und Industrieeffekte in etwa den gleichen Einfluss. Daneben finden sich in den empirischen Studien auch starke Hinweise auf unternehmensspezifische Persistenz der Gewinne und eine hohe positive Korrelation mit Marktanteilen innerlangfristige Profitabilitätsunterschiede zwischen Industrien (in % ROIC) Zuordnung Profitabilitästreiber auf Industrie- und Unternehmenseffekte 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% Pharma Software IT Services Telekommunikation Medizintechnik Computerhardware Maschinenbau Automobilzulieferer Einzelhandel und Warenhäuser Baumaterialien Metallverarbeitung Elektrizität Fluggesellschaften 67 50 46 49 62 60 33 50 54 51 38 40 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Industrieeffekt Unternehmenseffekt hoch << Gewinne >> niedrig Wettbewerb und Innovationen 149 halb einer Industrie - offenbar existieren Unternehmen, die über viele Jahre hinweg höhere Marktanteile gepaart mit höherer Profitabilität oder absoluter Gewinnhöhe erzielen können (Mueller 1990). Wettbewerb innerhalb einer Industrie führt also weder zu einer Angleichung der Gewinne der Unternehmen, noch zu einer Reduktion des Niveaus der Gewinne. Für die Persistenz der Gewinne gibt es zwei mögliche Ursachengruppen: zum einen strukturelle Wettbewerbsbeschränkungen (bspw. Eintrittsbarrieren) innerhalb der Industrie oder Marktmacht einzelner etablierter Unternehmen, zum anderen höhere Effizienz und Wettbewerbsvorteile auf Basis des Resource-based View. Zusammengenommen zeigen die empirischen Untersuchungen kein eindeutiges Bild: Viel mehr bestätigt sich, dass über den Market-based View industriespezifische Effekte auf die Profitabilität erklärt werden, innerhalb der einzelnen Industrien gibt es dann aber starke unternehmensspezifische Effekte als Hinweis auf den Resource-based View. 4.3 Wettbewerb und Innovationen Wettbewerb kann allgemein - in Sport, Evolution, Biologie, Politik oder Soziologie - beschrieben werden als dynamischer Prozess der Rivalität oder Konkurrenz mit dem Ziel, Ansehen, Macht, Zuneigung oder Überleben zu erreichen. Meist ist dieser Prozess von direkten und indirekten Rückwirkungen (Fußball, Wahlen vs. politische Systeme) geprägt und wird wesentlich durch Rahmenbedingungen mitbestimmt (Evolution von Menschen, Tieren und Pflanzen). Durch die wechselseitige Interaktion der Wettbewerbsteilnehmer wird das Ergebnis des Wettbewerbs bestimmt. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive wird Wettbewerb analysiert als  ein dynamischer und evolutorischer Prozess der Rivalität von Unternehmen mit dem Ziel, das Überleben von Unternehmen und deren Erfolg im Zeitablauf zu beschreiben und zu erklären,  Wettbewerb kann direkt oder indirekt erfolgen, wird von wettbewerbspolitischen Rahmenbedingungen beeinflusst und beschrieben durch das Zusammenspiel der unternehmensspezifischen Strategien,  umfasst strategische Aktionen (Innovation etc.) und Reaktionen (Preiskämpfe etc.) und das  Wettbewerbsergebnis beschreibt Erfolge der Unternehmen (Gewinne) und entstehende Struktur eines Marktes und der Industrie (Größe und Zahl der Unternehmen). Wettbewerb zwischen Unternehmen hat zwei Merkmale, die in direktem Zusammenhang mit Innovationen stehen und zuerst von Schumpeter (1911) sowie von Hayek (1968) beschrieben sind. Hayek hat Wettbewerb als Entdeckungsverfahren beschrieben. Das Ergebnis eines dynamischen Wettbewerbsprozesses ist allenfalls unvollständig vorhersagbar, weil Wettbewerb zwischen konkurrierenden Unternehmen immer auch auf die Entdeckung von neuartigen Wettbewerbsvorteilen oder Strategien zielt, die im Wettbewerb ausprobiert werden. So wird per se ‚neues Wissen‘ geschaffen, der Wettbewerbsprozess ist ergebnisoffen und kann nicht vorhergesagt werden. Deshalb sind bspw. wettbewerbspolitische Eingriffe generell kri- Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 150 tisch zu prüfen, da keine Institution Technologiefolgen oder Wettbewerbsentwicklungen präzise vorhersagen kann. Schumpeter hat dagegen die Bedeutung von Wettbewerb als Prozess der schöpferischen Zerstörung herausgestellt: „Die Eröffnung neuer, fremder oder einheimischer Märkte und die organisatorische Entwicklung vom Handwerkbetrieb und der Fabrik zu solchen Konzernen wie dem U.S.-Steel illustrieren den gleichen Prozess einer industriellen Mutation - wenn ich diesen biologischen Ausdruck verwenden darf -, der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört, unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozess der ‚schöpferischen Zerstörung' ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum.“ (Schumpeter 1950, S. 137) Wettbewerb ist hier im Kern ein Innovationsprozess, d.h. bisherige Produkte, Marktstrukturen und Unternehmen werden immer wieder transformiert oder sogar durch neue ersetzt. Eine zentrale Rolle kommt Unternehmern und Entrepreneuren zu, die innovative Produkte oder Geschäftsmodelle entwickeln und auf den Markt bringen. Innovation ist allgemein die Durchsetzung neuer Kombinationen, bspw. in Produkten, Prozessen, Technologien, Geschäftsmodellen oder der Organisation eines Unternehmens. Dies erfordert nicht per se ‚Neues‘, sondern betont den komplementären und kombinatorischen Charakter von Innovation - bspw. aktuell der Digitalisierung, die wesentlich bestehende Geschäftsmodelle, Dienstleistungen und Produkte ergänzt oder neue Kombinationen ermöglicht (Brynjolfsson und McAffee 2016). Zwar werden die Rückwirkungen des strategischen Wettbewerbsverhaltens der Unternehmen auf die Struktur der Industrie oftmals betont, zumeist wird die Kausalkette jedoch entsprechend dem SCP-Framework von der Struktur der Industrie auf das Verhalten der Unternehmen hin zum Marktergebnis gesehen. Betrachtet man hingegen die wechselseitige Verbindung von Wettbewerb und Innovation, so ist dies nur die halbe Wahrheit: „Competition, at least in the most popular senses of the word, is all about rivalry between firms. It is about taking actions to increase, or at least to defend, market share, and the popular language of competition is often clothed in metaphors of conflict involving gladiators, knights in white and black armour, and all of that. Yet, not all of the responses that a firm makes to the actions of its rivals are the same. Some are more fundamental or more revolutionary than others. In this context, it is useful to distinguish tactical from strategic responses to rivals. A tactical response to the action of a rival is a response in kind. It is likely to involve use of the same (or a similar) competitive weapon (i.e., meeting a price cut with a price cut), and does not alter the basis on which the two firms compete. By contrast, a strategic response to the action of a rival is an attempt to change the basis of competition between the two firms (i.e., meeting a price cut with a radical change in the way a product is distributed or marketed). It is about breaking the rules of competition, and it corresponds to what most people understand when they talk about innovation.” (Geroski 1998, S. 15) Wettbewerb und Innovationen 151 Ein Teil des Wettbewerbsverhaltens von Unternehmen - Innovationen - ist demnach nicht primär gegen die Konkurrenten gerichtet, sondern zielt auf eine Veränderung der Marktstrukturen und der Regeln des Wettbewerbsprozesses. Mehr noch: Die Innovationen folgen nicht aus der Wettbewerbssituation, sondern Innovationen sind die Triebfeder des Wettbewerbsprozesses und verändern Marktstrukturen. Um langfristige Wettbewerbsprozesse und die Evolution von Industrien zu verstehen, kann man deshalb nicht von gegebenen Marktstrukturen ausgehen, sondern muss die gemeinsame Entwicklung von Technologie, Unternehmen und Wettbewerb in den Blick nehmen. Industrielebenszyklen und die langfristige Entwicklung der Marktstruktur Die langfristige Entwicklung von Industrien ist geprägt von zahlreichen Markeintritten neuer Unternehmen und Marktaustritten nicht überlebensfähiger Unternehmen. In empirischen Studien zeigt sich entlang eines Industrielebenszyklus ein robustes Muster der Zahl der Unternehmen und dahinterliegend der Ein- und Austritte in die Industrie, wie in ► Abbildung 4.7 oben skizziert und in ► Tabelle 4.1 für die weltweite Automobilindustrie dargestellt (Jovanovic und MacDonald 1994, Klepper und McGraddy 1990, Klepper 1997, Münter 1999 und Münter 2013). Abbildung 4.7: Industrielebenszyklus, Technologiezyklus und technologisches Regime. Begründet durch wenige erste Unternehmen - in der Automobilindustrie unter anderem Benz und Peugeot - werden neuartige, innovative Produkte auf den Markt gebracht. In der Folge treten in einer Phase 1 zahlreiche weitere neue Unternehmen, welche die Produktinno- Phase 3 Phase 2 Phase 1 Zeit Zahl der Unternehmen Eintritte Austritte 1875-1921 Dauer: 47 Jahre n in 1921: 609 1922-1944 Dauer: 25 Jahre n in 1944: 133 seit 1945 Dauer: > 70 Jahre n in 2012: 195 Beispiel: weltweite Automobilindustrie Unternehmen Experimentierphase dominantes Design inkrementeller Wandel Prozessinnovationen Produktinnovationen Routinzed Regime Entrepreneurial Regime Industrielebenszyklus Technologiezyklus technologisches Regime Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 152 vation aufgreifen oder modifizieren, in die Industrie ein und die Zahl der Unternehmen steigt deutlich an. Nach einiger Zeit - in der Automobilindustrie war dies 1922 der Fall - kehrt sich dieser Prozess jedoch um und die Anzahl der Unternehmen einer Industrie geht in Phase 2 infolge zahlreicher Austritte drastisch zurück, bevor sich im weiteren Verlauf der Entwicklung die Zahl der Ein- und Austritte in etwa ausgleicht und sich die Zahl der Unternehmen stabilisiert.  Case Study | Wettbewerb, Populationsdynamik und Überlebensfähigkeit von Unternehmen Betrachtet man am Beispiel der Automobilindustrie diese Entwicklung, ist deutlich zu erkennen, dass in Phase 1 die absolute und prozentuale Zahl an Markteintritten diejenige an Marktaustritten dominiert. In Phase 2 kehrt sich dieses Muster um, bis in Phase 3 mit jeweils etwa 3 % jährlichen Markteintritten und Marktaustritten die Zahl der Unternehmen etwa konstant ist. Populationsdynamik in der weltweiten Automobilindustrie alle Phasen Phase 1 Phase 2 Phase 3 Beginn 1875 1922 1945 Dauer 47 23 > 70 durchschnittliche Anzahl Markteintritte pro Jahr 18,11 37,47 14,08 6,09 durchschnittliche Anzahl Marktaustritte pro Jahr 16,71 24,51 34,78 5,17 prozentuale Eintrittsrate pro Jahr 8,46 % 16,08 % 5,17 % 3,37 % prozentuale Austrittsrate pro Jahr 7,80 % 10,52 % 12,76 % 2,86 % unterschiedliche Unternehmen 2.499 1.761 928 550 im Jahr 2012 existierende Unternehmen sind entstanden … 13,33 % 8,72 % 77,95 % gegründete Unternehmen in Phase x existierten noch 2012 1,48 % 8,33 % 34,30 % Tabelle 4.1: Populationsdynamik in der weltweiten Automobilindustrie Datenquelle: Münter 2013. Die Ursache für das am Beispiel der Automobilindustrie beschriebene, aber für eine sehr große Zahl weiterer Industrien ebenfalls beobachtbare Muster liegt nicht in einem Rückgang der Nachfrage: Produktion und Absatz in der weltweiten Automobilindustrie wachsen seit ihrer Entstehung kontinuierlich. Die Veränderung der Zahl der Unternehmen ist begründet im Zusammenspiel von Innovationen, technologischen Veränderungen und strategischem Verhalten der Unternehmen. Wettbewerb und Innovationen 153 Technologiezyklen in der langfristigen Entwicklung von Industrien Eine erste Erklärung für die langfristige Entwicklung der Marktstruktur, der Zahl der Unternehmen und der Veränderungen im Wettbewerbsprozess liegt in Technologiezyklen, die regelmäßige Muster von Innovationen im Zeitablauf als Abfolge von Experimentierphase, Entstehung des dominanten Designs und Phase inkrementellen Wandels beschreiben (Utterback und Abernathy 1975, Clark 1985, Utterback und Suarez 1993 a und b, Christensen et al. 1998 sowie Henderson und Clark 1990). Hier können, wie in ► Abbildung 4.7 zu sehen, drei parallel zum Industrielebenszyklus verlaufende Phasen identifiziert werden:  Experimentierphase - zu Beginn eines Industrielebenszyklus konkurrieren Unternehmen mit sehr unterschiedlichen Produktkonzepten und -konfigurationen. Es besteht hohe Unsicherheit sowohl betreffend technologischer Möglichkeiten als auch tatsächlicher Kundenerwartungen und -bedürfnisse. Damit ist zunächst keines der Unternehmen in der Lage, ein aus Kundenperspektive vollständig überzeugendes Produkt anzubieten, sondern jedes Unternehmen versucht mit einem unternehmensspezifischen Produkt identifizierte Marktnischen zu adressieren und in einem Trial-and-Error-Prozess Marktanteile zu gewinnen. Die Geschäftsmodelle und Strategien der Unternehmen sind in dieser Phase sehr heterogen. Jedes neu eintretende Unternehmen bringt Produktinnovation ein, welche bisherige Lösungen ersetzen und das vorhandene Wissen innerhalb der Industrie in Teilen obsolet machen.  Entstehung und Emergenz eines dominanten Designs - im Wettbewerb der Unternehmen über die Zeit bildet sich ein dominantes Design heraus: Ein Unternehmen kombiniert erstmalig vorhandene Produktinnovationen und Ausstattungsmerkmale derartig, dass die Erwartungen einer großen Zahl an Kunden gut getroffen werden. In der Automobilindustrie ist dies durch das Model T von Ford (produziert von 1908 bis 1927) erfolgt - ein Auto mit vier Rädern, Steuerung der Vorderachse, Verbrennungsmotor vorne, Fahrgastkabine, Kofferraum hinten, Bremsen an den Rädern, Beleuchtung nach vorne und hinten, Lenkrad und einigen weiteren Merkmalen, die heute noch in nahezu jedem Auto zu finden sind. Die Vielfalt konkurrierender Produktkonzepte und Geschäftsmodelle der Experimentierphase wird beendet, es kommt zu einem Lock-in-Effekt und die Merkmale des dominanten Designs prägen die Erwartungen der Kunden und sind fortan ein De-facto- Standard in der Industrie. Dieser wird von anderen Unternehmen imitiert oder unternehmensspezifisch adaptiert.  Phase inkrementellen Wandels - auf Basis des dominanten Designs werden jetzt pfadabhängige Weiterentwicklungen und Verbesserungen des Produktes vorgenommen, die das bestehende Wissen in der Industrie erweitern und vertiefen, so dass unternehmens- und industriespezifisches Wissen aufgebaut wird und Bestand hat. Im Mittelpunkt stehen jetzt allerdings nicht mehr Produktinnovationen, sondern Effizienzsteigerung und Skalierung der Produktion auf Basis von Prozessinnovationen. Die Entstehung des dominanten Designs liefert eine erste Erklärung für den Wechsel von Phase 1 zu Phase 2 des Industrielebenszyklus und verändert den Wettbewerbsprozess in vier wesentlichen Dimensionen:  Wachstum der Marktanteile - die Marktanteile der Unternehmen, die das dominante Design produzieren können, wachsen jetzt stark an. In der Smartphone-Industrie sind alle Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 154 Unternehmen, die in der Lage waren, die Kernelemente des dominanten Designs in Form des Apple iPhones abzubilden - Touchscreen mit virtueller Tastatur, Fotokamera, App- Store, Musikplayer, E-Mail-Empfang und WiFi-Fähigkeit - stark gewachsen: Samsung, Huawei, Oppo, HTC und natürlich Apple selbst (Cecere et al. 2015).  Verdrängung von Wettbewerbern - andere Unternehmen, die das dominante Design nicht produzieren können oder bewusst weiter an ihren bisherigen Produktkonzepten festhalten, verlieren Marktanteile und werden perspektivisch in Nischen verdrängt oder zum Marktaustritt gezwungen, die jetzt in Phase 2 zu beobachten sind: im Fall der Smartphone-Industrie insbesondere die vormaligen Marktführer Nokia, deren unternehmensspezifische Fähigkeiten nicht ausreichten, und der Blackberry-Hersteller Research in Motion, die beide weiterhin an der Kombination kleiner Bildschirm und physische Tastatur festgehalten haben.  Reduktion von Unsicherheit - durch das dominante Design wird die Unsicherheit in der Industrie deutlich reduziert, so dass jetzt Anreize für Investitionen in Produktionskapazität, Branding, Kundenbasis und Unternehmensgröße entstehen und unternehmensspezifische Fähigkeiten aufgebaut und weiterentwickelt werden.  Aufbau von Eintrittsbarrieren - mit diesen Wachstumsprozessen geht auch der Aufbau von strukturellen und strategischen Eintrittsbarrieren einher, so dass jetzt die Markteintritte neuer Unternehmen und die Eintrittsraten (vgl. auch ► Tabelle 4.1) deutlich geringer werden. Gleichzeitig nimmt aber die Erfolgswahrscheinlichkeit eines dauerhaften Verbleibs in der Industrie jetzt zu - die Ursache liegt wiederum in reduzierter Unsicherheit und jetzt besser einschätzbaren Rahmenbedingungen des Wettbewerbsprozesses. Innovationen und technologisches Regime Schumpeter hat in Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1911) und in Capitalism, Socialism and Democracy (1942) die Frage nach Wettbewerbsvorteilen im Innovationsprozess in Abhängigkeit der Unternehmensgröße sehr unterschiedlich beantwortet: 1911 sah er kleine, innovative und junge Unternehmen (Start-ups) im Wettbewerb als wesentlichen Treiber des technologischen Fortschritts, 1942 betonte er die Rolle großer Unternehmen aufgrund der hohen Kapitalintensität von F&E-Prozessen und den notwendigen industriespezifischen Kenntnissen. Tatsächlich scheinen beide Sichtweisen Berechtigung zu haben: Zum einen verändern sich im Zeitablauf die relativen Rollen der Unternehmen im Innovationsprozess, zum anderen bilden sich in vielen Industrien unternehmensspezifische Rollen im F&E-Prozess (Fokus auf Grundlagenforschung, Produktentwicklung, Pionier vs. Imitator etc.) heraus. Damit existiert ein industrieübergreifendes Ökosystem aus Kunden, Unternehmen und Zulieferern im F&E-Bereich, welches die industriespezifischen Muster von Innovationen und das Zusammenspiel großer und kleiner Unternehmen bestimmt. Nelson und Winter (1982) und Winter (1984) haben, zur gemeinsamen Betrachtung und Erklärung von Wettbewerbs- und Innovationprozessen, den Determinanten der Entstehung von neuem Wissen zentrale Bedeutung zugeschrieben und die Umwelt- und Wettbewerbsbedingungen für Innovationen als technologisches Regime definiert. Die beiden - auf Schumpeter zurückgehenden - zentralen Fragestellungen sind, ob Wettbewerb und Innovationen 155  neues Wissen - Produktinnovationen, neue Geschäftsmodelle oder Technologien - eher in Forschungslaboren und Entwicklungsabteilungen großer etablierter Unternehmen entsteht, oder aber durch Start-ups oder Ausgründungen hervorgebracht wird, und ob  sich neues Wissen in erfolgreichen neuen Unternehmen manifestiert, oder ob neues Wissen direkt von großen etablierten Unternehmen absorbiert wird. Die in empirischen Untersuchungen und Fallstudien gefundenen Regelmäßigkeiten der Entstehung von neuem Wissen und deren Rückwirkung auf Unternehmen lassen sich, wie in ► Abbildung 4.8 gezeigt, zwei unterschiedlichen Umwelt- und Wettbewerbsbedingungen für Innovationen zuordnen - einem Entrepreneurial und einem Routinized Regime. Empirisch können viele Industrien einem spezifischen technologischen Regime zugeordnet werden. Das Entrepreneurial Regime beschreibt Rahmenbedingungen, welche die Entstehung und Eintritte neuer innovativer Unternehmen fördern. Dagegen sind im Routinized Regime Innovationen stark pfadabhängig und basieren wesentlich auf vorhandenem Wissen - so erklären sich Wettbewerbsvorteile für etablierte Unternehmen auf Basis unternehmensspezifischer Fähigkeiten und umfangreichem Erfahrungswissen (Audretsch 1991 und 1995, Breschi et al. 2000, Malerba und Orsenigo 1993 und 1996, Malerba 2007 sowie Münter 1999). Abbildung 4.8: Empirische Regelmäßigkeiten von Entrepreneurial und Routinized Regime. Entrepreneurial Regime Routinized Regime unternehmensspezifische Fähigkeiten Adaption industriespezifischer Fähigkeiten neues Wissen entsteht ... Überlebensfähigkeit neuer Unternehmen Anzahl Unternehmenseintritte Anzahl und Größe der Unternehmen Wachstumsraten der Unternehmen neues Wissen ... gering gering und wenig effektiv außerhalb bestehender Organisationen gering, weil Kriterien für Überleben unklar sind hoch aufgrund fehlender Eintrittsbarrieren viele, aber klein hoch und heterogen zerstört vorhandenes Wissen oder macht es obsolet hoch schnell und effektiv innerhalb bestehender Unternehmen hoch, weil Überlebensparameter klar erkennbar gering wegen strategischer Eintrittsbarrieren wenige, aber mittel und groß gering bei reduzierter Varianz basiert auf vorhandenem Wissen und erweitert es technolgisches Regime Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 156 In welchem Regime sich eine Industrie befindet, hängt wesentlich davon ab, ob das Hervorbringen von neuem Wissen und Innovationen und das Nutzen entstehender technologischer Möglichkeiten umfangreiches akkumuliertes Wissen und industriespezifische Erfahrungen benötigt, oder ob dies auch außerhalb bestehender Unternehmen und ohne langjährige industriespezifische Erfahrungen erfolgen kann (Dosi 1988, Patel und Pavitt 1994, Dosi et al. 2011 sowie Dosi und Nelson 2016):  Technologische Möglichkeiten einer Industrie werden determiniert durch Grundlagenforschung, Basisinnovationen und Technologieentwicklung in anderen Industrien. Je umfangreicher und je besser erkennbar die technologischen Möglichkeiten sind, desto größer sind die Anreize für Unternehmen in F&E zu investieren, je unklarer und unsicherer diese Möglichkeiten sind, desto geringer sind die F&E-Anstrengungen.  Akkumulierbarkeit von Wissen beschreibt, wie stark technologisches oder prozessuales Wissen aufeinander aufbaut und einander bedingt. Je höher die Akkumulierbarkeit und je pfadabhängiger die Entwicklung ist, desto höher sind F&E-Investitionen und -Anreize. Kann Wissen jedoch nicht akkumuliert oder vielfältig weiterverwendet oder angewendet werden - hat es also eine hohe Verblassungsrate - wird wenig in neues Wissen investiert.  Appropriierungsbedingungen einer Industrie bestimmen, wie stark sich Unternehmen die Vorteile (insbesondere Gewinne) aus neuen Produkten und Prozessen aneignen können. Je stärker und dauerhafter sich Unternehmen die Vorteile aus eigenen Innovationen aneignen können, desto größer sind die Anreize für Unternehmen in F&E zu investieren. Dies wird unter anderem von Eigentumsrechten für Wissen (Patente etc.), der Wettbewerbsintensität zwischen Unternehmen sowie der Zahl parallel in der Industrie verfolgter oder realisierter technologischer Pfade beeinflusst. Wenn zahlreiche konkurrierende technologische Pfade existieren, werden diese eher von kleinen Unternehmen entwickelt und bei hohem Risiko für die Existenz des Unternehmens in einem Trial-and-Error-Prozess vorangetrieben. Große Unternehmen investieren erst, wenn sich eine Entwicklung als zukunftsfähig und belastbar herausbildet. Eine Industrie befindet sich im Entrepreneurial Regime, wenn zur Appropriierung von Gewinnen aus neuem Wissen und zur Nutzung vorhandener technologischer Möglichkeiten schwach akkumuliertes Wissen ausreicht oder auch keinerlei industriespezifische Erfahrung notwendig ist. Ist stark akkumuliertes unternehmensspezifisches Wissen und entsprechende industriespezifische Erfahrungen notwendig, befindet sich eine Industrie im Routinized Regime. Zahlreiche Industrien sind im Zeitablauf durch einen Übergang vom Entrepreneurial zum Routinized Regime gekennzeichnet, wie in ► Abbildung 4.9 skizziert, der mit dem Entstehen des dominanten Designs und dem Erreichen der maximalen Unternehmenszahl zusammenfällt. Im Entrepreneurial Regime verfolgen viele kleine Unternehmen sehr unterschiedliche technologische Pfade. Zahlreiche Unternehmen - angedeutet durch die gestrichelten Pfeile - haben eine begrenzte Überlebensfähigkeit und treten nach einiger Zeit mangels Gewinnen aus der Industrie aus. Einigen anderen Unternehmen - angedeutet durch die durchgezogenen Pfeile - gelingt dagegen auf Basis dynamischer Fähigkeiten der Aufbau von industriespezifischem Wissen, welches das Überleben absichert. Gleichzeitig reduziert sich die Vielfalt der in der Industrie verfolgten technologischen Pfade deutlich. Der Übergang ist gleichbedeutend Wettbewerb und Innovationen 157 mit entstehenden Eintrittsbarrieren in Form von industriespezifischem Wissen und unternehmensspezifischen Fähigkeiten. Abbildung 4.9: Überlebensfähigkeit der Unternehmen, Reduktion technologischer Pfade, Emergenz des dominanten Designs und Entstehung von Eintrittsbarrieren. In frühen Phasen eines Industrielebenszyklus sind insbesondere junge, kleine und häufig wissenschafts- und forschungsnahe Start-ups im Innovationsprozess dominant: Sie bringen mehr und grundlegende Innovationen in den Markt ein. Mit dem Übergang zum Routinized Regime sind in späteren Phasen des Industrielebenszyklus etablierte Unternehmen mit investitionsstarken F&E-Abteilungen im Innovationswettbewerb überlegen und bringen entweder regelmäßig neue Produkte oder Prozesse hervor oder sind in der Lage, sehr schnell und effektiv in der Industrie entstehendes Wissen zu erlernen, zu absorbieren und in die eigene Organisation zu übertragen (Cohen und Levinthal 1990, Zahra et al. 2006 und Teece 2007). Mit dem Übergang von Entrepreneurial Regime zum Routinized Regime verändert sich auch der Wettbewerb zwischen den Unternehmen in zwei wichtigen Dimensionen grundlegend:  Reduktion von Unsicherheit und Risiko - für alle Unternehmen und Kunden reduzieren sich mit dem Übergang zum Routinized Regime Unsicherheit und Risiko: Wesentliche Produkteigenschaften, die zukunftsfähigen Technologien, die Größe des Marktes und relevanten Wettbewerber werden deutlich besser erkennbar. Der Rückgang an Unsicherheit führt ebenfalls zu besseren Finanzierungsmöglichkeiten über den Kapitalmarkt und durch Banken, so dass zusammengenommen jetzt kontinuierliches Wachstum der überlebensfähigen Unternehmen möglich ist.  Beginn von strategischem Verhalten - während des Entrepreneurial Regimes müssen Unternehmen insbesondere die Möglichkeit deutlicher technologischer und/ oder marktseitiger Veränderungen und Unsicherheit berücksichtigen. Einzelne Wettbewerber und Entstehung des dominanten Designs Zeit industriespezifisches Wissen Entrepreneurial Regime Routinized Regime etablierte Unternehmen mit ähnlichen Technologiepfaden im Routinized Regime heterogene Technologiepfade im Entrepreneurial Regime Eintrittsbarriere in Form von akkumuliertem industriespezifischem Wissen Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 158 deren Strategien spielen in dieser Phase eine untergeordnete Rolle, da deren Überlebensfähigkeit nicht klar zu erkennen ist und Strategien sehr schnellen Veränderungen unterliegen. Der Übergang zum Routinized Regime ermöglicht erstmals strategisches Verhalten, da jetzt die überlebensfähigen Wettbewerber klar identifizierbar und deren Strategien erkennbar werden. Durch strategische Investitionen in Sunk-Cost-Aktivitäten (große Produktionsanlagen, Marketing und Branding, M&A, unternehmensspezifische Fähigkeiten etc.) entstehen jetzt ‚etablierte Unternehmen‘, die sich aufgrund dieser unternehmensspezifischen Fähigkeiten und Investitionen von Start-ups unterscheiden und Wettbewerbsvorteile aufbauen. Entwicklung von Wissen im Zeitablauf Der Aufbau von Wissen, das Erlernen technologischer Möglichkeiten und die Diffusion von Innovationen erfolgt entlang eines S-förmigen Verlaufs über die Zeit, wie in ► Abbildung 4.10 links abgebildet (Foster 1986, Christensen 1992 und Rogers 2010). Für jede Technologie werden erst geringe, dann ansteigende, dann wieder abnehmende Zuwächse an Wissen oder betreffend der Leistungsfähigkeit einer Technologie beobachtet, welche die Möglichkeiten einer Technologie sukzessiv ausschöpfen. Das S-förmige Muster kommt zustande, weil zunächst grundlegend mit einer neuen Technologie oder den Möglichkeiten neuen Wissens experimentiert werden muss, und so nur sehr kleine Fortschritte möglich sind. Sobald die Unsicherheit betreffs der Möglichkeiten der neuen Technologie zurückgeht und eine kritische Masse möglicher Produkte oder Anwendungen identifiziert wird, beschleunigt sich der industrieweite Lern- und Entwicklungsprozess durch einen massiven Anstieg an kumulierten F&E-Investitionen der Unternehmen deutlich. Schließlich setzt eine Verlangsamung und Verringerung der Lernrate ein, da die Möglichkeiten der Technologie zunehmend - bspw. aufgrund physischer Gesetzmäßigkeiten - ausgeschöpft sind. Dieses Muster an Wissenszuwachs gilt in gleicher Weise auf Unternehmenswie auf Industrieebene und ist für viele Produkte und Industrie nachgewiesen - Tragfähigkeit von Segelschiffen, Zuglast von Diesellokomotiven, Gummiabrieb von Autoreifen, Sitzplatzanzahl in Passagierflugzeugen, Speicherplatz auf Festplatten, Verarbeitung von Baumwolle, Belastbarkeit von Kunststoff oder Gewichtsreduktion bei Rennrädern - allerdings auch für menschliches Erlernen neuer Fähigkeiten. Die Innovationsrate (oder Lernrate) entlang einer Technologie wird unter anderem durch den F&E-Aufwand der Unternehmen, die Wettbewerbsintensität, und die wechselseitige Adaptierbarkeit von Technologiefortschritten anderer Unternehmen beeinflusst: Dies ist unmittelbar aus ► Abbildung 4.9 erkennbar, in der sich eine S-Kurve des industriespezifischen Wissens im Übergang von Entrepreneurial zu Routinized Regime herausbildet. Wettbewerb und Innovationen 159 Abbildung 4.10: Technologie als S-Kurve und Abfolge von Generationen von Technologien. In ► Abbildung 4.10 rechts ist dargestellt, dass oft Abfolgen von Technologien im Zeitablauf zu beobachten sind. Wenn die technologischen Möglichkeiten einer Technologie zunehmend ausgeschöpft sind, investieren Unternehmen stärker in eine nachfolgende Generation dieser Technologie und führen diese in den Markt ein, sobald die Leistungsfähigkeit mindestens diejenige der vorherigen Technologiegeneration erreicht hat. Dies ist bei Computerprozessoren für PCs gut nachzuvollziehen: Zunächst wird ein Prozessor, bspw. ein Intel 80486 im Jahr 1989, in einer Basiskonfiguration neu in den Markt eingeführt. Nach der Einführung werden - durch unterschiedliche Unternehmen - über Taktraten (von 16 MHz auf bis zu 100 MHz), die Cache-Bestückung des Chips sowie Adressierbarkeit durch Software sukzessiv die Möglichkeiten dieser Technologiegeneration bis 1994 ausgeschöpft. Vorausgehende und nachfolgende Generationen von Intel-Computerprozessoren - 8088, 80186, 80286, 80386, 80486, P5, Celeron, i3, i5 und i7 - durchlaufen dasselbe Muster, ebenso die adaptierten Prozessoren der Wettbewerber. Wissenserhaltende Innovationen versus disruptive Innovationen Für die Abfolge der Technologien sind zwei Muster regemäßig zu beobachten: pfadabhängige wissenserhaltenden Innovationen (Sustaining Innovation) und wissenszerstörende disruptive Innovationen (Bower und Christensen 1995 sowie Christensen und Bower 1996). In ► Abbildung 4.11 sind beide Fälle skizziert. Bei einer wissenserhaltenden Innovation und einem Übergang von Technologie 1 zu Technologie 2, der durch eine relativ lange Übergangszeit und geringe technologische Differenz charakterisiert ist, sind bestehende Unternehmen in der Regel gut in der Lage, die neue Technologie zu adaptieren. Grundlage dafür ist pfad- und erfahrungsabhängiges Wissen über die bisherige Technologie, das das Verstehen und Bewerten der neuen Technologie ermöglicht, Unsicherheit betreffs der Implementierung reduziert und die Anpassungsprozesse gerade in etablierten Unternehmen gut gestaltbar macht. Zeit Wissen und Technologie T Möglichkeiten einer Technologie Rate des technologischen Fortschritts („Lernprozess“) Zeit Wissen und Technologie T 1 T 2 T 3 Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 160 Eine Abfolge kontinuierlicher, wissenserhaltender und -erweiternder Innovationen - über mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte - findet dann innerhalb eines industriespezifischen Paradigmas statt (Dosi 1982, Christensen und Rosenbloom 1995 und Castellacci 2008). Dieses ist im Routinized Regime gekennzeichnet durch Strategien, Geschäftsmodelle, Prozesse und Produkte, die im Wesentlichen von allen Unternehmen einer Industrie in ähnlicher Weise verstanden und angewendet werden. So ähneln sich bspw. Unternehmen in der Finanzdienstleistungsindustrie derart, dass ein Mitarbeiter sich bei einem Wechsel von BNP Paribas zur Deutschen Bank oder zur Banco Santander schnell zurecht findet, weil im Wesentlichen die gleichen Dinge auf die gleiche Art und Weise gemacht werden und ähnliche strategische Überlegungen eine Rolle spielen. Ein industriespezifisches Paradigma fasst - im Sinne von Kuhn (1962) - alle Routinen, Prinzipien, Standardantworten und das Wissen zusammen, die von Unternehmen angewendet werden, um im Wettbewerb zu bestehen. Wissenserhaltende Innovationen stabilisieren ein industriespezifisches Paradigma, festigen die Positionen etablierter Unternehmen und stärken Eintrittsbarrieren gegenüber neuen Unternehmen. Abbildung 4.11: Wissenserhaltende Innovationen und disruptive Innovationen. Disruptive Innovationen zerstören dagegen industriespezifische Paradigmen und gefährden Unternehmen in ihrer Existenz und verändern Marktstrukturen - in einem Prozess schöpferischer Zerstörung wie ursprünglich von Schumpeter (1942) beschrieben -, so dass neu in den Markt eintretende Unternehmen regelmäßig etablierte Unternehmen verdrängen und deren Marktführerschaft ablösen. Bei einer disruptiven Innovation und einem Übergang von Tech- Zeit Wissen und Technologie T1 T2 T3 A 12 A 23 G 12 G 23 disruptive Innovation bisheriges Paradigma künftiges Paradigma wissenserhaltende Innovation Wettbewerb und Innovationen 161 nologie 2 zu Technologie 3, der - wie in ► Abbildung 4.11 rechts zu sehen - durch eine relativ kurze Übergangszeit und eine große technologische Differenz charakterisiert ist, sind bestehende Unternehmen oft nicht in der Lage, die neue Technologie schnell genug und treffsicher zu adaptieren. Der Grund hierfür ist, dass pfad- und erfahrungsabhängiges Wissen aus dem bisherigen Paradigma eine Einordnung und Bewertung der neuen Technologie nicht unterstützen, sondern erschweren: Die Technologie unterscheidet sich in vielen Dimensionen grundlegend von der bisherigen und so entsteht Unsicherheit betreffs der Implementierung. Unternehmen sind auf Grund pfadabhängiger Sichtweisen sprichwörtlich blind gegenüber disruptiven Innovationen, zögern dann bei der Adaption und werden in der Folge von neuen Wettbewerbern aus dem Markt gedrängt. Disruptive Innovationen bringen ein neues industriespezifisches Paradigma hervor: Bisherige Routinen, grundlegende Prinzipien und vorhandenes Wissen werden in weiten Teilen obsolet und zerstört, so dass etablierte Unternehmen ihre ressourcenbasierten Wettbewerbsvorteile verlieren. So hat das Versandhaus Quelle die Bedeutung von E-Commerce und die Bedrohung durch Amazon nicht verstanden, Enzyklopädie-Verlage wie Brockhaus oder Britannica haben die Möglichkeiten von kollaborativem Erstellen von Artikeln wie bei Wikipedia übersehen, Telekommunikationsanbieter haben weite Teile der Erlöse aus SMS aufgrund kostenloser Dienste wie WhatsApp verloren und Filmhersteller wie Kodak - die tatsächlich die digitale Fotografie mit erfunden haben - haben die Möglichkeiten und die Entwicklungsgeschwindigkeit einer neuen Technologie völlig falsch eingeordnet, die zu neuen Kameras, neuem Kundenverhalten und neuen Geschäftsmodellen und Produkten führten. Für das Scheitern etablierter Unternehmen werden regelmäßig drei sich wechselseitig verstärkende Ursachen identifiziert (Klenner 2011, Kelly und Amburgey 1991, Christensen und Bower 1996 sowie Hill und Rothaermel 2003):  Die generelle Trägheit von etablierten Unternehmen in Veränderungs- und Anpassungsprozessen, d.h. zu schwach ausgeprägten dynamischen Fähigkeiten, die sich in fehlende Flexibilität und Adaptivität in Bezug auf Technologieveränderungen niederschlagen.  Pfadabhängige Investitionen in die bisherige Technologie oder Marktposition, die einen Wechsel der Technologie aus finanzieller Perspektive unattraktiv erscheinen lassen, weil das Bestandsgeschäft (noch) profitabel ist. Zudem haben pfadabhängige Investitionen Sunk-Cost-Charakter, so dass Abschreibungen auf Kapitalstöcke das Überleben der Unternehmen gefährden.  Eine strategische Fehleinschätzung der sich rapide verändernden Markt- und Umweltbedingungen sowie Unsicherheit aufgrund sich verschiebender Leistungsmerkmale der Produkte und entstehende Wettbewerbsvorteile für neue Unternehmen. Die Merkmale disruptiver Innovationen gleichen sich über viele Industrien und Studien. Im Kern ist das neu aufkommende Produkt oder Geschäftsmodell zunächst aufgrund eingeschränkter Funktionalität keine Bedrohung für etablierte Unternehmen - das Wachstum erfolgt mit wenigen Kunden in Nischenmärkten. Allerdings sind Produkte auf Basis disruptiver Innovationen oft einfacher zu bedienen und fokussieren auf Leistungsmerkmale, die bislang nicht verfügbar waren. So waren die ersten Digitalkameras zwar sehr schwer und unhandlich, die maximale Auflösung und die maximale Zahl der Bilder blieb deutlich hinter Analogkame- Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 162 ras zurück - dafür haben Digitalkameras zu einem Wettbewerbsvorteil im Nischenmarkt der Sportfotografie geführt (Klenner 2011 und Klenner et al. 2013.). Etablierte Unternehmen können bei einer Verbesserung der Leistungsparameter des disruptiven Konkurrenzproduktes nicht in Form einer kontinuierlichen Verbesserung ihrer bisherigen Produkte reagieren - eine Analogkamera kann keine 2000 Bilder speichern, die Kosten pro Foto können nicht auf Null gesenkt werden, man kann kein Fotobuch erstellen und ein Hochladen oder Teilen der Bilder in soziale Netzwerke ist unmöglich. In der Folge wurde das komplette Wertschöpfungsnetzwerk analoger Fotografie zerstört und durch ein neues digitales Ökosystem ersetzt - zahlreiche Unternehmen (Filmhersteller, Kameraherstellen, Filmentwickler, Fotofachgeschäfte und Vertriebspartner) verloren in diesem Prozess schöpferischer Zerstörung ihre Existenzgrundlage und wurden aus dem Markt gedrängt. Klassifikation von Innovationen Die Wettbewerbswirkungen von Innovationen können anhand der Transilience Map, wie in ► Abbildung 4.12 oben skizziert, abgeschätzt werden (Abernathy und Clark 1985, Clark 1985 sowie Henderson und Clark 1990). Innovationen werden hier gleichzeitig in ihrer wissenserhaltenden und wissenszerstörenden Wirkung auf die Kunden-Markt-Beziehung und die Technologie in vier mögliche Ausprägungen geordnet:  Pfadabhängige Innovationen stärken bestehende Kundenbeziehung auf Basis vorhandener Technologie. Im Wesentlichen werden hier inkrementell Leistungsmerkmale der Produkte verändert oder die Produktionskosten reduziert. Die Markteinführungen von Produktgenerationen in der Automobilindustrie fallen in diese Kategorie. Pfadabhängige Innovationen sind wissenserhaltend und stabilisieren das Wettbewerbsverhalten der Unternehmen im Routinized Regime und festigen die Rolle etablierter Unternehmen - das akkumulierte Wissen der Unternehmen steigt an.  Wird bestehende Technologie auf einen neuen Markt oder ein neues Marktsegment angewendet, kommt es zur Nischenbildung. Insbesondere gilt dies auch, wenn ein Unternehmen mit bestehender Technologie Kundensegmente eines Wettbewerbers adressiert. Auf diese Art hat Sony in den 1980er-Jahren mit dem Walkman große Marktanteile gewonnen. Ähnlich basieren die Strategien der Automobilhersteller, mit SUVs Wettbewerbern Marktanteile abzunehmen, vollständig auf vorhandener Technologie, adressieren aber neue Marktsegmente.  Wird eine vorhandene Kundenbeziehung stabilisiert oder ausgebaut, aber eine vollständig neue Technologie verwendet, liegt eine revolutionäre Innovation vor. In diese Kategorie fallen die Strategien etablierter Banken, ihr Filialgeschäftsmodell mit den Bestandskunden in Richtung Onlinebanking umzubauen, oder von Bildschirmherstellern beim Übergang zu hochauflösenden Formaten und Technologien. Revolutionäre Innovationen werden von etablierten Unternehmen mit starken F&E-Abteilungen hervorgebracht, die teilweise ihre eigene Wissensbasis obsolet machen. Gleichzeitig werden hierdurch die Eintrittsbarrieren reduziert, so dass das technologische Paradigma und indirekt die etablierten Unternehmen angreifbar werden.  Wenn sowohl die bestehende Marktbeziehung als auch der vorhandene Technologiepfad zerstört werden, kommt es zu einer disruptiven Innovation (auch als Architectural Innovation bezeichnet). Hiermit werden neue Märkte geschaffen, bestehende Märkte und die Wettbewerb und Innovationen 163 Grundmuster des strategischen Verhaltens sowie die Ausprägung der Wettbewerbsvorteile grundlegend verändert und etablierte Unternehmen in ihrer Existenz bedroht. Amazon hat in dieser Definition eine mehrdimensionale disruptive Innovation umgesetzt: Durch reinen E-Commerce wurde die Technologiedimension im Einzelhandel erneuert, durch die Kombination aus Proliferation- und Long-Tail-Strategie (Ausdehnung in alle Produktkategorien und Besetzung aller Nischen in jeder Kategorie) wurden die Kundenbeziehungen bestehender Wettbewerber zerstört und durch das Öffnen der Plattform für Drittanbieter wurde mit einem mehrseitigen Markt eine strategische Innovation etabliert. Abbildung 4.12: Disruptive Innovationen und technologisches Regime. Markt/ Kunden Disruption und Erneuerung pfadabhängige Innovation revolutionäre Innovation Technologie Stärkung und Ausbau Stärkung und Ausbau Disruption und Erneuerung bestehende Fähigkeiten Nischenbildung disruptive Innovation bestehende Fähigkeiten Approprierungsbedingungen hoch entrepreneurial regime disruption niedrig niedrig hoch akkumuliertes Wissen Zeit routinized regime akkumuliertes Wissen technologische Möglichkeiten Unternehmen, Wettbewerb und Innovationen 164 Die Transilience Map findet in der Strategieentwicklung oder Investitions- und Portfolioplanung von Unternehmen Anwendung, um die Positionierung neuer Produkte festzulegen oder das Verhalten von Wettbewerbern einzuordnen. Zudem kann über diese Definition von Disruption - der gleichzeitigen Zerstörung von Technologie und Kundenbeziehung - ein Rückschluss auf die Dynamik technologischer Regime erfolgen, wie in ► Abbildung 4.12 unten gezeigt:  Über die Zeit entwickelt sich eine Industrie vom Entrepreneurial Regime in das Routinized Regime - wesentlicher Grund ist, dass zum Ergreifen technologischer Möglichkeiten und zum Appropriieren von Gewinnen zunächst gering akkumuliertes Wissen ausreicht, aber mit Entstehen des dominanten Designs immer stärker industriespezifisch akkumuliertes Wissen notwendig wird, welches zu Teilen auf Erfahrung, zu anderen Teilen auf F&E- Investitionen basiert.  Zerstört eine disruptive Innovation industriespezifisches Wissen, gehen die Vorteile der etablierten Unternehmen verloren und Eintrittsbarrieren verlieren drastisch an Bedeutung. Die Industrie fällt zurück vom Routinized in das Entrepreneurial Regime und junge, neue Unternehmen können jetzt in großer Zahl in die Industrie eintreten und versuchen, Marktanteile zu gewinnen. Diese Situation ist seit etwa 2010 in der Finanzdienstleistungsindustrie zu beobachten (Münter und Weisser 2016). Ob FinTechs - junge technologiebasierte Unternehmen, die virtuelle Produkte und digitale Geschäftsmodelle etablieren - tatsächlich dauerhaft überlebensfähig sind und signifikant Marktanteile gewinnen können, hängt wesentlich von der Frage ab, ob und wie schnell etablierte Banken lernen können und sich auf Basis dynamischer Fähigkeiten an veränderte Umweltbedingungen anpassen können. 4.4 Zusammenfassung Unternehmen basieren auf Wissen, welches reinen oder spontanen Marktlösungen überlegen ist. Die Überlebensfähigkeit von Unternehmen im Wettbewerb hängt davon ab, ob Wettbewerbsvorteile in Gewinne umgewandelt werden können, die den Erwartungen der Eigentümer entsprechen. Die Hypothese der Gewinnmaximierung als solche ist sowohl aus verhaltenswissenschaftlicher, aus strategischer wie auch aus Corporate-Governace-Perspektive fraglich. Aus Managementperspektive ist zentral zu verstehen, welches die wesentlichen Wettbewerbsvorteile und Gewinntreiber eines Unternehmens sind. Wettbewerbsvorteile von Unternehmen können aus zwei sich ergänzenden Blickwinkeln erklärt werden. Der Markt-based View betont die Frage der strategischen Positionierung eines Unternehmen im richtigen Markt, der Resource-based View stellt die Anwendung und Weiterentwicklung der richtigen Fähigkeiten heraus - Gewinne von Unternehmen sind dementsprechend bestimmt durch unternehmens- und industriespezifische Faktoren. Ob und wie stark Wettbewerbsvorteile aufgebaut und eingesetzt werden können, hängt wesentlich vom Zusammenspiel von Wettbewerb und Innovationen im Zeitablauf in unterschiedlichen technologischen Regimen ab. Ein Industrielebenszyklus ist in frühen Phasen Zusammenfassung 165 durch ein Entrepreneurial Regime geprägt in dem junge, kleine Start-ups Vorteile im Innovationsprozess besitzen. Wenn ein dominantes Design entsteht und es einigen Unternehmen gelingt, industriespezifisches Wissen als Eintrittsbarriere aufzubauen, wechselt der Wettbewerb in das Routinized Regime. Durch wissenserhaltende Innovationen kann sich ein stabiles technologisches Paradigma herausbilden, durch wissenszerstörende disruptive Innovationen können - entsprechend der von Schumpeter argumentierten schöpferischen Zerstörung - etablierte Unternehmen aus dem Markt gedrängt und Marktstrukturen vollständig verändert werden. Vor diesem Hintergrund muss aus Managementperspektive einerseits eingeschätzt werden, in welchem technologischen Regime und Paradigma sich ein Unternehmen befindet, zum anderen muss das Risiko von wissenszerstörenden Innovationen abgeschätzt werden - entsprechend muss das eigene Innovationsportfolio ausgerichtet werden.  Kontrollfragen [1] Beschreiben Sie praktische Anwendungsfelder der Analyse von Wettbewerb, der Existenz von Unternehmen und Marktstruktur sowie deren Grenzen, Vor- und Nachteile! [2] Erläutern Sie aus unterschiedlichen Perspektiven, weshalb es Unternehmen gibt. [3] Erläutern Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Market-based View und Resourcebased View zur Erklärung von Wettbewerbsvorteilen und Entwicklung von Strategien. [4] Erläutern Sie Unterschiede zwischen neuen und etablierten Unternehmen! [5] Erläutern Sie den Begriff disruptiver Innovation! Welche beiden Bedingungen müssen hierfür gegeben sein? Erläutern Sie Beispiele für drei Industrien, in denen durch Disruption etablierte Unternehmen verdrängt wurden! [6] Erläutern Sie die Bedeutung von Eintrittsbarrieren für die Profitabilität der Unternehmen in einer Industrie! Erläutern Sie drei mögliche Formen von Eintrittsbarrieren! [7] Wie entwickelt sich typischerweise die Zahl der Unternehmen einer Industrie langfristig? Was sind mögliche Erklärungen für dieses Muster? [8] Erläutern Sie den Zusammenhang zwischen Marktstruktur, Strategie und Marktergebnis! [9] Erläutern Sie den Zusammenhang zwischen Strategie, Wettbewerbsvorteilen und Gewinnen! [10] Beschreiben Sie den Einfluss auf Unternehmensstrategie beim Übergang von Entrepreneurial zu Routinized Regime!  Literatur Abernathy, W.J. und Clark, K.B., Innovation: mapping the winds of creative destruction, Research Policy, 1985, 14, 3-22. Alchian, A.A. und Demsetz, H., Production, information costs, and economic organization, American Economic Review, 1972, 62, 5, 777-795. 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Wenn die Wachstumsrate eines Unternehmens die Wachstumsrate der Mitarbeiterzahl und des Kapitaleinsatzes übersteigt, liegen zunehmende Skalenerträge vor („das Geschäftsmodell skaliert“) und unter sonst gleichen Umweltbedingungen kann die Gewinnzone schneller erreicht werden. Entscheidungen über die Wachstumsrate oder die Größe von Unternehmen und deren Produktionskapazität gehören aber auch in etablierten Unternehmen zu den wesentlichen strategischen Entscheidungen: Wann immer ein Unternehmen einen neuen Standort eröffnet, kurz- oder langfristige Kapazitätsanpassungen infolge veränderter Nachfragestruktur vornimmt oder Werke verschiedener Standorte zusammenlegt, wird die Unternehmensgröße angepasst. Damit geht einher, dass die wesentlichen Einsatzfaktoren Arbeit und Kapital - die Zahl und Qualifikation der Mitarbeiter sowie die Struktur und Umfang von Infrastruktur, IT-Hard- und Software, Maschinen und Investitionen - angepasst werden. Um die Bedeutung und Größenordnung derartiger Entscheidungen zu verdeutlichen: Volkswagen hatte 2014 weltweit ca. 100 Produktionsstandorte mit mehr als 500.000 Mitarbeitern. Davon waren 20 in China mit in Summe 89.000 Mitarbeitern, von 2014 bis 2018 sollen ca. EUR 18,2 Mrd. investiert werden, an den chinesischen Standorten waren 2014 ca. EUR 36 Mrd. Eigen- und Fremdkapital gebunden, die maximale Produktionskapazität an den chinesischen Produktionsstandorten betrug 2014 ca. 3,3 Mio. Fahrzeuge (Manager Magazin 2013). In vielen Industrien verändert sich im Zeitablauf - durch Innovationen und kontinuierliche Lern- und Verbesserungsprozesse - das Wissen betreffend möglicher Fertigungsprozesse in der Produktion und Organisation des Unternehmens. Technologische Entwicklungen bedeuten, selbst bei konstanter Produktionsmenge, eine Veränderung des Zusammenspiels von Qualifikation und Anzahl der Mitarbeiter, verwendeter Fertigungsverfahren und Art und Umfang des Kapitaleinsatzes. Natürlich sind diese Entwicklungen nicht exogen vorgegeben: In empirischen Studien zeigt sich, dass die Adaption von Prozessinnovationen und die Produktivität eines Unternehmens maßgeblich von heterogenen Managementfähigkeiten beeinflusst werden (Bloom und van Reenen 2007). Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 172  Case Study | Produktivitätsentwicklung bei Audi In ► Tabelle 5.1 sind diese Entwicklungen und einige der dahinter liegenden Entscheidungen für den Automobilhersteller Audi im Vergleich der Jahre 1925 und 2015 greifbar: Die absolute Größe des Unternehmens hat sich - gemessen an der Produktionsmenge von PKWs - von 1.200 Fahrzeugen auf 1,8 Mio. Fahrzeuge erhöht, eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate (Compound Annual Growth Rate CAGR) von 8,5 %, unabhängig von der gestiegenen Qualität der Fahrzeuge. Dagegen ist die Zahl der Stellen in der Fertigung (Full Time Equivalents FTE) nur mit einer CAGR von 3,3 % gewachsen. Dies ist gleichbedeutend mit einer Steigerung der Produktivität, d.h. der produzierten Fahrzeuge je Mitarbeiter pro Jahr, von durchschnittlich mehr als 5 % jedes Jahr: von etwa 0,5 Fahrzeugen pro Mitarbeiter im Jahr 1925 auf etwa 42 Fahrzeuge pro Mitarbeiter im Jahr 2015. Damit einher ging ein deutlicher Anstieg von Stellen außerhalb der Fertigung: 2015 gab es bei Audi mehr als 34.000 Stellen in administrativen und betriebswirtschaftlichen Bereichen wie Personal, Controlling, Marketing, Vertrieb, IT oder Unternehmensführung. Produktionsmenge, Mitarbeiter und Produktivität bei Audi Jahr 1925 2015 CAGR Produktionsmenge in Fahrzeugen ca. 1.200 ca. 1.800.000 ~ 8,5 % FTE in der Fertigung ca. 2.400 (ca. 91 %) ca. 43.000 (ca. 56 %) ~ 3,3 % Produktivität je Mitarbeiter ca. 0,5 Autos p.a. ca. 42 Autos p.a. > 5 % FTE außerhalb der Fertigung ca. 200 (ca. 9 %) ca. 34.000 (ca. 44 %) Tabelle 5.1: Technologie, Organisation und Fertigungsprozess Daten:  audi.com/ corporate/ de/ investor-relations.html und Auskunft Audi-Archiv 2016, eigene Berechnungen. Treiber für Produktivitätssteigerungen sind unter anderem Innovationen, die neue Produktionsprozesse oder ein verbessertes Zusammenspiel von menschlicher Arbeit und Maschinen ermöglichen (Belitz et al. 2017 zu einer Analyse von Produktivitäts- und Wachstumstreibern in deutschen Industrien). Es deutet sich an, dass diese Entwicklung sich in der sogenannten vierten industriellen Revolution in den nächsten Jahrzehnten fortsetzt (Bloem et al. 2014, Bughin 2017 et al., van Tunzelmann 2003 und McGowan et al. 2015): Unter anderem Digitalisierung, Internet of Things (die Vernetzung und Kommunikation von Produkten, Services und Maschinen), Big Data und künstliche Intelligenz werden Unternehmen ermöglichen, neue Technologien zu entwickeln und zu implementieren, um Fertigungsprozesse weiter zu verbessern. Damit einhergehen wird eine Veränderung von Unternehmensorganisation, Entscheidungsroutinen, Qualifikationsprofilen der Mitarbeiter und dem Zusammenspiel von Mensch und Maschine. Frey und Osborne (2017) beschreiben, dass in den USA 47 % aller heutigen Stellen in den kommenden 20 Jahren von Robotern, Big Data oder intelligenter Software Produktionsfunktion und Technologie 173 ersetzt werden können. Für Deutschland haben Bonin et al. (2015) ermittelt, dass 42 % aller Stellen durch Digitalisierung betroffen sein können.  Lernziele Dieses Kapitel beschäftigt sich mit  der Entwicklung eines grundlegenden Verständnisses, wie Entscheidungen betreffend des wechselseitigen Zusammenhangs von Produktionsmenge und des Einsatzes der Einsatzfaktoren Kapital und Arbeit in langversus kurzfristiger Perspektive in Abhängigkeit der Technologie getroffen werden,  dem Konzept des abnehmenden Grenzproduktes, um zu verstehen, wie ein Unternehmen kurzfristig durch Veränderung des Einsatzes des Faktors Arbeit die Produktionshöhe beeinflussen kann und  dem Konzept der Skalenerträge, um herauszuarbeiten, wie ein Unternehmen langfristig Entscheidungen über die Größe von Unternehmensteilen oder Standortfragen treffen kann oder Wachstumsprozesse neuer digitaler Geschäftsmodelle steuern kann. 5.1 Produktionsfunktion und Technologie Unternehmen unterscheiden sich in zahlreichen Dimensionen: so sind Unternehmensgröße, Wachstumsraten oder die verwendete Technologie nicht nur über verschiedene Industrien hinweg heterogen, sondern auch innerhalb einer Industrie. Zudem unterscheiden sich Wettbewerber innerhalb einer Industrie oft deutlich in ihrer Produktivität, gemessen durch die Produktionsmenge je Mitarbeiter pro Stunde oder Jahr. Hierfür lassen sich mindestens drei grundlegende, sich wechselseitig beeinflussende Treiber identifizieren:  aktive strategische Entscheidungen des Managements für eine bestimmte Technologie und Unternehmensgröße, um auf Basis unternehmensspezifischer Fähigkeiten bestimmte Ziele zu erreichen,  markt- und wettbewerbsbedingte externe Einflussfaktoren wie absolute Höhe und saisonale oder strukturelle Schwankungen der Nachfrage sowie Zahl der Wettbewerber, welche die Entscheidungen des Managements beeinflussen oder sogar determinieren,  Pfadabhängigkeiten früherer unternehmensspezifischer Entscheidungen, die insbesondere im Zeitablauf die Wahlmöglichkeiten der Technologie einschränken und den gewählten Wachstumspfad eines Unternehmens bestimmen. Produktion beschreibt allgemein die Transformationsleistung (d.h. die Wertschöpfung) eines Unternehmens von Einsatzfaktoren in Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle für Endkunden (B2C) oder Geschäftskunden (B2B). Produktion wird möglich durch die organisierte Kombination von Mitarbeitern (d.h. dem Einsatzfaktor Arbeit gemessen durch die Zahl an Stellen) und Maschinen, Infrastruktur, Roh-, Hilfs-, Betriebsstoffen und Lagerbeständen (d.h. dem Einsatzfaktor Kapital gemessen durch den Einsatz von Eigen- und Fremdkapital). Die Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 174 Höhe der Produktion ist abhängig von der Zahl der Mitarbeiter, der Zahl der eingesetzten Maschinen und insbesondere von deren spezifischer Verknüpfung. Diese Verknüpfung von Kapital und Arbeit bezeichnet man als Technologie - im weiteren Sinne beschreibt Technologie die Prozesse, das Wissen sowie die Organisation eines Unternehmens und dessen Management. Abbildung 5.1: Transformationsleistung eines Unternehmens. Die ► Abbildung 5.1 veranschaulicht die Logik der Transformationsleistung eines Unternehmens. Aus heterogenen Einsatzfaktoren wird über die Verknüpfung von Kapital und Arbeit die Produktion von Dienstleistungen oder Produkten ermöglicht - diese Verknüpfung von Arbeit und Kapital wird als Produktionsfunktion bezeichnet. Natürlich erfolgt die Verknüpfung von Kapital und Arbeit unternehmensspezifisch und dynamisch: Jedes Unternehmen verfügt über spezifische Fähigkeiten, Erfahrungen, unternehmensspezifisches Organisationskapital und Routinen bei der Kombination von Arbeit und Kapital, zudem lernt jedes Unternehmen im Zeitablauf (Black und Lynch 2005). Die Einsatzfaktoren Kapital und Arbeit und kurzvs. langfristige Entscheidungen Jedes Unternehmen muss sich im Rahmen der Unternehmensfinanzierung in geeigneter Weise Kapital verschaffen: Eigenkapital von Eigentümern oder über den Kapitalmarkt bei neuen Aktionären, Fremdkapital über Kredite bei Banken oder die Emission von Anleihen. Kapital 𝐾 bezeichnet und umfasst alle Formen von Eigen- und Fremdkapital (auf der Aktivseite der Bilanz auch finanzierte Rohstoffe oder Material) in unterschiedlichen Qualitäten, bspw. in Hinblick auf Finanzierungsstruktur oder Fristigkeit. Die Kosten (Faktorpreise) für die Nutzung des Dienstleistungen • Unternehmensberatung • Marketingkampagne … Produkte • Zahnpasta • Laptops • Wein • Bücher … Geschäftsmodelle • Plattformen … Kapital Arbeit Produktion Wissen • Rechte/ Lizenzen • Organisation • Technologie Angestellte • Manager • Mitarbeiter Infrastruktur/ Inputs • Standorte/ Gebäude • Fabriken/ Maschinen • Vorprodukt/ Rohstoff Externe • Zeitarbeiter • Dienstleister Finanzierung • Eigenkapital • Fremdkapital Technologie Produktionsfunktion und Technologie 175 Kapitals umfassen alle ökonomischen Kosten, d.h. Opportunitätskosten und Abschreibungen - stark vereinfacht kann man die Kapitalkosten auf die gewichteten Eigen- und Fremdkapitalkosten, wie in ► Kapitel 4 beschrieben, reduzieren: Die Kosten eines Unternehmens für Kapital entsprechen dann dem Kapitalkostensatz (bspw. Weighted Average Cost of Capital WACC) multipliziert mit der eingesetzten Menge an Kapital. In gleicher Logik muss ein Unternehmen am Arbeitsmarkt Mitarbeiter gewinnen: Arbeit 𝐿 bezeichnet alle Formen von Arbeit (Vorstände bis hin zu Sachbearbeitern) in unterschiedlichen Qualitäten. Die Kosten (Faktorpreise) für die Nutzung der Arbeit umfassen wieder alle ökonomischen Kosten, bspw. Löhne, Gehälter, Sozialabgaben oder Fortbildung - stark vereinfacht kann man die Arbeitskosten auf den Lohnsatz pro Zeiteinheit reduzieren. Die Kosten für Arbeit entsprechen dann dem Lohnsatz (Stundenlohn, Jahresgehalt etc.) multipliziert mit der eingesetzten Menge an Arbeit. Durch Variation der Einsatzfaktoren Kapital und Arbeit kann die Produktionshöhe angepasst werden. Allerdings kann kurzfristig der Kapitaleinsatz nur geringfügig oder nur sehr kostspielig geändert werden: Selbst eine Stilllegung von Maschinen reduziert nicht den Kapitaleinsatz, da die Maschinen weiter über Eigen- oder Fremdkapital finanziert werden. Dagegen kann der Einsatzfaktor Arbeit kurzfristig leichter angepasst werden, bspw. durch Anordnung von Überstunden, Kurzarbeit, Einstellung oder Abbau von Zeitarbeitskräften: Um die Produktionsmenge kurzfristig zu verändern, kann dies nur über den Einsatzfaktor Arbeit geschehen. Eine kurzfristige Analyse prüft daher, ob und wie stark sich die Produktionsmenge ändert, wenn man den Faktor Arbeit geringfügig verändert: Wie stark steigt die Produktionsmenge, wenn ein zusätzlicher Mitarbeiter eingestellt wird? Das grundlegende Konzept des Grenzproduktes der Arbeit wird in ► Kapitel 5.2 entwickelt. Langfristig können alle Faktoren verändert werden: Um die Produktionsmenge zu verändern, kann dies über die Einsatzmenge beider Einsatzfaktoren oder die Wahl einer neuen Technologie geschehen. Die langfristige Analyse untersucht daher, ob und wie sich die Produktionsmenge ändert, wenn man alle Faktoren (Kapital, Arbeit und ggfs. die Technologie) gleichzeitig verändert. Das grundlegende Konzept der Skalenerträge wird in ► Kapitel 5.3 erläutert. Was kurz- und langfristig bedeutet, hängt natürlich von einzelnen Industrien (bspw. Consulting vs. Banking vs. Stahlproduktion) ab und kann sich im Zeitablauf verändern. Zudem unterscheiden sich Industrien in ihrer Substitutionselastizität, d.h. wie leicht Kapital und Arbeit gegeneinander substituiert und welche Kombinationsmöglichkeiten generell gestaltet werden können. Nur selten sind die Unternehmen vollständig frei in ihren Kombinationsmöglichkeiten, wie ein Tankstellenbetreiber bei der Entscheidung zwischen einer vollautomatischen Autowaschanlage vs. reiner Handwäsche von Autos. Produktionsfunktion und deren empirische Ermittlung Der funktionale Zusammenhang der Produktionsfunktion wird allgemein beschrieben durch (5.1) 𝑞 𝑇 𝐾, 𝐿 , d.h., die Produktionsmenge 𝑞 wird bestimmt durch die unternehmensspezifische Technologie 𝑇 (d.h. bspw. die Produktions-/ Fertigungsverfahren, das Know-how, die Organisation und das Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 176 Management des Unternehmens) in Abhängigkeit des Kapitaleinsatzes 𝐾 und Arbeitseinsatzes 𝐿 . Die Produktionsfunktion kann - auf Basis tatsächlicher Daten eines Unternehmens - verschiedene funktionale Formen annehmen, die durch statistische und ökonometrische Methoden (bspw. Regressionsanalysen) ermittelt werden können. Eine mögliche Konkretisierung einer Produktionsfunktion ist die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion (5.2) 𝑞 𝐴 𝐾 𝐿 mit 𝐴, 𝛼, 𝛽 0 . In der Cobb-Douglas-Produktionsfunktion bezeichnet 𝐴 zusammengefasst die technologische Effizienz, d.h. alle Fähigkeiten eines Unternehmens, der Organisation oder die Prozesse - je höher der Wert von 𝐴 ist, desto größer ist die Produktion 𝑞 für gegebene Werte von 𝐾 und 𝐿 . 𝛼 und 𝛽 bezeichnen die partiellen Produktionselastizitäten von Arbeit und Kapital. Sie geben das prozentuale Wachstum der Produktionsmenge bei einer 1-prozentigen Steigerung des Arbeits- oder Kapitaleinsatzes an (und der jeweils andere Einsatzfaktor konstant gehalten wird): Je größer der Wert von 𝛼 oder 𝛽 , umso größer ist der Effekt auf die Produktionsmenge. Die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion ist unternehmensspezifisch und verändert sich im Zeitablauf. So gelten für jedes Unternehmen zu jedem Zeitpunkt unterschiedliche Werte für 𝐴 , 𝛼 und 𝛽 , allerdings ist die Struktur der Funktion für Unternehmen einer Industrie ähnlich. Unternehmen mit höheren Werten von 𝐴 haben bspw. einen technologischen Vorsprung - d.h., sie können mit gleichem Mitarbeiter- und Kapitaleinsatz mehr produzieren als ihre Wettbewerber. Die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion ist empirisch gut plausibilisiert und wird daher regelmäßig verwendet, um Produktionsentscheidungen von Unternehmen zu analysieren oder zu planen. Aus Managementperspektive ist entscheidend zu verstehen, wie technologische Effizienz und die partiellen Produktionselastizitäten bei Entscheidungen über den Kapital- und Arbeitseinsatz die Produktionsmenge beeinflussen:  Die technologische Effizienz A eines Unternehmens hängt wesentlich von den Fähigkeiten eines Unternehmens (Resource-based View), dem gewählten Fertigungsverfahren, der Organisation und des Managements des Unternehmens ab. Möglichkeiten 𝐴 zu steigern sind bspw. der Aufbau neuer oder Weiterentwicklung bestehender Fähigkeiten, die Optimierung der Organisationsstruktur und Verschlankung der Hierarchien, bessere Führung/ Management oder Aus-/ Fortbildung der Mitarbeiter, die Umstellung auf Just-in- Time-Produktion, leistungsfähigere Software im Callcenter oder Standardisierung der Produktion.  Die partielle Produktionselastizität 𝛂 des Kapitals hängt vom Zusammenspiel zwischen Mitarbeitern und Maschinen und misst den Effekt einer Ausweitung des Kapitaleinsatzes: Kann ein Mitarbeiter auch mehrere Maschinen (höherer Kapitaleinsatz) bedienen und steigt dann die Produktionsmenge? Wird durch den Einsatz von hochwertigeren und kapitalintensiveren Maschinen, bei gleicher Zahl und Qualifikation der Mitarbeiter, die Produktion steigen?  Die partielle Produktionselastizität 𝛃 der Arbeit hängt von Zusammenspiel zwischen Maschinen und Mitarbeitern ab und misst den Effekt einer Ausweitung der Mitarbeiter- Produktionsfunktion und Technologie 177 zahl: Kann die Zahl der Mitarbeiter einer Fertigungsstraße vergrößert werden, um die Produktion zu steigern? Kann die Zahl der Verkäuferinnen in einer Filiale erhöht werden, und steigt so der Absatz? Eine Produktionsfunktion ist kein hypothetisches Konstrukt: Die Produktionsfunktion jedes Unternehmens - d.h. der tatsächliche empirische und funktionale Zusammenhang zwischen der Produktionsmenge 𝑞 eines Unternehmens und den Einsatzfaktoren Kapital 𝐾 und Arbeit 𝐿 - kann durch Analyse unternehmensspezifischer Daten aus interner (Controlling, Finanzen, Operations) oder externer (Bilanz, GuV, Geschäftsberichte) Unternehmensrechnung ermittelt werden. Sie beschreibt die Logik und das Geschäftsmodell des Unternehmens abstrahierend von Produktkategorien, Bereichsbezeichnungen, Maschinentypen oder Standorten - stellt aber für das Management Entscheidbarkeit her und ermöglicht darüber hinaus aus öffentlich zugänglichen Bilanz- und GuV-Daten auch die Analyse von Wettbewerbern. Zur Identifikation der Produktionsfunktion kommen ökonometrische Verfahren wie Regressionsanalysen zum Einsatz, im Unternehmensalltag oft auf Basis von Excel, SPSS oder aus SAP-Lösungen. Alternativ können Werte für 𝛽 auch indirekt über Managementinterviews („wenn sich die Produktionsmenge bei bestehender IT Plattform verdoppelt - wie viel Prozent mehr Mitarbeiter benötigen Sie dann? “) ermittelt werden. Sind die Werte für 𝐴 , 𝛼 und 𝛽 der Wettbewerber bekannt, können diese im Rahmen von Benchmarking als Startpunkte für Optimierungsmaßnahmen des eigenen Unternehmens herangezogen werden.  Case Study | Turbinenhersteller bei kurzfristigen Veränderungen von Kapital und Arbeit 2000 2200 2400 2600 2800 3000 3200 3400 3600 Produktionsmenge q t 80,0 90,0 100,0 110,0 120,0 130,0 140,0 150,0 160,0 Kapitaleinsatz K t 150,0 170,0 190,0 210,0 230,0 250,0 Mitarbeiterzahl L t 2000 2200 2400 2600 2800 3000 3200 3400 3600 Produktionsmenge q q (estimate) t Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 178 Abbildung 5.2: Empirische Analyse der Unternehmensdaten zur Ermittlung der Produktionsfunktion. In ► Abbildung 5.2 sind die anonymisierten Daten eines mittelständischen Turbinenherstellers wiedergegeben. Offenbar wächst das Unternehmen über den Zeitraum 2004 bis 2010 relativ stark, getrieben durch einen Ausbau des Kapitaleinsatzes bei schwankender Mitarbeiterzahl. Die empirische Analyse der Daten des Index der Gesamtproduktion 𝑞 des Unternehmens, der Zahl der Mitarbeiter 𝐿 (im Quartalsmittelwert) und der Kapitaleinsatz 𝐾 in Mio. EUR (je Quartal) anhand einer Regressionsanalyse ermöglicht die Bestimmung der Produktionsfunktion als (5.3) 𝑞 4,12 𝐾 , 𝐿 , und damit der Werte von 𝐴 4,12 , 𝛼 0,79 und 𝛽 0,50 . In diesem Fall liegen im betrachteten kurzen Zeitraum keine maßgeblichen technologischen Veränderungen (bspw. Prozessinnovationen oder verbesserte Managementmethoden) vor, so dass 𝐴 als technologischer Parameter bei einem Wert von 4,12 konstant ist. 𝛼 und 𝛽 sind die partiellen Produktionselastizitäten von Arbeit und Kapital - erhöht (oder senkt) man den Kapitaleinsatz um 1 %, dann steigt (oder fällt) die Produktion um 0,79 %, variiert man den Arbeitseinsatz um 1 %, so variiert die Produktion um 0,50 %. Beträgt der aktuelle Kapitaleinsatz 𝐾 100 und die Zahl an Mitarbeitern 𝐿 200 , dann ergibt sich eine Produktionsmenge in Höhe (5.4) 𝑞 4,12 ⋅ 100 , ⋅ 200 , 2215,20 . Wie in der ► Abbildung 5.2 links unten zu erkennen ist, liefert die Schätzung der Produktionsfunktion eine enge Abbildung der tatsächlichen Produktionsdaten. Auf Basis dieser Information können nun die Auswirkungen von Veränderungen der Einsatzfaktoren analysiert werden. Erhöht man bspw. den Kapitaleinsatz 𝐾 um 1 %, so beträgt die neue Produktionsmenge (5.5) 𝑞 4,12 ⋅ 101 , ⋅ 200 , 100,79 % ⋅ 2215,20 2232,67 . Die Produktionsmenge wächst aufgrund der partiellen Produktionselastizität 𝛼 des Kapitals von 0,79 um 0,79 %. Verliert das Unternehmen hingegen zwei Mitarbeiter, d.h. der Arbeitseinsatz reduziert sich um 1 %, dann sinkt aufgrund der partiellen Produktionselastizität von 𝛽 0,50 die Produktionsmenge um 0,50 %: (5.6) 𝑞 4,12 ⋅ 100 , ⋅ 198 , 99,50 % ⋅ 2215,20 2204,12 . q = 245,38 + 20,237 K R² = 0,9377 2000 2200 2400 2600 2800 3000 3200 3400 3600 80 100 120 140 160 Produktionsmenge q K q = - 293,5 + 14,23 L R² = 0,3567 2000 2200 2400 2600 2800 3000 3200 3400 3600 170 190 210 230 250 Produktionsmenge q L Kurzfristige Entscheidungen: abnehmendes Grenzprodukt und Produktivität 179 Effizienz und kostenminimierender Kombination von Einsatzfaktoren Eine Produktionsfunktion beschreibt effiziente Kombinationsmöglichkeiten der Einsatzfaktoren Kapital und Arbeit, d.h. die maximal mögliche Produktionsmenge bei gegebener Technologie. Im Umkehrschluss heißt das, dass ein Unternehmen eine geplante Produktionsmenge dann effizient herstellt, wenn Faktoreinsatz und Gesamtkosten der Produktion minimiert werden. Bei gegebener Technologie und Faktorpreisen können dann die mindestnotwendigen Mengen an Kapital und Arbeit bestimmt werden. Allerdings produzieren die meisten Unternehmen in diesem Sinn nicht effizient, bspw. werden vorhandene Einsatzfaktoren nicht optimal genutzt - Fähigkeiten und Anzahl der Mitarbeiter passen nicht zur vorhandenen IT- Infrastruktur - oder die Qualifikation der Mitarbeiter sowie die Möglichkeiten der vorhandenen IT-Lösungen werden unvollständig genutzt. Effizienz und Ineffizienz können dann einfach unterschieden werden: Kann in einem Unternehmen Kapital oder Arbeit langfristig reduziert werden, ohne dass die Produktionsmenge zurückgeht, dann ist die Allokation der Einsatzfaktoren aktuell ineffizient. Somit sind Einsparungen von Einsatzfaktoren, bspw. durch Prozessoptimierung, durch die Reduktion von Working Capital oder durch den Abbau in zu großer Zahl eingestellter Mitarbeiter, und Kostensenkungen möglich, ohne dass die Produktionsmenge reduziert werden muss. In empirischen Studien zeigt sich, dass Effizienz von Unternehmen im Wesentlichen durch hohe Wettbewerbsintensität, effektive Wettbewerbspolitik sowie starken Einfluss des Kapitalmarktes und gute Corporate Governance gefördert wird - umgekehrt führen abgeschottete Märkte mit Handelsbarrieren oder umfangreiche staatliche Eingriffe in Märkte sowie Regulierung von Industrien zu Ineffizienz (Hay und Liu 1997, Holmes und Schmitz 2010 sowie Andries und Capraru 2014). 5.2 Kurzfristige Entscheidungen: abnehmendes Grenzprodukt und Produktivität Kurzfristig kann der Kapitaleinsatz in einem Unternehmen nicht oder nur geringfügig verändert werden, so dass die Produktionsmenge nur über veränderten Arbeitseinsatz beeinflusst werden kann. Typischerweise steigt die Produktionsmenge mit zunehmendem Arbeitseinsatz an: zunächst überproportional, dann jedoch nur noch unterproportional bevor sie gegebenenfalls sogar zurückgeht. Der Grund hierfür liegt in der verwendeten Technologie: Nur bestimmte Einsatzverhältnisse von Arbeit und Kapital sind sinnvoll oder machbar. Aus Managementperspektive sind zwei Konzepte für die Analyse kurzfristiger Produktionsentscheidungen zentral:  Produktivität AP (Average Product) beschreibt die Produktionsmenge 𝑞 je Mitarbeiter 𝐿 . Veränderungen der Produktivität treten auf, wenn die Veränderungsrate der Produktionsmenge von der Veränderungsrate der Mitarbeiter abweicht - wenn die Zahl der Mitarbeiter bspw. von 200 auf 220 um 10 % steigt, die Produktionsmenge aber nur von 1.000 auf 1.050 um 5 % wächst, geht die Produktivität je Mitarbeiter von 𝐴𝑃 5 Stück je Mitarbeiter auf 𝐴𝑃 4,77 um 4,55 % zurück. Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 180  Grenzprodukt MP (Marginal Product) beschreibt die Veränderung der Produktionsmenge ∆𝑞 bei einer marginalen Veränderung der Zahl der Mitarbeiter ∆𝐿 unter Beibehaltung der Kapitalausstattung des Unternehmens, im Beispiel oben also 𝑀𝑃 ∆ ∆ 2,5 - ein zusätzlicher Mitarbeiter erhöht also die Produktionsmenge um 2,5 Stück. In ► Abbildung 5.3 ist die Produktionsmenge 𝑞 in Burgern je Stunde einer Filiale eines Schnellrestaurants bei gegebener Kapitalausstattung, d.h. insbesondere der Ausstattung in der Küche und der Anzahl der Herde, zu sehen. Zunächst steigt mit zunehmender Mitarbeiterzahl die Produktionsmenge - im Wesentlichen aufgrund von Arbeitsteilung - überproportional an, aber mit zunehmend beengten Platzverhältnissen und einer festen Anzahl an Herden werden zunächst die Zuwächse an Produktion mit jedem Mitarbeiter geringer, bis schließlich die Anzahl der Mitarbeiter in der Küche die Produktion behindert: Die Produktionsmenge geht absolut zurück. Abbildung 5.3: Produktion in Abhängigkeit der Mitarbeiterzahl. Anhand von ► Tabelle 5.2 können diese Effekte quantitativ analysiert werden: Neben der absoluten Menge 𝑞 an produzierten Burgern bei steigender Zahl an Mitarbeitern 𝐿 ist die Produktivität (oftmals auch als Durchschnittsprodukt bezeichnet) 𝑞/ 𝐿 sowie das Grenzprodukt ∆𝑞/ ∆𝐿 , d.h. die Veränderung der Produktionsmenge ∆𝑞 ausgelöst durch eine Veränderung der Mitarbeiterzahl ∆𝐿 , angegeben. Die Produktivität steigt offenbar bis zum vierten Mitarbeiter auf (5.7) 𝐴𝑃 𝑞/ 𝐿 80/ 4 20 an - d.h. im Durchschnitt produziert jeder dieser vier Mitarbeiter 20 Burger in der Stunde. Die Gesamtproduktion steigt bis zum siebten Mitarbeiter an, der Zuwachs ist jetzt jedoch geringer, so dass die Produktivität jedes Mitarbeiters auf 𝐴𝑃 16 zurückgeht. Die Erklärung hierfür liegt im Grenzprodukt: Das Grenzprodukt ist zunächst positiv und steigt an - jeder weitere Mitarbeiter ermöglicht eine bessere Aufteilung der Arbeitsschritte, erhöht die Gesamtproduktion überproportional und steigert die Produktivität seiner Kollegen. Die zusätzliche Produktionsmenge bei einer geringen (marginalen) Vergrößerung des Arbeitseinsatzes (5.8) 𝑀𝑃 ∆𝑞/ ∆𝐿 80 54 / 4 3 26 produzierte Burger q je Stunde 0 Anzahl der Mitarbeiter L 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 100 50 Kurzfristige Entscheidungen: abnehmendes Grenzprodukt und Produktivität 181 verdeutlicht, dass bei einer marginalen Vergrößerung des Arbeitseinsatzes von drei auf vier Mitarbeiter die Produktionsmenge um 26 von 54 auf 80 Burger je Stunde ansteigt. Das Grenzprodukt ist aber nicht konstant. Mit zunehmender Zahl an Mitarbeitern ist das Grenzprodukt zunächst noch positiv, aber rückläufig, und schließlich negativ - weitere Mitarbeiter erhöhen zunächst die Produktion unterproportional, dann geht die Produktionsmenge sogar absolut zurück. Produktion mit variablem Arbeitseinsatz Mitarbeiterzahl Produktionsmenge Produktivität Grenzprodukt 𝐿 𝑞 𝐴𝑃 𝑞/ 𝐿 𝑀𝑃 ∆𝑞/ ∆𝐿 0 0 8 zunehmendes Grenzprodukt 1 8 8 16 2 24 12 30 3 54 18 26 abnehmendes Grenzprodukt 4 80 20 15 5 95 19 13 6 108 18 4 7 112 16 -8 8 104 13 -14 9 90 10 -20 10 70 7 Tabelle 5.2: Produktivität und Grenzprodukt bei kurzfristiger Variation des Arbeitseinsatzes und fixem Kapitaleinsatz. Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 182 Das Grenzprodukt wird unter anderem beeinflusst von:  Kapazitätsgrenzen - je stärker die vorhandene Kapazität ausgelastet ist, desto weniger können weitere Mitarbeiter die Produktion erhöhen, desto geringer ist das Grenzprodukt.  Managementfähigkeiten - je besser die Management- und Organisationsfähigkeiten in einem Unternehmen sind, desto höher ist das Grenzprodukt.  technologischen Möglichkeiten - je flexibler die vorhandene Technologie ist, desto besser können zusätzliche Mitarbeiter eingesetzt werden, desto höher ist das Grenzprodukt. Diese Beobachtung gilt kurzfristig in gleicher Weise für eine einzelne Filiale eines Schnellrestaurants wie auch für einen globalen Konzern - bei abnehmendem Grenzprodukt führt ein Zuwachs der Mitarbeiterzahl zu unterproportionalem Zuwachs der Produktionsmenge. In ► Abbildung 5.4 sind typische empirische Verläufe von Grenzprodukt, Produktionsmenge und Produktivität in Abhängigkeit der Zahl der Mitarbeiter zu sehen. Das Grenzprodukt entspricht dem Anstieg der Produktionsmenge bei einem Anstieg der Zahl der Mitarbeiter - mathematisch ist das gleichbedeutend mit der ersten Ableitung der Produktionsfunktion 𝑞 𝑇 𝐾, 𝐿 nach der Mitarbeiterzahl 𝐿 . Es können drei wesentliche Situationen, in ► Abbildung 5.4 rechts, unterschieden werden:  1: Grenzprodukt größer als Produktivität, d.h. 𝑴𝑷 𝑨𝑷 - die Produktivität steigt an. Zusätzliche Mitarbeiter leisten einen höheren Beitrag zur Produktion als bisherige Mitarbeiter - in der Folge steigt die Produktivität aller Mitarbeiter an.  2: Grenzprodukt positiv, aber kleiner als die Produktivität, d.h. 𝑴𝑷 𝑨𝑷 - die Produktivität geht zurück. Zusätzliche Mitarbeiter leisten einen geringeren Beitrag als die bisherigen Mitarbeiter - in der Folge geht die Produktivität aller Mitarbeiter zurück.  3: Grenzprodukt negativ - Produktivität und Produktionsmenge zurück. Zusätzliche Mitarbeiter reduzieren die Produktion und die Produktivität aller Mitarbeiter geht zurück. Um die Produktionsmenge zu steigern und die Produktivität zu erhöhen, sollte das Unternehmen entweder Mitarbeiter entlassen oder eine andere Technologie und Kapitalausstattung wählen. Kurzfristige Entscheidungen: abnehmendes Grenzprodukt und Produktivität 183 Typischerweise beobachtet man empirisch Produktionsprozesse, die abnehmende Grenzprodukte aufweisen (daher oft auch „Gesetz des abnehmenden Grenzproduktes“). Abbildung 5.4: Produktivität und Grenzprodukt Aus Managementperspektive ist die Identifikation der drei Bereiche in ► Abbildung 5.4 durch Vergleich von Grenzprodukt und Produktivität ( 𝑀𝑃 𝐴𝑃 in Bereich 1 oder 𝑀𝑃 𝐴𝑃 in Bereich 2 und 3) zur Steuerung der Effizienz im Produktionsprozess und zur Einschätzung, welche Effekte bei einer Ausweitung oder Reduktion der Mitarbeiterzahl entstehen werden, relevant: Typisch ist eine Steuerung im Feld 2 - hier liegen zwar abnehmende Grenzprodukte und rückläufige Produktivität vor, aber durch eine Ausweitung der Mitarbeiterzahl 𝐿 kann versucht werden, bei gegebener Technologie und Kapitalausstattung die Produktionsmenge zu steigern oder sogar zu maximieren. abnehmendes Grenzprodukt q AP MP 0 L C q AP = q/ L Grenzprodukt MP = Δ q/ D L A B zunehmende Produktivität q AP MP Produktivität AP = q/ L MP = Δ q/ D L 1 2 3 A 0 L C B q abnehmende Produktivität zunehmendes Grenzprodukt Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 184 Entscheidungen über Ressourcenzuordnung auf Basis von Grenzprodukten Dies gilt insbesondere auch dann, wenn ein Manager die Zahl der Mitarbeiter in mehreren Fabriken oder Filialen steuern muss. In ► Tabelle 5.3 sind Produktivitätskennzahlen von zwei Filialen einer Bank anhand der Zahl der bearbeiteten Geschäftsvorfälle wiedergegeben. Bankfilialen und Mitarbeiterzuordnung Filiale OST Filiale West Mitarbeiter Produktivität Produktion Grenzprodukt Mitarbeiter Produktivität Produktion Grenzprodukt 𝐿 𝐴𝑃 𝑞/ 𝐿 𝑞 𝑀𝑃 ∆𝑞/ ∆𝐿 𝐿 𝐴𝑃 𝑞/ 𝐿 𝑞 𝑀𝑃 ∆𝑞/ ∆𝐿 0 - 0 0 - 0 108 (1) 92 (6) 1 108,0 108 1 92,0 92 104 (2) 80 (10) 2 106,0 212 2 86,0 172 100 (3) 60 3 104,0 312 3 77,3 232 96 (4) 40 4 102,0 408 4 68,0 272 92 (5) 20 5 100,0 500 5 58,4 292 88 (7) 0 6 98,0 588 6 48,7 292 84 (8) -20 7 96,0 672 7 38,9 272 80 (9) -40 8 94,0 752 8 29,0 232 58 -60 9 90,0 810 9 19,1 172 50 -80 10 86,0 860 10 9,2 92 Tabelle 5.3: Aufteilung der Mitarbeiter auf Filialen. Wenn zehn Mitarbeiter auf beide Filialen verteilt werden sollen, um die Produktionsmenge in Summe zu maximieren, muss der Blick auf die Grenzprodukte gerichtet werden: Die Mitarbeiter werden der Reihe nach der Filiale zugeordnet, die das jeweils höchste Grenzprodukt in Abhängigkeit der bereits zugeordneten Mitarbeiter aufweist. D.h. in diesem Fall, dass die ersten fünf Mitarbeiter Filiale Ost zugeordnet werden, weil das Grenzprodukt von 108 absteigend bis 92 kontinuierlich größer ist als in Filiale West. Der sechste Mitarbeiter ist dann der Kurzfristige Entscheidungen: abnehmendes Grenzprodukt und Produktivität 185 erste, der mit einem Grenzprodukt von 92 Filiale West zugeordnet wird. Mitarbeiter sieben bis neun mit Grenzprodukten von 88, 84 und 80 werden wieder Ost zugeordnet, der zehnte schließlich wieder West - in Summe arbeiten dann acht Mitarbeiter in Filiale Ost, zwei in Filiale West. Die Gesamtproduktion von 𝑞 𝑞 𝑞 752 172 924 kann durch keine andere Verteilung von Mitarbeitern erreicht oder übertroffen werden. Wichtig ist zu erkennen, dass die Produktivität in beiden Filialen unterschiedlich ist (in Filiale Ost beträgt sie 𝐴𝑃 94,0 , in Filiale West 𝐴𝑃 86,0 ), aber für die Verteilung der Mitarbeiter keine Rolle spielt - es kommt nicht darauf an, die Produktivität beider Filialen auszugleichen, sondern die Grenzprodukte anzugleichen. Das Grenzprodukt des jeweils letzten zugeordneten Mitarbeiters jeder Filiale beträgt 𝑀𝑃 𝑀𝑃 80 . Für Manager ergibt sich eine einfache Entscheidungsregel: Das Grenzprodukt ist die zentrale kurzfristige Steuerungsgröße in der Produktion. Das Grenzprodukt muss positiv sein, sonst geht die Produktion zurück. Bei kurzfristiger Perspektive und der Aufteilung von Mitarbeitern lautet eine allgemeine Regel: zusätzliche Mitarbeiter, Ressourcen oder Kapazität immer in der Fabrik (Standort, Filiale, Team etc.) einsetzen, in der das Grenzprodukt am höchsten ist - d.h. dorthin, wo ein zusätzlicher Mitarbeiter den größten zusätzlichen Beitrag zur Produktion leisten kann. In Laborexperimenten (und in der Realität) weichen Manager von dieser Regel ab. Meist wird der Blick statt auf das Grenzprodukt auf die Produktivität gerichtet, in der Folge die Produktivität von Fabriken als alleine entscheidungsrelevant angesehen und entsprechend falsch entschieden - es entsteht Ineffizienz mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Gesamtproduktion. In typischen Beratungsprojekten (bspw. Filialgrößen von Banken bei gleichartigen Produkten und Kundengruppen, Fabrikgrößen von Automobilherstellern, Teamgrößen gleicher Tätigkeit an unterschiedlichen Standorten etc.) sind hier durch Orientierung an Grenzprodukten zwischen 10 % und 30 % Produktionssteigerung bei konstanter Mitarbeiterzahl möglich - ohne Investition in neue IT-Infrastruktur, ohne Prozessoptimierung und ohne Kostensteigerung. Grenzprodukt und Produktivität in der Cobb-Douglas-Produktionsfunktion Für jede Produktionsfunktion kann das kurzfristige Grenzprodukt und die Produktivität ermittelt werden. Für die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion (5.2) ergibt sich die Produktivität allgemein durch Division der Produktionsmenge durch den Arbeitseinsatz als (5.9) 𝐴𝑃 𝐴𝐾 𝐿 und das Grenzprodukt der Arbeit als (5.10) 𝑀𝑃 𝛽𝐴𝐾 𝐿 , indem man die Produktionsfunktion partiell differenziert. Damit ergeben sich für die in ► Kapitel 5.1 empirisch ermittelte Produktionsfunktion (5.11) 𝐴𝑃 4,12 𝐾 , 𝐿 , und Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 186 (5.12) 𝑀𝑃 2,06 𝐾 , 𝐿 , . Offensichtlich sind weder Produktivität 𝐴𝑃 noch Grenzprodukt 𝑀𝑃 konstant, sondern verändern sich in Abhängigkeit von gegebenem Kapitaleinsatz bei Veränderung des Arbeitseinsatzes, d.h. der Zahl der Mitarbeiter - zudem erkennt man sofort wegen 𝑀𝑃 2,06 𝐾 , 𝐿 , 4,12 𝐾 , 𝐿 , = 𝐴𝑃 , dass abnehmende Grenzprodukte und rückläufige Produktivität gegeben sind.  Case Study | Kühlschränke bei kurzfristig notwendiger Anpassung der Produktionsmenge Für einen globalen Kühlschrankproduzenten wurde (5.13) 𝑞 𝐴𝐾 𝐿 mit 𝐴 0,10348, 𝛼 0,8, 𝛽 0,6 sowie 𝐾 80.000.000 und 𝐿 800 aus unternehmensinternen Daten als Cobb- Douglas-Produktionsfunktion ermittelt. Aktuell werden 12 Mio. Kühlschränke pro Jahr produziert - jetzt soll kurzfristig die Produktion auf 15 Mio. Stück ausgeweitet werden. Das Management muss entscheiden, wie viele Mitarbeiter eingestellt werden müssen. Prüft man zunächst über Gleichung (5.13), ob das Unternehmen aktuell effizient produziert, so ergibt sich mit (5.15) 𝑞 0,10348 80.000.000 , 800 , 12.000.000 , (5.16) , ⋅ . . , ⋅ , 15.000 und (5.17) 0,6 ⋅ 0,10348 ⋅ 80.000.000 , ⋅ 800 , 9.000 dass bei gegebenem Kapital und Mitarbeitern tatsächlich 12 Mio. Kühlschränke hergestellt werden können. Allerdings ist das Grenzprodukt (5.17) kleiner als die Produktivität (5.16), so dass sich das Unternehmen definitiv in Bereich 2 der ► Abbildung 5.4 befindet: Ein weiterer Mitarbeiter wird zwar die Produktion pro Jahr um 9.000 Kühlschränke erhöhen, aber die Produktivität des Unternehmens wird zurückgehen. Um kurzfristig die Produktion auf 15 Mio. Kühlschränke auszuweiten, muss das Unternehmen die Zahl der Mitarbeiter von aktuell 800 bei konstantem Kapitaleinsatz erhöhen. Um die notwendige Zahl an Mitarbeitern zu ermitteln, wird die Produktionsfunktion (5.13) zu (5.18) 𝑞 𝐴𝐾 𝐿 15.000.000 umgestellt und nach der neuen Zahl an Mitarbeitern 𝐿 aufgelöst, so dass sich (5.19) 𝐿 . . , ⋅ . . , , 1160 ergibt. Im Vergleich mit der Ausgangssituation und einer Produktionsmenge von 12.000.000 Kühlschränken erfordert der Anstieg der Produktionsmenge zusätzliche 1160 800 360 Mitarbeiter. Langfristige Entscheidungen: technischer Fortschritt und Skalenerträge 187 Mit erhöhter Stellenzahl gehen zwei Effekte einher: Erstens sinkt die Produktivität von ursprünglich 15.000 Kühlschränken je Mitarbeiter auf (5.20) , ⋅ . . , ⋅ . , . 12.931 , zweitens geht das Grenzprodukt (5.21) 𝛽𝐴 𝐾 𝐿 0,6 ⋅ 0,10348 ⋅ 80.000.000 , ⋅ 1.160 , 7.757 . aufgrund der erhöhten Stellenzahl von 9.000 auf 7.757 zurück. Die Ergebnisse (5.20) und (5.21) bestätigen wiederum ► Abbildung 5.4: Wenn die Produktivität größer ist als das Grenzprodukt, dann werden bei einer Ausweitung der Mitarbeiterzahl kurzfristig - unter Beibehaltung des Kapitaleinsatzes und unveränderter Technologie - beide Werte zurückgehen. 5.3 Langfristige Entscheidungen: technischer Fortschritt und Skalenerträge Langfristig können die Einsatzmengen beider Einsatzfaktoren verändert werden, d.h., es werden nicht nur Entscheidungen über den optimalen Einsatz an Arbeitskräften getroffen, sondern es wird im Rahmen langfristiger Investitionsplanung auch der Kapitaleinsatz bestimmt. Dies wird bspw. sichtbar durch den Aufbau einer neuen Batterie-Fabrik von Tesla in Sparks, Nevada, oder durch die langfristige Kapazitätserweiterung des Frankfurter Rhein- Main Flughafens um weitere Start- und Landebahnen oder zusätzliche Terminals. Im Folgenden werden zwei zentrale Aspekte langfristiger Produktionsfunktionen herausgearbeitet:  Skalenerträge - messen den Effekt einer gleichzeitigen Erhöhung aller Einsatzfaktoren auf die Produktionsmenge. Skalenerträge als Steuerungsgröße von langfristigen Wachstumsprozessen von Unternehmen (bspw. aber auch der Skalierbarkeit eines neues Geschäftsmodells) ermöglichen Wettbewerbsvorteile aus Unternehmensgröße in Abhängigkeit der Veränderung von Kapital- und Arbeitseinsatz.  Technischer Fortschritt - technischer Fortschritt ermöglicht bei konstantem Einsatz von Einsatzfaktoren eine Steigerung der Produktionsmenge. Typisch ist eine Verbesserung der Technologie, d.h. bspw. Investitionen in Forschung und Entwicklung, die sich durch Digitalisierung, künstliche Intelligenz oder Automatisierung in einer Veränderung des Zusammenspiels von Arbeit und Kapital niederschlagen und in der Tendenz zu einer Erhöhung der Kapitalintensität führt. Langfristige Produktionsfunktionen können grafisch analog zu Nutzenfunktionen analysiert werden: In Abhängigkeit der verwendeten Technologie können Produktionsmengen mit unterschiedlichen Kombinationen von Arbeit und Kapital produziert werden. Eine Isoquante beschreibt alle Punkte gleicher Produktionsmenge, eine Schar an Isoquanten beschreibt dann die Produktionsfunktion (d.h. die Menge an Produktionsmöglichkeiten bei variierendem Fak- Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 188 toreinsatz), wie in ► Abbildung 5.5 dargestellt wird. Je höher eine Isoquante liegt, desto größer ist die Produktionsmenge. Abbildung 5.5: Langfristige Produktionsfunktion und Kapitalintensität. Typischerweise kann die Produktion durch alternative Kombinationen von Kapital und Arbeit hergestellt werden. Das Einsatzverhältnis von Kapital zu Arbeit wird als Kapitalintensität bezeichnet - je höher der relative Kapitaleinsatz je Mitarbeiter ist, desto größer ist die Kapitalintensität. Langfristig - Kapital und Arbeit sind jetzt variabel - können Unternehmen neben der Produktionsmenge auch über die Kapitalintensität durch Wahl der Technologie entscheiden. Technischer Fortschritt und Kapitalintensität Industrien (und innerhalb der Industrien auch die Unternehmen) unterscheiden sich in ihrer Kapitalintensität, wie in ► Abbildung 5.6 zu erkennen ist. Die Gründe sind neben verfügbaren Technologien, Unterschieden in der Verfügbarkeit von Einsatzfaktoren (bspw. Fachkräftemangel oder Beschaffungsengpässe bei Maschinen) und regional oder international unterschiedlichen Faktorpreisen insbesondere auch strategische Entscheidungen der Unternehmen (bspw. unterschiedliche Automatisierungsstrategien von Volkswagen und Toyota). Langfristig steigt die Kapitalintensität zudem in nahezu allen Industrien - in Deutschland im Jahr 2013 im Durchschnitt auf 400TEUR, d.h. je Mitarbeiter oder Arbeitsplatz sind in Deutschland im Durchschnitt 400TEUR in Eigen- oder Fremdkapital gebunden. Kapitalintensität Kapital K in mn. EUR 0 q 1 q 2 > q 1 q 3 > q 2 > q 1 100 250 500 150 200 250 höhere Produktionsmenge Arbeit L in FTE 0 200 250 höherer Kapitaleinsatz niedrigerer Arbeitseinsatz K/ L = 250/ 250 = 1 K/ L = 500/ 200 = 2,5 Arbeit L in FTE Kapital K in mn. EUR 250 500 Isoquante (Punkte gleicher Produktionsmenge) Isoquante = konstante Produktionsmenge q Langfristige Entscheidungen: technischer Fortschritt und Skalenerträge 189 Abbildung 5.6: Entwicklung der Kapitalintensität von 1991 bis 2013 in TEUR in Deutschland Datenquelle: Institut der deutschen Wirtschaft 2014, eigene Berechnungen. Die Ursachen hierfür sind zunächst langfristig ansteigende Arbeitskosten (Lohnsätze) infolge von wiederholt höheren Tarifabschlüssen bei relativ konstanten Kapitalkosten (Zinsen) im Kapitalmarkt. In der Folge versuchen Unternehmen, den relativ teurer gewordenen Einsatzfaktor Arbeit durch Automatisierung, insbesondere durch höheren Kapitaleinsatz, zumindest teilweise zu substituieren. Zudem entsteht eine Wechselwirkung mit dem in anderen Industrien stattfindenden technologischen Wandel. Infolge steigender Arbeitskosten suchen Unternehmen aktiv nach neuen Produktionsverfahren, bspw. Robotik oder künstliche Intelligenz, die dann wiederum menschliche Arbeit obsolet macht und die Stellenzahl absolut reduziert. In der Folge steigt allerdings die Produktivität der verbleibenden Stellen. Technischer Fortschritt bedeutet, dass entweder mit konstanten Einsatzfaktoren mehr produziert werden kann oder dieselbe Produktionsmenge mit geringerem Faktoreinsatz erzielt werden kann. Langfristig ist technischer Fortschritt meist arbeitssparend, d.h. es steigt die Kapitalintensität, gleichzeitig steigt langfristig das Grenzprodukt der Arbeit relativ zum Grenzprodukt des Kapitals - technischer Fortschritt und Innovationen erhöhen die Produktivität von Mitarbeitern und können wesentlicher Treiber für höhere Lohnsätze sein (Aghion und Howitt 2009 für eine umfassende Darstellung im Rahmen der Wachstumstheorie und Belitz et al. 2017 für eine empirische Analyse der Treiber in Deutschland). Zudem kann sich mittelfristig die Effizienz 𝐴 durch eine Re- oder Neuorganisation, Fortbildung der Mitarbeiter oder bessere Führungsmodelle des Unternehmens bei gleicher Kapitalausstattung erhöhen. Für jeden Mitarbeiter (und jede Mitarbeiterzahl) steigen dann die Produktion, das Grenzprodukt und die Produktivität. 0 100 200 300 400 500 600 Alle Wirtschaftsbereiche Land-, Forstwirtschaft, Fischerei Bergbau Verarbeitendes Gewerbe Baugewerbe Dienstleistungen Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 190 Abbildung 5.7: Prozentuales Produktivitätswachstum in großen EU-Ländern von 1995 bis 2016 über verschiedene Industrien Datenquelle: OECD Productivity and ULC by main economic activity (ISIC Rev.4) 2017, eigene Berechnungen. In ► Abbildung 5.7 ist die Produktivitätsentwicklung in großen EU-Ländern für den Zeitraum 1995 bis 2016 zu sehen - im Durchschnitt hat sich die Produktivität jedes Mitarbeiters pro Jahr um etwa 2,2 % erhöht. Als Faustregel können also in Businessplänen etablierter Unternehmen etwa 2 % jährlicher Produktivitätssteigerung eingeplant werden, wenn alle Möglichkeiten für technischen Fortschritt (neue Software, Mitarbeiterschulungen, Automatisierung etc.) genutzt werden. Neben technischem Fortschritt spielen offensichtlich konjunkturelle Einflüsse - zu Erkennen am Rückgang der Produktivität im Rahmen der Finanz- und Staatsschuldenkrise ab 2007 und der nachfolgenden Erholung im Jahr 2010 - eine signifikante Rolle. Für zahlreiche Industrien wird langfristig ein Rückgang des Produktivitätswachstums beobachtet. Ein wesentlicher Grund sind zunehmend ausgeschöpfte Möglichkeiten in bestehenden Technologien. Zudem schlagen sich die komplementären Innovationen im Bereich der IT- und Kommunikationstechnologie bislang offenbar unvollständig und zeitverzögert in Produktivitätswachstum einzelner Industrien und Unternehmen nieder. Diese Beobachtung wird als ICT Productivity Paradox bezeichnet (Brynjolfsson und Hitt 2000, Syverson 2011 und Acemoglu et al. 2014) und gilt offenbar auch für Big Data und künstliche Intelligenz weiter (Bughin et al. 2017 und Tambe 2014). Die Ursachen sind in langfristigen und aufwendigen Adapti- -10,0 -5,0 0,0 5,0 10,0 15,0 1995 1998 2001 2004 2007 2010 2013 2016 France Germany Italy United Kingdom EU-28 Langfristige Entscheidungen: technischer Fortschritt und Skalenerträge 191 onsprozessen etablierter Unternehmen bei neuen Technologien und dem komplementären Charakter dieser technologischen Entwicklungen zu sehen. Skalenerträge und Größenvorteile in der Produktion Die Unternehmen verschiedener Industrien unterscheiden sich nicht nur betreffend der Kapitalintensität, sondern auch in der absoluten Größe der Unternehmen und der Wachstumsdynamik. Einige Industrien sind von wenigen sehr großen Unternehmen geprägt, andere typischerweise von vielen kleinen Unternehmen:  in Deutschland gibt es 2015 elf sehr große Erdölraffinerien (vgl. Mineralölwirtschaftsverband  www.mwv.de/ statistiken/ ) mit einer durchschnittlichen Produktionsmenge von mehr als 8 Mio. Tonnen mit durchschnittlich etwas mehr als 800 Mitarbeitern und einem Kapitaleinsatz je Unternehmen von ca. 650 Mio. EUR, im Gegensatz dazu  gibt es in Deutschland 2014 ca. 1.600 Hersteller von Musikinstrumenten (vgl. Deutsches Musikinformationszentrum  www.miz.org) mit einer durchschnittlichen Mitarbeiterzahl von weniger als sieben und einem jeweiligen Kapitaleinsatz von weniger als 1 Mio. EUR. Der wesentliche Bestimmungsgrund für die optimale Unternehmensgröße (oder in dynamischer Betrachtung der Wachstumsrate) sind Skalenerträge - mit anderen Worten: der Zusammenhang zwischen absoluter Größe eines Unternehmens und Vorteilen in Effizienz oder Produktivität. Skalenerträge sind ein Managementkonzept zur Abschätzung und Ermittlung des langfristigen quantitativen Effektes von Variationen aller Einsatzfaktoren auf die Produktionsmenge - sie sind immer dann relevant, wenn langfristige Produktionsentscheidungen betreffend der Technologie und der Einsatzfaktoren zur Ausweitung oder Reduktion der Produktionsmenge zu treffen sind. Skalenerträge messen, wie stark sich die Produktionsmenge verändert, wenn alle Einsatzfaktoren der Produktion (Kapital und Arbeit) in gleichem Maß verändert werden. Es können drei Arten von Skalenerträgen auftreten:  Bei konstanten Skalenerträgen führt ein höherer Einsatz aller Einsatzfaktoren zu proportionalen Wachstum der Produktionsmenge (d.h. die Menge steigt um 10 %, wenn alle Einsatzfaktoren um 10 % erhöht werden). Wachstum erfolgt dann linear mit einer Anpassung von Mitarbeitern und Kapital. In diesem Fall sind Manager bei Wachstumsprozessen eines Unternehmens indifferent zwischen einer großen oder mehreren kleinen Fabriken - beide Varianten sind gleich effizient.  Wenn ein höherer Einsatz aller Einsatzfaktoren zu überproportionalem Wachstum der Produktionsmenge führt (d.h. die Menge steigt um mehr als 10 %, wenn alle Faktoren um 10 % erhöht werden), liegen zunehmende Skalenerträge vor. In diesem Fall sollten Manager bei Wachstum eines Unternehmens die bestehende Fabrik vergrößern, statt neue kleine Fabriken zu eröffnen - eine große Fabrik hat höhere Effizienz.  Bei abnehmenden Skalenerträgen führt ein höherer Einsatz aller Einsatzfaktoren zu unterproportionalem Wachstum der Produktionsmenge (d.h. die Menge steigt um weniger als 10 %, wenn alle Faktoren um 10 % erhöht werden). In diesem Fall sollten Manager bei geplantem Wachstum eines Unternehmens neue kleine Fabriken eröffnen, statt die bestehende zu vergrößern - die kleinen Fabriken haben höhere Effizienz. Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 192 Abbildung 5.8: Effekt einer Veränderung der Einsatzfaktoren auf die Produktionsmenge. In ► Abbildung 5.8 rechts ist zu erkennen, dass zunehmende Skalenerträge zwar überproportionales Wachstum mit ermöglichen - gleichzeitig geht aber der Ressourceneinsatz bei rückläufiger Produktionsmenge auch nur unterproportional zurück. Bei abnehmenden Skalenerträgen in ► Abbildung 5.8 links erfordert Wachstum einen überproportionalen Anstieg des Ressourceneinsatzes - im Umkehrschluss werden bei einem Produktionsrückgang auch überproportional Ressourcen frei. Die Ursachen für zunehmende, konstante oder abnehmende Skalenerträge sind industrie- oder unternehmensspezifisch. Häufig werden folgende Muster in empirischen Studien oder Case Studies identifiziert:  Zunehmende Skalenerträge entstehen aufgrund von  Spezialisierung (Arbeitsteilung) und Lerneffekten (Erfahrungskurve) in der Produktion,  Modul- und Plattformstrategien oder hohem Gleichteileanteile in der Fertigung  Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen bei breitem Produktportfolio oder hoher Abdeckung verschiedener Wertschöpfungsstufen  reduzierten Risiken, Portfoliostrategien bei Produkten, Parenting Advantage bei übergreifenden Dachmarken und Internalisierung von Ressourcen (bspw. interner Arbeitsmarkt und Fortbildung, Insourcing von Wertschöpfungsstufen)  positiven direkten und indirekten Netzwerkeffekten auf der Nachfrageseite und Zugehörigkeit zu technologischen oder ökonomischen Ökosystemen (mehrseitigen Plattformen bei digitalen Geschäftsmodellen) und bei  technisch bedingten unteilbaren Einsatzfaktoren und dadurch besserer Auslastung der Technologie sowie Möglichkeiten der Rationalisierung.  Abnehmende Skalenerträge sind verursacht durch  begrenzte Managementkapazität (Führungsspanne, Kommunikation oder Projektgrößen), Organisation (Komplexität, Konglomerat-Strukturen, Hierarchien, internationale Tochtergesellschaften etc.) sowie organisatorischer Trägheit (bspw. in Form von Mee- 0 K, L Δq abnehmende Skalenerträge zunehmende Skalenerträge 45°-Linie + - Δ(K,L)=3 % Δq<3 % 0 K,L Δq 45°-Linie + - Δ(K,L)=1 % Δq>1 % Langfristige Entscheidungen: technischer Fortschritt und Skalenerträge 193 ting-Strukturen oder begrenzter Veränderungsgeschwindigkeit oder -dynamik von Unternehmen),  komplexere Überwachung (regulatorische Rahmenbedingungen) und ineffiziente Governance-Strukturen (Abstimmung und Kontrolle interner Gremien),  Fehlen geeigneter Fertigungsprozesse und Maschinen, um Großserien oder Massenproduktion zu ermöglichen,  ausgelastete Technologie und fehlende Verfügbarkeit gut ausgebildeter Mitarbeiter resp. Fähigkeiten (d.h. fehlende Additivität). Zunehmende Skalenerträge unterstützen oft schnelles und überproportionales Wachstum: Entstehende Marktchancen oder Nachfragewachstum können realisiert werden, weil keine oder allenfalls unterproportional zusätzliche Ressourcen erforderlich sind. Bei abnehmenden Skalenerträgen erfordert Unternehmenswachstum eine überproportionale Erhöhung des Arbeits- und Kapitaleinsatzes - d.h. allerdings auch, dass das Ergreifen jeder Markchance unmittelbar die Einstellung neuer Mitarbeiter erfordert, rückläufige Nachfrage aber auch zum Abbau von Arbeitsplätzen führt. Abbildung 5.9: Übergang von zunehmenden zu abnehmenden Skalenerträgen. Entlang des Wachstumsprozesses von Unternehmen kann in Abhängigkeit der Größe (aber auch im Zeitablauf) eine Abfolge von zunehmenden, dann abnehmenden Skalenerträgen beobachtet werden. Zunächst skaliert die Organisation und Lernkurveneffekte erhöhen die Produktion überproportional, dann dominieren Komplexität und begrenzte Managementfähigkeiten und limitieren die Möglichkeiten für effizientes Wachstum wie in ► Abbildung 5.9 gezeigt. Dies erklärt zum einen, weshalb kleine Unternehmen typischerweise höhere Wachstumsraten (auch bei höherer Varianz) im Vergleich mit größeren Unternehmen aufweisen (vgl. weiterführend Münter 1999), aber auch, weshalb Unternehmen auf Basis neuer digitaler Geschäftsmodelle exponentielle Wachstumsraten erzielen können (Arthur 1996 sowie Nielsen und Lund 2015). schwach ausgeprägte zunehmende Skalenerträge stark ausgeprägte zunehmende Skalenerträge abnehmende Skalenerträge K 0 L q 3 =500 q 1 =200 q 2 =400 q 4 =600 zunehmende Skalenerträge L 1 K 1 abnehmende Skalenerträge K 0 L q 2 =800 q 1 =200 q 3 =1000 q 4 =1200 L 1 K 1 K 2 L 2 zunehmende Skalenerträge Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 194 Die skizzierten Überlegungen in den Unternehmen schlagen sich entsprechend wechselseitig auf Industrien und Marktstruktur nieder. Sind die zunehmenden Skalenerträge wenig ausgeprägt oder wird relativ schnell der Bereich abnehmender Skalenerträge erreicht, so  sind geringe Größenvorteile vorhanden, d.h. Unternehmen sind tendenziell kleiner,  bei gegebener Nachfrage und Größe des Marktes sind tendenziell viele Unternehmen im Markt vertreten und  relatives Unternehmenswachstum wird durch technologische Rahmenbedingungen erschwert und erfordert überproportional steigenden Ressourceneinsatz. Sind umgekehrt die zunehmenden Skalenerträge deutlich ausgeprägt und wird der Bereich abnehmender Skalenerträge spät erreicht, dann  besitzen die Unternehmen erhebliche Größenvorteile, d.h. Unternehmen sind tendenziell größer, in der Folge sind  bei gegebener Nachfrage und Größe des Marktes tendenziell wenige Unternehmen im Markt und  relatives Unternehmenswachstum wird durch technologische Rahmenbedingungen unterstützt und erfordert unterproportional steigenden Ressourceneinsatz. Die Möglichkeit, zunehmende Skalenerträge zu erzielen, unterscheiden sich deutlich über Industrien: Je umfangreicher Skalenerträge vorliegen, desto größer sind tendenziell die Unternehmen einer Industrie (d.h. höhere absolute Produktion bei absolut höherem Kapital- und Arbeitseinsatz) - bspw. Telekommunikation, Energie oder netzgebundene Transportunternehmen. Auch zahlreiche neue Geschäftsmodelle, basierend auf mehrseitigen Plattformen, zeichnen sich durch umfangreiche zunehmende Skalenerträge aus: Um rapide wachsende Mitgliederzahlen oder Kunden auf Social-Media-Plattformen zu verwalten, sind nur deutlich unterproportionale Zuwächse an Kapital und Mitarbeitern notwendig (Arthur 1996, van Alstyne et al. 2016 sowie Hirt und Wilmott 2014). Skalenerträge in langfristigen Produktionsfunktionen Die Größe und Art der Skalenerträge eines Unternehmens kann empirisch durch Analyse der Produktionsfunktion ermittelt werden. Verwendet man bspw. die Cobb-Douglas- Produktionsfunktion aus ► Kapitel 5.1, so ist nach einigen Umstellungen schnell zu erkennen, dass die Produktion infolge einer Ver-m-fachung aller Einsatzfaktoren nicht um das m-Fache ansteigt. Vielmehr hängt der Anstieg von der Summe der partiellen Produktionselastizitäten 𝛼 und 𝛽 ab, wie man aus der Analyse von (5.22) 𝑞 𝑇 𝐾, 𝐿 𝐴𝐾 𝐿 und (5.23) 𝑞 𝑇 𝑚𝐾, 𝑚𝐿 𝐴 𝑚𝐾 𝑚𝐿 erkennen kann. Multipliziert man Gleichung (5.23) aus, so ergibt sich (5.24) 𝑞 𝑇 𝑚𝐾, 𝑚𝐿 𝐴 𝑚𝐾 𝑚𝐿 𝑚 𝐴𝐾 𝐿 𝑚 𝑞 . Die neue Produktionsmenge 𝑞 , die sich bei einer gleichmäßigen Ver-m-fachung der Einsatzfaktoren 𝐾 und 𝐿 ergibt, entspricht der mit dem Faktor 𝑚 multiplizierten ursprünglichen Langfristige Entscheidungen: technischer Fortschritt und Skalenerträge 195 Produktionsmenge 𝑞 . Bei marginalen Änderungen der Einsatzmengen kann man durch Addition der partiellen Produktionselastizitäten die Veränderungsrate der Produktionsmenge ermitteln:  ist die Summe 𝛼 𝛽 gleich eins, dann liegen konstante Skalenerträge vor,  ist die Summe 𝛼 𝛽 größer eins, liegen zunehmende Skalenerträge vor,  ist die Summe 𝛼 𝛽 kleiner eins, hat das Unternehmen abnehmende Skalenerträge. Die Summe von 𝛼 und 𝛽 wird als Skalenelastizität bezeichnet.  Case Study | Turbinenhersteller bei langfristiger symmetrischer Veränderung aller Einsatzfaktoren Bei marginalen Änderungen der Einsatzmengen kann man durch Addition der partiellen Produktionselastizitäten die Veränderungsrate der Produktionsmenge ermitteln. Betrachtet wird wieder der mittelständische Turbinenhersteller mit einer Cobb-Douglas- Produktionsfunktion (5.25) 𝑞 𝑇 𝐾 100, 𝐿 200 4,12 ⋅ 100 , ⋅ 200 , 2.215,20 und einer Produktionsmenge 𝑞 von 2.215,20. Erhöht man den Kapital- und den Arbeitseinsatz um 1 %, so ergibt sich eine neue Produktionsmenge von (5.31) 𝑞 𝑇 𝐾 101, 𝐿 202 4,12 ⋅ 101 , ⋅ 202 , 2.243,81 , d.h. die Produktionsmenge steigt auf 101,29 % ⋅ 𝑞 : der Anstieg entspricht der Summe der partiellen Produktionselastizitäten 𝛼 0,79 und 𝛽 0,50 . In gleicher Weise kann man langfristige und wechselseitige Effekte prüfen, wie bspw. einen Anstieg des Kapitaleinsatzes um 1 % bei gleichzeitiger Reduktion des Arbeitseinsatzes um 1 %. Die neue Produktionsmenge beträgt (5.32) 𝑞 𝑓 𝐾 101, 𝐿 198 4,12 ⋅ 101 , ⋅ 198 , 2.221,49 , im Vergleich mit der ursprünglichen Produktionsmenge 𝑞 ein Anstieg um 0,29 %. Dieser ergibt sich wieder durch Addition der partiellen Produktionselastizität gewichtet mit der Veränderung des Faktoreinsatzes, in diesem Fall als 0,79 ⋅ 1 % 0,50 ⋅ 1 % 0,29 % und entsprechend 𝑞 100,29 % ⋅ 𝑞 .  Case Study | Kühlschränke bei langfristigem Anstieg der Nachfrage und Anpassung aller Einsatzfaktoren Der Kühlschrankhersteller aus ► Kapitel 5.2 plant jetzt langfristig - aufgrund positiver Marktforschungsergebnisse - die Produktion von 12 Mio. auf 36 Mio. Kühlschränke auszuweiten. Die zentrale Frage für das Management ist jetzt, ob dazu weitere Fabriken etabliert werden sollen, oder ob die Produktion in der bestehenden Fabrik angesiedelt werden sollte. Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 196 Die Ausgangssituation ist durch (5.33) 𝑞 𝐴𝐾 𝐿 mit 𝐴 0,10348, 𝛼 0,8, 𝛽 0,6 und einen Faktoreinsatz von 𝐾 80.000.000 und 𝐿 800 beschrieben. Die Produktionsmenge beträgt entsprechend 𝑞 12.000.000 . Das Ziel des Unternehmens ist jetzt, durch langfristige Anpassung um den Faktor 𝑚 der Einsatzfaktoren 𝐾 und 𝐿 , die Produktionsmenge zu verdreifachen, so dass (5.34) 𝑞 𝐴𝐾 𝐿 36.000.000 mit (5.35) 𝑞 𝐴 𝑚𝐾 𝑚𝐿 𝑚 𝐴𝐾 𝐿 36.000.000 . Zunächst kann man prüfen, was bei einer Verdreifachung der Einsatzfaktoren passiert - im Ergebnis steigt die Produktionsmenge auf den Wert: (5.36) 𝑞 𝑚 3 𝑚 𝐴𝐾 𝐿 3 , , ⋅ 0,10348 ⋅ 80.000.000 , ⋅ 800 , 3 , ⋅ 0,10348 ⋅ 80.000.000 , ⋅ 800 , 55.866.589 Eine Verdreifachung des Arbeits- und Kapitaleinsatzes würde aufgrund zunehmender Skalenerträge mit einer Skalenelastizität 𝛼 𝛽 1,4 zu einer deutlich überproportionalen Vergrößerung der Produktion führen - so ist klar, dass aus strategischer Perspektive in jedem Fall die bestehende Fabrik ausgebaut werden sollte und nicht zusätzliche kleine Fabriken etabliert werden sollten. Die nächste Frage ist, um wieviel zusätzliches Kapital und um wie viele zusätzliche Stellen das Unternehmen wachsen soll, um die geplante Erhöhung der Produktion zu realisieren. Aus der Bedingung (5.37) 𝑞 𝑚 𝐴𝐾 𝐿 → 𝑚 𝑞 𝑞 ergibt sich, dass (5.38) 𝑚 und (5.39) 𝑚 gelten muss. Setzt man die vorhandenen Werte in Gleichung (5.39) ein, so ergibt sich mit (5.40) . . . . 3 entsprechend (5.41) 𝑚 3 , , 2,19 , d.h., für eine Verdreifachung der Produktionsmenge müssen aufgrund vorliegender zunehmender Skalenerträge die Einsatzfaktoren Kapital und Arbeit jeweils nur um den Faktor 𝑚 2,19 angepasst werden. Langfristige Entscheidungen: technischer Fortschritt und Skalenerträge 197 Natürlich hätte man neben der bestehenden ersten Fabrik zwei identische weitere etablieren können. Dieses Vorgehen führt natürlich dazu, dass die Produktionsmenge auf 36. Mio. Kühlschränke ansteigt, allerdings ist dieser Weg ineffizient: Drei „kleine Fabriken“ benötigen entsprechend einen jeweiligen Kapital- und Arbeitseinsatz von (5.42) 𝐾 𝐾 𝐾 80.000.000 → ∑𝐾 240.000.000 und 𝐿 𝐿 𝐿 800 → ∑𝐿 2.400 Eine „große Fabrik“ kommt jedoch mit einer Ver-m-fachung von 2,19 zu einer Verdreifachung der Produktionsmenge, d.h. der Kapitaleinsatz beträgt 175.200.000 und es werden 1.752 Mitarbeiter benötigt, so dass sich eine Ineffizienz in Höhe von (5.43) 𝐾 2,19 ⋅ 80.000.000 175.200.000 𝐿 2,19 ⋅ 800 1.752 und ∆ 27 % und ∆ 27 % ergibt. Produktivität, Kapitalintensität und Skalenerträge Aus Managementperspektive sind - gerade bei technischem Fortschritt - die lang- und kurzfristigen Konzepte von Produktivität, Kapitalintensität und Skalenerträgen eng verwoben. Vor dem Hintergrund geringerer Profitabilität des Volkswagen Konzerns, vor allem der Kernmarke VW, im Vergleich mit Wettbewerbern hat das Management wiederholt Kostensenkungsinitiativen und Restrukturierungen der Organisation vorgenommen (Süddeutsche Zeitung 2014, Manager Magazin 2014, Handelsblatt 2014 und Frankfurter Allgemeine Zeitung 2017): im Kern werden Prozessoptimierung, Werkschließungen, Stellenreduktion und weitere Automatisierung resp. Digitalisierung diskutiert. Abstrahierend von der Kostensituation sind in ► Tabelle 5.4 die Entwicklungen einiger zentraler Kennzahlen des Volkswagen Konzerns dargestellt. Das Unternehmen ist zwar im betrachteten Zeitraum gewachsen, allerdings liegen die Wachstumsraten von Kapital und Mitarbeitern deutlich über derjenigen der Produktion - in der Konsequenz ist die Produktivität gesunken. Eine erste Erklärung kann sein, dass das deutliche Wachstum an Kapital und Mitarbeitern zu Ineffizienz in der Organisation des Konzerns geführt hat. Zweitens könnte der Mitarbeiter- und Kapitalaufbau inkonsistent mit den vorliegenden Skalenerträgen sein, d.h., Volkswagen hat entweder zu viele kleine Standorte oder einzelne der Standorte sind absolut zu groß. Überträgt man die Daten in ► Abbildung 5.10, wird eine mögliche weitere Erklärung für das Dilemma von Volkswagen sichtbar: Gegebenenfalls befindet sich der Volkswagen Konzern 2014 am Übergang von konstanten zu abnehmenden Skalenerträgen. Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 198 Volkswagen Konzern: technischer Fortschritt, Produktivität und Kapitalintensität Jahr 2006 2010 2014 CAGR 2006-2014 CAGR 2010-2014 Produktion in Mio. Fahrzeugen 5,66 7,36 10,21 6,80 % 8,50 % Mitarbeiter in Tsd. 329 389 583 4,30 % 10,60 % Kapital in Mrd. EUR 136,5 196,7 351 9,60 % 15,60 % Kapitalintensität in Tsd. EUR 414 505 602 5,10 % 4,50 % Produktivität in Fahrzeugen pro Mitarbeiter 17,2 18,9 17,5 2,40 % -1,90 % Skalenelastizität ~ 0,98 ~ 0,65 Tabelle 5.4: Volkswagen Konzern: technischer Fortschritt und Kapitalintensität. Daten: Volkswagen-Factbook und Geschäftsberichte diverse Jahrgänge, eigene Berechnungen. Abbildung 5.10: Übergang von konstanten zu abnehmenden Skalenerträgen bei Volkswagen 2006 bis 2014. abnehmende Skalenerträge konstante Skalenerträge Kapital in Mrd. EUR 0 Arbeit in Tsd. Mitarbeiter q 2006 = 5,66 Mio. 136 351 329 389 583 q 2010 = 7,36 Mio. q 2014 = 10,21 Mio. 196 q* = 10 Mio. ~280 ~450 Zusammenfassung 199 Eine deutliche Ausweitung von Kapital und Arbeit hatte in den letzten Jahren einen signifikant unterproportionalen Anstieg der Produktion zur Folge. Rechnet man die Produktion von 10 Mio. Fahrzeugen auf Basis der Kapitalintensität und Effizienz der Jahre 2006 und 2010 zurück, so müsste Volkswagen bei effizienter Produktionsfunktion und Rückkehr zu konstanten Skalenerträgen mit ca. 450.000 Mitarbeitern und einem Eigen- und Fremdkapital von ca. 280 Mrd. EUR auskommen - entsprechend groß könnte der Restrukturierungsbedarf sein. 5.4 Zusammenfassung Die Produktionsfunktion ist das zentrale Analyseinstrument und Managementkonzept, um strategische Entscheidungen über die Produktionskapazität zu treffen und die Zusammensetzung der Einsatzfaktoren Kapital und Arbeit festzulegen. Eine Produktionsfunktion kann einfach über ökonometrische Verfahren aus vorhandenen Unternehmensdaten (bspw. Produktionsmenge, Eigen- und Fremdkapitaleinsatz und Mitarbeiterzahl) ermittelt werden. Aus Managementperspektive ist die Unterscheidung in eine kurz- und langfristige Perspektive wesentlich. Kurzfristig kann der Einsatz vom Mitarbeitern, d.h. der Einsatzfaktor Arbeit, variiert werden, z.B. durch Anordnung von Überstunden oder Beschaffung zusätzlicher Mitarbeiter über ein Zeitarbeitsunternehmen. Das Grenzprodukt der Arbeit und die Produktivität zeigen kurzfristig an, wie sich die Produktionsmenge verändern. Typischerweise beobachtet man positive, aber abnehmende Grenzprodukte, d.h., die Produktion steigt durch zusätzliche Mitarbeiter unterproportional an, entsprechend geht die Produktivität zurück. Langfristig ist von zentraler Bedeutung, ob, in welcher Weise und wie leicht oder schnell Kapital und Arbeit substituiert werden können. Typischerweise beobachtet man in vielen Industrien einen Anstieg der Kapitalintensität und einhergehend arbeitssparenden technischen Fortschritt. Die Gründe hierfür liegen im Wesentlichen in langfristig steigenden Kosten für den Einsatzfaktor Arbeit (steigende Lohnsätze und Gehälter) im Vergleich mit relativ konstanten Kosten für Kapital (schwankende, aber im Niveau relativ stabile Zinssätze für Eigen- und Fremdkapital) und den so begründeten Anreiz, Innovationen und technische Neuerungen umzusetzen, die einen langfristigen Anstieg der Kapitalintensität zur Folge haben. Aus strategischer Perspektive sind zwei weitere Punkte zentral: Bei langfristigen Anpassungen der Produktionskapazität durch Anpassung des Kapital- und Arbeitseinsatzes können zunehmende, konstante oder abnehmende Skalenerträge entstehen. Die Analyse der Art und des Umfangs der Skalenerträge unterstützen bei Entscheidungen über Größe und Anzahl von Fabriken innerhalb eines Unternehmens, sind aber daneben auch Indikator für die bei sonst gegebenen Rahmenbedingungen zu erwartende Marktstruktur, d.h. Anzahl und Größenverteilung der Wettbewerber. Zudem sind Skalenerträge einer der wesentlichen Erfolgstreiber neuer digitaler Geschäftsmodelle: Bei der Planung und Gestaltung neuer Geschäftsmodelle und oftmals exponentieller Wachstumsprozessen steht die Frage nach Skalierbarkeit, also der strategischen Realisierung von umfangreichen zunehmenden Skalenerträgen, im Mittelpunkt. Unternehmensgröße, Technologie und Produktionsentscheidungen 200  Kontrollfragen [1] Beschreiben Sie praktische Anwendungsfelder der Analyse von Entscheidungen zu Technologie und Unternehmensgröße aus mikroökonomischer Perspektive sowie deren Grenzen, Vor- und Nachteile! [2] Wie kann man die Produktionsfunktion eines Unternehmens ermitteln? Welche Parameter können bspw. in der Cobb-Douglas Produktionsfunktion identifiziert werden? [3] Beschreiben Sie die Begriffe Kapital und Arbeit unter Bezug auf den Zeithorizont von unternehmerischen Entscheidungen! Geben Sie je zwei Beispiele für kurz- und langfristige Anpassungen der Einsatzfaktoren! [4] Beschreiben Sie den Zusammenhang zwischen Grenzprodukt und Produktivität bei Ausweitung der Produktionsmenge! [5] Ermitteln Sie für eine Cobb-Douglas Produktionsfunktion mit den Parametern technische Effizienz A = 2,5, partielle Produktionselastizität des Kapitals 𝛼 = 0,5 und partielle Produktionselastizität der Arbeit 𝛽 = 0,4 folgende Größen: a) Produktionsmenge bei Kapitaleinsatz in Höhe von K = 100 (in Mio. EUR) und Arbeitseinsatz in Höhe von L = 200 (in Mitarbeitern pro Jahr), b) Grenzprodukt, Produktivität (bei dieser Produktionsmenge) sowie Skalenerträge! c) Das Unternehmen verliert aufgrund der „Rente mit 63“-Regelung jetzt 5 % der Mitarbeiter und findet keinen Ersatz - um wie viel Prozent muss der Kapitaleinsatz steigen, damit die Produktionsmenge konstant gehalten werden kann? Was passiert mit der Produktivität in diesem Unternehmen? [6] In zwei Fabriken A und B, die identische Produkte an unterschiedlichen Standorten herstellen, beträgt die Produktivität 𝐴𝑃 = 9 resp. 𝐴𝑃 = 10 und die jeweiligen Grenzprodukte 𝑀𝑃 = 11 resp. 𝑀𝑃 = 9 - erläutern Sie anhand von Abbildungen, welche Entscheidungen ein Produktionsvorstand aus diesen Werten ableiten kann? [7] Erläutern Sie mögliche Ursachen, weshalb es in einigen Industrien eher ‚viele kleine Unternehmen‘ gibt, in anderen Industrien aber ‚wenige große Unternehmen‘ und geben Sie je drei Beispiele (Industrien). [8] Beschreiben Sie das Konzept der Skalenerträge. In welcher Weise hilft es bei Entscheidungen über die Zahl von Produktionsstätten oder Fabriken? Unternehmen weisen oft zunächst zunehmende, dann abnehmende Skalenerträge auf - woran kann das liegen? [9] Weshalb ist für viele Industrien langfristig ein Anstieg der Kapitalintensität zu beobachten? [10] Sie planen, ein neues Geschäftsmodell zu etablieren - wie erklären Sie potenziellen Investoren, dass Ihr Geschäftsmodell skaliert und zunehmende Skalenerträge möglich sind?  Literatur Acemoglu, D., Dorn, D., Hanson, G. und Price, B., Return of the Solow paradox? IT, productivity, and employment in US manufacturing, American Economic Review, 2014, 104, 5, 394-399. Zusammenfassung 201 Aghion, P. und Howitt, P.W., The economics of growth, Boston 2009. Andries, A.M. und Capraru, B., The nexus between competition and efficiency: the European banking industries experience, International Business Review, 2014, 23, 3, 566-579. Arthur, W.B., Increasing returns and the new world of business, Harvard Business Review, July/ August 1996, 31-53. Belitz, H., Eickelpasch, A., Mouel, M.L. und Schiersch, A., Wissensbasiertes Kapital in Deutschland: Analyse zu Produktivitäts- und Wachstumseffekten und Erstellung eines Indikatorsystems, DIW Berlin, 2017. 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Die Kostenstruktur kann bspw. beeinflusst werden, indem ein Unternehmen langfristig durch Outsourcing Teile der fixen Kosten variabilisiert - Banken z.B. durch Auslagerung an spezialisierte IT- oder BPO-Dienstleister - oder durch Verlagerung der Produktion in Niedriglohnländer Faktorpreisunterschiede ausnutzt, wie dies in weiten Teilen der Textil- und Bekleidungsindustrie erfolgt, aber zunehmend auch für Tätigkeiten im Bereich Accounting oder Customer Care. Eine Restrukturierung zielt auf eine dauerhafte Anpassung der Kosten sowie der Kostenstruktur infolge veränderter Faktorpreise oder dauerhaft veränderter Nachfragestruktur. Damit geht der Auf- oder Abbau von Stellen und die Anpassung von Finanzierungsstruktur und Höhe von Eigen- und Fremdkapital einher. Die Übernahme eines oder der Zusammenschluss mit einem Wettbewerber soll dagegen - neben anderen Zielen wie dem Aufbau von Knowhow, dem Zugang zu neuen Märkten oder der Risikodiversifikation - durch M&A- Transaktionen (Unternehmensübernahmen und -zusammenschlüsse) kostenseitige Wettbewerbsvorteile generieren. Zum einen wird durch diese strategischen Maßnahmen beabsichtigt, die Profitabilität eines Unternehmens durch Kostensenkungen zu erhöhen oder wiederherzustellen, zum anderen wird versucht, durch Economies of Scale oder Economies of Scope kostenseitige Wettbewerbsvorteile in Form von fixkostenbasierten Größenvorteilen oder Synergien aus unterschiedlichen Produktportfolien oder Marktsegmenten zu etablieren. Die Kosten eines Unternehmens sind ein maßgeblicher Einflussfaktor der Wettbewerbsfähigkeit: Konkurrieren Unternehmen mit - aus Kundenperspektive - schwach oder nicht differenzierten Produkten und herrscht Preiswettbewerb, so kann die Kostensituation eines Unternehmens dessen Überlebensfähigkeit bestimmen. Dabei gelten natürlich alle Konzepte zu Produktionsentscheidungen aus ► Kapitel 5 fort: Abnehmende Grenzprodukte und variierende Skalenerträge schlagen sich entsprechend in Kostenfunktionen nieder. Zwischen Produktions- und Kostenfunktion existiert eine Dualität - beide bilden, kurzwie langfristig, Transformationsprozesse der Unternehmen ab: einmal reduziert auf Einsatzfaktoren und Produktionsmenge, das andere Mal bewertet durch Faktorpreise in Kosten, versucht das Management Effizienz durch minimalen Faktoreinsatz gleichbedeutend mit Kostenminimierung bei gegebener oder geplanter Produktionsmenge herzustellen. Kosten, Restrukturierung und M&A 204  Lernziele Dieses Kapitel beschäftigt sich mit  der Entwicklung eines grundlegenden Verständnisses, welche Kosten aus lang- und kurzfristiger Perspektive für Entscheidungen von Unternehmen relevant sind,  wie sich der Wechsel aus zunehmenden und abnehmenden Grenzprodukten auf Grenzkosten auswirkt und wie zunehmende und abnehmende Skalenerträge die langfristige Kostenentwicklung von Unternehmen bestimmt,  welche kurz- und langfristigen Effekte von Lohnsatzsteigerungen und Nachfragerückgang auf die Kosten von Unternehmen und deren strategische Reaktionsmöglichkeiten und  wie die Konzepte Economies of Scale und Economies of Scope für strategische Entscheidungen für Unternehmensübernahmen und -zusammenschlüsse (Mergers and Acquisitions, kurz M&A) von Unternehmen herangezogen werden können. 6.1 Kostenfunktion, Entscheidungen und Wettbewerbsfähigkeit Aus Managementperspektive ist entscheidend, in welchem Zeithorizont welche Kosten durch welche Maßnahmen beeinflusst werden können und wie dadurch schließlich Wettbewerbsvorteile aufgebaut werden können. Mit anderen Worten: Aus strategischer und mikroökonomischer Perspektive sind zukünftige Kosten entscheidend, nicht - wie bspw. aus Perspektive von Finanzen und Controlling - die Analyse oder Dokumentation vergangener Kosten in einer Gewinn- und Verlustrechnung oder sonstiger externer Rechnungslegung. Kurzfristige Entscheidungen bestimmen über zukünftige Kosten maßgeblich den Gewinn des Unternehmens: Eine Preissenkung für Mobilfunkangebote kann zu höherer Nachfrage und steigender Produktionsmenge führen, aber ein Manager muss hier immer auch die Entwicklung der Stückkosten bei höherer Produktionsmenge (Datennutzung, Telefonminuten, SMS aber insbesondere auch stärkere Callcenter-Nutzung zur Kundenbetreuung) berücksichtigen. Langfristige Entscheidungen zu Kostenstrukturen können Wettbewerbsvorteile schaffen: Betrachtet man einige aktuell erfolgreiche digitale Plattform-Geschäftsmodelle wie Google, Facebook, Airbnb, WhatsApp, Uber oder Alibaba, so basieren alle auch auf strategischen Entscheidungen zu extrem hohen Fixkosten und geringen variablen Kosten mit Grenzkosten nahe Null und bauen so Wettbewerbsvorteile gegenüber Konkurrenten auf (Ellison und Ellison 2005, Lambrecht et al. 2014, Probst et al. 2015, de Jong und van Dijk 2015). Künftige Kosten können immer als entscheidungsrelevante Opportunitätskosten betrachtet werden. Diese sind mit der Umsetzung einer bestimmten Strategie verbunden und berücksichtigen die entgangenen Möglichkeiten der besten alternativen Strategie und werden daher zur Planung, in Entscheidungsrechnungen und in Business Cases herangezogen. Damit sind die aus historischen Daten per Regression ermittelten Kostenfunktionen natürlich nur dann für künftige Entscheidungen verwendbar, wenn sie strukturell auch zukünftig gelten. Kostenfunktion, Entscheidungen und Wettbewerbsfähigkeit 205 Fixkosten, Sunk Costs und variable Kosten Die zukünftigen Kosten eines Unternehmens können anhand von Fixkosten und variablen Kosten beschrieben werden. Fixkosten ( 𝐹𝐶 Fixed Costs) sind Kosten, die kurzfristig von der Produktionsmenge unabhängig sind, d.h. alle Kosten der kurzfristig fixen Einsatzfaktoren des Unternehmens. Näherungsweise können Fixkosten mit den Kosten für den Einsatzfaktor Kapital gleichgesetzt werden. Fixkosten können nur durch Aufgabe der Produktion und Schließung des Unternehmens verändert oder beseitigt werden, sie sind relevant für langfristige Entscheidungen, kurzfristig aber entscheidungsirrelevant: Für die Deutsche Bahn stellen die Kosten der Aufrechterhaltung des Schienennetzes im Wesentlichen Fixkosten dar, unabhängig von der kurzfristigen Zahl der Züge oder Passagiere, und sollten daher bspw. für die kurzfristige Planung von Managern unberücksichtigt bleiben. Fixkosten können gleichzeitig Sunk Costs sein: Sunk Costs basieren auf in der Vergangenheit begründeten Kosten, die mit einer Entscheidung für einen Markteintritt oder für eine bestimmte Technologie verbunden sind, und die bei einem Marktaustritt oder der Aufgabe der Technologie nicht zurückgewonnen werden können. Dies gilt bspw. bei unternehmens- oder industriespezifischen Marketinginvestitionen zur Etablierung einer Mobilfunkmarke oder pfadabhängigen Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen für ein Medikament.  Case Study | Pharmaunternehmen und spezifische F&E-Investitionen Betrachtet man ein Pharmaunternehmen und dessen Investitionsentscheidung, so wird die Rolle von Sunk Costs deutlich. Das Unternehmen hatte für ein neues Medikament ursprünglich mit möglichen Erlösen von 20 Mrd. EUR und F&E-Aufwendungen von 15 Mrd. EUR gerechnet. Jetzt kommt ein Wettbewerber mit einem Konkurrenzprodukt auf den Markt und die Erlösprognose wird durch die Marketingabteilung auf 5 Mrd. EUR korrigiert, mittlerweile sind allerdings 12 Mrd. EUR in F&E investiert worden - was sollte das Unternehmen nun tun? Die Entscheidung muss lauten: Fortführung der F&E- Investitionen. Denn nur künftige Erlöse und Kosten sind entscheidungsrelevant, d.h., die jetzt noch möglichen 5 Mrd. EUR an Erlösen abzüglich 3 Mrd. EUR zusätzlicher Kosten versprechen einen Gewinn von 2 Mrd. EUR, unabhängig von den bereits investierten 12 Mrd. EUR, die irreversible Sunk Costs darstellen. In derartigen Fällen liegen irreversible Vergangenheitskosten vor, die zukünftig zwar entscheidungsirrelevant sind, aber maßgeblich die Entscheidungsspielräume eines Unternehmens einschränken und das Unternehmen auf eine bestimmte Strategie festlegen („Comittment“) und indirekt die Marktstruktur beeinflussen (Sutton 1991, Münter 1999, Manez 2009 und Sibony et al. 2017). Als weiteres Beispiel kann die Marketingkampagne für die ursprünglich geplante Eröffnung des Flughafens BER in Berlin im Jahr 2011 dienen. Die Ausgaben waren zum einen Fixkosten, d.h. unabhängig von der Zahl der abgefertigten Passagiere, zum anderen sind sie aufgrund der abgesagten Eröffnung des Flughafens entscheidungsirrelevant für die nachfolgend geplanten Eröffnungstermine seit 2012 - die Ausgaben sind unwiederbringlich verloren und für künftige Entscheidungen nicht maßgeblich. Hier setzt allerdings bei zahlreichen Managern ein Sunk-Cost-Denkfehler ein: Man versucht - insbesondere aufgrund Kosten, Restrukturierung und M&A 206 der hohen bisherigen Kosten - durch weitere Investitionen bisherige Fehlentscheidungen zu rechtfertigen, anstatt eine vollständig neue Alternative zu entwickeln oder nur künftige Kosten und Erlöse zu betrachten (Arkes und Blumer 1985, Pararye 1995, Reinstein et al. 2017, Roeder 2017 sowie ► Kapitel 3). Fixkosten und Sunk Costs sind teilweise exogen durch industriespezifischen Gegebenheiten, Gesetzgebung und wettbewerbspolitische Regulierung oder Technologie vorgegeben, aber Unternehmen können auch aktiv über deren Höhe entscheiden. Gerade durch Forschungs- und Entwicklungsund/ oder Marketinginvestitionen werden wesentlich endogene Sunk Costs mit dem Ziel verursacht, Eintrittsbarrieren, Produktdifferenzierung oder Wettbewerbsvorteile aufzubauen, um auf diese Weise Marktstruktur und Wettbewerbssituation zu beeinflussen (► Kapitel 4). Variable Kosten ( 𝑉𝐶 Variable Costs) sind Kosten, die kurzfristig von Kostentreibern wie Produktionsmenge, Kundenzahl, Anzahl an Lieferungen oder Zahl an Projekten abhängen, d.h. alle Kosten der kurzfristig variablen Einsatzfaktoren der Produktion. In Abhängigkeit vom Zeithorizont können hier stark vereinfachend bspw. alle Kosten für Arbeit, für Material oder Vertriebsprovisionen bedingt durch die Produktionsmenge zusammengefasst werden. Diese sind kurzfristig entscheidungsrelevant, bspw. für die Anpassung der Zuordnung von Mitarbeitern zu Fertigungslinien oder zur Steuerung einer Marketingkampagne. Die kurzfristigen Gesamtkosten ( 𝑇𝐶 Total Costs) eines Unternehmens ergeben sich dann als (6.1) 𝑇𝐶 𝑇𝐶 𝑞, 𝐾, 𝐿 𝐹𝐶 𝑉𝐶 aus der Summe der fixen und der variablen Kosten. Die Grenzkosten ( 𝑀𝐶 Marginal Costs) entsprechen der Veränderung der Gesamtkosten infolge einer marginalen Veränderung der Produktionsmenge oder anderer Kostentreiber. Die Höhe der Grenzkosten unterscheidet sich industriespezifisch sehr stark. Ist die Kapitalausstattung oder die Kapazität nicht vollständig ausgelastet, dann verursacht eine weitere Suchanfrage bei Google oder eine weitere Telefonminute bei Telefonica nahezu keine zusätzlichen Kosten, d.h. die Grenzkosten sind nahezu Null. Ein zusätzliches Fahrzeug bei BMW oder die Produktion eines zusätzlichen Smartphones bei Samsung erhöht dagegen aber spürbar die Gesamtkosten, d.h. die Grenzkosten sind deutlich positiv. Allerdings sind die Grenzkosten auch vom Geschäftsmodell abhängig: Die Grenzkosten eines Exemplars der Bild-Zeitung in gedruckter und in digitaler Form unterscheiden sich aufgrund von Druckkosten, Distribution und Logistik deutlich. Mathematisch werden die Grenzkosten durch Ableitung der Gesamtkostenfunktion (6.2) 𝑀𝐶 ∆ ∆ für ∆→ 0: 𝑀𝐶 nach der Produktionsmenge ermittelt. Bezieht man die so definierten Kosten auf die Produktionsmenge, so ergeben sich mit (6.3) (6.3) 𝐴𝑇𝐶 , 𝐴𝑉𝐶 , 𝐴𝐹𝐶 die totalen Durchschnittskosten ( 𝐴𝑇𝐶 Average Total Costs, oftmals auch als Stückkosten bezeichnet), die variablen Durchschnittskosten ( 𝐴𝑉𝐶 Average Variable Costs) und die Kostenfunktion, Entscheidungen und Wettbewerbsfähigkeit 207 durchschnittlichen Fixkosten ( 𝐴𝐹𝐶 Average Fixed Costs). Dabei gilt offensichtlich, dass die totalen Durchschnittskosten sich als (6.4) 𝐴𝑇𝐶 𝐴𝑉𝐶 𝐴𝐹𝐶 darstellen lassen. Empirische Ermittlung von Kostenkurven und Kostenfunktion Kostenkurven oder Kostenfunktionen einzelner Unternehmen werden - prinzipiell in ähnlicher Vorgehensweise wie bei Produktionsfunktionen - durch Regressionen über empirische Kostenstrukturen aus aufbereiteten Daten der Gewinn- und Verlustrechnung oder Bilanz sowie Zeiträume ermittelt oder rekonstruiert. In ► Abbildung 6.1 links sind Produktionsmenge 𝑞 und Gesamtkosten 𝑇𝐶 über den Zeitraum 2002 bis 2010 zu erkennen, die auf den ersten Blick kein Muster vermuten lassen. In ► Abbildung 6.1 rechts sind die gleichen Daten mit mikroökonomischem Blick betrachtet. Es ist eine Gesamtkostenfunktion abgebildet, die über den Zeitraum 2002 bis 2010 den Zusammenhang zwischen Produktionsmenge 𝑞 und Gesamtkosten 𝑇𝐶 aufzeigt: Oft beobachtet man nicht lineare S-förmige Gesamtkostenverläufe mit zunächst unterproportional, dann überproportional steigenden Gesamtkosten. Die Ursache für kurzfristig nicht lineare Kostenverläufe liegt in der Produktion. Weist die Produktionsfunktion bei konstanten Faktorpreisen eine Abfolge von zunehmenden und dann abnehmenden Grenzprodukten auf, dann steigen die Gesamtkosten erst unter-, dann überproportional. Abbildung 6.1: Empirische Ermittlung der Kostenfunktion. Natürlich hat jede empirische Kostenfunktion zahlreiche Kostentreiber: neben der Produktionsmenge 𝑞 insbesondere die Einsatzmengen an Kapital 𝐾 und die Zahl der Mitarbeiter 𝐿 sowie deren jeweilige Faktorpreise, den Lohnsatz 𝑤 und den gewichteten Eigen- und Fremdkapitalkostensatz 𝑟 . Allerdings kann alleine über den in ► Abbildung 6.1 beschriebenen abstrakten Zusammenhang zwischen Gesamtkosten 𝑇𝐶 und Produktionsmenge 𝑞 unmittelbar die Kostensituation jedes Unternehmens analysiert werden. TC Produktionsmenge q q 2001 q 2002 q 2003 q 2004 q 2005 q 2006 q 2007 q 2008 q 2009 q 2010 unterproportionaler Anstieg der Gesamtkosten überproportionaler Anstieg der Gesamtkosten TC, FC, VC Produktionsmenge q FC VC TC q 2001 q 2002 q 2003 q 2004 q 2005 q 2006 q 2007 q 2008 q 2009 q 2010 Kosten, Restrukturierung und M&A 208  Case Study | Ermittlung der Kostenfunktion eines Turbinenherstellers Betrachtet man wieder den Turbinenhersteller aus ► Kapitel 5, so ist in ► Abbildung 6.2 links oben unmittelbar der enge Zusammenhang zwischen Produktionsmenge und Gesamtkosten zu erkennen. Durch Division der Gesamtkosten 𝑇𝐶 mit der Produktionsmenge 𝑞 ergeben sich hier die durchschnittlichen Gesamtkosten 𝐴𝑇𝐶 , wie in ► Abbildung 6.2 oben rechts zu sehen, bei etwa 140.000 liegen und im Zeitablauf relativ konstant sind. Abbildung 6.2: Produktion, Gesamtkosten und durchschnittliche Gesamtkosten als Bestandteile der Kostenfunktion (oben) und Regressionsanalyse der Gesamtkosten (unten). Die Gesamtkostenfunktion 𝑇𝐶 𝑞 als Funktion der Produktionsmenge kann dann durch eine Regression der Gesamtkosten auf die Produktionsmenge empirisch geschätzt werden. In ► Abbildung 6.2 sind zwei Fälle skizziert. Der linke untere lineare Fall ist offensichtlich, trotzt relativ hohem Signifikanzniveau, nicht plausibel: Die Fixkosten wären negativ - der rechte untere Fall einer nicht linearen Gesamtkostenfunktion ist dagegen typisch. Analysiert man nun die Kostensituation des Turbinenherstellers anhand dieser ökonometrisch geschätzten Gesamtkostenfunktion von Produktion q und Gesamtkosten TC durchschnittliche Gesamtkosten ATC lineare Regression nicht lineare Regression 0 500 1000 1500 2000 2500 3000 3500 4000 0 100000000 200000000 300000000 400000000 500000000 600000000 q1/ 2004 q3/ 2004 q1/ 2005 q2/ 2005 q4/ 2005 q1/ 2006 q3/ 2006 q1/ 2007 q2/ 2007 q4/ 2007 q1/ 2008 q3/ 2008 q1/ 2009 TC q TC q 50000 70000 90000 110000 130000 150000 170000 190000 ATC TC = 1 40.257,87 q - 4.061 .801 ,55 R² = 0,94 300000000 350000000 400000000 450000000 500000000 550000000 2200 2400 2600 2800 3000 3200 3400 3600 TC Linear (TC) q TC TC = 32,88 q2 - 31.255,40 q + 217.711.520,48 R² = 0,97 300000000 350000000 400000000 450000000 500000000 550000000 2200 2400 2600 2800 3000 3200 3400 3600 TC Poly. (TC) TC q Kurzfristige Entscheidungen: Fixkosten und Grenzkosten 209 (6.5) 𝑇𝐶 𝑞 𝑉𝐶 𝐹𝐶 𝜓 𝑞 𝜓 𝑞 𝐹𝐶 = 32,88𝑞 31.255,40𝑞 217.711.520,48 , so ergeben sich für die betrachtete Bandbreite der Produktionsmenge von ca. 2.200 bis 3.600 Stück Fixkosten 𝐹𝐶 in Höhe von etwa 218 Mio. EUR, die variablen Kosten sind mit 𝑉𝐶 32,88𝑞 31.255,40𝑞 nicht konstant und hängen von der Produktionsmenge 𝑞 ab und die Grenzkosten ergeben sich als 𝑀𝐶 65,76𝑞 31.255,40 und variieren ebenfalls mit der Produktionsmenge. Damit sind allerdings auch die durchschnittlichen variablen Kosten nicht konstant, wie aus 𝐴𝑉𝐶 𝑇𝐶/ 𝑞 32,88𝑞 31.255,40 zu erkennen ist. Bei einer Ausweitung der Produktionsmenge steigen für dieses Unternehmen die Stückkosten an - entgegen der in Unternehmen oft in Business Cases und Planungsrechnungen zu beobachtenden Annahme konstanter Stückkosten. Verwendet man frei zugängliche Daten von Wettbewerbern, so können mittels einfacher ökonometrischer Verfahren wie Regressionsanalysen auch deren Gesamtkostenfunktionen sowie zugehörige Fixkosten, variable Kosten und Grenzkosten zumindest annähernd ermittelt werden. Die zentrale Bedeutung der Grenzkosten für Entscheidungen im strategischen Wettbewerb und der Analyse der Wettbewerber wird in ► Kapitel 10 betrachtet. 6.2 Kurzfristige Entscheidungen: Fixkosten und Grenzkosten Kurzfristig kann die Produktionsmenge bei gegebener Kapitalausstattung durch Veränderung des Arbeitseinsatzes verändert werden. Für Manager ist wesentlich, die kurzfristig entscheidungsrelevanten variablen Kosten zu identifizieren und daneben die Veränderung der Gesamtkosten - die Grenzkosten - bei einer Veränderung der Produktionsmenge abschätzen zu können. Die kurzfristige Analyse konzentriert sich daher bspw. auf die Frage, wie sich die Gesamtkosten verändern, wenn bei gegebener Kapitalausstattung  kurzfristige Anpassungen der Produktionsmenge (in Abhängigkeit des Grenzproduktes der Arbeit) vorgenommen werden oder  eine Entscheidung zur Zuordnung der Produktion auf Fabriken mit unterschiedlichen Kostenfunktionen erfolgen kann. Um mögliche Entscheidungen in kurzfristiger Perspektive zu betrachten und herauszuarbeiten, ist in ► Tabelle 6.1 die Kostensituation eines Unternehmens beispielhaft dargestellt. Kosten, Restrukturierung und M&A 210 kurzfristige Kostenstruktur Produktionsmenge (1) Fixkosten (2) variable Kosten (3) Gesamtkosten (4) Grenzkosten (5) durchschnittliche Gesamtkosten (6) durchschnittliche variable Kosten (7) durchschnittliche Fixkosten (8) q FC VC TC MC ATC AVC AFC 0 50 0 50 - - - 50 1 50 50 100 100 50 50 28 2 50 78 128 64 39 25 20 3 50 98 148 49,33 32,67 16,67 14 4 50 112 162 40,5 28 12,5 18 5 50 130 180 36 26 10 20 6 50 150 200 33,33 25 8,33 25 7 50 175 225 32,14 25 7,14 29 8 50 204 254 31,75 25,5 6,25 38 9 50 242 292 32,44 26,89 5,56 58 10 50 300 350 35 30 5 85 11 50 385 435 39,55 35 4,55 Tabelle 6.1: Kurzfristige Kostenstruktur. Kurzfristige Entscheidungen: Fixkosten und Grenzkosten 211 Das Unternehmen hat für eine Produktionsmenge von 0 bis 11 Fixkosten in Höhe von 𝐹𝐶 50 und aufgrund der nicht linear ansteigenden variablen Kosten (3) auch einen nicht linearen Gesamtkostenanstieg (4) - die Gesamtkostenkurve verläuft, wie in ► Abbildung 6.3 links oben zu erkennen, S-förmig. Ermittelt man anhand der Gleichungen (6.2) und (6.3) die Grenz- und Durchschnittskosten, so ergibt sich bspw. (6.6) 𝑀𝐶 ∆ ∆ 20 , d.h. ein Anstieg der Gesamtkosten um 20, wenn die Produktionsmenge von 5 auf 6 erhöht wird, sowie totale Durchschnittskosten von (6.7) 𝐴𝑇𝐶 64 . Betrachtet man in ► Tabelle 6.1 die Grenzkosten (5) sowie die variablen (7) und totalen Durchschnittskosten (6), so ist mit steigender Produktionsmenge jeweils ein Rückgang und nachfolgend ein Anstieg zu beobachten. Offensichtlich sind U-förmige Kostenverläufe. Die durchschnittlichen Fixkosten (8) gehen dagegen mit zunehmender Produktionsmenge kontinuierlich zurück (Fixkostendegression). Um einen detaillierten und analytischen Blick auf die kurzfristige Kostenstruktur zu gewinnen, um aber auch die typische Vorgehensweise anhand von realen Unternehmensdaten zu zeigen, sind die Daten der Produktionsmenge (1) und der Gesamtkosten (4) aus ► Tabelle 6.1 mittels Regressionsanalyse überprüft. Es ergibt sich als Schätzgleichung (6.8) 𝑇𝐶 𝑉𝐶 𝐹𝐶 0,5859𝑞 7,9214𝑞 50,792𝑞 52,33 mit deutlich nicht linearen variablen Kosten 𝑉𝐶 0,5859𝑞 7,9214𝑞 50,792𝑞 und Fixkosten 𝐹𝐶 52,33 bei einem einfachen Bestimmtheitsmaß von 𝑅 0,99 . Offenbar werden durch die Regression die Fixkosten (die ja tatsächlich 𝐹𝐶 50 betragen) mit 52,33 knapp überschätzt, dennoch bildet die Regressionslinie, in ► Abbildung 6.3 links oben, die empirischen Daten hinreichend ab. Kosten, Restrukturierung und M&A 212 Abbildung 6.3: Regressionsanalyse der kurzfristigen Kostenstruktur aus Tabelle 6.1. Zur Analyse der Daten kann man auf Basis von Gleichung (6.8) nun zwei Wege gehen: Man kann über (6.2) die Grenzkosten (6.9) 𝑀𝐶 1,7577𝑞 15,8428𝑞 50,792 ermitteln sowie über (6.3) die Durchschnittskosten als (6.10) 𝐴𝑇𝐶 0,5859𝑞 7,9214𝑞 50,792 , und (6.11) 𝐴𝑉𝐶 0,5859𝑞 7,9214𝑞 50,792 . Aufgrund der quadratischen Terme verlaufen offensichtlich alle Kostenkurven (6.9) bis (6.10) U-förmig. Setzt man nun Gleichungen (6.9) und (6.10) resp. Gleichungen (6.9) und (6.11) gleich, so erhält man, dass die Grenzkosten identisch mit den totalen Durchschnittskosten für 𝑞 7,54 sowie Grenzkosten identisch mit den variablen Durchschnittskosten bei 𝑞 6,76 sind. Beide Werte sind in ► Abbildung 6.3 rechts unten eingezeichnet. Bis zu diesen Werten liegen die Grenzkosten unter den variablen bzw. totalen Durchschnittskosten, danach darüber. Die dahinter liegende ökonomische Begründung erfolgt analog zum Zusammenhang von Produktivität und Grenzprodukten: Sind die Grenzkosten kleiner als die Durchschnittskosten, dann führt eine Ausweitung der Produktion zu einem unterproportionalen Anstieg der Gesamtkosten und zu einem Rückgang der Durchschnittskosten et vice versa. TC = 0,5859 q 3 - 7,9214 q 2 + 50,792 q + 52,33 R² = 0,9992 0 100 200 300 400 500 0 2 4 6 8 10 12 TC q 0 20 40 60 80 100 1 3 5 7 9 11 MC q MC = 1,7577 q 2 - 15,8428 q + 50,792 0 20 40 60 80 100 1 3 5 7 9 11 ATC AVC q 0 20 40 60 80 100 1 3 5 7 9 11 MC ATC AFC AVC q Kurzfristige Entscheidungen: Fixkosten und Grenzkosten 213 Abbildung 6.4: Grenzkosten, Durchschnittskosten und Wettbewerbsfähigkeit. Ein Vergleich der Grenzkosten mit den Durchschnittskosten, wie in ► Abbildung 6.4 gezeigt, ermöglicht aus Managementperspektive eine unmittelbare Entscheidbarkeit: Liegen die Grenzkosten unter den Durchschnittskosten, dann führt eine Erhöhung der Produktion zu einer Reduktion der Durchschnittskosten und einer kurzfristig realisierbaren Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens - eine Ausweitung der Produktion bei gegebenen Preisen erhöht unmittelbar den Gewinn (vgl. auch ► Kapitel 7 zu Entscheidungen über die Produktionsmenge auf Basis der Grenzkosten). Kostenminimierung und Standortplanung bei gegebener Produktionshöhe Neben der Analyse, ob eine Veränderung der Produktionsmenge die Wettbewerbsfähigkeit erhöht, müssen Unternehmen entscheiden, an welchen Standorten oder in welchen Fertigungslinien welche Produktionsmengen realisiert werden sollen - das gilt bspw. für Automobilhersteller und deren internationale Werke wie auch für Callcenter-Betreiber und deren Zuordnung von Mitarbeitern zu Service-Lines. Sind die hergestellten Produkte oder Dienstleistungen identisch, dann reduziert sich das Ziel auf eine Minimierung der Gesamtkosten bei vorgegebener Produktionsmenge, die durch die Nachfrageseite, langfristige Lieferverträge oder Service Level Agreements festgelegt ist. Typisch sind Situationen, in denen eine bestimmte Produktionsmenge (6.12) 𝑞 𝑞 𝑞 𝑓𝑖𝑥 fest vereinbart ist, die allerdings in zwei Fabriken A oder B mit den jeweiligen Produktionsmengen 𝑞 und 𝑞 hergestellt werden kann. Das Ziel des Managements ist dann eine kurzfristige Minimierung der Gesamtkosten durch MC<AVC: kurzfristige Wettbewerbsfähigkeit steigt bei Ausweitung der Produktionsmenge MC>AVC: kurzfristige Wettbewerbsfähigkeit sinkt bei Ausweitung der Produktionsmenge MC, ATC, AVC q 0 MC AVC ATC minimale AVC minimale ATC Kosten, Restrukturierung und M&A 214 (6.13) 𝑇𝐶 𝑇𝐶 𝑇𝐶 → 𝑚𝑖𝑛! die Wahl der jeweiligen Produktionsmengen 𝑞 und 𝑞 . Dieses Problem einer Optimierung der Zielfunktion unter einer Nebenbedingung kann man anhand einer Lagrange- Funktion lösen. Die Lagrange-Funktion ist nicht beschränkt auf nur eine Nebenbedingung oder zwei Produktionsstandorte (und ist zudem bspw. als Solver in Excel hinterlegt) und lässt sich formulieren als (6.14) 𝑍 𝑇𝐶 𝑇𝐶 𝜆 𝑞 𝑞 𝑞 → 𝑚𝑖𝑛! D.h., die Lagrange-Funktion kombiniert die Zielfunktion 𝑇𝐶 𝑇𝐶 → 𝑚𝑖𝑛! mit der Nebenbedingung 𝑞 𝑞 𝑞 unter Verwendung des Lagrange-Multiplikators 𝜆 . Die Lagrange- Funktion wird allgemein optimiert, indem man nach den Kontrollvariablen - das sind die durch das Management beeinflussbaren Größen und in diesem Fall die Produktionsmengen 𝑞 und 𝑞 - sowie dem Langrange-Multiplikator 𝜆 ableitet, so dass sich (6.15) 𝜆 𝑀𝐶 𝜆 0 und 𝑀𝐶 𝜆 (6.16) 𝜆 𝑀𝐶 𝜆 0 und 𝑀𝐶 𝜆 und (6.17) 𝑞 𝑞 𝑞 0 gleichbedeutend mit 𝑞 𝑞 𝑞 ergibt. Aus (6.15) und (6.16) folgt, dass der Lagrange-Multiplikator den Grenzkosten entspricht und bei Auflösen nach 𝜆 unmittelbar 𝑀𝐶 𝑀𝐶 folgt - d.h., ein Unternehmen optimiert die Gesamtkosten über zwei (oder mehr) Fabriken hinweg genau dann, wenn die Grenzkosten in den Fabriken gleich groß sind (vgl. in ► Kapitel 5 das Gleichsetzen der Grenzprodukte in zwei Bankfilialen zur Maximierung der Produktionsmenge).  Case Study | Standortplanung eines Automobilzulieferers Ein Automobilzulieferer steht vor der Entscheidung, wie die geplante Gesamtproduktion 𝑞 32.000 kurzfristig zwischen zwei Fabriken mit unterschiedlichen Kostenfunktionen aufgeteilt werden soll. Die Kostenfunktionen an den beiden Standorten 𝐴 und 𝐵 sind durch (6.18) 𝑇𝐶 0,6𝑞 16.000.000 und 𝑇𝐶 0,2𝑞 24.000 .000 gegeben, die Nebenbedingung ist (6.19) 𝑞 𝑞 𝑞 32.000 . Um die Entscheidung zu treffen, wird die Lagrange-Funktion als (6.20) 𝑍 0,6𝑞 16.000.000 0,2𝑞 24.000.000 𝜆 32.000 𝑞 𝑞 → 𝑚𝑖𝑛! formuliert. Leitet man nun (6.20) nach den Kontrollvariablen 𝑞 und 𝑞 ab, so ergibt sich (6.21) 1,2𝑞 𝜆 0 mit 𝑀𝐶 1,2𝑞 (6.22) 0,4𝑞 𝜆 0 mit 𝑀𝐶 0,4𝑞 215 sowie (6.23) 32.000 𝑞 𝑞 0 . Setzt man nun 𝑀𝐶 𝑀𝐶 mit 1,2𝑞 0,4𝑞 gleich, so ergibt sich unter Verwendung von (6.23), dass die Produktionsmenge in Fabrik A gleich 𝑞 8.000 und 𝑞 24.000 betragen muss, um die Kosten zu minimieren, die dann (6.24) 𝑇𝐶 𝑇𝐶 𝑇𝐶 0,6𝑞 16.000.000 0,2𝑞 24.000.000 193.600.000 betragen. Ein einfacher Vergleich in ► Tabelle 6.2 zeigt: Wäre die Produktion zu gleichen Teilen in beide Fabriken aufgeteilt, betragen die Gesamtkosten 245 Mio. - ein Einsparpotenzial von 51 Mio. oder ca. 26 % im Vergleich zur optimierten Kostenstruktur auf Basis der Lagrange-Funktion. Produktionsentscheidungen und relativer Kostenvorteil Strategie Produktionsmenge Fixkosten FC in Mio. variable Kosten VC in Mio. TC in Mio. TC in Mio. Kostennachteil Grenzkosten MC totale Durchschnittskosten ATC Grenzkosten gleichsetzen Fabrik A 8.000 16 38 54 194 0 % 9.600 6.800 Fabrik B 24.000 24 115 139 9.600 5.800 50 % / 50 % Aufteilung Fabrik A 16.000 16 154 170 245 26 % 19.200 10.600 Fabrik B 16.000 24 51 75 6.400 4.700 Durchschnittskosten gleichsetzen Fabrik A 3.799 16 9 25 208 7 % 4.558,8 6.490 Fabrik B 28.201 24 159 183 11.280,4 6.490 Tabelle 6.2: Strategien betreffend Produktionsmengen und relativer Kostenvorteil. Auch eine Aufteilung nach der Heuristik „Durchschnittskosten gleichsetzen“ - regelmäßig zu beobachten in Unternehmen (siehe auch ► Kapitel 5 zur Zuordnung von Mitarbeitern in Filialen) - verursacht höhere Kosten: Selbst bei den in diesem Beispiel vergleichsweise geringen Grenzkostenunterschieden und relativ hohen Fixkostenblöcken beträgt der Kostennachteil 16 Mio. oder ca. 7 %. Kosten, Restrukturierung und M&A 216 6.3 Langfristige Entscheidungen: Anpassung der Kostenstruktur Langfristig können alle Einsatzfaktoren angepasst werden. Die Analyse konzentriert sich daher bspw. auf Fragen, wie sich die Gesamtkosten verändern, wenn  eine langfristige und dauerhafte Veränderung der Produktionsmenge (in Abhängigkeit der Art der Skalenerträge) oder  eine dauerhafte Änderung der absoluten oder relativen Faktorpreise, typischerweise steigender Lohnsätzen, stattfindet. Damit werden Entscheidungen in den Blick genommen, welche die Kostenstruktur (und die Kapitalintensität) betreffen, Investition in dauerhafte Kapitalstöcke haben oder potenziell Sunk-Cost-Eigenschaften aufweisen. Alle diese Entscheidungen sind, neben dem auch langfristig geltenden Ziel der Kostenminimierung, geeignet, um die dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens sicherzustellen oder zu erhöhen. Porter (1980) hat darauf aufbauend das Konzept der Kostenführerschaft in Industrien mit schwacher Produktdifferenzierung beschrieben. Zudem kann anhand absoluter oder relativer Kostenvorteile im internationalen Handel auch die Wechselwirkung zwischen der Wettbewerbsfähigkeit von Ländern einerseits und Unternehmen sowie Industrien andererseits erklärt werden (Dosi et al. 2015, Krugman 1996 und Porter 1990). Dabei ist die Bedeutung von „kurzfristig“ versus „langfristig“ wiederum von der Industrie und deren Kapitalintensität abhängig - kurzfristig ist der Zeitraum, in dem der Kapitaleinsatz nicht oder nur sehr kostspielig verändert werden kann (Levy 1994). Über Industrien hinweg können die Möglichkeiten, Kosten durch Prozessinnovation, Outsourcing oder Faktorsubstitution zu beeinflussen, stark differieren. Die langfristige Kostenfunktion eines Unternehmens ergibt sich aus der Addition der Kosten für Kapital 𝑟𝐾 , d.h. dem Kapitaleinsatz 𝐾 multipliziert mit dem Zinssatz 𝑟 , und den Kosten für Arbeit 𝑤𝐿 , d.h. dem Arbeitseinsatz 𝐿 multipliziert mit dem Lohnsatz 𝑤 , als (6.25) 𝑇𝐶 𝑟𝐾 𝑤𝐿 mit 𝑉𝐶 𝑤𝐿 und 𝐹𝐶 𝑟𝐾 . Unternehmen müssen zur Optimierung der Kostenstruktur, bei gegebener Produktionshöhe oder -planung, langfristig insbesondere die Faktorpreise, d.h. Zinsen und Lohnsätze, in die Betrachtung einbeziehen. Veränderungen der Faktorpreise oder internationale Faktorpreisunterschiede führen dann zu einer Anpassung der Kostenstruktur: die relativen Anteile von Arbeits- und Kapitalkosten werden angepasst. So hat der damalige Personalvorstand des Volkswagen Konzerns, Horst Neumann, in einem Interview 2015 die langfristig ausgerichtete Automatisierungsstrategie begründet, dass eine Mitarbeiter-Arbeitsstunde in Deutschland 40 EUR, in Osteuropa um 10 EUR, in China unter 10 EUR kostete - aber eine Roboter- Arbeitsstunde inklusive Instandhaltung und Energiekosten im Durchschnitt bei weniger als 6 EUR liegt (Focus Money 2015). Um langfristige Kostenentscheidungen zu betrachten, wird Gleichung (6.25) in ► Abbildung 6.4 übertragen. Bei gegebenen Faktorpreisen kann man die langfristigen Gesamtkosten als Isokostenlinie zeichnen (analog zur Budgetlinie in ► Kapitel 2). Die Isokostenlinie beschreibt für gegebene Gesamtkosten 𝑇𝐶 alternativ mögliche Kombinationen der Einsatzfak- Langfristige Entscheidungen: Anpassung der Kostenstruktur 217 toren 𝐾 und 𝐿 bei gegebenen Faktorpreisen 𝑤 und 𝑟 . Die Schnittpunkte mit der Kapital- und Arbeitsachse geben die maximale Menge an Kapital- und Arbeitseinsatz an, wenn der andere Faktor nicht eingesetzt wird - d.h., dass das gesamte verfügbare Budget des Unternehmens nur für einen Einsatzfaktor verwendet wird. Die Steigung der Isokostenlinie wird durch die relativen Faktorpreise, das Lohn/ Zins-Verhältnis - 𝑤/ 𝑟 , bestimmt: Mit relativ steigendem Lohnsatz 𝑤 nimmt die Steigung der Isokostenlinie zu. Gleichzeitig kann aber durch Umstellen von (6.25) für 𝐿 0 zu (6.26) 𝐾 𝐿 und 𝐾 durch den Achsenabschnitt 𝐾 auch das absolute Kostenniveau beschrieben werden. Abbildung 6.5: Isokostenlinie und maximaler Einsatz von Einsatzfaktoren. Betragen beispielweise für einen Produktionsbereich der als Cost Center geführt wird die aktuellen Faktorpreise für Arbeit 𝑤 12 und Kapital 𝑟 0,05 bei maximalen Gesamtkosten 𝑇𝐶 240.000 , dann können, wie in ► Abbildung 6.5 rechts zu erkennen, maximal 20.000 Stunden Arbeit oder maximal 4,8 Mio. EUR Kapital finanziert werden, sowie alle Kombinationen aus Arbeit und Kapital auf oder unterhalb der Isokostenlinie. Wenn der Lohnsatz auf 𝑤 16 und der Kapitalkostensatz gleichzeitig auf 𝑟 0,08 bei gleichbleibendem Budget in Höhe der Gesamtkosten 𝑇𝐶 240.000 steigt, dann geht offensichtlich die maximale Menge an Kapital und Arbeit zurück. Zudem ändert sich das Lohn-Zins-Verhältnis von 240 auf 200 und die Isokostenlinie verläuft aufgrund des relativ stärkeren Anstiegs des Zinses jetzt flacher. Bringt man die Überlegungen von Produktion (aus ► Kapitel 5) und Kosten zusammen und fügt in ► Abbildung 6.5 Isoquanten und Indifferenzkurven ein, wird unmittelbar klar, dass nachfolgend eines Anstiegs der Faktorpreise bei konstantem Budget die Produktion zurückgehen muss. Kapital 0 Arbeit 0 0 r w  Isokostenlinie Kapital in mn. EUR Arbeit in h 0 4,8 3,0 20.000 15.000 q = F(K,L) w1,r1 q = F(K,L) w2,r2 - 12 / 0,05 = - 240 - 16 / 0,08 = - 200 K TC r w r L TC r L TC w r w K TC w Kosten, Restrukturierung und M&A 218 Abbildung 6.6: Grenzrate der technischen Substitution und Effizienz. In ► Abbildung 6.6 ist dieser Zusammenhang detailliert graphisch dargestellt. Verlaufen die Isoquanten konvex zum Ursprung, dann können zwei wesentliche Zusammenhänge abgeleitet werden. Zum einen kann es bei gegebenem Budget nur eine optimale, d.h. kostenminimierende Kombination von Kapital und Arbeit bei Punkt A geben, denn dieser liegt auf der niedrigsten Isokostenlinie. Zum anderen ist an diesem Punkt A die Steigung der Isokostenlinie gleich der Steigung der Isoquante - so dass allgemein die Bedingung langfristig kostenminimierender Produktion erfüllt ist, wenn das Faktorpreisverhältnis dem Verhältnis der Grenzprodukte der Einsatzfaktoren entspricht, d.h. der Grenzrate der technischen Substitution GRT . Punkt B wäre ineffizient, weil zum einen höhere Kosten verursacht werden (zu sehen an der höheren Isokostenlinie), zum anderen bei gegebenem Faktorpreisverhältnis der Faktor Arbeit zu viel, der Faktor Kapital zu wenig eingesetzt wird. Dieses Unternehmen kann die Effizienz steigern, indem anhand einer Restrukturierung mehr Kapital und weniger Arbeit eingesetzt wird - also Stellen reduziert werden und stärker in Automatisierung investiert wird. Allgemein können die Zusammenhänge aus ► Abbildung 6.5 und ► Abbildung 6.6 auch mathematisch beschrieben werden. Ist eine beliebige langfristige Produktionsfunktion mit (6.27) 𝑞 𝑇 𝐾, 𝐿 gegeben, dann kann man anhand des totalen Differentials (6.28) 𝑑𝑞 𝑑𝐾 𝑑𝐿 die Steigung entlang einer Isoquante, auf der 𝑑𝑞 0 gilt, als Grenzrate der technischen Substitution 𝐺𝑅𝑇 durch das Verhältnis (6.29) 𝐺𝑅𝑇 beschreiben. Die Grenzrate der technischen Substitution beschreibt das aktuelle vorliegende Austauschverhältnis der Einsatzfaktoren gemessen durch die jeweiligen Grenzprodukte der Arbeit 𝑀𝑃 und des Kapitals 𝑀𝑃 und misst, welche Veränderung des Kapitaleinsat- Kapital 0 Arbeit L K A B Kapital 0 Arbeit L 0 K 0 A B L 1 K 1 GRT ∆K ∆L F F q F K, L w r q F K, L TC r TC r TC r TC r Langfristige Entscheidungen: Anpassung der Kostenstruktur 219 zes 𝑑𝐾 notwendig ist, um bei einer Veränderung des Arbeitseinsatzes 𝑑𝐿 die Produktionsmenge konstant zu halten. Wie einfach diese Anpassung gelingt, hängt wiederum von der im Unternehmen verwendeten Technologie ab. Da bei effizienter und kostenminimierender Produktion die Steigung der Isokostenlinie - 𝑤/ 𝑟 gleich der Steigung der Isoquante 𝑀𝑃 / 𝑀𝑃 ist, entspricht wegen (6.30) im Kostenminimum das Verhältnis der Grenzprodukte dem Verhältnis der Faktorpreise (► Kapitel 2 zu analogen Ergebnissen betreffend der Preisverhältnisse von Produkten und relativem Grenznutzen). Um diese langfristigen Anpassungsprozesse zu verdeutlich, werden im Folgenden zwei typische Beispiele betrachtet. Zunächst wird aus Managementperspektive analysiert, wie Unternehmen auf einen dauerhaften Rückgang der Nachfrage reagieren, danach werden die Reaktionsmöglichkeiten einer dauerhaften Erhöhung eines Faktorpreises, typischerweise des Lohnsatzes 𝑤 , betrachtet. Restrukturierung bei dauerhaftem Produktionsrückgang Regelmäßig müssen Unternehmen Maßnahmen zur Kostenoptimierung ergreifen, wenn die Nachfrage dauerhaft und langfristig zurückgeht. Osram als Hersteller von Leuchtmitteln war seit 2012 wiederholt von neuen Mindestanforderungen, Verboten und Einschränkungen im Vertrieb und der Produktion von konventionellen Glühbirnen betroffen, und hat in der Folge massiv Stellen abgebaut und Werke aufgegeben (Augsburger Allgemeine Zeitung 2015 und Handelsblatt 2017). In ähnlicher Weise sind Unternehmen wie Siemens und General Electric gezwungen, nachfolgend verschiedener nationaler und internationaler Vereinbarungen zur Energiewende und starkem Rückgang der Nachfrage nach Gas- und Dampfturbinen, Stellen abzubauen und das Unternehmen zu restrukturieren (Köhn 2017). Eine Restrukturierung beschreibt eine Neuorganisation des Unternehmens, in deren Umsetzung sowohl Kapital als auch Arbeit an die neuen Rahmenbedingungen angepasst werden: oftmals verbunden mit dem Umbau des Geschäftsmodells, Standortverlagerungen oder neuen Eigentümern. Unternehmen müssen infolge eines dauerhaften Rückgangs der Nachfrage, bei konstanten Faktorpreisen, die Produktion reduzieren. Entsprechend dem Produktionsrückgang müssen die eingesetzten Mengen an Kapital und Arbeit reduziert werden, um die Kosten zu reduzieren sowie Effizienz herzustellen. Alternativ kann das Management versuchen, eine Reduktion der Faktorpreise durchzusetzen - bspw. durch Gehaltsverzicht bei den Mitarbeitern oder Neuverhandlung von Kreditkonditionen. Anhand von ► Abbildung 6.7 kann man erkennen, dass typischerweise kurzfristig die Zahl der Stellen reduziert wird, und bei anhaltendem Nachfragerückgang langfristig auch der Kapitaleinsatz (Eigen- und Fremdkapital) reduziert wird: Kosten, Restrukturierung und M&A 220  In der Ausgangsituation (1) produziert das Unternehmen mit einem Kapitaleinsatz 𝐾 und einem Arbeitseinsatz 𝐿 eine Produktionsmenge 𝑞 bei Gesamtkosten von 𝑇𝐶 - die Produktion ist effizient, da die Isokostenlinie die Isoquante am Punkt 𝐴 tangiert.  Nachfolgend einem durch dauerhaften Nachfragerückgang ausgelösten Produktionsrückgang von 𝑞 auf 𝑞 (2) ist die Produktion nicht mehr effizient - die Isoquante 𝑞 schneidet die Isokostenlinie - und so wird typischerweise zu viel Kapital und Arbeit eingesetzt.  Kurzfristig kann der Kapitaleinsatz 𝐾 nicht reduziert werden, so dass die kurzfristige Reaktion des Unternehmens nur ein Stellenabbau auf 𝐿 ‘ ist (3) - tatsächlich sinken die Kosten zwar auf 𝑇𝐶 ‘ , aber die Produktion ist ineffzient, da am Punkt 𝐴‘ die verschobene Isokostenlinie die Isoquante 𝑞 weiterhin schneidet.  Langfristig kann das Unternehmen den Kapitaleinsatz auf 𝐾 reduzieren (4), so dass am Punkt 𝐵 jetzt wieder effizient produziert wird - damit geht eine weitere Reduktion der Kosten von 𝑇𝐶 ′ auf 𝑇𝐶 einher. Abbildung 6.7: Langfristige Perspektive bei Produktionsrückgang. Infolge der reduzierten Produktionsmenge wird der Einsatz beider Einsatzfaktoren 𝐾 und 𝐿 reduziert, in jedem Fall reduzieren sich bei konstanten Faktorpreisen langfristig auch die Gesamtkosten. Damit geht meist eine Änderung der Kapitalintensität einher, allerdings hängt die Richtung der Veränderung von der tatsächlichen Produktionsfunktion und der Substituierbarkeit der Einsatzfaktoren ab. K 0 L L 0 A K 0 0 L L 0 L 0 ‘ 1 TC 0 / r 0 q 0 K 0 L L 0 A K 0 2 TC 0 / r 0 q 0 q 1 K A K 0 3 TC 0 / r 0 q 0 q 1 A‘ 0 L L 0 K A 4 TC 0 / r 0 q 0 q 1 B L 1 TC 0 ‘/ r 0 K 1 TC 1 / r 0 TC 0 ‘/ r 0 K 0 Langfristige Entscheidungen: Anpassung der Kostenstruktur 221  Case Study | Produktionsrückgang bei einem Leuchtmittelhersteller Die Produktionsfunktion eines Leuchtmittelherstellers ist als (6.31) 𝑞 20𝐾 , 𝐿 , gegeben, das Unternehmen produziert 𝑞 3,2 Mrd. Leuchtmittel. Infolge einer geänderten Gesetzgebung bricht der Absatz an Glühbirnen ein. Das Unternehmen rechnet mit einem dauerhaften Rückgang auf 𝑞 2,0 Mrd. Leuchtmittel bei konstanten Faktorpreisen von 𝑟 0,02 und 𝑤 20 . Die Situation lässt sich analog ► Abbildung 6.7 darstellen - zudem kann man neben der qualitativen Analyse aber auch eine quantitative Analyse durchführen. Diese ist im Unternehmensalltag aus mindestens zwei Gründen notwendig:  Um den notwendigen Stellenabbau durchzusetzen, müssen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite typischerweise Interessenausgleich und Sozialplan verhandelt werden - zur Versachlichung kann hier maßgeblich ein robustes und nachvollziehbares Zahlengerüst beitragen.  Die Reduktion des Kapitaleinsatzes bedeutet eine Reduktion an Eigen- und Fremdkapital - auch hier hilft ein tragfähiges Zahlenwerk, um Banken, bisherige Eigentümer und den Kapitalmarkt präzise über die Restrukturierung des Unternehmens zu informieren. Die quantitative Analyse erfolgt über eine Lagrange-Funktion, da wieder eine Optimierung unter Nebenbedingungen durchzuführen ist. Zunächst ist für die Ausgangsituation das Kostenminimum und der dazugehörige Kapital- und Arbeitseinsatz zu ermitteln, so dass sich unter der Nebenbedingung einer aktuellen Produktion von (6.32) 𝑞 20𝐾 , 𝐿 , mit 𝑞 3,2 und einem Zinssatz von 𝑟 0,02 sowie einem Stundenlohn von 𝑤 20 zur Optimierung der Kostensituation (6.33) 𝑇𝐶 𝑟𝐾 𝑤𝐿 0,02𝐾 20𝐿 die Lagrange-Funktion als (6.34) 𝑍 0,02𝐾 20𝐿 𝜆 3,2 20𝐾 , 𝐿 , → 𝑚𝑖𝑛! ergibt. Diese wird durch Wahl der von Unternehmen beeinflussbaren Strategieparameter (Kontrollvariable) 𝐾 und 𝐿 optimiert, so dass (6.35) 0,02 𝜆 20 ⋅ 0,05𝐾 , 𝐿 , 0 → 𝜆 , ⋅ , , , (6.36) 20 𝜆 20 ⋅ 0,9𝐾 , 𝐿 , 0 → 𝜆 ⋅ , , , (6.37) 3,2 20𝐾 , 𝐿 , 0 erfüllt sein muss. Setzt man nun 𝜆 aus (6.35) und (6.36) gleich, dann erhält man mit (6.38) , ⋅ , , , ⋅ , , , → 𝐾 55,55𝐿 und (6.39) 𝑞 3,2 20𝐾 , 𝐿 , 20 55,55𝐿 , 𝐿 , Kosten, Restrukturierung und M&A 222 den in der Ausgangsituation optimalen Arbeits- und Kapitaleinsatz als (6.40) 𝐿 , ⋅ , , , 0,1176 und 𝐾 55,55𝐿 6,5332 , so dass sich bei gegeben Faktorpreisen Gesamtkosten in Höhe von (6.41) 𝑇𝐶 𝑟𝐾 𝑤𝐿 0,02 ⋅ 6,5332 20 ⋅ 0,1176 2,4826 ergeben. Mit anderen Worten: Zur Produktion von 3,2 Mrd. Glühbirnen wird ein Kapitaleinsatz von 6,5 Mrd. EUR und 0,12 Mrd. Stunden Arbeit (bei 1.700 Arbeitsstunden je Mitarbeiter pro Jahr gleichbedeutend mit etwa 69.000 Stellen) benötigt und die Gesamtkosten betragen 2,48 Mrd. EUR - die totalen Durchschnittskosten jeder Glühbirne liegen entsprechend bei 0,78 EUR. Im zweiten Schritt muss die Auswirkung des Produktionsrückgangs auf 𝑞 2,0 auf die Stellenzahl 𝐿 ‘ des Unternehmens bestimmt werden - unter der Rahmenbedingung, dass der Kapitaleinsatz kurzfristig konstant bei 𝐾 6,5332 ist. Damit ergibt sich über (6.42) 𝑞 2,0 𝐴𝐾 𝐿 20 ⋅ 6,5332 , 𝐿 , dass die Zahl der Arbeitsstunden auf (6.43) 𝐿 , ⋅ , , , 0,0697 zurückgeht - das bedeutet bei 1.700 Arbeitsstunden je Mitarbeiter pro Jahr umgerechnet einen Rückgang auf eine Zielstellenzahl von ca. 41.000, so dass der Stellenabbau ca. 28.000 Stellen beträgt. Die Gesamtkosten gehen kurzfristig auf (6.44) 𝑇𝐶 0,02𝐾 20𝐿 1,5258 zurück, im Vergleich zu 𝑇𝐶 2,4826 eine Einsparung von knapp 1 Mrd. EUR. Im dritten und letzten Schritt wird nun die langfristige Kostenreduktion bei Reduktion des Kapitaleinsatzes ermittelt. Die Analyse ist identisch mit (6.36) bis (6.44) für die jetzt neue langfristig reduzierte Produktionsmenge 𝑞 2,0 , so dass über die Lagrange- Funktion (6.45) 𝑍 0,02𝐾 20𝐿 𝜆 𝑞 20𝐾 , 𝐿 , → 𝑚𝑖𝑛! der langfristig optimale Einsatz der Einsatzfaktoren als (6.46) 𝐿 , ⋅ , , , 0,0717 und 𝐾 55,55𝐿 3,9835 ergibt. Der Arbeitseinsatz steigt im Vergleich zur kurzfristigen Optimierung jetzt wieder leicht an, der Grund hierfür liegt in der Reduktion des Kapitaleinsatzes um ca. 1,6 Mrd. EUR. Damit geht eine weitere - wenngleich geringe - Kostensenkung einher, so dass sich die langfristigen Gesamtkosten als (6.47) 𝑇𝐶 0,02𝐾 20𝐿 1,5137 ergeben, eine zusätzliche Kostenoptimierung um 12 Mio. EUR. Langfristige Entscheidungen: Anpassung der Kostenstruktur 223 Mit Tabellenkalkulationsprogrammen wie Excel lassen sich diese Optimierungen schnell und in Szenarien kalkulieren, wie in ► Abbildung 6.8 zu sehen ist. Tatsächlich würde der Produktionsrückgang um 37,50 % dauerhaft zu einem Abbau von ca. 26.997 FTE (von 69.175 auf 42.179 FTE) führen, ca. 39,03 %. Die Gesamtkosten gehen langfristig von 2,48 Mrd. EUR um ca. 0,97 Mrd. EUR auf ca. 1,51 Mrd. EUR zurück, d.h. ebenso um etwa 39,03 %. Der überproportionale Rückgang der Gesamtkosten ist begründet in abnehmenden Skalenerträgen der Produktionsfunktion mit 𝛼 𝛽 0,95 , so dass bei einem Rückgang der Produktion überproportional Arbeit und Kapital reduziert werden können. Abbildung 6.8: Ermittlung der kurz- und langfristigen Optimierung für den Leuchtmittelhersteller. Restrukturierung bei steigenden Lohnsätzen Zahlreiche Unternehmen müssen infolge eines Anstiegs der Löhne (bspw. in Folge neuer Tarifverträge mit den Gewerkschaften) bei konstanter Produktionsmenge die Effizienz der Produktion durch Substitution von Arbeit durch Kapital optimieren. So hat die Deutsche Bahn mit ihrer Tochtergesellschaft DB Schenker Rail 2015 infolge neuer Tarifverträge angekündigt, bis zu 5.000 Stellen im Konzern abzubauen und durch höheren Kapitaleinsatz zu substituieren (Die Zeit 2015). q 3,2 2,0 2,0 r 0,02 0,02 0,02 w 20,0 20,0 20,0 A 20,00 20,00 20,00 alpha 0,05 0,05 0,05 beta 0,9 0,9 0,9 F(K; L) 3,200 2,000 2,000 K 6,533280321 6,533280321 3,983530558 L 0,117599046 0,069759574 0,07170355 TC 2,482646522 1,525857078 1,513741612 d K 0 -2,549749763 d L -0,047839472 0,001943976 d TC -0,956789444 -0,012115465 q 3,2 2 2 -37,50% L in FTE 69.175,91 41.035,04 42.178,56 (* 1.000.000.000 / 1.700 h) -28140,87 1143,52 -39,03% K in Mrd. EUR 6,53 6,53 3,98 0,00 -2,55 -39,03% Ausgangssituation kurzfristige Optimierung langfristige Optimierung Leuchtmittelhersteller Rahmenbedingungen Ergebnis der Optimierung Anpassung der Produktionsfaktoren absolute und relative Effekte Kosten, Restrukturierung und M&A 224 Typischerweise werden infolge einer Lohnsatzerhöhung die Gesamtkosten bei konstanter Produktionshöhe unmittelbar steigen. Entsprechend dem veränderten Lohn-Zins-Verhältnis ist nun Arbeit relativ zu Kapital teurer geworden - so muss der Lohnsatzsteigerung langfristig eine Anpassung von Kapital und Arbeit folgen, um die Kosten zu reduzieren. Da die relativen Kosten der Arbeit im Vergleich zu Kapital gestiegen sind, wird nach Automatisierungsmöglichkeiten gesucht, mittelfristig wird die Stellenzahl reduziert und der Kapitaleinsatz erhöht. Abbildung 6.9: Langfristige Perspektive bei Lohnsatzsteigerung. Anhand von ► Abbildung 6.9 kann man diese Zusammenhänge schematisch erkennen:  In der Ausgangsituation (1) produziert das Unternehmen bei einem ursprünglichen Lohn- Zins-Verhältnis - 𝑤 / 𝑟 mit einem Kapitaleinsatz 𝐾 und einem Arbeitseinsatz 𝐿 eine Produktionsmenge 𝑞 bei Gesamtkosten von 𝑇𝐶 - die Produktion ist effizient, da die Isokostenlinie die Isoquante am Punkt 𝐴 tangiert.  Ein Anstieg des Lohn-Zins-Verhältnisses (2) von - 𝑤 / 𝑟 auf - 𝑤 / 𝑟 hat bei gegebener Produktionsmenge eine Drehung der Isokostenlinie im Punkt A und unmittelbar einen Anstieg der Gesamtkosten auf 𝑇𝐶 ‘ zur Folge - die Produktion ist ineffizient, da die Isokostenlinie die Isoquante in Punkt A schneidet und das Unternehmen nicht reagieren kann, da eine Substitution von Arbeit durch Kapital kurzfristig unmöglich ist. K 0 L L 0 A K 0 1 TC 0 / r 0 q 0 K 0 L L 0 A K 0 2 TC 0 / r 0 q 0 K TC 0 ‘/ r 0 0 L L 0 A 3 TC 0 / r 0 q 0 TC 0 ‘/ r 0 B L 1 K 1 K 0 0 L L 1 A 4 TC 0 / r 0 q 0 TC 0 ‘/ r 0 TC 1 / r 0 B K 1 K -w 0 / r 0 -w 1 / r 0 -w 1 / r 0 -w 1 / r 0 Langfristige Entscheidungen: Anpassung der Kostenstruktur 225  Langfristig (3) kann das Unternehmen den Kapitalstock von 𝐾 auf 𝐾 erhöhen und im gleichen Zug die Zahl der Stellen von 𝐿 auf 𝐿 reduzieren - die Produktion ist jetzt wieder effizient, da in Punkt B die parallel nach links verschobene Isokostenlinie mit der Steigung - 𝑤 / 𝑟 jetzt die Isoquante tangiert.  Damit geht eine Kostensenkung (4) von 𝑇𝐶 ‘ auf 𝑇𝐶 , abzulesen am Kapital- Achsenabschnitt, einher.  Case Study | Automatisierung bei Lohnsatzerhöhungen in einem Bahnunternehmen Die Produktionsfunktion eines schienengebundenen Transportdienstleisters ist mit (6.48) 𝑞 12𝐾 , 𝐿 , gegeben. Das Unternehmen produziert auf Basis langfristiger Verträge 2,4 Mrd. Tonnen- Kilometer Transportleistung. Die Gewerkschaften erreichen eine Erhöhung des Stundenlohns von 𝑤 22 auf 𝑤 24 , die Kapitalkosten sind konstant bei 𝑟 0,05 . Das Unternehmen muss jetzt kurz- und langfristige Effekte auf den Kapital- und Arbeitseinsatz sowie die Gesamtkosten ermitteln, wenn die Produktionsmenge vertragsgemäß weiter 2,4 Mrd. Tonnen-Kilometer betragen soll. Mit einer Lagrange-Funktion kann man die Analyse quantitativ abbilden, so dass sich bei einer Ausgangssituation von (6.49) 𝑞 𝐴𝐾 𝐿 12𝐾 , 𝐿 , 2,4 und (6.50) 𝑇𝐶 𝑟𝐾 𝑤 𝐿 0,05𝐾 22𝐿 eine durch Wahl der strategischen Parameter 𝐾 und 𝐿 zu minimierende Lagrange- Funktion (6.51) 𝑍 0,05𝐾 22𝐿 𝜆 12𝐾 , 𝐿 , 2,4 → 𝑚𝑖𝑛! ergibt. Nach Ableitung von (6.50) und Umstellung ergeben sich die ursprünglichen Kosten und der Faktoreinsatz als (6.52) 𝐿 0,031 und 𝐾 7,80 mit 𝑇𝐶 0,05𝐾 22𝐿 1,072 . Steigt nun der Lohnsatz auf 𝑤 24 , dann ergeben sich mit den weiterhin gegebenen Werten von 𝐿 0,031 und 𝐾 7,80 die neuen Gesamtkosten 𝑇𝐶 ‘ als (6.53) 𝑇𝐶 2𝐾 24𝐿 1,134 - d.h., die Lohnsatzerhöhung bedeutet einen unmittelbaren Anstieg der Gesamtkosten um 62 Mio. EUR auf 1,134 Mrd. EUR. Das Unternehmen wird nun versuchen - bspw. durch weitere Automatisierung - Stellen durch höheren Kapitaleinsatz zu substituieren. Das Ausmaß der Restrukturierung kann jetzt wieder durch eine Optimierung der Gesamtkosten anhand einer Lagrange-Funktion bemessen werden, so dass sich über (6.54) 𝑍 0,05𝐾 24𝐿 𝜆 12𝐾 , 𝐿 , 2,4 → 𝑚𝑖𝑛! neue optimale Faktoreinsätze und Gesamtkosten von (6.55) 𝐿 0,0300 und 𝐾 8,244 mit 𝑇𝐶 0,05𝐾 24𝐿 1,133 ergeben. Die Gesamtkosten können bei gegebener Produktionsfunktion nur um ca. 10 Mio. EUR reduziert werden. Kosten, Restrukturierung und M&A 226 In ► Abbildung 6.10 sind alle Ergebnisse und deren Effekte zusammengefasst. Tatsächlich würde die Lohnsatzerhöhung um ca. 9,09 % zu einem Abbau von ca. 568 FTE führen, ca. -3,11 %. Die Gesamtkosten steigen langfristig um ca. 61 Mio. EUR, ca. 0,6 %. Abbildung 6.10: Ermittlung der kurz- und langfristigen Optimierung für das Bahnunternehmen. 6.4 Kostenseitige Wettbewerbsvorteile und M&A Unternehmen können - langwie kurzfristig - strategisch Kostenstrukturen in zwei Dimensionen in Wettbewerbsvorteile umwandeln: Economies of Scale und Economies of Scope. Beide Strategien liegen zahlreichen Geschäftsmodellen zugrunde, sie sind integraler Bestandteil für mehrseitige digitale Plattformen wie TripAdvisor, LinkedIn oder Amazon (Evans und Schmalensee 2016 und ► Kapitel 2) und helfen zu verstehen, wie groß Unternehmen innerhalb einer Industrie sind und wie Vielfältig das Produktportfolio ist (Chandler 1990). Daneben bieten beide Konzepte mögliche Begründungen für Unternehmenszusammenschlüsse oder -übernahmen. q 2,4 2,4 2,4 r 0,05 0,05 0,05 w 22,0 24,0 24,0 A 12,0 12,0 12,0 alpha 0,4 0,4 0,4 beta 0,7 0,7 0,7 F(K; L) 2,400 2,400 2,400 K 7,800264054 7,800264054 8,244352846 L 0,031023777 0,031023777 0,030057536 TC 1,072536307 1,134583862 1,133598516 d K 0 0,444088792 d L 0 -0,000966241 d TC 0,062047555 -0,000985346 q 2,4 2,4 2,4 0,00% L in FTE 18.249,28 18.249,28 17.680,90 (* 1.000.000.000 / 1.700 h) 0,00 -568,38 -3,11% K in Mrd. EUR 7,80 7,80 8,24 0,00 0,44 5,69% Bahnunternehmen Ausgangssituation kurzfristige Effekte langfristige Optimierung Rahmenbedingungen Ergebnis der Optimierung Anpassung der Produktionsfaktoren absolute und relative Effekte Kostenseitige Wettbewerbsvorteile und M&A 227 Ziel ist hier die Realisierung von Synergien aus Größe (Economies of Scale) oder von Synergien aus Diversifikation (Economies of Scope). Economies of Scale („Größenvorteile“) sind unternehmensspezifische kostenseitige Wettbewerbsvorteile - mit steigender Unternehmensgröße oder Produktionsmenge fallen die totalen Durchschnittskosten oder Stückkosten: Wenn ein Unternehmen die Produktion um 80 % ausweitet, die Gesamtkosten aber nur um 60 % steigen, liegen Economies of Scale vor. Ursachen können hohe Fixkosten (bspw. aufgrund von Unteilbarkeiten im Innovationsprozess, im Marketing oder der Unternehmensorganisation), zunehmende Skalenerträge in der Produktion oder die Nutzung von Big Data sein. Ein besonderer Wettbewerbsvorteil kann im Zeitablauf entstehen: Sinken für ein Unternehmen infolge über Jahre hinweg kumulierter Produktionsmengen die Durchschnittskosten, dann liegen Lernkurveneffekte (Erfahrung und Learning-By-Doing) vor. Diese auf Routinen basierenden Wettbewerbsvorteile können bspw. in höherer Arbeitsgeschwindigkeit oder verringertem Ausschuss liegen. Ein Unternehmen mit Lernkurveneffekten hat dann einen Wettbewerbsvorteil gegenüber einem neu eintretenden Unternehmen ohne entsprechende Erfahrung und kumulierte Produktionsmenge. Als Faustregel gilt weiter die von Dutton und Thomas (1984) über eine Vielzahl von empirischen Studien ermittelte 80 %-Regel, d.h., bei einer Verdopplung der kumulierten Produktion gehen die Durchschnittskosten auf etwa 80 % des vorherigen Niveaus zurück. Allerdings verblassen diese Lernkurveneffekte, wenn die Produktion ausgesetzt wird oder die verwendete Technologie verändert wird (Spence 1981, Argote und Epple 1990 und Malerba 1992). Economies of Scope („Diversifikationsvorteile“ oder „Verbundvorteile“) sind ebenfalls unternehmensspezifische kostenseitige Wettbewerbsvorteile. Sie basieren darauf, dass mit wachsender Vielfalt des Produktportfolios die totalen Durchschnittskosten der einzelnen Produktarten aufgrund von Synergien aus Diversifikation zurückgehen. Wenn ein Konsumgüterunternehmen die Produktion auf Zahnpasta ausweitet, und die Durchschnittskosten der Produktion von Waschmittel deshalb zurückgehen, liegen Economies of Scope vor. Ursachen können wieder hohe Fixkosten (Branding von Dachmarken oder Vertriebsstruktur), gemeinsam genutzte Basistechnologie (Produktionstechnologie oder flexible Produktplattformen wie bspw. in der Automobil- oder Computerhardwareindustrie), Risikodiversifikation durch negativ korrelierte Kostenentwicklung bei F&E-Projekten, Kuppelproduktion (in der Chemie- oder Pharmaindustrie) oder auf verschiedene Produktarten oder -segmente anwendbares Knowhow oder Patente sowie komplementäre Verwendungszusammenhänge der Kunden sein. Industrien und Unternehmen unterscheiden sich teilweise deutlich betreffs der Bedeutung von Economies of Scale und Scope. Einerseits sind diese - basierend auf Skalenerträgen - durch technologische, produktionsseitige und kostenseitige Rahmenbedingungen vorbestimmt. So basieren zahlreiche Geschäftsmodelle grundlegend auf Economies of Scale und Scope:  Banken können mit zunehmender Größe fixkostenintensive Marken, IT-Plattformen oder globale Handelsnetze zu niedrigeren Durchschnittskosten realisieren, durch die Kombination aus Aktivgeschäft (Kreditgewährung und Corporate Finance) und Passivgeschäft (Einlagengeschäft) sowie Transactionbanking (Zahlungsverkehr und Wertpapierabwicklung) Kosten, Restrukturierung und M&A 228 entstehen kostenreduzierende Synergien und Wettbewerbsvorteile (Altunbas und Molyneux 1996).  Bei Automobilherstellern sind - neben absoluten Größenvorteilen - Economies of Scope durch die modell- und serienübergreifende Produktion von Motoren, Antriebsstrang und Innenausstattung gegeben. Bei BMW beträgt der Gleichteileanteil innerhalb von Diesel- oder Benzinmotoren jeweils über 60 %, der Gleichteileanteil antriebsübergreifend immer noch mehr als 30 % (BMW 2015).  In der Konsumgüter/ FMCG-Industrie zielen Unternehmen wie Procter & Gamble oder Unilever ebenfalls auf Economies of Scale als auch Economies of Scope: Starke Treiber sind hier fixe Marketing-/ Branding-Aufwendungen sowie gemeinsam genutzte B2B- Vertriebsstrukturen, Logistik- und Produktionsplattformen über die Produkte hinweg, dies setzt sich schließlich fort bis in den B2C-Vertrieb bei großen Discountern wie Aldi, Walmart oder Carrefour. Andererseits können Unternehmen aktiv darauf zielen, durch Economies of Scale und Scope mehrseitige Märkte aufzubauen oder zu skalieren (Hagiu und Wright 2015):  Alphabet, die Muttergesellschaft von Google, adressiert sowohl Economies of Scale (Big Data in den jeweiligen Geschäftsmodelle Google oder YouTube) als auch Economies of Scope (Verknüpfung der Daten über die Geschäftsmodelle Android, Google oder Chrome hinweg).  Amazon realisiert über absolute Größe und Produktportfolio eigene Economies of Scale und Scope und skaliert diese durch Einbindung von Drittanbietern auf Amazon Marketplaces und durch Bereitstellung der Zahlungsplattform Amazon Payment.  LinkedIn, eine Karriereplattform und Tochterunternehmen von Microsoft, erzielt aus zunehmender Nutzerzahl Economies of Scale auf der fixkostenintensiven IT-Plattform. Zudem werden durch Services auch von Partnerunternehmen zunehmend Economies of Scope durch Portfolioerweiterungen realisiert. Economies of Scale, Mindestbetriebsgröße und Marktstruktur Economies of Scale haben nicht nur für einzelne Unternehmen Bedeutung. Wenn Unternehmen einer Industrie ähnliche Technologie verwenden, dann gilt der in ► Kapitel 6.3 beschriebene S-förmige Gesamtkostenverlauf - wie schematisch in ► Abbildung 6.11 links unten zu sehen - für die gesamte Industrie und es können Industriekostenkurven identifiziert werden. Unternehmen nehmen dann entsprechend ihrer Produktionsmenge und Unternehmensgröße Positionen in unterschiedlichen Bereichen der Kostenkurve ein und können aus der jeweiligen Positionierung strategische Implikationen ableiten. Mit einer Ausweitung der Produktionsmenge steigen die Gesamtkosten. Dies kann proportional, unter- oder überproportional erfolgen. Man kann den Effekt einer Veränderung der Produktionsmenge auf die Gesamtkosten anhand der Gesamtkostenelastizität (6.56) 𝑒 ∆ ⁄ ∆ ⁄ ∆ ∆ ⁄ / mit 𝑒 ≷ 1 für 𝑀𝐶 ≷ 𝐴𝑇𝐶 messen, der Relation von Grenzkosten zu totalen Durchschnittskosten. Economies of Scale liegen vor, wenn die Gesamtkosten unterproportional ansteigen: Das ist immer der Fall, wenn Kostenseitige Wettbewerbsvorteile und M&A 229 die Grenzkosten 𝑀𝐶 kleiner als die totalen Durchschnittskoten 𝐴𝑇𝐶 sind - Unternehmen erzielen aus Wachstum und Größe einen Wettbewerbsvorteil und 𝑒 1 . Diseconomies of Scale liegen vor, wenn die Kosten überproportional ansteigen und 𝑒 1 , d.h. die Grenzkosten 𝑀𝐶 liegen über den totalen Durchschnittskosten 𝐴𝑇𝐶 . Abbildung 6.11: Schematische Industriekostenkurve und Economies of Scale. In ► Abbildung 6.11 oben ist - in Analogie zu Skalenerträgen aus ► Kapitel 5 - der Effekt einer Veränderung der Produktionsmenge auf die Gesamtkosten zu sehen. Liegen Economies of Scale vor, führt eine Erhöhung der Produktionsmenge zu einem unterproportionalen Anstieg, damit ist aber bei einem Rückgang der Produktionsmenge auch nur ein unterproportionaler Kostenrückgang möglich. Liegen Diseconomies of Scale vor, dann hat eine Erhöhung der Produktionsmenge einen überproportionalen Anstieg der Gesamtkosten zur Folge, damit ist bei einem Rückgang der Produktionsmenge ebenfalls eine überproportionale Kostenreduktion möglich. Die Skalenelastizität ist auch für die Durchschnittskostenkurve in ► Abbildung 6.11 unten rechts erkennbar. Typischerweise hat die totale Durchschnittskostenkurve für viele Industrien dann einen badewannenförmigen Verlauf. Bis zu einer Größe 𝑞 sinken die Durchschnittskosten und es entstehen Wettbewerbsvorteile aus Wachstum, ab 𝑞 sind Kostennachteile aus zunehmender Größe zu beobachten. Eine Größe 𝑞 wird als Minq 1 linearer Anstieg Gesamtkosten TC economies of scale economies of scale TC 0 q A q 0 TC 0 B TC 1 ATC 0 q q 0 ATC 0 q 1 ATC 1 A B horizontaler Verlauf Durchschnittskosten diseconomies of scale diseconomies of scale e TC < 1 e TC = 1 e TC > 1 economies of scale diseconomies of scale 0 q ΔTC 45°-Linie + - Δq=3 % ΔTC<3 % 0 q ΔTC 45°-Linie + - Δq=1 % ΔTC>1 % Kosten, Restrukturierung und M&A 230 destbetriebsgröße (Minimum Efficient Size 𝑀𝐸𝑆 ) bezeichnet. Ein Unternehmen mit geringerer Größe als 𝑞 hat somit Kostennachteile - in empirischen Studien ergeben sich durchschnittliche Kostennachteile von 15 %, wenn ein Unternehmen nur ein Viertel der erforderlichen Mindestbetriebsgröße erreicht (Weiss 1975). Zudem können über die Mindestbetriebsgröße und Economies of Scale auch Aussagen über die Marktstruktur, d.h. Größe und Größenverteilung der Unternehmen in einer Industrie, getroffen werden (Münter 1999). In ► Abbildung 6.12 sind schematisch zwei Industrien mit den jeweiligen badewannenförmigen Industriekostenkurven zu sehen:  Auf der linken Seite ist eine relativ hohe Mindestbetriebsgröße zu sehen und ein relativ breites Spektrum an optimalen Unternehmensgrößen, d.h., der Boden der Badewanne ist stark ausgeprägt - die Unternehmen unterscheiden sich stark in Größe und Marktanteilen.  Auf der rechten Seite ist eine relativ geringe Mindestbetriebsgröße zu sehen und ein relativ enges Spektrum an optimalen Unternehmensgrößen, d.h., der Boden der Badewanne ist wenig ausgeprägt - die Unternehmen unterscheiden sich kaum in Größe und Marktanteilen. Abbildung 6.12: Mindestbetriebsgröße und Marktstruktur. Die Mindestbetriebsgröße in Relation zur Größe des Marktes, d.h. der Mindestmarktanteil, gibt darüber hinaus einen Hinweis auf die Zahl der Unternehmen in diesem Markt (siehe auch weiterführend ► Kapitel 10). In ► Tabelle 6.3 ist für einige US-amerikanische Industrien dieser Mindestmarktanteil angegeben. Der Kehrbruch des Mindestmarktanteils bietet eine grobe Orientierungsgröße für die tatsächliche in dieser Industrie zu erwartende Zahl an Unternehmen. 0 q q 1 q 2 0 q 4 q 3 ATC ATC breites Spektrum an optimalen Unternehmensgrößen enges Spektrum an optimalen Unternehmensgrößen q MES MES Kostenseitige Wettbewerbsvorteile und M&A 231 Industrie MES als % der Marktgröße Industrie MES als % der Marktgröße Rübenzucker 1,87 Frühstückscerealien 9,47 Rohrzucker 12,01 Mineralwasser 0,08 Mehl 0,68 Kaffee 5,82 Backwaren 0,12 Tierfutter 3,02 Dosengemüse 0,17 Babynahrung 2,59 Tiefkühlkost 0,92 Bier 1,37 Tabelle 6.3: Mindestbetriebsgröße in Relation zur Gesamtproduktion des Marktes Quelle: Sutton 1991, S. 393 ff. In ► Abbildung 6.13 sind schematisch für die Automobil- und die Bierindustrie die Industriekostenkurven wiedergegeben, um strategische Implikationen zu erkennen. Für die Automobilindustrie ist offensichtlich, dass Marken wie Tesla oder Porsche zwar keine Mindestbetriebsgröße erreichen, aber aufgrund hoher Preissetzungsspielräume auch bei hohen Durchschnittskosten überlebensfähig sind. In der Bierindustrie ist der 2016 durch Zusammenschluss entstandene Konzern AB Inbev/ SAB Miller zwar auf ca. 28 % Marktanteil gewachsen, damit war bei einem Mindestmarktanteil von 𝑠 𝑞/ 𝑄 1,37 % aber keine Senkung der Durchschnittskosten verbunden - vielmehr kommt der Konzern jetzt einer Obergrenze von ca. 45 % näher, ab dem die Durchschnittskosten wieder ansteigen könnten (Tremblay und Tremblay 2005). Abbildung 6.13: Marktstruktur und Industriekostenkurven (schematisch). economies of scale ATC 0 q q 0 ATC 0 q 1 ATC 1 horizontaler Verlauf Durchschnittskosten diseconomies of scale Audi Porsche BMW VW Mercedes -Benz Tesla Toyota economies of scale ATC, p 0 ATC 0 p horizontaler Verlauf Durchschnittskosten diseconomies of scale q/ Q MES=1,37 % ~ 28 % ~ 45 % AB Invev (inkl. SAB Miller) Kosten, Restrukturierung und M&A 232 Signifikante Economies of Scale in einer Industrie bedeutet aber nicht zwingend nur ein oder wenige Unternehmen. In der weltweiten Bierindustrie gibt es mit AB InBev, SAB Miller, China Snow und Heineken zwar nur wenige sehr große Anbieter (mit einer Vielzahl von zugehörigen Marken), aber parallel auch sehr viele sehr kleine Anbieter. Die Koexistenz ist, neben horizontaler Produktdifferenzierung auf Basis von Marketing und regional geprägter Präferenzen der Kunden, insbesondere durch hinreichend hohe Preise gewährleistet. Allerdings sind neben dem typischen badewannenförmigen Verlauf der Industriekostenkurve auch die Extremfälle der Kostenverläufe in ► Abbildung 6.14 möglich. Auf der linken Seite ist der Fall skizziert, dass mit zunehmender Produktionsmenge die totalen Durchschnittskosten ATC kontinuierlich zurückgehen. Je größer ein Unternehmen ist, desto niedriger sind dessen Durchschnittskosten. Sinkt nun der Preis von 𝑝 auf 𝑝‘ , so ist nur das größere der beiden Unternehmen mit der Produktionsmenge 𝑞 in der Lage, seine totalen Durchschnittskosten zu decken, das kleinere Unternehmen bei 𝑞 muss entweder wachsen oder aus dem Markt austreten. Damit kann das größte Unternehmen strategisch andere Wettbewerber aus dem Markt drängen, so dass eine Tendenz zu einem natürlichen Monopol entsteht. Abbildung 6.14: Größenvorteile versus „small is smart“. Diese Möglichkeit ist in ► Abbildung 6.15 für die Suchmaschinenindustrie verdeutlicht: Google hat mit großem Abstand den größten Marktanteil, bspw. gegenüber Bing und Yahoo. Die Kostensituation ist durch hohe Fixkosten und konstante Grenzkosten je Suchabfrage nahe Null gekennzeichnet, so dass die totalen Durchschnittskosten 𝐴𝑇𝐶 kontinuierlich fallend verlaufen. Das Geschäftsmodell der Wettbewerber basiert auf dem Verkauf oder der Auktion von Werbeplätzen. Dabei kann - wie in ► Abbildung 6.15 zu erkennen ist - Google die Preise 𝑝 unter das Niveau der totalen Durchschnittskosten der Wettbewerber ansetzen: Für die Werbekunden heißt das bei niedrigen Preisen großer Marktzugang, für die Wettbewerber bedeutet das kontinuierliche Verluste und ohne weitere Maßnahmen den Austritt aus dem Markt. 0 ATC q q 1 q 2 0 ATC q q 3 q 4 p p‘ Größenvorteile „natürliches Monopol“ keine Größenvorteile „small is smart“ Kostenseitige Wettbewerbsvorteile und M&A 233 Abbildung 6.15: Marktstruktur bei Suchmaschinen (schematisch). Mit dauerhaft fallenden 𝐴𝑇𝐶 bietet Größe einen Effizienz- und Wettbewerbsvorteil und Industrien können zu natürlichen Monopolen werden: Typisch ist dies bei extrem hohen Fixkosten aufgrund des Aufbaus und Erhalts von Infrastruktur wie Bahn, Energie oder Telekommunikation. Wettbewerb ist unmöglich und derartige Industrien werden häufig wettbewerbspolitisch durch staatliches Eingreifen reguliert, eine Herausforderung die aktuell auch für die digitalen Märkte besteht (► Kapitel 7). Umgekehrt kann es sein, dass mit zunehmender Größe kontinuierlich ansteigende Durchschnittskosten 𝐴𝑇𝐶 vorliegen. Größe hat Nachteile („Small is Smart“) und in diesen Industrien gibt es typischerweise viele, aber im Umkehrschluss kleine Unternehmen: Restaurants, Rockbands oder Autoren profitieren nur begrenzt von zunehmender Größe und die Überlebensfähigkeit der Organisation geht mit zunehmender Größe zurück. Economies of Scale und Scope und Unternehmenszusammenschlüsse Wenn Größenvorteile nicht durch organisches Wachstum auf Basis von Marketing- oder Vertriebsstrategien erzielbar sind, dann kann alternativ anorganisches Wachstum zur Erzielung von Größenvorteilen durch den Zusammenschluss mit Wettbewerbern adressiert werden. In zahlreichen Industrien versuchen Unternehmen durch Zusammenschlüsse mit oder Übernahmen von Konkurrenten Wettbewerbsvorteile aufzubauen (Jansen 2016 und Trautwein 1990). Hier stehen drei Ziele im Mittelpunkt:  der Erwerb neuer Fähigkeiten (bspw. Mitarbeiter, Patente oder Technologien) und Kernkompetenzen,  der Auf- oder Ausbau von Marktmacht zur Kontrolle strategischer Parameter (bspw. Preissetzungsspielräume auf der Absatz- oder Beschaffungsseite oder regionale Exklusivität) und 0 ATC, MC, p q Google q Yahoo q Bing Größenvorteile bei „digital pure plays“ ATC MC p π > 0 π < 0 q Kosten, Restrukturierung und M&A 234  die Senkung von Kosten durch Realisierung von Economies of Scale und Economies of Scope (im Wesentlichen der Reduktion von Fixkosten) oder durch Erzielung von Transaktionskostenvorteilen (Veränderung der Unternehmensgrenzen, Vereinfachung der Organisation und Optimierung der unternehmensinternen Koordination und Kommunikation). Abbildung 6.16: Typen von Unternehmenszusammenschlüssen. Unternehmenszusammenschlüsse können dann wie in ► Abbildung 6.16 gezeigt klassifiziert werden. Horizontale Zusammenschlüsse - bspw. die Übernahme von Tengelmann durch Edeka oder der Erwerb der E-Plus Gruppe durch Telefónica - basieren auf der Zusammenführung gleichartiger Geschäftsmodelle oder adressieren eine oder mehrere gemeinsame Stufen der Wertschöpfungskette einer Industrie in einem Markt. Ziel ist eine Reduktion der Wettbewerbsintensität, die Realisierung von Economies of Scale zur Kostensenkung und daraus folgend der Auf- oder Ausbau der Marktmacht. In ► Abbildung 6.17 ist die Logik des Zusammenschlusses im deutschen Mobilfunkmarkt von Telefónica und der E-Plus-Gruppe vereinfacht dargestellt. Die beiden kleinen Anbieter wurden aufgrund ihres relativen Kostennachteils gegenüber den Marktführern Vodafone und Deutsche Telekom zunehmend durch sinkende Preise in ihrer jeweiligen Profitabilität bedroht. Durch den Zusammenschluss und die so erlangte Größe kann die neue Telefónica die totalen Durchschnittskosten deutlich senken, insbesondere durch die Eliminierung von Fixkosten in Form des Abbaus von Doppelfunktionen in administrativen Bereichen, die Zusammenlegung der IT und des Mobilfunknetzes sowie durch reduzierte Marketingaufwendungen aufgrund reduzierter Wettbewerbsintensität. Breite des Produktportfolios Unternehmensgröße horizontaler Zusammenschluss diversifizierender Zusammenschluss economies of scale economies of scope transaction costs Kostenseitige Wettbewerbsvorteile und M&A 235 Abbildung 6.17: Logik des Zusammenschlusses von Telefonica und E-Plus. Vertikale Zusammenschlüsse erfolgen entlang der Wertschöpfungskette einer Industrie in einem Markt durch strategische Vorwärts- oder Rückwärtsintegration mit dem Ziel einer verbesserten Kontrolle der Wertschöpfungskette und einer Reduktion der Transaktionskosten. Damit werden die Unternehmensgrenzen angepasst, bspw. auch durch Out- oder Insourcing, und die unternehmensinternen Kosten reduziert (vgl. auch ► Kapitel 4). Konglomerate Zusammenschlüsse erfolgen über Industrie-oder Marktgrenzen hinweg mit der Zielsetzung, eine Diversifikation durch Ausbau des Produktportfolios oder den Aufbau eines diversifizierten Konzerns und meist eine Risikoreduktion bei negativ korrelierten Portfolien (► Kapitel 2) sowie der Realisierung von Economies of Scope durch eine Nutzung gemeinsamer Ressourcen zu erreichen. Oftmals werden strategische Entscheidungen für M&A-Transaktionen überlagert von konjunkturellen Rahmenbedingungen, Trends zu Zusammenschlüssen („Merger Waves“), dem Eigeninteresse von Managern („Empire Building“) und dem Einfluss des Kapitalmarktes (insbesondere durch die Verfügbarkeit und relativen Kosten von Eigen- oder Fremdkapital zum Erwerb eines Unternehmens). Mit dem Zusammenschluss von Unternehmen geht immer die Reduktion der Anzahl an Marktteilnehmern einher. Ziel ist die Vergrößerung von Marktanteilen, so dass Unternehmenszusammenschlüsse wettbewerbsbeschränkende Wirkung entwickeln können und daher gegenüber nationalen oder internationalen Wettbewerbsbehörden (Bundeskartellamt in Deutschland, EU Kommission auf Ebene der Europäischen Union oder der Federal Trade Commission in den USA) anmelde- oder genehmigungspflichtig sind (vgl. weiterführend ► Kapitel 7). 0 ATC q 0 ATC q p p‘ Situation vor dem Zusammenschluss E-Plus/ Telefonica Situation nach dem Zusammenschluss E-Plus/ Telefonica E-Plus Telefonica Vodafone Telekom Telefonica / E-Plus Vodafone Telekom Kosten, Restrukturierung und M&A 236 Unabhängig davon verfehlen viele (>50 %) Übernahmen die jeweiligen ökonomischen Ziele. Die Hauptgründe sind in der Umsetzung der Transaktion zu sehen. Die Komplexität der Integration und Zusammenführung, fehlende Passgenauigkeit der Technologie, Unterschiede in Unternehmenskultur und überlappende Produktportfolien sowie fehlende Akzeptanz bei Kunden sind wesentliche Faktoren. Zudem werden häufig die Ziele zu hoch und als zu schnell erreichbar angesetzt. Hier spielen eine Überschätzung möglicher Kosten- und Ertragssynergien (vgl. auch ► Kapitel 3 zur Selbstüberschätzung von Managern), Fehler bei der Due- Diligence-Prüfung, ein zu hoher Kaufpreis, eine Überschätzung der Gestaltbarkeit des künftigen Geschäftsmodells und schließlich eine fehlende oder unzureichende Berücksichtigung möglicher Reaktionen der Wettbewerber die wesentlichen Rollen (Gugler et al. 2003, Ferris et al. 2013, Ficery et al. 2007, Malmendier und Tate 2007 sowie Miles et al. 2014). 6.5 Zusammenfassung Kostenentscheidungen zielen auf die kurz- und langfristige Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Aus Managementperspektive ist wesentlich, die Unterschiede in der Entscheidungsrelevanz von lang- und kurzfristigen Kosten zu erkennen. Kurzfristig sind Fixkosten als Kosten des Kapitaleinsatzes nicht zu verändern. Produktions- und Kostenentscheidungen basieren auf der Analyse von Grenzkosten zum Aufbau von Wettbewerbsvorteilen. Grenzkosten eines Unternehmens verlaufen typischerweise U-förmig: Bei einer Ausweitung der Produktionsmenge sinken aufgrund zunehmender Grenzprodukte die Grenzkosten, bei abnehmendem Grenzprodukt steigen die Grenzkosten an. Das Ziel des Managements ist grundsätzlich, bei gegebener Produktionsmenge und Preisen, die Gesamtkosten zu minimieren und Effizienz zu gewährleisten. Typische Entscheidungen betreffen bspw. die Aufteilung der Gesamtproduktion auf mehrere Standorte oder Filialen - die Gesamtkosten werden hier minimiert, wenn Produktionsmengen an den einzelnen Standorten so gewählt werden, dass die Grenzkosten identisch sind. Eine strategisch wesentliche Entscheidung - gerade beim Aufbau neuer digitaler Geschäftsmodelle - liegt in der Relation von Fixkosten und variablen Kosten: Sind die variablen Kosten absolut gering, dann kann die Produktionsmenge bei Grenzkosten nahe Null ausgeweitet werden und es entstehen Wettbewerbsvorteile durch Fixkostendegression. Langfristig sind alle Kosten veränderbar: Entscheidungen über die Kostenstruktur (Kapitalintensität) hängen hier von den Faktorpreisen, der langfristig geplanten Produktionshöhe und den Wachstumsplänen des Unternehmens ab. Relative Faktorpreise - das Lohn-Zins- Verhältnis - sind eine zentrale Erklärung für steigende Kapitalintensität in vielen Industrien im Zeitablauf und für die Verlagerung von Produktion in Niedriglohnländer. Bei dauerhaftem Rückgang der Produktionsmenge wird die Kostenstruktur im Rahmen einer Restrukturierung, d.h. einer Reduktion der Stellenzahl und einer Anpassung der Eigen- und Fremdkapitalhöhe, angepasst. Zudem können langfristige Wettbewerbsvorteile in Form von Economies of Scale (Kosten steigen bei Ausweitung der Produktion unterproportional) oder Economies of Scope (Synergien aus Diversifikation und Produktportfolio) vorliegen oder gestaltet werden. Liegen signifikante Größen- und Verbundvorteile vor, dann sind die Unternehmen ceteris Zusammenfassung 237 paribus größer, zudem können über meist S-förmig verlaufende Industriekostenkurven Marktstrukturen erklärt und Treiber für Unternehmenszusammenschlüsse identifiziert werden.  Kontrollfragen [1] Beschreiben Sie praktische Anwendungsfelder der Analyse von Entscheidungen zu Kosten aus mikroökonomischer Perspektive sowie deren Grenzen, Vor- und Nachteile! [2] Welche Kosten sind aus mikroökonomischer Sicht entscheidungsrelevant? Weshalb? [3] Zeigen Sie den Zusammenhang zwischen Grenzkosten und Durchschnittskosten für lineare und nicht lineare Gesamtkostenverläufe! Worin können nicht lineare Kostenverläufe begründet sein? [4] Wie kann ein Unternehmen die eigenen oder die Grenzkosten eines Wettbewerbers ermitteln? [5] Welche Regel müssen Manager bei der Allokation der Produktion auf verschiedene Fabriken aus Kostenperspektive beachten? Welche Fehler werden hier häufig gemacht? [6] Welche Folge hat eine Erhöhung des Lohnsatzes (bei konstantem Zins) kurz- und langfristig? [7] Welche Folge hat eine rasch notwendig werdende Erhöhung der Produktion auf die Nachfrage nach Kapital und Arbeit? [8] Langfristig steigt in vielen Industrien die Kapitalintensität - woran kann das liegen? [9] Was ist der Unterschied zwischen Economies of Scale und Economies of Scope? Welche Rolle spielen beide Konzepte bei der Erklärung von M&A-Strategien? [10] Wie kann man aus dem Verlauf der langfristigen Durchschnittskostenkurve auf die Zahl und Größe der Unternehmen einer Industrie rückschließen?  Literatur Altunbas, Y. und Molyneux, P., Economies of scale and scope in European banking, Applied Financial Economics, 1996, 6, 4, 367-375. Arkes, H. R. und Blumer, C., The psychology of sunk cost, Organizational Behavior and Human Decision Processes, 1985, 35, 1, 124-140. Argote, L. und Epple, D., Learning curves in manufacturing, Science, 1990, 247, 4945, 920-924. BMW AG, Investor Presentation, München 2015. Chandler, A.D., Scale and scope: the dynamics of industrial capitalism, Cambridge / London 1990. de Jong, M. und van Dijk, M., Disrupting beliefs: a new approach to business-model innovation, McKinsey Quarterly, July 2015. Dosi, G., Grazzi, M. und Moschella, D., Technology and costs in international competitiveness: from countries and sectors to firms, Research Policy, 2015, 44, 1795-1814. 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Weniger offensichtlich ist, dass Unternehmen sehr unterschiedliche Fähigkeiten und Möglichkeiten besitzen, strategische Parameter (Preise, Qualität, Art und Grad an Produktdifferenzierung etc.), die Rahmenbedingungen der Wettbewerbssituation (Eintrittsbarrieren, industriespezifische Technologie, Einflussnahme auf Gesetzgebung etc.) oder die Art und Weise des Wettbewerbsprozesses mit anderen Unternehmen (Preis- oder Kapazitätswettbewerb, F&E-Intensität, Innovationsgeschwindigkeit usw.) zu beeinflussen oder zu verändern. Ob ein Unternehmen in der Lage ist, einzelne strategische Parameter oder sogar den Wettbewerbsprozess als solchen zu beeinflussen, wird wesentlich durch Rahmenbedingungen wie Marktstruktur und Wettbewerbssituation bestimmt (► Kapitel 4). Vor diesem Hintergrund können zunächst zwei entgegengesetzte Fälle skizziert werden, die in der Realität zwar selten in absoluter Form vorliegen, aber einen ersten Rahmen für die weitere Analyse bieten: vollständige Konkurrenz und Monopol. Im ersten Fall kann keines der Unternehmen Einfluss auf strategische Parameter nehmen, im zweiten Fall kann ein Unternehmen alleine diesen kontrollieren und besitzt Marktmacht. Marktmacht bedeutet, dass ein Unternehmen einen strategischen Parameter in eigenem Interesse beeinflussen kann, ohne dass die Wettbewerber dies strategisch ausnutzen können - z.B. kann ein Unternehmen mit Marktmacht den Preis erhöhen, ohne dass es zu Marktanteilsverlusten durch günstigere Angebote oder Preisunterbietung der Wettbewerber kommt. Ebenso könnte dieses Unternehmen durch Verringerung der produzierten Menge oder Auswahl an Produkten, Verschlechterung der Qualität oder Verzicht auf Innovationsanstrengungen Marktmacht ausnutzen - damit derartige Strategien profitabel sein können, müssen Reaktionen der Wettbewerber oder Konsumenten insignifikant sein oder faktisch ausbleiben. Damit kann einhergehen, dass Unternehmen mit Marktmacht nicht nur einzelne Wettbewerbsparameter wie z.B. den Preis bestimmen können, sondern aktiv den Wettbewerb beschränken oder ausschalten. So wird der Marktführer Lufthansa durch die Übernahme wesentlicher Teile der Fluggesellschaft Air Berlin den Preissetzungsspielraum auf innerdeutschen Flugstrecken ausweiten können (FAZ 2017b). Eine solche durch strategisches Verhalten der Unternehmen verursachte Form von Wettbewerbsbeschränkungen begründet die Notwendigkeit für staatliche Wettbewerbspolitik. So wird die geplante Übernahme von deutschen und europäischen Wettbewerbsbehörden geprüft und bei signifikanten Wettbewerbsbeschränkungen wird eine Genehmigung im Rahmen der Fusionskontrolle nur unter Auflagen erteilt, im Fall von Lufthansa/ AirBerlin bspw. durch Versteigerung der Start/ Lande-Slots an den Flughäfen (FAZ 2017c). Wettbewerbspolitik als Teilbereich der Wirtschaftspolitik hat die übergeordnete Zielsetzung, Rahmenbedingungen für funktionsfähigen Wettbewerb zu schaffen, so dass Innovationen und Wohlfahrtssteigerung möglich sind. Im Kern geschieht dies durch nationale und internationale Gesetzgebung und Rechtsprechung gerichtet auf wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen oder Marktmacht von Unternehmen. Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 242 Aus Managementperspektive sind zwei Aspekte zentral: erstens abzuschätzen, ob und in welchem Umfang für das eigene Unternehmen strategische Freiheitsgrade vorhanden sind, und zweitens, ob das Ausnutzen dieser Freiheitsgrade auf Basis von Marktmacht im Konflikt zu wettbewerbsrechtlichen Regelungen steht.  Lernziele Dieses Kapitel beschäftigt sich mit  den Konzepten der vollständigen Konkurrenz und des Monopols als Rahmen und Messlatte für staatliche Wettbewerbspolitik sowie möglichen Ursachen von Marktmacht und marktbeherrschendem Verhalten,  Unterschieden im Marktergebnis (Gewinne, Mengen und Preise) bei gewinnmaximierendem Verhalten in Abhängigkeit der Marktstruktur (Zahl und Verhalten der Unternehmen),  Effekten auf die ökonomische Wohlfahrt bei Marktmacht und der Relevanz von Wettbewerbspolitik, den Aufgaben und Rollen deutscher Wettbewerbsbehörden sowie einigen aktuellen Fällen zu wettbewerbsbeschränkendem Verhalten von Unternehmen. 7.1 Entscheidungen eines Unternehmens bei vollständiger Konkurrenz Zahlreiche Industrien sind geprägt von - relativ zur Größe des Marktes - kleinen Unternehmen, deren Produkte sich aus Kundenperspektive nicht wahrnehmbar unterscheiden, die sich einer großen Zahl an Endkunden gegenübersehen. In diesen Industrien haben Unternehmen oft wenige Freiheitsgrade, da durch die Wettbewerbssituation und das Verhalten der Wettbewerber das eigene strategische Verhalten eingeengt und vorbestimmt ist. Zudem haben häufig alle Unternehmen Zugang zu denselben Ressourcen (bspw. Mitarbeitern, Lieferanten oder Rohstoffen), es liegen kostenseitig keine signifikanten Economies of Scale vor und keines der Unternehmen ist in der Lage, strategische Parameter der Industrie zu beeinflussen. Typische Beispiele sind kostenlose E-Mail-Services, Brennholz für den Kamin, Restaurants, regionale Lieferdienste („weiße Lieferwagen“) oder die Containerschifffahrt. Märkte mit vollständiger Konkurrenz sind charakterisiert durch folgende Eigenschaften:  Markteintritt- und austritt ohne Sunk Costs - Unternehmen können frei (d.h. ohne Sunk Costs) in den Markt ein- oder austreten. Es gibt keine strategischen, rechtlichen oder strukturellen Eintrittsbarrieren. Entsprechend gibt es keine Mindestbetriebsgröße, alle Unternehmen haben Zugang zur besten Technologie und zu allen anderen Ressourcen. Fehlende Eintrittsbarrieren (bspw. Branding oder Kundenloyalität) bedeuten aber auch, dass Kunden keine Präferenz für einzelne Unternehmen oder Marken haben.  Große Zahl an kleinen Unternehmen - es gibt eine große Zahl an Unternehmen und Kunden im Markt. Alle sind klein und strategisch unbedeutend, so dass jeder den Marktpreis als gegeben annehmen muss und diesen nicht beeinflussen kann. In der Realität ist Entscheidungen eines Unternehmens bei vollständiger Konkurrenz 243 es schon hinreichend, wenn eine potenziell große Zahl an kleinen Marktteilnehmern existiert.  Homogene Produkte und vollständige Information - die angebotenen Produkte sind im Wesentlichen gleichartig. In der Realität ist es ausreichend, dass die Produkte derart ähnlich und vergleichbar sind, dass Kunden die Unterschiede nicht berücksichtigen oder nicht erkennen - als Konsequenz kann zumindest mittelfristig nur ein Preis existieren. Alle Kunden und Anbieter haben vollständige Informationen, daraus folgt, dass alle relevanten Veränderungen sofort allen Marktteilnehmern bekannt sind. Abbildung 7.1: Restaurants in Berlin (Quelle: Google Maps 2017). Ein Markt für den diese Bedingungen sehr gut gelten sind bspw. regionale Lieferdienste - aber auch Restaurants in Berlin, wie in ► Abbildung 7.1 dargestellt. Über Google Maps und gängige Portale wie TripAdvisor wird nahezu vollständige Information - für Wettbewerber und Kunden - in Echtzeit geliefert. Die Zahl an Unternehmen beträgt 2017 mehr als 5.000, jedes einzelne Unternehmen ist relativ zur Nachfrage gesehen sehr klein, die Produkte sind relativ homogen - Kunden fragen „einen schönen Abend“ in Vielfalt nach - und mit Ausnahme von Sternerestaurants und Billigketten liegen die Preise sehr eng zusammen. Ein Unternehmen, das versuchen würde, den Preis bei marktüblicher Qualität über das Wettbewerbsniveau zu erhöhen, verliert unmittelbar Kunden. Auch der Marktein- und austritt erfolgt nahezu ohne Sunk Costs - zwar gehen Restaurants sehr häufig pleite, aber typischerweise werden die Räumlichkeiten direkt danach vom nächsten Restaurantbetreiber übernommen, so dass für Küche und Einrichtung keine Sunk Costs entstehen (Giersberg 2016). Aus Managementperspektive befindet sich ein Unternehmen mit großer Wahrscheinlichkeit in vollständiger Konkurrenz, wenn Diskussionen im Management Board weniger um Innovatiohomogene Produkte und perfekte Information große Zahl an Unternehmen Marktein- und -austritt ohne Sunk Costs nachgefragt und angeboten wird: „ein schöner Abend ohne Selberkochen für 50 EUR“ - nicht ein Wiener Schnitzel mit Pommes Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 244 nen und Gestaltung neuer Geschäftsmodelle geführt werden, sondern grundsätzlich Preissenkungen der Wettbewerber zum Anlass eigener Preissenkungen genommen werden und regelmäßige Kostensenkungen im Fokus stehen: Ein Unternehmen kann dann offenbar nicht frei über Preise entscheiden, da Kunden perspektivisch zu Wettbewerbern mit niedrigeren Preisen abwandern und die Produktqualität aus Kundenperspektive offenbar als nicht differenziert wahrgenommen wird - übliche Marketingmaßnahmen sind ohne differenzierende Wirkung im Wettbewerb. Gewinnmaximierung durch Wahl der Produktionsmenge bei vollständiger Konkurrenz Unternehmen in diesen Industrien sehen sich vollständiger Konkurrenz ausgesetzt. Aus Managementperspektive müssen alle strategischen Parameter - insbesondere der Preis - als unbeeinflussbar durch den Markt gegeben und determiniert angenommen werden: Entscheidet ein Unternehmen gegen die am Markt übliche und etablierte Produkt-Preis- Geschäftsmodell-Kombination, wird es entweder keine Kunden finden oder die Kosten nicht decken können. In beiden Fällen ist die Existenz des Unternehmens gefährdet. Individuelle Entscheidungen des Unternehmens betreffen somit lediglich die individuelle Produktionsmenge und die dadurch bedingten Kosten, um Gewinne zu erzielen. Die zentrale Frage für das Management ist dann, ob bei gegebenem Marktpreis und unternehmensspezifischer Kostenfunktion Gewinne zur Sicherung der Überlebensfähigkeit des Unternehmens möglich sind. Abbildung 7.2: Gewinne eines Unternehmens bei vollständiger Konkurrenz. In ► Abbildung 7.2 ist diese Situation abgebildet. Wenn bei vollständiger Konkurrenz der Preis von der Produktionsmenge unabhängig ist, dann verläuft die Erlöskurve 𝑅 , als Preis 𝑝 Menge Gewinne p Erlöse R Kosten TC 0 R TC p q 1 q 2 π max q 0 q 3 Entscheidungen eines Unternehmens bei vollständiger Konkurrenz 245 multipliziert mit der Menge 𝑞 , linear ansteigend. Kombiniert man dies mit einer unternehmensspezifischen Kostenfunktion 𝑇𝐶 , so ergibt sich aus der Differenz unmittelbar der Gewinn 𝜋 𝑅 𝑇𝐶 eines Unternehmens. Offensichtlich wird der Gewinn bei einer Produktionsmenge 𝑞 maximiert - hier ist die Differenz zwischen Erlösen und Gesamtkosten am Größten. Der Gewinn 𝜋 𝑞 in Abhängigkeit der Produktionsmenge ergibt sich allgemein aus der Differenz zwischen Erlösen 𝑅 und Gesamtkosten 𝑇𝐶 als (7.1) 𝜋 𝑞 𝑅 𝑞 𝑇𝐶 𝑞 → 𝜋 𝑞 𝑝 𝑞 𝑞 𝑇𝐶 𝑞 . Maximiert man durch Wahl der Produktionsmenge 𝑞 den Gewinn, so ergibt sich mit (7.2) 𝑝 𝑞 𝑀𝐶 𝑀𝑅 𝑀𝐶 0 , dass im Gewinnmaximum der Grenzerlös MR den Grenzkosten MC entspricht - mit anderen Worten: Der Erlöszuwachs des letzten verkauften Produktes (der Grenzerlös) deckt gerade die zusätzlichen Kosten (die Grenzkosten). Dieser Zusammenhang gilt allgemein für jede Marktstruktur - hier bei vollständiger Konkurrenz genau wie im Monopol (► Kapitel 7.3) und auch im Oligopol (► Kapitel 10). Bei vollständiger Konkurrenz entspricht der Grenzerlös allerdings auch dem Marktpreis 𝑝 . Wenn kein Unternehmen den Preis beeinflussen kann, dann gilt dieser Preis für jede produzierte Menge und so ergibt sich, dass (7.3) 0 gilt - mit anderen Worten: Der Preis wird durch den Wettbewerb im Markt bestimmt und ist gegeben, kein einzelnes Unternehmen kann durch seine Produktionsmenge den Preis beeinflussen. Somit vereinfacht sich Gleichung (7.2) bei vollständiger Konkurrenz zu (7.4) 𝑝 𝑀𝐶 𝑝 𝑀𝐶 0; 𝜋 𝑞 → 𝑚𝑎𝑥! ↔ 𝑀𝑅 𝑝 𝑀𝐶 , so dass zur Gewinnmaximierung jedes Unternehmen eine Produktionsmenge 𝑞 wählen muss, bei der die Grenzkosten 𝑀𝐶 dem Marktpreis 𝑝 entsprechen. Dieser abstrakte Zusammenhang lässt sich einfach veranschaulichen: Restaurantbetreiber beobachten den für sie jeweils nicht beeinflussbaren Marktpreis für „ein Abendessen üblicher Qualität“ in ihrer Region und bestimmen nun in Kenntnis ihrer Kostensituation die optimale Größe des Restaurants (Tische und Stühle) sowie die Zahl der zu produzierenden Essen. In ► Abbildung 7.3 ist diese Entscheidung graphisch dargestellt. Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 246 Abbildung 7.3: Kurzfristige Gewinne bei vollständiger Konkurrenz. q p, MC, ATC, AVC 0 q* p 0 AVC ATC MC q p, MC, ATC, AVC 0 q* p AVC ATC MC p 1 p 0 Gewinn negativer Gewinn positiver Deckungsbeitrag q p, MC, ATC, AVC 0 q* p AVC ATC MC p 2 p 1 p 0 negativer Gewinn negativer Deckungsbeitrag Entscheidungen eines Unternehmens bei vollständiger Konkurrenz 247 Bei einem U-förmigen Verlauf der Grenzkosten und einem konstanten, von der Produktionsmenge unabhängigen Marktpreis 𝑝 ergibt sich eine eindeutige Produktionsmenge 𝑞 - liegen bei dieser Produktionsmenge die totalen Durchschnittskosten 𝐴𝑇𝐶 niedriger als der Preis, so erzielt das Unternehmen einen Gewinn, der in ► Abbildung 7.3 links durch eine graue Fläche als 𝜋 𝑞 𝑝 𝐴𝑇𝐶 ∗ 𝑞 eingezeichnet ist. Diese Fläche zeigt den maximal möglichen Gewinn für dieses Unternehmen: Jede Vergrößerung oder Verkleinerung der Produktionsmenge würde den Gewinn reduzieren. Dieser Gewinn ist allerdings nicht notwendigerweise positiv, wie aus ► Abbildung 7.3 Mitte zu erkennen ist. Bei identischer Kostensituation liegt der Marktpreis 𝑝 jetzt niedriger. Wählt das Unternehmen wieder eine Produktionsmenge, bei der Preis gleich Grenzkosten gilt, dann deckt jetzt der Preis nicht mehr die totalen Durchschnittskosten 𝐴𝑇𝐶 , allerdings die variablen Durchschnittskosten 𝐴𝑉𝐶 . Das Unternehmen macht einen Verlust in Höhe von 𝜋 𝑞 𝑝 𝐴𝑇𝐶 ∗ 𝑞 , aber es erzielt einen positiven Deckungsbeitrag - Teile der Fixkosten werden gedeckt. Die graue Fläche beschreibt wiederum den ‚maximalen‘ Gewinn, in diesem Fall allerdings in Form des kleinstmöglichen Verlustes. In einer Situation, in der bei einer optimal gewählten Produktionsmenge 𝑞 ∗ zwar 𝑝 𝐴𝑇𝐶 aber 𝑝 𝐴𝑉𝐶 gilt, sollte ein Unternehmen kurzfristig in jedem Fall im Markt bleiben: es werden offenbar alle variablen Kosten gedeckt und ein positiver Deckungsbeitrag in Höhe von 𝑝 𝐴𝑉𝐶 auf die Fixkosten erzielt. Würde das Unternehmen die Produktion einstellen, steigen die Verluste unmittelbar an und entsprechen dann der Höhe der Fixkosten 𝐹𝐶 . Damit kann in der Realität leicht geprüft werden, ob ein Unternehmen sich in einem durch vollständige Konkurrenz geprägten Wettbewerbsumfeld befindet: Werden in einer Situation rückläufiger oder negativer Gewinne insbesondere Kostensenkungsmaßnahmen eingeleitet, weil strategisch kein Spielraum für Preiserhöhungen vorhanden ist, dann befindet sich das Unternehmen offenbar bei hoher Wettbewerbsintensität in vollständiger Konkurrenz. In ► Abbildung 7.3 rechts ist bei weiter unveränderter Kostensituation der Marktpreis noch niedriger bei 𝑝 . Jetzt führt die Regel 𝑝 𝑀𝐶 zu einer Produktionsmenge 𝑞 ∗ , für die nicht nur ein absoluter Verlust eintritt, sondern auch 𝑝 𝐴𝑇𝐶 und 𝑝 𝐴𝑉𝐶 gilt - ein Unternehmen sollte jetzt die Produktion einstellen, denn es wird ein negativer Deckungsbeitrag erzielt, d.h., mit jedem produzierten Stück vergrößert sich der Verlust über das Niveau der Fixkosten hinaus. Unternehmensspezifische Angebotskurve und Marktangebotskurve Nimmt man die aus den ► Abbildungen 7.3 gewonnenen Beobachtungen zusammen, dann wählt ein Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz zur Maximierung des Gewinns offensichtlich immer Produktionsmengen, für die jeweils der Marktpreis 𝑝 den Grenzkosten 𝑀𝐶 des Unternehmens entspricht. Daraus lässt sich unmittelbar die in ► Abbildung 7.4 links skizzierte unternehmensspezifische Angebotskurve ableiten - sie entspricht dem aufsteigenden Ast der Grenzkostenkurve beginnend im Minimum der variablen Durchschnittskosten. Je höher der Preis liegt, desto mehr wird das Unternehmen in Abhängigkeit des Grenzkostenverlaufs anbieten, um seine Gewinne zu maximieren. Im Bereich zwischen der Kurve der totalen und der variablen Durchschnittskosten (helle Punkte) erzielt ein Unternehmen zwar einen positi- Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 248 ven Deckungsbetrag, macht aber absolut Verluste. Im Bereich oberhalb der totalen Durchschnittskosten erzielt ein Unternehmen positive Gewinne. Abbildung 7.4: Unternehmensspezifische Angebotskurve und Marktangebotskurve. Aus der horizontalen Addition der unternehmensindividuellen Angebotskurven kann dann bei jeweiligen Preisen (hier skizziert für 𝑝 , 𝑝 und 𝑝 ) die Marktangebotskurve ermittelt werden. In ► Abbildung 7.4 rechts ist für drei Unternehmen mit unterschiedlichen Grenzkostenverläufen zu erkennen, dass die gestrichelt eingezeichnete Marktangebotskurve mit zunehmender Unternehmenszahl flacher verläuft und sich nach rechts verschiebt. In der Konsequenz verläuft die Marktangebotskurve bei einer großen Zahl an Unternehmen mit identischen Grenzkosten horizontal. Unternehmensstrategie und Wettbewerbsdynamik bei vollständiger Konkurrenz Durch das Zusammenspiel zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Markt und den Entscheidungen der Unternehmen können erste Aussagen über typische Muster im Wettbewerb bei vollständiger Konkurrenz abgeleitet werden. In ► Abbildung 7.5 links ist eine Situation skizziert, in der bei gegebener Nachfragefunktion 𝐷 aktuell eine Angebotskurve 𝑆 aller aktiven Unternehmen vorliegt. Die Unternehmen werden in Summe eine Menge 𝑄 produzieren und zu einem Preis 𝑝 verkaufen können. In ► Abbildung 7.5 rechts ist diese Situation auf ein einzelnes Unternehmen übertragen: Beim Preis 𝑝 wählt das Unternehmen entsprechend der Regel ‚Preis gleich Grenzkosten’ eine individuelle Produktionsmenge 𝑞 , so dass in der Folge ein Gewinn in Höhe der grauen Fläche entsteht. Angebot der Unternehmen 1, 2 und 3 q p, MC, ATC, AVC 0 q* p=AVC AVC ATC MC p 2 p 1 p 0 q p 0 1 p 1 p 2 p 3 MC 3 MC 2 MC 1 6 9 10 13 15 22 18 41 Marktangebot Entscheidungen eines Unternehmens bei vollständiger Konkurrenz 249 Abbildung 7.5: Gewinne und Markteintritt von neuen Unternehmen. Allerdings sind die Gewinne dieses Unternehmens für neue Unternehmen ein Signal zum Markteintritt, denn offensichtlich ist dieser Markt zumindest kurzfristig attraktiv und es können Gewinne erzielt werden. Wenn nun - wie oben als Rahmenbedingung beschrieben - keine Eintrittsbarrieren vorliegen und potenzielle Unternehmen Zugang zur gleichen Technologie und Ressourcen haben, wird die Situation nicht dauerhaft Bestand haben. Langfristig werden Unternehmen in diesen Markt eintreten. In der Folge wird sich, wie in ► Abbildung 7.5 links gezeigt, die Marktangebotskurve nach rechts verschieben und flacher werden. In Summe wird die Produktionsmenge auf 𝑄 ansteigen, die nur bei einem reduzierten Marktpreis 𝑝 abgesetzt werden kann. In ► Abbildung 7.5 rechts sind die Konsequenzen für ein im Markt befindliches Unternehmen zu erkennen. Aufgrund des jetzt geringeren Marktpreises 𝑝 wird dieses Unternehmen seine Produktionsmenge auf 𝑞 reduzieren - langfristig ist die Folge, dass bei identischen Unternehmen solange Markteintritte erfolgen, bis der Preis auf das Minimum der totalen Durchschnittskosten sinkt. Jetzt gilt offenbar 𝑝 𝑀𝐶 𝐴𝑇𝐶 und keines der Unternehmen erzielt einen Gewinn. Tatsächlich sind bei diesem ökonomischen Gewinn von Null natürlich alle Kosten gedeckt, auch die Kapitalkosten, so dass Eigentümer des Unternehmens bspw. Dividenden erhalten. Aus Managementperspektive ist eine wesentliche Erkenntnis: Obwohl der Gesamtmarkt von 𝑸 𝟏 auf 𝑸 𝟐 wächst, wird bei vollständiger Konkurrenz das eigene Unternehmen gezwungen sein, die Produktionsmenge von 𝒒 𝟏 auf 𝒒 𝟐 zu reduzieren, zudem sinken die Gewinne auf Null. Die Ursache liegt im Fehlen von Eintrittsbarrieren: Potenzielle neue Unternehmen werden ungehindert mit Preissenkungen in den Markt eintreten und kurzfristig vorhandene Gewinnmöglichkeiten realisieren. Der beschriebene Wettbewerbsprozess führt dazu, dass alle Unternehmen im Minimum der totalen Durchschnittskosten produzieren - bei vollständiger Konkurrenz sind ständige Kostensenkungsmaßnahmen die Regel, da Unternehmen mit höheren Durchschnittskosten regelmäßig aus dem Markt verdrängt werden. Vollständige Konkurrenz zwingt Unternehmen zu Effizienz. 0 Q D p, MC Q 1 Q 2 p 2 p 1 S 2 S 1 0 q q 2 p 2 p 1 ATC MC q 1 p, MC Markt individuelles Unternehmen kurzfristig langfristig langfristig (Gewinn = 0) kurzfristig (Gewinn > 0) Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 250 Diese Dynamik ist in ► Abbildung 7.6 als Spiegelbild der Entwicklung aus ► Abbildung 7.5 zu sehen: Hier sind zunächst kurzfristig zahlreiche Unternehmen im Markt und produzieren in Summe eine Menge 𝑄 bei einem Preis 𝑝 . Offensichtlich ist dieser Marktpreis aber so niedrig, dass jedes einzelne Unternehmen einen Verlust in Höhe der grauen Fläche in ► Abbildung 7.6 rechts realisiert. Wenn alle Unternehmen identische Kostensituationen aufweisen, dann werden in der Folge diejenigen Unternehmen aus dem Markt gedrängt, deren Eigenkapitalbasis diese Verluste nicht decken kann - somit gibt es Marktaustritte, die zu einer Verschiebung der Marktangebotskurve zu 𝑆 führen. Die verbleibenden Unternehmen sind jetzt in der Lage, einen höheren Preis 𝑝 durchzusetzen, so dass die individuellen Unternehmen wieder im Minimum der totalen Durchschnittskosten 𝐴𝑇𝐶 sind und jedes überlebende Unternehmen infolge der Marktaustritte von 𝑞 auf 𝑞 wächst. Abbildung 7.6: Verluste und Marktaustritt von Unternehmen. Im langfristigen Marktgleichgewicht, wie durch 𝑝 und 𝑄 in den ► Abbildungen 7.5 und ► Abbildung 7.6 beschrieben, gibt es keinen Anreiz, in die Industrie ein- oder auszutreten, und der Gleichgewichtspreis kommt bei ausgeglichenem Angebot und Nachfrage zustande. Bei vollständiger Konkurrenz kommt der Wettbewerb aber nicht zum Stillstand. Vielmehr ist die Dynamik in Industrien geprägt durch ein wiederholtes Wechselspiel von Eintritten und Austritten und damit von Gewinnen und Verlusten, aber typischerweise werden Gewinne nahe Null realisiert. Unternehmen können bspw. durch Innovationen kurzfristig Wettbewerbsvorteile realisieren und Gewinne steigern. Diese Gewinne ziehen wieder neue Wettbewerber an, langfristig werden alle Unternehmen lernen und die jeweils beste verfügbare Technologie adaptieren, so dass alle Unternehmen identische Effizienz aufweisen und kurzfristig erzielbare Gewinne wieder erodieren. Entsprechend werden bei fehlenden oder wegfallenden Eintrittsbarrieren und fehlenden Sunk Costs natürlich auch fortwährend Ein- und Austritte von Unternehmen stattfinden (Petrakis et al. 1997, Jovanovic 1982 und Münter 1999). In empirischen Studien zeigt sich die hohe Wettbewerbsintensität bei vollständiger Konkur- 0 Q D Q 1 Q 2 p 2 p 1 S 2 S 1 0 q q 2 p 2 p 1 ATC MC q 1 p, MC p, MC Markt individuelles Unternehmen kurzfristig langfristig langfristig (Gewinn = 0) kurzfristig (Gewinn < 0) Produzenten- und Konsumentenrente als Maßstab für ökonomische Wohlfahrt 251 renz durch dauerhaft hohe Ein- und Austrittsraten und in Unternehmen, die sich aufgrund fehlender Marktmacht sehr stark in ihren Strategien ähneln. Bestes Beispiel hierfür sind in Deutschland Restaurants: In dieser Industrie sind wiederholt die höchsten Ein- und Austrittsraten zu beobachten, gleichzeitig sind - außerhalb der Systemgastronomie, die mittels Branding und einem hohen Automatisierungsgrad Economies of Scale erzielen kann - die ökonomischen Gewinne typischerweise nahe Null. Damit sind derartige Industrien eindeutig dem Market-based View zuzurechnen. Diese Unternehmen unterscheiden sich nicht wesentlich in ihren Strategien, allerdings werden aufgrund fehlender Eintrittsbarrieren keine dauerhaften Gewinne erzielt. Die Marktdynamik und Ergebnisse vollständiger Konkurrenz werden ebenfalls im Rahmen ökonomischer Laborexperimente überprüft. Die Erkenntnisse lassen sich zwei Kategorien zuordnen. Zum einen wird bei gegebenen Rahmenbedingungen die erwarteten Preis- und Mengenniveaus sukzessiv über mehrere Spielrunden gut angenähert, zum anderen spielen Erfahrung, Informationsstand und Historie der experimentellen Marktergebnisse eine entscheidende Rolle (Smith 1962 und 1981 sowie Holt 1995), so gilt allerdings auch, dass selbst unter Laborbedingungen das vollständige Eintreten der Ergebnisse vollständiger Konkurrenz eher die Ausnahme als die Regel ist (► Kapitel 10). 7.2 Produzenten- und Konsumentenrente als Maßstab für ökonomische Wohlfahrt Das im vorangegangenen Abschnitt entwickelte Modell vollständiger Konkurrenz findet in der empirischen Realität insbesondere für Industrien und Märkte Bestätigung, in denen aufgrund hoher Wettbewerbsintensität, fehlender Produktdifferenzierung und fehlenden Eintrittsbarrieren zwar eine Vielzahl von Unternehmen konkurrieren, aber keine Gewinne entstehen (► Kapitel 4). Zudem werden die Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz zu Effizienz und Preisen auf Niveau der Grenzkosten gezwungen - so bietet dieses Modell einen ersten Orientierungspunkt für wettbewerbspolitische Analysen oder die Regulierung von Märkten (Neumann 1999 und Motta 2004). Der Grund hierfür ist, dass bei vollständiger Konkurrenz - insbesondere im Vergleich mit anderen Wettbewerbssituationen - die ökonomische Wohlfahrt maximiert wird. Ökonomische Wohlfahrt Ökonomische Wohlfahrt beschreibt den Vorteil aus der Existenz eines Wettbewerbsmarktes für eine Gesellschaft - Unternehmen und Kunden. In ► Abbildung 7.7 links sind für eine Vielzahl von Kunden und Unternehmen die jeweils individuelle Zahlungsbereitschaft und die Kostensituationen abgebildet. Am Schnittpunkt der daraus abgeleiteten Nachfrage- und Angebotskurve ergibt sich ein Marktpreis 𝑝 und eine aggregierte Produktionsmenge 𝑄 . In diesem Gleichgewicht gibt es aber offenbar Kunden, deren individuelle Zahlungsbereitschaft 𝑍𝐵 den Preis übersteigt - diese Kunden erzielen einen individuellen Nutzen und der aggregierte Nutzen aller Kunden, die zum Preis 𝑝 kaufen, entspricht der Konsumentenrente 𝐶𝑆 . Spiegelbildlich gilt dies auch für die Unternehmen: Bei einem Preis 𝑝 sind zahlreiche Unternehmen in der Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 252 Lage, einen Deckungsbeitrag zu erzielen, da der Preis die Grenzkosten übersteigt. Dieser aggregierte Vorteil der Unternehmen wird als Produzentenrente 𝑃𝑆 bezeichnet. Typischerweise ist die Produzentenrente nicht gleich dem Gewinn: Die Marktangebotskurve entspricht den Grenzkostenverläufen, so dass der Unterschied durch Fixkosten begründet ist, so dass 𝑃𝑆 - 𝐹𝐶 𝜋 gilt. Abbildung 7.7: Produzenten- und Konsumentenrente in einem Marktgleichgewicht. Ein Marktgleichgewicht bei vollständiger Konkurrenz ist sowohl für Kunden und Unternehmen vorteilhaft: Kunden realisieren einen Nutzen, Unternehmen realisieren Gewinne. Der Vorteil aus der Existenz eines Wettbewerbsmarktes kann durch die Addition von Konsumenten- und Produzentenrente ermittelt werden und wird als ökonomische Wohlfahrt bezeichnet - in ► Abbildung 7.7 rechts zu erkennen in Form der beiden Dreiecksflächen. Der Umfang an ökonomischer Wohlfahrt ist zum einen die Messlatte für die Funktionsfähigkeit eines Marktes, zum anderen müssen alle wirtschafts- und wettbewerbspolitischen Maßnahmen und Eingriffe in Märkte betreffend ihrer Wirkung auf die ökonomische Wohlfahrt beurteilt werden. Quantifizierung der Effekte von Preisregulierung auf die ökonomische Wohlfahrt Wirtschaftspolitik greift bspw. in Form der Mietpreisbremse, des Mindestlohns, der Regulierung von Roamingentgelten im Mobilfunk, bei Taxientgelten oder durch Genehmigung von Posttarifen in die Preisbildung durch die Festlegung eines Mindest- oder Höchstpreises ein. Oft ist das Ziel, Kunden oder Unternehmen gegenüber der tatsächlichen Wettbewerbssituation besserzustellen - bspw. die Preise für Kunden zu senken: Ob eine Besserstellung gelingt, hängt von der Wirkung der Preisregulierung auf die Konsumenten- und Produzentenrente ab. In ► Abbildung 7.8 ist zunächst zu sehen, dass durch Einführung eines Höchst- oder Mindestpreises verhindert wird, dass ein Marktgleichgewicht zustande kommt - Angebot und Nachfrage sind nicht mehr ausgeglichen. p Q 0 p Q Δ =p-MC i Δ =ZB i -p p Q 0 Produzentenrente PS Konsumentenrente CS p S D Q individuelle Zahlungsbereitschaften verschiedender Kunden individuelle Kostensituation verschiedener Unternehmen Produzenten- und Konsumentenrente als Maßstab für ökonomische Wohlfahrt 253 Abbildung 7.8: Wohlfahrtsverlust durch Höchst- oder Mindestpreise. Ein Höchstpreis 𝑝 soll meist die Kunden schützen: Grundüberlegung ist, dass bei einem Höchstpreis (der unter dem Gleichgewichtspreis festgelegt wird) mehr Kunden das Produkt erwerben können. Wird aber, wie in ► Abbildung 7.8 links, ein Höchstpreis 𝑝 eingeführt, dann wird tatsächlich in der Folge die Angebotsmenge der Unternehmen zurückgehen. Der Grund liegt darin, dass bei einem niedrigeren maximalen Preis einige Unternehmen ihre Grenzkosten nicht mehr decken können und aus dem Markt austreten. Umgekehrt ist in ► Abbildung 7.8 rechts ein Mindestpreis 𝑝 zur Besserstellung der Unternehmen eingeführt - auch in diesem Fall sinkt aber durch eine reduzierte Nachfrage der Kunden die Menge. Zwangsläufig kommt es in beiden Fällen zu einer Umverteilung der ökonomischen Wohlfahrt in Form von Veränderungen der Konsumenten- und der Produzentenrente, allerdings sind die Effekte nicht eindeutig und müssen quantifiziert werden. Zudem führt eine Preisregulierung typischerweise zu einem Wohlfahrtsverlust - die Summe der Konsumenten- und Produzentenrente im Vergleich von ► Abbildung 7.8 zu ► Abbildung 7.7 ist definitiv um das weiße Dreieck DWL reduziert. Wirtschaftspolitik muss daher die Wirkung auf die ökonomische Wohlfahrt und Unternehmen und Konsumenten sowie den entstehenden Wohlfahrtsverlust immer mitberücksichtigen. Wohlfahrtseffekte können durch Veränderungen von Konsumenten- oder Produzentenrente quantifiziert werden. In ► Abbildung 7.9 links ist ein Höchstpreis 𝑝 eingezeichnet, der unter dem Gleichgewichtspreis 𝑝 liegt. Durch den eingeführten Höchstpreis werden die Unternehmen die Produktionsmenge von 𝑄 auf 𝑄 reduzieren. Damit geht einher, dass ein Teil der bisherigen Produzentenrente - die Fläche A - in Konsumentenrente umgewandelt wird, aber auch ein Wohlfahrtsverlust in Form eines Rückgang der Konsumentenrente um die Fläche B und eines Rückgang der Produzentenrente um die Fläche C - alle drei Flächen lassen sich durch (7.5) 𝐴 𝑝 𝑝 𝑄 (7.6) 𝐵 𝑝 𝑝 und Höchstpreis Mindestpreis p Q 0 S D p min Q 0 Q(p min ) CS PS p Q 0 S D p max CS PS DWL DWL Q 0 Q(p max ) Wohlfahrtsverlust Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 254 (7.7) 𝐶 𝑝 𝑝 direkt berechnen. Der absolute Wohlfahrtsverlust (Deadweight Loss 𝐷𝑊𝐿 ) ergibt sich aus der Addition von (7.6) und (7.7), die Veränderung der Konsumenten- und Produzentenrente als (7.8) ∆𝐶𝑆 𝐴 𝐵 und (7.9) ∆𝑃𝑆 𝐴 𝐶 . Die Produzentenrente geht bei einem Höchstpreis in jedem Fall zurück. Der Effekt auf die Konsumentenrente hängt von der Größe der beiden Effekte A und B ab und kann in seiner Richtung per se nicht eindeutig bestimmt werden. Ob die durch den Höchstpreis beabsichtige Verbesserung der Konsumentenrente erzielt wird, hängt vom Verlauf der Angebots- und Nachfragekurve ab und muss für jede wettbewerbspolitische Maßnahme ermittelt werden. Abbildung 7.9: Höchst- und Mindestpreise und die Umwandlung der Produzentenin Konsumentenrente. Bei Mindestpreisen wird der Preis über das Gleichgewichtsniveau angehoben, so dass sich, wie in ► Abbildung 7.9 rechts skizziert, die Veränderung von Konsumenten- und Produzentenrente sowie des Wohlfahrtsverlustes aus (7.10) 𝐴 𝑝 𝑝 𝑄 (7.11) 𝐵 𝑝 𝑝 und (7.12) 𝐶 𝑝 𝑝 als (7.15) ∆𝐶𝑆 𝐴 𝐵 p Q 0 p 0 S D p 1 Q 0 Q 2 Q 1 A C B p‘ A = Umwandlung von Produzentenrente in Konsumentenrente B + C = absoluter Wohlfahrtsverlust p Q 0 p 0 S D p 1 Q 0 Q 2 Q 1 A C B p‘ A = Umwandlung von Konsumentenrente in Produzentenrente B + C = absoluter Wohlfahrtsverlust Produzenten- und Konsumentenrente als Maßstab für ökonomische Wohlfahrt 255 (7.16) ∆𝑃𝑆 𝐴 𝐶 und (7.17) 𝐷𝑊𝐿 𝐵 𝐶 ergeben. Bei Mindestpreisen können Unternehmen profitieren, wenn der Effekt aus einer Umwandlung A der Konsumentenin Produzentenrente den Verlust C an Produzentenrente übertrifft, die Konsumenten sind in jedem Fall schlechter gestellt.  Case Study | Regulierung des Milchpreises Die europäische Milchindustrie ist in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt durch wettbewerbspolitische Eingriffe wie Mindestpreise oder Produktionsmengenbeschränkungen reguliert worden. Ziel ist oft eine Unterstützung der landwirtschaftlichen Unternehmen, zuletzt mit der im März 2015 ausgelaufenen Milchquotenregelung. Mit dem Auslaufen dieser Regulierung haben zahlreiche Betriebe ihre Produktionsmengen erhöht, so dass in der Folge bei vollständiger Konkurrenz Preisreduktionen stattgefunden haben, die einige Unternehmen in ihrer Überlebensfähigkeit bedroht (Grossarth 2016). Im Folgenden wird daher knapp betrachtet, ob eine von der Milch-Lobby geforderte Einführung eines Mindestpreises die Überlebensfähigkeit der Unternehmen sicherstellen kann. Ein regionaler Markt für Milch ist gekennzeichnet durch eine sehr große Anzahl kleiner Unternehmen, im Wesentlichen lokaler Landwirtschaftsbetriebe. Die Nachfrage 𝐷 nach Milch ist gegeben durch 𝑝 5 - 0,001 𝑄 , das Angebot 𝑆 durch 𝑝 0,5 0,0001 𝑄 . Die Landwirte haben relativ hohe Fixkosten zu tragen, in Summe aller Bauern betragen diese 𝐹𝐶 1.000 . Der Landwirtschaftsminister plant, einen Mindestpreis für Milch von p 1 = 1,00 festzulegen, um die Landwirte in ihrer Existenz zu sichern. Aus wettbewerbspolitischer Perspektive ist maßgeblich, welche qualitativen und quantitativen Effekte auf die Produzenten- und Konsumentenrente sowie die Wohlfahrt des Marktes ausgehen. Abbildung 7.10: Ausgangssituation und Preisregulierung am Milchmarkt. Um den Preis 𝑝 und die Gesamtproduktionsmenge 𝑄 in der Ausgangssituation zu bestimmen, werden zunächst Angebots- und Nachfragefunktion gleichgesetzt, so dass aus p Q 0 0,909 S D 1,00 4090,91 Q 1 A C B p‘ p Q 0 PS CS p S D Q 0,5 5,0 +0,0001 -0,001 Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 256 (7.17) 5 0,001𝑄 0,5 0,0001𝑄 und Umstellen die Produktionsmenge (7.18) 4,5 0,0011𝑄 → 𝑄 4090,9 sowie der Gleichgewichtspreis (7.19) 𝑝 5 0,001 ⋅ 4090,9 0,9091 → 𝑝 0,5 0,0001 ⋅ 4090,9 0,9091 folgt. Damit ergeben sich die Konsumenten- und Produzentenrente sowie die Gewinne der Landwirte als (7.20) 𝐶𝑆 5 0,9091 ⋅ , 8.367,77 (7.21) 𝑃𝑆 0,9091 0,5 ⋅ , 836,78 (7.22) 𝜋 𝑃𝑆 𝐹𝐶 836,78 1.000 163,22 , so dass die Landwirte in Summe in der aktuellen Situation bei einem Preis von 𝑝 0,9091 tatsächlich einen Verlust in Höhe von 𝜋 - 163,22 realisieren. Aufgrund des steigenden Verlaufs der Angebotskurve kann es durchaus sein, dass einige der Unternehmen kurzfristig positive Gewinne aufgrund niedrigerer Grenzkosten erzielen. Wird nun, wie in ► Abbildung 7.10 skizziert, ein Mindestpreis von 𝑝 1,00 oberhalb des bisherigen Marktpreises eingeführt, dann reduziert sich die Nachfrage nach Milch wegen (7.23) 𝑝 1 5 0,001 ⋅ 𝑄 → 0,001 ⋅ 𝑄 4 auf 𝑄 4.000 . Berechnet man zunächst 𝑝‘ anhand von (7.24) 𝑝′ 0,5 0,0001𝑄 0,5 0,0001 ⋅ 4.000 0,9 , so ergeben sich die zur Berechnung der Wohlfahrtseffekte notwendigen Flächen (7.25) 𝐴 1 0,909 ⋅ 4.000 363,64 und (7.26) 𝐵 1 0,909 ⋅ , 4,13 sowie (7.27) 𝐶 0,909 0,9 ⋅ , 0,41 . Im zweiten Schritt können jetzt die Veränderungen von Konsumenten- und Produzentenrente und die Auswirkungen auf den Gewinn als (7.28) 𝐶𝑆 𝐶𝑆 𝐴 𝐵 8.367,77 363,64 4,13 8.000 (7.29) ∆𝐶𝑆 𝐴 𝐵 363,64 4,13 367,77 (7.30) 𝑃𝑆 𝑃𝑆 𝐴 𝐶 836,78 363,64 0,41 1.200 (7.31) ∆𝑃𝑆 𝐴 𝐶 363,64 0,41 363,23 sowie (7.32) 𝜋 𝑃𝑆 𝐹𝐶 1.200 1.000 200 ermittelt werden. Der Mindestpreis hat offenbar den beabsichtigten Effekt: der ursprüngliche Verlust 𝜋 163,22 der Landwirte wandelt sich in einen geringen Gewinn 𝜋 200 um. Zudem ist der Wohlfahrtsverlust (7.33) 𝐷𝑊𝐿 𝐵 𝐶 4,13 0,41 4,54 Monopol und marktbeherrschende Unternehmen 257 relativ zur Transformationswirkung gering, d.h. ein, je nach politischer Grundausrichtung, ggfs. akzeptabler Eingriff in den Markt. Allerdings muss klar sein: Alle Kunden zahlen jetzt um etwa 10 % höhere Preise, die nachgefragte Menge geht um 2,2 % zurück und damit geht einher, dass auch die Zahl der Unternehmen zurückgeht. D.h., trotz des wettbewerbspolitischen Eingriffs in den Markt werden ohne weitere Maßnahmen ebenfalls landwirtschaftliche Unternehmen zum Marktaustritt gezwungen. 7.3 Monopol und marktbeherrschende Unternehmen Historisch wurden sehr viele Dienstleistungen durch Monopole - ein einzelnes Unternehmen - erbracht: Telekommunikation, Post, Bahn, Elektrizität oder Lotterien. Typischerweise besitzt ein Monopolist Marktmacht und kann in der Folge, anders als die Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz, strategische Wettbewerbsparameter beeinflussen und bspw. den Preis über das Wettbewerbsniveau anheben. Ein Monopolist oder allgemeiner ein marktbeherrschendes Unternehmen kann aber auch die Produktqualität, die Kapazität oder den technischen Fortschritt beeinflussen. Zudem führt der fehlende Wettbewerb dazu, dass für die Unternehmen kein Effizienzdruck vorhanden ist - ein Besuch in der örtlichen Postfiliale mag dies verdeutlichen. Die Ursachen für Monopole und marktbeherrschende Unternehmen spielen oftmals wechselseitig zusammen:  Staatliche Lizenzen oder Unternehmen - in vielen Industrien erteilt der Staat Lizenzen oder betreibt Unternehmen selbst. Die Gründe können Standardisierung, Investitionsbedarf (bspw. für eine landesweite Schieneninfrastruktur), Preiskontrolle, Qualitätssicherung oder das absichtliche Verhindern von Wettbewerb aufgrund von potenziellem Marktversagen sein. Allerdings fallen die historischen Begründungen für Monopole oftmals weg - so gibt es zwar nach wie vor staatliche und regionale Taxilizenzen, ein Investitionsschutz für den Erwerb der Fahrzeuge und den Aufbau einer Taxizentrale mit Gebietsschutz, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, sowie eine Ortskundeprüfung scheinen aber in Zeiten von Navigationsgeräten und Taxi-Apps überholt (Haucap et al. 2015).  Economies of Scale - durch umfangreiche Skalenerträge in Relation zur absoluten Marktgröße können signifikante Kostenvorteilen entstehen, die dem größten Unternehmen ein natürliches Monopol verschaffen (► Kapitel 6).  Unternehmensspezifische Fähigkeiten - ein oder mehrere Unternehmen besitzen dauerhaft nicht imitierbare Fähigkeiten, die über Wettbewerbsvorteile zu einem Alleinstellungsmerkmal führen. Wenn damit bspw. Economies of Scale verbunden sind, werden andere Unternehmen aufgrund von Eintrittsbarrieren vom Markteintritt abgehalten und es entsteht eine nicht angreifbare marktbeherrschende Stellung (► Kapitel 4).  Strategische Effekte und Rollenverteilung - durch langjährigen Wettbewerb und wiederholte Investitionen in F&E oder Marketing kann es einem Unternehmen gelingen, eine marktbeherrschende Rolle aufzubauen (weiterführend ► Kapitel 10 zu Stackelberg- Marktführung). Damit geht einher, dass die Kunden insbesondere horizontale Produktdifferenzierung wahrnehmen und aufgrund hoher Markenloyalität eine geringe Wechselbe- Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 258 reitschaft und höhere Preise selbst bei fehlender vertikaler Produktdifferenzierung akzeptieren - ein hoher Marktanteil alleine begründet dann perspektivisch auch Marktmacht (Wernerfelt 1991 und Rhoades 1985).  Patente - ein Unternehmen besitzt aufgrund von Produkt- oder Prozessinnovationen temporär, in Deutschland und der EU derzeit für maximal 20 Jahre, exklusive Rechte für die Produktion oder den Vertrieb bestimmter Produkte oder Dienstleistungen. Im Wesentlichen sollen durch den Patentschutz die Appropriierungsbedingungen verändert und so Anreize für kostenintensive und risikobehaftete F&E-Projekte geschaffen werden (Levin 1986, Levin et al. 1987 sowie Gilbert und Shapiro 1990). Allerdings können Unternehmen durch präventive Patentierung auch strategische Eintrittsbarrieren für Wettbewerber aufbauen (Gilbert und Newbery 1982).  Netzwerkeffekte - nachfrageseitige direkte oder indirekte Netzwerkeffekte (► Kapitel 2) können ebenfalls zu einer marktbeherrschenden Stellung eines Unternehmens führen, dass in der Lage ist, eine mehrseitige Plattform aufzubauen oder zu kontrollieren (Evans 2003 sowie Haucap und Heimeshoff 2017).  Exklusive oder weiterreichende Kontrolle wesentlicher Ressourcen - Diamonds are a girl’s best friend …. Das Unternehmen um die Familie de Beers kontrollierte bis 2005 einen signifikanten Anteil von etwa 85 % aller Diamantminen der Welt und hatte eine marktbeherrschende Stellung. In der Folge hatte keiner der kleineren Wettbewerber Interesse an einem Preiskampf, denn alle Unternehmen in der Industrie profitieren von den durch de Beers gesetzten sehr hohen Preise. Die Kontrolle wesentlicher Ressourcen kann aber bspw. auch für Mitarbeiter gelten: Fußballvereine wie Paris St. Germain FC, FC Barcelona oder FC Chelsea können durch Beschäftigung der besten Spieler versuchen, eine marktbeherrschende Stellung einzunehmen. In ähnlicher Weise gilt dies für Managementberatungen und Investmentbanken. Gewinnmaximierung durch Wahl der Produktionsmenge im Monopol Ein erster zentraler Unterschied zwischen vollständiger Konkurrenz und Monopol ist anhand von ► Abbildung 7.11 ersichtlich. Zwar maximiert auch ein Monopolist seinen Gewinn durch die Wahl der Produktionsmenge 𝑞 ∗ , so dass auch im Monopol (7.34) 𝜋 𝑞 𝑅 𝑞 𝑇𝐶 𝑞 mit 𝜋 𝑞 → 𝑚𝑎𝑥! mit (7.35) 𝑀𝑅 𝑀𝐶 0 die Bedingung Grenzerlös gleich Grenzkosten erfüllt ist. Allerdings ist der Preis nicht marktbestimmt, sondern wird durch die vom Monopol angebotene Menge beeinflusst. Aus diesem Grund verläuft die Erlöskurve 𝑅 𝑝𝑞 nicht linear ansteigend, sondern als eine nach unten geöffnete Parabel (► Kapitel 1). Monopol und marktbeherrschende Unternehmen 259 Abbildung 7.11: Monopol und Gewinnmaximierung. Aus Managementperspektive ist nicht so sehr die absolute Gewinnmaximierung wesentlich, sondern vielmehr die ableitbaren Strategien und deren Stoßrichtungen: Ist die aktuelle Menge geringer als eine gewinnmaximierende Menge 𝑞 ∗ , dann sollte das Unternehmen die Produktionsmenge ausweiten. Der Grund liegt darin, dass links von 𝑞 ∗ die Erlöskurve steiler ansteigt als die Gesamtkostenkurve - mit zunehmender Menge steigt der Erlös stärker als die Kosten, so dass die Grenzkosten unter den Grenzerlösen liegen, und der Gewinn steigt an. Rechts von 𝑞 ∗ sind die Grenzerlöse geringer als die Grenzkosten - das Unternehmen reduziert durch weiteres Wachstum den Gewinn. Die Ursache hierfür ist nicht nur der überproportionale Kostenanstieg, sondern das Unternehmen muss gleichzeitig die Preise reduzieren, um die höhere Produktionsmenge verkaufen zu können - beide Effekte zusammengenommen erklären den Gewinnrückgang. Für Unternehmen mit Marktmacht ist somit Wachstum nicht immer die richtige Strategie. In ► Abbildung 7.12 sind zwei Unternehmen mit vergleichbaren und kurzfristig stabilen Kosten- und Erlösfunktionen zu sehen. Für Unternehmen A ist nach einem Verlust im Jahr 2014 offenbar eine Reduktion der Produktionsmenge sinnvoll. Zum einen sinken die Kosten überproportional im Bereich abnehmender Skalenerträge, zum anderen können bei geringerer Produktionsmenge im Jahr 2015 bei den Kunden auch wieder höhere Preise durchgesetzt werden, so dass die Erlöse ansteigen. Menge q Gewinne π Erlöse R Kosten TC 0 R TC π q 0 q 1 q* A B Grenzerlös > Grenzkosten Ausweitung der Produktionsmenge ist Gewinn steigernd Grenzerlös < Grenzkosten Ausweitung der Produktionsmenge ist Gewinn reduzierend π max π max Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 260 Abbildung 7.12: Gewinne und unterschiedliche Strategien. Unternehmen B hat sich dagegen, auf Basis der Gewinn- und Grenzerlös-Grenzkosten- Situation im Jahr 2014, zwar richtig für Wachstum entschieden - allerdings ist das Unternehmen zu stark gewachsen, so dass die im Jahr 2015 niedrigere Gewinne als im Jahr 2014 resultieren. Spezifischer lassen sich Entscheidungen von marktbeherrschenden Unternehmen auch mathematisch anhand von expliziten Nachfrage- (7.36) und Erlösfunktion (7.37) und zugehöriger Kostenfunktion (7.38) wie (7.36) 𝑝 𝑞 𝑎 𝑏𝑞 (7.37) 𝑅 𝑞 𝑝𝑞 (7.38) 𝑇𝐶 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 analysieren. Daraus ergibt sich eine Gewinnfunktion (7.39) 𝜋 𝑞 𝑅 𝑇𝐶 𝑎 𝑏𝑞 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 𝑎𝑞 𝑏𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 → 𝑚𝑎𝑥! , die durch Wahl der Produktionsmenge (7.40) 𝑀𝑅 𝑀𝐶 𝑎 2𝑏𝑞 𝑀𝐶 0 maximiert wird. Der Gewinn wird offensichtlich durch eine Produktionsmenge (7.41) 𝑞 ∗ maximiert. Für Gleichung (7.41) gibt es natürlich eine ökonomische Interpretation: 𝑎 beschreibt die maximale Zahlungsbereitschaft der Kunden in diesem Markt und 𝑀𝐶 bezeichnet die Grenzkosten des Unternehmens, so dass die Differenz 𝑎 𝑀𝐶 ein vereinfachtes Maß für die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens darstellt, wobei 1/ 𝑏 ein Maß für die Größe des Menge q Gewinne π, Erlöse R, Kosten TC 0 R TC π q 0 q 2014 q 2015 Menge q 0 R TC π q 0 q 2014 q 2015 Unternehmen A Unternehmen B Gewinne π, Erlöse R, Kosten TC Monopol und marktbeherrschende Unternehmen 261 Marktes ist. Differenziert man nun Gleichung (7.41) partiell nach diesen einzelnen Einflussgrößen, um die Effekte auf die Unternehmensstrategie zu ermitteln, dann ergibt sich mit (7.42) ∗ 0; ∗ 0; ∗ 0 , dass eine Erhöhung der Zahlungsbereitschaft 𝑎 , ein Rückgang der Grenzkosten 𝑀𝐶 und ein Wachstum der Marktgröße 1/ 𝑏 jeweils einen positiven Effekt auf die optimale Unternehmensgröße 𝑞 haben. In ► Abbildung 7.13 ist dieser abstrakte Zusammenhang für die Deutsche Post vor dem Hintergrund aktueller Veränderungen der Nachfrage- und Kostensituation bei privaten Briefsendungen konkretisiert. Abbildung 7.13: Strategieentwicklung für die Anzahl der Postfilialen in Deutschland. Alle drei relevanten Parameter verstärken sich wechselseitig und deuten betreffend privater Briefsendungen in eine eindeutige Richtung: Die Zahl der Filialen 𝑞 wird in den nächsten Jahren weiter reduziert werden. Insbesondere der eindeutige Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit 𝑎 𝑀𝐶 - die Zahlungsbereitschaft 𝑎 sinkt und die Grenzkosten 𝑀𝐶 steigen an - führt dazu, dass zur Sicherung der Überlebensfähigkeit die Unternehmensgröße nach unten angepasst wird. Wenn für ein Unternehmen die Kostenfunktion aus der Controllingabteilung und die Nachfragefunktion aus der Marketingabteilung explizit vorliegt, kann die Strategieabteilung unmittelbar die optimale Anzahl an Filialen und deren künftige Entwicklung im Zeitablauf festlegen - aktuell gilt dies stark in der Finanzdienstleisterindustrie (Schwartz et al. 2017). Messung von Marktmacht und deren Einflussfaktoren Marktmacht im Allgemeinen ermöglicht einem Unternehmen, einzelne oder sogar alle strategischen Parameter zu beeinflussen, ohne dass dies Wettbewerber ausnutzen können. Im kon- 2015 ca. 19.500 Postfilialen in Deutschland (inkl. Shop-in-Shop und Agenturen) Bestimmungsgrößen optimale Produktionsmenge Zahlungsbereitschaft geht zurück ( a sinkt) wegen WhatsApp, SMS und anderen kostenlosen Alternativen  negativer Effekt auf die Zahl der Filialen Wie wird sich die Zahl der Filialen der Deutschen Post entwickeln? durch Lohnerhöhung und limitierte Möglichkeiten der Automatisierung steigen die Grenzkosten (MC steigt)  negativer Effekt auf die Zahl der Filialen Größe des Marktes nimmt ab ( b steigt), weil wesentliche schriftliche Sendungen per E-Mail erfolgen können  negativer Effekt auf die Zahl der Filialen q ∗ a MC 2b 19.500 𝜕q ∗ 𝜕a 0 𝜕q ∗ 𝜕MC 0 𝜕q ∗ 𝜕b 0 Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 262 kreten Fall der Preissetzung kann Marktmacht auch gemessen werden: Marktmacht misst die Fähigkeit eines Unternehmens, den Preis über die Grenzkosten zu erhöhen. Die Gewinnfunktion (7.39) lässt sich auch als (7.43) 𝜋 𝑞 𝑅 𝑞 𝑇𝐶 𝑞 𝑝 𝑞 𝑞 𝑇𝐶 𝑞 formulieren. Leitet man (7.43) nach der optimalen Produktionsmenge 𝑞 ab und stellt um zu (7.44) 𝑝 𝑞 𝑞 𝑀𝐶 , erhält man wieder die Bedingung Grenzerlös gleich Grenzkosten. Dividiert man nun (7.44) durch den Preis 𝑝 , stellt um und setzt für 𝜀 die Preiselastizität der Nachfrage ein, ergibt sich (7.45) 1 → 1 ⇒ . Die Preis-Grenzkosten-Marge wird bestimmt durch die Höhe der Preiselastizität der Nachfrage. Die Preiselastizität ist umso kleiner, je weniger Alternativen die Kunden zum Kauf eines Produktes haben - so ist klar, dass die Preise von einem marktbeherrschenden Unternehmen erhöht werden können. Zudem bestätigt sich über den Lerner-Index (Lerner 1934) (7.46) 𝐿 𝜖 0; 1 als Messgröße für Marktmacht, dass Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz keine Marktmacht besitzen: Die Produktionsmenge wird so gewählt, dass der Preis den Grenzkosten entspricht, so dass (7.46) gegen Null strebt. Umgekehrt kann der Lerner-Index für einen Monopolisten mit vollständiger Marktbeherrschung bis auf Eins steigen. Marktmacht in ausgewählten Industrien Industrie Lerner-Index Fleisch- und Wursteinzelhandel 0,00 Brauereien 0,01 Kaffeeröstereien 0,06 Tankstellen 0,10 Eisenbahn 0,40 Finanzdienstleister 0,40 Frühstückscerealien 0,45 Tabakindustrie 0,67 Tabelle 7.1: Marktmacht in ausgewählten Industrien Quelle: Tremblay und Tremblay, 2012, S. 322, sowie dort angeführte Untersuchungen. Monopol und marktbeherrschende Unternehmen 263 In ► Tabelle 7.1 sind für verschiedene Industrien die Lerner-Indizes gegeben. Offenbar herrscht in einigen Industrien wie Fleisch- und Wursteinzelhandel, Kaffeeröstereien, Tankstellen oder bei Brauereien nahezu vollständige Konkurrenz mit Preis-Kosten-Margen nahe Null. Dagegen besitzen Finanzdienstleister, Hersteller von Frühstückscerealien, die Tabakindustrie oder Elektrizitätskonzerne teils signifikante Marktmacht und können deutliche positive Preis- Kosten-Margen erzielen. Marktmacht geht allerdings nicht zwingend mit hohen Gewinnen für die Unternehmen einher, da die Preis-Kosten-Marge die Fixkosten unberücksichtigt lässt. Wie stark sich Marktmacht ausprägt und in Gewinne niederschlägt, hängt empirisch, neben der Kostenstruktur und Technologie der Industrie, wesentlich vom Zusammenspiel folgender Größen ab (Schmalensee 1989, Caves 2007 und ► Kapitel 4):  Preiselastizität der Nachfrage - je stärker und dringender Kunden ein Produkt benötigen, d.h. je weniger elastisch die Nachfrage ist, desto höher ist tendenziell die Marktmacht der etablierten Unternehmen. Dies gilt wie oben gezeigt für ein Unternehmen, aber auch im Wettbewerb für mehrere Unternehmen, wenn diese stark in Marketing und Branding investieren.  Innovationsintensität der Industrie - kann ein Unternehmen im Innovationsprozess entweder qualitativ bessere Produkte (Produktinnovationen zur Steigerung vertikaler Produktdifferenzierung) anbieten oder zu geringeren Grenzkosten produzieren (Prozessinnovationen), entstehen Möglichkeiten zur Gewinnsteigerung, die bei Marktmacht auch dauerhaft ausgenutzt werden können. Wird dieser Innovationsvorsprung („Pioniergewinne“) aber durch hohe Innovationsintensität der Wettbewerber schnell aufgeholt, werden nur temporäre Gewinne erzielt.  Anzahl der Wettbewerber - mit zunehmender Zahl der Unternehmen in einer Industrie wird typischerweise die Marktmacht reduziert. Wettbewerber werden versuchen, durch Preissenkungen Marktanteile zu gewinnen und in der Tendenz die Preis-Kosten-Marge reduzieren. Wenn signifikante Eintrittsbarrieren vorliegen, die wirksam den Marktzutritt verhindern, ist die Marktmacht der etablierten Unternehmen typischerweise deutlich höher.  Interaktion der Unternehmen - die Wettbewerbsintensität und -art (vgl. auch ► Kapitel 10 zu Cournotvs. Bertrand-Wettbewerb) beeinflusst deutlich die Möglichkeiten der Unternehmen, Marktmacht in einer Industrie auszuüben. Sollten die Unternehmen - verbotenerweise - implizit oder sogar explizit kooperieren, sich abgestimmt verhalten (Kollusion) oder sogar ein Kartell bilden, steigt die Marktmacht darüber hinaus deutlich an. Preisstrategie eines marktbeherrschenden Unternehmens Aus den oben genannten Überlegungen der gewinnmaximierenden Bedingung Grenzerlös gleich Grenzkosten ergibt sich auch eine einfache Faustregel für Preisstrategien eines marktbeherrschenden Unternehmens. Stellt man Gleichung (7.45) um zu (7.47) 𝑝 , dann ergibt sich, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen einen Aufschlag auf die Grenzkosten 𝑀𝐶 in Abhängigkeit der Höhe der Preiselastizität der Nachfrage 𝜀 vornehmen muss (Markup oder Cost Plus Pricing). Je geringer die Preiselastizität der Nachfrage ist, desto Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 264 größer ist der Aufschlag auf die Grenzkosten und umgekehrt. In einer Situation vollständiger Konkurrenz, in der Kunden zu beliebigen anderen Unternehmen wechseln können und die Preiselastizität entsprechend sehr hoch ist, ergibt sich, dass der Preis die Grenzkosten nicht übersteigen kann. Dieser Zusammenhang gilt bspw. auch über Vertriebskanäle hinweg: Eine Flasche Heineken Bier kostet in einem lokalen Supermarkt weniger als nachts an der Tankstelle und nochmal deutlich weniger als in einer Heineken Flughafenlounge. Zwar sind die Grenzkosten je Flasche Bier nahezu identisch, aber die Preiselastizität der Nachfrage ist deutlich unterschiedlich - Heineken und seine Vertriebspartner können dies für höhere Preise nutzen. Aus Managementperspektive ergibt sich, dass Unternehmen mit signifikanter Marktmacht und eher geringer Wettbewerbsintensität umfangreiche Marktforschung betreiben müssen, um den Verlauf der Nachfragekurve und die Höhe der Preiselastizität präzise zu ermitteln, und um so eine optimale Preisstrategie festlegen zu können. Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz und hoher Wettbewerbsintensität müssen das nicht: Hier reicht es aus, den Preis der Wettbewerber als Marktpreis zu akzeptieren. Determinaten der Preisstrategie Cost Plus Pricing Preise der Wettbewerber andere Methoden Deutschland alle Industrien 73,0 17,0 10,0 niedrige Wettbewerbsintensität 78,9 9,4 11,7 hohe Wettbewerbsintensität 69,8 22,5 7,6 Eurozone alle Industrien 54,3 27,1 18,7 niedrige Wettbewerbsintensität 63,6 14,7 21,7 hohe Wettbewerbsintensität 49,8 35,1 15,1 Tabelle 7.2: Determinanten der Preisstrategie in Deutschland und der Eurozone. Datenquelle: Alvarez und Hernando 2006. Tatsächlich findet sich dieses Bild auch in empirischen Untersuchungen: Zwar verwenden Unternehmen industrie- oder unternehmensspezifische Methoden oder folgen saisonalen Mustern, aber in ► Tabelle 7.2 ist zu sehen, dass bei hoher Wettbewerbsintensität eher Preise der Wettbewerber zur Ermittlung der Preisstrategie herangezogen werden, bei niedriger Wett- Wettbewerbsbeschränkungen, Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsbehörden 265 bewerbsintensität wird eher ein Cost-Plus-Verfahren herangezogen (Alvarez und Hernando 2006 sowie Klenow und Malin 2011). 7.4 Wettbewerbsbeschränkungen, Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsbehörden In einigen Industrien funktioniert Wettbewerb nur eingeschränkt - Preise kommen nicht zustande oder sind überhöht, Gewinne werden im Zeitverlauf nicht durch Wettbewerb reduziert, Markteintritte finden auch bei hohen Gewinnanreizen nicht statt, es entstehen keine innovativen Geschäftsmodelle, so dass der Staat mit Wettbewerbspolitik eingreift, um die Funktionsfähigkeit von Wettbewerb zu unterstützen. Wettbewerbspolitik umfasst die Gesetzgebung und Rechtsprechung, die auf wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen und die Begrenzung von Marktmacht gerichtet sind. Die Umsetzung erfolgt durch nationale und internationale Behörden, die versuchen, wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen, Kollusion oder Kartelle, aufzudecken. Im Kern gibt es zwei mögliche Ursachengruppen, dass Wettbewerb nicht oder nur eingeschränkt funktioniert:  Marktversagen beschreibt die eingeschränkte oder fehlende Funktionsfähigkeit des Marktes basierend auf institutionellen Merkmalen eines bestimmten Marktes. Im Wesentlichen ist dies begründet durch externe Effekte, öffentliche Güter, asymmetrische Informationen oder natürliche Monopole (► Kapitel 1 und weiterführend Fritsch 2011 zu Marktversagen).  Wettbewerbsbeschränkungen werden von Unternehmen verursacht. Sie umfassen die durch aktive oder implizite Verhaltensweisen oder Strategien verursachte Beschränkung des Wettbewerbs, bspw. in Form von Kartellen, Unternehmenszusammenschlüssen oder vertikalen Preisbindungen, um Gewinne zu erhöhen oder potenzielle Wettbewerber vom Markteintritt abzuhalten. Wettbewerbsbeschränkungen, marktbeherrschende Stellung und Kartelle Vollständige Konkurrenz und Monopol stecken den Rahmen für Wettbewerbspolitik ab: Bei vollständiger Konkurrenz wird die ökonomische Wohlfahrt maximiert, im Monopol oder bei marktbeherrschender Stellung eines Unternehmens kommt es zu Wohlfahrtsverlusten. In ► Abbildung 7.14 sind die zentralen Ergebnisse aus ► Kapitel 7.2 und ► Kapitel 7.3 aus wettbewerbspolitischer Perspektive zusammengeführt. Vergleicht man bei identischer Nachfragesituation und hier konstant angenommenen Grenzkosten Monopol und vollständige Konkurrenz, so ist unmittelbar zu erkennen, dass im Monopol die Preise höher und die Mengen niedriger sind als bei vollständiger Konkurrenz. Ein Teil der Konsumentenrente wird in einen Gewinn des Monopolisten (hier zu erkennen in der Produzentenrente 𝐴 ) umgewandelt, zudem sinkt auch die Wohlfahrt um 𝐵 , d.h. es gibt ein Deadweight Loss. Dieser Unterschied zwischen vollständiger Konkurrenz und Monopol bedeutet aber unter anderem auch gesellschaftliche Kosten:  Einige Kunden können sich das Produkt aufgrund des jetzt höheren Preises nicht mehr leisten, da ihre Zahlungsbereitschaft oder das Einkommen nicht ausreicht, Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 266  einige Kunden erhalten das Produkt nicht mehr, weil die angebotene Menge reduziert wird, um höhere Preise durchsetzen zu können,  die benötigte Mitarbeiterzahl ist geringer, da die Produktion aufgrund vorliegender Marktmacht unter das Niveau vollständiger Konkurrenz reduziert wird,  Innovationen und technischer Fortschritt gehen wegen fehlender Gewinnanreize zurück, denn ein marktbeherrschendes Unternehmen erzielt einen dauerhaften Gewinn und muss keine Wettbewerber fürchten. Abbildung 7.14: Gesellschaftliche Kosten bei Wettbewerbsbeschränkungen. Marktbeherrschende Stellungen mit monopolähnlichen höheren Preisen, geringen Mengen und reduzierter Qualität können aber insbesondere auch durch wettbewerbsbeschränkende Absprachen oder koordinierte Verhaltensweisen von mehreren Unternehmen zulasten der Kunden entstehen:  explizit durch Kartelle und kollusives Verhalten basierend auf Verträgen oder formlosen Vereinbarungen - Preise oder Mengen werden festgelegt, Regionen verteilt. Diese expliziten Absprachen werden oft durch informelle Organisationen koordiniert („Frühstückskartell“, „Preismeldestelle“, „Verbände“ etc.) und deren Einhaltung mit Sanktionen sichergestellt.  implizit durch koordinierte Verhaltensweisen, die sich für die Unternehmen bewährt haben („Usancen“, „Empfehlungen an Mitglieder“, „Marktverständnis“ etc.), ohne dass jemals explizite Vereinbarungen getroffen wurden. Daneben können Unternehmen insbesondere durch langjährigen Wettbewerb ihr Verhalten derart aufeinander einstellen, dass sich alle Wettbewerber ähnlich einem Kartell verhalten („spontanes Parallelverhalten“). Diese Absprachen betreffen die Abstimmung eines strategischen Wettbewerbsparameters mit dem Ziel der Reduktion der Wettbewerbsintensität und Schaffung strategischer Transpaq p, MC 0 D=AR MR q M MC p M p C q C B A C Monopol: MR = MC vollständige Konkurrenz: p = MC Wettbewerbsbeschränkungen, Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsbehörden 267 renz unter den Kartellmitgliedern. Wesentlicher Grund für Kollusion sind zwar höhere Gewinne, daneben spielen aber eine verbesserte Basis für langfristige Planungen (Ressourcen, Mitarbeiter, Investitionen etc.) sowie durch kollektive Marktbeherrschung der Aufbau von Eintrittsbarrieren zentrale Rollen. Kollusion ist umso wahrscheinlicher und stabiler, je homogener Produkte und Prozesse sind, je geringer die Unternehmenszahl, je umfangreicher Eintrittsbarrieren und je ähnlicher Kostenstruktur und Technologie der Unternehmen - in diesen Fällen ist es schlicht einfacher, die Einhaltung der Absprachen innerhalb des Kartells zu überwachen und ggfs. zu sanktionieren. Dynamischer Wettbewerb, wettbewerbspolitische Grundfragen und Digitalisierung Man könnte aus dem Vergleich von vollständiger Konkurrenz und Monopol zu dem Schluss kommen, dass staatliches Handeln und die Gesetzgebung im Bereich der Wettbewerbspolitik darauf zielen sollten, eine Wettbewerbssituation entsprechend vollständiger Konkurrenz herbeizuführen. Ein solches wettbewerbspolitisches Leitbild vernachlässigt aber einerseits in vielen Industrien vorliegende Economies of Scale, andererseits insbesondere dynamische Aspekte des Wettbewerbs: Erfolgreiche Innovationsprozesse ermöglichen es Unternehmen, zumindest temporäre Monopol- oder marktbeherrschende Stellungen einzunehmen, teils hohe Gewinne zu realisieren und - gerade auf Basis von Digitalisierung und disruptiven Innovationen - vormals etablierte Unternehmen zu verdrängen und Marktstrukturen zu verändern (Schumpeter 1911 und 1950, von Hayek 1969, Geroski 1998 sowie Sidak und Teece 2009). Andererseits bewirken Innovationen und technologischer Fortschritt für Kunden oftmals Preissenkungen und eine höhere Produktqualität und -vielfalt. Damit ist klar, dass Wettbewerbspolitik insbesondere Innovationen und Möglichkeiten für Markteintritte neu entstehender Unternehmen nicht begrenzen darf. Wesentliche Zielsetzung von Wettbewerbspolitik ist dann, funktionsfähigen Wettbewerb zu gewährleisten, Freiheit unternehmerischen Handelns zu unterstützen, der Anreize für Innovationen schafft und Wohlfahrtssteigerungen ermöglicht. Vor diesem Hintergrund haben sich fünf aktuelle Grundfragen der Wettbewerbspolitik herausgebildet:  Marktmacht oder Effizienz - sind Unternehmensgewinne und/ oder Unternehmensgröße eine Folge von Marktmacht auf Basis von Eintrittsbarrieren („Harvard-School“-Ansatz) und muss entsprechend wettbewerbspolitisch eingegriffen werden, oder ist dieses Unternehmen leistungsorientierter, hat eine höhere Effizienz und bessere Produkte („Chicago- School“-Ansatz) und deuten die Gewinne auf funktionierenden Wettbewerb hin?  Marktbeherrschende Stellung - früher wurde eine marktbeherrschende Stellung oft mit einem Mindestmarktanteil von bspw. 33 % gleichgesetzt, mittlerweile wird differenzierter über den sogenannten SIEC-Test („Significant Impedipent on Effective Competition“) geprüft, ob von einem Unternehmen eine erhebliche Behinderung von wirksamem Wettbewerb ausgeht, auch abhängig vom Marktanteil (Bundeskartellamt 2012).  Veränderung der Marktgrenzen und relevanter Markt - durch disruptive Innovationen und Digitalisierung verschieben sich Industrie- und Marktgrenzen. Marktanteile oder Gewinne in einem Marktsegment oder bei mehrseitigen Märkten haben dann nur eingeschränkte Aussagekraft über Marktmacht oder Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, zudem werden zahlreiche Produkte zumindest auf einer Marktseite kostenlos angeboten. Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 268  Intention oder Rahmenbedingungen - verhalten sich die Unternehmen bewusst wettbewerbsbeschränkend oder sind wesentliche Rahmenbedingungen (bei Tankstellen bspw. saisonale Nachfrage, Technologie, Rohölpreise etc.) verantwortlich für spontanes Parallelverhalten in der Preissetzung?  Digitalisierung mit Tendenz zum natürlichen Monopol - implizieren digitale Geschäftsmodelle, wie bspw. mehrseitige Plattformen, eine Tendenz zu Monopolstellungen oder kann durch Multihoming (Mitglieder sind bei mehreren konkurrierenden Plattformen angemeldet) oder den Zugang zu Daten großer Plattformen (Datenkompatibilität, -schnittstellen und Essential Facilities) auch Wettbewerb ermöglicht werden? Hohe Gewinne einzelner Unternehmen - wie aktuell von Apple, International & Commercial Bank of China oder Toyota - können einerseits begründet sein durch überlegene Produkte, gute Unternehmensführung oder Effizienz, andererseits durch Marktmacht. Zudem können durch Innovationen Gewinne entstehen, die zum Aufbau von Marktmacht genutzt werden können. Gerade neue digitale Geschäftsmodelle in Form mehrseitiger Plattformen von Uber, Google oder booking.com werden häufig als Bedrohung für existierende Marktstrukturen angesehen, die monopolähnliche Strukturen aufgrund von starken indirekten Netzwerkeffekten haben können - teilweise wird eine Zerschlagung dieser Geschäftsmodelle gefordert (FAZ 2015). Plattformen wie Google, Facebook oder eBay besitzen tatsächlich überragende Marktanteile und auch Marktmacht infolge von Eintrittsbarrieren und starker direkter oder indirekter Netzwerkeffekte, oft in Verbindung mit der fehlenden Möglichkeit zum Multihoming. Wettbewerbspolitik wird die Besonderheiten digitaler Märkte weiter stark berücksichtigen müssen, insbesondere um Innovationen weiter zu fördern, ohne dauerhafte Monopolstellungen zu ermöglichen (Haucap und Heimeshoff 2017 sowie Monopolkommission 2014). Mit der 9. GWB-Novelle im Juni 2017 ist das deutsche Wettbewerbsrecht in ersten Schritten an die zunehmende Digitalisierung der Märkte angepasst. Marktbeherrschende Unternehmen können Marktmacht nicht nur für höhere Preise nutzen, sondern auch den Wettbewerbsprozess beschränken oder ausschalten. Meist werden hier strategische Maßnahmen ergriffen, die potenziellen Wettbewerbern den Marktzutritt versperren oder die aktuelle Wettbewerber zum Marktaustritt zwingen, bspw. durch Exklusivverträge mit Zulieferern. Marktmacht per se ist nicht verboten und in der Realität ist die Trennung zwischen einem Marktaustritt aufgrund von schöpferischer Zerstörung oder disruptiven Innovationen gegenüber dem Missbrauch von Marktmacht nicht einfach. Dieser mögliche Missbrauch von Marktmacht führt zur Notwendigkeit von Wettbewerbspolitik, die durch nationale oder internationale Wettbewerbsbehörden wie das Bundeskartellamt in Deutschland, die DG Competition der Europäischen Kommission oder die Federal Trade Commission in den USA umgesetzt wird. Der von Wettbewerbspolitik ausgehende Effekt zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit von Märkten schlägt sich langfristig in höheren makroökonomischen Wachstumsraten, industriespezifischer Produktivität und höheren Innovationsraten nieder (Duso 2015). Wettbewerbsbeschränkungen, Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsbehörden 269 Wettbewerbspolitische Maßnahmen Marktversagen und Wettbewerbsbeschränkungen lassen sich empirisch aufgrund von Wechselwirkungen selten vollständig trennen, so dass der Staat mit drei sich überlappenden Maßnahmengruppen ansetzt:  Wettbewerbspolitik im engeren Sinne zielt im Wesentlichen auf die Begrenzung und Unterbindung von Wettbewerbsbeschränkungen in Form von Kartellen, Missbrauch von Marktmacht oder durch Fusionskontrolle,  Regulierung wird zur Begrenzung und Korrektur von Marktversagen bspw. in Form unvollständiger oder asymmetrischer Information (Kontrolle der Preisbildungsprozesse an deutschen Wertpapierbörsen) oder bei natürlichen Monopolen (insbesondere in Netzinfrastrukturen wie Bahn, Post, Elektrizität oder Telekommunikation) eingesetzt,  Marktdesign bedeutet eine Koordination zentraler Rahmenbedingungen und Wirkmechanismen sowie Marktteilnehmer eines Marktes, so dass proaktiv Marktversagen reduziert wird und der Entstehung von Wettbewerbsbeschränkungen entgegengewirkt wird (Mobilfunklizenzauktionen, Festlegung von Handelsmodellen und Marktaufsicht bei Wertpapierbörsen oder Emissionsrechtehandel). Wettbewerbspolitik und Regulierung nehmen unterschiedliche Perspektiven ein. In Märkten, in denen Wettbewerb erwünscht und möglich ist, erfüllt die Wettbewerbspolitik grundsätzlich die Aufgabe, wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen von Unternehmen zu unterbinden. Regulierung dagegen zielt darauf, ein entstandenes oder zu erwartendes Marktversagen in Märkten mit natürlichen Monopoleigenschaften zu korrigieren - in diesen Märkten ist der Wettbewerb aus Effizienzgründen zu vermeiden und marktbeherrschende Unternehmen werden reguliert. Im 20. Jahrhundert wurde Regulierung meist in Form staatseigener Unternehmen, insbesondere in Infrastrukturindustrien wie Bahn, Post, Energieversorgung oder Flugverkehr, implementiert. Allerdings haben staatliche Betriebe keine Anreize für Innovationen und neigen aufgrund fehlenden Wettbewerbs zu Ineffizienz in Form von Bürokratie und Budgetmaximierung. In der Konsequenz waren einige dieser staatlichen Monopole bei einer Deregulierung oder Privatisierung nur eingeschränkt wettbewerbsfähig (Leibenstein 1966 sowie Boardman und Vining 1989). Relativ neu ist der Ansatz des Marktdesigns („Market and Mechanism Design“), der stark regulierende Funktionen übernimmt und die Logik eines Marktes konzeptionell umdreht - der Markt entsteht nicht erst und wird dann kontrolliert, sondern Ökonomen designen einen Markt im Vorfeld so, dass Wettbewerb funktionieren kann (Roth 2008). Diese Verfahren finden unter anderem Anwendung bei Auktionen von Mobilfunklizenzen in der Telekommunikationsindustrie (Binmore und Klemperer 2002). Aufgaben und Institutionen der Wettbewerbspolitik Wettbewerbspolitik als Teilbereich der Wirtschaftspolitik umfasst alle staatlichen Regeln und Eingriffe, mit dem Ziel, alle Arten von Wettbewerbsbeschränkungen auf Märkten zu verhindern, welche die ökonomische Wohlfahrt einer Gesellschaft beeinträchtigen. Wettbewerbspolitik ist im Wesentlichen Ordnungspolitik: Es werden durch Gesetzgebung Rahmenbedingungen festgelegt, innerhalb derer sich Wettbewerb frei entfalten kann und Innovatio- Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 270 nen entstehen können. Die Einhaltung wird von staatlichen Behörden - in Deutschland dem Bundeskartellamt, der Bundesnetzagentur und der Monopolkommission - überwacht und beobachtet. In Deutschland zielt das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) unter Berücksichtigung des Europäischen Wettbewerbsrechts (  ec.europa.eu/ competition/ ) auf die Erhaltung funktionierenden Wettbewerbs. Es reglementiert den Aufbau und Missbrauch von Marktmacht sowie die Koordination des Wettbewerbsverhaltens der Unternehmen untereinander. Das GWB regelt folgende Aufgabenbereiche:  Das Verbot und die Kontrolle von Wettbewerbsbeschränkungen - umfasst insbesondere verbotene Absprachen wie Kartelle in Form von Preisabsprachen, verbindlichen Preisempfehlungen oder vertikalen Vertriebsbindungen, Einkaufskooperationen, Wettbewerbsverboten, ausschließlichen Bezugs- oder Lieferpflichten oder regionalen Marktaufteilungen. Fälle in Deutschland betreffen unter anderem  rechtswidrige Beschränkungen des Onlinevertriebs bei Laufschuhen von ASICS durch Adidas (2015),  die Beendigung einheitlicher Händlerentgelte bei Electronic-Cash-Kartenzahlungen (2014) oder  die gemeinsame Vermarktung der Medienrechte an Spielen der 1. Bundesliga und 2. Bundesliga durch die Deutsche Fußball Liga DFL (2012).  Den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen - meist erfasst über Kriterien für nicht zulässige Verhaltensweisen wie Festsetzung überhöhter Preise, willkürliche Preissetzung unter Grenzkosten zur Verdrängung von Wettbewerbern, Bestpreisklauseln, Lieferboykott, Behinderung von Wettbewerbern bspw. durch Unterbindung der Rufnummernmitnahme in der Telekommunikation, Koppelungsgeschäfte oder die Verweigerung oder Limitierung des Zugangs zu Netzen (Netzneutralität). Aktuelle Fälle in Deutschland betreffen unter anderem  die Auseinandersetzung um Leistungsschutzrechte zwischen Google und deutschen Presse-Verlagen (2015),  den Fahrkartenvertrieb der Deutschen Bahn (2015),  den Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot durch das Pharmaunternehmen Merck (2014).  Die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen - zielt darauf, die Entstehung oder Verstärkung von Marktmacht oder Marktbeherrschung durch Unternehmenszusammenschlüsse, Kooperationen oder Kapitalbeteiligungen zu verhindern. Bekannte Übernahmen in Deutschland waren zuletzt  Kaiser’s Tengelmann durch Edeka (2016) im Lebensmitteleinzelhandel,  AirBerlin durch Lufthansa (2017) unter Fluggesellschaften,  E-Plus-Gruppe durch Telefónica (2014) in der Telekommunikationsindustrie. Diese drei Aufgaben werden in Deutschland durch das Bundeskartellamt (BKartA) mit Sitz in Bonn und etwa 350 Mitarbeitern erfüllt. Bei der Durchsetzung des Kartellverbotes konnte das Bundeskartellamt insbesondere aufgrund der im Jahr 2000 eingeführten Kronzeugenreglung Wettbewerbsbeschränkungen, Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsbehörden 271 einige große Kartellabsprachen aufdecken. In Verfahren gegen die Unternehmen wurden Bußgelder im Umfang mehrerer Mrd. EUR verhängt, in der Spitze alleine 1,1 Mrd. EUR im Jahr 2014, wie in ► Abbildung 7.15 zu sehen ist. Deutlich ist, dass Kartelle zahlreich im Bereich schwacher Produktdifferenzierung entstehen. Zement, Wurst, Bier, Zucker und Kaffee sind homogene Produkte mit jeweils sehr ähnlichen Technologien und Vertriebswegen, so dass die Kartellabsprachen zunächst einfach zu etablieren und dann einfach zu kontrollieren sind. In diesen Industrien sind niedrige Preis-Kosten-Margen (► Tabelle 7.1) die Regel, so dass ohne Absprachen typischerweise keine Gewinne möglich erscheinen. Kartellbußgelder je Industrie in Mio. EUR Verhängte Kartellbußgelder in Mio EUR Abbildung 7.15: Verhängte Bußgelder in deutschen Kartellfällen Datenquelle: Bundeskartellamt. Am Bundeskartellamt ist die Markttransparenzstelle für Kraftstoffe angesiedelt. Durch eine Echtzeit-Meldepflicht von Kraftstoffpreisen aller deutschen Tankstellen wird hier versucht, vermutete verbotene Preisabsprachen der Tankstellen und Mineralölkonzerne nachzuweisen. Erkennbar sind in ► Abbildung 7.16 regelmäßige Preissetzungsmuster, bei denen Aral und Shell als Marktführer sehr häufig ab 20 Uhr mit Preiserhöhungsrunden beginnen und Esso, Total ab 21 Uhr und Jet ab 23 Uhr sehr häufig nachfolgen. Wesentlicher Treiber für diese Muster ist das Ladenschlussgesetz: Schließen Supermärkte, dann kaufen Kunden dringend 396 338,5 338 281,7 249 188,1 159 151,4 134,5 115 Zement (2003) Wurst (2014) Bier (2014) Zucker (2014) Flüssiggas (2007) Tondachziegel (2008) Kaffee (2009) Industrieversicherungen (2005) Schienen (2013) Brillengläser (2010) 0 200 400 600 800 1000 1200 2001 2004 2007 2010 2013 2016 Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 272 benötige Lebensmittel mit hoher Zahlungsbereitschaft an der Tankstelle und sind auch bereit, höhere Kraftstoffpreise zu akzeptieren. Bislang ist es nicht gelungen nachzuweisen, dass Tankstellen sich bei Treibstoffpreisen absprechen (Bundeskartellamt 2017 und FAZ 2017a). Die Daten werden über Apps oder Navigationsgeräte an Kunden weitergegeben, um den Preiswettbewerb zu unterstützen. Abbildung 7.16: Benzinpreise im Markenvergleich Datenquelle: Bundeskartellamt. Das 3. Jahr Markttransparenzstelle für Kraftstoffe (MTS-K), Bonn 2017, S. 19 und 20. E5-Preise im Verlauf eines Tages für Frankfurt und Berlin im Zeitraum Dezember 2015 bis Mai 2016. 2015 hat das Bundeskartellamt die Strategie der Bestpreisklauseln der Hotelbuchungsplattform booking.com untersagt. Bestpreisklauseln garantieren zwar Kunden den jeweils günstigsten Zimmerpreis, beschränken aber den Wettbewerb. Zum einen werden durch Exklusivverträge strategische Markteintrittsbarrieren für andere Hotelbuchungsplattformen etabliert, zum anderen zwingen indirekte Netzwerkeffekte die Hotels zur Vertriebspartnerschaft - wer nicht bei booking.com gelistet ist, verliert einen wesentlichen Kundenzugang und kann infolge der Preisbindung nicht mehr über eigene Preise entscheiden - die zu einer Ausdehnung der Vertriebsprovisionen auf Kosten der Hotels und Kunden führen. Umfangreicher sind dagegen die Aufgaben in der Regulierung: Die Bundesnetzagentur (BNetzA) mit mehr als 2.500 Mitarbeitern in Bonn ist die deutsche Regulierungsbehörde. Neben der Kontrolle und Überwachung marktbeherrschender Unternehmen ist hier die Förderung und Aufrechterhaltung resp. Etablierung von Wettbewerb (Deregulierung) in Netzmärkten mit vorherigem staatlichem Monopol die zentrale Aufgabe. Unternehmen in den Bereichen Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnverkehr werden von der Bundesnetzagentur weitreichend kontrolliert und müssen unter anderem Preismodelle genehmigen lassen oder neuen Wettbewerbern Zugang zu Netzinfrastruktur („letzte Meile“) ermöglichen, um Wettbewerb zu ermöglichen. Zusammenfassung 273 Abbildung 7.17: Verhandlungen zur Briefportoregulierung der Deutschen Post. Oftmals regulieren staatliche Institutionen marktbeherrschende Unternehmen direkt über Preise (bspw. das Price-Cap-Verfahren zur Deckelung der Preise), um Wohlfahrtsverluste gegenüber dem Monopolpreis zu reduzieren. Dazu werden Bilanz und GuV analysiert, um die Kostenfunktion des Unternehmens mit Marktmacht zu ermitteln. Auf dieser Basis wird dann in Verhandlungen - bspw. zwischen Deutscher Post und Bundesnetzagentur - ein Preis zwischen dem Niveau vollständiger Konkurrenz und des Monopols festgelegt, wie in ► Abbildung 7.17 für das Briefporto dargestellt. Neuere Verfahren versuchen hier insbesondere Anreize für Innovationen herzustellen, so dass die regulierten Unternehmen selbst ihre tatsächlichen Kosten offenlegen und im Fall einer Deregulierung wettbewerbsfähig sind (Laffont und Tirole 1986 und 1991). Die Monopolkommission mit 20 Mitarbeitern in Bonn ist ein unabhängiges Beratungsgremium für die deutsche Bundesregierung im Bereich Wettbewerbspolitik, Wettbewerbsrecht und Regulierung. Daneben wird alle zwei Jahre ein Gutachten zum Stand und der Entwicklung der Wettbewerbssituation in deutschen Industrien erstellt. 7.5 Zusammenfassung Vollständige Konkurrenz und Monopol dienen als modellhafte Referenzfälle zur Beurteilung der Ergebnisse des Wettbewerbs (Preise und Mengen). Vollständige Konkurrenz bei einer potenziell großen Zahl an Unternehmen, mit freiem Marktein- und austritt, und aus Kundenperspektive fehlender Produktdifferenzierung, führt langfristig zu ökonomischen Gewinnen gleich Null. Unternehmen besitzen keine strategischen Spielräume und werden durch Wettbewerb zu Effizienz gezwungen - typischerweise pendeln die Gewinne der Unternehmen q p, MC 0 D q R MC p R =0,70 q C q P p C =0,50 p P =0,62 p M =0,74 q M Monopol: MR = MC vollständige Konkurrenz: p = MC MR Vollständige Konkurrenz und Monopol als Rahmen für Wettbewerbspolitik 274 in einer Abfolge von Innovation, Imitation und Kostensenkung um die Nulllinie. Wettbewerbsmärkte bei vollständiger Konkurrenz ermöglichen durch die Addition von Konsumenten- und Produzentenrente ökonomische Wohlfahrt zu messen. Monopole (oder marktbeherrschende Unternehmen mit signifikanter Marktmacht) haben dagegen große strategische Spielräume und erzielen nachhaltig Gewinne. Allerdings führt das Fehlen von Konkurrenz - gerade bei staatlichen Monopolen - häufig zu Ineffizienz und fehlendem technischen Fortschritt, denn vorhandene Gewinne werden nicht durch Wettbewerb oder neu eintretende Unternehmen bedroht, so dass keine Anreize für Innovation vorhanden sind. Wenn in Industrien Wettbewerb nur eingeschränkt funktioniert, greift der Staat durch rechtliche Rahmenbedingungen und Handlungen ein, um die Funktionsfähigkeit von Wettbewerb zu unterstützen. Wettbewerbspolitik zielt auf eine Überwachung der Marktmacht marktbeherrschender Unternehmen und auf die Aufdeckung und Unterbindung wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens. In Deutschland wird dies auf Basis des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung von Bundeskartellamt und Bundesnetzagentur durchgesetzt. Gerade Digitalisierung und neue Geschäftsmodelle erfordern eine grundlegende Überprüfung wettbewerbspolitischer Regelungen, um auch weiterhin durch Innovationen und dynamischen Wettbewerb ökonomische Wohlfahrt zu steigern.  Kontrollfragen [1] Beschreiben Sie praktische Anwendungsfelder der Analyse von vollständiger Konkurrenz und Monopol sowie deren Grenzen, Vor- und Nachteile! [2] Welche Annahmen gelten für vollständige Konkurrenz? Sind diese Annahmen realistisch, gibt es Märkte, in denen vollständige Konkurrenz herrscht? Was ist die optimale Strategie für ein Unternehmen? [3] Erläutern Sie, ob ein Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz auch bei Verlusten im Markt verbleiben sollte! [4] Beschreiben Sie Wettbewerbsprozesse vollständiger Konkurrenz im Zeitablauf! [5] Wie kann man in einem Markt die Produzenten- und die Konsumentenrente ermitteln? Was sagt sie aus, was passiert mit der Konsumenten- und der Produzentenrente bei Einführung eines Mindestpreises? [6] Was ist ein Monopol, was können Ursachen für Monopole sein? [7] Ein monopolistischer Diamanthersteller kennt seine Nachfrage- und Kostenfunktion mit 𝑝 2.000 0,002𝑞 und 𝑇𝐶 20.000.000 0,2𝑞 für den deutschen Markt sehr genau. Wie viele Steine 𝑞 für Verlobungsringe für den deutschen Markt sollten produziert werden, wie hoch ist der Preis, wie hoch ist der resultierende Gewinn? Wie hoch ist die Gewinnmarge, gemessen in Preis abzüglich Grenzkosten? [8] Mit welchem Maß kann man Monopolmacht messen, was sagt es aus? Was ist im Gegensatz dazu der Wohlfahrtsverlust (Deadweight-Loss) aufgrund eines Monopols? Zusammenfassung 275 [9] Welche Institutionen in Deutschland kümmern sich um die Durchsetzung funktionsfähigen Wettbewerbs? Wo liegen die Schwerpunkte der Aufgaben? [10] Erläutern Sie vor dem Hintergrund von Digitalisierung Grundfragestellungen der Wettbewerbspolitik!  Literatur Alvarez, L.J. und Hernando, I., Competition and price adjustment in the Euro area, Banco de Espana Research Paper No. WP-0629, 2006. Binmore, K., und Klemperer, P., The biggest auction ever: the sale of the British 3G telecom licences, Economic Journal, 2002, 112, 478, 74-96. Boardman, A.E. und Vining, A.R., Ownership and performance in competitive environments: a comparison of the performance of private, mixed, and state-owned enterprises, Journal of Law and Economics, 1989, 32, 1, 1-33. Bundeskartellamt (Hrsg.), Das 3. Jahr Markttransparenzstelle für Kraftstoffe (MTS-K), Bonn 2017. Bundeskartellamt (Hrsg.), Leitfaden zur Marktbeherrschung in der Fusionskontrolle, Bonn 2012. Caves, R.E., In praise of the Old IO, International Journal of Industrial Organization, 2007, 25, 1, 1-12. 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Meist gibt es im Zeitablauf einen W-förmigen Verlauf wie in ► Abbildung 8.1, d.h., nach einer Phase stabiler Preise über einen längeren Zeitraum gehen die Preise ab etwa 200 Tage vor dem Flug langsam aber kontinuierlich zurück, schwanken dann unregelmäßig über einen Zeitraum von zwei bis drei Monaten und steigen dann etwa 30 bis 50 Tage vor Abflug zunächst langsam, dann sehr rapide wieder an. Darin spiegelt sich die abnehmende Preiselastizität der Nachfrage und die wachsende Dringlichkeit der Kunden zu fliegen (McAfee und de Velde 2007) wider. Allerdings basiert ein Teil des Erfolgs von sogenannten Low-Cost-Carriern wie Southwest oder Ryanair darauf, dass diese Unternehmen manchmal gegenläufige Preissetzungsmuster verwenden. Abbildung 8.1: Flugticketpreise im Zeitablauf (schematische Darstellung angelehnt an  cheapair.com/ when-to-buy-flights). Aber selbst wenn alle oben genannten Parameter auch noch identisch sind, kann es sein, dass zwei Passagiere der gleichen Buchungsklasse zwei unterschiedliche Preise bezahlt haben: Der Grund liegt in unterschiedlichen Zahlungsbereitschaften der beiden Kunden, die von den Fluggesellschaften durch Preisdiskriminierung ausgenutzt werden (Busse 2015). Preisdiskriminierung fasst dabei alle Preisstrategien zusammen, bei der von Kunden oder Kundengruppen entsprechend deren Zahlungsbereitschaft unterschiedliche Preise für im Wesentlichen identische Produkte mit gleichen Produktionskosten ohne horizontale oder vertikat P -0 -30 -100 -200 Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 278 le Produktdifferenzierung verlangt werden. Unternehmen sind in der Lage, die Konsumentenrente in Teilen oder sogar vollständig abzuschöpfen und so deutliche Gewinnsteigerungen zu erzielen. Produkte in der nicht digitalen Welt ohne wesentliche Produktdifferenzierung mit nahezu identischen Produktionskosten wie Bücher als Hard- und Softcover-Versionen, Hotelzimmer, Mietwagen, Software als Einzelprodukte oder Pakete, Benzin als Super95 oder UltimatePower95 und viele andere werden bereits seit Langem preisdiskriminierend angeboten. Durch Big Data werden die Möglichkeiten für Preisdiskriminierung aber deutlich ausgeweitet: Durch Cookies des Surfverhaltens, das verwendete Endgerät sowie die Suchintensität und die betrachteten Produktalternativen kann ein Unternehmen sehr präzise die Zahlungsbereitschaft eines Kunden ermitteln und auf dieser Basis kundenindividuell und algorithmenbasiert im Zeitablauf den Preis variieren - personalisiertes Dynamic Pricing (Mohammed 2017, Papanastasious 2017 und Levin et al. 2008). Aus Managementperspektive sind mit Preisdiskriminierung zwei Kernfragen verbunden: Zum einen müssen für Marktsegmente individuelle oder kundengruppenspezifische Zahlungsbereitschaften ermittelt werden, zum anderen müssen Möglichkeiten unterschiedlicher Konzepte der Preisdiskriminierung als Preisstrategien herausgearbeitet und mit dem vorhandenen Geschäftsmodell verbunden werden. Dabei muss aber im Blick bleiben, dass Preisdiskriminierung - insbesondere in Form von personalisiertem Dynamic Pricing - von Kunden und Verbraucherschützern auch als unfair betrachtet werden kann (Bolton et al. 2003 sowie Krämer und Kalka 2016).  Lernziele Dieses Kapitel beschäftigt sich mit  den Möglichkeiten der Preissetzung und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht und der Umwandlung von Teilen der Konsumentenrente in Gewinne,  den Konzepten nicht linearer Preisstrategien, zweiteiliger Tarife, Dynamic Pricing oder Auktionen sowie  der Anwendung von Preisdiskriminierung bei Airlinetickets, Fußballtickets, Packungsgrößen, Büchern, in Auktionen, Mitgliedsgebühren sowie den Möglichkeiten und Einsatzfeldern von reinem Bundling und gemischtem Bundling. 8.1 Formen und Voraussetzungen von Preisdiskriminierung Ziel aller Preisstrategien von Unternehmen ist, den Gewinn zu steigern. In ► Kapitel 7 ist erläutert, dass dieses Vorgehen bei hoher Wettbewerbsintensität nicht funktioniert: Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz können den Marktpreis nicht beeinflussen. Für Unternehmen mit Marktmacht ist das allerdings möglich - sie können einen Preis über die Grenzkosten durchsetzen und so auf Basis unterschiedlicher Zahlungsbereitschaften der Kunden einen Teil der Konsumentenrente in Gewinne umwandeln. In ► Abbildung 8.2 sind die Gewinne von zwei Unternehmen mit identischer Nachfrage- und Kostensituation abgebildet. Das linke Formen und Voraussetzungen von Preisdiskriminierung 279 Unternehmen besitzt keine signifikante Marktmacht und bestimmt die Produktionsmenge 𝑞 so, dass die Grenzkosten 𝑀𝐶 dem Marktpreis 𝑝 entsprechen. Offensichtlich entsteht kurzfristig ein Gewinn in Höhe von 𝜋 . Im Gegensatz dazu besitzt das rechte Unternehmen signifikante Marktmacht und kann unter der Bedingung Grenzkosten 𝑀𝐶 gleich Grenzerlös 𝑀𝑅 eine geringere Menge zu einem höheren Preis in einen höheren Gewinn 𝜋 umwandeln - insbesondere ist aber in diesem Fall die Konsumentenrente 𝐶𝑆 deutlich geringer. Abbildung 8.2: Abschöpfung der Konsumentenrente Preisdiskriminierung geht noch weiter: Ein Unternehmen setzt nicht nur einen Preis, sondern mehrere abgestufte Preise, so dass die Gewinne deutlich über das Monopolniveau ausgedehnt werden können - d.h., die Konsumentenrente wird noch weiter reduziert. Voraussetzungen für Preisdiskriminierung sind, dass  Unternehmen zumindest ein gewisses Maß an Marktmacht besitzen,  Kunden unterschiedliche Zahlungsbereitschaft haben,  Kunden individuell oder in Marktsegmenten gezielt adressiert werden können oder durch Selbstselektion eines Preismodells ihre jeweilige Zahlungsbereitschaft zeigen und  Arbitrage (d.h. das Ausnutzen von Preisunterschieden durch den Handel der Kunden untereinander in Form von Wieder- oder Weiterverkäufen) unmöglich ist oder zumindest kostspielig gemacht werden kann. Für Fluggesellschaften sind diese Bedingungen erfüllt: Die Lufthansa besitzt nach der Übernahme von AirBerlin auf einzelnen Strecken zu bestimmten Uhrzeiten eine marktbeherrschende Stellung mit Marktmacht, die Kunden (Geschäftsreisende und Urlaubsreisende) haben deutlich unterschiedliche Zahlungsbereitschaft und zeigen diese auch im Buchungsprozess und schließlich ist Arbitrage aufgrund der Personalisierung von Flugtickets ausgeschlossen (Die Zeit 2017). p 0 0 q p q MC MC MR ATC π C CS CS ATC π M p p q bei p=MC q bei MR=MC Unternehmen ohne signifikante Marktmacht Unternehmen mit signifikanter Marktmarkt Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 280 Preisdiskriminierung ermöglicht drei grundlegende Preisstrategien, die allerdings in Preis- und Geschäftsmodellen auch kombiniert werden:  Nicht lineare Preissetzung durch direkte Preisdiskriminierung - unterschiedliche Kunden oder Kundengruppen zahlen unterschiedliche Preise: Typische Beispiele sind alle Formen von preisdiskriminierender Marktsegmentierung wie Studenten- oder Seniorentickets im ÖPNV, Mengenrabatte in Supermärkten wie „Nimm vier zahl drei“, aber auch Auktionen wie bei eBay oder Dynamic Pricing wie durch Amazon. Diese Möglichkeit ist insbesondere gegeben, wenn durch Marktanalyse vor dem Kauf Unterschiede in der Nachfrage oder Zahlungsbereitschaft der Kunden ermittelt werden können.  Zweiteilige Tarife und indirekte Preisdiskriminierung - Produkte werden mit Grundgebühr und Nutzungsentgelt angeboten: Typische Beispiele sind Mitgliedskarten wie die Bahncard 50 der Deutschen Bahn zur Reduktion der regulären Fahrpreise, Jahresgebühren im Golfclub mit zusätzlicher Green-Fee oder monatliche Grundgebühren für Telefonie, Strom oder Wasser mit zusätzlichen mengenabhängigen Preisen. Diese Möglichkeit wird genutzt, wenn man zwar vermutet, dass Kunden unterschiedliche Zahlungsbereitschaft und Nachfrage haben, aber dies erst durch Selbstselektion während des Kaufs und der Nutzung des Produktes erkennbar wird.  Bundling - unterschiedliche Produkte, die auch einzeln erhältlich sind, werden in Paketen oder gebündelt angeboten: Typische Beispiele sind Softwarepakete von Microsoft, Menüs bei Burger King oder McDonald’s und Programmpakete von Pay-TV-Anbietern wie Sky. Diese Möglichkeit wird genutzt, wenn die Zahlungsbereitschaften für unterschiedliche Produkte über die Kunden hinweg negativ korreliert sind. 8.2 Direkte Preisdiskriminierung und Marktsegmentierung Nicht lineare Preissetzung kann grundsätzlich zwei Formen annehmen. Entweder ist ein Unternehmen in der Lage,  jedem einzelnen Kunden exakt einen Preis entsprechend dessen Zahlungsbereitschaft (perfekte Preisdiskriminierung) zu setzen, oder  für unterschiedliche Kundengruppen entsprechend deren gruppenspezifischer Zahlungsbereitschaft (Marktsegmentierung) Preise zu setzen. Perfekte Preisdiskriminierung Perfekte Preisdiskriminierung ist immer dann relevant, wenn die Kunden ihre Zahlungsbereitschaft aktiv äußern oder diese über Marktforschung genau zu ermitteln ist. Tatsächlich ist dies häufiger der Fall, als es zunächst den Anschein hat. Kunden nennen bspw. im Rahmen von B2C- und B2B-Auktionen aktiv ihre jeweilige Zahlungsbereitschaft, aber auch Neuwagenkäufer und -verkäufer durchlaufen eine Auktion: Zunächst personalisiert der Verkäufer das Fahrzeug entsprechend der vom Kunden gewünschten Extras, dann startet eine Rückwärtsauktion auf Basis des Listenpreises zuzüglich der Extras, in deren Verlauf der Verkäufer den Preis sukzessiv senkt, um die maximale Zahlungsbereitschaft der Kunden herauszufinden und schließlich abzuschöpfen. Zudem überlassen Unternehmen manchmal - Restaurants wie das Kish in Frankfurt/ Main und das Lentil as Anything in Melbourne, der Zoo im westfälischen Direkte Preisdiskriminierung und Marktsegmentierung 281 Münster oder Rockbands wie Radiohead für das Album In Rainbows - den Kunden, den Preis entsprechend der Zahlungsbereitschaft individuell festzulegen, teils mit beträchtlichem Erfolg (Uken 2013). Allerdings kann die Preisstrategie Name Your Own Price nur funktionieren, wenn das Unternehmen ein Mindestmaß an Marktmacht hat und keine Vergleichspreise von den Kunden herangezogen werden, um Referenzpreise zu ermitteln (Kim et al. 2009). In digitalen Geschäftsmodellen hat die Marktforschung durch die Nutzung von Big Data entscheidend an Bedeutung gewonnen. Kunden zeigen nicht nur durch Likes oder Bewertungen in sozialen Medien oder auf Marktplätzen wie eBay oder Amazon direkt ihre Präferenzen an. Auch durch das tatsächliche Kaufverhalten, die verwendeten Endgeräte und die bezahlten Kaufpreise für andere Produkte lässt sich die maximale Zahlungsbereitschaft eines Kunden relativ präzise ermitteln (Baker et al. 2014, Tanner 2014 und Rayna et al. 2015). Diese wird dann durch implizite Auktionen und Dynamic Pricing (dem Kunden werden online und individuell immer wieder neue Preise gezeigt) versucht abzuschöpfen. Abbildung 8.3: Perfekte Preisdiskriminierung. In ► Abbildung 8.3 ist der Effekt perfekter Preisdiskriminierung im Vergleich zu vollständiger Konkurrenz und einem gewöhnlichen Monopol zu sehen. Bei vollständiger Konkurrenz wird eine Menge 𝑞 zu einem Preis 𝑝 angeboten, so dass die Flächen 𝐴 𝐵 𝐶 die Konsumentenrente beschreiben. Ein gewöhnlicher Monopolist ohne Möglichkeit zur Preisdiskriminierung setzt einen Preis 𝑝 und realisiert einen Gewinn in Höhe von 𝐴 - die Fläche 𝐵 verbleibt als Konsumentenrente, Fläche C stellt den Wohlfahrtsverlust dar. Perfekte Preisdiskriminierung bedeutet nun, dass von jedem Kunden ein Preis entsprechend seiner Zahlungsbereitschaft verlangt wird ( 𝑝 , 𝑝 , … 𝑝 ). In diesem Fall ist ein Unternehmen in der Lage, die komplette Konsumentenrente in Gewinne umzuwandeln, so dass der Gewinn von 𝐴 auf q P, MC 0 D MR q M p M p C q C A B p Mx p Mx p Mn p M1 p M2 C MC a Gewinn-in-einem- gewöhnlichen- Monopol: -A Gewinn-in-einem- perfekt-preisdiskriminierenden- Monopol: -A-+-B-+-C Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 282 𝐴 𝐵 𝐶 ansteigt. Ein preisdiskriminierendes marktbeherrschendes Unternehmen setzt hier auch Preise unterhalb des bisherigen Monopolpreises 𝑝 bis zu einer Untergrenze des Preises vollständiger Konkurrenz 𝑝 , so dass die Menge über 𝑞 auf das Niveau 𝑞 vollständiger Konkurrenz erhöht werden kann und zudem der Wohlfahrtsverlust wegfällt.  Case Study | Shop auf einer Auktionsplattform Ein marktbeherrschender Sportschuhhersteller überlegt, seinen Vertrieb von „ein Preis für alle Kunden“ auf ein Auktionssystem mit (nahezu) perfekter Preisdiskriminierung bei einer Online-Auktionsplattform umzustellen. Die Nachfrage pro Monat für ein bestimmtes Paar personalisierter Sportschuhe (so dass ein Weiterverkauf unterbunden wird) ist gegeben durch 𝑝 100 - 2 𝑞 , die Grenzkosten betragen 𝑀𝐶 20 . Sollte dieses Unternehmen sein Geschäft zur Online-Auktionsplattform verlagern, wenn die Fixkosten der Nutzung 𝐹𝐶 700 pro Monat betragen? Der Gewinn ohne Nutzung der Auktionsplattform beträgt (8.1) 𝜋 𝑞 100 2𝑞 𝑞 20𝑞 100𝑞 2𝑞 20𝑞 , so dass der Gewinn maximiert wird durch Wahl der Produktionsmenge (8.2) 100 4𝑞 20 0 und eine Menge von 𝑞 20 bei einem Gewinn von 𝜋 800 resultiert. Überträgt der Sportartikelhersteller nun den Vertrieb auf die Auktionsplattform, so ergibt sich - entsprechend der ► Abbildung 8.3 - der Gewinn aus den Flächen 𝐴 𝐵 𝐶 abzüglich der fixen Kosten der Nutzung der Auktionsplattform in Höhe von 𝐹𝐶 , so dass durch (8.3) 𝜋 𝑞 𝐴 𝐵 𝐶 𝐹𝐶 mit (8.4) 𝑞 40 die Menge auf 𝑞 40 ansteigt. Berechnet man nun die Flächen A+B+C, so folgt (8.5) 𝐴 𝐵 𝐶 ⋅ 1.600 und der Gewinn als (8.6) 𝜋 𝐴 𝐵 𝐶 𝐹𝐶 1.600 700 900 . Durch die Nutzung der Auktionsplattform und die vollständige Abschöpfung der Konsumentenrente steigt der Gewinn des Sportartikelherstellers trotz der fixen Nutzungsgebühren von 800 auf 900. Marktsegmentierung und Grenzerlöse Häufig ist es Unternehmen nicht effizient möglich, die Zahlungsbereitschaft jedes einzelnen Kunden präzise zu ermitteln. Allerdings lassen sich diese für einzelne Kundengruppen oder mehrere Marktsegmente oft sehr gut identifizieren. Sind die Kunden- oder Marktsegmente leicht voneinander zu trennen, separat adressierbar und kann Arbitrage verhindert werden, dann wenden Unternehmen Gruppenpreise an. Dies kann räumlich (unterschiedliche Neuwagenpreise in Deutschland und den USA), demografisch (Studenten, Senioren usw.), intertemporal (Saison oder Tagvs. Nachtarife) oder in Kombination erfolgen. Gruppenpreisbildung bedeutet, dass Kundengruppen, deren unterschiedliche Zahlungsbereitschaft einfach zu er- Direkte Preisdiskriminierung und Marktsegmentierung 283 kennen und zu überprüfen ist, unterschiedliche Preise gestellt werden. Typischerweise geschieht das in Museen, Kino und Theater oder im öffentlichen Personenverkehr. Reduzierte Eintrittspreise für Studierende oder Senioren sind somit kein freundliches Entgegenkommen der Unternehmen: Vielmehr setzt das Unternehmen Monopolpreise für jedes Marktsegment entsprechend der Zahlungsbereitschaften und kann so den Gewinn steigern. Die grundlegende Wirkungsweise ist in ► Abbildung 8.4 für Flugtickets, die in Buchungsklassen wie Economy und Business unterschieden werden, zu sehen. Offensichtlich verläuft die Nachfragekurve 𝐷 der Geschäftsreisenden flacher und die absolute Zahlungsbereitschaft ist größer als für die anderen Reisenden. Abbildung 8.4: Gruppenpreisbildung und Marktsegmentierung. Für innerdeutsche Flüge oder Kurzstrecken in Europa sind die Grenzkosten je Passagier identisch, so dass das Unternehmen durch Verschieben des Vorhangs in der Kabine die Klassen voneinander trennt. Die Produktdifferenzierung erfolgt alleine durch die Möglichkeit größerer Flexibilität beim Umbuchen. Eine Fluggesellschaft wird dann in beiden Marktsegmenten jeweils die Regel Grenzerlös 𝑀𝑅 gleich Grenzkosten 𝑀𝐶 zur Ermittlung der optimalen Anzahl oder Verteilung der Tickets je Buchungsklasse anwenden - in ► Abbildung 8.4 resultieren dann optimale Sitzplatzmengen von 𝑞 und 𝑞 bei Preisen von 𝑝 und 𝑝 und die durch die grauen Flächen gekennzeichneten Gewinne sind im Geschäftsreisenden-Segment deutlich größer. Zentral ist aber folgende Erkenntnis: Wendet ein Unternehmen diese Gruppenpreisstrategie an, dann sind bei Maximierung der Gewinne die Grenzerlöse in allen Marktsegmenten gleich groß (hier 𝑀𝑅 und 𝑀𝑅 ) - d.h., mit dem jeweils letzten verkauften Ticket in jeder Buchungsklasse ist der gleiche Erlöszuwachs erzielt worden (vgl. auch analoge Ergebnisse für Grenzprodukte in ► Kapitel 5 und Grenzkosten in ► Kapitel 6). In ► Kapitel 7 ist gezeigt, dass ein Unternehmen mit Marktmacht den Gewinn maximieren kann, wenn Preise und Mengen so gewählt werden, dass die Grenzkosten den Grenzerlösen p 1 MC p 0 0 q p q MR 2 MR 1 p 2 D 1 D 2 MR 1 =MR 2 q 1 q 2 Airline-Tickets für privat Reisende Airline-Tickets für Geschäftsreisende Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 284 entsprechen. Dieses Ergebnis gilt auch für Produkte in mehreren Marktsegmenten - exemplarisch für zwei Produkte, deren gemeinsamer Gewinn durch (8.7) 𝜋 𝑞 , 𝑞 𝑝 𝑞 𝑝 𝑞 𝑇𝐶 𝑞 𝑞 gegeben ist. Ein Unternehmen kann den Gewinn durch Wahl der Produktionsmengen 𝑞 und 𝑞 unter den Bedingungen (8.8) 𝑝 𝑞 𝑀𝑅 𝑀𝐶 0 und (8.9) 𝑝 𝑞 𝑀𝑅 𝑀𝐶 0 maximieren, so dass zunächst wie in ► Abbildung 8.16 die Grenzerlöse den jeweiligen Grenzkosten entsprechen. Sind die Grenzkosten identisch, dann kann aus (8.8) und (8.9) unter Verwendung der Preiselastizität der Nachfrage 𝜀 das optimale Preisverhältnis für beide Marktsegmente als (8.10) ermittelt werden. Eine einfache Faustregel für Manager ist also, die relativen Preise für die beiden Marktsegmente umgekehrt zur Preiselastizität der Nachfrage zu wählen: je höher die Preiselastizität, desto geringer der relative Preis und umgekehrt. Dieses Ergebnis gilt in gleicher Weise für eine beliebige Zahl an Produkten oder Marktsegmenten. Zudem ist aus strategischer Perspektive wichtig zu erkennen, dass die Kosten - wie in Gleichung (8.10) zu sehen - für diese Entscheidung über die Preisstruktur keine Rolle spielen, wenn diese über die Marktsegmente hinweg identisch sind.  Case Study | Gruppenpreisbildung am Beispiel Flugtickets Ein Produktmanager einer Fluggesellschaft soll die Ticketpreise für die Strecke Frankfurt- London in der Economy und Business-Class festlegen. Die Grenzkosten (Landeslot, Security, Abfertigung etc.) betragen EUR 250. Die Preiselastizität für Economy-Kunden beträgt 𝜀 4,0 (eher elastisch), für Business-Kunden 𝜀 1,6 (eher unelastisch). Zur Gewinnmaximierung kann der Produktmanager auf Gleichung (8.10) zurückgreifen. Die Preise für beide Kundengruppen müssen die jeweiligen Preiselastizitäten berücksichtigen, so dass sich mit (8.11) , , ⇒ 𝑝 0,5 ⋅ 𝑝 ergibt, dass der Preis für ein Economy-Class-Ticket genau halb so hoch ist wie der Business-Class-Preis. Der absolute Preis je Ticket lässt sich dann über Gleichung (7.49) mit den Grenzkosten als (8.16) 𝑝 , 333,33 bestimmen, so dass der Preis für ein Business-Class-Ticket 𝑝 666,67 beträgt. Indirekte Preisdiskriminierung und zweiteilige Tarife 285 In ähnlicher Weise wie Fluggesellschaften ermitteln auch Museen, der öffentliche Personennahverkehr oder Unternehmen, die unter mehreren Marken identische Produkte anbieten, die relativen Preise je Marktsegment. Grundlage dieser Strategien ist oft, dass die Grenzkosten je Kunde nur geringfügig unterschiedlich sind oder tatsächlich Null betragen: Dies gilt insbesondere für Sportveranstaltungen oder Musikfestivals. Vereine wie der FC Bayern München haben daher die Erlösmaximierung aus dem Ticketverkauf bereits optimiert. Zunächst werden je Spiel über 150 verschiedene Ticketvarianten personalisiert (Online Ticketing) verkauft, um Arbitrage zu verhindern. Die Ticketpreise werden über die relative Zahlungsbereitschaft und die Preiselastizität der Nachfrage bestimmt. Daneben hat der Verein eine Auktionsplattform organisiert (Ticket-Zweitmarkt), auf der unter bestimmten Bedingungen Tickets weiter verkauft werden können - der FC Bayern München profitiert nochmals (  tickets.fcbayern.com). 8.3 Indirekte Preisdiskriminierung und zweiteilige Tarife Oftmals ist es Unternehmen nicht möglich, Kunden oder Kundengruppen entsprechend ihrer Zahlungsbereitschaft zu erkennen oder Arbitrage kann nicht effektiv verhindert werden. Die in ► Kapitel 8.2 beschriebenen Konzepte und Strategien funktionieren somit nur eingeschränkt. Allerdings kann in diesen Fällen indirekte Preisdiskriminierung angewendet werden. Ein Unternehmen bietet hier allen Kunden alle Preismodelle an, überlässt aber die Preisauswahl oder sogar die Preisgestaltung den Kunden und kann so Teile der Kosten der Marktforschung einsparen: Wenn verschiedene Preismodelle für identische Produkte strategisch richtig angeordnet werden, werden Kunden entsprechend ihrer Zahlungsbereitschaft adressiert und ordnen sich selbst dem Preismodell zu (Bertini und Koenigsberg 2014). Häufig führt diese Selbstselektion zu deutlichen Gewinnsteigerungen für die Unternehmen. Typische Formen indirekter Preisdiskriminierung sind  Paketpreise und Blockpreise - eine mengenbezogene Preisdiskriminierung, bei der Kunden in Abhängigkeit von Packungsgröße, Kaufhäufigkeit oder Nachfrageverhalten Preisreduktionen (in Form von Mengenrabatten oder Discounts) angeboten werden,  zweiteilige Tarife und Flatrates - Kunden erwerben über eine monatliche Grundgebühr eine Basisvariante oder Zugangsberechtigung, zudem wird nutzungsabhängig ein zusätzliches Entgelt verlangt, oder  Freemium-Modelle und Damaged Products - eine qualitative Preisdiskriminierung, in der unterschiedliche Varianten eines Produktes mit Funktionseinschränkungen positioniert werden. Paketpreisbildung Ein typisches Beispiel sind unterschiedliche Packungsgrößen im Lebensmitteleinzelhandel, Coupons für Preisreduktionen, Buy-One-Get-One-Free-Modelle oder Mobilfunktarife mit unterschiedlichen Datenvolumina. Meist werden hier die Preise je 100 Gramm oder pro Gigabyte Daten geringer, je größer das Gesamtvolumen ist. In ► Abbildung 8.5 ist dies verdeutlicht: Das Unternehmen Lavazza bietet unter dem Markennamen Lavazza Qualita Oro identischen Kaffee in unterschiedlichen Varianten - der Preis je Kilogramm lässt sich so verdrei- Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 286 fachen. (Preise im November 2017 ermittelt im Woolworth Supermarket in der Fitzroy Street in Melbourne). Abbildung 8.5: Paketpreisbildung. Paketpreisbildung bedeutet, dass Kunden mengenabhängig für identische Produkte unterschiedliche Preise bezahlen. Ein erster Fall ist in ► Abbildung 8.6 anhand von Packungsgrößen gezeigt. Ein Unternehmen vermutet, dass es drei in ihrer Zahlungsbereitschaft unterschiedliche Kundengruppen gibt. Statt einem einzigen Preis und einer zugehörigen Menge in allen Marktsegmenten - markiert durch den Punkt des Monopolpreises p M - adressiert das Unternehmen mit drei verschiedenen Preisen 𝑝 , 𝑝 und 𝑝 für drei verschiedene Packungsgrößen diese vermuteten Kundengruppen. Wenn die Preise zielsicher angeordnet sind, dann entstehen für die einzelnen Kundengruppen Gewinne in Höhe der jeweiligen grauen Flächen. Diese können in Summe größer sein als ein Monopolgewinn auf Basis eines einzigen Preises - wesentlich hängt dies von der Größe der einzelnen Kundensegmente und deren jeweiliger Zahlungsbereitschaft und Nachfrageverhalten ab (Cohen 2008). AUD 12,50 Preis je Packung Preis je Kilogramm AUD 26,50 AUD 18,00 AUD 38,00 Lavazza Qualita Oro 125g Lavazza Qualita Oro 250g Lavazza Qualita Oro 500g Lavazza Qualita Oro 1000g AUD 53 AUD 38 AUD 100 AUD 72 Indirekte Preisdiskriminierung und zweiteilige Tarife 287 Abbildung 8.6: Gewinne bei unterschiedlichen Packungsgrößen q P, MC D MR p 1 MC q 1 A q P, MC D MR p 2 MC q 2 B q P, MC D MR p 3 MC q 3 C p M p M p M Gewinne aus kleinen Packungen Gewinne aus mittelgroßen Packungen Gewinne aus großen Packungen Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 288 Paketpreise funktionieren in Supermärkten dann sehr gut, wenn aufgrund von Transportkosten, Wohnungsgröße oder begrenzter Haltbarkeit nicht alle Kunden die vermeintlich pro Stück oder Kilogramm günstigen Großpackungen kaufen, sondern kleinere Varianten wählen. Eine besondere Form der Paketpreise sind Blockpreise - Preise die für bestimmte Mengenintervalle für alle Kunden in gleicher Weise gelten. Diese finden sich häufig bei Energieversorgern, das Konzept lässt sich aber auch auf kumulierte Mengenrabatte in anderen Geschäftsmodellen anwenden. In ► Abbildung 8.7 ist die Nachfrage nach Strom in Abhängigkeit der Größe von Haushalten dargestellt - typischerweise steigt diese zwar mit der Zahl der Haushaltsmitglieder an, aber die Zahlungsbereitschaft je Kilowattstunde Strom wird sukzessiv geringer. Ein Energieversorger bietet daher oft Blockpreise an, in denen die Preise blockweise von 𝑝 über 𝑝 nach 𝑝 absteigen. Das Unternehmen kann daher für kleine Mengen bis 𝑞 von allen Kunden - Einzelpersonenhaushalte, Ehepaare und Familien - zunächst hohe Preise 𝑝 oberhalb eines einheitlichen Monopolpreises 𝑝 durchsetzen und über alle Kundengruppen einen Gewinn von 𝐴 erzielen. Zu diesem Preis würden allerdings weder Ehepaare noch Familien ihre Nachfrage ausweiten. Aus diesem Grund bietet das Unternehmen das nächste Mengenintervall bis 𝑞 zu einem reduzierten Preis von 𝑝 an - der Gewinn steigt jetzt durch die Kundengruppen Ehepaare und Familien um die Fläche 𝐵 an. Um die Restnachfrage der Menge 𝑞 der Familien zu bedienen, bietet das Unternehmen für diese Mengen einen Preis 𝑝 an. Der Gesamtgewinn steigt dann auf 𝐴 𝐵 𝐶 und übersteigt deutlich den durch einen einheitlichen Monopolpreis erzielbaren Gewinn, wie in ► Abbildung 8.7 zu erkennen ist. Abbildung 8.7: Gewinne bei Paketpreisbildung und Mengenrabatt. B q P, MC 0 D MR p 3 p 1 p 2 ATC= MC alle Haushalte q 3 q 2 q 1 Ehepaare und Familien nur Familien A C p M Gewinne eines blockpreisdiskriminierenden Stromlieferanten: Gewinn eines ‚normalen‘ Monopols Indirekte Preisdiskriminierung und zweiteilige Tarife 289 Die Gewinne eines paketpreisdiskriminierenden Monopols sind also höher als die eines normalen Monopols. Das absolute Gewinnniveau wird bestimmt durch die jeweiligen Zahlungsbereitschaften, unterschiedliche Kundengruppenbedürfnisse und die Anzahl der adressierbaren Kundengruppen. Zweiteilige Tarife und Flatrates Viele Unternehmen bieten Produkte und Dienstleistungen mit zweiteiligen Tarifen an: Der eine Teil des Tarifs ist eine monatliche oder jährliche Mitgliedsgebühr und besteht aus einem Fixbetrag, der andere Teil des Tarifs fällt als nutzungsabhängiges Entgelt oder für bestimmte Zusatzleistungen an und ist variabel. Derartige Preismodelle finden sich für viele Freizeitaktivitäten (Golf, Tennis, Fitnessclub etc.) und Bankprodukte (Girokonten, Kreditkarten etc.), aber auch für Mobilfunkverträge mit Monatsgrundgebühr und zusätzlichem Nutzungsentgelt pro Minute oder für Datenvolumen bei Überschreiten der Inklusivmengen. Eine besondere Form von zweiteiligen Tarifen liegt in Systemmärkten mit indirekten Netzwerkeffekten vor: Der Erwerb einer Spielkonsole oder -plattformen gleicht einer Mitgliedsgebühr, der Erwerb zusätzlicher Spiele oder Levels im Spiel ist ein Nutzungsentgelt (vgl. auch ► Kapitel 2). Ob und in welcher Höhe Mitgliedsgebühren möglich sind, hängt wesentlich von der Konsumentenrente und der Preiselastizität der Nachfrage ab. In ► Abbildung 8.8 ist das Grundprinzip einer Mitgliedsgebühr zu sehen. Sie basiert wie alle Formen von Preisdiskriminierung darauf, Kunden einen Teil oder die komplette Konsumentenrente zu entziehen. Ein Monopolist erzielt (unter der gewinnmaximierenden Bedingung Grenzerlöse 𝑀𝑅 gleich Grenzkosten 𝑀𝐶 ) bei einem Preis von 𝑝 einen nutzungsabhängigen Erlös in Höhe der Fläche 𝐴 . Ein zweiteiliger Tarif entsteht nun, indem das Unternehmen die Konsumentenrente ermittelt und in eine Mitgliedsgebühr 𝐵 umwandelt und erhebt. Dieser zweiteilige Tarif lässt sich in eine Flatrate 𝐶 umwandeln, wenn das Unternehmen das nutzungsabhängige Entgelt 𝐴 und die Mitgliedsgebühr 𝐵 zusammenführt. Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 290 Abbildung 8.8: Monopolpreis, zweiteiliger Tarif und Flatrate. p q p q a MC MR p q p q a MC MR p q p q a MC MR A A B C Monopolpreis zweiteiliger Tarif Flatrate Indirekte Preisdiskriminierung und zweiteilige Tarife 291 In ► Abbildung 8.9 ist zu erkennen, dass Existenz und Umfang von Mitgliedsgebühren vom Verlauf der Nachfragekurve abhängen: Je geringer die Preiselastizität der Nachfrage ist, desto geringer fällt eine mögliche Mitgliedsgebühr aus. Allerdings kann ein Unternehmen auch in diesem Fall - wie das bei Fitnessstudios der Fall ist - das nutzungsabhängige Entgelt direkt auf die Mitgliedsgebühr aufschlagen und auf diese Weise lediglich einen Monats- oder Jahresbeitrag erheben. Der Grund ist, dass eine Übernutzung des Fitnessstudios ausgeschlossen ist. Ähnlich lassen sich die Preise in All-You-Can-Eat-Restaurants als eintägige Mitgliedsgebühr ohne Nutzungsentgelt interpretieren. Beide Geschäftsmodelle basieren auf Fixkosten, die vollständig über Mitgliedsgebühren gedeckt sind (Just und Wansink 2011 sowie DellaVigna und Malmendier 2006). Abbildung 8.9: Konsumentenrente und Mitgliedsgebühren. Ob das Erheben einer Mitgliedsgebühr und einem zusätzlichen Nutzungsentgelt effektiv ist, hängt neben dem Verlauf der Nachfrage auch von der Wettbewerbssituation und der Höhe der Grenzkosten ab, wie aus ► Abbildung 8.9 zu erkennen ist: In Abhängigkeit des erwarteten Nutzungsverhaltens und der Höhe der Grenzkosten können Unternehmen Flatrates mit oder ohne Nutzungsobergrenze anbieten. Hier gilt, je geringer die Grenzkosten 𝑀𝐶 sind und je besser das Nutzungsverhalten 𝑞 prognostizierbar ist, desto eher wird eine Flatrate ohne Obergrenze angeboten und umgekehrt. p · q = nutzungsabhängiges Entgelt p · q = nutzungsabhängiges Entgelt p q p 1 q 1 a p q p 2 q 2 CS a CS Mitgliedsgebühren bei geringer Preiselastizität Mitgliedsgebühren bei hoher Preiselastizität Konsumentenrente = mögliche maximale Mitgliedsgebühr Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 292 Abbildung 8.10: Mitgliedsgebühren und Flatrate. Sind entweder die Grenzkosten relativ hoch oder ist das Nutzungsverhalten nicht präzise vorherzusagen, dann wird - wie in ► Abbildung 8.10 links dargestellt - zwar eine Flatrate angeboten, aber bei Erreichen einer Menge 𝑞 wird zusätzlich ein Nutzungsentgelt von 𝑝 erhoben. Hiermit werden insbesondere Kapazitätsengpässe bepreist, die möglicherweise die Kundenzufriedenheit einschränken. Sind die Grenzkosten sehr gering - wie in ► Abbildung 8.10 rechts -, dann kann eine Flatrate auch ohne Obergrenze angeboten werden. Die derzeitigen Tarifmodelle im Mobilfunk sind Spiegelbild eingeschränkter Vorhersagbarkeit des Datenverbrauchs: Einerseits sind zwar die Grenzkosten der Mobilfunkunternehmen sehr gering, andererseits steigen die Datenvolumina durch neue Geschäftsmodelle und verändertes Kundenverhalten aber deutlich an, so dass Flatrates mit Inklusivminuten, Drosselung der Datenrate und Bepreisung von zusätzlichen Datenpaketen die Regel sind. In ähnlicher Weise kann auch der Preis für die Bahncard 50 der Deutschen Bahn ermittelt werden - diese ermöglicht es den Kunden, zum halben normalen Fahrpreis zu fahren. In ► Abbildung 8.11 sind zunächst die Erlöse der Deutschen Bahn ohne Bahncard-Modell eingezeichnet. Ein Kunde wird beim Preis 𝑝 eine Menge an Fahrten 𝑞 erwerben, die Grenzkosten sind vernachlässigbar gering. Wenn die Deutsche Bahn nun eine Bahncard mit 50 % Reduktion des regulären Fahrpreises anbietet, dann werden die Kunden bei einem neuen Nutzungspreis von 𝑝 / 2 ihre Nachfrage entsprechend ihrer Preiselastizität auf 𝑞 ausweiten. Damit gehen zunächst die Erlöse der Deutschen Bahn zurück - im Gegenzug kann das Unternehmen aber jetzt eine Mitgliedsgebühr in Höhe der grauen Dreiecksfläche erheben. In ► Abbildung 8.11 ist zu erkennen, dass das Unternehmen die Mitgliedsgebühr in Form des jährlichen Preises der Bahncard so wählen muss, dass die Summe der beiden grauen Flächen rechts größer ist, als die graue Fläche links. p q p q a p q a MC MC MR MR q Flatrate mit Nutzungsobergrenze Flatrate ohne Nutzungsobergrenze Indirekte Preisdiskriminierung und zweiteilige Tarife 293 Abbildung 8.11: Bestimmung der Mitgliedsgebühr der Bahncard 50. Wiederum werden die Kunden selbst die Selektion in Form indirekter Preisdiskriminierung vornehmen - Kunden mit preiselastischer Nachfrage werden die Bahncard erwerben und mehr reisen, aber der Gewinn der Deutschen Bahn wird bei richtig gewählter Mitgliedsgebühr in jedem Fall ansteigen. Vor Einführung von zweitteiligen Tarifen ist aus Managementperspektive wichtig zu analysieren, wie homogen oder heterogen die Kunden sind. Diese Frage kann man unmittelbar aus ► Abbildung 8.9 nachvollziehen: Unterscheiden sich Kunden in Zahlungsbereitschaft und Preiselastizität, dann unterscheiden sich auch die optimalen Mitgliedsgebühren. Wenn nur ein Preismodell implementiert werden kann, dann führt Heterogenität der Kundengruppen typischerweise zu niedrigen Mitgliedsgebühren, um nicht große Kundengruppen zu verlieren - eine Mitgliedsgebühr ist vor dem Hintergrund zusätzlicher administrativer und Marketingkosten dann eventuell nicht sinnvoll. Ein Blick in die Mobilfunkindustrie zeigt allerdings, dass auch zahlreiche unterschiedliche Tarifmodelle (unterschiedliche monatliche Mitgliedsgebühren, unterschiedliche nutzungsabhängige Entgelte oder dreiteilige Tarife mit vollständig und dauerhaft kostenlosen Komponenten) so entwickelt werden können, dass durch Selbstselektion der Tarife durch die Kunden dennoch deutliche Gewinnsteigerungen möglich sind - insbesondere, weil die Kunden zum einen ihr künftiges Konsumverhalten nicht korrekt einschätzen können, dieses in der Zeit variabel ist, die Tarife falsch wahrgenommen werden und die Kunden die eigene Fähigkeit, den richtigen Tarif zu wählen, systematisch überschätzen (Mitomo 2002, Grubb 2009, Ascarza 2012 sowie Haucap und Heimeshoff 2011). Freemium-Modelle und Damaged Products Eine besondere Form der Marktsegmentierung durch indirekte Preisdiskriminierung sind Freemium-Modelle und die Damaged-Products-Strategie. Oft unterscheiden sich Kundensegmente in ihrer Zahlungsbereitschaft, aber es ist ineffizient, mehrere unterschiedliche Prop q p 1 q 2 a p 1 / 2 p q p 1 q 1 a Ticketerlöse ohne Bahncard Erlöse Bahncard Ticketerlöse mit Bahncard q 1 ohne Bahncard Bahncard 50 % Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 294 dukte herzustellen. In diesen Fällen kann man ein bereits vorhandenes Produkt hoher Qualität anders benennen und eine Beschädigung hinzufügen oder bestimmte Funktionen deaktivieren - damit hat das Produkt mit niedrigerer Qualität zwar höhere Grenzkosten, der Gewinn des Unternehmens steigt aber dennoch an. Beispiele sind Intel Computerchips, Laserdrucker von Hewlett-Packard und DVD-Player von Sharp oder Panasonic, die sich nur durch fehlende Tasten auf der Fernbedienung voneinander unterscheiden (McAfee 2007 und Deneckere und McAfee 1996). In ähnlicher Weise funktionieren Freemium-Modelle bei Apps für Smartphones oder Software: In den kostenlosen Versionen werden einzelne Funktionen nicht freigeschaltet, nur die Premium-Bezahl-Version enthält die vollständige Funktionalität (Kumar 2014). Ziel der Freemium-Modelle ist die kritische Masse an direkten Netzwerkeffekten zur Etablierung einer digitalen Plattform zu erreichen - das gilt gleichermaßen für Spiele, Musikstreaming, soziale Medien oder Berufsnetzwerke. 8.4 Bundling Ein Mehrproduktunternehmen kann indirekte Preisdiskriminierung in Form von Bundling einsetzen. Hier werden - anders als bei Paketpreisen mit gleichen Produkten in unterschiedlichen Packungsgrößen - unterschiedliche Produkte eines Mehrproduktunternehmens, die auch einzeln verkauft werden können, gebündelt verkauft. Grundlage von Bundling ist, dass Kunden sich in ihrer Zahlungsbereitschaft unterscheiden und die Zahlungsbereitschaft der Kunden über die Produkte hinweg negativ korreliert ist. Bundling findet sich oft bei Softwareprodukten (PowerPoint, Excel und Word gebündelt in Microsoft Office), bei Service- Dienstleistungen (Autoverkauf mit Finanzierung und Garantieleistungen), bei Fastfood-Ketten (Burger, Pommes Frites und Softdrink gebündelt in McDonald’s McMenu oder Burger King Value Meals), bei Pay-TV-Unternehmen (Kanäle oder Programme gebündelt bei Netflix oder AmazonPrime) oder bei Reiseanbietern, die unternehmensübergreifend Flüge, Gepäckmitnahme, Hotels, Reiserücktrittsversicherungen und Mietwagen bündeln (Adams und Yellen 1976, McAfee et al. 1989, Bakos und Brynjolfsson 1999, Stremersch und Tellis 2002 sowie Armstrong 2006).  Case Study | Bundling von Softwareprodukten Anhand von ► Tabelle 8.1 lassen sich zunächst die Möglichkeiten und Effekte von Bundling am Beispiel von Microsoft nachvollziehen. Im linken Teil der ► Tabelle 8.1 sind die möglichen Ergebnisse einer Marktforschung zu Zahlungsbereitschaften für verschiedene Microsoft-Produkte wiedergegeben. Es gibt offenbar vier Kundengruppen A bis D mit in Summe 1.000 potenziellen Kunden. Die Kundengruppen unterscheiden sich deutlich voneinander: Kundengruppe D hat mit 70 EUR eine relativ hohe Zahlungsbereitschaft für PowerPoint, allerdings ist die Zahlungsbereitschaft für Excel mit 5 EUR sehr gering - Kundengruppe A hingegen hat offenbar großes Interesse an Word, aber wenig an Excel. Bundling 295 Microsoft als marktbeherrschendes Unternehmen kann nun, wie im rechten Teil der Tabelle dargestellt, zunächst separate optimale Monopolpreise je Produkt ermitteln, um die Erlöse zu maximieren (die Kosten können außer Betracht bleiben, da die Grenzkosten der Vervielfältigung der Software und des Downloads Null betragen). Bietet Microsoft das Produkt PowerPoint bspw. zu einem Preis von 70 EUR, würden nur 100 Kunden der Kundengruppe D kaufen - alle anderen Kundengruppen haben eine zu geringe Zahlungsbereitschaft -, so dass die Erlöse 7.000 EUR betragen. Senkt Microsoft den Preis von PowerPoint auf 60 EUR, wird auch Kundengruppe C kaufen. Die Erlöse betragen jetzt für in Summe 500 Kunden 30.000 EUR. Eine weitere Senkung auf 40 EUR führt zu einem Erlös von 32.000 EUR - dieser lässt sich nicht weiter steigern, denn bei einer weiteren Senkung des Preises auf 30 EUR kaufen zwar alle 1.000 Kunden, aber die Erlöse gehen jetzt aufgrund elastischer Nachfrage zurück. Tabelle 8.1: Reines Bundling am Beispiel Microsoft Office. Analog lassen sich die maximalen Erlöse für die beiden anderen Produkte ermitteln, so dass sich folgende optimale Preisstrategie für Microsoft ergibt:  PowerPoint - zu einem Preis von EUR 40 an 800 Kunden der Kundengruppen B, C und D mit Erlösen von EUR 32.000,  Excel - zu einem Preis von EUR 30 an 500 Kunden der Kundengruppen A und B mit Erlösen von EUR 15.000,  Word - zu einem Preis von EUR 40 an 900 Kunden der Kundengruppen A, B und C mit Erlösen von EUR 36.000, so dass sich über alle Produkte ein Gesamterlös von EUR 83.000 EUR ergibt. Zahlungsbereitschaft je Produkt und Kundengruppe Preisstrategie und Erlöse Kundengruppen A B C D separate Monopolpreise Preis Menge Erlöse Kundenzahl 200 300 400 100 Powerpoint 30 40 60 70 Powerpoint 30 1000 30.000 . 40 800 32.000 . 60 500 30.000 . 70 100 7.000 . Excel 50 30 10 5 Excel 5 1000 5.000 . 10 900 9.000 . 30 500 15.000 . 50 200 10.000 . Word 70 60 40 20 Word 20 1000 20.000 . 40 900 36.000 . 60 500 30.000 . 70 200 14.000 . Bundling Bundling Preis Menge Erlöse Office Paket 150 130 110 95 Office Paket 95 1000 95.000 . 110 900 99.000 . 130 500 65.000 . 150 200 30.000 . Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 296 Allerdings kann Microsoft die Gesamterlöse durch Bundling steigern: Addiert man je Kundengruppe die Zahlungsbereitschaft für die einzelnen Produkte, erhält man die links unten in ► Tabelle 8.1 dargestellte Zahlungsbereitschaft für ein Office-Paket. Kundengruppe A wäre bereit EUR 150 für das Bundling zu zahlen, Kundengruppe D hingegen nur EUR 95. Wendet man nun dieselbe Logik wie für die Einzelprodukte auf das Office-Paket an, ergibt sich, dass bei einem Preis von EUR 110 in Summe 900 Kunden der Kundengruppen A, B und C kaufen würden. Der Gesamterlös beträgt jetzt maximal EUR 99.000 - ein Anstieg um fast 20 % gegenüber dem separaten Verkauf der Produkte, und das, obwohl das Paket mit EUR 110 gleich teuer ist wie zuvor die aufsummierten Einzelprodukte. Separate Preise versus Bundling Bundling funktioniert, wenn Kunden oder Kundengruppen sich systematisch in ihrer Zahlungsbereitschaft für mehrere Produkte unterscheiden. Im Fall von Microsoft sind dies insbesondere die Kundengruppen A und D, deren Zahlungsbereitschaft stark gegenläufig für die drei Produkte ist, zudem sind die Grenzkosten aller Produkte jeweils niedrig. Allgemeiner kann die Funktionsweise von Bundling für den Fall von zwei Produkten analysiert werden: Liegen unterschiedliche Reservationspreise 𝑧 und 𝑧 der Kunden A, B und C für die beiden Produkte 1 und 2 vor und setzt ein Unternehmen wie links in der ► Abbildung 8.12 separate Preise 𝒑 𝟏 und 𝒑 𝟐 analog zu jeweiligen Monopolpreisen, dann kauft zwar Kunde C in oberen rechten Quadraten I beide Produkte, denn 𝑧 𝑝 und 𝑧 𝑝 . Kunde A kauft nur Produkt 2, denn 𝑧 𝑝 aber 𝑧 𝑝 , Kunde B dagegen kauft wegen 𝑧 𝑝 und 𝑧 𝑝 nur Produkt 1. Kunden im Quadranten III würden keines der Produkte kaufen. Abbildung 8.12: Separate Preise, Bundling und Optimierung des Bundlingpreises. Bundling kann durch einen Bundlingpreis 𝒑 𝑩 beschrieben werden, der für beide Produkte in Summe gilt und in ► Abbildung 8.12 als 45°-Linie die Zahlungsbereitschaften der Kunden trennt: Bei gegebenen Zahlungsbereitschaften kaufen jetzt die Kunden B und C das Bundle, z 1 z 2 A B C p 1 p 2 III II I IV p B z 2 A B C 45° z 1 z 2 A B C p 1 p 2 p B1 p B1 p B2 p B2 separate Preise Bundling Optimierung des Bundlingpreises z 1 p B Bundling 297 denn ihre jeweils addierten Zahlungsbereitschaften liegen offensichtlich höher als der Bundlingpreis, also 𝑧 𝑧 𝑝 und 𝑧 𝑧 𝑝 . Kunde A kauft hingegen nicht, denn seine addierte Zahlungsbereitschaft für beide Produkte 𝑧 𝑧 𝑝 liegt unterhalb des Bundlingpreises. Zur optimalen Bestimmung des Bundlingspreises verschiebt man die 45°-Linie so weit nach rechts, bis durch die Zahl der Kunden und den dann möglichen Bundlingpreis die Gewinne maximiert werden - analog zum vorangegangenen Beispiel bei Microsoft-Office- Produkten: Kunden im grauen Bereich kaufen nicht, alle anderen kaufen das Bundle. Bundling funktioniert gut bei negativer Korrelation der Zahlungsbereitschaften der Kundengruppen, d.h., diese weisen wechselseitig hohe und niedrige Zahlungsbereitschaft auf wie in ► Abbildung 8.13 links. Die Zahlungsbereitschaften der Kunden liegen dann aufgereiht parallel zum Bundlingpreis. Eine Verschiebung des Bundlingpreises von unten an diese Kunden führt zu einer Steigerung der Gewinne, gleichzeitig werden nur relativ wenige Kunden vom Kauf des Bundles abgehalten. Ist die Zahlungsbereitschaft dagegen stark positiv korreliert - einige Kunden links unten haben für beide Produkte eine geringe Zahlungsbereitschaft, andere Kunden rechts oben haben hingegen für beide Produkte eine hohe Zahlungsbereitschaft - wie in ► Abbildung 8.13 rechts, führt Bundling nicht zu einer Steigerung des Gewinns: Mit jeder Erhöhung des Bundlingpreises gehen Kunden verloren. Abbildung 8.13: Negativ und positiv korrelierte Zahlungsbereitschaft und Funktionsfähigkeit von Bundling. Um Bundling anzuwenden, benötigt ein Unternehmen allerdings keine exakte Kenntnis der einzelnen Zahlungsbereitschaften. Hinreichend ist aus Managementperspektive die Kenntnis oder Vermutung, dass eine negative Korrelation der Zahlungsbereitschaften vorliegt. z 1 z 2 p 2 p B p B p 1 z 1 z 2 p 2 p B p B p 1 45° 45° stark negativ korrelierte Zahlungsbereitschaft  Bundling erhöht Gewinne stark positiv korrelierte Zahlungsbereitschaft  Bundling erhöht Gewinne nicht Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 298 Gemischtes Bundling Zahlreiche Unternehmen wählen gemischtes Bundling als Preisstrategie, in der die Produkte separat und gleichzeitig als Bundle angeboten werden. In ► Abbildung 8.14 sind die Preise ausgewählter Einzelprodukte und der darauf basierenden Bundles der McDonald’s Filiale in Hamburg-Barmbek im Mai 2017 dargestellt. Offenbar bietet McDonald’s die Produkte in den verschiedenen Menüs zu Preisen 𝑝 an, die durchschnittlich etwa 10 % unter den addierten Einzelpreisen 𝑝 ‘ liegen - dahinter liegt die Analyse der Preiselastizität der Nachfrage der Einzelprodukte und der Bundles zur Steigerung der Erlöse. Auch bei Pay-TV-Anbietern wird oft gemischtes Bundling angewendet - Programme, Sender oder Filme können einzeln abonniert werden oder bestimmte Pakete (Sport, Action, Unterhaltung etc.) exklusiv oder dazu gebucht werden. In Großbritannien können Kunden auch ihre individuellen Bundles festlegen. Abbildung 8.14: Gemischtes Bundling bei McDonald’s. Um die Wirkungsweise von gemischtem Bundling zu verstehen, sind in ► Abbildung 8.15 für zwei Produkte separate Preise 𝑝 und 𝑝 , ein Bundlingpreis 𝑝 und durch Punkte gekennzeichnet eine beliebige Zahl an Kunden mit unterschiedlichen Zahlungsbereitschaften 𝑧 eingezeichnet. Pommes Frites klein 1,89 mittel 2,39 groß 2,79 Einzelprodukte p i p B ‘ 6,87 7,17 6,97 p B 6,19 6,59 6,19 Menüs Burger Big Mac 3,69 Royal TS 3,99 McChicken 3,79 Big Mac Menü Royal TS Menü McChicken Menü Kaltgetränk 0,25 l 1,29 0,4 l 1,99 0,5 l 2,39 Bundling 299 Abbildung 8.15: Gemischtes Bundling. Bei zwei Produkten und den hier gewählten Preisen kann ein Unternehmen eindeutig vier Regionen (Kunden- oder Marktsegmente) identifizieren:  Region 1 - die Kunden werden weder das Bundle noch eines der beiden Produkte kaufen, denn die Zahlungsbereitschaft ist jeweils zu gering, so dass 𝑧 𝑝 , 𝑧 𝑝 und 𝑧 𝑧 𝑝 gilt.  Region 2 - diese Kunden werden in jedem Fall das Bundle kaufen, denn mit 𝑧 𝑧 𝑝 liegen die Zahlungsbereitschaften über dem Bundlingpreis.  Region 3 - Kunden in dieser Region kaufen wegen 𝑧 𝑝 aber 𝑧 𝑝 und 𝑧 𝑧 𝑝 nur Produkt 2.  Region 4 - Kunden in dieser Region kaufen wegen 𝑧 𝑝 aber 𝑧 𝑝 und 𝑧 𝑧 𝑝 nur Produkt 1. Daneben gibt es zwei Regionen 5 und 6, in denen die Kunden zwar das Bundle kaufen könnten, weil 𝑧 𝑧 𝑝 . Allerdings ist hier jeweils der relative Nutzen aus dem Kauf des Einzelproduktes, für Region 6 bspw. 𝑧 𝑝 𝑧 𝑧 𝑝 , größer als der Nutzen aus dem Kauf des Bundles. Kunden in den Regionen 5 und 6 werden also die jeweiligen Einzelprodukte kaufen. Optimale Preise für gemischtes Bundling, insbesondere bei mehr als zwei kombinierbaren Produkten, werden mit Simulationssoftware entwickelt und bestimmt. Typischerweise kann mit gemischtem Bundling der Gewinn gegenüber reinem Bundling gesteigert werden. In ► Abbildung 8.2 ist dies für die Microsoft-Office-Produkte demonstriert. z 1 z 2 p 1 p 2 p B p B p B -p 1 p B -p 2 1 2 3 4 5 6 Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 300 Tabelle 8.2: Gemischtes Bundling am Beispiel Microsoft Office. Microsoft kann den Gewinn im Vergleich zu reinem Bundling aus ► Tabelle 8.1 um weitere 11,6 % auf jetzt EUR 110.500 für die betrachteten vier Kundengruppen steigern. Hierzu adressiert das Unternehmen zunächst die Kundengruppe A mit der höchsten Zahlungsbereitschaft für Excel und Word mit separaten Preisen von EUR 50 und EUR 70 zum Marktstart neuer Versionen. Keine der anderen Kundengruppen wird diese Produkte zu diesem Preis erwerben. Nach der Markteinführung positioniert Microsoft ein Office-Bundle für den Massenmarkt analog zu ► Tabelle 8.1 zum Preis von EUR 110 - 700 Kunden der Segmente B und C werden dieses jetzt erwerben. Schließlich bietet Microsoft der Kundengruppe D mit der niedrigsten Zahlungsbereitschaft - offensichtlich Studenten, die dringend PowerPoint benötigen - gegen Nachweis eine vergünstigte und ggfs. funktional eingeschränkte Studentenversion zu einem Preis von EUR 95 an. Aus Managementperspektive muss ein Mehrproduktunternehmen mit Marktmacht also immer entscheiden, ob die Produkte separat zu Monopolpreisen, als reines Bundling zu einem Preis oder als gemischtes Bundling angeboten werden, um die Gewinne zu maximieren. Die Beispiele Microsoft oder McDonald’s - zwei der gewinnstabilsten Unternehmen der letzten Jahrzehnte - zeigen, dass gerade gemischtes Bundling ein wesentlicher Treiber für Profitabilität von Mehrproduktunternehmen mit marktbeherrschender Stellung sein kann. Zudem kann Bundling als strategische Eintrittsbarriere eingesetzt werden - ein Einproduktunternehmen kann durch Bundlingpreise eines Mehrproduktunternehmens vom Markteintritt abgehalten werden, wenn aufgrund der Verteilung der Zahlungsbereitschaft der Kunden für das Einproduktunternehmen kein Gewinn erzielbar ist (Nalebuff 2004). Aus diesem Grund ist Bundling allerdings auch eine wettbewerbsbeschränkende Maßnahme und kann bestehende Marktmacht verstärken. Vor diesem Hintergrund finden staatliche Maßnahmen der Wettbe- Zahlungsbereitschaft je Produkt und Kundengruppe Kundengruppen A B C D A B C D A B C D Kundenzahl 200 300 400 100 200 300 400 100 200 300 400 100 Powerpoint 30 40 60 70 30 40 60 70 30 40 60 70 Excel 50 30 10 5 50 30 10 5 50 30 10 5 Word 70 60 40 20 70 60 40 20 70 60 40 20 Office Paket 150 130 110 95 150 130 110 95 150 130 110 95 Strategie Premiumprodukte zum Marktstart Bundling für den Massenmarkt Studentenversion Erlöse 200 ‧ 50 + 200 ‧ 70 = 24.000 110 ‧ 300 + 110 ‧ 400 = 77.000 100 ‧ 95 = 9.500 Gesamterlöse 24.000 + 77.000 + 9.500 = 110.500 Zusammenfassung 301 werbsbehörden zum Unbundling statt, bspw. in der Energieindustrie die Trennung von Netzinfrastruktur und Energieerzeugung oder bei der Deutschen Bahn durch Trennung von Schienennetz, Passagierverkehr und Güterverkehr. Unbundling kann allerdings auch eine innovative Strategie sein, um etablierte Unternehmen anzugreifen. So haben Download- und Streaminganbieter in der Musikindustrie etablierte Anbieter des Bundles „10 Songs auf einer physischen CD“ durch Nutzung neuer Technologie und durch verändertes Kundenverhalten deutlich in Bedrängnis gebracht (Elberse 2010). 8.5 Zusammenfassung Preisdiskriminierung beschreibt Preisstrategien marktbeherrschender Unternehmen, bei denen entsprechend der Zahlungsbereitschaft der Kunden unterschiedliche Preise für im Wesentlichen identische Produkte verlangt werden. Unternehmen sind dann in der Lage, die Konsumentenrente in Teilen oder sogar vollständig in deutliche Gewinnsteigerungen umzuwandeln. Preisdiskriminierung kann direkt durch personalisiertes Preissetzen oder Marktsegmentierung erfolgen, wenn durch Marktforschung oder digitale Technologien hinreichend genau Kundengruppen identifiziert werden können. Indirekte Preisdiskriminierung basiert auf Selbstselektion der Kunden: Entsprechend der Zahlungsbereitschaft ordnen sich Kunden selbst Mobilfunktarifen zu oder bestimmen im Rahmen von zweiteiligen Tarifen wie der Bahncard im Zeitablauf ihre Nutzung. Reines und gemischtes Bundling sind Strategien von Mehrproduktunternehmen wie Microsoft oder McDonald’s, um durch Bündelung von Produkten höhere Gewinne zu erzielen. Die beschriebenen Preisstrategien gelten dabei im engeren Sinne nur für Unternehmen mit Marktmacht - es ist völlig klar, dass Unternehmen auch bei hoher Wettbewerbsintensität Preisdiskriminierung anwenden. Allerdings sind gerade bei Wettbewerb im Oligopol komplexe Rückwirkungen des Wettbewerberverhaltens zu berücksichtigen (Stole 2007).  Kontrollfragen [1] Beschreiben Sie praktische Anwendungsfelder der Analyse von Entscheidungen zu Preisdiskriminierung aus mikroökonomischer Perspektive sowie deren Grenzen, Vor- und Nachteile! [2] Welche Bedingungen müssen für eine erfolgreiche Anwendung von Preisdiskriminierung vorliegen? Beschreiben Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten von direkter und indirekter Preisdiskriminierung! Nennen Sie zwei Fälle, in denen die Trennung nicht eindeutig ist. [3] Nennen Sie je zwei Beispiele für personalisierte (vollkommene) Preisdiskriminierung, Paketpreisbildung und Gruppenpreisbildung! [4] Beschreiben Sie die Grundüberlegung von (reinem und gemischtem) Bundling anhand einer Abbildung! Nennen und erläutern Sie knapp drei Beispiele aus unterschiedlichen Industrien, in denen typischerweise (reines oder gemischtes) Bundling angewendet wird. Preisstrategien und Preisdiskriminierung von Unternehmen mit Marktmacht 302 [5] Mobilfunk- oder Smartphone-Tarife haben oft Minuten- oder Datenpakete inklusive, darüberhinausgehende Minuten oder Daten kosten extra - weshalb? Welche Preisstrategie liegt hier vor? Erklären Sie die Grundüberlegungen und Strategien bei zweitteiligen Tarifen! [6] Ein Bowlingclub vermietet Plätze für EUR 20 pro Stunde, aktuell gibt es keine Mitgliedsgebühr. Die Nachfragefunktion des Amateurteams A ist p 50- 0,025q pro Jahr - aktuell spielt diese Gruppe 1200 Stunden pro Jahr, die Nachfragefunktion einer Kneipengruppe B ist p 40- 0,025 q pro Jahr - aktuell spielt diese Gruppe 800 Stunden pro Jahr. Der Bowlingclub denkt jetzt über die Einführung einer einheitlichen jährlichen Mitgliedsgebühr je Team nach, die Platzmiete von EUR 20 je Stunde soll beibehalten werden. Wie hoch sollte die Mitgliedsgebühr gewählt werden? Wie viele Stunden werden die beiden Teams nach Einführung der Mitgliedsgebühr jeweils Bowling spielen? [7] Was ist die Grundüberlegung der Deutschen Bahn betreffend der Bahncard 50, welche Bedingungen müssen erfüllt sein? [8] Weshalb bietet der Pay-TV-Anbieter Premiere einzelne Sport- und Spielfilmkanäle, aber auch Programmpakete an - welche Formen von Bundling liegen hier vor? [9] L’Oréal plant die Markteinführung einer neuen Lotion - das Unternehmen denkt darüber nach, die neue Lotion zur Markteinführung mit einem Schal in einem Bundle anzubieten. Die Grenzkosten für die Lotion betragen EUR 3, für den Schal EUR 7. Die Reservationspreise wurden durch die Marktforschung für fünf gleich große Kundengruppen ermittelt: Kundengruppe Reservationspreise Lotion Schal A 20 5 B 18 12 C 12 18 D 9 21 E 4 24 Zu welchem Preis sollte man die Produkte optimalerweise getrennt voneinander verkaufen? Zu welchem Preis würde man das Bundle (ein Schal, eine Lotion) verkaufen? Welche Strategie führt zu einem höheren Gewinn? Warum? [10] In der Tabelle sind für drei Kinoketten A, B und C die Zahlungsbereitschaften für zwei Filme (Actionmovie und Komödie) wiedergegeben, die Grenzkosten betragen 5.000 EUR je Film pro Woche je Kino. Welche Preise sollte der Filmverleih bei reinem Bundling verlangen? Gibt es eine Möglichkeit, durch gemischtes Bundling höhere Gewinne zu erzielen? Zusammenfassung 303 Kinokette Zahlungsbereitschaft der Kinoketten Grenzkosten des Filmverleihers Actionmovie Komödie Actionmovie Komödie A mit 5 Kinos 13.000 6.000 5.000 5.000 B mit 5 Kinos 7.000 11.000 5.000 5.000 C mit 5 Kinos 15.000 2.000 5.000 5.000  Literatur Adams, W.J. und Yellen, J.L., Commodity bundling and the burden of monopoly, Quarterly Journal of Economics, 1976, 90, 3, 475-498. Armstrong, M., Recent developments in the economics of price discrimination, in: Blundell, R., Newey, W.K. und Persson, T. (Hrsg.), Advances in economics and econometrics: theory and applications, Volume II, Cambridge 2006, 97-141. Ascarza, E., Lambrecht, A. und Vilcassim, N., When talk is “free”: the effect of tariff structure on usage under twoand three-part tariffs, Journal of Marketing Research, 2002, 49, 6, 882-899. Baker, W., Kiewell, D. und Winkler, G., Using big data to make better pricing decisions, McKinsey Quarterly, July 2014. 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Tanner, A., Different customers, different prices, thanks to big data, Forbes, 26. März 2014. Uken, M., Preissysteme - Zahl so viel du willst! , Die Zeit, 14. Januar 2013. 9 Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie Strategische Entscheidungen eines Unternehmens müssen mögliche strategische Aktionen oder Reaktionen anderer Unternehmen berücksichtigen und antizipieren - die Wechselwirkungen von Strategien werden anhand spieltheoretischer Überlegungen analysiert, wie ein einfaches Beispiel zeigt: Ein mobiler Eiswagen Star-Ice kommt von rechts an einen linearen Strand. Die potenziellen Kunden sind gleichverteilt zwischen den Endpunkten A und B und ein Wettbewerber Triangel-Ice mit einem ebenfalls mobilen Eiswagen ist bereits am Strand positioniert, wie im oberen Teil von ► Abbildung 9.1 zu sehen. Der Wettbewerber bietet Speiseeis derselben Qualität zu gleichen Preisen an, die Kunden haben keine Präferenzen für einen der beiden Eisverkäufer. Wo sollte der neu an den Strand kommende Wettbewerber Star-Ice seinen Eiswagen platzieren bzw. aufbauen, um seine Gewinne zu maximieren? Wie wird sich der Wettbewerber Triangel-Ice verhalten? Abbildung 9.1: Strategische Positionierung von Eiswagen an einem linearen Strand. Zunächst kann sich das neue Unternehmen Star-Ice direkt rechts neben dem Wettbewerber Triangel-Ice positionieren - so haben alle Kunden rechts einen kürzeren Weg zum neuen Wettbewerber Star-Ice und das Unternehmen entsprechend einen großen Marktanteil. Triangel-Ice wird aber reagieren und den eigenen Standort nach rechts verändern - was wiederum eine Reaktion von Star-Ice hervorrufen wird. Diese Dynamik wird solange anhalten, bis keiner Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 306 der Wettbewerber mehr einen Anreiz hat, seine Position zu verändern, weil keine Verbesserung des Marktanteils und des Gewinns möglich ist. Um die Gewinne zu maximieren, werden sich beide Eisverkäufer letztendlich genau in der Mitte des Strands platzieren. Jeder Wettbewerber wird auf diese Weise einen Marktanteil von 50 % erhalten, d.h. jeweils seinen Strandabschnitt vollständig bedienen. Dieses Ergebnis wird auch als Hotelling-Regel der minimalen Differenzierung bezeichnet (Hotelling 1929). Es trifft natürlich nicht nur für Eisverkäufer zu - Unternehmen, die ähnliche oder aus Kundenperspektive schwach differenzierte Produkte anbieten, wählen ihren Standort nebeneinander oder gegenüber: Sparkassen neben Volks- und Raiffeisenbanken, Zara neben H&M, Aral gegenüber von Shell, Burger King neben McDonald’s, Aldi und Lidl teilen sich in Gewerbegebieten gemeinsam den Parkplatz und andere mehr. Die zentrale Erkenntnis ist aber nicht, dass Unternehmen Standorte nebeneinander wählen, sondern dass konkurrierende Unternehmen solange ihre jeweilige Strategie optimieren, bis die Unternehmen wechselseitig keinen Anreiz mehr haben, ihre Strategie zu verändern - dies ist eines der zentralen Lösungskonzepte der Spieltheorie und ein Sonderfall eines Nash- Gleichgewichtes. Spielfeld und Spielregeln der Spieltheorie Spieltheorie ist ein Konzept zur Analyse strategischer Entscheidungen in Konflikt- oder Kooperationssituationen mit dem Ziel, optimale Entscheidungen unter Berücksichtigung und Antizipation der Entscheidungen aller anderen Spieler zu ermitteln. Spieltheorie findet in so unterschiedlichen Bereichen wie Wirtschaftswissenschaften, Politik, Soziologie, Psychologie, Biologie, aber auch reiner Mathematik Anwendung:  Wettbewerb zwischen Unternehmen, aber auch in Auktionen, bei M&A-Projekten, im Marktdesign der Versteigerung von Mobilfunklizenzen,  sportliche Situationen wie die Strategien von Torwart und Schütze beim Elfmeter,  politische Kooperationen oder Koalitionen und internationale Institutionen,  die Formation und Stabilität von formellen und informellen Organisationen,  Analyse der Entstehung und dem Verlauf politischer Konflikte und Kriege,  allgemeine Verhandlungssituationen mit unterschiedlichen Zielsetzungen der Verhandlungspartner,  Kindererziehung und andere soziale Situationen und natürlich  Gesellschaftsspiele wie Schach, Poker oder Stein, Schere, Papier (von Neumann 1928). Eine Grundüberlegung der Spieltheorie ist - ähnlich wie bei den Eisverkäufern -, die möglichen Schritte und Strategien aller Wettbewerber bei der Wahl der eigenen Strategie zu berücksichtigen. Strategie kann nur funktionieren, wenn die Wechselwirkungen mit den Strategien der Wettbewerber berücksichtigt sind - man muss also in Gedanken und Überlegungen aller Wettbewerber eindringen (Courtney et al. 2009). Meist wird dies informell im Rahmen sogenannter War Games in Management-Workshops durchgespielt. Zunehmend geschieht dies auch in Form von expliziten spieltheoretischen Modellen mit der Unterstützung von spezialisierten Unternehmensberatungen wie OpenOptions, TWS Partners oder Frontier Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 307 Economics und Investmentbanken (Horn 2011). Google dagegen entwickelt den eigenen Suchalgorithmus im Wettbewerb gegen andere Algorithmen mittels evolutorischer Spieltheorie weiter (Tuyls et al. 2018). Notwendig für die Anwendung von Spieltheorie aus theoretischer Perspektive (von Neumann und Morgenstern 1944 sowie Fudenberg und Tirole 1991) ist, dass  für alle Spieler eine eindeutige Zielfunktion vorliegt und identifiziert werden kann,  alle Spieler rational agieren und sich wechselseitig der Spielsituation bewusst sind, sowie Informationen vorliegen betreffend  Identität und Zahl der Spieler - zwei oder beliebig mehr Teilnehmer,  Informationsstand der Spieler - vollständige, unvollständige oder asymmetrische Information,  Dauer des Spiels - einmalige, wiederholte oder unendliche Spiele,  Struktur des Spiels - simultane oder sequentielle Entscheidungen und nicht kooperative oder kooperative Suche nach Lösungen - und  aller denkbaren und zulässigen Strategien - reine oder gemischte Strategien und deren Vielfalt. Man kann nicht erwarten, dass diese Bedingungen in jeder realen Wettbewerbssituation oder in allen Industrien jederzeit für alle Akteure gegeben sind, aber: Ähnlich einem Spiel wie Stein, Schere, Papier - das weltweit in gleicher Art und Weise gespielt wird - bilden sich in zahlreichen Industrien ebenfalls Spielregeln und Abfolgen von Verhaltensweisen heraus, welche die genannten Bedingungen gut erfüllen und aus Managementperspektive spieltheoretisch analysierbar sind (Birshan und Kar 2012 sowie Brandenburger und Nalebuff 1995). Auch aufgrund der Erkenntnisse begrenzter Rationalität (► Kapitel 3) ist ein neuer Zweig als Behavioral Game Theory entstanden, der insbesondere die auf Routinen und dem Festhalten an Überzeugungen oder bisherigen Erfolgsmustern basierenden Strategien im Rahmen von Experimenten überprüft - ökonomische Labore wie VIRTECOLAB versuchen hier Muster der Abweichungen von den bei vollständiger Rationalität zu erwartenden Ergebnissen zu identifizieren, die gerade für Entscheidungen in Unternehmen hohe Relevanz haben (Mailath 1998, Camerer 2003, Bonau 2017 und  virtecolab.com). Aus praxisorientierter Perspektive genügt für die Anwendung von Spieltheorie oftmals eine Liste der Spieler (Aldi, Lidl, …), eine Beschreibung möglicher Strategien (Preise, Qualität, Werbung, ...), eine Einschätzung der Auszahlungen oder Gewinne beim Zusammenspiel verschiedener Strategien (wenn Aldi die Preise senkt und Lidl nicht: Was passiert mit den jeweiligen Gewinnen? ) und eine Kenntnis der industriespezifischen Regeln des Spiels. Die tatsächliche Anwendung bleibt aber aufgrund anspruchsvoller Datenerfordernisse auf  große Unternehmen in Oligopolen  für strategisch wesentliche Entscheidungssituationen beschränkt, ermöglicht in diesen Fällen aber  eine Plausibilisierung möglicher Strategien und deren potenziellen Rückwirkungen, Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 308  weitreichenden Erkenntniszuwachs über die strategische Wettbewerbssituation und eine Ableitung und Bewertung industriespezifischer strategischer Wettbewerbsvorteile und stellt sich oft als sehr wirkungsvoll heraus (Lindstädt und Müller 2009).  Lernziele Dieses Kapitel beschäftigt sich mit  grundlegenden spieltheoretischen Überlegungen und Konzepten zur Analyse strategischer Entscheidungssituationen,  Lösungen für simultane Spiele auf Basis von dominanten Strategien und besten Antworten in Form von Nash-Gleichgewichten in reinen und gemischten Strategien,  Gründe für Stabilität und Instabilität von Absprachen in wiederholten Spielen,  Auswirkungen von Risikoaversion sowie sequentiellen Spielen und der Ermittlung von glaubwürdigen teilspielperfekten First-Mover-Strategien. 9.1 Nash-Gleichgewichte in simultanen Spielen Spiele können per se anhand mathematischer Formeln für eine beliebige Zahl an Strategien und Spielern beschrieben werden. Eine grundlegende Darstellung simultaner Spiele für zwei Spieler kann aber auch wie in ► Abbildung 9.2 anhand der sogenannten strategischen Normalform erfolgen. Um einige grundlegende spieltheoretische Begriffe zu etablieren, ist das bekannte Spiel Stein, Schere, Papier zwischen zwei Spielern in einer Matrix abgebildet. Spieler 1 ist der Zeilenspieler, seine Strategien Stein, Schere oder Papier sind in drei Zeilen angeordnet. Spieler 2 ist der Spaltenspieler, entsprechend sind die Strategien in drei Spalten angeordnet. In Abhängigkeit der Wahl der Strategie beider Spieler kommt eine Strategiekombination zustande, bspw. Spieler 1: Stein/ Spieler 2: Papier - bei einer solchen Strategiekombination erhält der Spieler 1 null Punkte, der Spieler 2 einen Punkt. Für alle möglichen Strategiekombinationen sind in der Auszahlungsmatrix (in diesem Fall mit neun möglichen Feldern) die jeweiligen Auszahlungen für beide Spieler wiedergegeben. Das Spiel Stein, Schere, Papier ist ein simultanes Spiel - d.h., die Spieler entscheiden und zeigen die jeweilige Strategie zum selben Zeitpunkt. Wäre Stein, Schere, Papier ein sequentielles Spiel, würde zunächst einer der Spieler seine Strategie zeigen, danach würde der andere entscheiden - Stein, Schere, Papier ist als sequentielles Spiel offensichtlich einfach zu gewinnen, die optimale Strategie im simultanen Spiel wird am Ende dieses Abschnitts beschrieben. Nash-Gleichgewichte in simultanen Spielen 309 Abbildung 9.2: Stein, Schere, Papier-Matrix als Spiel in Normalform. Um allgemein Lösungen für simultane Spiele zu ermitteln, werden für jede Strategiekombination die Auszahlungen (typischerweise angegeben als Gewinne in statischer Betrachtung wie in ► Abbildung 9.3 links oder als Discounted Cashflow in dynamischer Betrachtung) ermittelt und dann in geeigneter Weise verglichen, um in Abhängigkeit der Strategieoptionen des Gegenspielers die jeweils optimale eigene Strategie zu identifizieren. Wenn beide Spieler in der Lage sind, identische Versionen eines Spiels zu zeichnen, und wechselseitig davon ausgehen, dass der andere dies auch kann, liegen symmetrische vollständige Informationen (Common Knowledge) betreffend Spielstruktur und Auszahlungsmatrix vor. Schere Schere Papier Stein Stein Papier Spieler 1 (Zeilenspieler) Spieler 2 (Spaltenspieler) 0 0 1 0 0 0 1 0 0 0 1 1 0 0 1 1 0 0 Gewinn für Spieler 2, wenn er die Strategie Papier wählt und Spieler 1 die Strategie Stein wählt Spieler Strategien Auszahlungen Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 310 Abbildung 9.3: Auszahlungen und Strategien in Normalform-Spielen. Um reale Wettbewerbssituationen in Spielen abzubilden, ist erheblicher Marktforschungs- und Datenanalyseaufwand notwendig, aber im Prinzip kann ein einfaches Vorgehen, wie in ► Abbildung 9.3 rechts skizziert, erfolgen. Zunächst ermittelt man die relevanten Spieler, in diesem Fall Aldi und Lidl, und gruppiert die maßgeblich den Gewinn beeinflussenden Strategien (hier bspw. die Zahl und Größe der Filialen aus unterschiedlichen Regionen) sowie die Auszahlungen (hier die prognostizierten Gewinne entsprechend der bisherigen GuV und weiterführender empirischer Analysen) in den jeweiligen Strategiekombinationen: Bspw. beträgt der Gewinn von kleinen Aldi-Filialen in Regionen, in denen Lidl große Filialen betreibt, 1,1 Mio. pro Jahr EUR. Auf dieser Basis können dann Strategien bewertet und Business Cases entwickelt werden, um optimale Strategien wie nachfolgend beschrieben zu identifizieren. Wenn Spieler aus ihren möglichen Strategien eine einzelne auswählen, liegen reine Strategien vor, wenn Spieler mehrere Strategien kombinieren, liegen gemischte Strategien vor. Dominante Strategien In ► Abbildung 9.4 links oben ist eine reduzierte Wettbewerbssituation zwischen Coke und Pepsi beschrieben, in der beide Unternehmen nur die Wahl zwischen zwei Strategien haben: Werbung oder keine Werbung. In der Auszahlungsmatrix sind die Gewinne der beiden Unternehmen für alle denkbaren Strategiekombinationen abgebildet - sollten beide Unternehmen bspw. keine Werbung wählen, beträgt der Gewinn von Pepsi 10, der Gewinn von Coke 2. Beide Unternehmen können ihre Gewinne wesentlich durch Werbeausgaben beeinflussen, der individuelle Gewinn hängt aber von der Strategie des anderen Spielers ab - welches ist die beste Strategie für Coke, welches die für Pepsi? Strategie B von Spieler 1 Strategie A von Spieler 1 Strategie C von Spieler 2 Strategie D von Spieler 2 Spieler 1 Spieler 2 π (2) 1A/ 2C π (1) 1A/ 2C π (2) 1A/ 2D π (1) 1A/ 2D π (2) 1B/ 2D π (1) 1B/ 2D π (2) 1B/ 2C π (1) 1B/ 2C Gewinn des Spielers 1 für die Strategiekombination: Spieler 1 spielt B, Spieler 2 spielt C theoretische Abbildung eines Spiels in (strategischer) Normalform kleine Filialen große Filialen große Filialen kleine Filialen Aldi Lidl -0,4 -0,1 0,4 3,9 0,7 0,8 4,2 1,1 durchschnittlicher Gewinn 2015 von Aldi in Regionen mit kleinen eigenen Filialen, in denen Lidl große Filialen betreibt empirische Daten der Filialstrategie und Gewinne von Aldi und Lidl 2015 Nash-Gleichgewichte in simultanen Spielen 311 Abbildung 9.4: Werbung versus keine Werbung bei Coke und Pepsi. Pepsi ist der Zeilenspieler - entsprechend vergleicht Pepsi in ► Abbildung 9.4 links unten zeilenweise die eigenen Gewinne in Abhängigkeit möglicher Strategien von Coke. Sollte Coke Werbung machen, ist es für Pepsi die beste Strategie, auch Werbung zu machen, denn der Gewinn von 10 in der Strategiekombination Pepsi: Werbung/ Coke: Werbung übertrifft den Gewinn von 5 in der Strategiekombination Pepsi: keine Werbung/ Coke: Werbung. Betreibt Coke keine Werbung, ist es für Pepsi die beste Strategie, Werbung zu machen, denn jetzt beträgt der Gewinn 15 in der Strategiekombination Pepsi: Werbung/ Coke: keine Werbung gegenüber einem Gewinn von 10 in der Strategiekombination Pepsi: keine Werbung/ Coke: keine Werbung. Unabhängig davon was Coke tut, ist es für Pepsi offenbar immer besser, Werbung zu betreiben - Pepsi wird daher in jedem Fall Werbung machen, da diese Strategie eindeutig überlegen ist: Für Pepsi ist Werbung somit eine dominante Strategie, die unabhängig von der strategischen Entscheidung des Gegenspielers in jedem Fall gewählt wird - die dominante Strategie Werbung dominiert eindeutig die Alternative keine Werbung. keine Werbung Werbung Werbung keine Werbung Pepsi Coke 5 10 0 15 2 10 8 6 Ausgangssituation keine Werbung Werbung Werbung keine Werbung Pepsi Coke 5 10 0 15 2 10 8 6 Vergleich der Strategien durch Coke (Spaltenspieler) Werbung keine Werbung keine Werbung Werbung Pepsi Coke 5 10 0 15 2 10 8 6 Vergleich der Strategien durch Pepsi (Zeilenspieler) Werbung keine Werbung keine Werbung Werbung Pepsi Coke 5 10 0 15 2 10 8 6 Zusammenführung der Strategien 1 2 3 4 Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 312 Coke ist der Spaltenspieler - entsprechend vergleicht Coke in ► Abbildung 9.4 rechts oben spaltenweise die Gewinne in Abhängigkeit der Strategien von Pepsi. Auch für Coke gilt: Werbung ist in jedem Fall die überlegene Strategie. D.h., auch Coke besitzt eine dominante Strategie, die unabhängig von der Entscheidung von Pepsi immer gewählt wird. Werbung ist in diesem Beispiel offenbar für beide Unternehmen eine dominante Strategie. In diesem Spiel (dieser Wettbewerbskonstellation) werden beide Unternehmen immer die Strategie Werbung wählen. Die Spieler haben keinen Anreiz, ihre gewählte Strategie zu verändern: Wenn einer der beiden Spieler von seiner dominanten Strategie abweicht, unter der Bedingung, dass der andere Spieler seine dominante Strategie beibehält, stellt er sich schlechter. Pepsi’s Gewinn geht beim Wechsel von Werbung auf keine Werbung von 10 auf 5 zurück, Coke’s Gewinn würde von 5 auf 0 sinken. Die Konstellation zweier dominanter Strategien stellt eine stabile Strategiekombination dar. Das Ergebnis wird als Gleichgewicht in dominanten Strategien bezeichnet - es ist ein Sonderfall eines Nash-Gleichgewichtes. Dominate Strategien sind die einfachste spieltheoretische Strategiewahl und Lösung für simultane Spiele. Dominante Strategien und beste Antworten Etwas komplexer ist die Situation zwischen Unilever und L’Oréal, wie in ► Abbildung 9.5 betreffend einer Neuprodukteinführung beschrieben. Betrachtet man die Auszahlungsmatrix zunächst zeilenweise aus Perspektive von L’Oréal, so ergibt sich, dass L’Oréal keine dominante Strategie hat: Würde Unilever das Neuprodukt einführen, dann würde L’Oréal ebenfalls das Neuprodukt einführen (Gewinn von 10 größer als Gewinn von 6) - führt Unilever kein Neuprodukt ein, würde L’Oréal dies ebenfalls nicht tun (Gewinn von 15 kleiner als Gewinn von 20). Die optimale Strategie von L’Oréal hängt somit von der Strategie von Unilever ab. Um eine Entscheidung zu treffen, kann L’Oréal allerdings das Spiel aus Perspektive von Unilever betrachten, um zu ermitteln, was der Wettbewerber tun wird: Unilever hat eine dominante Strategie in Form der Neuprodukteinführung (die auch für L’Oréal aus der Auszahlungsmatrix identifiziert werden kann), so dass Unilever diese Strategie unabhängig von der Entscheidung von L’Oréal in jedem Fall wählen wird. L’Oréal kann sich daran orientieren und auf dieser Basis entscheiden, selbst ebenfalls Werbung zu wählen. Eine derartige Strategiewahl wird als beste Antwort bezeichnet, da in Abhängigkeit der Entscheidung des Gegenspielers die bestmögliche Alternative ausgewählt wird. Die Kombination aus dominanter Strategie und bester Antwort ist wiederum stabil - keiner der Spieler hat einen Anreiz von seiner Strategie abzuweichen gegeben die Strategie des Gegenspielers - und stellt den zweiten Sonderfall eines Nash-Gleichgewichtes dar. Nash-Gleichgewichte in simultanen Spielen 313 Abbildung 9.5: Dominante Strategie und beste Antwort. Nash-Gleichgewicht in besten Antworten Der allgemeine Fall eines Nash-Gleichgewichtes basiert auf wechselseitig besten Antworten der Wettbewerber (Nash 1950 und 1951). In ► Abbildung 9.6 ist die Wettbewerbssituation zwischen Volkswagen und Toyota betreffend dem Aufbau von Produktionskapazität einer neuen Fabrik in Mexiko beschrieben. Beide Unternehmen können jeweils zwischen einer kleinen, mittleren und großen Fabrik entscheiden, deren Größe kurzfristig nicht angepasst werden kann. In ► Abbildung 9.6 links oben ist zu erkennen, dass keines der Unternehmen eine dominante Strategie besitzt: Weder eine Zeile von Toyota noch eine Spalte von Volkswagen ist eindeutig vorzuziehen. In einer solchen Situation muss nun jedes Unternehmen auf alle denkbaren Strategien des Wettbewerbers die besten Antworten identifizieren. Volkswagen - rechts oben in ► Abbildung 9.6 - ermittelt die beste Antwort auf jede mögliche Fabrikgröße von Toyota:  Würde Toyota eine kleine Fabrik aufbauen, ist die beste Antwort von Volkswagen eine mittelgroße Fabrik, denn der Gewinn von 125 übersteigt den Gewinn bei einer kleinen oder einer großen Fabrik mit jeweils 105.  Falls Toyota eine mittelgroße Fabrik aufbaut, ist die beste Antwort von Volkswagen ebenfalls eine mittelgroße Fabrik, denn der Gewinn von 100 übersteigt den Gewinn bei einer kleinen Fabrik in Höhe von 85 oder einer großen Fabrik von 70.  Baut Toyota eine große Fabrik, ist die beste Antwort von Volkswagen eine kleine Fabrik, denn der Gewinn von 50 übersteigt den Gewinn einer mittleren Fabrik in Höhe von 40 oder einer großen Fabrik von 0. kein Neuprodukt Neuprodukt Neuprodukt kein Neuprodukt L’Oreal Unilever 5 10 0 15 2 20 8 6 Zusammenführung der Strategien kein Neuprodukt Neuprodukt Neuprodukt kein Neuprodukt L’Oreal Unilever 5 10 0 15 2 20 8 6 Ausgangssituation 1 2 Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 314 Abbildung 9.6: Wechselseitige beste Antworten und Nash-Gleichgewicht. In gleicher Weise kann - links unten in ► Abbildung 9.6 - die Situation aus Perspektive von Toyota betrachtet werden:  Würde Volkswagen eine kleine Fabrik aufbauen, ist die beste Antwort von Toyota eine mittelgroße Fabrik, denn der Gewinn von 125 übersteigt den Gewinn bei einer kleinen Fabrik oder einer großen Fabrik mit jeweils 105.  Falls Volkswagen eine mittelgroße Fabrik aufbaut, ist die beste Antwort von Toyota ebenfalls eine mittelgroße Fabrik, denn der Gewinn von 100 übersteigt den Gewinn bei einer kleinen Fabrik in Höhe von 85 oder einer großen Fabrik von 70.  Baut Volkwagen eine große Fabrik, ist die beste Antwort von Toyota eine kleine Fabrik, denn der Gewinn von 50 übersteigt den Gewinn einer mittleren Fabrik in Höhe von 40 oder einer großen Fabrik von 0. mittel mittel groß klein klein groß Volkswagen 105 125 85 100 70 50 40 0 50 105 85 105 125 100 40 105 70 0 Toyota Ausgangssituation mittel mittel groß klein klein groß Volkswagen 105 125 85 100 70 50 40 0 50 105 85 105 125 100 40 105 70 0 Toyota beste Antworten von Volkswagen mittel mittel groß klein klein groß Volkswagen 105 125 85 100 70 50 40 0 50 105 85 105 125 100 40 105 70 0 Toyota Zusammenführung der besten Antworten 1 2 mittel mittel groß klein klein groß Volkswagen 105 125 85 100 70 50 40 0 50 105 85 105 125 100 40 105 70 0 Toyota beste Antworten von Toyota 3 4 Nash-Gleichgewichte in simultanen Spielen 315 Kombiniert man in ► Abbildung 9.6 rechts unten die jeweils besten Antworten der beiden Unternehmen, ergibt sich im Schnittpunkt der besten Antworten ein Nash-Gleichgewicht: Beide Unternehmen werden aus der Analyse des Spieles heraus wechselseitig die Entscheidung für eine mittelgroße Fabrik treffen. In einem Nash-Gleichgewicht treffen sich die besten Antworten aller Spieler - kein Spieler hat einen Anreiz, von der gewählten Strategie abzuweichen, da er sich schlechter stellen würde. Damit ist die zu einem Nash-Gleichgewicht passende Strategie die individuell vorteilhafteste Entscheidung, die ein rationaler Spieler treffen kann. Das Nash-Gleichgewicht ist weder durch die Zahl der Spieler noch durch die Anzahl der möglichen Strategien begrenzt. Allerdings kann es mehr als ein oder auch gar kein Nash-Gleichgewicht in reinen Strategien geben und zudem sind oder handeln nicht alle Spieler vollständig rational - diese Fälle werden in den nächsten Abschnitten betrachtet. Multiple Nash-Gleichgewichte in besten Antworten und notwendige Selektionskriterien Die Wettbewerbssituation zwischen Roche und Novartis ist in ► Abbildung 9.7 wiedergegeben. Beide Unternehmen können über die Höhe der F&E-Aufwendungen für ein neues Medikament entscheiden. Abbildung 9.7: Multiple Nash-Gleichgewichte in besten Antworten. Zunächst ist zu erkennen, dass keines der Unternehmen eine dominante Strategie besitzt, da weder eine Zeile von Novartis noch eine Spalte von Roche eindeutig die besten Ergebnisse erbringt. Beide Unternehmen sind allerdings in der Lage, jeweils beste Antworten auf die Strategien des Konkurrenten zu identifizieren. An allen Stellen, an denen sich beste Antworten treffen, liegen wieder Nash-Gleichgewichte vor: In diesem Fall sind es zwei in den Strategiekombinationen Novartis: mittel/ Roche: mittel und Novartis: hoch/ Roche: niedrig. Aus Perspektive der beiden Unternehmen unterscheiden sich beide Nash-Gleichgewichte: Novartis hat eindeutig eine Präferenz für das Gleichgewicht bei Novartis: hoch/ Roche: niedrig, denn hier beträgt der Gewinn für Novartis 120. Roche hingegen präferiert das Gleichgewicht bei Novarmittel mittel hoch niedrig hoch Novartis Roche 80 125 80 90 75 60 50 20 60 100 90 100 90 50 120 75 30 70 multiple Nash- Gleichgewichte in besten Antworten mittel mittel hoch niedrig hoch Novartis Roche 80 125 80 90 75 60 50 20 60 100 90 100 90 50 120 75 30 70 Ausgangssituation 1 2 niedrig niedrig Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 316 tis: mittel/ Roche: mittel, denn hier beträgt der Gewinn für Roche 90. Beide Gleichgewichte wären für sich genommen stabil, aber es ist unklar, welches gewählt wird. In zahlreichen Spielen ergeben sich multiple Nash-Gleichgewichte - ohne weitere Annahmen oder Selektionskriterien (Harsanyi und Selten 1992 sowie Cooper et al. 1990) lässt sich hier zunächst nicht bestimmen, welches der möglichen Gleichgewichte zustande kommt. Selektionskriterien, die zur Auswahl eines der möglichen Gleichgewichte oder zur Koordination der Strategien auf eines der Gleichgewichte dienen, sind z.B.  das Verhalten oder gewählte Strategien der Vergangenheit in Form von Pfadabhängigkeiten fortzuführen oder bestimmte ‚übliche Strategien‘ (Focal Points) zu wählen,  ein allgemein akzeptiertes Rollenverständnis innerhalb der Industrie,  alle Formen expliziter und impliziter Kooperation oder Signaling und natürlich  risikoaverse Bewertung der Strategien oder die Wahl gemischter Strategien,  adaptives Verhalten oder sequentielle Entscheidungen. Allerdings ergibt die Analyse trotz der Unbestimmtheit der beiden Nash-Gleichgewichte für beide Unternehmen wesentliche Erkenntnisse: Aus ► Abbildung 9.7 rechts ist zu erkennen, dass keine Nash-Gleichgewichte für die Novartis-Strategie niedrig und für die Roche-Strategie hoch existieren - die Unternehmen können diese Zeile und Spalte vollständig aus ihren Überlegungen und strategischen Planungen ausklammern. Aus Managementperspektive ist ein zentraler Aspekt von Spieltheorie, dass durch Ermittlung von Nash-Gleichgewichten möglich wird, prinzipiell denkbare Strategien auszuschließen, sowohl eigene als auch diejenigen der Wettbewerber (Sutton 1990 und 1992 sowie Münter 1999), um robuste eigene Strategien zu entwickeln. Stabilität von Kooperationen und Absprachen Im Jahr 1974 planten das damals bereits etablierte Unternehmen Lego und der neu in den Spielwarenmarkt eintretende Wettbewerber Playmobil, Spielfiguren für Kinder auf den Markt zu bringen. Grundlegend hat sich die Situation wie in ► Abbildung 9.8 dargestellt. Wenn beide Unternehmen Figuren der gleichen Größe anbieten, entsteht eine hohe Wettbewerbsintensität, die jeweils zu Verlusten von -5 führt. Bieten dagegen beide Unternehmen unterschiedliche Figurengrößen an, kann jeder in seinem Marktsegment auf Basis reduzierter Wettbewerbsintensität Gewinne in Höhe von 10 erzielen. Es existiert für keines der Unternehmen eine dominante Strategie, aber beide Unternehmen können zwei Nash- Gleichgewichte auf Basis wechselseitig bester Antworten identifizieren. Offenbar ist für beide Unternehmen vorteilhaft, jeweils eine Strategie entgegengesetzt derjenigen des Wettbewerbers zu wählen. Nash-Gleichgewichte in simultanen Spielen 317 Abbildung 9.8: Koordination und Signaling. Um im Rahmen dieser einmaligen Entscheidung - mit hohem Investitionsbedarf - hier eine gewinnabsichernde Strategie zu wählen, gibt es per se drei Möglichkeiten: Koordination (d.h. verbotene Absprachen), sequentielle Entscheidungen oder Signaling. Tatsächlich haben sich beide Unternehmen für Signaling entschieden und im Vorfeld der Spielwarenmesse 1974 bereits Kataloge produzieren lassen. So war für beide Unternehmen im Vorfeld klar, was der Wettbewerber tun wird, und es konnten Gewinne erzielt werden. Diese implizite Absprache ist seither stabil, beide Unternehmen haben in den vergangenen mehr als 40 Jahren nie ihre Strategie betreffend der Größe der Spielfiguren geändert. Die Stabilität dieser impliziten Absprache Lego: klein/ Playmobil: groß basiert in Teilen darauf, dass die gewählte Strategiekombination ein Nash-Gleichgewicht ist. Instabilität von Absprachen und das Prisoner’s Dilemma In ► Abbildung 9.9 ist die Wettbewerbssituation und die Auszahlungen jeder Periode von zwei benachbarten Tankstellen Shell und Esso zu sehen - diese Situation wird im Rahmen wirtschaftspolitischer und soziologischer Analysen als Prisoner’s Dilemma („Gefangenendilemma“) beschrieben, hat aber eine strategische Komponente. Beide Unternehmen verfügen über zwei Preisstrategien - hohe Preise und niedrige Preise. Offensichtlich machen beide Unternehmen hohe Gewinne von 15, wenn beide hohe Preise verlangen, und niedrige Gewinne von 10, wenn beide niedrige Preise verlangen. Analysiert man das Spiel, so ergibt sich, dass beide Unternehmen eine dominante Strategie in Form niedriger Preise haben - so sind allerdings nur geringe Gewinne zu erzielen (► Abbildung 9.9 oben rechts). Wenn sich beide Tankstellen in einem einmaligen Spiel auf hohe Preise verabreden, hat diese Absprache keinen Bestand: In ► Abbildung 9.9 links unten ist zu sehen, dass beide Unternehmen jeweils einen Anreiz haben, von der Absprache abzuweichen, da der Gewinn durch eine Preissenkung von 15 auf 20 erhöht werden kann, wenn die andere Tankstelle den hohen Preis beibehält. Die im Prinzip kollektiv bevorzugten hohen Preise werden aufgrund von dominanten Individualinteressen keinen Bestand haben - die Absprache ist instabil aufgrund des Nash-Gleichgewichtes in einer anderen Strategiekombination. kleine Figuren große Figuren große Figuren kleine Figuren Playmobil LEGO -5 -5 10 10 -5 -5 10 10 Ausgangssituation kleine Figuren kleine Figuren große Figuren große Figuren Playmobil LEGO -5 -5 10 10 -5 -5 10 10 Multiple Nash- Gleichgewichte 1 2 Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 318 Abbildung 9.9: Instabilität von Absprachen. Dies gilt sowohl für einmalige Spiele wie auch für endlich wiederholte Spiele: Wenn die Wettbewerber eine letzte Spielrunde kennen, in der ein Anreiz zur Abweichung von der Absprache entsteht, werden sie in dieser letzten Spielrunde von einer zuvor bestehenden Kooperation abweichen. Da aber beide Spieler dies bei vollständiger Information und Rationalität vorhersehen, werden beide bereits in der vorletzten Runde abweichen - diese iterative Rückwärtsinduktion setzt sich entsprechend fort, so dass bei einem endlichen Spiel bereits in der ersten Spielrunde keine stabile Kooperation zustande kommt. Um Stabilität in einer Absprache oder Kooperation herzustellen, sind spieltheoretisch drei Möglichkeiten gegeben:  ein unendliches Spiel, in dem keine letzte Spielrunde existiert - so hat keiner der Spieler einen Anreiz, in einer letzten Spielrunde abzuweichen, hohe Preise niedrige Preise niedrige Preise hohe Preise Shell Esso 10 10 6 20 15 15 20 6 10 Nash- Gleichgewicht in dominanten Strategien hohe Preise niedrige Preise niedrige Preise hohe Preise Shell Esso 10 10 6 20 15 15 20 6 10 Instabilität der Absprachen im einmaligen Spiel hohe Preise niedrige Preise niedrige Preise hohe Preise Shell Esso 10 10 6 20 15 15 20 6 10 Stabilität der Absprachen im wiederholten Spiel hohe Preise niedrige Preise niedrige Preise hohe Preise Shell Esso 10 10 6 20 15 15 20 6 Ausgangssituation 1 2 3 4 Nash-Gleichgewichte in simultanen Spielen 319  bindende Vereinbarungen mit Sanktionsmöglichkeiten zur Einhaltung der Kooperation, - die aber typischerweise durch wettbewerbspolitische Regelungen untersagt sind, oder aber  den Aufbau von Vertrauen in das kooperative Verhalten des Wettbewerbers. Gerade die letzte Möglichkeit des Aufbaus von Vertrauen spielt eine zentrale Rolle: Wenn in einem wiederholten Spiel einer der Spieler für den anderen sichtbar und nachvollziehbar vom Nash-Gleichgewicht abweicht, sich absichtlich schlechter stellt, bietet er dem anderen Spieler zwar einen temporär höheren Gewinn, aber insbesondere die Möglichkeit zur Kooperation an (vgl. auch ► Kapitel 3 zu Fairness im Ultimatumspiel). Wenn der andere Spieler dieses Angebot versteht und sich in der nächsten Spielrunde an das Verhalten anpasst und dieses Vertrauen wechselseitig nicht enttäuscht wird, kann auch in einem endlichen Spiel Kooperation möglich sein. Diese Lösung des reziproken Verhaltens wird häufig in algorithmenbasierten Computersimulationen und in Laborexperimenten mit Menschen als robuste Strategie beobachtet und als Tit for Tat bezeichnet (Axelrod und Hamilton 1981) und findet auch in der Biologie und Politik weitreichend empirische Bestätigung. Begrenzte Rationalität und das Erreichen eines Nash-Gleichgewichtes Ein Nash-Gleichgewicht erscheint zwar aus strategischer und logischer Perspektive plausibel, stellt aber entsprechend hohe Anforderungen an die Rationalität der Spieler, insbesondere an deren kognitive Fähigkeiten. Um dies zu verdeutlichen, kann man das Guessing- Numbers-Spiel heranziehen (Ledoux 1981, Nagel 1995 sowie Duffy und Nagel 1997). In diesem Spiel gelten für eine beliebige Zahl an Spielern folgende Regeln:  Jeder Spieler kann eine ganzzahlige Zahl von 0 bis 100 als Strategie wählen, so dass jeder Spieler aus 101 möglichen Strategien auswählen kann.  Alle Strategien werden geheim und simultan genannt und notiert, addiert und der abgerundete ganzzahlige Mittelwert berechnet.  Gewinner ist der Spieler, dessen Strategie am nächsten an 2/ 3 dieses Mittelwertes liegt. Wenn bspw. der Mittelwert aller von den Spielern genannten Strategien 45,3 beträgt, dann ist die siegreiche Strategie diejenige, die am nächsten an 2/ 3 ⋅ 45,3 30 liegt. Aus spieltheoretischer Perspektive lässt sich das Spiel einfach lösen:  Zunächst sind alle Strategien größer 66 durch schwache Dominanz ausgeschlossen - denn selbst wenn alle Spieler die Zahl 100 nehmen würden, ist wegen 2/ 3 ⋅ 100 66,67 die siegreiche Strategie maximal 66 - kein rationaler Spieler würde eine Zahl größer 66 wählen.  Würde man annehmen, dass alle Spieler zufällig irgendeine Zahl von 0 bis 100 wählen, dann beträgt der Mittelwert 50 und wegen 2/ 3 ⋅ 50 33,33 die siegreiche Strategie 33.  Würden - bei vollständiger Rationalität und Voraussicht der Aktionen der anderen Spieler - alle Spieler das Ergebnis von 33 wählen, wäre wegen 2/ 3 ⋅ 33 22 die siegreiche Strategie allerdings 22 . Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 320  Diese Überlegung setzt sich entsprechend iterativer Eliminierung möglicher Strategien fort, bis schließlich alle Spieler die 0 wählen - die tatsächlich in diesem Spiel das einzige Nash-Gleichgewicht darstellt - und auch alle Spieler gewinnen. Tatsächlich gewinnen im Rahmen von Experimenten zum Guessing-Numbers-Spiel - nahezu unabhängig der Ausbildung, des Alters der Teilnehmer oder der Vorkenntnis des Spiels - meist Spieler mit Strategien zwischen 15 bis 25 dieses Spiel. Der Grund hierfür ist zweigeteilt: Einerseits sind einige Spieler nicht in der Lage, die Lösung des an sich einfachen Spiels zu erkennen, andererseits erkennen kluge Spieler die begrenzten kognitiven Fähigkeiten und die unzureichende Tiefe der Durchdringung des Problems der Mitspieler - in der Konsequenz wird dann selbst ein vollständiger rationaler Spieler nicht die 0 wählen, denn er weiß, dass er aufgrund der „falschen Strategien“ der begrenzt rationalen Spieler mit der 0 nicht gewinnen kann: Er wird stattdessen eine Annahme über die Verteilung des Grades an Rationalität der Mitspieler treffen und auf dieser Basis seine Strategie wählen. Dieses Spiel zeigt insbesondere den Unterschied zwischen der vollständigen Rationalität eines Spielers und der kollektiv eingeschränkten Rationalität aufgrund ggfs. begrenzt rationalen Verhaltens einzelner oder aller Spieler. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, weshalb in Laborexperimenten oft ein relativ langer und langsamer Annäherungsprozess an ein theoretisch sofort adaptierbares Nash- Gleichgewicht beobachtet wird. Klar ist, dass in empirischen Untersuchungen realer Märkte und Wettbewerbssituationen - die eine deutlich höhere Komplexität und weniger klare Regeln als das Guessing-Numbers-Spiel aufweisen - oft keine stabilen Nash-Gleichgewichte identifiziert werden können (Aiginger 1998). Damit ergibt sich aus Managementperspektive, dass zum einen das Nash-Gleichgewicht zwar als möglicher Zielpunkt in strategischem Wettbewerb dient, aber das Erreichen des Gleichgewichts und die Konvergenz der Strategien vom Grad der Rationalität und der Geschwindigkeit des Lernens der Wettbewerber abhängt (Holt 1993, Mailath 1998, Foss 2001, Armstrong und Huck 2010 sowie Crawford 2013). Allerdings zeigt sich, das formale spieltheoretische Ausbildung und Erfahrung in strategischen Entscheidungssituationen die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht, Entscheidungen konsistent mit Nash-Gleichgewichten zu treffen (Brandenburger und Nalebuff 1995 sowie Camerer 2003). 9.2 Risikoaversion und gemischte Strategien Im vorangegangenen Abschnitt wurde klar, dass Spiele mehr als ein Nash-Gleichgewicht besitzen können. Um hier aus Managementperspektive Entscheidbarkeit herzustellen, ist die Anwendung erweiterter Konzepte auf Basis von Selektionskriterien möglich. Risikoaversion und Maximin-Strategie In vielen Wettbewerbssituationen können nicht alle Parameter erfasst werden, zudem sind vielleicht Zweifel an der vollständigen Rationalität des Gegenspielers angebracht. Alle diese Faktoren tragen dazu bei, dass ein oder alle Spieler risikoavers entscheiden - es geht dann nicht mehr darum, ein bestmögliches Ergebnis zu erreichen, sondern darum mögliche Risikoaversion und gemischte Strategien 321 Verluste zu minimieren (► Kapitel 3). In ► Abbildung 9.10 links ist der Wettbewerb zwischen SAP und Oracle auf Basis einer Investition für ein neues Datenbanksystem zu sehen. SAP hat eine dominante Strategie in investieren, Oracle hat keine dominante Strategie, kann aber als beste Antwort ebenfalls investieren ermitteln, so dass ein Nash-Gleichgewicht mit Oracle: investieren/ SAP: investieren zustande kommt. Abbildung 9.10: Nash-Gleichgewicht und Risikoaversion. Die mit dem Nash-Gleichgewicht konsistente Strategie führt für Oracle zu einem Gewinn von 20. Sollte allerdings SAP - aus irgendeinem Grund - nicht investieren, dann droht Oracle ein beträchtlicher Verlust von -100. Vor diesem Hintergrund kann Oracle, bei begründeter Risikoaversion, nun eine vorsichtige Strategie wählen: Oracle ermittelt für jede denkbare Strategie das schlechteste Ergebnis - und wählt dann aus diesen schlechtesten Ergebnissen das beste aus, also das „kleinste Übel“. Diese Strategie bei Risikoaversion wird als Maximin-Strategie bezeichnet: Ein risikoaverser Spieler betrachtet die Minima seiner Strategien und wählt daraus das Maximum aus. In ► Abbildung 9.10 rechts ist diese Maximin-Strategie für beide Spieler angewendet: Oracle wählt auf Basis des Maximums aus den Minima -10 und -100 der Zeilen die Strategie nicht investieren, SAP wählt entsprechend im Vergleich von 0 und 10 weiterhin die Strategie investieren. Es kommt nun eine neue Lösung zustande: Oracle: nicht investieren/ SAP: investieren. Zwar macht Oracle jetzt einen geringen Verlust, aber dieser wird aufgrund der Risikoaversion dem potenziellen großen Verlust vorgezogen - die Differenz zwischen 20 und -10 kann als Risikoprämie aufgefasst werden, um einen möglichen Verlust von -100 zu verhindern. Da Vorstände im Allgemeinen aufgrund ihrer Vertragslaufzeit und Bonusregelungen eher risikoavers eingestellt sind, ist eine derartige Strategie nicht unüblich (Ross 2004 und Bolton et al. 2015). Im Fall von SAP ändert sich die Strategie nicht - der Grund ist, dass durch Risikoaversion eine dominante Strategie niemals verändert wird. Investieren Nicht investieren nicht investieren investieren 0 10 -100 -10 0 0 10 -10 10 20 0 -100 Oracle SAP Gleichgewicht bei Risikoaversion investieren nicht investieren nicht investieren investieren 0 0 10 -10 10 0 -100 Oracle SAP 20 Nash- Gleichgewicht 1 2 Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 322 Im zweiten Beispiel in ► Abbildung 9.11 wird die strategische Bedeutung von Risikoaversion im Vergleich zu einer Strategie auf Basis des Nash-Gleichgewichtes deutlich: Ohne Risikoaversion investieren GSK und Pfizer jeweils ein hohes F&E-Budget, im Nash-Gleichgewicht übertrifft der Gewinn von Pfizer den Gewinn von GSK deutlich. Abbildung 9.11: Strategischer Einsatz von Risikoaversion. Sollte GSK mit einer - begründeten und für Pfizer glaubwürdigen - Ad-hoc-Meldung am Kapitalmarkt signalisieren, dass aufgrund der konjunkturellen oder politischen Situation derzeit große Unsicherheit auf den Märkten herrscht, und beide Unternehmen daraufhin risikoavers agieren und die Maximin-Regel anwenden, verschieben sich die Gewinne zugunsten von GSK: GSK hat dementsprechend ein hohes strategisches Interesse an risikoaversem Verhalten. Zudem kann - wie in ► Abbildung 9.12 zu sehen ist - Risikoaversion auch absolut die Gewinne beider Unternehmen erhöhen. Im Wettbewerb zwischen Kellogg’s und Nestlé bei Frühstückscerealien existiert offensichtlich kein Nash-Gleichgewicht - egal welchen Ausgangspunkt man in ► Abbildung 9.12 links wählt, immer wieder hat einer der Wettbewerber einen Anreiz, von der aktuellen Strategie abzuweichen, um sich besser zu stellen. In der Folge werden die vier Felder der Matrix wiederholt gegen den Uhrzeigersinn durchlaufen. 30 0 40 200 40 60 100 40 80 0 30 GlaxoSmithKline Pfizer 40 Gleichgewicht bei Risikoaversion 200 40 60 100 40 80 0 30 GlaxoSmithKline Pfizer Nash- Gleichgewicht 1 2 hohes F&E- Budget niedriges F&E-Budget hohes F&E- Budget niedriges F&E- Budget hohes F&E- Budget niedriges F&E-Budget hohes F&E- Budget niedriges F&E- Budget Risikoaversion und gemischte Strategien 323 Abbildung 9.12: Fehlendes Nash-Gleichgewicht und Risikoaversion. Sollten beide Unternehmen nun die Maximin-Regel anwenden, ergibt sich für Kellogg’s die Strategie knusprig, für Nestlé die Strategie süß - beide Unternehmen machen in diesem Fall einen Gewinn von jeweils 3. Zudem stellen sich beide Unternehmen mit risikoaversem Verhalten rechts sogar besser als in der Situation links: Beim Durchlaufen der vier Matrix-Felder beträgt der durchschnittliche Gewinn je Periode für Kellogg’s 1 3 2 5 / 4 2,75 , der durchschnittliche Gewinn von Nestlé beträgt 2 3 4 1 / 4 2,5 . Gemischte Strategien und zufällige Entscheidungen Die Analyse der Spiele zwischen Lego und Playmobil (► Abbildung 9.8) sowie der Wettbewerb zwischen Kellogg’s und Nestlé (► Abbildung 9.12) hat gezeigt, dass ggfs. mehrere oder kein Nash-Gleichgewicht in reinen Strategien existieren. Eine mögliche Lösung liegt hier in gemischten Strategien (Nash 1951) - ein Spieler entscheidet sich hier nicht für eine einzelne Strategie, sondern wählt zufällig verschiedene Strategien abwechselnd auf Basis einer Wahrscheinlichkeitsverteilung. Ein mittlerweile auch wissenschaftlich umfangreich untersuchtes spieltheoretisches Problem in diesem Zusammenhang ist der Elfmeter im Fußball. In ► Abbildung 9.13 ist die Situation zwischen Torwart und Schütze beim Elfmeter in stark vereinfachter Version dargestellt: Beide entscheiden absolut simultan, es gibt nur die Strategien rechts oder links, der Torwart hält den Ball definitiv, wenn er in der richtigen Ecke ist, der Schütze schießt niemals an Latte oder Pfosten oder gar daneben. Offensichtlich hat zunächst keiner der Kontrahenten eine dominante Strategie, allerdings führt auch die Analyse der besten Antworten zu keiner Lösung: In keinem Feld der Matrix treffen sich beste Antworten, so dass kein Nash-Gleichgewicht in reinen Strategien vorliegt. 1 1 2 2 süß knusprig knusprig süß Kellogg’s Nestlé 4 2 3 3 2 1 1 5 Gleichgewicht bei Risikoaversion süß knusprig süß Kellogg’s Nestlé 4 2 3 3 2 1 1 5 kein Nash- Gleichgewicht knusprig Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 324 Abbildung 9.13: Torwart und Elfmeterschütze beim Elfmeter. Jeder der beiden Spieler kann nun aber zufällig eine seiner Strategien wählen - wenn beide dies mit je 50 % Wahrscheinlichkeiten tun, wird jedes der vier Felder in der Matrix mit 25 % Wahrscheinlichkeit realisiert und jeder Spieler ist mit 50 % seiner Strategien erfolgreich: Die Verteilung der Strategien stellt dann eine gemischte Strategie über die reinen Strategien dar. Die in derartigen Situationen zu wählende Wahrscheinlichkeitsverteilung muss drei einfachen Bedingungen genügen:  Die Wahrscheinlichkeiten über die Strategien hinweg muss deren relativer Erfolgswahrscheinlichkeit entsprechen,  die gewählten zufälligen Strategien dürfen kein erkennbares Muster aufweisen und  die Summe der Wahrscheinlichkeiten muss sich zu 1 ergänzen. Wenn statt der einfachen Wahrscheinlichkeiten bei zwei Möglichkeiten wie in ► Abbildung 9.13 detailliertere Verteilungen auf Basis bisherigen Verhaltens der Gegner bekannt sind, müssen Elfmeterschützen und Torwart die mit empirischen Wahrscheinlichkeiten gewichteten Strategien des aktuellen Gegners entsprechend berücksichtigen und auf dieser Basis ‚zufällig‘ entscheiden - unter Berücksichtigung dessen, dass der Torwart einem psychologischen Action Bias des Wegspringens aus der Mitte unterliegt (Chiappori et al. 2002, Bar-Eli et al. 2007, Azar und Bar-Eli 2011 und ► Kapitel 3). Allerdings ist eine Grundanforderung, dass die Wahl der Strategien tatsächlich zufällig erfolgt - um sich das klar zu machen, genügt ein Blick zurück auf Stein, Schere, Papier. Auch hier ist die theoretisch optimale Vorgehensweise, anhand einer gemischten Strategie Stein, Schere und Papier mit einer Wahrscheinlichkeit von je einem Drittel anzuwenden, aber natürlich nicht in dieser Reihenfolge, sondern zufällig abwechselnd. Wenn der Gegner in der Lage ist, ein Muster zu erkennen, und sich darauf einstellen kann, erhöht er seine Chancen, dieses Spiel zu gewinnen. Tatsächlich kann bspw. auf der Website der New York Times (  www.nytimes.com/ interactive/ science/ rock-paper-scissors) gegen einen fairen, aber lernfähigen Computer Stein, Schere, Papier gespielt werden. Ein menschlicher Spieler hat hier nur dann eine Chance, wenn er tatsächlich völlig zufällig entscheidet, d.h. weder die aktuelle eibeste Antworten Ausgangssituation 1 2 rechts links links rechts Torwart Elfmeterschütze 0 1 1 0 0 1 1 0 rechts links links rechts Torwart Elfmeterschütze 0 1 1 0 0 1 1 0 Sequentielle Entscheidungen und Commitment 325 gene noch die gegnerische Strategie noch deren Historie betrachtet und zur Entscheidungsfindung heranzieht. Dieses Ergebnis scheint die Einsatzmöglichkeiten der Spieltheorie einzuschränken, aber das Gegenteil ist der Fall: Aus der Analyse der Spielstruktur lässt sich für Spiele ohne Nash-Gleichgewichte in reinen Strategien als optimale Strategie der Zufall ableiten, in denen dann gemischte Strategien gewählt werden. Tatsächlich sind menschliche Spieler nicht sehr gut in der Lage, gemischte Strategien anzuwenden und rein zufällig zu entscheiden. Erstens neigen Menschen dazu, auch völlig zufälligen Ereignissen - wie bspw. den Strategien der Gegner - Bedeutung und Ursachen zuzuschreiben, zweitens ist das menschliche Gehirn nicht gut dafür geeignet, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen, und drittens erfordern aus Managementperspektive vermeintlich komplexe Entscheidungen in Unternehmen immer Begründungen und Erklärungen, selbst wenn Erfolg oder Misserfolg rein zufällig sind - so dass fortan ungewollt eine nicht zufällige Strategie verfolgt wird (Tversky und Kahneman 1974, Kahneman et al. 2011, Allred 2016 und Sibony et al. 2017). Dies gilt allerdings schon für ein triviales Spiel wie Stein, Schere, Papier: Auch hier sind Menschen nicht in der Lage, rein zufällig zu entscheiden, sondern psychologische Effekte und das vermeintliche oder tatsächliche Entdecken und Verstehen von Mustern dominieren die Entscheidungsfindung (Wang et al. 2014). 9.3 Sequentielle Entscheidungen und Commitment In allen bislang betrachteten Situationen haben die Spieler simultan Entscheidungen getroffen. In der Realität heißt das nicht notwendigerweise gleichzeitig, sondern es bedeutet, dass sich Entscheidungen von Wettbewerbern simultan im Zeitablauf entwickeln und konkretisieren, so dass faktisch nicht auf die Entscheidung eines Wettbewerbers zeitversetzt reagiert wird: Das Abwarten auf die Entscheidung würde ggfs. einen strategischen Wettbewerbsnachteil bedeuten. Allerdings gibt es Märkte und Industrien, in denen sich Wettbewerbsvorteile durch sequentielle Entscheidungen erzielen lassen - und zwar sowohl durch die Möglichkeit als erster zu entscheiden (First Mover Advantage) als auch durch die Möglichkeit abzuwarten (Second Mover Advantage) (Kopel und Löffler 2008). Die bisher verwendete strategische Normalform kann gut für einmalige, simultane oder statische Spiele verwendet werden. Sie ist allerdings unpraktisch zur Analyse sequentieller Entscheidungssituationen. Die extensive Form ermöglicht Entscheidungen entlang von Verzweigungen zu beschreiben und zu analysieren, in denen die Spieler einmalig nacheinander oder auch wiederholt nacheinander entscheiden. Die Normalform kann, wie in ► Abbildung 9.14 gezeigt, in die extensive Form überführt werden - Spieler 1 entscheidet hier bspw. als Erster über seine Strategie A oder B, Spieler 2 beobachtet diese Entscheidung und reagiert danach mit einer seiner Strategien C oder D in bestmöglicher Weise. Die möglichen Gewinne beider Spieler hängen von der Reihenfolge der Entscheidungen ab. Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 326 Abbildung 9.14: Strategische Normalform versus extensive Form. In einem sequentiellen Spiel kann ein Unternehmen den ersten Zug machen. Gründe hierfür können unter anderem sein:  eine Führungsrolle in der Vergangenheit,  die Kontrolle bestimmter Wettbewerbsparameter oder  Unternehmensgröße und eine marktbeherrschende Stellung (vgl. weiterführend auch ► Kapitel 10 zu Stackelberg-Marktführung). Ein Unternehmen kann aber auch eine strategische Führung aktiv anstreben, wenn es sich davon einen Vorteil verspricht und seine Gewinne erhöhen kann. Sequentielle Spiele werden deshalb durch iterative Rückwärtinduktion (Backward Induction) gelöst - man prüft von dem angestrebten Endergebnis herkommend, ob dieses für den Spieler tatsächlich erreichbar ist. In Abschnitt 9.2 ist anhand ► Abbildung 9.6 gezeigt, dass im simultanen Wettbewerb zwischen Volkswagen und Toyota ein Nash-Gleichgewicht auf Basis bester Antworten existiert, wenn beide Unternehmen eine mittelgroße Fabrik aufbauen - beide Unternehmen erzielen hier einen Gewinn von 100. Allerdings zeigt die Auszahlungsmatrix in ► Abbildung 9.6, dass Gewinne von 105 oder sogar 125 möglich sein könnten. Wenn Toyota jetzt diese Situation als sequentielles Spiel analysiert, um herauszufinden, ob diese höheren Gewinne erreichbar sind, stellt sich die extensive Form wie in ► Abbildung 9.15 dar. Toyota kann zunächst über die Größe der Fabrik (k=klein, m=mittel, g=groß) entscheiden, Volkswagen kann danach darauf mit den gleichen Strategien reagieren. Tatsächlich existieren für Toyota drei mögliche Ergebnisse, in ► Abbildung 9.15 durch Pfeile gekennzeichnet, die den Gewinn im Vergleich zum simultanen Spiel erhöhen:  Pfad 1: Toyota beginnt mit einer kleinen Fabrik - der Gewinn würde auf 105 ansteigen, wenn Volkswagen mit einer kleinen Fabrik reagiert. Spieler 2 Strategie A Spieler 1 Gewinne 1 / 2 Strategie B π (1) 1A/ 2C π (2) 1A/ 2D π (2) 1B/ 2D π (1) 1B/ 2D π (2) 1B/ 2C π (1) 1B/ 2C extensive Form Strategie C Strategie D Strategie C Strategie D π (2) 1A/ 2C π (1) 1A/ 2D Spieler 1 Spieler 2 π (2) 1A/ 2C π (1) 1A/ 2C π (2) 1A/ 2D π (1) 1A/ 2D π (2) 1B/ 2D π (1) 1B/ 2D π (2) 1B/ 2C π (1) 1B/ 2C strategische Normalform Strategie A von Spieler 1 Strategie B von Spieler 1 Strategie C von Spieler 2 Strategie D von Spieler 2 Sequentielle Entscheidungen und Commitment 327  Pfad 2: Toyota beginnt mit einer mittleren Fabrik - der Gewinn würde auf 125 ansteigen, wenn Volkswagen mit einer kleinen Fabrik reagiert.  Pfad 3: Toyota beginnt mit einer großen Fabrik - der Gewinn würde auf 105 ansteigen, wenn Volkswagen mit einer kleinen Fabrik reagiert. Abbildung 9.15: Wettbewerb zwischen Toyota und Volkswagen als sequentielles Spiel. Um dieses sequentielle Spiel zu lösen, betrachtet man die möglichen Reaktionen von Volkswagen auf diesen ersten Schritt von Toyota. Tatsächlich werden Pfad 1 und Pfad 2 nicht in der von Toyota beabsichtigten Weise zustande kommen: Wenn Toyota mit einer kleinen Fabrik beginnt, wird Volkswagen im Vergleich der eigenen möglichen Gewinne mit einer mittelgroßen Fabrik reagieren - so erhöht Volkswagen den Gewinn, aber nicht Toyota. Entlang von Pfad 2 wird Volkswagen ebenfalls nicht wie von Toyota angestrebt reagieren: Volkswagen wird als Reaktion auf eine mittelgroße Toyota Fabrik ebenfalls eine mittelgroße Fabrik bauen und das Nash-Gleichgewicht aus dem simultanen Spiel realisieren. Wenn Toyota allerdings mit einer großen Fabrik beginnt, ist die beste Reaktionsmöglichkeit von Volkswagen tatsächlich die Wahl einer kleinen Fabrik - hier sind aus Perspektive von Volkswagen die Gewinne mit 50 größer als bei einer Reaktion mit einer mittleren oder kleinen Fabrik. Damit entsteht für Toyota ein First Mover Advantage, d.h. ein Vorteil des ersten Zuges - durch diesen ersten Schritt kann Toyota den Gewinn von 100 in einem simultanen Spiel auf 105 im sequentiellen Spiel erhöhen, weil Volkswagen zu einer Änderung der Strategie im Vergleich zum simultanen Spiel gezwungen wird. In ► Abbildung 9.16 ist dieses Ergebnis abgebildet. Ein derartiges Gleichgewicht wird als teilspielperfektes Gleichgewicht bezeichnet, da die Entscheidungen der zweiten Stufe konsistent (sequentiell rational) mit den Entscheidungen der ersten Stufe erfolgen - der Spieler der ersten Stufe nimmt die Entscheidung des Spielers auf der zweiten Stufe bei perfekter Information (der Spieler der zweiten Stufe kennt die Entscheidung des Spielers auf der ersten Stufe) und vollständiger Rationalität vorweg. k g m k g m k g m k g m 105 / 105 85 / 125 50 / 105 125 / 85 100 / 100 40 / 70 105 / 50 70 / 40 0 / 0 Toyota Gewinne T / VW Volkswagen Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 328 Abbildung 9.16: Teilspielperfekte First-Mover-Strategie von Toyota. Strategische Eintrittsbarrieren und glaubwürdige Drohungen Die Analyse sequentieller Entscheidungen hat insbesondere dann Relevanz, wenn ein Unternehmen bereits im Markt etabliert ist und ein anderes Unternehmen in diesen Markt eintreten möchte. Anhand eines sequentiellen Spiels können dann Möglichkeiten und Plausibilität von strategischen Eintrittsbarrieren analysiert werden. Tesla versucht aktuell massiv in den deutschen Markt einzutreten, etablierte Hersteller wie BMW versuchen dies zu unterbinden (Süddeutsche Zeitung 30. Juni 2017). Die von etablierten Unternehmen in dieser Situation häufig argumentierte Strategie ist, im Fall des Markteintritts eines neuen Wettbewerbers die vorhandenen Kapazitäten auszudehnen - somit mehr zu produzieren -, um den möglichen Marktanteil des neuen Wettbewerbers zu begrenzen. Zudem werden in der Folge einer Ausweitung des Angebots auch die Preise gesenkt, so dass Gewinne nur entstehen können, wenn ein Unternehmen Economies of Scale realisiert - auch dies soll mögliche neue Wettbewerber, die aufgrund geringer Größe keine signifikanten Economies of Scale aufweisen, vom Markteintritt abschrecken. In ► Abbildung 9.17 ist eine derartige Situation schematisch als sequentielles Spiel abgebildet. In der Ausgangssituation - vor einem Markteintritt von Tesla - macht BMW offenbar einen Gewinn in Höhe von 100, sollte Tesla in den Markt eintreten, gehen die Gewinne von BMW aufgrund der höheren Wettbewerbsintensität allerdings auf 40 zurück. Markteintrittssperren funktionieren dann, wenn ein etabliertes Unternehmen ein potenziell eintretendes Unternehmen vom Eintritt abhalten kann, weil dessen Markteintritt unprofitabel wäre. In ► Abbildung 9.17 ist allerdings zu sehen, dass eine derart argumentierte Eintrittssperre durch BMW nicht glaubwürdig ist: Das etablierte Unternehmen würde offensichtlich auch bei einem Markteintritt von Tesla hohe Preise beibehalten wollen (und die Menge nicht ausweiten), da die eigenen Gewinne von 40 bei Beibehaltung der Menge die Gewinne von 20 bei einer Ausdehnung der Produktion übersteigen - Tesla hingegen würde in jedem Fall in den Markt eintreten, denn deren Gewinne sind bei Markteintritt mit 20 oder 40 immer positiv. In diesem Fall ist k g m k g m k g m k g m 105 / 105 85 / 125 50 / 105 125 / 85 100 / 100 40 / 70 105 / 50 70 / 40 0 / 0 Toyota Gewinne T / VW Volkswagen Sequentielle Entscheidungen und Commitment 329 BMWs Ankündigung nicht glaubwürdig - BMW wird sich nicht an die eigene Ankündigung halten - und somit nicht wirksam, um den Markteintritt von Tesla zu verhindern. Abbildung 9.17: Unglaubwürdige strategische Eintrittsbarrieren - BMW gegen Tesla. Eine Möglichkeit, um einer Ankündigung oder Drohung Glaubwürdigkeit zu verleihen, ist, dass ein Unternehmen sich (formal und/ oder kostspielig) auf eine verbindliche Verhaltensweise und Strategie festlegt, d.h. ein Commitment abgibt. BMW könnte dies bspw. dadurch tun, dass das Unternehmen freiwillig Sunk Costs 𝑆𝐶 investiert, die aufgrund von Gesetzgebung oder technologischen Anforderungen auch für Tesla maßgeblich sind (Raising Rivals‘ Costs). Aktuell versuchen die etablierten deutschen Hersteller genau das: Die Auszahlungsmatrix des Wettbewerbs um Elektromobilität soll durch Kosten und Rahmenbedingungen für Ladeinfrastruktur oder das Einhalten bestimmter technologischer Standards so verändert werden, dass ein Markteintritt von Tesla oder ggfs. auch von weiteren neuen Unternehmen verhindert oder deutlich verzögert wird. Abbildung 9.18: Glaubwürdige strategische Eintrittsbarrieren - BMW gegen Tesla. Eintritt kein Eintrit 20 / 20 Ausweitung Menge 40 / 40 0 / 100 Beibehaltung Menge 0 / 80 Ausweitung Menge Beibehaltung Menge BMW (etabliert) Tesla (potenzieller Angreifer) Gewinn Telsla / BMW Eintritt kein Eintrit Ausweitung Menge Beibehaltung Menge Ausweitung Menge Beibehaltung Menge BMW (etabliert) Tesla (potenzieller Angreifer) Gewinn Telsla / BMW 20‐C-/ -20‐SC 40‐C-/ -40‐SC 0-/ -100‐SC 0-/ -80‐SC ohne oder zu niedrige Eintrittssperre mit angemessener Eintrittssperre Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 330 Ob das funktioniert, hängt von der Höhe der investierten Sunk Costs 𝑆𝐶 ab, wie in ► Abbildung 9.18 zu sehen ist. Bei den gegebenen Auszahlungen können freiwillige Sunk Costs in einem Bereich von 40 𝑆𝐶 60 wirksam den Markteintritt von Tesla verhindern und die Gewinne von BMW absichern:  Falls 𝑆𝐶 40 ist, wird Tesla trotzdem eintreten, da weiter Gewinne möglich sind - die Gewinne von BMW betragen jetzt ebenfalls 40 𝑆𝐶 .  Falls 𝑆𝐶 60 , würde BMW sich schlechter stellen im Vergleich zu einer Situation, in der Tesla in den Markt eintritt - denn mit Sunk Costs 𝑆𝐶 von mehr als 60 sinkt der Gewinn von BMW unter das Niveau des Gewinns, das bei einem Markteintritt von Tesla ohne Sunk Costs möglich gewesen wäre.  Falls 𝑆𝐶 aber bspw. 50 beträgt, dann würde der Markteintritt glaubwürdig und wirksam versperrt - BMWs Gewinn wäre dann immer noch 100 𝑆𝐶 50 und größer als im Fall des Markteintritts von Tesla. Aus Managementperspektive sind drei Aspekte zentral:  Investitionen in Form von Sunk Costs können Strategien wie Markteintrittsbarrieren Glaubwürdigkeit verleihen,  eine Grenze für die maximalen Sunk Costs ergibt sich aus der Differenz zwischen dem bei Markteintritt eines Wettbewerbers erzielbaren Gewinn und dem Gewinn ohne Markteintritt abzüglich der Sunk Costs und  für den Wettbewerber muss die Investition nachvollziehbar und beobachtbar sein. Diese Form der Sunk Costs liegt auch vor, wenn ein Unternehmen strategisch in Überkapazität investiert, die jederzeit ohne weitere Investition genutzt werden kann, falls ein potenzieller Markteintritt droht. Zwar erfordert eine solche Überkapazität zunächst höhere Kosten, kann aber dauerhaft ein höheres Gewinnniveau absichern - aus Managementperspektive ist dies häufig nicht einvernehmlich zwischen Strategieabteilung und Controlling zu diskutieren, findet aber Anwendung bei Fluggesellschaften durch Code-Sharing-Allianzen wie OneWorld oder Staralliance, in der Containerschiffahrt, in der Automobilindustrie in Form von unternehmensübergreifenden Plattform-Partnerschaften und in der Stahlindustrie (Dixit 1980, Milgrom und Roberts 1982 sowie Schuler et al. 2014). Chicken Game und glaubwürdige Strategien Zahlreiche Spiel- und Wettbewerbssituationen haben aufgrund ihrer Bezüge zu alltäglichen Situationen oder mit Referenz auf Literatur oder Film sehr einprägsame Namen: so referenziert die Auszahlungsstruktur des Chicken Game (Feiglingsspiel) auf Situationen, in denen durch eine Mutprobe Durchsetzungsstärke oder Überlegenheit demonstriert werden soll. Die Struktur des Spiels erlaubt allerdings ebenso eine weitreichende unternehmensstrategische Erkenntnis. In Abbildung 9.19 links ist die Auszahlungsmatrix zweier Autofahrer Redcar und Bluecar zu sehen, die ähnlich der Situation im Spielfilm ‚Rebel without a Cause‘ mit hoher Geschwindigkeit und demontierten Bremsen aufeinander zurasen. Die Auszahlungsmatrix des Chicken Game ist wenig attraktiv - wenn beide geradeaus fahren, endet das Spiel tödlich, wenn beide ausweichen, stehen beide als Feiglinge dar. Das Spiel hat keine dominanten Stra- Zusammenfassung 331 tegie und aufgrund des ggfs. tödlichen Ausgangs bietet es sich nicht an, eine gemischte Strategie zu wählen, um eines der beiden Nash-Gleichgewichte zu realisieren. Abbildung 9.19: Chicken Game - Ausgangssituation und Eliminieren einer eigenen Strategie. Eine Möglichkeit, dieses Spiel (zumindest mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit) zu einem positiven Ausgang zu bringen und zu gewinnen, ist, das eigene Lenkrad sichtbar für den Gegenspieler aus dem Auto zu werfen. Damit eliminiert in ► Abbildung 9.19 rechts Redcar zwar eine mögliche eigene Strategie (die untere Zeile in Form von Ausweichen), aber so hat er jetzt glaubwürdig signalisiert, dass er geradeaus fahren wird - ein rationaler Spieler Bluecar wird jetzt in jedem Fall ausweichen, denn in der vereinfachten Matrix in ► Abbildung 9.19 rechts hat er eine dominante Strategie in Form von ausweichen. Gleichzeitig hat der Spieler Redcar aber - ähnlich wie zuvor BMW - die Struktur des Spiel verändert: Aus dem simultanen Spiel wurde durch das Hinauswerfen des Lenkrads ein sequentielles Spiel, zudem hat sich die Auszahlungsmatrix verändert. Aus Managementperspektive ist hier zentral zu verstehen, dass nicht immer zusätzliche strategische Optionen sinnvoll sind: Es kann Wettbewerbssituationen geben, in denen sich ein Unternehmen bewusst entscheidet, die Struktur des Spiels zu verändern und die Zahl möglicher Strategien zu reduzieren, um die Wettbewerber in eine Situation vergleichbar dem Chicken Game zu zwingen. Durch das Eliminieren eigener strategischer Optionen erfolgt ein Commitment und die Herstellung von Glaubwürdigkeit (Courtney 1997 und Bonau 2017). 9.4 Zusammenfassung Spieltheorie ist ein Konzept zur Analyse strategischer Entscheidungen mit dem Ziel, optimale Entscheidungen unter Berücksichtigung und Antizipation der Entscheidungen aller anderen Spieler zu ermitteln. Zahlreiche Wettbewerbssituationen, in denen Spieler, Strategien und Auszahlungen beschrieben werden können, lassen sich auf diese Weise strategisch durchdenken. Zentrales Lösungskonzept ist das Nash-Gleichgewicht in reinen oder gemischten geradeaus geradeaus ausweichen Redcar Bluecar -∞ -∞ -1000 1000 -500 -500 1000 -1000 Ausgangssituation geradeaus geradeaus ausweichen Redcar Bluecar -∞ -∞ -1000 1000 -500 -500 1000 -1000 Commitment durch Eliminieren einer eigene Strategie 1 2 ausweichen ausweichen Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 332 Strategien: Ein Nash-Gleichgewicht kommt zustande, wenn alle Spieler wechselseitig beste Antworten spielen - in dieser Konstellation hat kein Spieler einen Anreiz von seiner Strategie abzuweichen, da er sich individuell schlechter stellen würde. In einmaligen und endlich wiederholten Spielen kann ein Prisoner‘s Dilemma entstehen - eine kollektiv bevorzugte Situation kommt nicht zustande, weil individuell Anreize bestehen, von einer kooperativen Lösung abzuweichen. In Laborexperimenten zeigt sich allerdings, dass Menschen bereit sind, wechselseitig Vertrauen aufzubauen und eine kollektiv bevorzugte Lösung - zumindest temporär - zu etablieren. In sequentiellen Spielen kann über Rückwärtsinduktion geprüft werden, ob ein Spieler einen First Mover Advantage besitzt und einen höheren Gewinn im Vergleich zu einem simultanen Spiel erzielen kann. Spieltheorie hilft aber nicht nur, eine optimale Strategie unter gegebenen Rahmenbedingungen zu identifizieren. Oft liegt der Mehrwert aus Managementperspektive darin, die Grundmuster einer Wettbewerbssituation besser zu verstehen und ggfs. diese Regeln des Wettbewerbs zu verändern, sei es durch Veränderung der Auszahlungsmatrix, Eliminierung eigener Strategien und Commitment, Aufbau von Unsicherheit oder Investition in Glaubwürdigkeit. Spieltheorie hilft in der realen Unternehmensumwelt, interaktive strategische Entscheidungssituationen zu strukturieren sowie implizite und explizite Abhängigkeiten zu Wettbewerbern anschaulich darzustellen und zu analysieren. Häufig wird nur hiermit eine Plausibilisierung aktuell verwendeter oder per se denkbarer Strategien möglich. Zudem können mögliche Reaktionen der Wettbewerber in Szenarien bei unterschiedlichen Rahmenbedingungen explizit durchgespielt werden. Schließlich ermöglicht Spieltheorie, Optionen für eigene Strategien zu generieren und belastbar zu entwickeln und auf ihre Durchsetzbarkeit hin zu überprüfen. Spieltheorie ist allerdings kein Allheilmittel für Strategieabteilungen: Begrenzte oder sogar fehlende Rationalität der Wettbewerber, Unbestimmtheit bei multiplen Nash-Gleichgewichten und Willkür von Managern verhindern oft das Erreichen eines Nash-Gleichgewichtes. Eine präzise Anwendung von Spieltheorie erfordert zudem sehr gute qualitative und quantitative Daten über den Wettbewerbsprozess - dies ist oft nur eingeschränkt möglich und mit hohem Aufwand in der Erstellung des Modells verbunden.  Kontrollfragen [1] Beschreiben Sie praktische Anwendungsfelder der Analyse von Entscheidungen mittels Spieltheorie sowie deren Grenzen, Vor- und Nachteile! [2] Was ist eine dominante Strategie? Weshalb sind Gleichgewichte, die aufgrund von dominanten Strategien aller Spieler zustande kommen, stabil? [3] Was ist ein Nash-Gleichgewicht, in welcher Weise unterscheidet es sich von einem Gleichgewicht in dominanten Strategien? Was ist der Unterschied von Nash-Gleichgewichten in reinen und gemischten Strategien? Zusammenfassung 333 [4] Wie funktioniert die sogenannte Maximin-Regel, weshalb und wann findet sie Anwendung? Erläutern Sie, weshalb ein Unternehmen Interesse haben kann, Unsicherheit über die Auszahlungen oder betreffs der Rationalität zu schaffen. [5] Was ist die Tit-for-Tat-Strategie? Beschreiben Sie, wie die Tit-for-Tat-Strategie eine Erklärung für hohe Benzinpreise liefern kann! [6] Wie kann eine (ggfs. auch verbotene) Kooperation zwischen Wettbewerbern entstehen, wann hat sie Bestand, wann nicht? [7] Beschreiben Sie das sogenannte Prisoner‘s Dilemma! Geben Sie zwei Beispiele für ökonomische Situationen, in denen das Prisoner‘s Dilemma verhindert, dass von der Allgemeinheit gewünschte Lösungen entstehen und Bestand haben. [8] Wann versucht ein Spieler, eine First-Mover-Strategie anzuwenden? Unter welchen Voraussetzungen funktioniert diese Strategie? Wie analysiert man ein sequentielles Spiel, wie kann man optimale Strategien identifizieren? [9] Zwei Unternehmen A und B konkurrieren im Markt für Zahnpasta. In der Abbildung sind die Strategien ‚Werbung‘ und ‚keine Werbung‘ und die zugehörige Auszahlungsmatrix der Gewinne beider Unternehmen dargestellt. Ermitteln Sie, welche Strategien die (risikoneutralen) Unternehmen wählen werden! Was ist ein Nash-Gleichgewicht, ist die von Ihnen ermittelte Strategiekombination ein Nash-Gleichgewicht? [10] Zwei Elektrokonzerne 1 und 2 konkurrieren über die Höhe der F&E-Budgets, in der Matrix sind die Gewinne beider Unternehmen dargestellt. Ermitteln Sie für sequentielle und simultane Spiele sowie für risikoaverse Unternehmen mögliche Gleichgewichte und erläutern Sie diese aus Perspektive der Unternehmen! keine Werbung Werbung Werbung keine Werbung 5 10 0 15 10 8 6 Unternehmen A Unternehmen B 20 Strategische Entscheidungen mit Spieltheorie 334  Literatur Aiginger, K., The use of game theoretical models for empirical industrial organization, in: Mueller, D.C., Haid, A. und Weigand, J. (Hrsg.), Competition, efficiency, and welfare, Amsterdam 1999, 253-277. 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So wird Airbus immer darauf achten, was Boeing tut, im deutschen Mobilfunkmarkt haben die Strategieabteilungen von Vodafone, Deutscher Telekom und Telefónica sich wechselseitig im Blick und natürlich analysiert die Konzernzentrale von Nestlé detailliert jede strategische Entscheidung von Procter & Gamble oder Unilever - und umgekehrt. Um Gewinne zu erzielen und das Überleben des Unternehmens abzusichern, müssen aus Managementperspektive in Situationen strategischen Wettbewerbs im Oligopol drei wechselseitig abhängige Entscheidungen getroffen werden:  Über welche strategischen Parameter soll mit den Wettbewerbern konkurriert werden - soll in Produktionskapazität investiert werden oder ist ein Preiskampf besser?  Wie und in welcher Kombination sollen die strategischen Parameter eingesetzt werden - mit welcher Höhe an Marketinginvestition lässt sich horizontale Produktdifferenzierung und Qualitätsführerschaft aufbauen?  Soll die Wettbewerbsintensität erhöht oder reduziert werden - hat mein Unternehmen eine Wettbewerbsfähigkeit, um andere zu verdrängen, oder sollte es eher in eine Nische flüchten, soll in den Aufbau von Eintrittsbarrieren investiert werden? Natürlich wird jedes Unternehmen weiter versuchen, seine unternehmensspezifischen Fähigkeiten im Wettbewerb mit anderen so einzusetzen, dass Wettbewerbsvorteile entstehen (► Kapitel 4). In ► Abbildung 10.1 sind einige der typischerweise zu prüfenden strategischen Parameter abgebildet, auf denen eine Strategie basieren kann. Strategischer Wettbewerb im Oligopol 338 Abbildung 10.1: Strategieparameter. So kann ein Unternehmen bspw. eine auf starker Produktdifferenzierung basierende Strategie entwickeln, wie dies Nestlé oder Apple tun, oder Qualitätsführerschaft in einem hochpreisigen Nischenmarkt beanspruchen, wie dies der Gitarrenhersteller Suhr macht. Unternehmen sind aber nicht vollständig frei oder autark in der Wahl ihrer strategischen Parameter, sondern unter anderem durch die Marktstruktur eingeschränkt. So ist bei vollständiger Konkurrenz der Marktpreis exogen vorgegeben, so dass lediglich über die optimale Produktionsmenge auf Basis der Kostenstruktur konkurriert wird (► Kapitel 7) - ein marktbeherrschendes Unternehmen kann dagegen durch Preisstrategien maßgeblich den Gewinn beeinflussen (► Kapitel 8). Wettbewerbssituationen im Oligopol sind dazwischen angesiedelt. Zwar ist eine nahezu beliebige Vielfalt an Strategien denkbar, aber jede Industrie weist einige Besonderheiten und eine auf industriespezifischen Routinen und Verhaltensmustern basierende Logik des Wettbewerbsprozesses auf (Coyne und Horn 2009, Reeves et al. 2012 und Maynkia et al. 2010). Perspektiven auf strategischen Wettbewerb Die Betrachtung strategischer Wettbewerbssituationen kann immer durch vier Perspektiven geleitet werden - unter den Rahmenbedingungen der  Marktstruktur (Zahl und Größenverteilung der Unternehmen, die Existenz und der Umfang von Eintrittsbarrieren etc.),  Nachfragestruktur (bspw. die Zahlungsbereitschaft, die Größe des Marktes oder der Grad an vertikaler und horizontaler Produktdifferenzierung) und Mengen- (Kapazitäts-) vs. Preiswettbewerb simultane vs. sequentielle Entscheidungen Grad der Produktdifferenzierung Ein-Produktvs. Multi-Produkt-Strategien Innovation vs. Imitation Standort Aufbau von Eintrittsbarrieren Marketing und Branding Effizienz und Kosten(-führerschaft) Qualität Kollusion (Kooperation) Nachfragestruktur (Marktsegmente und Produktdifferenzierung) technologische Möglichkeiten Segmentierung/ Nischenstrategie Markstruktur (Zahl und Größenverteilung der Wettbewerber) typische strategische Parameter Forschung & Entwicklung Bundling und Tying direkte/ indirekte Netzwerkeffekte Economies of Scale Economies of Scope Strategischer Wettbewerb im Oligopol 339  technologischen Möglichkeiten (Rahmenbedingungen für Produkt- und Prozessinnovationen oder die Möglichkeit für Imitation von Technologien anderer Industrien) wird im Wesentlichen durch die  Wahl des strategischen Parameters (Kapazität oder Unternehmensgröße, Preisstrategie, F&E- oder Marketingaufwand, Standorte, Aufbau von Eintrittsbarrieren etc.) der Erfolg der Unternehmen analysiert (Shapiro 1989 sowie Corchon und Marini 2018). Eine Klassifizierung der Art des Wettbewerbs erfolgt nach  Cournot-Wettbewerb - simultane Entscheidungen über Mengen oder Kapazitäten,  Bertrand-Wettbewerb - simultane Entscheidungen über Preise, und  Stackelberg-Wettbewerb - sequentielle Entscheidungen über Preise oder Kapazitäten. Zentral sind hier spieltheoretische Analysen von Kapazitäts- und Preiswettbewerb, entsprechend der ursprünglichen Beschreibung als Cournot- und Bertrand-Wettbewerb bezeichnet (Cournot 1838 und Bertrand 1883). Strategien werden hierbei in Form von Reaktionskurven beschrieben (in Analogie zu besten Antworten in der Spieltheorie). Die Lösungen sind wieder in Nash-Gleichgewichten zu finden, wobei der Erfolg der Unternehmen - neben den unternehmensspezifischen Fähigkeiten - maßgeblich durch die Art des Wettbewerbs bestimmt wird. In allen Entscheidungssituationen ist wesentlich zu verstehen, welche Art von Wettbewerb vorherrscht und wie strategische Parameter eingesetzt werden können. Industrien sind durch bestimmte Arten und Formen des Wettbewerbs geprägt. Oftmals entsteht durch langfristige Investitionen eine Tendenz zu Cournot-Wettbewerb, sind Kapazitäten schnell und vor allem kostengünstig anzupassen, herrscht oftmals Bertrand-Wettbewerb vor. Daneben haben Pfadabhängigkeiten und evolutorische Entwicklungen in einer Industrie erklärenden Charakter, ob eine Industrie stärker durch Kapazitäts- oder Preiswettbewerb geprägt ist. Aus empirischer Perspektive ist Cournot-Wettbewerb in Märkten und Industrien zu beobachten, in denen Produktionskapazitäten eine zentrale Rolle spielen und diese weder schnell noch kostenlos angepasst werden können: Flughäfen, Telekommunikation oder Energienetze sind typische Beispiele. Bertrand-Wettbewerb herrscht dagegen vor, wenn Kapazitäten schnell und mit geringen Investitionen angepasst werden können, so dass Unternehmen die Auslastung über rasche und häufige Preisänderungen beeinflussen, wie bspw. Zeitarbeit, Fluggesellschaften oder Erfrischungsgetränke (Bresnahan 1989, Haskel und Martin 1994 sowie Aiginger 1999). Aus theoretischer Perspektive kann man argumentieren, dass Wettbewerb in zwei Stufen stattfindet. In einer ersten Stufe entscheiden Unternehmen über langfristige Investitionen in den Aufbau von Kapazitäten, in einer zweiten Stufe auf Basis vorhandener Kapazitäten über Preise. Das Marktergebnis ist dann, unter bestimmten Bedingungen, allerdings identisch mit dem Ergebnis von Cournot-Wettbewerb, so dass Cournot-Wettbewerb aus strategischer Perspektive der Unternehmen wie auch als Analyseinstrument in der staatlichen Wettbe- Strategischer Wettbewerb im Oligopol 340 werbspolitik eine dominante Rolle spielt (Kreps und Scheinkman 1983, Shapiro 1989, Bagwell und Wolinsky 2002, Phlips 1995 sowie Motta 2004).  Lernziele Dieses Kapitel beschäftigt sich mit  der Analyse von Wettbewerbssituationen unter wenigen Unternehmen, die strategisch interagieren, sowie deren praktische Relevanz zur Ableitung von Unternehmensstrategien,  wesentlichen Unterschieden zwischen Preis- und Mengen-Kapazitätswettbewerb sowie deren Auswirkung auf Marktstruktur und Marktergebnis,  Auswirkungen von Markteintritten und steigender Wettbewerbsintensität auf Preise, Mengen und Gewinne etablierter Unternehmen sowie  den Implikationen von sequentiellen Entscheidungen und Anreizen für Produktdifferenzierung bei Cournot- und Bertrand-Wettbewerb. 10.1 Kapazitätsentscheidungen und Strategien beim Cournot-Wettbewerb Um zunächst den engen Zusammenhang zwischen Spieltheorie, Cournot-Wettbewerb und Nash-Gleichgewicht herauszuarbeiten, ist in ► Abbildung 10.2 eine Auszahlungsmatrix der Gewinne von Apple und Samsung für eine neue Smartphone-Generation einer bestimmten Produktkategorie abgebildet. Mit jeder neuen Generation an Smartphones müssen Unternehmen über den Aufbau von Produktionskapazität entscheiden. Beide Unternehmen haben entsprechend ein Interesse, ein Nash-Gleichgewicht bezüglich des strategischen Parameters Produktionskapazität zu finden, die allerdings zwischen 0 und ‚sehr groß‘ in nahezu beliebigen Schritten gewählt werden kann. Auch bei deutlich mehr als zwei Strategien jedes Unternehmens ist möglich, potenzielle Nash- Gleichgewichte zu identifizieren. Beide Unternehmen können zunächst für beliebig angenommene Werte von 𝑞 und 𝑞 die wechselseitigen Gewinne ermitteln und in die Matrix eintragen. Hellgraue Zellen zeigen dann beste Antworten von Samsung, dunkelgraue Zellen zeigen beste Antworten von Apple. In diesem Beispiel gibt es offensichtlich, markiert durch zwei schwarze Rahmen, zwei mögliche Nash-Gleichgewichte bei 𝑞 1000 / 𝑞 2500 und 𝑞 500 / 𝑞 3000 , so dass aufgrund geringerer Grenzkosten Samsung mehr produziert. Es ist offensichtlich, dass mit zunehmender Zahl an Strategien oder mehr als zwei Wettbewerbern das Aufstellen und die Analyse der Auszahlungsmatrix nur noch mit Hilfe von Computerprogrammen wie bspw. Excel möglich ist. Allerdings - wie in ► Abbildung 10.2 gezeigt - kann man die besten Antworten beider Unternehmen jeweils durch Linien verbinden. Diese Verbindungslinien bester Antworten beschreiben alle wechselseitig gewinnoptimalen Reaktionen der beiden Unternehmen und werden als Reaktionskurven bezeichnet - im Schnittpunkt beider Reaktionskurven liegt das Nash-Gleichgewicht. Im Fall eines Kontinuums an möglichen Strategien bedeutet das, dass die optimale Strategie 𝑞 ∗ von Samsung eine Funkti- Kapazitätsentscheidungen und Strategien beim Cournot-Wettbewerb 341 on der möglichen Strategien von Apple 𝑞 ist, und umgekehrt: Cournot-Wettbewerb kann man als Spiel mit einem Kontinuum an Strategien der Unternehmen auffassen. Abbildung 10.2: Cournot-Wettbewerb als Reaktionskurven (Daten der Auszahlungsmatrix auf Basis p = 1.000 - 0,14 ‧ (q A +q S ), FC = 100.000, MC A = 400, MC S = 100). Cournot-Wettbewerb mit zwei Unternehmen Um den allgemeinen Fall von Cournot-Wettbewerb und Strategien anhand von Reaktionskurven zu beschreiben, wird zunächst eine Industrie ohne Produktdifferenzierung mit zwei Unternehmen betrachtet, die simultan entscheiden. Die Nachfragefunktion ist gegeben durch (10.1) 𝑝 𝑄 𝑎 𝑏𝑄 𝑎 𝑏 𝑞 𝑞 , so dass sich für die beiden Unternehmen die Erlösfunktionen als (10.2) 𝑅 𝑝𝑞 𝑎 𝑏 𝑞 𝑞 𝑞 𝑎𝑞 𝑏 𝑞 𝑞 𝑞 und (10.3) 𝑅 𝑝𝑞 𝑎 𝑏 𝑞 𝑞 𝑞 𝑎𝑞 𝑏 𝑞 𝑞 𝑞 ergeben. Die Kostenfunktionen der beiden Unternehmen sind (10.4) 𝑇𝐶 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 (10.5) 𝑇𝐶 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 , Reaktionskurve der besten Antworten von Samsung, d.h. gegeben einer Strategie von Apple (einer Spalte) ergibt sich hier die gewinnmaximierende Strategie für Samsung Reaktionskurve der besten Antworten von Apple, d.h. gegeben einer Strategie von Samsung (einer Zeile) ergibt sich hier die gewinnmaximierende Strategie für Apple Schnittpunkte der Reaktionskurven geben mögliche Nash Gleichgewichte an, d.h. Kombinationen „bester Antworten“ beider Unternehmen Kapazitätsstrategien von Apple Kapazitätsstrategien von Samsung 0 500 1000 1500 2000 2500 3000 3500 4000 -10 17 36 49 54 53 44 29 6 0 -10 -10 -10 -10 -10 -10 -10 -10 -10 -10 13 29 38 40 35 23 4 -22 500 32 28 25 21 18 14 11 7 3 -10 10 22 28 26 18 2 -21 -50 1000 66 59 52 45 38 31 24 17 1 0 -10 6 15 1 7 12 0 -19 -45 -78 1500 94 83 73 62 52 41 31 20 9 -10 3 8 6 -2 -18 -40 -70 -106 2000 114 100 86 72 58 44 30 16 2 -10 -1 1 -4 -16 -35 -61 -94 -134 2500 128 110 93 75 58 40 23 5 -13 -10 -5 -6 -15 -30 -53 -82 -119 -162 3000 1 34 1 1 3 92 71 50 29 8 -13 -34 -10 -8 -13 -25 -44 -70 -103 -143 -190 3500 134 109 85 60 36 11 -14 -38 -63 -1 0 -12 -20 -36 -58 -88 -124 -168 -218 4000 126 98 70 42 14 -14 -42 -70 -98 Strategischer Wettbewerb im Oligopol 342 d.h., die Unternehmen haben identische industriespezifische Fixkosten 𝐹𝐶 , unterscheiden sich aber in ihren Grenzkosten 𝑀𝐶 und 𝑀𝐶 . Die Differenz aus Erlösen 𝑅 und Kosten 𝑇𝐶 ergibt dann für beide Unternehmen die Gewinnfunktionen 𝜋 in Form von (10.6) 𝜋 𝑅 𝑇𝐶 𝑎𝑞 𝑏 𝑞 𝑞 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 und (10.7) 𝜋 𝑅 𝑇𝐶 𝑎𝑞 𝑏 𝑞 𝑞 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 . Aus den Gleichungen (10.6) und (10.7) ergibt sich zunächst die strategische Interaktion der beiden Unternehmen: Der Gewinn von Unternehmen 1 hängt nicht nur von der eigenen Kapazität 𝑞 ab, sondern auch von der Kapazität 𝑞 des Wettbewerbers - und umgekehrt. Wenn nun beide Unternehmen Kapazitäten als strategischen Parameter verstehen, dann lässt sich zunächst für Unternehmen 1 eine optimale Strategie 𝑞 ∗ aus der ersten Ableitung der Gewinnfunktion 𝜋 nach dem strategischen Parameter 𝑞 ermitteln als (10.8) 𝑎 𝑏 𝑞 𝑞 𝑏𝑞 𝑀𝐶 𝑎 𝑀𝐶 2𝑏𝑞 𝑏𝑞 0 . Stellt man diese Gleichung um, dann erhält man als optimale Strategie (10.9) 𝑞 ∗ . Unternehmen 1 muss entsprechend (10.9) drei Determinanten einer optimalen Strategie berücksichtigen, um die Gewinne zu maximieren:  die strategischen Entscheidungen von Unternehmen 2 und dessen Kapazitätsstrategie 𝑞 - je größer der Wettbewerber, desto kleiner die optimale eigene Kapazität,  die eigene Wettbewerbsfähigkeit 𝑎 𝑀𝐶 - je höher die Wettbewerbsfähigkeit, desto größer die optimale Kapazität, und  die Größe des Marktes, gegeben durch 1/ b - je größer der Markt, desto höher die optimale Produktionskapazität. Abbildung 10.3: Reaktionskurven von Unternehmen 1 und 2. q 2 q 2 0 q 1 0 q 2 q 1 Unternehmen 1 Unternehmen 2 q 2 a MC 2b für q 0 q q q q q q q q q q q q a MC 2b für q 0 Kapazitätsentscheidungen und Strategien beim Cournot-Wettbewerb 343 Gleichung (10.9) entspricht der optimalen Strategien eines Monopolisten aus ► Kapitel 7 in Gleichung (7.41) - mit dem Unterschied, das jetzt zusätzlich die Strategie des Wettbewerbers berücksichtigt werden muss. In gleicher Weise ergibt sich für Unternehmen 2 über die Ableitung (10.10) 𝑎 𝑏 𝑞 𝑞 𝑏𝑞 𝑀𝐶 𝑎 𝑀𝐶 2𝑏𝑞 𝑏𝑞 0 als optimale Strategie (10.11) 𝑞 ∗ , Unternehmen 2 muss entsprechend (10.11) die Entscheidung von Unternehmen 1 berücksichtigen. In ► Abbildung 10.3 sind die Reaktionsfunktion beider Unternehmen anhand der Gleichung (10.9) und (10.11) eingezeichnet. Für jede denkbare Produktionsmenge 𝑞 von Unternehmen 2 wird Unternehmen 1 eine optimale Reaktion, d.h. eine eigene Produktionsmenge 𝑞 𝑞 , festlegen. Die Reaktionskurve beschreibt alle gewinnoptimalen Reaktionen auf jede denkbare Kapazitätsstrategie des Wettbewerbers. Beide Reaktionskurven verlaufend fallend - d.h. je größer die Kapazität des Wettbewerbs, desto kleiner wird die optimale eigene Kapazität gewählt. Kombiniert man jetzt die beiden Reaktionskurven, so ergibt sich in ► Abbildung 10.4 links in deren Schnittpunkt ein Nash-Gleichgewicht in besten Antworten - jedes Unternehmen verhält sich optimal in Abhängigkeit der gewählten Strategie seines Wettbewerbers - und kein Unternehmen hat einen Anreiz, von der gewählten Strategie abzuweichen, denn es würde sich schlechter stellen. Abbildung 10.4: Cournot-Nash-Gleichgewicht und Effekte auf Unternehmensstrategien. Der Schnittpunkt beider Reaktionskurven bestimmt die optimalen Kapazitäten 𝑞 und 𝑞 beider Unternehmen - setzt man (10.9) in (10.11) ein, dann ergeben sich die optimalen Strategien im Nash-Gleichgewicht in Mengen als (10.12) 𝑞 ∗ und (10.13) 𝑞 ∗ . 0 q 1 q 2 0 q 2 q 1 Unternehmen 1 Unternehmen 2 q ∗ q ∗ Unternehmen 1 Unternehmen 2 q ∗ q ∗ Strategischer Wettbewerb im Oligopol 344 Setzt man diese optimalen Strategien in (10.1) sowie in (10.6) und (10.7) ein, dann ergeben sich Preise und Gewinne im Nash-Gleichgewicht als (10.14) 𝑝 ∗ , (10.15) 𝜋 ∗ 𝐹𝐶 und (10.16) 𝜋 ∗ 𝐹𝐶 . Wichtig ist zu erkennen, dass der Verlauf der beiden Reaktionskurven durch den Schnittpunkt mit der Mengenachse von der Wettbewerbsfähigkeit 𝑎 𝑀𝐶 der Unternehmen bestimmt wird. Ist - wie in ► Abbildung 10.4 rechts dargestellt - Unternehmen 1 in der Lage, seine Grenzkosten zu senken und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, verschiebt sich die Reaktionskurve von Unternehmen 1 nach rechts oben. Auf Basis dieser gestiegenen Wettbewerbsfähigkeit wird Unternehmen 1 wachsen und einen höheren Gewinn erzielen - umgekehrt ist zu erkennen, dass Unternehmen 2 schrumpfen muss. Die Strategien bei Cournot-Wettbewerb sind strategische Substitute: Sie entwickeln sich für beide Unternehmen wechselseitig immer in entgegengesetzte Richtungen. Ist die Wettbewerbsfähigkeit beider Unternehmen gleich groß, werden identische Produktionskapazitäten gewählt. Wettbewerbsfähigkeit und Unternehmensstrategie Allgemeiner können die Effekte auf die optimale Unternehmensstrategie ermittelt werden, indem die partiellen Ableitungen der Gleichungen (10.12) oder (10.13) als (10.17) ∗ 0; ∗ 0; ∗ 0 und ∗ ∗ 0 beschrieben werden: Der Effekt einer Erhöhung der Zahlungsbereitschaft 𝑎 oder einer Senkung der Grenzkosten 𝑀𝐶 skaliert über die Größe des Marktes 𝑏 - ein Unternehmen profitiert von einem Wachstum des Marktes umso stärker, je höher die Wettbewerbsfähigkeit ist. Um diese Effekte greifbar zu machen, ist in ► Tabelle 10.1 beispielhaft das Marktergebnis und die Marktstruktur bei Cournot-Wettbewerb in zwei unterschiedlichen Industrien berechnet. In Industrie 1 stehen die Unternehmen A und B mit identischen Grenzkosten 𝑀𝐶 10 im Wettbewerb, in Industrie 2 hat Unternehmen C einen Effizienzvorteil gegenüber Unternehmen D. Für beide Industrien gelten zunächst identische Rahmenbedingungen: Die maximale Zahlungsbereitschaft beträgt 𝑎 100 , die Größe des Marktes 𝑏 0,02 und die Fixkosten 𝐹𝐶 100 . Kapazitätsentscheidungen und Strategien beim Cournot-Wettbewerb 345 Marktstruktur und Marktergebnis bei Cournot-Wettbewerb Industrie 1 Industrie 2 Unternehmen mit identischen Grenzkosten Unternehmen mit unterschiedlichen Grenzkosten A B C D unternehmensspezifische Grenzkosten 𝑀𝐶 10 10 7 10 (1) Ausgangssituation ( a =100, b =0,02, FC =100) 𝑞 1500 1500 1600 1450 𝑝 40 39 𝜋 44900 44900 51100 41950 𝑄 3000 3050 𝑠 50 % 50 % 52 % 48 % (2) Anstieg der Zahlungsbereitschaft a ( a =130, b =0,02, FC =100) 𝑞 2000 2000 2100 1950 𝑝 50 49 𝜋 59900 59900 67100 56450 𝑄 4000 4050 𝑠 50 % 50 % 52 % 48 % (3) Größe des Marktes b ( a =100, b =0,01, FC =100) 𝑞 3000 3000 3200 2900 𝑝 40 39 𝜋 89900 89900 102300 84000 𝑄 6000 6100 𝑠 50 % 50 % 52 % 48 % Tabelle 10.1: Marktstruktur und Marktergebnis bei Cournot-Wettbewerb Zahlenwerte teilweise gerundet. Strategischer Wettbewerb im Oligopol 346 Es bestätigen sich die in Gleichung (10.17) beschriebenen Effekte:  In der Ausgangssituation (1) bei identischen Grenzkosten sind die Unternehmen gleich groß und erzielen Gewinne in gleicher Höhe. Bei unterschiedlichen Grenzkosten ist das Unternehmen mit der höheren Effizienz absolut größer und erzielt einen höheren Gewinn, das andere ist kleiner und der Gewinn geht zurück.  Bei einem Anstieg der Zahlungsbereitschaft (2) (von 𝑎 100 auf 𝑎 130 ) im Markt wählen die Unternehmen höhere Kapazitäten, beide können höhere Preise durchsetzen und die Gewinne steigen an. Dies gilt unabhängig von der Höhe der Grenzkosten, allerdings bleiben die relativen Marktanteile 𝑠 unverändert.  Ein Wachstum des Marktes (3) (von 𝑏 0,02 auf 𝑏 0,01 ) lässt die Unternehmen wachsen und die Gewinne ansteigen, die Preise können jedoch nicht erhöht werden - auch dies gilt unabhängig von den Grenzkosten, ebenso bleiben die Marktanteile konstant. Aus Managementperspektive ist zentral zu erkennen, dass ein Unternehmen bei einem Anstieg der Zahlungsbereitschaft oder eines Wachstums des Marktes zwar per se höhere Gewinne erzielen kann - dieser Effekt ist umso stärker, je höher die Wettbewerbsfähigkeit (hier auf Basis niedrigerer Grenzkosten) ist - aber ein Wachstum des Marktes nicht zu Preiserhöhungen genutzt werden kann (weiterführend Neumann et al. 2001 und Münter 2017).  Case Study | Airbus versus Boeing Mit Boeing und Airbus konkurrieren - vor dem Markteintritt des neue chinesische Wettbewerber Comac - zwei Unternehmen im Markt für zweistrahlige, mittelgroße Langstrecken-Jets: die Produktfamilien Boeing B787 und Airbus A350. Aus Kundenperspektive der Fluggesellschaften gibt es hier keine vertikale Produktdifferenzierung: Reichweite, Sitzplatzangebot, Variationsmöglichkeiten und Verbrauch liegen in sehr engen Grenzen zusammen - die Verkaufspreise sind nahezu identisch, der Marktanteil bei Stückzahlen von Airbus liegt bei etwa 53 %, der Marktanteil von Boeing bei etwa 47 % (Hepher 2017 und Airbus 2017). Wesentlicher Wettbewerbsparameter ist - unter starken Verzerrungen durch Subventionen und durch die US-amerikanische und europäische Industriepolitik - die Produktionskapazität (Irwin und Pavcnik 2004, Esty und Ghemawat 2002 sowie Neven und Seabright 1995). Beide Unternehmen wissen aus langjährigem Wettbewerb: Die Nachfragefunktion beträgt 𝑝 500 - 2 ⋅ 𝑞 𝑞 , die Grenzkosten betragen 𝑀𝐶 140 für Airbus und 𝑀𝐶 180 für Boeing, die industriespezifischen Fixkosten betragen für beide jeweils 𝐹𝐶 3.000 (jeweils in Mio. EUR). Aktuell haben die Unternehmen noch nicht entschieden, welche Produktionskapazität sie jeweils für diese Generation der jeweiligen Flugzeuge aufbauen sollen. Ein Unternehmensberater soll nun für Airbus prüfen:  Wie groß ist die optimale (gewinnmaximale) Produktionskapazität für Airbus?  Wie wirken sich die unterschiedlichen Grenzkosten auf die Unternehmensgrößen und Marktanteile aus? Kapazitätsentscheidungen und Strategien beim Cournot-Wettbewerb 347  Welcher Marktpreis wird sich auf der nächsten International Paris Air Show Le Bourget durchsetzen lassen, wie hoch werden die Gewinne der beiden Unternehmen mit diesen Flugzeugen sein?  Sollte Airbus zusätzliche Fixkosten in Höhe von 5.000 in eine Prozessoptimierung investieren, um die Grenzkosten je Flugzeug von 140 auf 80 zu senken? Zunächst lassen sich für beide Unternehmen aus der Nachfragefunktion und den jeweiligen Kostenstrukturen die Gewinnfunktionen als (10.18) 𝜋 𝑝𝑞 𝑀𝐶 𝑞 𝐹𝐶 𝑎 2 𝑞 𝑞 𝑞 𝑀𝐶 𝑞 𝐹𝐶 500𝑞 2𝑞 2𝑞 𝑞 140𝑞 3.000 und (10.19) 𝜋 𝑝𝑞 𝑀𝐶 𝑞 𝐹𝐶 𝑎 2 𝑞 𝑞 𝑞 𝑀𝐶 𝑞 𝐹𝐶 500𝑞 2𝑞 2𝑞 𝑞 180𝑞 3.000 formulieren. Die optimale Produktionskapazität auf Basis der Reaktionskurven ergibt sich aus der ersten Ableitung der jeweiligen Gewinnfunktionen mit (10.20) 500 4𝑞 2𝑞 140 0 oder 𝑞 𝑞 und (10.21) 500 4𝑞 2𝑞 180 0 oder 𝑞 𝑞 . Setzt man jetzt Gleichung (10.16) in (10.15) ein, dann ergibt sich (10.22) 𝑞 𝑞 𝑞 50 𝑞 oder aufgelöst 𝑞 200/ 3 - Airbus sollte eine optimale Kapazität von ca. 67 Flugzeugen einplanen und aufbauen. Umgekehrt ergibt sich durch einsetzten von 𝑞 200/ 3 in (10.21), dass die optimale Kapazität von Boeing 𝑞 140/ 3 etwa 47 Flugzeuge beträgt. Die unterschiedlichen Grenzkosten der beiden Unternehmen wirken sich in unterschiedlichen optimalen Kapazitäten aus - je geringer die Grenzkosten, desto größer die optimale Kapazität. Der Marktpreis für eines der Flugzeuge ergibt sich jetzt durch Einsetzten der beiden Mengen 𝑞 und 𝑞 in die Nachfragefunktion als (10.23) 𝑝 500 - 2 ⋅ 𝑞 𝑞 500 - 2 ⋅ 273,33 , so dass der Gewinn für die beiden Hersteller sich aus (10.18) und (10.19) als (10.18) 𝜋 𝑝𝑞 𝑀𝐶 𝑞 𝐹𝐶 273,33 ⋅ 140 ⋅ 3.000 5.888,89 und (10.19) 𝜋 𝑝𝑞 𝑀𝐶 𝑞 𝐹𝐶 273,33 ⋅ 180 ⋅ 3.000 1.355,56 ergibt. Der höhere Gewinn von Airbus hat zwei Ursachen: Airbus produziert eine größere Menge, und dies bei geringeren Grenzkosten. Strategischer Wettbewerb im Oligopol 348 Abschließend ist nun zu prüfen, ob eine Investition in Prozessoptimierung für Airbus strategische Vorteile und höhere Gewinne mit sich bringt. Auf den ersten Blick spricht nicht viel dafür: Airbus produziert 67 Flugzeuge, die Stückkosten sinken um 60 - vermeintlich ein einmaliger Kostensenkungseffekt von 60 ⋅ 67 4.020 gegenüber einer einmaligen Investition von 5.000 . Allerdings werden bei dieser Sichtweise die strategischen Effekte übersehen: Zunächst verschiebt sich die Reaktionskurve von Airbus aufgrund der niedrigeren Grenzkosten zu (10.24) 500 4𝑞 2𝑞 80 0 oder 𝑞 𝑞 , so dass sich die optimale Produktionsmenge von Airbus zu (10.25) 𝑞 𝑞 𝑞 65 𝑞 auf 𝑞 260/ 3 vergrößert, etwa 87 Flugzeuge. Dies muss jetzt auch Boeing einkalkulieren, so dass deren optimale Kapazität sich wegen (10.26) 𝑞 𝑞 36,67 reduziert. Mit der in Summe gestiegenen Menge beider Hersteller sinkt natürlich der Preis auf (10.27) 𝑝 500 - 2 ⋅ 𝑞 𝑞 500 - 2 ⋅ 253,33 . Mit dem reduzierten Preis und den veränderten Marktanteilen - Airbus deutlich gewachsen auf 70 %, Boeing geschrumpft auf 30 % - verändern sich jetzt auch die Gewinne. Der Gewinn von Airbus (10.28) 𝜋 ′ 𝑝𝑞 𝑀𝐶 𝑞 𝐹𝐶 253,33 ⋅ 80 ⋅ 8.000 7.022,22 steigt trotz deutlich gestiegener Fixkosten deutlich an, der Gewinn von Boeing (10.29) 𝜋 𝑝𝑞 𝑀𝐶 𝑞 𝐹𝐶 253,33 ⋅ 180 ⋅ 3.000 311,11 ist dagegen jetzt negativ. Allerdings realisiert Boeing bei einem Stückpreis von 𝑝 253,33 und Grenzkosten in Höhe von 𝑀𝐶 180 einen deutlich positiven Deckungsbetrag, der aber nicht ausreicht, um die Fixkosten vollständig zu decken. Wenn Boeing die strategische Wirkung der Airbus-Investition in Prozessoptimierung übersehen und die ursprünglich geplante Produktionskapazität von 𝑞 140/ 3 etabliert hätte, wäre der Verlust größer ausgefallen. Aufgrund der in Summe dann vorhandenen Kapazität von 𝑞 𝑞 260/ 3 140/ 3 400/ 3 wäre der Preis je Flugzeug auf 𝑝 500 - 2 ⋅ 233,33 gesunken, so dass der Verlust von Boeing jetzt mit 𝜋 233,33 ⋅ 180 ⋅ 3.000 511,11 höher ausgefallen wäre: Das Ausrechnen des Cournot- Nash-Gleichgewichts hätte 200 Mio. EUR Verlust verhindert. Cournot-Wettbewerb, Anzahl der Unternehmen und Wettbewerbsintensität Das Cournot-Modell kann auch bei Wettbewerb von mehr als zwei Unternehmen für die Analyse strategischer Entscheidungen und die Einschätzung der Wettbewerbsintensität herangezogen werden. Für 𝑛 Unternehmen, die bei einer Nachfragefunktion ohne Produktdifferenzierung Kapazitätsentscheidungen und Strategien beim Cournot-Wettbewerb 349 (10.30) 𝑝 𝑎 𝑏𝑄 𝑎 𝑏 𝑞 𝑞 ⋯ ⋯ 𝑞 𝑎 𝑏 𝑞 𝑄 mit 𝑄 𝑞 𝑄 und einer Produktionsmenge von (10.31) 𝑄 𝑞 𝑞 ⋯ ⋯ 𝑞 bei vereinfacht identisch angenommenen Grenzkosten 𝑀𝐶 𝑀𝐶 ⋯ 𝑀𝐶 mit Kostenfunktionen (10.32) 𝑇𝐶 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 konkurrieren, ergibt sich für jedes Unternehmen 𝑖 eine Gewinnfunktion (10.33) 𝜋 𝑅 𝑇𝐶 𝑝𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 𝑎 𝑏 𝑞 𝑄 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 . Maximiert jedes Unternehmen den Gewinn durch Wahl der optimalen Produktionskapazität 𝑞 , dann ergibt sich aus der Ableitung der Gewinnfunktion (10.34) 𝑎 2𝑏𝑞 𝑏𝑄 𝑀𝐶 0 unter Berücksichtigung, dass alle Unternehmen identische Strategien wählen und somit 𝑄 𝑛 1 𝑞 gilt, und dass die optimalen Strategien durch (10.35) 𝑞 gegeben sind - zunächst ergibt sich, dass die gewählte Kapazität umso kleiner ist, je größer die Zahl 𝑛 der Wettbewerber ist. Darüber hinaus hat die Zahl der Wettbewerber aber auch Einfluss auf die Wettbewerbsintensität und Einfluss auf Preise und Gewinne: Über die Zahl der Unternehmen 𝑛 und die optimalen Strategien 𝑞 folgt mit (10.36) 𝑄 𝑛𝑞 die Gesamtproduktionsmenge 𝑄 einer Industrie, so dass sich Preis 𝑝 und Gewinn 𝜋 als (10.37) 𝑝 𝑎 𝑏𝑄 𝑀𝐶 und (10.38) 𝜋 𝑅 𝑇𝐶 𝐹𝐶 ergeben. Um die Ergebnisse besser einordnen zu können, sind in ► Abbildung 10.5 für eine Zahl an Unternehmen von 𝑛 1 bis 𝑛 100 die Effekte auf Preise 𝑝 , die optimalen unternehmensspezifischen Mengen 𝑞 , die entstehenden Gewinne 𝜋 und die gesamte Produktionsmenge 𝑄 einer Industrie für die Gleichungen (10.35) bis (10.38) graphisch dargestellt. Betrachtet man die Höhe der Gewinne in Abhängigkeit der Zahl der Unternehmen, so wird deutlich, dass hohe Gewinne nur bei sehr geringer Zahl an Unternehmen möglich sind - mit wachsender Unternehmenszahl und zunehmender Wettbewerbsintensität schrumpfen diese. Die Preise 𝑝 nähern sich sukzessiv den Grenzkosten, genauso werden einzelne Unternehmen kontinuierlich kleiner - wenngleich der Gesamtmarkt gemessen in Produktion 𝑄 wächst. Strategischer Wettbewerb im Oligopol 350 Preis P Unternehmensgröße q Gewinne 𝜋 Gesamtproduktion Q Abbildung 10.5: Cournot-Wettbewerb und Anzahl der Unternehmen (unter den Rahmenbedingungen: maximale Zahlungsbereitschaft a=100, Größe des Marktes b=0,02, identische Grenzkosten MC=10, industriespezifische Fixkosten FC=100). Das Cournot-Modell kann - für homogene Unternehmen, die in Kapazitäten konkurrieren - auch die bekannten Ergebnisse von Monopol und vollständiger Konkurrenz erklären. Für 𝑛 1 resultieren die Monopolergebnisse aus ► Kapitel 7, für große Unternehmenszahlen ergibt sich ein Gleichgewicht, in dem Preis gleich Grenzkosten gilt, jedes Unternehmen sehr klein ist und keine Gewinne entstehen - nahe an der Situation vollständiger Konkurrenz. 0 20 40 60 0 20 40 60 80 100n 0 1000 2000 3000 0 20 40 60 80 100 n -20000 0 20000 40000 60000 80000 100000 120000 0 20 40 60 80 100 n 0 1000 2000 3000 4000 5000 0 20 40 60 80 100 n Kapazitätsentscheidungen und Strategien beim Cournot-Wettbewerb 351 Markteintritte und Cournot-Nash-Gleichgewichte Aus Managementperspektive unterstreichen diese Ergebnisse zunächst die Bedeutung von Eintrittsbarrieren - nur bei einer geringen Zahl an Wettbewerbern sind unter sonst gleichen Bedingungen signifikante Gewinne möglich. Einfluss von Markteintritten auf Marktstruktur und Marktergebnis bei Cournot-Wettbewerb Unternehmen mit unterschiedlichen Grenzkosten C D E unternehmensspezifische Grenzkosten 𝑀𝐶 7 10 15 (4) Ausgangssituation mit zwei etablierten Unternehmen C und D ( a =100, b =0,02, FC =100) 𝑞 1600 1450 - 𝑝 39 𝜋 51100 41950 - 𝑄 3050 𝑠 52 % 48 % - (5) Markteintritt und alle passen sich an neues Cournot- Nash-Gleichgewicht an ( a =100, b =0,02, FC =100) 𝑞 1300 1150 900 𝑝 33 𝜋 33700 26350 16100 𝑄 3350 𝑠 39 % 34 % 27 % (6) Markteintritt und etablierte Unternehmen behalten bisherige Strategien bei ( a =100, b =0,02, FC =100) 𝑞 1600 1450 900 𝑝 21 𝜋 22300 15850 5300 𝑄 3950 𝑠 41 % 37 % 23 % Tabelle 10.2: Einfluss von Markteintritten auf Marktstruktur und Marktergebnis bei Cournot-Wettbewerb Zahlenwerte teilweise gerundet. Um dies zu verdeutlich, ist in ► Tabelle 10.2 dargestellt, wie sich Marktstruktur und Marktergebnis verändern, wenn ein weiteres Unternehmen in den Markt eintritt. In der Ausgangsituation (4) existieren zunächst zwei etablierte Unternehmen C und D (► Tabelle 10.1), die sich bei gegebenen Rahmenbedingungen ( 𝑎 100 , 𝑏 0,02 , 𝐹𝐶 100 ) aufgrund unterschiedlicher Grenzkosten in Größe und Profitabilität unterscheiden. Strategischer Wettbewerb im Oligopol 352 Tritt jetzt aufgrund fehlender oder nicht wirksamer Eintrittsbarrieren Unternehmen E, wenngleich mit deutlich höheren Grenzkosten, in den Markt ein, werden sich alle Unternehmen im Zeitablauf an das neue Nash-Gleichgewicht (5) anpassen. Insbesondere werden die beiden etablierten Unternehmen ihre Strategien anpassen und die Produktionsmengen jeweils reduzieren und Marktanteile verlieren. Damit geht einher, dass die Gewinne um etwas mehr als 35 % zurückgehen. Würden die beiden etablierten Unternehmen allerdings ihre bisherigen Strategien beibehalten (6) und vom Nash-Gleichgewicht abweichen, könnten beide zwar höhere Marktanteile durchsetzen - aber aufgrund der in Summe höheren Produktionsmenge müssen die Preise deutlich nach unten angepasst werden, so dass in der Folge die Gewinne signifikant um mehr als 50 % einbrechen. Wenn keine Eintrittsbarrieren etabliert werden können, dann stabilisiert das Aufgeben von Marktanteilen und die Anpassung an das neue Nash-Gleichgewicht in der Folge von Markteintritten die Profitabilität der etablierten Unternehmen. 10.2 Sequentielle Entscheidungen und Strategien bei Stackelberg- Wettbewerb Im vorangegangenen Abschnitt sind Marktstruktur und Marktergebnis bei simultanen Entscheidungen der Unternehmen bei Kapazitätswettbewerb beschrieben. In zahlreichen Industrien gibt es allerdings ein dominantes oder marktbeherrschendes Unternehmen, das als Marktführer eine First-Mover-Rolle einnimmt: So nimmt die Deutsche Telekom als ehemalig staatliches Monopol weiter eine marktführende Rolle in der deutschen Telekommunikationsindustrie mit einer großen Zahl an Marktfolgern ein. Damit geht nicht notwendigerweise ein dominanter Marktanteil einher, da die Marktführung sich auch in technologischen oder strategischen Entscheidungen, die für andere Unternehmen Rahmenbedingungen setzen oder verändern, zeigen kann. Industrien dieser Art werden oft anhand des Stackelberg-Modells (von Stackelberg 1934, Amir und Grilo 1999, Spence 1977, Dixit 1979 und Dowrick 1986) analysiert: Ein Unternehmen entscheidet als erstes über seine Kapazität, alle anderen beobachten diese Entscheidung und orientieren sich an dieser festgelegten Kapazität. Rollenverteilung, Commitment und Transparenz Wettbewerbsprozesse und die Durchsetzung einer marktführenden Rolle werden dann gut durch das Stackelberg-Modell beschrieben, wenn folgende drei Voraussetzungen erfüllt sind:  Klare Rollenverteilung - bei Stackelberg-Wettbewerb existiert eine eindeutige Rollenverteilung zwischen dem Marktführer und einem oder mehreren (nicht zwingenderweise kleineren) Marktfolgern, d.h., keiner der Marktfolger beansprucht eine Marktführung. Die Führungsrolle kann bspw. auf  einer Führungsrolle in der Vergangenheit (früheres Monopol wie Deutsche Telekom oder Deutsche Bahn),  der Kontrolle bestimmter Wettbewerbsparameter (bspw. Intel als Technologieführer bei der Entwicklung von Computerchips und Festlegung der Kompatibilität) oder Sequentielle Entscheidungen und Strategien bei Stackelberg-Wettbewerb 353  absoluter Größe (wie bspw. Amazon, die aufgrund ihres Marktanteils - insbesondere über Amazon Marketplace - für andere Onlineshops maßgeblich Bezahl- und Lieferverfahren festlegen) basieren.  Commitment - die Führungsrolle kann nur funktionieren, wenn sich das marktführende Unternehmen auf eine bestimmte Strategie glaubwürdig festlegen kann, d.h., die Strategie muss kostenintensiv und irreversibel sind - sie muss daher mit signifikanten Sunk Costs des Marktführers verbunden sein:  Pharmaunternehmen wie Pfizer oder Merck investieren im F&E-Wettbewerb kontinuierlich Sunk Costs, um bestimmte technologische Pfade auch für die Marktfolger festzulegen - je höher die kumulierten Investitionen in einen bestimmten Pfad sind, umso wahrscheinlicher sind Innovationen und umso weniger kann ein Marktfolger diesen ignorieren.  Die Investition in den neuen Flughafen Istanbul Yeni Havalimani und der Aufbau insbesondere von enormer Umsteigekapazität zwischen Nordamerika und Asien versucht eine marktführende Rolle herzustellen, um insbesondere den Flughäfen Rhein-Main International Frankfurt, Charles de Gaulle Paris und London Heathrow - die jeweils ihre Kapazität nicht ausdehnen können - internationale Passagiere und Marktanteile abzunehmen.  Transparenz - zudem muss diese Strategie und deren Umsetzung für die Marktfolger nachvollziehbar und adaptierbar sein, so dass diese leicht und fehlerfrei folgen können:  Technologieunternehmen wie Intel, Linux oder Tesla stellen dies durch Offenlegung bestimmter Produktparameter sicher.  Festlegung und Veröffentlichung von Industriestandards zur Herstellung von Kompatibilität wie bspw. für CDs durch das Redbook und nachfolgend das Bluebook von Sony und Philips. Entscheidungen des Marktfolgers und des Marktführers Die Marktstruktur und das Marktergebnis bei Stackelberg-Wettbewerb kann am einfachsten durch Rückwärtsinduktion ermittelt werden, d.h., man beginnt die Entscheidungssituation aus Perspektive des Marktfolgers zu analysieren. Betrachtet wird eine Industrie mit zwei Unternehmen, Unternehmen 1 ist der Marktführer, Unternehmen 2 ist der Marktfolger, beide stellen die Rollenverteilung nicht infrage und produzieren homogene Produkte. Gelten dieselben Rahmenbedingungen wie in Abschnitt 10.1, dann kann als Startpunkt die Gewinnfunktion von Unternehmen 2 (10.39) 𝜋 𝑅 𝑇𝐶 𝑎𝑞 𝑏 𝑞 𝑞 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 . betrachtet werden. Dieses Unternehmen maximiert seine Gewinne durch Wahl der Produktionskapazität (10.40) 𝑎 𝑏 𝑞 𝑞 𝑏𝑞 𝑀𝐶 𝑎 𝑀𝐶 2𝑏𝑞 𝑏𝑞 0 , so dass sich nach Umstellen als optimale Strategie (10.41) 𝑞 ∗ Strategischer Wettbewerb im Oligopol 354 ergibt. Ein Vergleich mit Gleichung (10.11) zeigt: Die optimale Strategie eines Stackelberg- Markfolgers ist identisch mit der Strategie eines Cournot-Wettbewerbers. Wenn allerdings - wie oben beschrieben - ein klares Rollenverständnis in dieser Industrie existiert, dann kann und wird der Marktführer die Entscheidung des Marktfolgers antizipieren und in seiner Strategiewahl berücksichtigen. Die Gewinnfunktion des Marktführers wird von (10.42) 𝜋 𝑅 𝑇𝐶 𝑎𝑞 𝑏 𝑞 𝑞 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 durch Einsetzen von (10.36) verändert zu (10.43) 𝜋 𝑅 𝑇𝐶 𝑎𝑞 𝑏 𝑞 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 . Offensichtlich hängt die Gewinnfunktion von Unternehmen 1 jetzt nur noch von der eigenen Strategie 𝑞 ab, da 𝑞 nicht mehr explizit in Funktion (10.43) enthalten ist. Differenziert man die Gewinnfunktion (10.43) in Bezug auf die Produktionskapazität (10.44) 𝑎 𝑀𝐶 2𝑏𝑞 𝑏𝑞 0 , ergibt sich nach Umstellung die optimale Strategie von Unternehmen 1 als (10.45) 𝑞 ∗ , die offenbar von Unterschieden in den Grenzkosten der beiden Unternehmen bestimmt wird. Verhält sich der Marktfolger wie vom Marktführer erwartet und antizipiert der Marktführer dies in seiner Strategie, dann ist das Ergebnis bei Stackelberg-Wettbewerb in den Gleichungen (10.41) und (10.45) ein teilspielperfektes Nash-Gleichgewicht, d.h., die Entscheidung der zweiten Stufe wird konsistent mit den Überlegungen der ersten Stufe getroffen. Für den Fall, dass beide Unternehmen Grenzkosten in gleicher Höhe haben, so dass 𝑀𝐶 𝑀𝐶 gilt, vereinfacht sich (10.45) zu (10.46) 𝑞 ∗ , die Strategie des Stackelberg-Marktführers ist identisch mit der Strategie eines Monopolisten (► Kapitel 7 Gleichung (7.43)). In ► Tabelle 10.3 sind - für die gleichen Rahmenbedingungen wie in ► Tabelle 10.1 für Cournot-Wettbewerb - die Marktstruktur und die Marktergebnisse bei Stackelberg-Wettbewerb gezeigt. Sequentielle Entscheidungen und Strategien bei Stackelberg-Wettbewerb 355 Marktstruktur und Marktergebnis bei Stackelberg-Wettbewerb Industrie 1 Industrie 2 Unternehmen mit identischen Grenzkosten Unternehmen mit unterschiedlichen Grenzkosten Marktführer A Marktfolger B Marktführer C Marktfolger D unternehmensspezifische Grenzkosten MC i 10 10 7 10 Ausgangssituation ( a =100, b =0,02, FC =100) 𝑞 2250 1125 2400 1050 𝑝 32,5 31 𝜋 50525 25213 57500 21950 𝑄 3375 3450 𝑠 67 % 33 % 70 % 30 % Anstieg der Zahlungsbereitschaft a ( a =130, b =0,02, FC =100 ) 𝑞 3000 1500 3150 1425 𝑝 40 38,5 𝜋 67400 33650 75500 29825 𝑄 4500 4575 𝑠 67 % 33 % 69 % 31 % Wachstum des Marktes ( a =100, b =0,01, FC =100) 𝑞 4500 2250 4800 2100 𝑝 32,5 31 𝜋 101150 50525 115100 44000 𝑄 6750 6900 𝑠 67 % 33 % 70 % 30 % Tabelle 10.3: Marktstruktur und Marktergebnis bei Stackelberg-Wettbewerb Zahlenwerte teilweise gerundet. Strategischer Wettbewerb im Oligopol 356 Das marktführende Unternehmen kann offensichtlich in jedem Fall einen First Mover Advantage erzielen:  Bei identischen Grenzkosten wählt der Marktführer eine Produktionskapazität, die genau doppelt so groß wie die des Marktfolgers ist - der Marktanteil beträgt entsprechend 2/ 3 für den Marktführer, 1/ 3 für den Marktfolger.  Bei unterschiedlichen Grenzkosten und Effizienzvorteilen für den Marktführer kann dieser den Vorsprung an Marktanteilen sogar ausbauen.  Die operativen Gewinne (Deckungsbeitrag vor Fixkosten) des Marktführers sind doppelt so hoch wie die des Marktfolgers.  Die Gewinne beider Unternehmen steigen bei wachsender Zahlungsbereitschaft und Wachstum des Marktes symmetrisch an, beide profitieren in gleicher Weise. Stackelberg-Marktführerschaft versus Cournot-Wettbewerb Vergleicht man die Ergebnisse bei Stackelberg-Wettbewerb aus ► Tabelle 10.3 mit den Ergebnissen bei Cournot-Wettbewerb aus ► Tabelle 10.1, werden folgende Unterschiede deutlich:  Bei Stackelberg-Wettbewerb wird in Summe eine höhere Produktionskapazität etabliert, mehr produziert und die Preise sind niedriger - insbesondere Kunden haben Vorteile, da die Konsumentenrente ansteigt.  Die Gewinne der Unternehmen sind bei Stackelberg-Wettbewerb unter sonst gleichen Bedingungen typischerweise in Summe höher als bei Cournot-Wettbewerb - so dass ceteris paribus auch die Produzentenrente ansteigt. Aus Managementperspektive stellt sich die Frage, ob generell - auch ohne die oben genannten Bedingungen - eine Stackelberg-Marktführerschaft angestrebt werden sollte. In ► Abbildung 10.6 sind unter gleichen Rahmenbedingungen die drei Strategien Cournot-Kapazität CK, Stackelberg-Marktführer-Kapazität SMK und Stackelberg-Marktfolger-Kapazität SMF in einem simultanen Spiel zur Auswahl der Strategien kombiniert, links für den Fall gleicher Grenzkosten, rechts für den Fall unterschiedlicher Grenzkosten. Wenn zwei Unternehmen die hier betrachteten drei möglichen Strategien in einem übergeordneten Spiel zur Auswahl der richtigen Art des Wettbewerb betrachten, ergibt sich, dass bei identischen Grenzkosten die Kombination aus zwei Cournot-Strategien im simultanen Spiel immer ein stabiles Nash-Gleichgewicht in besten Antworten darstellt. Dies gilt auch, wenn - wie in ► Abbildung 10.6 rechts - die Grenzkostenunterschiede nicht zu groß sind: Ein Unternehmen C mit Grenzkostenvorteilen würde in einem simultanen Spiel eine Cournot- Strategie wählen, Unternehmen D hat eine beste Antwort ebenfalls in der Wahl einer Cournot-Strategie. Damit ist die Plausibilität und große Bedeutung des Cournot-Modells bei simultanen Entscheidungen belegt - eine Stackelberg-Marktführerschaft benötigt typischerweise die Voraussetzung von klarem Rollenverständnis und Commitment durch Sunk Costs auf eine Strategie und Transparenz. Preisentscheidungen und Strategien bei Bertrand-Wettbewerb 357 Abbildung 10.6: Spieltheoretische Überprüfung von Cournotvs. Stackelberg-Wettbewerb (Strategien: Cournot-Kapazität CK, Stackelberg-Marktführer-Kapazität SMK, Stackelberg-Marktfolger-Kapazität SMF, Werte der Auszahlungsmatrix gerundet in Tausend). 10.3 Preisentscheidungen und Strategien bei Bertrand-Wettbewerb Cournot- und Stackelberg-Modelle in den vorherigen beiden Abschnitten beschreiben Wettbewerb bei Kapazitätsentscheidungen. Unternehmen erzielen hier typischerweise positive Gewinne. Bei Preiswettbewerb - ursprünglich von Bertrand (1883) beschrieben - werden Preise als strategischer Parameter eingesetzt: In der Folge können Unternehmen aufgrund wechselseitiger Preisunterbietungen keine signifikanten Gewinne realisieren. Bertrand-Wettbewerb ohne Produktdifferenzierung Eine Industrie, die ohne vertikale Produktdifferenzierung über Preise konkurriert, sind Fluggesellschaften. Über die letzten Dekaden gibt es robuste empirische Evidenz, dass der Wettbewerb zwischen Fluglinien insbesondere auf nationalen Verbindungen regelmäßig zu Gewinnen nahe Null und bei Nachfragerückgang zu Verlusten führt (IATA 2013, Morrison und Winston 2010, Borenstein 1992 und Oum et al. 2004, vgl. auch ► Kapitel 4). Deshalb haben in dieser Industrie einerseits Eintrittsbarrieren, bspw. in Form strategischer Code-Sharing Allianzen wie Oneworld, Staralliance oder Skyteam, eine signifikante Bedeutung (sie schützen ggfs. profitable Routen), andererseits spielt Marketing zur Etablierung von horizontaler Produktdifferenzierung eine große Rolle. Analog zur Überlegung in ► Kapitel 10.1, Cournot-Wettbewerb als Spiel mit einem Kontinuum an Kapazitätsstrategien zu betrachten, kann man jetzt Bertrand-Wettbewerb als Spiel mit einem Kontinuum an Preisstrategien auffassen. Jedes Unternehmen versucht, eine optimale Preisstrategie vor dem Hintergrund möglicher Preisstrategien aller Wettbewerber zu finden, d.h., die resultierende Strategiekombination ist wieder ein Nash-Gleichgewicht in besten Antworten - hier in Preisen. In ► Abbildung 10.7 ist die Wettbewerbssituation zwischen Lufthansa und AirBerlin für eine innerdeutsche Strecke bis 2017 als Spiel in Preisen dargestellt. Offenbar gibt es - markiert unterschiedliche Grenzkosten p = 100 - 0,02 (q C +q D ) MC C =7 MC D =10 FC=100 identische Grenzkosten p = 100 - 0,02 (q A +q B ) MC A =MC B =10 FC=100 2 CK 1450 CK 1600 SMF 2175 SMK 2400 SMK 1240 SMF 1050 Unternehmen D 48 19 41 51 39 26 25 62 58 21 38 22 58 42 64 54 45 27 Unternehmen C CK 1500 CK 1500 SMF 1125 SMK 2250 SMK 2250 SMF 1125 Unternehmen B -1 22 34 45 42 50 56 50 50 -1 34 25 22 45 56 25 42 50 Unternehmen A 1 Strategischer Wettbewerb im Oligopol 358 durch zwei schwarze Rahmen - zwei Nash-Gleichgewichte, allerdings machen die Unternehmen in beiden Strategiekombinationen Verluste. Die Ursache für die Verluste liegt in der Kombination aus fehlender Produktdifferenzierung, Überkapazitäten und Preiswettbewerb: Wenn die Produkte nicht hinreichend differenziert sind, haben die Kunden keine Präferenz für eine der Fluglinien, so dass diese sich wechselseitig in Preisen unterbieten, um ihre jeweilige Kapazität auszulasten. Wenn die Grenzkosten - wie hier angenommen - identisch sind, werden die Unternehmen die Preise bis auf das Niveau der Grenzkosten senken und Verluste in Höhe der Fixkosten realisieren. Abbildung 10.7: Preisstrategien von Lufthansa und AirBerlin (Daten der Auszahlungsmatrix auf Basis p = 400 - 0,2 Q, Q ‧ = 2.000 - 5 ‧ p, MC LH = MC AB = 50, FC = 40.000). Exakt dieser Zusammenhang hat maßgeblich zur Insolvenz von AirBerlin 2017 beigetragen: Die Verluste auf innerdeutschen Strecken konnten nicht hinreichend durch Gewinne auf internationalen Strecken ausgeglichen werden und die Eigenkapitalbasis konnte die Verluste nicht dauerhaft decken. Bertrand-Wettbewerb zwischen zwei Unternehmen in einer Industrie ohne Produktdifferenzierung bei identischen Grenzkosten ohne Kapazitätsbeschränkung kann allgemein wie folgt beschrieben werden. Eine Nachfragefunktion (10.47) 𝑝 𝑎 𝑏𝑄 mit 𝑄 𝑞 𝑞 , die auch als Reaktionskurve der besten Antworten von AirBerlin, d.h. gegeben einer Strategie von Lufthansa (einer Spalte) ergibt sich hier die gewinnmaximierende Strategie für AirBerlin Reaktionskurve der besten Antworten von Lufthansa, d.h. gegeben einer Strategie von AirBerlin (einer Zeile) ergibt sich hier die gewinnmaximierende Strategie für Lufthansa Schnittpunkte der Reaktionskurven geben mögliche Nash Gleichgewichte an, d.h. Kombinationen „bester Antworten“ beider Unternehmen 0 50 100 150 200 250 300 350 400 -90 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -40 0 -90 -140 -140 -140 -140 -140 -140 -140 -140 -90 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -40 50 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -90 -40 -2,5 -40 -40 -40 -40 -40 -40 100 -40 -40 -2,5 35 35 35 35 35 35 -90 -40 35 22,5 -40 -40 -40 -40 -40 150 -40 -40 -40 22,5 85 85 85 85 85 -90 -40 35 85 35 -40 -40 -40 -40 200 -40 -40 -40 -40 35 1 1 0 1 1 0 1 1 0 1 1 0 -90 -40 35 85 1 1 0 35 -40 -40 -40 250 -40 -40 -40 -40 -40 35 1 1 0 1 1 0 1 1 0 -90 -40 35 85 1 1 0 1 1 0 22,5 -40 -40 300 -40 -40 -40 -40 -40 -40 22,5 85 85 -90 -40 35 85 1 1 0 1 1 0 85 -2,5 -40 350 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -2,5 35 -90 -40 35 85 1 1 0 1 1 0 85 35 -40 400 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -40 -40 Preisstrategien von Lufthansa Preisstrategie von AirBerlin Preisentscheidungen und Strategien bei Bertrand-Wettbewerb 359 (10.48) 𝑞 𝑞 formuliert werden kann, führt für Unternehmen 1 bei identischen Grenzkosten 𝑀𝐶 𝑀𝐶 beider Unternehmen zu folgenden möglichen Mengen in Abhängigkeit der Preisstrategie: (10.49) 𝑞 0 𝑤𝑒𝑛𝑛 𝑝 𝑝 𝑤𝑒𝑛𝑛 𝑝 𝑝 𝑤𝑒𝑛𝑛 𝑝 𝑝 Im ersten Fall 𝑝 𝑝 werden - bei unbegrenzter Kapazität des Wettbewerbers und homogenen Produkten - alle Kunden beim Wettbewerber kaufen, im umgekehrten Fall von 𝑝 𝑝 werden alle Kunden bei Unternehmen 2 kaufen. Beide Unternehmen haben wechselseitig einen Anreiz, ihre Preise jeweils unter die des Wettbewerbers zu senken. Lediglich im Fall gleicher Preise 𝑝 𝑝 werden die Kunden zufällig bei Unternehmen 1 oder 2 kaufen und der Erwartungswert des Marktanteils beträgt 50 %. Bei simultanen Entscheidungen werden beide Unternehmen die Preisstrategie des jeweiligen Wettbewerbers antizipieren, so dass schon für zwei Unternehmen wegen (10.50) 𝑝 𝑝 𝑀𝐶 𝑀𝐶 die Gewinne (10.51) 𝜋 𝜋 0 auf dem Niveau vollständiger Konkurrenz sind, eine größere Zahl an Unternehmen führt weder zu einer Veränderung von Preisen, Mengen oder Gewinne, lediglich die Marktanteile schrumpfen. Dieses Ergebnis ist ein Nash-Gleichgewicht in Preisen - keiner der Wettbewerber hat einen Anreiz, seine Preisstrategie zu verändern: Eine Preissenkung unter die Grenzkosten weitet die Verluste aus, eine Preiserhöhung führt dazu, dass alle Kunden zum Konkurrenten wechseln. Unter den gegebenen Rahmenbedingungen sind Gewinne bei Bertrand-Wettbewerb aus Managementperspektive nur dann erzielbar, wenn eine der folgenden Vorgehensweise gewählt wird:  Kollusion und Absprache der Preise auf einem Niveau über den Grenzkosten - dies ist allerdings typischerweise aus wettbewerbspolitischer Perspektive verboten und die Absprache ist ggfs. nicht stabil (► Kapitel 7 und 9),  Kapazitätsbeschränkungen aller Wettbewerber, so dass Anreize für Preisunterbietungen reduziert oder eliminiert werden - Kapazitätsbeschränkungen sind aber aus strategischer Perspektive eine Form von Kapazitätswettbewerb (► Kapitel 10.1) oder  der Aufbau vertikaler oder horizontaler Produktdifferenzierung - die Kunden haben bei horizontaler Produktdifferenzierung Präferenzen für einen der Anbieter, so dass selbst bei niedrigeren Preisen nicht alle Kunden zu Wettbewerbern wechseln. Bertrand-Wettbewerb bei horizontaler Produktdifferenzierung Gewinne bei Bertrand-Wettbewerb können entstehen, wenn die Unternehmen in der Lage sind, einen hinreichenden Grad an Produktdifferenzierung aufzubauen und aufrechtzuerhal- Strategischer Wettbewerb im Oligopol 360 ten. Produkte können vertikal (in Bezug auf Qualität) oder horizontal (in Bezug auf Branding oder Geschmack) differenziert sein. Horizontale Produktdifferenzierung erfolgt in den meisten Fällen durch Marketing, bspw. Branding, Farbgebung, das ‚Look and Feel‘ der Produkte oder durch die Zuschreibung oder das Herausheben bestimmter Eigenschaften oder Verwendungszusammenhänge. So sind Girokonten von Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken oder Commerzbank und Deutscher Bank funktional identisch - die Differenzierung erfolgt im Wesentlichen durch Marketing. Preiswettbewerb bei heterogenen Produkten findet häufig bei horizontaler Produktdifferenzierung statt. Abbildung 10.8: Grad der Produktdifferenzierung. Die Heterogenität der Produkte, in diesem Fall aufgrund horizontaler Produktdifferenzierung, lässt sich durch die Nähe der Produkte zueinander beschreiben. Der industriespezifische Grad der Produktdifferenzierung 𝜸 bestimmt dann, ob und wie stark die Konsumenten beide Produkte als substitutive Alternativen (gemeinsamer Markt) sehen, oder ob die beiden Produkte als vollständig unterschiedlich betrachtet werden (getrennte Märkte) (vgl. auch ► Kapitel 2):  𝛾 1 : perfekte Substitute (homogene Produkte) - die Kunden haben keinerlei Präferenzen für Marken oder Unternehmen und wechseln beliebig und jederzeit zum kostengünstigsten Angebot.  𝛾 0 : perfekte Heterogenität - jedes Unternehmen besitzt für seinen Markt eine Monopol- oder marktbeherrschende Stellung, so dass Kunden extrem starke Präferenzen für Marken oder Unternehmen haben und aufgrund dieser Bindung oder hohen Wechselkosten (Switching Costs) in keinem Fall zu einem Wettbewerber wechseln.  1 𝛾 0 : horizontale Produktdifferenzierung - jedes Unternehmen hat durch Marketinginvestitionen eine bestimmte Unternehmens-, Marken- oder Produktpositionierung erreicht und Kundenbindung (Stammkunden) hergestellt, allerdings würden diese Kunden bei hinreichend großen Preisunterschieden zu Wettbewerbern wechseln. γ = 0 1 > γ > 0 getrennte Märkte (vollständige Produktdifferenzierung) Produktdifferenzierung gemeinsamer Markt (keine Produktdifferenzierung) γ = 1 Preisentscheidungen und Strategien bei Bertrand-Wettbewerb 361 Bei heterogenen Produkten hängt die Nachfrage nach dem eigenen Produkt natürlich weiter von der eigenen Produktqualität (die beim Kunden eine bestimmte Zahlungsbereitschaft 𝑎 auslöst) und der eigenen Kostenstruktur ab, aber indirekt auch von der Qualität und der Kostenstruktur des Wettbewerbers. Unterscheiden sich 𝑎 und 𝑎 , dann liegt vertikale Produktdifferenzierung vor, ist zudem 1 𝛾 0 , dann liegt darüber hinaus horizontale Produktdifferenzierung vor, so dass die Nachfragefunktionen für zwei Unternehmen 1 und 2 durch (10.52) 𝑝 𝑎 𝑏 𝑞 𝛾𝑏 𝑞 und (10.53) 𝑝 𝑎 𝑏 𝑞 𝛾𝑏 𝑞 gegeben sind, in der 𝑏 und 𝑏 die Größe der jeweiligen Marktsegmente der beiden Unternehmen beschreibt. Je näher 𝛾 an Null liegt, desto größer ist der Anteil an Stammkunden eines Unternehmens, umso geringer sind die Rückwirkungen des Wettbewerbs und vice versa, so dass für Unternehmen 1 𝑏 𝑞 den direkten Effekt der eigenen Produktionsmenge und 𝛾𝑏 𝑞 den indirekten Effekt der Produktionsmenge von Unternehmen 2 beschreibt. Wenn 𝛾 gegen 1 strebt, wachsen offensichtlich die beiden Nachfragefunktionen (10.52) und (10.53) wieder zusammen, so dass - bei einem Wegfall der Marktsegmente aufgrund fehlender Differenzierung - wieder die Nachfragefunktion (10.47) in der Situation homogener Produkte entstehen würde. Um nun Preiswettbewerb bei horizontaler Produktdifferenzierung zu analysieren ist zunächst der Fall unterstellt, dass die jeweiligen Marktsegmente gleichgroß sind und 𝑏 𝑏 𝑏 gilt und die Zahlungsbereitschaft der Kunden für die Produkte beider Unternehmen identisch ist, so dass 𝑎 𝑎 𝑎 - dann lassen sich die Nachfragefunktionen (10.52) und (10.53) umstellen zu (10.54) 𝑞 𝑎 𝑝 𝑝 und (10.55) 𝑞 𝑎 𝑝 𝑝 . Bei heterogenen Produkten und Preiswettbewerb hängt die Nachfrage 𝑞 nach dem eigenen Produkt vom eigenen Preis und vom Preis des Wettbewerbers ab. Produktdifferenzierung impliziert, dass die Unternehmen keine gemeinsame, sondern individuelle (aber gekoppelte) Nachfragefunktion haben. Je höher der eigene Preis, desto niedriger die Nachfrage, aber: je höher der Preis des Konkurrenzproduktes, desto höher die Nachfrage nach dem eigenen Produkt. Der Parameter 1 > 𝛾 > 0 bildet weiter die horizontale Produktdifferenzierung bei Preiswettbewerb ab. Wenn die Unternehmen identische Kostenfunktionen von 𝑇𝐶 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 aufweisen, dann ergeben sich für beide Unternehmen 𝑖 und 𝑗 die Gewinnfunktionen als (10.56) 𝜋 𝑝 ⋅ 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 = 𝑝 𝑎 𝑝 𝑝 𝑀𝐶 𝑎 𝑝 𝑝 𝐹𝐶 . Um die optimale Preisstrategie eines Unternehmens zu ermitteln, differenziert man (10.56) nach dem strategischen Parameter Preis 𝑝 , so dass sich über Strategischer Wettbewerb im Oligopol 362 (10.57) 𝑎 𝑝 𝑝 𝑀𝐶 0 nach Umstellung der optimale Preis als (10.58) 𝑝 𝛾𝑝 für 𝑖, 𝑗 1,2 für beide Unternehmen ergibt. Analog zum Vorgehen bei Cournot-Wettbewerb kann man Gleichung (10.58) als Reaktionsfunktion verstehen - für jeden Preis 𝑝 wird das Unternehmen 𝑖 eine optimale (gewinnmaximierende) Reaktion 𝑝 identifizieren und umsetzen. Unternehmen 𝑖 muss entsprechend (10.58) drei Determinanten einer optimalen Strategie berücksichtigen, um die Gewinne zu maximieren:  die strategische Entscheidung von Unternehmen 𝒋 und dessen Preisstrategie 𝑝 - je höher der Preis des Wettbewerbers, desto höher kann der eigene Preis gesetzt werden,  die Zahlungsbereitschaft der Kunden - je höher 𝑎 ist, desto höher kann der optimale Preis gewählt werden, und  der Grad der Produktdifferenzierung, gegeben durch 𝛾 - je größer die Produktdifferenzierung (je näher 𝛾 an Null liegt), desto stärker kann eine höhere Zahlungsbereitschaft der Kunden für höhere Preise ausgenutzt werden. Horizontale Produktdifferenzierung reduziert die Wettbewerbsintensität und ermöglicht Unternehmen, bei Bertrand-Wettbewerb Gewinne zu erzielen. Gleiches gilt natürlich für Unternehmen 𝑗 , so dass die wechselseitig besten Antworten beider Unternehmen auf die Preisstrategie des Wettbewerbers ein Bertrand-Nash-Gleichgewicht in Preisen darstellen. In ► Abbildung 10.9 sind für zwei Unternehmen die Reaktionskurven eingezeichnet. Abbildung 10.9: Bertrand-Nash-Gleichgewichte und Effekte auf Unternehmensstrategien. Anders als bei Cournot-Wettbewerb verlaufen die Reaktionskurven jetzt ansteigend, d.h., eine Preiserhöhung des Wettbewerbers führt (bspw. wie in ► Abbildung 10.9 rechts gezeigt) 2 p 1 0 p 2 p 1 0 p 2 Unternehmen 2 p ∗ p ∗ Unternehmen 1 1 2 γp 1 2 γp p 1 γ a MC 2 p 1 γ a MC 2 2 1 p ∗ p ∗ 1 2 γp 1 2 γp Unternehmen 2 Unternehmen 1 Preisentscheidungen und Strategien bei Bertrand-Wettbewerb 363 in Folge einer Erhöhung der Zahlungsbereitschaft der Kunden oder auch aufgrund höherer Grenzkosten zu einer eigenen Preiserhöhung und vice versa. Dieser Effekt ist umso stärker, je höher der Grad der Produktdifferenzierung ist, je kleiner 𝛾 . Umgekehrt wird auf Preissenkungen natürlich weiterhin mit Preissenkungen reagiert: Kann ein Unternehmen seine Grenzkosten senken, so wird nach Maßgabe von Gleichung (10.62) der eigene Preis reduziert und das andere Unternehmen wird ebenfalls die Preise reduzieren - die Strategien bei Bertrand- Wettbewerb sind strategische Komplementen: Sie laufen für beide Unternehmen immer in die gleiche Richtung. Löst man Gleichung (10.58) für zwei Unternehmen 𝑖 und 𝑗 auf, ergibt sich das Nash- Gleichgewicht in Preisen als (10.59) 𝑝 𝑝 , so dass sich durch Einsetzten in (10.54) bis (10.56) die aufgrund gleicher Grenzkosten symmetrischen Mengen und Gewinne beider Unternehmen als (10.60) 𝑞 𝑞 und (10.61) 𝜋 𝜋 𝐹𝐶 ergeben. Steigt der Grad der Produktdifferenzierung, d.h. 𝛾 wird kleiner und strebt gegen 0, dann verschieben sich die Reaktionskurven nach außen und werden flacher. Die Preise steigen bei einem Anstieg des Grades der Produktdifferenzierung wegen (10.59) an, zudem wachsen die Unternehmen wegen (10.60). In jedem Fall können die Unternehmen bei Bertrand- Wettbewerb dann Gewinne erzielen, wenn die Produktdifferenzierung hinreichend groß ist (► Kapitel 10.4) - würde bei fehlender Produktdifferenzierung 𝛾 gegen 1 streben, folgt aus (10.59) zunächst 𝑝 𝑝 𝑀𝐶 und aus (10.61) ein Verlust in Höhe der Fixkosten.  Case Study | Air France versus British Airways Air France und British Airways konkurrieren auf der Strecke Paris CDG - London Heathrow. Da beide Fluglinien auf dieser internationalen Strecke stark in Marketing investieren, liegt aus Kundensicht horizontale Produktdifferenzierung vor. Beide Unternehmen betreiben Preiswettbewerb, da die jeweiligen Kapazitäten jederzeit ausgedehnt werden können, um die komplette Nachfrage abzudecken. Die Business-Class-Nachfrage ist gegeben durch 𝑞 2000 - 2 𝑝 𝑝 für Air France, und 𝑞 2000 - 2 𝑝 𝑝 , wobei 𝑞 die Menge (Anzahl an Sitzplätzen) von Air France, 𝑞 die Menge von British Airways, 𝑝 den Ticketpreis von Air France und 𝑝 den Ticketpreis von British Airways bezeichnet. Die Grenzkosten beider Fluglinien auf dieser Strecke betragen je Sitzplatz 𝑀𝐶 20 , die Fixkosten betragen jeweils 𝐹𝐶 250.000 . Ein Unternehmensberater soll nun für British Airways prüfen:  Welche Preise sollten Air France und British Airways verlangen, welche Mengen werden resultieren, wie hoch ist der Gewinn von Air France, wie hoch ist der Gewinn von British Airways? Strategischer Wettbewerb im Oligopol 364  Air France entscheidet, den Preis 𝑝 400 festzusetzen. Mit welchem Preis kann British Airways auf diese Preisstrategie reagieren, um den eigenen Gewinn zu maximieren? Um die optimalen Preise beider Unternehmen zu ermitteln, setzt man zunächst in die Gewinnfunktionen (10.62) 𝜋 𝑝 ⋅ 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 beider Unternehmen die jeweiligen Nachfragefunktionen ein, so dass sich (10.63) 𝜋 𝑝 ⋅ 2000 - 2 𝑝 𝑝 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 für Air France und (10.64) 𝜋 𝑝 ⋅ 2000 - 2 𝑝 𝑝 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 für British Airways ergibt. Die Bestimmung der optimalen Preise 𝑝 und 𝑝 erfolgt durch Ableitung der Gewinnfunktionen nach 𝑝 und 𝑝 , so dass sich mit (10.65) 2000 4𝑝 𝑝 0 oder 𝑝 500 𝑝 und (10.66) 2000 4𝑝 𝑝 0 oder 𝑝 500 𝑝 ergibt. Setzt man jetzt (10.66) in (10.65) ein, dann folgt nach Auflösen von (10.67) 𝑝 500 𝑝 500 500 𝑝 , dass der optimale Preis von Air France 𝑝 680 beträgt. Aufgrund der Symmetrie der beiden Unternehmen bei Nachfrage und Kostenstruktur beträgt der optimale Preis von British Airways 𝑝 680 . Beide Unternehmen können wegen (10.68) 𝑞 2000 - 2 𝑝 𝑝 2000 2 ⋅ 680 680 1.320 und (10.69) 𝑞 2000 - 2 𝑝 𝑝 2000 2 ⋅ 680 680 1.320 jeweils 1.320 Flugtickets in der Business-Class pro Tag auf dieser Strecke verkaufen. Die Gewinne beider Unternehmen ergeben sich als (10.70) 𝜋 𝑝 ⋅ 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 680 ⋅ 1320 20 ⋅ 1320 250.000 621.200 und (10.71) 𝜋 𝑝 ⋅ 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 680 ⋅ 1320 20 ⋅ 1320 250.000 621.200 ebenfalls in gleicher Höhe. Wenn nun Air France durch einen Preis von 𝑝 400 versucht, mehr Kunden zu gewinnen und den Wettbewerb zu verändern, kann British Airways nicht am bisherigen Preis festhalten. Allerdings kann British Airways unmittelbar aus der Reaktionsfunktion (10.66) vor dem Hintergrund des willkürlich von Air France gesetzten Preises die optimale neue Strategie als (10.72) 𝑝 500 𝑝 500 100 600 bestimmen. Mit den neuen Preisen ergibt sich mit (10.73) 𝑞 2000 - 2 𝑝 𝑝 2000 2 ⋅ 400 600 1.800 und (10.74) 𝑞 2000 - 2 𝑝 𝑝 2000 2 ⋅ 600 400 1.200 Strategischer Wettbewerb bei Produktdifferenzierung 365 natürlich eine Verschiebung der Marktanteile zugunsten von Air France. Betrachtet man allerdings mit (10.75) 𝜋 𝑝 ⋅ 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 400 ⋅ 1800 20 ⋅ 1800 250.000 434.000 und (10.76) 𝜋 𝑝 ⋅ 𝑞 𝑀𝐶 ⋅ 𝑞 𝐹𝐶 600 ⋅ 1200 20 ⋅ 1200 250.000 446.000 die jetzt entstehenden Gewinne, dann führt das willkürliche Abweichen von Air France vom Bertrand-Nash-Gleichgewicht zu einer Reduktion der Gewinne, allerdings aufgrund der hohen Fixkosten bei gleichzeitiger Produktdifferenzierung mit stärker negativem Effekt auf Air France. Wieder zeigt sich, dass ein Abweichen vom Nash- Gleichgewicht die Gewinne reduziert. 10.4 Strategischer Wettbewerb bei Produktdifferenzierung Strategisch wird Produktdifferenzierung zum einen eingesetzt, um unternehmensspezifische Marktsegmente zu schaffen, zum anderen soll die Zahlungsbereitschaft der Kunden erhöht werden. Liegt zudem vertikale Produktdifferenzierung vor, können die Effekte aus qualitativen Unterschieden der Produkte durch horizontale Produktdifferenzierung verstärkt werden. Bei homogenen Produkten in Märkten ohne vertikale oder horizontale Produktdifferenzierung führt Wettbewerb unter einer festen Anzahl an Unternehmen, wie in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt, zu polaren Ergebnissen: Ohne limitierende Faktoren wie Kapazitätsbeschränkungen, Kunden- oder Vertragsbindungen oder sequentielle Entscheidungen erzielen die Unternehmen bei Bertrand-Wettbewerb infolge wechselseitiger Preisunterbietung typischerweise keinen Gewinn - bei Cournot-Wettbewerb sind aber Gewinne die Regel. Aus Managementperspektive ist es eine zentrale Aufgabe, herauszuarbeiten, bei welcher Art von Wettbewerb größere Anreize für Produktdifferenzierung bestehen, um Gewinne für das Unternehmen zu erzielen. Im Folgenden werden optimale Strategien in Abhängigkeit des Grades der Produktdifferenzierung für Unternehmen mit heterogener Wettbewerbsfähigkeit (unterschieden in Zahlungsbereitschaft der Kunden und in Grenzkosten) entwickelt (Singh und Vives 1984, Tremblay und Tremblay 2011 sowie Münter 2017). Cournot-Wettbewerb bei Produktdifferenzierung Betrachtet werden zwei Unternehmen 𝑖 1; 2 , die über Kapazitäten 𝑞 konkurrieren, deren Grenzkosten 𝑀𝐶 unterschiedlich sind, die industriespezifische Fixkosten 𝐹𝐶 in gleicher Höhe aufweisen und deren Produkte sowohl vertikal als auch horizontal differenziert sind. Damit lassen sich durch die Gleichungen (10.77) und (10.78) die Nachfragefunktion und die Kostenfunktion der beiden Unternehmen beschreiben als (10.77) 𝑝 𝑎 𝑏 𝑞 𝛾𝑏 𝑞 𝑝 𝑎 𝑏 𝑞 𝛾𝑏 𝑞 und (10.78) 𝑇𝐶 𝑀𝐶 𝑞 𝐹𝐶 𝑇𝐶 𝑀𝐶 𝑞 𝐹𝐶 Strategischer Wettbewerb im Oligopol 366 mit 1 𝛾 0 , 𝑎 𝑀𝐶 und 𝑎 𝑀𝐶 . Hier ist 𝑏 ein Indikator für die Größe des unternehmensspezifischen Marktsegments, 𝑎 ein Maß für die maximale unternehmensspezifische Zahlungsbereitschaft der Kunden zur Abbildung qualitätsbedingter vertikaler Produktdifferenzierung - je größer die von Kunden wahrgenommene Produktqualität (bspw. infolge von Produktinnovationen), desto höher der Wert von 𝑎 . Der Parameter 𝛾 misst hier weiterhin den industriespezifischen Grad horizontaler Produktdifferenzierung. Für jedes Unternehmen ergibt sich eine Gewinnfunktion (10.79) 𝜋 𝑅 𝑇𝐶 𝑎 𝑞 𝑏 𝑞 𝛾𝑏 𝑞 𝑞 𝑀𝐶 𝑞 𝐹𝐶 , die durch Wahl der Produktionskapazität 𝑞 maximiert werden kann, (10.80) 𝑎 2𝑏 𝑞 𝛾𝑏 𝑞 𝑀𝐶 0 , womit sich für beide Unternehmen optimale Strategien mit (10.81) 𝑞 ∗ 𝑞 ∗ ergeben. Es existieren wiederum Reaktionskurven in Abhängigkeit der Produktionskapazität der Wettbewerber. Kapazitäten sind weiterhin strategische Substitute, allerdings verlaufen diese aufgrund horizontaler Produktdifferenzierung und 1 > 𝛾 > 0 flacher als im Fall von homogenen Produkten (vgl. Abschnitt 10.1). Der Schnittpunkt bestimmt über die resultierenden Strategiekombination wieder ein Nash-Gleichgewicht, jedoch ist dieses typischerweise nicht symmetrisch, wenn Unterschiede in Grenzkosten, Zahlungsbereitschaft oder Größe des Marktsegments vorliegen. Ohne vertikale oder horizontale Produktdifferenzierung und gleich große Marktsegmente ergeben sich für 𝑎 𝑎 , 𝑏 𝑏 und 𝛾 → 1 die optimalen Strategien als (10.82) 𝑞 ∗ 𝑞 ∗ , identisch zu den entwickelten Strategien in ► Kapitel 10.1 in Gleichungen (10.9) und (10.11). Vertikale Produktdifferenzierung Betrachtet man bspw. Unternehmen 1, so wird aufgrund der partiellen Ableitung von Gleichung (10.81) mit (10.83) 0 offensichtlich, dass ein Anstieg vertikaler Produktdifferenzierung (d.h., 𝑎 wird größer) die optimale Unternehmensgröße ansteigen lässt - dieser Effekt ist umso größer, je größer das eigene Marktsegment (je kleiner 𝑏 ) ist. Die Effekte für vertikale Produktdifferenzierung sind asymmetrisch: Kann Unternehmen 1 die unternehmensspezifische Zahlungsbereitschaft 𝑎 bspw. durch Produktinnovationen erhöhen, geht mit diesem direkten positiven Effekt auf die eigene Unternehmensgröße ein indirekter negativer Effekt auf die Größe des anderen Unternehmens 2 einher, wie aus Strategischer Wettbewerb bei Produktdifferenzierung 367 (10.84) 0 zu erkennen ist. Der negative Effekt steigender vertikaler Produktdifferenzierung auf das jeweils andere Unternehmen ist umso größer, je größer das eigene Marktsegment ist, wird aber mit ansteigendem Grad horizontaler Produktdifferenzierung, d.h. absolut kleineren Werten von 𝛾 , abgeschwächt. Nimmt man Gleichungen (10.83) und (10.84) zusammen, so ist der Gesamteffekt ansteigender vertikaler Produktdifferenzierung eindeutig: Unternehmen 1 wächst direkt auf Basis von Gleichung (10.83), dieses Wachstum wird durch den indirekten Effekt (10.84) des Schrumpfens von Unternehmen 2 verstärkt. Horizontale Produktdifferenzierung Betrachtet man weiter isoliert für Unternehmen 1 den Effekt horizontaler Produktdifferenzierung, so wird mit der partiellen Ableitung (10.85) 0 zunächst deutlich, dass ein Anstieg horizontaler Produktdifferenzierung (d.h., 𝛾 wird kleiner und strebt gegen 0) einen positiven direkten Effekt auf die Größe beider Unternehmen hat et vice versa. Der Effekt ist umso stärker, je größer das eigene Marktsegment ist. Formuliert man allerdings (10.81) bspw. für Unternehmen 1 als (10.86) 𝑞 und differenziert jetzt nach 𝛾 , um auch die indirekten Rückwirkungen aus einer Veränderung von 𝑞 zu erfassen, so ergibt sich (10.87) . Dieser Effekt kann offenbar positiv oder negativ sein - Unternehmen 1 wächst bei abnehmendem Grad an Produktdifferenzierung (d.h., 𝛾 wird größer und strebt gegen 1) genau dann, wenn (10.88) 4𝛾 𝑎 𝑀𝐶 4 𝛾 𝑎 𝑀𝐶 , wenn also der Grad der horizontalen Produktdifferenzierung in Relation zu den relativen Wettbewerbsfähigkeiten beider Unternehmen (10.89) 𝛾 beträgt. Die Richtung und Stärke des Effektes kann ohne Kenntnis oder Blick auf die relativen Wettbewerbsfähigkeiten 𝑎 𝑀𝐶 und 𝑎 𝑀𝐶 nicht bestimmt werden. Ein Unternehmen wird bei rückläufigem Grad an horizontaler Produktdifferenzierung in jedem Fall nur dann wachsen, wenn die eigene Wettbewerbsfähigkeit relativ betrachtet groß genug im Vergleich zu der des Wettbewerbers ist - die Größe des anderen Unternehmens wird in diesem Fall definitiv zurückgehen. Aus Managementperspektive ist eine detaillierte Analyse der Wettbewerbsfähigkeit der Wettbewerber notwendig. Strategischer Wettbewerb im Oligopol 368 Bertrand-Wettbewerb bei Produktdifferenzierung Betrachtet werden weiter die beiden Unternehmen 𝑖 1; 2 unter denselben Rahmenbedingungen wie im vorangegangenen Abschnitt benannt, d.h. weiter über die Gleichungssysteme (10.77) und (10.78) beschrieben, bei Produktdifferenzierung unter der Annahme, dass jetzt Preise als strategischer Parameter eingesetzt werden. Zunächst werden die inversen Nachfragefunktionen (10.77) und (10.78) umformuliert in ein System von Nachfragefunktionen (10.90) 𝑞 𝑎 𝑎 𝑝 𝑝 𝑞 𝑎 𝑎 𝑝 𝑝 , so dass sich die jeweiligen Gewinnfunktionen als (10.91) 𝜋 𝑝 𝑝 𝑀𝐶 𝑝 𝐹𝐶 ergeben. Diese unterscheiden sich im Vergleich zu ► Kapitel 10.3, weil nun auch vertikale Produktdifferenzierung ( 𝑎 𝑎 ) und unterschiedlich große Marktsegmente 𝑏 𝑏 abgebildet werden. Differenziert man die Gewinnfunktion nach dem strategischen Parameter Preis (10.92) 𝑝 𝑀𝐶 0 , ergeben sich die optimalen Preisstrategien beider Unternehmen als (10.93) 𝑝 ∗ 𝛾𝑝 𝑝 ∗ 𝛾𝑝 damit sind auch bei Produktdifferenzierung im Rahmen von Preiswettbewerb die Strategien beider Unternehmen strategische Komplemente und die Reaktionskurven verlaufen steigend. Die Gleichungen (10.93) können umgestellt werden zu (10.94) 𝑝 𝑝 um die Effekte vertikaler und horizontaler Produktdifferenzierung zu ermitteln. Vertikale und horizontale Produktdifferenzierung Betrachtet man bspw. Unternehmen 1, so wird aufgrund der partiellen Ableitung von (10.94) mit (10.95) 0 deutlich, dass mit Produktinnovationen, welche die vertikale Produktdifferenzierung erhöhen ( 𝑎 steigt an), das Unternehmen 1 höhere Preise durchsetzen kann, und dass dieser Effekt umso größer ist, je höher der Grad an horizontaler Produktdifferenzierung (je kleiner 𝛾 ist) ist. Das andere Unternehmen 2 muss aufgrund von (10.96) 0 Strategischer Wettbewerb bei Produktdifferenzierung 369 entsprechend die Preise reduzieren, wenngleich die Stärke dieses Effektes durch den Grad an horizontaler Produktdifferenzierung bestimmt wird - je geringer die Produkte horizontal differenziert sind (d.h., 𝛾 wird größer und strebt gegen 1), umso stärker werden die Preise von Unternehmen 2 infolge höherer vertikaler Produktdifferenzierung von Unternehmen 1 reduziert. Betrachtet man nun weiter für Unternehmen 1 den Effekt horizontaler Produktdifferenzierung, so wird mit der partiellen Ableitung (10.97) 0 deutlich, dass steigende horizontale Produktdifferenzierung ermöglicht, die jeweiligen Preise zu erhöhen. Diese Effekte sind aufgrund des komplementären Charakters der strategischen Variable Preis für beide Unternehmen gleichgerichtet. Die Größe der Effekte wird durch die jeweilige Wettbewerbsfähigkeit 𝑎 𝑀𝐶 bestimmt. Wettbewerbsfähigkeit, Marktstruktur und Gewinne bei Bertrand- und Cournot-Wettbewerb Tatsächlich kann man aber zeigen, dass - je nachdem, ob Cournot- oder Bertrand- Wettbewerb vorliegt - vom Grad horizontaler Produktdifferenzierung sowohl quantitativ wie auch qualitativ unterschiedliche Effekte ausgehen. Um die Unterschiede in der Bedeutung von Cournotvs. Bertrand-Wettbewerb auch quantitativ zu fassen, werden im Folgenden in einer Simulationsrechnung die jeweiligen Unternehmensstrategien und die resultierende Marktstruktur in Abhängigkeit des Grades der horizontalen Produktdifferenzierung aufgezeigt. Zuerst wird der Fall betrachtet, in dem zwei Unternehmen konkurrieren, die sich in ihrer Wettbewerbsfähigkeit nur geringfügig unterscheiden. Für die Nachfrage- und Kostenfunktionen gelten zunächst folgende Parameter aus ► Tabelle 10.4. Die Unternehmen weisen mit 𝑎 𝑀𝐶 21,0 und 𝑎 𝑀𝐶 22,5 geringfügige Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit auf. Unternehmen 1 hat per se geringere Grenzkosten, Unternehmen 2 besitzt aufgrund vertikaler Produktdifferenzierung eine höhere Zahlungsbereitschaft der Kunden im eigenen Marktsegment. Parameter Unternehmen 1 Unternehmen 2 Zahlungsbereitschaft 𝑎 von Unternehmen i 23,0 25,0 Marktgröße 𝑏 von Unternehmen i 0,02 Grenzkosten 𝑀𝐶 von Unternehmen i 2,0 2,5 industriespezifische Fixkosten 𝐹𝐶 2000 Wettbewerbsfähigkeit 𝑎 - 𝑀𝐶 21,0 22,5 Tabelle 10.4: Geringe Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Strategischer Wettbewerb im Oligopol 370 Die jeweiligen Marktsegmente und die industriespezifischen Fixkosten sind mit 𝑏 𝑏 0,020 sowie mit 𝐹𝐶 2000 gleich groß. Als einzige exogene Variable wird der Grad der vertikalen Produktdifferenzierung 𝛾 ∈ 0; 1 variiert, der in der Realität natürlich wie oben beschrieben nicht vollständig exogen ist: Vielmehr können Unternehmen über Branding und Marketing in horizontale Produktdifferenzierung investieren. Abbildung 10.10: Gewinne, Preise, Kapazitäten und Preis-Kosten-Marge bei geringen Unterschieden in der Wettbewerbsfähigkeit in Abhängigkeit des Grades horizontaler Produktdifferenzierung. Aus ► Abbildung 10.10 ist zu erkennen, dass mit höherem Grad horizontaler Produktdifferenzierung 𝛾 → 0 beide Unternehmen sukzessiv auf Basis wachsender Marktmacht Preisstrategien und zugehörige Kapazitäten wählen, die dem Monopolergebnis entsprechen. Je homogener die Produkte sind 𝛾 → 1 , desto niedriger setzen die Unternehmen bei Cournot- und Bertrand-Wettbewerb die Preise aufgrund höherer Wettbewerbsintensität. Für beide Unternehmen in beiden Wettbewerbsmodellen gehen die Gewinne mit sinkender horizontaler Produktdifferenzierung zurück. Allerdings ist diese Entwicklung bei Cournot-Wettbewerb konvex, bei Bertrand-Wettbewerb S-förmig und der Gewinnrückgang beschleunigt sich bei hoher Homogenität der Produkte. Ebenso gehen die Preis-Kosten-Margen PCM bei Cournot- Wettbewerb mit sinkender horizontaler Produktdifferenzierung zurück, allerdings auf relativ hohem Niveau. Dies ist bei Bertrand-Wettbewerb anders: Die PCM sinkt überproportional und wird aufgrund der industriespezifischen Fixkosten für das weniger wettbewerbsfähige Unternehmen 1 schließlich negativ. Die Kapazitäten resp. Produktionsmengen 𝑞 beider Unternehmen zeigen bei Cournot- Wettbewerb den erwarteten Effekt - mit abnehmender horizontaler Produktdifferenzierung gehen die jeweiligen Produktionsmengen unterproportional zurück, tatsächlich -3.000 -2.000 -1.000 - 1.000 2.000 3.000 4.000 5.000 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 Bertrand (1) Bertrand (2) Cournot (1) Cournot (2)   i 0 2 4 6 8 10 12 14 16 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 Bertrand (1) Bertrand (2) Cournot (1) Cournot (2)  p i 0 500 1.000 1.500 2.000 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 Bertrand (1) Bertrand (2) Cournot (1) Cournot (2)  q i -0,40 -0,20 - 0,20 0,40 0,60 0,80 1,00 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 Bertrand (1) Bertrand (2) Cournot (1) Cournot (2)  PCM i Strategischer Wettbewerb bei Produktdifferenzierung 371 steigt aber die Varianz der Marktanteile beider Unternehmen aufgrund der unterstellten Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit an. Ein Unternehmen mit hoher relativer Wettbewerbsfähigkeit profitiert stärker von einem Rückgang horizontaler Produktdifferenzierung. Dies ist bei Bertrand-Wettbewerb anders: Der Unterschied in der Wettbewerbsfähigkeit führt dazu, dass bei abnehmendem Grad an horizontaler Produktdifferenzierung das relativ wettbewerbsfähigere Unternehmen 2 wächst, das andere Unternehmen 1 schrumpft. Die Ergebnisse zeigen, dass sich bei hoher Produktdifferenzierung (bspw. 𝛾 < 0,2) die Wettbewerbsintensität und das Marktergebnis nur geringfügig zwischen Cournot- und Bertrand- Wettbewerb unterscheidet. Bei abnehmender Produktdifferenzierung (bspw. 𝛾 > 0,4) wird erkennbar, dass gerade bei Bertrand-Wettbewerb große Anreize für Produktdifferenzierung vorhanden sind, um Gewinne zu erzielen, da bei geringer Wettbewerbsfähigkeit das Risiko anwächst, aus dem Markt gedrängt zu werden. Jetzt wird der Fall betrachtet, in dem die beiden konkurrierenden Unternehmen deutliche Unterschiede in ihrer Wettbewerbsfähigkeit aufweisen. Für die Nachfrage- und Kostenfunktionen gelten jetzt die in ► Tabelle 10.5 gezeigten Parameter. Parameter Unternehmen 1 Unternehmen 2 Zahlungsbereitschaft 𝑎 von Unternehmen i 30,0 25,0 Marktgröße 𝑏 von Unternehmen i 0,02 Grenzkosten 𝑀𝐶 von Unternehmen i 22,0 2,5 industriespezifische Fixkosten 𝐹𝐶 2000 Wettbewerbsfähigkeit 𝑎 - 𝑀𝐶 8,0 22,5 Tabelle 10.5: Große Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Die Unternehmen weisen mit 𝑎 𝑀𝐶 8,0 und 𝑎 𝑀𝐶 22,5 jetzt deutliche Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit auf, wobei Unternehmen 1 bei deutlich höheren Grenzkosten auch eine höhere Zahlungsbereitschaft bei den Kunden erzielt. Strategischer Wettbewerb im Oligopol 372 Abbildung 10.11: Preise, Kapazitäten und Gewinne bei großen Unterschieden in der Wettbewerbsfähigkeit in Abhängigkeit des Grades horizontaler Produktdifferenzierung. Offensichtlich ist wieder, dass die Unterschiede betreffs Cournot- oder Bertrand-Wettbewerb aus Unternehmensperspektive gering sind, solange ein hoher Grad an horizontaler Produktdifferenzierung vorliegt: Hier verlaufen die Kurven der Strategien von Preisen und Mengen und der resultierenden Gewinne und Gewinnmargen sehr eng aneinander. Erst bei deutlich zurückgehender Produktdifferenzierung - im hier gewählten Beispiel bei gegebener Parameterkonstellation etwa ab 𝛾 0,4 - verlaufen die Kurven abweichend und die jeweiligen Unternehmensstrategien unterscheiden sich aufgrund von unterschiedlichen Wettbewerbsfähigkeiten in Abhängigkeit der Art des Wettbewerbs. Bestätigt wird daneben, dass bei Bertrand-Wettbewerb und abnehmendem Grad an horizontaler Produktdifferenzierung die Unternehmen strategisch mit Preissenkungen reagieren. In der Folge gehen die PCMs zurück, allerdings kann Unternehmen 2 - nachdem Unternehmen 1 aufgrund hoher Grenzkosten die Produktionsmenge sukzessiv bis auf Null reduziert - die Produktionsmenge ausdehnen und selbst bei rückläufigen Gewinnmargen höhere absolute Gewinne erzielen. Aus dem Verlauf der Kurven in ► Abbildung 10.11 sind allerdings auch wesentliche quantitative und qualitative Unterschiede offensichtlich. Bei Cournot-Wettbewerb hängen die Strategien der Unternehmen bei sich veränderndem Grad an horizontaler Produktdifferenzierung deutlich von den Unterschieden in der Wettbewerbsfähigkeit ab. Das Unternehmen 2 weist für alle Variablen mit abnehmendem Grad an Produktdifferenzierung einen U-förmigen Verlauf auf: Zunächst werden Preise und Mengen aus einer Monopolposition bei 𝛾 → 0 heraus reduziert. Je stärker allerdings die Wettbewerbsintensität durch einen Anstieg von 𝛾 wird, umso stärker kann Unternehmen 2 seine relativ höhere Wettbewerbsfähigkeit nutzen, um sowohl Preise als auch Mengen und auch Gewinn und Gewinnmarge zu erhöhen. Setzt man -5.000 - 5.000 10.000 15.000 20.000 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 Bertrand (1) Bertrand (2) Cournot (1) Cournot (2)   i 0 5 10 15 20 25 30 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 Bertrand (1) Bertrand (2) Cournot (1) Cournot (2)  p i 0 500 1.000 1.500 2.000 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 Bertrand (1) Bertrand (2) Cournot (1) Cournot (2)  q i -0,40 -0,20 - 0,20 0,40 0,60 0,80 1,00 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 Bertrand (1) Bertrand (2) Cournot (1) Cournot (2)  PCM i Strategischer Wettbewerb bei Produktdifferenzierung 373 die Parameter der Wettbewerbsfähigkeit aus ► Tabelle 10.5 in Gleichung (10.85) ein, so erhält man (10.98) 𝛾 0,3676 . Bei einem Wert von 𝛾 0,3676 erreichen Preise, Mengen und Gewinne von Unternehmen 2 unter hier gegebenen Rahmenbedingungen ihr Minimum, ab einem Wert von 𝛾 0,3676 kann Unternehmen 2 aber aufgrund der relativ höheren Wettbewerbsfähigkeit trotz eines Rückgangs der horizontalen Produktdifferenzierung (gleichbedeutend einem Anstieg von 𝛾 ) wachsen, Preise erhöhen und den Gewinn steigern. Unternehmen 1 hingegen muss mit zunehmendem Wettbewerb aufgrund sinkender horizontaler Produktdifferenzierung (einem Anstieg von 𝛾 ) mit zunehmender Rate Preise und Mengen reduzieren und einen Rückgang der Gewinnmarge PCM hinnehmen. Auch der absolute Gewinn geht kontinuierlich zurück bis auf ein Niveau von 𝜋 𝐹𝐶 für den Fall, dass 𝑞 0 wird - im hier gewählten Beispiel ist dies bei Bertrand-Wettbewerb für alle Werte von 𝛾 0,58 der Fall. Unternehmen 1 hat einen eindeutigen Anreiz, einen hohen Grad an horizontaler Produktdifferenzierung aufrechtzuerhalten. Aus Managementperspektive sind die Anreize für Marketing- und Branding-Investitionen zum Aufbau oder der Ausweitung von horizontaler Produktdifferenzierung für Unternehmen mit geringer relativer Wettbewerbsfähigkeit deutlich stärker ausgeprägt. Wettbewerbsfähigkeit und horizontale Produktdifferenzierung sind strategische Substitute: Wenn ein Unternehmen nur eine geringe Wettbewerbsfähigkeit besitzt, kann es versuchen, sich durch hohe Investitionen in horizontale Produktdifferenzierung dem Wettbewerb zu entziehen. Zudem haben weniger wettbewerbsfähige Unternehmen einen eindeutigen Anreiz, über Kapazitäten zu konkurrieren - dies ist für stärker wettbewerbsfähige Unternehmen, wie in ► Abbildung 10.11 für das Unternehmen 2 erkennbar ist, nicht notwendigerweise der Fall, sondern hängt vom Grad der horizontalen Produktdifferenzierung ab. Unternehmen wählen in Abhängigkeit von Cournot- oder Bertrand-Wettbewerb sehr unterschiedliche Strategien in Bezug auf horizontale Produktdifferenzierung: Preise bei Bertrand-Wettbewerb sind unter sonst identischen Rahmenbedingungen niedriger als im Fall von Cournot-Wettbewerb, umgekehrt sind die Mengen bei Preiswettbewerb höher als im Fall von Kapazitätswettbewerb. Erklärender Einfluss geht von der (relativen) Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen aus:  Unternehmen mit - relativ zu Wettbewerbern - hoher Wettbewerbsfähigkeit sind typischerweise auch bei geringem Grad an Produktdifferenzierung überlebensfähig.  Unternehmen mit relativ geringer Wettbewerbsfähigkeit haben hohe Anreize für horizontale Produktdifferenzierung - bei geringer horizontaler Produktdifferenzierung ist ihre Überlebensfähigkeit reduziert.  Preiswettbewerb à la Bertrand verstärkt diese Effekte, Kapazitätswettbewerb à la Cournot schwächt diesen Effekt ab.  Bei hinreichender Heterogenität der Unternehmen entstehen bei Cournot- und Bertrand- Wettbewerb asymmetrische Entwicklungen in der Preis- und Kapazitätsstrategie. Strategischer Wettbewerb im Oligopol 374 Unternehmen mit geringer relativer Wettbewerbsfähigkeit haben ein starkes Interesse daran, horizontale Produktdifferenzierung zu etablieren oder auszuweiten. Man kann hier in empirischen Untersuchungen erwarten, dass die unternehmensspezifischen Marketingaufwendungen zum Aufbau von horizontaler Produktdifferenzierung höher ausfallen. Unternehmen mit ausgeprägten Fähigkeiten auf der Produktund/ oder Prozessseite haben dieses Interesse nicht - sie können versuchen, durch reduzierte horizontale Produktdifferenzierung andere Unternehmen zum Marktaustritt zu drängen und eigene Gewinne auszuweiten. 10.5 Relevanz für Unternehmensstrategien In den letzten Abschnitten ist deutlich geworden, dass die Ableitung einer Unternehmensstrategie zahlreiche, sich zudem wechselseitig beeinflussende Parameter berücksichtigen muss:  Welche Art von Wettbewerb liegt vor: Cournot oder Bertrand?  Entscheiden die Unternehmen simultan oder gibt es ein implizites Rollenverständnis mit einem Stackelberg-Marktführer und sequentielle Entscheidungen?  Ist die Zahl der Unternehmen durch Eintrittsbarrieren begrenzt oder verändert sich die Wettbewerbsintensität infolge von Markteintritten?  Sind die Produkte homogen oder liegt vertikale und/ oder horizontale Produktdifferenzierung vor?  Haben alle Unternehmen eine ähnliche Wettbewerbsfähigkeit oder ist diese deutlich unterschiedlich? Tatsächlich erfordert die Beantwortung dieser Fragestellungen zunächst eine umfangreiche Markt- und Wettbewerbsanalyse, die entweder durch eine eigene Strategieabteilung erfolgt oder mit Unterstützung von Managementberatungen durchgeführt wird. Unabhängig davon ist die explizite Anwendung von Cournot- oder Bertrand-Modellen keine typische Tätigkeit in Unternehmen, allerdings leiten die Erkenntnisse aus den ► Kapiteln 10.1 bis 10.3 auch indirekt maßgeblich die Entscheidungsfindung in strategischen Wettbewerbssituationen. Grundaussagen von Cournot- und Bertrand-Modellen in der Strategieimplementierung Zahlreiche der strategischen Grundaussagen von Cournot- und Bertrand-Wettbewerb haben - nicht zuletzt nachfolgend der Arbeiten von Porter (1980 und 1985) - mittlerweile in stark reduzierter Form, insbesondere ohne die wesentlichen quantitativen Implikationen, Einzug in viele Strategieworkshops und -diskussionen gehalten:  Grad der Produktdifferenzierung - Produktdifferenzierung ist erstrebenswert, weil die Rückwirkungen der Strategien der Wettbewerber auf eigene Gewinne reduziert wird (bei Porter als Differenzierungsstrategie). Grundfrage ist, wie einfach (respektive mit welchen Kosten) lässt sich dauerhafte Produktdifferenzierung aufbauen, kann die Produktdifferenzierung mit hohen Sunk Costs auch als Eintrittsbarriere fungieren? Relevanz für Unternehmensstrategien 375  Wettbewerbsfähigkeit - Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit (Produktqualität oder Effizienz) können zur Verdrängung von Unternehmen führen (bei Porter als Kostenführerschaft). Grundfrage ist: Kann die eigene Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft erhöht werden, wie schnell entwickeln sich Wettbewerber weiter, kann Kostenführerschaft einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil begründen? Zudem ist in zahlreichen Entscheidungen von Unternehmen die Zweistufigkeit der Entscheidungen implizit verankert, so dass Wettbewerb in vielen Fällen tatsächlich als zweistufiges Spiel interpretiert werden kann:  In einer ersten Stufe werden mittel- und langfristige Kapazitätsentscheidungen getroffen und durch irreversible Investitionen festgelegt, so dass  in einer zweite Stufe Preiswettbewerb zur Signalisierung der Wettbewerbsfähigkeit an Kunden und indirekt an Wettbewerber erfolgt. Daneben folgen aus der Analyse, ob Cournot- oder Bertrand-Wettbewerb vorherrscht, zentrale Leitlinien für strategische Entscheidungen. Wie in ► Abbildung 10.12 gegenübergestellt, unterscheiden sich die strategischen Parameter in ihrer Wechselwirkung:  Bei Cournot-Wettbewerb sind die Kapazitäten strategische Substitute - kann ein Unternehmen aufgrund verbesserter Wettbewerbsfähigkeit eine Wachstumsstrategie umsetzen, wird das andere Unternehmen schrumpfen: Die Reaktionskurven verlaufen fallend und die Strategien entwickeln sich gegenläufig.  Bei Bertrand-Wettbewerb sind die Preise strategische Komplemente - kann ein Unternehmen aufgrund verbesserter Wettbewerbsfähigkeit höhere Preise durchsetzen, wird das andere Unternehmen ebenfalls die Preise erhöhen: Die Reaktionskurven verlaufen ansteigend und die Strategien entwickeln sich in die gleiche Richtung. Abbildung 10.12: Strategische Substitute und Komplemente. Kernaussagen des Cournot-Modells bei Kapazitätswettbewerb Kernaussagen des Bertrand-Modells bei Preiswettbewerb q 2 0 q 1 p 2 0 p 1 Unternehmen 2 Unternehmen 1 Unternehmen 2 Unternehmen 1 Strategischer Wettbewerb im Oligopol 376  Abbildungen in Farbe sehen! Scannen Sie die QR-Codes mit Ihrem Smartphone. Cournot-Wettbewerb mit drei Unternehmen („Heat Map“ der Kapazitäten und Gewinne) q 1 Gewinne von Unternehmen 1 q 2 + q 3 = Relevanz für Unternehmensstrategien 377 Abbildung 10.13: Heat Maps von Cournot- und Stackelberg-Wettbewerb. q 1 q 2 + q 3 = Ge wi nne von Un ternehm en 1 Sta ckelbe rg- Wettbewerb m it dre i Untern ehme n („Hea t Map“ der Kapazitäten un d Ge winne) Strategischer Wettbewerb im Oligopol 378 Aus Managementperspektive gibt es jedoch - wie bei vielen Methoden zur strategischen Entscheidungsfindung - eine Umsetzungshürde: Wie in ► Kapitel 10.1 bis ► Kapitel 10.4 deutlich wurde, erfordern die auf Cournot- und Bertrand-Wettbewerb entwickelten quantitativen Strategien ein Verständnis und eine Nachvollziehbarkeit der verwendeten Mathematik - alleine Formeln stellen hier schon oft eine natürlich Barriere dar. Allerdings lässt sich diese durch Heat Maps deutlich reduzieren, wie in ► Abbildung 10.13 zu sehen ist. Heat Maps zeigen anschaulich durch Farbgebung oder Struktur sowohl die aktuelle Wettbewerbssituation wie auch die vorhandenen strategischen Optionen analog eines Ampelsystems - so lassen sich in Diskussionen mit dem Management in War Games stark versachlicht und strukturiert alternative Strategien bewerten und analysieren, und es können gewinnerhöhende von gewinnreduzierenden Strategien getrennt werden. Empirische Evidenz, tatsächliches Verhalten von Managern und strategische Wettbewerbssituationen in Experimenten In empirischen Untersuchungen (Aiginger 1996a und 1996b sowie Cherchye et al. 2013) wird direkt oder indirekt untersucht, ob Unternehmen tatsächlich Bertrand- oder Cournot- Strategien anwenden. Zwei Erkenntnisse sind hier regelmäßig zu finden:  Marktstrukturen und Wettbewerbsprozesse deuten auf zweistufigen Wettbewerb, das Marktergebnis in Marktanteilen und Gewinnen ist teilweise in Übereinstimmung mit Cournot-Wettbewerb - allerdings werden oft auch bei Bertrand-Wettbewerb ohne Produktdifferenzierung Gewinne beobachtet, was entweder auf Absprachen oder eingeschränkt aggressives Verhalten im Wettbewerb hindeuten kann.  Bei einer direkten Befragung von 930 Topmanagern geben 38 % an ‚Cournot zu spielen‘, 62 % sehen eher Wettbewerb entsprechend des Bertrand-Modells (Aiginger 1999) - was in einem zweistufigen Spiel begründet sein kann und in seltenen langfristigen Kapazitätsentscheidungen im Gegensatz zu regelmäßigen Diskussionen zu Preisstrategien. Um die Wirksamkeit und die Plausibilität der Strategien zu prüfen, werden mittlerweile Laborexperimente durchgeführt. Ziel ist hier, tatsächliches Wettbewerbsverhalten unter kontrollierten Rahmenbedingungen zu beobachten, und zu prüfen, ob und wie schnell bspw. Cournot-, Bertrand- oder Stackelberg-Nash-Gleichgewichte erreicht werden (Armstrong und Huck 2010, Holt 1993, Huck et al. 1999 und Huck et al. 2000). Die Ergebnisse dieser Experimente bestätigen weitgehend begrenzt rationales Verhalten und unzureichende Durchdringung von strategischen Entscheidungssituationen:  Bertrand-Wettbewerb - typischerweise ermitteln Spieler in den Experimenten keine Preisuntergrenzen, sondern testen per Trial and Error unterschiedliche Preise. Trotzdem entstehen Gewinne, wenngleich in geringer Höhe - entsprechend kommt ein Nash- Gleichgewicht nicht zustande. Daneben entsteht ein erweitertes Tit-for-Tat-Verhalten: Es wird versucht, Gewinne anderer Spieler durch Preisunterbietung zu bestrafen, entstehendes spontanes Parallelverhalten oder Kollusion werden meist in der kommenden Periode wieder zerstört. Zusammenfassung 379  Cournot-Wettbewerb - es herrscht Satisficing vor, d.h., eigene Strategien werden wenig verändert, solange wiederholt positive und als ausreichend erachtete Gewinne entstehen, selbst wenn die Gewinne der anderen Spieler höher ausfallen. Wiederum berechnen Spieler keine optimalen Strategien, obwohl alle relevanten Informationen vorliegen. Bei vollständig transparenten Spielen (mit Hinweisen auf Gewinne der Wettbewerber und Offenlegung der gewählten Strategien der anderen) sind Märkte stärker kompetitiv - d.h., tendenziell entstehen niedrigere Preise und niedrigere Gewinne.  Stackelberg-Wettbewerb - obwohl die Rollen im Laborexperiment klar verteilt sind, ist die Asymmetrie der Marktanteile geringer ausgeprägt als (modellhaft) vorhergesagt und es entstehen im Zeitablauf Rachefeldzüge der Marktfolger mit zu großen Mengen, so dass Stackelberg-Marktführer ihre Führungsrolle teilweise aufgeben. Häufig spielen in diesen Laborexperimenten - neben begrenzter Rationalität und Satisficing (► Kapitel 3) - Rache, der Glaube an eine Strategie und das Nicht-Berücksichtigen der Wettbewerber eine größere Rolle als strategische Rationalität und reduzieren typischerweise die Gewinne deutlich. 10.6 Zusammenfassung Strategischer Wettbewerb im Oligopol impliziert, dass Unternehmen wechselseitig die Strategien ihrer Wettbewerber analysieren und für die Entwicklung der eigenen Strategie berücksichtigen. Daneben müssen die Rahmenbedingungen aus Marktstruktur, Nachfragestruktur und technologischen Möglichkeiten für die Wahl des strategischen Parameters beachtet werden. Wettbewerb kann zwar sehr vielfältige Formen annehmen, allerdings haben sich drei Arten von Wettbewerb als zentral für die Analyse strategischer Wettbewerbssituationen bewährt: Cournot-Wettbewerb, Bertrand-Wettbewerb und Stackelberg-Wettbewerb.  Bei Cournot-Wettbewerb entscheiden Unternehmen über Mengen oder Kapazitäten. Cournot-Wettbewerb ist grundsätzlich dann zu erwarten, wenn Kapazitäten nur sehr kostspielig und langfristig verändert werden können. Das resultierende Nash-Gleichgewicht hängt von den Grenzkosten, der Zahl der Unternehmen und der Nachfragestruktur ab. Die Unternehmen erzielen typischerweise positive Gewinne. Je höher die relative Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens ist, desto größer ist dessen Marktanteil und Gewinn.  Bei Bertrand-Wettbewerb entscheiden Unternehmen über Preise. Bertrand-Wettbewerb ist dann zu erwarten, wenn Kapazitäten kostengünstig und schnell verändert werden können. Das resultierende Nash-Gleichgewicht hängt wieder von den Grenzkosten ab. Allerdings erzielen Unternehmen typischerweise nur bei hinreichendem Grad an Produktdifferenzierung Gewinne, ohne Produktdifferenzierung führt wechselseitige Preisunterbietung zum Ergebnis vollständiger Konkurrenz.  Stackelberg-Wettbewerb beschreibt Wettbewerbssituationen, in denen aufgrund eines akzeptierten Rollenverständnisses und glaubwürdigen Strategien ein Marktführer einen First-Mover-Vorteil erzielen kann. Die Gewinne des Stackelberg-Marktführers auf Basis des teilspielperfekten Nash-Gleichgewichtes übersteigen die Gewinne bei Cournot- Wettbewerb. Strategischer Wettbewerb im Oligopol 380 Die Anwendbarkeit und der Erfolg der Strategien werden wesentlich von der Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens und dem Grad an Produktdifferenzierung in einer Industrie beeinflusst. Horizontale und vertikale Produktdifferenzierung kann die Wettbewerbsintensität deutlich reduzieren, so dass insbesondere bei Bertrand-Wettbewerb und allgemein für weniger wettbewerbsfähige Unternehmen Anreize bestehen, durch strategische Investitionen in Marketing das Überleben zu sichern. Unabhängig hiervon erfordert die Implementierung dieser Strategien weitreichende Markt- und Wettbewerbsanalysen, zudem muss in geeigneter Weise - bspw. in Form von Heat Maps - eine Akzeptanz für die gewählten Methoden hergestellt werden.  Kontrollfragen [1] Beschreiben Sie Grundüberlegungen und praktische Anwendungsfelder der Analyse von strategischem Wettbewerb im Oligopol aus mikroökonomischer Perspektive sowie deren Grenzen, Vor- und Nachteile! [2] Beschreiben Sie knapp die Grundüberlegung von Cournot-, Stackelberg- und Bertrand- Wettbewerb und die wesentlichen Ergebnisse bezüglich Mengen, Preis und Gewinn! Geben Sie jeweils zwei Beispiele aus verschiedenen Industrien! Erläutern Sie die praktische Relevanz und Anwendungsbereiche von Cournot-, Bertrand- und Stackelberg- Wettbewerb für die Entwicklung von Unternehmensstrategien! [3] Erläutern Sie die unterschiedlichen Marktergebnisse bei Bertrand-Wettbewerb mit und ohne Produktdifferenzierung! [4] Zwei Unternehmen in einem Markt ohne Produktdifferenzierung haben freie Wahl, entweder über Mengen oder über Preise zu konkurrieren oder in Produktdifferenzierung zu investieren - was sollten sie tun? [5] Ein Unternehmen in einem Markt ohne Produktdifferenzierung überlegt, eine Stackelberg-Markführerschaft anzustreben - was ist dafür notwendig? [6] Beschreiben und erläutern Sie den Zusammenhang zwischen der Zahl der Unternehmen und dem Marktergebnis (Preise, Mengen, Gewinn) bei Cournot-Wettbewerb? [7] Es gibt zwei Unternehmen, die bei Kreditkartenzahlungssystemen konkurrieren: M-Card und V-Card. Die Unternehmen konkurrieren definitiv in Mengen angeschlossener Terminals, d.h. Produktionskapazität. Aus Erfahrung wissen beide: (1) die Nachfragefunktion beträgt 𝑝 5000 - 2 ⋅ 𝑞 𝑞 , (2) die Grenzkosten betragen 𝑀𝐶 180 und 𝑀𝐶 140 , (3) die Fixkosten betragen für beide jeweils 𝐹𝐶 100.000 . Sie sind als Berater für M-Card tätig, aktuell konkurrieren die Unternehmen in simultanem Wettbewerb. Prüfen Sie, ob M-Card eine Marktführerschaft aus ökonomischer Perspektive anstreben sollte (im Vergleich zu simultanem Wettbewerb), wenn ja, wieviel sollte M-Card (maximal) in die Marktführerschaft investieren? [8] Beschreiben und erläutern Sie die Auswirkungen von Produktdifferenzierung bei Cournot- und Bertrand-Wettbewerb. Zusammenfassung 381 [9] Zwei Unternehmen A und B konkurrieren bei NFC-Lesegeräten in Mengen, d.h. Produktionskapazität. Aus Erfahrung wissen beide: (1) die Nachfragefunktion beträgt 𝑝 1000 - 2 ⋅ 𝑞 𝑞 (2) die Grenzkosten betragen 𝑀𝐶 240 und 𝑀𝐶 280 (3) die Fixkosten betragen für beide jeweils 𝐹𝐶 100.000 Ermitteln Sie für Cournot-Wettbewerb die Marktanteile und Gewinne beider Unternehmen. Zeigen und erläutern Sie anhand einer Abbildung, wie sich das Cournot-Nash- Gleichgewicht verändert, wenn eines von beiden Unternehmen in der Lage ist, seine Grenzkosten zu senken! Zeigen und erläutern Sie anhand von Abbildungen die Effekte von Änderungen der Grenzkosten, der Zahlungsbereitschaften und der Marktgröße auf die Produktionsmengen von zwei Unternehmen bei Cournot-Wettbewerb. [10] In der Kreditkartenindustrie konkurrieren zwei Unternehmen A und B, wesentlicher Wettbewerbsparameter sind die jeweiligen Mengen 𝑞 und 𝑞 gemessen in neuartigen angeschlossenen Terminals. Die Unternehmen wissen aus Erfahrung, dass (1) die Nachfragefunktion für beide Unternehmen 𝑝 2000 - 2 ⋅ 𝑞 𝑞 mit 𝑞 als Menge des Unternehmens A und 𝑞 als Menge des Unternehmens B gegeben ist, (2) die Grenzkosten von Unternehmen A gleich 𝑀𝐶 280 und von Unternehmen B gleich 𝑀𝐶 360 betragen, (3) die Fixkosten für jedes der Unternehmen 𝐹𝐶 10.000 betragen. (a) Ermitteln Sie die optimale Produktionsmenge für Unternehmen A anhand des Cournot-Modells. Welche Folge haben die unterschiedlichen Grenzkosten für die Größe und die Gewinne der Unternehmen? (b) Sie erwägen, dem Unternehmen A eine First-Mover-Strategie vorzuschlagen. Welche Voraussetzungen müssen hierfür erfüllt sein? Welche Menge und Gewinne resultieren bei Anwendung des Stackelberg-Modells? (c) Zuletzt prüfen Sie einen Zusammenschluss der Unternehmen zu einem Monopol - die Grenzkosten des zusammengeführten Unternehmens betragen 𝑀𝐶 𝑀𝐶 280 , die Fixkosten betragen 20.000. Ist der Zusammenschluss für die Unternehmen ökonomisch sinnvoll, welche Effekte werden auftreten?  Literatur Aiginger, K., Confronting the implications of the Cournot model with industry and firm data, Small Business Economics, 1996, 8, 365-378. Aiginger, K., Testing the implications of Cournot models, Small Business Economics, 1996, 8, 1-14. Aiginger, K., The use of game theoretical models for empirical industrial organization, in: Mueller, D.C., Haid, A. und Weigand, J. (Hrsg.), Competition, Efficiency and Welfare, Dordrecht 1999, 253-277. Airbus SE, 2016 Orders and Deliveries Investor Presentation, 11. Januar 2017. Amir, R. und Grilo, I., Stackelberg versus Cournot equilibrium, Games and Economic Behavior, 1999, 26, 1, 1-21. Armstrong, M. und Huck, S., Behavioral economics as applied to firms: a primer, CESifo Working Paper Series, 2010, No. 2937. 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Stichwortverzeichnis A Absprache implizite 317 Stabilität 318 Action Bias 92 akkumuliertes Wissen 156 Allais-Paradoxon 107 Altruismus 123 Angebot Determinanten 25 Funktion 25 Überschuss 28 Angebotskurve 25, 26 unternehmensspezifische 247 Anreize (für) 156, 250, 258, 273 Marketing-/ Branding-Investitionen 373 Produktdifferenzierung 371 Appropriierbarkeit 132 Appropriierung Bedingungen 156 Auktion 30, 232, 280, 281, 282 rückwärts 280 Auszahlungsmatrix 308 Availability Bias 112 Aversion gegen Extremfälle 107 B Behavioral Economics 21 Game Theory 307 Bertrand-Wettbewerb 339 Besitzstandseffekt 120 Bestätigungsverzerrung 112 beste Antwort 312 Bestpreisklausel 272 Bias Availability 112 Confirmation 112 Big Data 172 Blockpreise 285 Budget Beschränkung 57 Gerade 58 Bundeskartellamt (BKartA) 270 Bundesnetzagentur 272 Bundling 280 Preis 296 Business Case 91 C Capital-Asset-Pricing-Modell 104 Chicken Game 330 Cognitive Biases 111 Commitment 325 Confirmation Bias 112 Corporate Governance 137, 164, 179 Cost-Plus-Pricing 263 Cournot-Wettbewerb 339 D Damaged Products 285 Deadweight Loss (DWL) 254 Deckungsbeitrag 247 Decoy-Effekt 118 Deduktion 17 Denken langsam 108 schnell 108 Differenzierung minimale 306 Diseconomies of Scale 229 Diversifikation 105 dominantes Design 153 Durchschnittskosten 206 Durchsetzung neuer Kombinationen 150 Dynamic Pricing 278 E Economies of Scale 133, 203 Stichwortverzeichnis 386 of Scope 203 Effizienz 176 Effizienzvorteile 133 Eigenkapital 174 Einkommenselastizität der Nachfrage 66 Einsatzfaktoren 171 Eintrittsbarrieren 79, 142 Elfmeter 91, 323, 324 Emotion 108 Empirie 18 Endowment- Effekt 120 entrepreneurial Regime 155 Entrepreneurship 132 Entscheidung 51 sequentielle 316 kurzvs. langfristig 174 Erlöse 41 Erwartung(s) 76 -werte 93, 94 Experimente 21 Experimentierphase 153 F F&E Aufwand der Unternehmen 158 Investitionen (optimal) 66 Fähigkeiten dynamische 146 statische 145 faire Spiele 99 Fairness 123 Fakten stilisierte 20 Faktorpreisunterschiede international 216 Feldexperimente 22 First Mover Advantage 325, 327 Five Forces Framework 143 Fixkosten 205 Flatrate 285 Framing 91, 117 Freemium 285 Fremdkapital 174 Fusionskontrolle 241 G Gesamtkosten 206 Gewerkschaften 223 Gewichtungsfunktion 107 Gewinn Erzielung 135 Maximierung 136, 244 ökonomischer 135 Persistenz 148 Glaubwürdigkeit 329 Gleichgewicht in dominanten Strategien 312 Nash 306, 308, 312, 315 Nash (in Mengen) 344 Nash (in Preisen) 359 Preis 26 teilspielperfekt 327 Grenz -erlöse 41 -kosten 206 -nutzen 53 -produkt der Arbeit 175, 185 -rate (Substitution) 56 -rate (technische Substitution) 218 Gruppenpreisbildung 282 Guessing-Numbers-Spiel 319 Gut-genug-Lösungen 109 H Haftung für unternehmerisches Handeln 105 Heat Maps 376, 377, 378 Henne-Ei-Problem 77 Herd Behavior 114 Herdenverhalten 114 Heuristiken 111 Höchstpreis 253 Holt-Laury-Lotterie 98 Hypothesen 18 I ICT Productivity Paradox 190 IKEA-Effekt 121 Indifferenzkurve 55 Induktion 17 Industriekostenkurven 228 Industrielebenszyklus 151 Stichwortverzeichnis 387 industriespezifische Paradigmas 160 Information Asymmetrie 30 unvollständige 93, 109 vollständige 309 Innovationen 131 disruptive 131 pfadabhängige 162 Rate 158 revolutionäre 162 Wettbewerbsvorteile 154 wissenserhaltende 159 Investitionsplanung 187 Isokostenlinie 216 Isoquante 187 K Kaffeetassen 120 Kapazitätsbeschränkungen 359 Kapitalintensität 188 Kartelle 270 kognitive Fähigkeiten 108 Kompatibilitätsgrad 80 Konkurrenz vollständige 141, 241, 249 Konsumentenrente 60, 61, 251, 278, 279, 281, 289, 291 Kontrollillusion 113 Konzentration horizontale 142 Kosten Führerschaft 216 Funktion 207 Gesamt- 206 Grenz- 206 Optimierung 219 Struktur 203 Stück- 206 Treiber 207 variable 206 Verlauf U-förmig 211 Kreuzpreiselastizität der Nachfrage 68 kritische Masse 76 Kundenverhalten 49 L Laborexperimenten 21 Lagrange-Funktion 214, 221, 222, 225 Lebenszyklus 40, 151, 153, 157, 164 Lerner-Index 262 Lernkurveneffekte 133, 227 Lock-in-Effekt 79 Lohnsätze 216 Lohn-Zins-Verhältnis 217 Lotterie 98 M Make or Buy 134 Managementfähigkeiten 181 Market-Based View 135, 139, 148, 251 Marketinginvestitionen (optimal) 66 Markt 22 Abgrenzung 73 Aktien 27 Angebotskurve 247 Anteile 64 beherrschende Stellung (Missbrauch) 270 Design 269 Eintrittsbedingungen 142 Ergebnisse 34 Faktor- 23 Folger 352 Forschung 61 Führer 352 Gleichgewicht 26 Größe 61 Macht 241 Machtmessung 261 mehrseitiger 81 Preis (einheitlicher) 27 Produkt- 23 Regulierung 251 relevanter 73 Segmente 49 Strukturen 131 Versagen 30 Volumen 62 winner takes it all 79 Kunden 144 Zulieferer 144 Maximin-Strategie 321 Mikroökonomie 15 Milchpreis 255 Mindestbetriebsgröße 230 Mindestpreis 253 Stichwortverzeichnis 388 Mitarbeiter 175 Mitgliedsgebühr 289 Modelle 17 Monopol 141 Kommission 273 natürliches 79 Multihoming 85 N Nachfrage Einkommenselastizität 66 elastische 36, 41 Funktion 24 Kurve Lage 65 Steigung 39 Preiselastizität 34, 35 Preiselastizität im Zeitverlauf 40 Überschuss 29 unelastische 36, 41 Nash-Gleichgewicht 306, 308, 312, 315 multiples 315 Netzwerkeffekte 75 direkte 75 Elastizität 85 indirekte 75 selbstverstärkende 81 Netzwerkmärkte 75 Nischenbildung 162 Normalform 308 Nudging 117 Nürnberger Christkindlesmarkt 140 Nutzen 50 erwarteter 96 Funktion 54 Maximierung 49 stand alone 76 O öffentliche Güter 30 Ökonometrie 19 Ökosystem 83 Oligopol 141, 337 Opportunitätskosten 52 Overconfidence 113 P Paketpreise 285 Patente 258 Pfadabhängigkeit 79 Plattformen 81 Präferenzen 49 Ordnung (objektive) 70 Ordnung (subjektive) 70 Preis 280 Absprachen 271 Block 285 Diskrimminierung 71, 277 Elastizität der Nachfrage 34, 35 im Zeitverlauf 40 -Kosten-Margen 263 Paket 285 Setzungsspielraum 40 Prisoner’s Dilemma 317, 332 Probemonat (kostenlos) 122 Produkte Differenzierung 38, 49, 70, 360 Anreize (Bertrand) 371 Grad 360 Grad (vertikal) 370 horizontal (Preiswettbewerb) 361 individualisiert 72 inverior 67 komplementäre 68 normal 67 Portfolio 227 substitute 68 Produktion Elastizität partielle der Arbeit 176 partielle des Kapitals 176 Funktion 174 Cobb-Douglas 176 langfristige Entscheidungen 191 Produktivität 173 Steigerung 172 Wachstum 190 Produzentenrente 252, 253, 254, 255, 256 Prospect Theory 116 R rationale Entscheidung 51 Rationalität (begrenzte) 108 Stichwortverzeichnis 389 Reaktionskurve 341 Regime entrepreneurial 155, 156 routinized 155, 156 technologisches 154 Repräsentativheuristik 112 Representativeness 112 Reputation 124 Resource-Based View 135, 149, 145, 176 Restrukturierung 197 Risiko Aversion 91 Grad 97 Management 104 Marktpreise für 105 Neigung Messung 97 Prämie 100 Übernahme 104 Rollenverständnis 316 routinized Regime 155 Rückwärtsauktion 280 Rückwärtsinduktion 318, 353 S Satisficing 110 schöpferische Zerstörung 150, 160, 162 schwarze Schwäne 108 Second Mover Advantage 325 Selbstselektion 279 Selbstüberschätzung 113 Selektionskriterien 316 Signaling 106 Singlehoming 85 Skalenelastizität 195 Skalenerträge 175 abnehmende 192 zunehmende 171, 192 Skalierung 171 Social Media 74, 75, 84, 87, 194 Spiele faire 99 Guessing Numbers 319 sequentielle 308 simultane 308 Theorie 305 unendliche 318 SSNIP-Test 74 staatliche Lizenzen 257 Stackelberg Marktführung 257 Wettbewerb 339 Start-ups 133 Status-quo-Effekt 91 Stein, Schere, Papier 307 stilisierte Fakten 20 Strategie dominante 310 gemischte 310 Kombination 308 Komplemente 368 Kontrolle 233 Maximin 321 Parameter reine 310 Substitute 344 Vielfalt 138 Structure Conduct Perfomance Framework 140 Stückkosten 206 Studienabschluss 106 Substitutionselastizität 175 Sunk Cost 52, 242, 329 Denkfehler 205 endogen 206 Fallacy 114 SWOT-Analyse 147 Synergien Diversifikation 227 Größe 227 System 1 108 System 2 108 Systemmärkte 75 T Tarif(e) Modelle 293 zweiteilige 280 Tauschverhältnis 56 Taxifahrern in New York 110 technischer Fortschritt 187 Technologiezyklen 153 technologische Entwicklungen 171 Möglichkeiten 156 Regime 154 Stichwortverzeichnis 390 Theorie 18 Theorie der Unternehmung 132 Tit for Tat 319 Transaktionen 22 Transaktionskosten Vorteile 133 Transilience Map 162 Trial and Error 111 U Überlebensfähigkeit 135 Ultimatumspiel 123 Unsicherheit 92 Unternehmen 131 Effizienz 179 Entstehung 132 etablierte 143 Fähigkeiten (spezifische) 138 Grenzen 133 Größe 171 marktbeherrschendes 141 Mehrprodukt 294 Neuorganisation 219 Profitabilität 147 scheitern etablierter 161 Theorie der Unternehmung 132 Übernahme (feindlich) 137 Wert 135 Ziele 135 Unternehmertum 132 V Varianz 94 Verfügbarkeitsheuristik 112 Verlustaversion 115 Versicherung 105 Vertrauen 319 vollständige Konkurrenz 141 W Wachstumsraten 171 Wahrnehmungsverzerrung 111 Wahrscheinlichkeiten wahrgenommene 107 Wechselkosten 80 Weighted Average Cost of Capital (WACC) 136 Wer wird Millionär (Gameshow) 102 Wertfunktion 116 Wettbewerb Absprachen 266 Behörden 241 Bertrand 339 beschränkende Wirkung 235 Beschränkung 265 Cournot 339 Dynamik 248 Entdeckungsverfahren 149 Fähigkeit 203 funktionsfähiger 241 Gesetz gegen Beschränkungen (GWB) 270 Intensität 38, 70 Intensität (Oligopol) 349 Oligopol 141, 337 Politik 241, 265 Grundfragen 267 Stackelberg 339 Umfeld 139 Vorteile 131 im Innovationsprozess 154 kostenseitig 226 Winner-takes-it-all-Märkte 79 Wirtschaftspolitik 30 Wohlfahrt ökonomische 251 Verlust 253 Z Zahlungsbereitschaft 23, 70 Determinanten 24 Zieleinkommen mental gesetzt 110 Zinsen 216 Zufälle 93 Zusammenschlüsse horizintal 234 konglomerate 235 vertikal 235 www.uvk.de Der richtige Umgang mit Menschen im Beruf und Alltag Nello Gaspardo Von harten Hunden und hyperaktiven Affen Der richtige Umgang mit Menschen im Beruf und Alltag 2017, 158 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-834-9 Jeder Mensch ist einzigartig! Das ist fraglos richtig. Dessen ungeachtet finden Sie bei Ihren Mitmenschen wiederkehrende Charaktereigenschaften, mit denen Sie im Beruf und im Alltag umgehen müssen. Denken Sie nur an den harten Hund aus der Chefetage, den cleveren Fuchs aus dem Controlling oder den zappeligen, aber vor Ideen sprühenden Affen aus der Marketingabteilung. Der Kommunikations- und Verhandlungsexperte Nello Gaspardo skizziert neun solcher Typen anhand von Tierbildern. Er zeigt deren Stärken und Schwächen auf und verrät Ihnen pointiert, was Sie im Umgang mit diesen Menschen unbedingt wissen sollten und wie Sie mit diesen Typen richtig kommunizieren. Das Buch ist ein unverzichtbarer Ratgeber für alle, die im Beruf und im Alltag gemeinsam mit anderen Menschen schnell und harmonisch Ziele erreichen möchten. www.uvk.de Günther Schanz Eine kurze Geschichte der Betriebswirtschaftslehre 2018, 164 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-832-5 Bereits in der Antike, im Mittelalter und in der Renaissance beschäftigten sich Gelehrte mit ökonomischen Fragestellungen. Die akademische Betriebswirtschaftslehre ist dennoch eine junge Disziplin, die erst im 20. Jahrhundert aufblühte. Ihre Geschichte zeichnet Günther Schanz anhand der Wissenschaftsprogramme von Eugen Schmalenbach, Wilhelm Rieger, Heinrich Nicklisch, Erich Gutenberg, Edmund Heinen und Hans Ulrich kritisch nach. Überdies stellt er die arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre, die ökologische Öffnung der Disziplin, der Neue Institutionalismus und die verhaltenstheoretische Betriebswirtschaftslehre verständlich vor. Dieses Buch ist für Studierende und Wissenschaftler der Wirtschaftswissenschaften sowie angrenzender Studiengänge und darüber hinaus auch für Interessierte eine aufschlussreiche und zugleich spannende Lektüre. Kompakter und spannender Gesamtüberblick