Theorien zur internationalen Migration
Ausgewählte interdisziplinäre Migrationstheorien und deren zentrale Aussagen
1204
2017
978-3-8385-4929-3
978-3-8252-4929-8
UTB
Petrus Han
Der Strukturwandel der kapitalistischen Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert hat die Bedingungen für die internationale Migration kontinuierlich und grundlegend verändert. Die Migrationsforschung stellt sich mit sukzessivem Paradigmenwechsel auf diese Veränderungen ein: Assimilation, ethischer Pluralismus, Feminisierung, Transmigranten und Transnationalismus, Migration als Funktion steigender Mobilität des Kapitals und Kosten-Nutzen-Analyse der Migration.
Das vorliegende Buch versteht sich als Grundlagenwerk, das Studierende, thematisch Interessierte und Politiker in relevante interdisziplinäre Theorien zur internationalen Migration einführt. Diese Theorien sind zugleich Spiegelbild und Steuerungsinstrument gesellschaftlicher Entwicklungen und dokumentieren die kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontexte der internationalen Migration.
<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage W. Bertelsmann Verlag · Bielefeld Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb <?page no="2"?> Petrus Han Theorien zur internationalen Migration Ausgewählte interdisziplinäre Migrationstheorien und deren zentralen Aussagen 2., korrigierte Auflage UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2018 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Nr. 2814 ISBN: 978-3-8252-4929-8 <?page no="4"?> V Inhalt Einführung......................................................................................1 1. Theorien zur Assimilation und Absorption der Migranten in die Aufnahmegesellschaft..........................8 1.1 Robert E. Park und Ernest W. Burgess Prozess der sozialen Interaktion als grundlegender sozialer Prozess der Gesellschaft und seine konstitutiven Phasen (Introduction to the Science of Sociology, 1921/ 1969. 460 S.)………...............................13 1.2 Milton M. Gordon Anpassungsphasen der rassischen, religiösen und nationalen Einwanderungsgruppen an die amerikanische Gesellschaft sowie Probleme der Vorurteile und Diskriminierungen (Assimilation in American Life The Role of Race, Religion, and National Origin, 1964. 265 S.)………………….............................28 1.3 Shmuel N. Eisenstadt <?page no="5"?> VI Prozess der Absorption der Immigranten in die jüdische Gemeinde in Palästina und in den Staat Israel (The Absorption of Immigrants A Comparative Study Based Mainly on the Jewish Community in Palestine and The States Israel, 1954. 275 S.)…………………………..44 2. Theorien zur ethnisch pluralen Gesellschaft als Absage an die Theorie der Assimilation und kritische Bewertung des ethnischen Pluralismus………….62 2.1 Nathan Glazer und Daniel Patrick Moynihan Jenseits des Schmelztiegels Ethnische Gruppenbildungen der Schwarzen, Puertoricaner, Juden, Italiener und Iren in der Stadt New York (Beyond the Melting Pot The Negroes, Puerto Ricans, Jews, Italians, and Irish of New York City, 1963. 347 S.)……………….65 2.2 Stephen Steinberg Mythos des ethnischen Pluralismus Klassenbildung und Verschmelzung ethnischer Gruppen zu Rassen- und Religionsgruppen in Amerika (The Ethnic Myth Race, Ethnicity, and Class in America, 1989. 302 S.)........87 3. Theorien zur Migration der Frauen ……………………...106 Inhalt <?page no="6"?> VII 3.1 Hasia R. Diner Lebenssituation und wirtschaftlicher Aufstieg irischer Frauen in Amerika Einwanderung und Akkulturation irischer Frauen im 19. Jahrhundert (Erin’s Daughters in America Irisch Immigrant Women in the Nineteenth Century, 1983. 161 S.)…………………………………109 3.2 Evelyn Nakano Glenn Familiale, berufliche und soziale Situation der ersten und zweiten Generation japanischer Frauen sowie der japanischen Kriegsbräute in Amerika Drei Generationen amerikanischer Frauen japanischer Herkunft im Beruf des „Domestic service“ (Issei, Nisei, War Bride Three Generations of Japanese American Women im Deomestic Service, 1986. 277 S.)…………126 4. Theorien zum Transnationalismus und zu Transmigranten……………………………………149 4.1 Linda Basch, Nina Glick Schileer, Cristina Szanton Blanc Territorial ungebundene Nationen Transnationale politische Projekte aus postkolonialer Lage und Entwicklung konzeptioneller Umrisse zu entterritorialisierten Nationalstaaten (Nations Unbound Inhalt <?page no="7"?> VIII Transnational Projects, Postcolonial Predicaments, and Deterritorilized Nation-States, 1994. 329 S.)……...152 5. Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration…………………………................................174 5.1 Michael J. Piore Zugvögel Nachfrageorientierte temporäre Arbeitsmigration aus den Entwicklungsländern in die urbanen Industriegesellschaften (Birds of Passage Migrant Labor and Industrial Societeis, 1979. 217 S.)….178 5.2 George J. Borjas Eingangstor zum Wohlfahrtsstaat Auswirkungen der Einwanderung von Arbeitskräften auf die Wirtschaft der USA und einwanderungspolitische Implikationen (Heaven’s Door Immigration Policy and the American Economy, 1999. 256 S.)……….......................................195 6. Theorien zur Migration aus Sicht der Systemtheorie………………………..............................210 6.1 Immanuel Wallerstein Entstehung der modernen europäischen Weltwirtschaft, der drei wirtschaftlichen Zonen und des modernen europäischen Weltsystems im16. Jahrhundert Inhalt <?page no="8"?> IX (The Modern World-System Capitalist Agriculture and the Origins of The European World-Economy in the Sixteenth Century, 1974. 386 S.)………………………..216 6.2 Alejandro Portes und John Walton Migration von Arbeitskräften und Klassenbildung im internationalen System (Labor, Class, and the International System, 1981. 219 S.)…………………...........................234 6.3 Saskia Sassen Globale Städte als Konzentrationspunkte der globalen Kontrolle und transterritorialen Produktionsstätten sowie Märkte von “producer services”, Finanztransaktionen und Innovationen für die globale Wirtschaft (The Global City New York, London, Tokyo, 1991. 389 S.)……...............250 Vergleichende Bewertung der vorgestellten Theorien und Perspektiven der Migration…………………...265 Literaturverzeichnis…………………………………………...281 Sachregister…………………………………………………….292 Personenregister……………………………………………….299 Inhalt <?page no="10"?> 1 Einführung Die Migration ist seit jeher ein konstitutiver Bestandteil des menschlichen Lebens. Das liegt auch darin begründet, dass der Mensch prinzipiell nicht in eine Welt mit den klimatischen, materiellen und sonstigen Lebensbedingungen hineingeboren wird, die für sein Überleben freundlich gestimmt ist. Er hat die Aufgabe zu bewältigen, aus einer für ihn nicht vorbereiteten und oft feindlichen Umwelt eine bewohnbare und sein Überleben ermöglichende Lebenswelt zu schaffen. Die Migration dient dazu, neue und bessere Lebensbedingungen zu erschließen. Die Geschichte der Migration ist somit nicht von der Geschichte der Menschheit zu trennen, weil der Mensch immer auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen war und ist. Sie ist im weitesten Sinn auch eine Geschichte über die Schaffung und Weiterentwicklung der Kultur und Zivilisation, die der Mensch bei seiner kreativen Erschließung besserer Lebensbedingungen und bei der Umgestaltung der lebensfeindlichen in eine lebensfreundliche Umwelt schafft (vgl. Rober E. Park, 1928, 883; Petrus Han, 2005, 21). Dagegen ist die Geschichte der wissenschaftlichen Erforschung der Migration relativ jungen Datums. Erst zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Migrationsforschung als wissenschaftliche Fachdisziplin an der soziologischen Fakultät der Universität Chicago/ USA etabliert. Den zeit- und sozialgeschichtlichen Hintergrund, der die Institutionalisierung dieser Fachdisziplin notwendig gemacht hat, bildeten unter anderem die vielschichtigen soziokulturellen und wirtschaftlichen Probleme von Millionen Immigranten, mit denen die USA als das größte Einwanderungsland der Welt konfrontiert waren. Damit begann auch die theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Migration. Die dramatische Zunahme der Migration nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem globalen Phänomen hat in der Wissenschaft dazu geführt, dass die Migration zum Gegenstand interdisziplinärer Forschung wurde. <?page no="11"?> 2 Das Wort „Migrationstheorie“ könnte auf den ersten Blick die Vorstellung und gedankliche Assoziation hervorrufen, dass es sich um abstrakte theoretische Materialien fachspezifischer Natur handeln würde, die nur für „insider“ von Bedeutung sein können. Die Auseinandersetzung mit den Theorieansätzen wird jedoch zeigen, dass diese Bedenken unbegründet sind und relativ schnell ausgeräumt werden. Die Migrationstheorien bestehen, wie andere Theorien der empirischen Sozialwissenschaften auch, aus einem relativ umfassenden System von Hypothesen, die aufgrund der Erkenntnisse formuliert werden, die durch Beobachtungen und Beschreibungen empirischer Fakten gewonnen werden. Diese Fakten, auf die sich die Migrationstheorien stützen, sind lebens- und alltagsnahe Daten, die besonders erkenntnisfördernd und spannend sind, weil sie nicht nur die kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen der Migranten in ihrem Herkunfts- und Aufnahmekontext transparent machen, sondern auch den übergreifenden makrostrukturellen Entwicklungsprozess einzelner Zeitepochen verdeutlichen, in dem die genannten länderspezifischen Lebensbedingungen der Migranten eingebettet sind. Die bisher vorliegenden Migrationstheorien sind überwiegend Ergebnisse der Migrationsforschungen, die in den traditionellen Einwanderungsländern, insbesondere in den USA, durchgeführt worden sind. Sie sind somit in englischer Sprache verfasst. Dabei findet man selbst in englischer Sprache kaum Literatur, die einen zusammenfassenden Überblick über die Migrationstheorien gibt. Sieht man von den Publikationen zu einzelnen Theorieansätzen ab, sind zwei Veröffentlichungen zu nennen, die einen Zugang zu den zentralen Theorieansätzen der Migration anbieten: Zwei Sammelbände, die Robin Cohen unter dem Titel „Theories of Migration“ und Caroline B. Brettell und James F. Hollifield unter dem Titel „Migration Theory“ in den Jahren 1996 und 2000 herausgegeben haben. Diese enthalten eine Zusammenstellung ausgewählter theoretischer Beiträge einzelner Forscher in der Originalfassung, zumeist Aufsätze aus Fachzeitschriften, die ohne explizierende Kommentare aneinander gereiht werden, so dass ihre Einordnung und Bewertung dem Leser überlassen bleiben. Dagegen erhält man von den zwei Aufsätzen, die Douglas S. Massey und seine Mitarbeiter publizierten, einen nach einzelnen Fachdisziplinen klar geglieder- Theorien zur internationalen Migration <?page no="12"?> 3 ten Überblick über die Migrationstheorien. Massey und seine Mitarbeiter fassen in einem Aufsatz mit dem Titel „Theories of International Migration: A Review und Appraisal“ von 1993 die unterschiedlichen Theorieansätze komprimiert und übersichtlich zusammen, während sie in einem anderen Aufsatz „An Evaluation of International Migration Theory: The North American Case“ von 1994 die Validität der von ihnen vorgestellen migrationstheoretischen Ansätze, bezogen auf die Migrationssituation der nordamerikanischen Länder, empirisch evaluiert. Im deutschsprachigen Raum gibt es jedoch bisher keine Publikation, die eine solche Zusammenstellung ausgewählter migrationstheoretischer Ansätze unterschiedlicher Fachdisziplinen präsentiert und einen strukturierten Überblick vermittelt. Diese Situation hat den Autor zu dem Versuch veranlasst, ein Grundlagenbuch der Migrationstheorien für Studierende, thematisch Interessierte und Politiker vorzulegen, das die wesentlichen migrationstheoretischen Ansätze in einer übersichtlichen Einordnung präsentiert. Einen weiteren Anlass sah der Autor auch darin, seine beiden Bücher zur Migrationsproblematik (vgl. Han, Petrus, 2005: Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle . Fakten . Politische Konsequenzen . Perspektiven. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. UTB 2118, Stuttgart: Lucius & Lucius; Han, Petrus, 2003: Frauen und Migration. Strukturelle Bedingungen, Fakten und soziale Folgen der Frauenmigration. UTB 2390, Stuttgart: Lucius & Lucius), die bereits eine Vielzahl von Literaturverweisen zu Migrationstheorien enthalten, durch ein Quellenbuch zu Migrationstheorien zu ergänzen, um diese in ihrer Authentizität ausführlich darstellen zu können. Das Ziel des vorliegenden Buches ist es, besonders den Studierenden, thematisch Interessierten und politisch Verantwortlichen einen Zugang zu den wichtigsten Quellentexten der Migrationstheorien unterschiedlicher Fachdisziplinen zu ermöglichen. Die Notwendigkeit dieser Zielsetzung sowie ihrer faktischen Umsetzung durch die Vorlage eines geeigneten Fachbuches wird von der allgemeinen Einschätzung abgeleitet, dass die Migration im Zuge der zunehmenden Globalisierung, vor allem der Wirtschaft, zu einer Funktion der akzelerierenden Mobilität des Kapitals geworden ist. Ihr kommt heute eine zeitnahe und sich auf alle Bereiche des sozialen Lebens der Gesellschaft (z.B. Kultur, Politik, Gesetz- Einführung <?page no="13"?> 4 gebung, Wirtschaft, Arbeits- und Wohnungsmarkt, Bildung, Demographie) auswirkende Aktualität zu. Das in Deutschland am 1.1. 2005 in Kraft getretene neue Zuwanderungsgesetz ist ein Beispiel hierfür. Eine Konsequenz dieser Einschätzung besteht darin, die weltweiten strukturellen Zusammenhänge, die die Migrationsbewegungen auslösen, sowie ihre vielschichtigen positiven und negativen Folgen im Blick zu behalten. Geht man von der Erkenntnis aus, dass die sozialwissenschaftlichen Theorien sowohl ein Spiegelbild als auch eines der unverzichtbaren Steuerungsinstrumente der realen Entwicklungen der Gesellschaft sind, ist ein strukturierter Überblick über die Theorien unterschiedlicher Fachrichtungen, hier bezogen auch auf die Migration, unverzichtbar notwendig. Sie zeigen den Wandel der übergreifenden makrostrukturellen Rahmenbedingungen und ihre mittel- und langfristigen Folgen, die auf den ersten Blick nicht offenkundig sind. Bei der Konzeption des vorliegenden Buches hat der Autor zwar die oben genannten Publikationen zu Migrationstheorien in englischer Sprache als Modell vor Augen, er hat sich jedoch für einen dritten Weg (The Third Way) entschieden, um hier einen Buchtitel von Anthony Giddens zu zitieren. Abweichend von der amerikanischen Literatur sollen im vorliegenden Buch die Theoretiker so authentisch und ausführlich wie möglich zu Wort kommen. Da dies in Form der Zeitschriftenaufsätze kaum möglich ist, wurden ausschließlich Monographien ausgewählt, die zu den einzelnen theoretischen Ansätzen erschienen sind. Im vorliegenden Buch werden insgesamt 13 Monographien vorgestellt, die aus Sicht des Autors von besonderer theoretischer Relevanz sind. Da ein Sammelband von 13 Monographien praktisch nicht realisierbar ist, werden die zentralen Aussagen der zum Teil sehr umfangreichen Monographien leserfreundlich komprimiert zusammengefasst. Diese Zusammenfassung erfolgt aus der subjektiv fachlichen Sicht des Autors. Im Mittelpunkt stand das Bemühen, die inhatlichen Aussagen der einzelnen Theoretiker unverfälscht wiederzugeben. Dadurch soll den Lesern Gelegenheit gegeben werden, die Quellentexte kennen zu lernen. Originaltitel und Erscheinungsjahr der einzelnen Monographien sowie die inhaltsorientierte Übersetzung des jeweiligen Titels werden in der Gliederung mit der Intention angegeben, den Lesern vorab eine Orientierung zu ermöglichen. Die 13 Monogra- Theorien zur internationalen Migration <?page no="14"?> 5 phien werden nach ihren theoretisch-inhaltlichen Schwerpunkten in 6 Kapitel eingeteilt. Diese Gliederung macht einenrseits die Einordnung einzelner Theorieansätze unter einer übergreifenden Theorierichtung und andererseits die sukzessive theoretische Weiterentwicklung mit dem damit verbundenen Paradigmenwechsel im Wandel der Zeit deutlich. Im ersten Kapitel werden drei Theorieansätze der Assimilations- und Absorptionstheorie vorgestellt. Hierbei handelt es sich um die ersten und bekanntesten migrationstheoretischen Ansätze der Soziologie, die das Phänomen der Migration fast ausschließlich aus dem Blickwinkel der Aufnahmeländer thematisieren. Den Hintergrund dieser Theorien bilden die empirischen Beobachtungen der Lebenssituation der Immigranten im Einwanderungskontext der USA und im Staat Israel. Im zweiten Kapitel werden zwei Theorieansätze vorgestellt: Die erste Theorie stellt, ausgehend von der Realität der amerikanischen Gesellschaft, die Assimilationstheorien in Frage und tritt gleichzeitig für eine Theorie des ethnischen Pluralismus ein. Die zweite Theorie nimmt dagegen kritisch zur Theorie des ethnischen Pluralismus Stellung, die in den 1960er Jahren in den USA ihre Aktualität und politische Brisanz entfaltet hat, und bilanziert sie. Im dritten Kapitel werden zwei Theorien zur Migration der Frauen vorgestellt. Eine beschreibt die historisch einmaligen Emigrationswellen der jüngeren und mehrheitlich unverheirateten Frauen aus Irland in die USA. Die zweite Theorie skizziert dagegen die Entwicklung der Lebenssituationen von japanischen Frauen in den USA, von der ersten bis zur dritten Generation. Die erste Theorie ist insofern von besonderer Bedeutung, weil sie die Anfänge der Feminisierung der Migration aufzeigt, die in den 1980er Jahren weltweit einsetzt. Im vierten Kapitel wird eine Theorie zum Transnationalismus und zu Transmigranten vorgestellt, die zu Beginn der 1990er Jahre von Anthropologen, Ethnologen und teilweise auch von Soziologen in den USA vertreten wurde. Der Hintergrund dieser neuen Forschungsrichtung ist der neue Migrantentypus in den USA, der durch die Immigranten von den karibischen Inselstaaten und von den Philippinen verkörpert wird. Charakteristisch für diesen Typus ist die Beobachtung, so die theoretische Position, dass er im Gegensatz zum traditionellen Typus der Migranten multilokale Lebensbezüge in kultureller, po- Einführung <?page no="15"?> 6 litischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht entwickelt, indem er sowohl im Herkunftsals auch im Aufnahmeland zuhause ist. Mit anderen Worten bleibt er gleichzeitig in das Geschehen des Herkunfts- und des Residenzlandes involviert. Im fünften Kapitel werden zwei Theorien aus der Wirtschaftswissenschaft vorgestellt. Die zuerst vorgestellte Theorie vertritt die Position, dass die Arbeitsmigration von der Nachfrage nach Arbeitskräften aus den Industrieländern abhängt. Vor diesem Hintergrund entwickelt sie zum ersten Mal die populär gewordene Theorie des dualen Arbeitsmarktes in den Industrieländern. Die andere Theorie nimmt eine Kosten- Nut-zen-Analyse der Einwanderung von qualifizierten und unqualifizierten Arbeitskräften für die industriellen Aufnahmeländer vor, hier besonders für die USA. Sie kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Einwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften gesamt- und finanzwirtschaftlich gesehen für die Aufnahmeländer von großem Vorteil ist, weil dabei die Gewinne für die Aufnahmeländer eindeutig die Kosten übersteigen. Im letzten Kapitel werden drei Theorien vorgestellt, die die Welt als ein einziges und umfassendes Wirtschaftssystem thematisieren, in dem der Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung in seiner Intensität zunimmt. Sie betrachten die Migration als eine Funktion der steigenden Mobilität des Kapitals, die zwischen den drei wirtschaftlichen Zonenbildungen der „core“, „semiperiphery“ und „periphery“ innerhalb des Weltwirtschaftssystems eintritt. Hier können die Leser aufschlussreiche Hinweise auf die derzeit eintretenden globalen Entwicklungen der Wirtschaft und deren subtilen Zusammenhänge erhalten. Nimmt man alle in diesem Buch vorgestellten Theorieansätze zusammen, so kann einerseits festgestellt werden, dass die Vielzahl der historischen Fakten aus den verschiedenen Ländern, die in den Theorien ihre Berücksichtigung gefunden haben, erkenntnisfördernd und zugleich durchweg schockierend sind, weil sie in ihrem realen und teilweise inhumanen Ausmaß bisher kaum bekannt sein dürften. Andererseits kann festgestellt werden, dass die Migration prinzipiell im Kontext der sozialen Ungleichheit zu sehen ist. Unabhängig von den unterschiedlichen Anlässen der epochalen Migrationsbewegungen ist die Migration immer Folge und Ursache weiterer sozialer Ungleichheit. Sie steht in den meisten Fällen, wie die Retrospektion der theoretisch dokumentierten Migrationsge- Theorien zur internationalen Migration <?page no="16"?> 7 schichte erkennen lässt, im engen Zusammenhang mit der Geschichte von Eroberung, Kolonialisierung, Versklavung, Ausbeutung und Enteignung (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 5) der relativ unterentwickelten Peripherien durch die höher entwickelten Zentren (core areas), um hier die Begriffe der Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein zu gebrauchen (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 87). Diese Feststellung scheint sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart ihre Berechtigung zu haben. Die konkreten Formen der Ausgestaltung der ungleichen Beziehungen zwischen Peripherien und Zentren mögen im Laufe der Zeit eine sukzessive Modifikation erfahren, ihre Grundstruktur scheint sich jedoch kaum verändert zu haben. Eine weitere Feststellung besteht darin, dass die Herrschenden die religiöse, rassische, ethnische, kulturelle, nationale und geschlechtliche Zugehörigkeit der Menschen stets als Legitimationsgrundlage der Ausbeutung missbraucht haben. Es sei hier darauf hingewiesen, dass die Begriffe „Migrant“ und „Immigrant“ in Anlehrung an den englischen Sprachgebrauch für die migrierenden und immigrierenden Frauen und Männer verwendet werden. An dieser Stelle danke ich meiner Frau, Anne Han, für ihre Unterstützung und ihre konstruktiven Anregungen bei der Durchsicht meines Manuskriptes. Einführung <?page no="17"?> 8 1. Theorien zur Assimilation und Absorption der Migranten in die Aufnahmegesellschaft Die Migrationsforschung nimmt ihren Ausgang von den traditionellen Einwanderungsländern, die Millionen von Migranten aus allen Teilen der Welt aufgenommen haben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die ersten Forschungsfragen fast ausschließlich aus dem Blickwinckel der Aufnahmeländer gestellt wurden. In der Anfangszeit lag daher der theoretische Schwerpunkt der Forschung in der schwierigen kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung der Migranten in die Aufnahmegesellschaft. Die ersten theoretischen Erklärungsversuche hierzu waren deskriptiv-klassifikatorische Sequenz- und Zyklenmodelle, die den Assimilationsvorgang der Immigranten als einen langen Prozess darstellten, der in einer Abfolge von Phasen progressiv voranschreitet (vgl. Petrus Han, 2005, 44-45). Gemeinsam für die Sequenzmodelle ist die Tatsache, dass sie, unabhängig von ihren unterschiedlichen Phaseneinteilungen, wissenschaftliche Bemühungen darstellen, durch die die deskriptive Rekonstruktion und Klassifikation des faktischen Assimilationsvorgangs einzelner Immigranten und -gruppen induktiv zu einer allgemeinen Theoriebildung gelangen. Ihre Konstruktion beruht jedoch auf der Erforschung einzelner Teilbereiche des neuen Lebens der Immigranten, wie z.B. Siedlungsweise, sektorale Konzentration in Beruf und ökologischem Raum, soziokulturelle Integration in der Generationsabfolge, die sie unter bestimmten regionalen und soziohistorischen Bedingungen des Aufnahmelandes durchlaufen haben. Ihre Erklärung kann daher auf die jeweilige Untersuchungssituation bezogen Gültigkeit besitzen. Sie ist jedoch nicht zur Verallgemeinerung geeignet. Generell können Sequenzmodelle nicht erklären, wie, wann und unter welchen Bedingungen sich der Übergang von einer Phase zur nächsten vollzieht. Sie können bei der theoretischen Strukturierung komplexer Einzelaspekte der Assimilation hilfreich sein, stellen jedoch in sich keine allgemeinen Theorien dar, die die Zusammenhänge von Migration und Assimilation erklären (vgl. Petrus Han, 2005, 46). Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="18"?> 9 Die Assimilationstheorie von Rober E. Park und Ernerst W. Burgess, die in diesem Kapitel an erster Stelle vorgestellt wird, ist von ihrer zeitlichen Entstehung her eine der ältesten Assimilationstheorien. Sie geht inhaltlich über die Sequenzmodelle hinaus. Sie wird als ein Modell des „race-relation-cycle“ bezeichnet, von dem wertvolle und nachhaltige Anregungen für die nachfolgende migrationssoziologische Theorieentwicklung ausgegangen sind (vgl. Charles Price, 1969, 213-217). Park und Burgess vertreten in diesem Modell die Auffassung, dass die ethnischen Gruppen, die durch Migration in einem Gebiet zusammenkommen, die im Modell genannten 5 zyklischen Phasen der sozialen Interaktion (contact, competition, conflict, accommodation, assimilation) durchlaufen. Obwohl das Modell in der Folgezeit viele Anhänger gefunden hat, war es nicht frei von Kritik. Eine zentrale These des Modells besteht darin, dass die einzelnen zyklischen Phasen der sozialen Interaktion unvermeidbar nacheinander ablösend eintreten und irreversibel progressiv verlaufen (vgl. Richard Alba und Victor Nee, 1997, 828). Diese These hat sich als empirisch nicht haltbar erwiesen, weil sich die interethnischen Beziehungen keineswegs immer progressiv in Richtung Assimilation entwickeln müssen. Sie können auch in dauerhafte Konflikte, Unterordnung oder sogar in die Eliminierung ethnischer Gruppen einmünden (vgl. Hartmut Esser, 1980, 46). Das Zyklenmodell trägt in keiner Weise den in der Realität eintretenden möglichen Komplikationen, wie Vertreibung, Zerstörung oder Vernichtung (z.B. die „Endlösung der Judenfrage“ in Nazideutschland) ethnischer Gruppen Rechnung, die während des Assimilationsprozesses eintreten und diesen abrupt beenden bzw. zur Stagnation führen können. Robert E. Park hat in einer späteren Publikation von 1937 nur andeutungsweise auf die Möglichkeit des regressiven Phasenverlaufs und auf alternative Formen des Endzustands (Kastensystem als Endzustand) hingewiesen (vgl. Russell A, Kazal, 1995, 445). Die Annahme, dass die völlige Assimilation zwangsläufig der einzige mögliche Endzustand des Eingliederungsprozesses sein soll, bleibt somit einseitig (vgl. Charles Price, 1969, 214). Weiterhin wird die im Modell enthaltene These, dass die ethnischen Unterschiede mit der Erreichung der Assimilationsphase völlig aufgehoben würden, wird besonders von denjenigen kritisiert, die den kulturellen Pluralismus favorisieren. Sie weisen auf Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="19"?> 10 die Möglichkeit hin, dass ethnische Gruppen, wie z.B. die Frankokanadier, voll in die „core society“ integriert werden können, ohne dabei ihre ethnische Identität aufzugeben. In diesem Sinne kann die Integration eine Form der Akkommodation sein (vgl. Charles Price, 1969, 216). Was noch kritisch angemerkt wird, ist die Feststellung, dass der Assimilationsprozess keineswegs eine Mechanik darstellt (vgl. Hartmut Esser, 1980, 48), die irreversibel progressiv verläuft. Statt des linear progressiven Verlaufs kann Assimilation auch durch Diskontinuität und Regression bestimmt sein, so dass die „uneven assimilation“, d.h. die ungleichmäßig verlaufende Assimilation, nicht gänzlich auszuschließen ist. Das Modell des „race-relation-cycle“ kann diese „uneven assimilation“ nicht erklären (vgl. Charles Price, 1969, 216). Die Assimilationstheorie von Milton M. Gordon, die 40 Jahre nach der Theorie von Park und Burgess vorgestellt wurde, stellt eine der differenziertesten und ausgereiftesten Theorien der Assimilation dar, die von einem umfassenderen Forschungsansatz ausgeht als die Sequenz- und Zyklenmodelle (vgl. Petrus Han, 2005, 48). Park und Burgess haben zwar den Begriff der Assimilation formal definiert, sie haben jedoch die amerikanische Gesellschaft als die Zielgesellschaft (target society) der Assimilation der Immigranten unbestimmt und undefiniert gelassen. In seinem Buch „Assimilation in American Life“ präzisiert Gordon dagegen die amerikanische Gesellschaft als „target society“ der Assimilation, indem er die herrschenden Assimilationsideologien der „Angloconformity“, „the melting pot“ und „cultural pluralism“ analysiert. Die Assimilation in diese „target society“ ist für ihn ein lang andauernder Prozess, der insgesamt 7 verschiedene Teilprozesse einschließt. Die Definition der einzelnen Teilprozesse der Assimilation stellen in ihrer Gesamtheit eine differenzierte Systematik der unterschiedlichen Formen der Assimilation dar, die den Höhepunkt der Assimilationstheorien markiert: „ Assimilation in American Life remains one of the most carefully thought-out treatises on the subject. Of the selections reviewed so far, it gives the clearest picture of the society to which ethnic Americans were thought to assimilate, one structured in terms of sub-groups. ..In this sense, it represented the peak of postwar writing on assimilation.” (Russell A, Kazal, 1995, 451). Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="20"?> 11 Auf der anderen Seite ist anzumerken, dass die Assimilationstheorie von Gordon eine mikrosoziologische Erklärung der Assimilation darstellt, die den umfassenden sozialen Prozess der Veränderung ethnischer Gruppen außer Acht lässt (vgl. Richard Alba und Victor Nee, 1997, 829, 835). Die dritte Assimilationstheorie, die in diesem Kapitel vorgestellt wird, ist die Absorptionstheorie von Shmuel N. Eisenstadt. Bei der Absorptionstheorie geht es auch um die Eingliederung der Immigranten in die Aufnahmegesellschaft. Sie wurde genau 10 Jahre vor der Theorie von Milton M. Gordon veröffentlicht. Ihren Ausgangspunkt bilden die jüdischen Gemeinden in Palästina und die jüdische Gesellschaft in Israel, die fast ausschließlich aus den jüdischen Immigranten vieler Kulturen und Regionen der Welt entstanden sind. Shmuel N. Eisenstadt benutzt für die Eingliederung der jüdischen Immigranten den Begriff der Absorption. Geht man von den Aussagen seiner Theorie aus, so ist zu vermuten, dass er mit dieser Begriffswahl einen neuen theoretischen Akzent setzt. Die Assimilationstheorie, die ursprünglich von den Gründern der Chicago-Schule der Soziologie Robert E. Park und Ernest W. Burgess entwickelt wurde, beruhte auf einem individualisierenden Modell (individualization model) der Assimilation (vgl. Russell A, Kazal, 1995, 438, 470). Danach ist der entscheidende Akteur der Assimilation der individuelle Immigrant selbst. Er muss die Initiative zur Assimilation ergreifen und diese zum Erfolg führen. Erfolg oder Misserfolg steht in seiner Verantwortung. Für Eisenstadt ist dagegen der Prozess der Eingliederung, der von dem Individuum allein verantwortet wird, nicht einseitig. Er versteht ihn vielmehr als zweigleisigen Prozess, der sowohl von der Lernbereitschaft des einzelnen Individuums als auch von der Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft, den einzelnen Immigranten die notwendigen Opportunitäten des assimilativen Lernens zur Verfügung zu stellen, abhängt. Dabei scheint der Begriff der Absorption die aktive Rolle und Verantwortung der aufnehmenden Gesellschaft für die Eingliederung der Immigranten deutlicher zum Ausdruck zu bringen als der Begriff der Assimilation. Die Absorptionstheorie von Shmuel N. Eisenstadt wird als „die bis heute am weitesten entwickelten und systematischsten Fassungen des Problems der Eingliederung“ bewertet (vgl. Hartmut Esser, 1980, 70). Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="21"?> 12 Die Assimilationstheorien, die das Phänomen ausschließlich aus dem Blickwinkel der Aufnahmegesellschaft thematisiert haben, waren die ersten Migrationstheorien, die überwiegend in den USA, entwickelt wurden. Sie haben die Assimilation weitgehend mit der Amerikanisierung (Americanization) gleich gesetzt, die von der „core society“ der dominanten Gruppe der anglosächsischen Protestanten gebildet wird. In den 1950er und 1960er Jahren wurden die Assimilationstheorien von den ethnischen Minderheiten abgelehnt, weil sie ethnozentrische und paternalistische Theorien darstellten (vgl. Richard Alba und Victor Nee, 1997, 827), und weil die Anpassungsbemühungen der ethnischen Minderheiten an die anglo-protestantischen Standards keine soziale Gleichheit gebracht hatten. Dadurch erwies sich die Assimilation als unhaltbare Ideologie (vgl. Petrus Han, 2005, 321-329). In den 1960er Jahren war daher von dem Tod der Assimilationsideologie die Rede: „The concept of an unchanging, monolitic, Anglo-American cultural core is dead.“ (vgl. Russell A, Kazal, 1995, 438). Es ist umso erstaunlicher, dass die US-Historiker seit den 1980er Jahren den Versuch gestartet haben, die Idee der Assimilation in einer inhaltlich modifizierten Form wissenschaftlich neu zu beleben und zu bewerten. Sie wollen unter dem Begriff der Assimilation nicht die Amerikanisierung verstanden wissen, sondern die in der Gesellschaft stattfindenden Prozesse der Homogenisierung (homogenization). Die Entstehung der amerikanischen Arbeiterklasse (American working class) im Zusammenhang mit der Gewerkschaftsbewegung oder der Prozess der allgemeinen Identitätsbildung der Immigranten zu Amerikanern (emergence as „Americans“) sind für sie Beispiele der Homogenisierung, in der die ethnischen Grenzen der Immigranten unterschiedlicher Herkunft zu einer übergreifenden Einheit verschmolzen werden. Solche Prozesse der Homogenisierung sollen mit Hilfe des Begriffs der Assimilation erklärt werden (vgl. Russell A, Kazal, 1995, 438, 471). In den 1990er Jahren kommen auch Soziologen zu einer Neubewertung der Assimilationstheorien und sehen darin ein großes theoretisches Erklärungspotential für die Entwicklung der ethnischen Gruppen in der Gegenwart (vgl. Richard Alba und Victor Nee, 1997, 863), so dass eine Versöhnung zwischen den beiden theoretischen Positionen der Assimilation und des Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="22"?> 13 Pluralismus für sinnvoll gehalten wird (vgl. Herbert J. Gans, 1997, 874-892). 1.1 Robert E. Park und Ernest W. Burgess Prozess der sozialen Interaktion als grundlegender sozialer Prozess der Gesellschaft und seine konstitutiven Phasen (Introduction to the Science of Sociology, 1921/ 1969. 460 S.) Die Anerkennung der Soziologie als eigenständige Wissenschaft (an independent science) geht historisch, wie Rober E. Park und Ernest W. Burgess einleitend ausführen, auf das Werk „Cours de philosophie positive“ von Auguste Comte zurück. Comte hat zwar die Soziologie nicht erfunden, er gab ihr jedoch einen Namen, ein Programm und einen Platz unter den Wissenschaften. Für Comte bestand das Programm der neuen Wissenschaft „Soziologie“ in der Ausdehnung (extension) der positiven Methode der Naturwissenschaften auf das Studium des Menschen und der Gesellschaft, damit es im Sinne der naturwissenschaftlichen Methode wissenschaftlich (to become scientific) betrieben werden kann. Mit dieser Intention bezeichnete Comte die Soziologie anfangs als „social physics“. Erst im 4. Band seiner positiven Philosophie benutzt er zum ersten Mal den Begriff „Soziologie“. Er war nicht der Erste, der nach einer positiven Wissenschaft der Gesellschaft gesucht hat. Montesquieu, Hume und Condorcet haben bereits vor ihm von der positiven Wissenschaft der Menschheit (mankind) bzw. der Geschichte gesprochen. Comte, der sich als Schüler von Saint-Simon verstand, suchte in seiner positiven Philosophie nach Lösungen des Problems, das Saint-Simon formuliert hat. Er wollte mit der Soziologie den Unterschied zwischen der Philosophie, in der die Menschen ihre Wünsche definieren (in which men define their wisches), und den Naturwissenschaften, die die existierende Ordnung der Natur „race-relation-cycle“ von Park und Burgess <?page no="23"?> 14 beschreiben (describe the existing order of nature), überwinden. Er verstand unter der positiven Wissenschaft der Soziologie eine Methode der Untersuchung (a method of investigation) der Menschheit (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 1-6). Obwohl die Fachdisziplinen Geschichte und Soziologie das Leben der Menschen untersuchen, unterscheiden sie sich in ihrer Forschungsmethode und Zielsetzung voneinander. Die Geschichte (history) versucht die historischen Ereignisse, die in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum eingetreten sind, zu rekonstruieren. Ihre Zielsetzung liegt darin, die Bedeutung der Vergangenheit (the significance of the past) für die Menschen in der Gegenwart zu rekonstruieren und zu interpretieren. Dabei ist jedes historische Ereignis einmalig in dem Sinne, in dem es sich nicht wiederholt. Es unterliegt weder dem Experiment noch der Verifikation. Was aber der Verifikation nicht bedarf, ist nicht Gegenstand der Naturwissenschaften. Sobald die Geschichte den typischen und repräsentativen Charakter der Ereignisse betont anstatt seine Einmaligkeit, hört sie auf Geschichte zu sein. Sie geht dann zur Soziologie über. Sobald sie anfängt zu vergleichen, zu klassifizieren und Gesetze zu formulieren, wie dies z.B. bei der historischen Untersuchung sozialer Institutionen denkbar ist, wird sie zur Soziologie. Die Soziologie versucht, unabhängig von Raum und Zeit der Ereignisse, natürliche Gesetze (natural laws) und Generalisierungen (generalization) in Bezug auf die menschliche Natur (human nature) und die Gesellschaft zu gewinnen. Mit menschlicher Natur wird hier gemeint, dass wir gelernt haben, bestimmte Verhaltensweisen von den Individuen zu erwarten, weil wir sie für alle Menschen als generell vorkommend halten, d.h. wir halten sie als der menschlichen Natur (simply human nature) adäquat. Sie sind in diesem Sinn natürliche Gesetze (natural laws), weil sie typisch für eine Klasse von Objekten sind. Die natürlichen Gesetze sind damit nichts anderes als die Beschreibung der Verhaltensweisen (a description of behavior), die bei einem bestimmten Typus bzw. bei einer bestimmten Klasse von Objekten vorkommen. So gesehen versucht die Geschichte herauszufinden, was tatsächlich passiert ist, während die Soziologie die Natur des involvierten Prozesses (the nature of process involved) zu erklären (explain) versucht. Historisch ge- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="24"?> 15 sehen hat die Soziologie ihren Ursprung in der Fachdisziplin der Geschichte (historically sociology has had its origin in history), weil sie die übergreifenden Zusammenhänge der historischen Fakten (historical facts) zu erklären versucht. Während die Geschichte die einmaligen historischen Ereignisse interpretiert (history interprets), erklärt die Soziologie diese (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 6-17, 23). Nach der Ansicht von Auguste Comte und Herbert Spencer ist die Gesellschaft als kollektiven Organismus (collective organism) bzw. als sozialen Organismus (social organism) zu bezeichnen. Dabei betont Comte die Unterschiede (the distinctions) des sozialen Organismus von dem des biologischen, während Spencer seine Analogie (the analogy) zum biologischen Organismus betont. Bei der Vorstellung der Gesellschaft als Organismus war für Comte entscheidend, dass der soziale Organismus, im Gegensatz zu dem biologischen, aus einzelnen physisch unabhängigen Individuen besteht, die jedoch miteinander kooperieren. Diese Individuen sind für Comte eine Abstraktion (an abstraction), weil sie nur durch die Partizipation am menschlichen Leben (participation in the life of humanity) existieren können. Dabei umfasst die Menschlichkeit (humanity) nicht nur alle lebenden Menschen, sondern den gesamten Komplex der Tradition, Gewohnheiten und kulturellen Ideen und Ideale, die insgesamt das soziale Erbe (the social inheritance) der Menschheit ausmachen. Dieses soziale Erbe wird von einer Generation zur nächsten weiter tradiert. Die einzelnen Individuen werden in dieses Erbe hineingeboren und bringen ihren individuellen Beitrag dazu ein. In diesem Sinne versteht Comte die Gesellschaft als einen sozialen Organismus. Dieser hat jedoch, wie Spencer konstatierte, kein eigenes soziales Sensorium, das fühlt. So hätte man der Auffassung sein müssen, dass die Gesellschaft nur in dem individuellen Bewusstsein der Einzelnen, die die Gesellschaft bilden, ein Bewusstsein (cosciousness) hat. Im Gegensatz zu dieser im ersten Blick logischen Vorstellung gehen jedoch alle Gesellschaftstheoretiker von der Existenz eines kollektiven bzw. sozialen Bewusstseins (collective or social consciousness) der Gesellschaft aus, das dem individuellen Bewusstsein übergeordnet ist. Damit wird die Organisation der Kontrolle der voneinander unabhängigen Individuen auf der Basis der übergreifenden gesellschaftlichen „race-relation-cycle“ von Park und Burgess <?page no="25"?> 16 Übereinstimmung (organization of control resting on consent) zu einer zentralen Aufgabe der Gesellschaft (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 24-33). Geht man von der Gesellschaftstheorie Emile Durkheims aus, so agieren die Menschen in der Gesellschaft miteinander (act together), nicht weil sie untereinander ähnliche Zwecke (to have like purposes) verfolgen, sondern weil sie einen gemeinsamen Zweck (common purpose) haben. Dieser ist für die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft Ideal (an ideal), Wunsch (a wish) und Verpflichtung (an obligation) zugleich. Das Gewissen (conscience) als ein Gefühl der Verpflichtung (the sense of obligation), das die Mitglieder einer sozialen Gruppe fühlen, wenn sie Konflikte zwischen den individuellen Wünschen und dem Gruppenwillen haben, ist eine Manifestation der kollektiven Gesinnung (the collective mind) und des Gruppenwillens (the group will) im individuellen Bewusstsein (individual consciousness). Wenn die einzelnen Menschen unter einer bestimmten sozialen Bedingung zusammenkommen, so die Auffassung von Durkheim, werden ihre individuellen Meinungen (opinions) und Gefühle (sentiments) unter dem Einfluss der Gruppe so modifiziert und verändert, dass neue Gefühle und Meinungen entstehen, die nun einen öffentlichen (public) und sozialen (social) Charakter tragen. Diese wirken dann ihrerseits als externe Kraft auf die Individuen zurück, so dass die Einzelnen diese als Inspiration, persönliche Entlastung und Erweiterung oder als Verpflichtung, Druck und Verbot empfinden. Das charakteristische soziale Phänomen ist dabei die Kontrolle (control), die die Gruppe der beteiligten Individuen auf die einzelnen Mitglieder ausübt. Diese Kontrolle ist eine fundamentale soziale Tatsache (the fundamental social fact), die nicht ignoriert werden kann. Damit sind die Mitglieder der Gesellschaft in einem System der gegenseitigen Beeinflussung (a system of mutual influences) miteinander verbunden, wobei die gegenseitige Beeinflussung als Prozess zu verstehen ist. Nach der Theorie Durkheims sind alle Inhalte der Kultur, wie z.B. Sprache, Wissenschaft, Religion, öffentliche Meinung und Gesetze, Produkte der sozialen Interaktion von Menschen. Sie haben einen objektiven, öffentlichen und sozialen Charakter. Durkheim bezeichnet diese Kulturprodukte als kollektive Repräsentation (col- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="26"?> 17 lective representation) der Gesellschaft (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 33-38). Die Gesellschaft ist mehr als die Summe der gleichgesinnten Individuen (more than a collection of like-minded individuals / not a mere physical aggregation). Der Grund liegt darin, dass die Gesellschaft ihre Existenz dem sozialen Prozess (social process) zu verdanken hat, in dem die einzelnen Menschen permanent miteinander kooperieren. Dadurch bringen sie Traditionen und öffentliche Meinungen (public opinion) hervor, die nicht nur die einfache Summe der einzelnen Auffassungen darstellen, sondern etwas Objektives und Überindividuelles, das die gesamten Tendenzen des Ganzen (a general tendency of the public as a whole) zum Ausdruck bringt. Die Gesellschaft und die Menschen, die die Gesellschaft bilden, sind somit Produkte des sozialen Prozesses. Das kollektive Bewusstsein (collective consciuousness) der Gesellschaft, das für die einzelnen Individuen orientierung- und richtunggebend ist, ist selbst ein sozialer Prozess und zugleich ein Ergebnis dieses sozialen Prozesses. Die Tatsache, dass die Gesellschaft sowohl individuelle als auch kollektive Aspekte hat, und dass sie nicht nur ein Aggregat von gleichgesinnten Einzelnen (society is not likemindedness) ist, sondern eine nach einem gemeinsamen Ziel orientierte (directed to a common end) körperschaftliche Aktion (corporate action) darstellt, ist die Legitimation dafür, dass für die Konzeption der Gesellschaft die Allegorie des Organismus verwendet wurde. Von diesem Standpunkt aus stellt die soziale Kontrolle (social control) den zentralen Faktor (the central fact) und das zentrale Problem der Gesellschaft dar, weil die einzelnen Mitglieder zu einer dauernden Kooperation bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele geführt werden müssen. Der soziale Prozess (z.B. historische, kulturelle, politische, ökonomische Prozesse) ist dabei gleichbedeutend mit allen sozialen Veränderungen, die im Leben der Menschen und der Gruppen von Menschen eintreten („social Process is the name for all changes which can be regarded as changes in the life of the group“). Alle sozialen Veränderungen (all social changes) haben ihren Ausgang zwar aus den sozialen und individuellen Desorganisationen (social and individual disorganization), die nach progressiver Reorganisation verlangen, sie werden dennoch nur durch den sozialen Prozess möglich. Sie sind somit Produkte des sozialen „race-relation-cycle“ von Park und Burgess <?page no="27"?> 18 Prozesses (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 38- 41, 51-52, 55-56, 79). Der fundamentale soziale Prozess ist ein Vorgang der sozialen Interaktion zwischen Menschen und Gruppen von Menschen. Bei näherer Betrachtung besteht die Gesellschaft letztlich aus der sozialen Interaktion von Menschen, weil sie nur durch die soziale Interaktion am Leben der Gesellschaft partizipieren können. Dabei stellt die Kommunikation in ihren vielfältigen Formen das Medium der sozialen Interaktion dar. Im Prozess der Kommunikation tauschen die Menschen nicht nur ihre Erfahrungen miteinander aus, sondern gelangen auch in den Besitz gemeinsamer Erfahrungen (common experience). Der Kontakt (contact) bildet den Anfang dieser sozialen Interaktion, der die darauf folgenden vier markanten Interaktionsphasen bzw. Interaktionstypen, die aus Wettbewerb (competition), Konflikt (conflict), Akkommodation (accommodation) und Assimilation (assimilation) bestehen, vorbereitet, einleitet und kontrolliert. Die Mitglieder der Gesellschaft leben zwar räumlich voneinander getrennt, sie befinden sich dennoch durch Wahrnehmung (perception) und Kommunikation (communication) im sozialen Kontakt (nicht im physischen), so dass ihre Verhaltensweisen durch die unterschiedlichen Formen der sozialen Kontakte zwischen den Personen und Personengruppen bestimmt werden. Sie können sogar zu kollektiven Handlungen motiviert und mobilisiert werden (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 37, 121-122, 131, 187). Die grundlegende Phase der sozialen Interaktion besteht nach der Theorie von Robert E. Park und Ernest W. Burgess im Wettbewerb (competition), der zwangsläufig stattfindet. Alle Lebewesen (Pflanzen, Tiere, Menschen) stehen in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander, so dass der Wettbewerb die fundamentale, universale und elementare Form der sozialen Interaktion darstellt. In der Evolutionstheorie ist dieses universale Phänomen als der elementare Aspekt im Kampf ums Dasein (struggle for existence) bekannt. Im 18. Jahrhundert hat das Phänomen des Wettbewerbs eine besondere ökonomische Akzentuierung erhalten, weil die Ökonomen (z.B. Adam Smith in England und die Physiokraten in Frankreich) eine soziale Ordnung (social order) befürworteten, die auf den Prinzipien der individuellen Freiheit (individual freedom) und des Wettbe- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="28"?> 19 werbs aufbaut. Dabei traten sie für die Kontrolle des Wettbewerbs ein, um ihn überhaupt erst zu ermöglichen und zu erhalten. Denn der unkontrollierte Wettbewerb würde in seiner logischen Konsequenz zum Monopol führen und letztendlich den Wettbewerb verhindern bzw. gänzlich aufheben, wie z.B. die uneingeschränkte Freiheit (unlimited liberty) letztlich zum Chaos und zur Verneinung der Freiheit führen und diese aufheben wird. Der absolut freie Wettbewerb ist weder wünschenwert noch möglich. Obwohl es paradox erscheinen mag, ist der Wettbewerb streng genommen die soziale Interaktion ohne den sozialen Kontakt (interaction without social contact), weil der Letztere Kommunikation und gegenseitige Beeinflussung zwischen den Beteiligten voraussetzt. Es bleibt jedoch eine offene Frage, ob die Beteiligten im sozialen Wettbewerb den sozialen Kontakt in diesem kommunikativen Sinne haben. Der Wettbewerb in der menschlichen Gesellschaft geht zum Konflikt über, sobald sich die Beteiligten dessen bewusst (conscious) werden, dass sie gegeneinander als Rivalen auftreten. Das Bewusstwerden des sozialen Kontakts führt unweigerlich (inevitably) zu den nächsten Phasen der sozialen Interaktion, nämlich zu den des Konflikts, der Akkommodation und Assimilation, weil es in der Regel mit persönlichen und moralischen Implikationen verbunden ist, wie z.B. Sympathie, Antipathie und Vorurteile, die wiederum den Wettbewerb beeinflussen, modifizieren und komplizierter machen können. Auf der anderen Seite trägt der Wettbewerb zum Gemeinwohl (the common welfare) bei, wenn er innerhalb des kulturell, traditionell und gesetztlich vorgegebenen Rahmens stattfindet, weil dann die Einzelnen die Möglichkeit haben, geschützt und relativ frei ihre Dienstleistungen im gegenseitigen Interesse (mutual exchange of services) miteinander auszutauschen (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 185-188). Es ist im existentiellen Interesse der Gesellschaft, dass die Individuen in ihrem freien Wettbewerb durch die soziale und moralische Ordnung der Gesellschaft kontrolliert werden. Dies bedeutet, dass der Wettbewerb dann unsozial (unsocial) wird, wenn er die Menschen nicht als Ziel betrachtet, sondern als Mittel zum Zweck degradiert (man becomes a means rather than an end to other men). Vor diesem Hintergrund erhält die soziale Kontrolle (social control) des Wettbewerbs und aller anderen Formen der sozialen Inter „race-relation-cycle“ von Park und Burgess <?page no="29"?> 20 aktion (conflict, accommodation, assimilation) durch die soziale und moralische Ordnung der Gesellschaft eine zentrale und unerlässliche Bedeutung. Wie wichtig die soziale Kontrolle aller sozialen Interaktionen ist, kann wie folgt erklärt werden. Der freie Wettbewerb zwischen den Individuen dient dem Ziel, die Verteilung (distribution) der knappen gesellschaftlichen Ressourcen zu regeln. Es kommt entscheidend darauf an, dass das ökonomische Gleichgewicht (the economic equilibrium) der Gesellschaft trotz des Wettbewerbs bewahrt bleibt. Um dieses Ziel zu erreichen, darf der Wettbewerb nicht in ungezügelten Konflikten ausarten. Dies setzt wiederum voraus, dass die sozialen Konflikte durch die politische Ordnung (the political order) kontrolliert werden. In der darauf folgenden Phase der Akkommodation geht es dann darum, dass die Individuen und die Gruppen von Individuen durch angemessene interne Anpassungen (the necessary internal adjustments) der veränderten sozialen Situation Rechnung tragen, die als Folge des Wettbewerbs und Konflikts eingetreten ist. Die Ermöglichung und Sicherstellung dieser Anpassungen machen wiederum die Errichtung sozialer Organisationen (social organizations) notwendig. In der letzten Phase der Assimilation geht es schließlich darum, die sozialen Errungenschaften, die durch die Prozesse des Wettbewerbs, Konflikts und der Akkommodation erreicht werden, den einzelnen Menschen und nachfolgenden Generationen als kulturelles Erbe (cultural heritage) weiter zu vermitteln. So gesehen bedeutet die Evolution der Gesellschaft nichts anderes als den extensiven Ausbau der sozialen Kontrolle über die Natur und über die Menschen. Dabei findet eine sukzessive Substitution der natürlichen Ordnung (the natural order) durch die moralische Ordnung statt (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 189-192). Der Wettbewerb aller Lebewesen im Kampf ums Dasein (struggle for existence) steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Prozess der Invasion (invasion). Demnach sind alle Lebewesen ständig auf der Suche nach neuen Nahrungsquellen und Lebensräumen. Sie dringen dabei in fremde Gebiete ein (invasion into a new area), um sich neu anzusiedeln und diese zu kolonialisieren. Die Gesamtheit dieser räumlichen Bewegungen (whole movement) der Lebewesen im Kampf ums Dasein wird als Prozess der Invasion, bezogen auf die räumlichen Bewegungen von Menschen als Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="30"?> 21 der der Migration, bezeichnet. Blickt man auf die Geschichte der Menschheit zurück, so ist festzustellen, dass die Menschen immer auf der Suche waren, z.B. nach neuem Weideland (Nomadenwanderung), neuen Handelsrouten (migratory trade) und neuen Arbeitsplätzen. Die Geschichte der Menschheit ist so gesehen die Geschichte der Migration. Während die Migrationen der Vergangenheit kollektiver Natur waren, in denen ganze Stämme und Sippen migriert sind, sind die Migrationen der Gegenwart weitgehend Migrationen einzelner Menschen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen. Dabei sind die Binnenmigrationen (internal migrations) bzw. kontinentale Migrationen (continental migrations) von den internationalen/ grenzüberschreitenden (foreign migrations) bzw. transmaritimen Migrationen (transmaritime / extra-European migrations) zu unterscheiden. Als Beispiele der Binnenmigrationen sind die saisonalen Migrationen der Arbeitskräfte (periodic migrations of labor), wie z.B. die der Erntehelfer oder der Tagelöhner (day-laborer), zu nennen. Die Binnenmigrationen waren häufiger und in ihrer Konsequenz wichtiger als die grenzüberschreitenden Migrationen (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 193-195, 206-211). Die Mehrheit der Binnenmigrationen besteht aus der Immigration der Menschen aus ländlichen Regionen in die städtischen Zentren. Daher machen die Immigranten aus ländlichen Regionen einen großen Teil der städtischen Bevölkerung aus. Diese Land-Stadt- Migration ist insofern wichtig, weil sie zur Umverteilung der Bevölkerung und Veränderung der Sozialstruktur führt. Zunächst führt sie zur sukzessiven Entvölkerung der ländlichen Regionen (a progressive depopulation of the rural districts), andererseits löst sie in den städtischen Regionen negative Reaktionen (z.B. Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt) in der dortigen Bevölkerung sowie neue Interaktionen mit ihr aus. Diese neuen sozialen Konflikte zwischen Immigranten und Einheimischen sind besonders dann unvermeidbar, wenn die Zahl der Immigranten größer wird. Bei diesen Konflikten geht es in der Regel um die Verteilung der knappen gesellschaftlichen Ressourcen. Sie führen entweder zur Anpassung (adaptation) oder zur Unterwerfung (subjugation) einer Konfliktpartei an die bzw. unter die andere. Es ist auch festzustellen, dass die Migration einen Prozess der Selektion darstellt. Es findet „race-relation-cycle“ von Park und Burgess <?page no="31"?> 22 bei den Immigranten in den Städten eine Selbstselektion in dem Sinne statt, in dem überwiegend solche Menschen, die die besten physischen und mentalen Dispositionen haben, in die Städte emigrieren. Gleichzeitig findet eine soziale und rassische Selektion der Migranten statt, indem die Städte bisher besonders auf große und blonde Menschen teutonischer Herkunft (tall and blond Teutonic type of population) anziehend gewirkt haben, während sich die mehr sesshafte Alpinenrasse (sedentary Alpine race) weniger für die Immigration in die Städte interessierte (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 206, 212-218). Dieser Konflikt macht die zweite Phase der sozialen Interaktion aus. Der Unterschied zwischen Wettbewerb und Konflikt besteht darin, dass der Wettbewerb einen Kampf (struggle) zwischen den Individuen und Gruppen von Individuen darstellt, die sich nicht notwendigerweise im sozialen Kontakt und in sozialer Kommunikation befinden müssen. Der Wettbewerb in einem unpersönlichen Lebenskampf (impersonal life-struggle) ist unbewusst (unconscious). Dagegen ist der Konflikt ein Streit (contest), in dem der Kontakt der Konfliktparteien eine unverzichtbare Bedingung (indispensable condition) darstellt. Der Konflikt ist für die Konfliktparteien immer bewusst (conscious) und löst bei ihnen durchweg tiefe Emotionen, Leidenschaften, größte Konzentration und Anstrengung aus. Der Wettbewerb und der Kampf sind Formen des Streits. Der Wettbewerb findet jedoch kontinuierlich statt und ist unpersönlich (impersonal), während der Kampf diskontinuierlich (intermittent) stattfindet und persönlich (personal) ist. Somit geht der Wettbewerb in dem Moment in einen Kampf über, in dem er bewusst und persönlich ausgetragen wird. Bei dem Übergang vom Wettbewerb zum Kampf werden die Wetteifernden zu Rivalen, sogar zu Feinden. Der Konflikt ist dagegen ein bewusster Wettbewerb (conflict as conscious competition). Beim Wettbewerb handelt es sich um das Ringen um eine Position in der ökonomischen Ordnung, die die Stellung des Individuums innerhalb einer Gemeinde (community) bestimmt. Bei dem Konflikt handelt es sich um den Status des Individuums, der seine Über- und Unterordnung (subordination and superordination) und seine Kontrollmacht innerhalb der Gesellschaft (society) bestimmt. Konflikt, Wettbewerb und Rivalitäten sind die Hauptgründe (the chief causes) für Menschen, sich Gruppen anzu- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="32"?> 23 schließen (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 236- 237, 241, 267). Die vierte Phase der sozialen Interaktion besteht aus der Akkommodation (accommodation). Der Begriff der Akkommodation ist verwandt mit dem der Adaptation (adaptation), der in der Theorie der Entstehung der Arten (Charles Robert Darwin) durch die natürliche Auslese (theory of the origin of the species by natural selection) eine wichtige Rolle spielt. Nach dieser Theorie sind zwei Angehörige einer biologischen Art niemals gleich (no two members of a biological species are ever exactly alike), sondern es treten zwischen ihnen Variationen auf, die eine Folge der natürlichen Auslese sind. Dabei werden die Unterschiede (the differences) zwischen den Arten als Ergebnisse der Akkumulation und Perpetuation (perpetuation) der individuellen Variationen erklärt, die in sich „die Werte zum Überleben“ (survival value) haben. Adaptationen sind die Variationen, die auf diese Weise ausgelesen und übermittelt werden. Damit wird der Begriff der Adaptation im Sinne der organischen Modifikationen (organic modifications) verwendet, die biologisch übermittelt (transmitted biologically) werden. Dagegen wird der Begriff der Akkommodation verwendet, um die Übermittlung der Veränderungen in der Gewohnheit (changes in habit) zum Ausdruck zu bringen. In der Soziologie wird der Begriff der Akkommodation verwendet, um alle erworbenen Anpassungen (acquired adjustments) zum Ausdruck zu bringen, die sozial und nicht biologisch übermittelt werden. Kultur, Traditionen und Techniken sind einige Beispiele hierfür. Diese werden von den einzelnen Menschen durch ihre sozialen Erfahrungen persönlich erworben. Die beiden Begriffe der Adaptation und Akkommodation können auch dahingehend unterschieden werden, dass man die Adaptation als Folge des Wettbewerbs auffasst, die Akkommodation aber als Resultat des Konflikts. Das Ergebnis von Adaptation und Akkommodation im Kampf ums Dasein des Lebewesens ist ein Zustand des relativen Gleichgewichts (a state of relative equilibrium). Bei der Adaptation ist dieser Gleichgewichtszustand als biologisches Erbe (biological inheritance) übermittelt, so dass er als ein bleibender Bestandteil der Art bzw. Rasse festgehalten wird. Bei der Akkommodation ist dieser Gleichgewichtszustand als ein wirtschaftlicher und sozialer Bestandteil festgehalten, der durch die Tradition „race-relation-cycle“ von Park und Burgess <?page no="33"?> 24 übermittelt wird (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 303-304). Die Akkommodation hängt unmittelbar mit diesem Konflikt zusammen. In der sozialen Akkommodation werden die antagonistischen Elemente so reguliert, dass der Konflikt wenigstens oberflächlich und vorübergehend beigelegt wird. Er bleibt weiterhin als potentielle Kraft unterschwellig erhalten, so dass diese jederzeit wieder ventilieren kann, wenn die einmal erreichte Anpassung bzw. der Gleichgewichtszustand durch die veränderte Situation hinfällig bzw. gestört wird. Der Konflikt bringt, sei er Krieg, Streit oder politische Auseinandersetzung, immer die Frage nach der neuen Akkommodation bzw. sozialen Ordnung mit sich, die unweigerlich bestimmte Veränderungen in dem Status der Beteiligten bewirkt. Soziale Organisationen sind grundsätzlich Ergebnisse der Akkommodation der Unterschiede (accommodation of differences), die durch den Konflikt herbeigeführt werden (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 304-305). Die Akkommodation wurde bisher als Prozess der Anpassung im Sinne einer Organisation sozialer Beziehungen und Haltungen (attitude) beschrieben, in dem Konflikte so reduziert und Wettbewerb so kontrolliert werden, dass eine soziale Ordnung für Menschen und Gruppen von Menschen, die unterschiedliche Interessen haben und verfolgen, eine sichere Basis erhalten kann. Die Akkommodation im Sinne der Vermeidung von Konflikten (to prevent or reduce conflict) ist letztendlich das Ziel des politischen Prozesses. Das Konzept der Assimilation ist dagegen unter zwei Aspekten zu sehen. Sein populärer Gebrauch steht im Zusammenhang mit dem Problem der Immigration. Dabei beschreibt es den Prozess der Übermittlung der Kultur des Aufnahmelandes an die Einwanderer, die freiwillig ihre Herkunftskultur aufgegeben und Mühe haben, die fremde Kultur des Aufnahmelandes zu übernehmen. Der Prozess der Assimilation im europäischen Kontext bedeutete dagegen die Entnationalisierung (denationalization) der unterschiedlichen nationalen Minderheiten, die in eine große politische Einheit (z.B. Reich) zwangsweise inkorporiert wurden. Dabei bestand sowohl in Europa als auch in Amerika das zentrale Problem darin, dass man für die Menschen, die keine gemeinsame Kultur (common culture) haben, dennoch eine gemeinsame politische Ordnung (political or- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="34"?> 25 der) schaffen und erhalten muss (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 359-360). Assimilation im soziologischen Sinne stellt einen Prozess der gegenseitigen Durchdringung (interpenetration) und Fusionierung dar, in dem Menschen und Gruppen von Menschen ihre Erfahrungen und Geschichte miteinander teilen und dadurch in einem gemeinsamen kulturellen Leben inkorporiert werden. Diese Assimilation bezeichnet das miteinander Teilen der Tradition (sharing of tradtion) und die intime Partizipation an den gemeinsamen Erfahrungen. Während die Veränderungen, die im Prozess der Akkommodation eintreten, relativ plötzlich und revolutionär vollzogen werden können (ein Krieg kann z.B. relativ schnell beendet und zu einem Friedensvertrag geführt werden), sind die intimen und subtilen Modifikationen, die im Prozess der Assimilation erreicht werden, nur graduell und langsam möglich. Die Mutation (mutation) der Verhaltensweisen bei der religiösen Bekehrung (conversion) kann als Beispiel für die Akkommodation genannt werden, während das Wachstum (growth) eine Metapher für die Assimilation sein kann. Während die Akkomodation einen bewussten Prozess darstellt, stellt die Assimilation kennzeichnenderweise einen unbewussten Prozess dar, so dass die Einzelnen, die in einem gemeinsamen kulturellen Leben inkorporiert werden, diesen Vorgang der Assimilation oft selbst nicht bemerken. Der soziale Kontakt leitet, wie eingangs beschrieben, die soziale Interaktion ein. Die Assimilation stellt das ideale bzw. perfekte Endprodukt der sozialen Interaktion dar. Dabei ist die Art des ersten sozialen Kontakts für den weiteren Verlauf der sozialen Interaktion entscheidend. Die Assimilation kann normalerweise schneller eintreten, wenn die sozialen Kontakte primäre Kontakte (where contacts are primary) sind, d.h. wenn sie außerordentlich intensiv und intim sind, wie dies z.B. im Familienkreis oder in den intimen Gruppen von gleichgesinnten Menschen (intimate congenial groups) der Fall ist. Sekundäre Kontakte fördern zwar die Akkommodation, aber kaum die Assimilation. Da die gemeinsame Sprache eine unverzichtbare Grundvoraussetzung für alle intimen Gruppenbildungen ist, bedeutet das Fehlen einer gemeinsamen Sprache eine große Barriere für die Assimilation (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 360-362). „race-relation-cycle“ von Park und Burgess <?page no="35"?> 26 Begrifflich wird die Assimilation von der Amalgamierung unterschieden. Die Letztere ist ein biologischer Prozess, in dem die unterschiedlichen Rassen durch die interethnischen Ehen (intermarriage) fusioniert werden. Die Assimilation beschränkt sich dagegen auf die Fusion der Kulturen (the fusion of cultures). Es gibt kaum eine Rasse, die nicht mit anderen Rassen vermischt (interbreed) wird. Die Akkulturation bzw. die Übermittlung der kulturellen Elemente von einer sozialen Gruppe zu anderen findet in der Regel in großem Umfang und über einen weiteren räumlichen Bereich statt als die Rassenmischung (miscegenation). Die Amalgamierung fördert natürlich die Assimilation, weil die Amalgamierung die besten Bedingungen für die primären sozialen Kontakte schafft, die sich wiederum positiv auf die Assimilation auswirken. Nach einer Studie der „Carnegie Corporation“ wird die Amerikanisierung (Americaization) als die Teilhabe (participation) der Immigranten am Leben der Gemeinschaft (community), in der sie leben, definiert. Damit wird deutlich, dass die Partizipation Medium und Ziel der Assimilation ist. Es gibt keinen Prozess außer dem faktischen Leben, der die Erinnerungen der Immigranten an die Vergangenheit auslöschen kann. Alles, was wir von den Menschen mit ausländischer Herkunft (foreign-born) erwarten können, ist ihre Teilhabe an unseren Idealen, Wünschen und gemeinsamen Unternehmungen (partizipation in our ideals, our wishes, and our common enterprises). Die Inklusion der Immigranten in das gemeinsame Leben kann besser gelingen, wenn mehr in die Zukunft und weniger in die Vergangenheit geschaut wird (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 362-365). Die soziologische Denkweise hat sich seit Comte und Spencer gewandelt. In ihrem Mittelpunkt stehen nun weniger die Evolution (evolution) und der Fortschritt (progress) der großen und umfassenden Gesellschaft, sondern mehr die Vielzahl von sozialen Gruppen und sozialen Prozessen, die die große Gesellschaft bilden und die in ihr stattfinden. So gesehen hat die Soziologie ihre einstige Position, eine „Philosophie der Geschichte“ bzw. eine „Wissenschaft des Fortschritts“ (science of pregress) zu sein, aufgegeben. Sie ist heute zu einer experimentellen Wissenschaft (an experimetal science) geworden, die auf allen Feldern des sozialen Lebens (in every field of social life) in dem Sinne experimentiert, in dem sie ihre Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="36"?> 27 Theorien als Hypothesen formuliert und diese durch die empirischen Fakten testet. In ihren Untersuchungen versucht sie die sozialen Probleme zu klassifizieren, um Antworten darauf zu finden. Jede Gesellschaft und jede soziale Gruppe wird dabei als eine Organisation der individuellen Wünsche ihrer Mitglieder betrachtet. Dies bedeutet, dass die individuellen Wünsche durch die Interesssen der gesamten Gruppe kontrolliert werden. Vor diesem Hintergrund hat jede Gesellschaft bzw. jede soziale Gruppe ihre formale Methode zur Definition ihrer Ziele und Politik und ihre Apparate der Verwaltung, die zur Realisierung der definierten Ziele und Politik eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund stellen sich alle sozialen Probleme (all social problems) als solche der sozialen Kontrolle heraus, die sich in drei Gruppen einteilen lassen: Probleme der Administration (praktische und technische Probleme der Regierung, Wirtschaft und sozialen Wohlfahrt), Probleme der Politik und Gesetzgebung und Probleme der sozialen Kräfte (social forces) und menschlichen Natur (human nature), d.h. Probleme der Kultur. Die Soziologie befasst sich hauptsächlich mit dem dritten Problemkomplex. In den vorangehenden Analysen haben Robert E. Park und Ernest W. Burges den Prozess der sozialen Interaktion in seinen typischen Formen bzw. Phasen beschrieben. Dabei wurden die Entstehung der Gemeinschaft (the community) und der natürlichen Ordnung in ihr auf den Wettbewerb (competition) zurückgeführt. Die soziale Kontrolle (social control) und die Unterordnung (subordination) einzelner Mitglieder in die Gemeinschaft haben ihren Ursprung in den sozialen Konflikten, die im Prozess der Akkommodation konkrete soziale Organisationsformen annehmen und schließlich im Prozess der Assimilation konsolidiert werden. Die Gemeinschaft entwickelt sich in diesen vier typischen Subprozessen der sozialen Interaktion, nämlich in denen des Wettbewerbs, Konflikts, der Akkommodation und Assimilation zur Gesellschaft (society). Diese Entwicklung der Gesellschaft wird gleichzeitig begleitet durch die spontane und formale Entwicklung unterschiedlicher sozialer Kontrollformen. Diese finden ihren Niederschlag in Traditionen, Gewohnheiten, Sitten, Zeremonien, Mythen, im religiösen und politischen Glauben, in Dogmen und Glaubenssätzen, öffentlichen Meinungen und schließlich in Gesetzen. Sie werden „race-relation-cycle“ von Park und Burgess <?page no="37"?> 28 von einer Generation zur nächsten weiter tradiert (vgl. Robert E. Park und Ernest W. Burgess, 1969, 43-47, 366). 1.2 Milton M. Gordon Anpassungsphasen der rassischen, religiösen und nationalen Einwanderergruppen an die amerikanische Gesellschaft sowie Probleme der Vorurteile und Diskriminierungen (Assimilation in American Life The Role of Race, Religion, and National Origin, 1964. 265 S.) Um zu begründen, dass die amerikanische Gesellschaft aus einer Vielzahl ethnischer Gruppen besteht, geht Milton M. Gorden zunächt darauf ein, dass Menschen sich von jeher als Angehörige eines Volkes (peoplehood) verstanden haben, das aufgrund der gemeinsamen rassischen und religiösen Herkunft gemeinsame Wertvorstellungen (values shared) miteinander teilt. Ein gängiger Terminus für den Begriff „Volk“ ist das Wort „Ethnizität“ (ethnicity), das vom Griechischen „Ethnos“ abgeleitet wird. Eine Gruppe von Menschen, die aufgrund der gemeinsamen rassischen, religiösen und nationalen Herkunft ein Volksgefühl (a sense of peoplehood) entwickelt und miteinander teilt, wird als ethische Gruppe (ethnic group) bezeichnet. Die amerikanische Gesellschaft besteht aus einer Vielzahl von ethnischen Teilgesellschaften (ethnic subsocieties). Diese entwickeln jeweils ihre eigenen Netzwerke sozialer Organisationen, formaler und informeller sozialer Beziehungen und institutioneller Aktivitäten. Diese ethnischen Teilgesellschaften erfüllen für ihre Angehörigen drei wichtige Funktionen. Zum einen dienen sie als psychologische Quelle der Selbstidentifikation (a source of group self-identification) und stellen den Ort des intimen Volksgefühls dar. Zum anderen stellen sie ihren Angehörigen ein geregeltes Netzwerk (patterned network) von Gruppen und Institu- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="38"?> 29 tionen zur Verfügung, so dass sie durchgängig in allen Lebensphasen nicht nur ihre primären sozialen Beziehungen innerhalb der ethnischen Gruppe entwickeln, sondern ihre sozialen Beziehungen fast ausschließlich auf diese primären Beziehungen beschränken können. Weiterhin übernehmen sie die Aufgabe, die kulturellen Wertvorstellungen und Verhaltensmuster der Residenzgesellschaft durch ihr eigenes kulturelles, religiöses und nationales Erbe (heritage) zu filtern. Dadurch entsteht eine kulturelle Vielfalt (cultural diversity). Die verschiedenen ethnischen Teilgesellschaften, die zusammen die übergeordnete amerikanische Gesellschaft bilden, versuchen dabei ihre ethnische Kultur zu bewahren, so dass über die kulturelle Vielfalt hinaus auch ein Modell des kulturellen Pluralismus (cultural pluralism) erlebbar wird. Mit anderen Worten existieren in den ethnischen Teilgesellschaften ethnische Subkulturen (subcultures), die teilweise auch mit selektiven Elementen der Residenzgesellschaft vermischt werden (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 23-28, 37-38). Die soziale Klasse (social class) in der Gesellschaft entsteht durch eine hierarchische Zuordnung von Menschen in einer vertikalen Skala nach ihrer ökonomischen und politischen Macht sowie nach ihrem sozialen Status. Dabei haben diese drei Variablen der sozialen Klassenbildung miteinander konvertierbare Wechselbeziehungen, so dass z.B. jemand mit großer ökonomischer Macht wahrscheinlich auch größere politische Macht erlangt. Umgekehrt hat jemand mit einem höheren sozialen Status die sichere Wahrscheinlichkeit, größere ökonomische Macht zu erlangen. Eine Teilgesellschaft (subsociety), die im Schnittpunkt (intersection) der vertikalen Stratifikation der ethnischen Gruppen mit der horizontalen Stratifikation der sozialen Klasse entsteht, wird als „ethclass“ bezeichnet. Für die kulturellen Verhaltensweisen ist die soziale Klassenzugehörigkeit wichtiger und entscheidender als die ethnische Gruppenzugehörigkeit. Dies bedeutet, dass Menschen mit gleicher sozialer Klassenzugehörigkeit gleiche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen haben, obwohl sie unterschiedlicher ethnischer Herkunft sind. Umgekehrt sind Menschen unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit nicht nur in ihren sozialen Verhaltensweisen unterschiedlich, sondern haben auch unterschiedliche Wertvorstellungen, obwohl sie der gleichen ethnischen Herkunft sind. Bezüglich Assimilationstheorie von Gordon <?page no="39"?> 30 der sozialen Partizipation an den primären Gruppen und sozialen Beziehungen haben Menschen generell die Neigung, diese auf ihre soziale Klasse innerhalb ihrer ethnischen Gruppe zu beschränken. Bezüglich der Gruppenidentifikation (group identification) kann generell gesagt werden, dass Menschen, die die gleiche soziale Klassenzugehörigkeit aufweisen, aber unterschiedlicher ethnischer Herkunft sind, zwar in ihren Verhaltensweisen ähnlich sind, aber kein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl zu einem Volk teilen. Umgekehrt teilen Menschen, die unterschiedliche Klassenzugehörigkeit aufweisen, aber gleicher ethnischer Herkunft sind, zwar keine Ähnlichkeiten in ihrem Verhalten, sie teilen jedoch ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl zu einem Volk. Nur in dem Fall, in dem Menschen sowohl der gleichen sozialen Klasse als auch der gleichen ethnischen Gruppe angehören, sind sie in ihren Verhaltensweisen ähnlich und teilen ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl zu einem Volk (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 40-41, 51-53). Die Philosophie bzw. das Zielsystem (goal-system) der Assimilation in der amerikanischen Einwanderungsgeschichte beruht auf drei zentralen ideologischen Vorstellungen der „Anglo-conformity“, des „melting pot“ und des „cultural pluralism“. Die Ideologie der „Anglo-conformity“ umfasst zwar unterschiedliche Sichtweisen der Assimilation und Immigration, sie besteht jedoch im Kern in der Forderung, dass die Immigranten die Kultur ihrer Vorfahren und ihres Herkunftslandes zugunsten der dominanten amerikanischen Kultur anglosächsischer Prägung gänzlich aufgeben sollen. Der Ursprung dieser Forderung geht historisch auf die ambivalente Haltung der Amerikaner gegenüber der Einwanderung und auf die damit verbundenen Ängste zurück. Diese Ambivalenz bestand darin, dass die Amerikaner die Notwendigkeit der Einwanderung von Arbeitskräften bejaht haben, weil die Erschließung und Kultivierung des Landes Arbeitskräfte voraussetzten, sie hatten aber gleichzeitig Ängste vor der großen Zahl irischer Einwanderer mit katholischer Glaubenszugehörigkeit sowie vor deutschen Einwandern, die eine andere Sprache und andere Gewohnheiten mitbrachten. Sie sahen darin eine Gefährdung ihres puritanisch-evangelischen Glaubens sowie der anglosächsischen und protestantischen Kultur. Diese Ängste wurden zusätzlich durch die Politik der europäischen Länder potenziert, die Amerika als ein Land betrachteten, in das Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="40"?> 31 man die arme Bevölkerung und Kriminelle abschieben kann (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 85, 88, 91-92). Diese Ängste lösten eine Welle von Protestbewegungen der Einheimischen (z.B. the Native American Movement von 1830 bis 1840) aus, die antikatholisch orientiert waren. Sie forderten eine restriktive Einwanderungspolitik und Einbürgerungspraxis und untermauerten diese Forderungen durch die Gründung politischer Parteien (z.B. Know-Nothing Party). Ab etwa 1880 kulminierte diese Protestbewegung in der Entstehung des amerikanischen Nativismus (American nativism), der mit seinen Höhen und Tiefen bis zur Einführung der restriktiven Einwanderungsgesetze mit der nationalen Quotenregelung (1920) andauerte. Die bekannteste nativistische Organisation war „The American Protective Association“, die antikatholisch und gegen die irischen Einwanderer war. Der Hintergrund der nativistischen Bewegung war eine verschwommene Vorstellung des Rassismus, der mit der Vorstellung des Ethnozentrismus vermengt wurde. Dieser Rassismus stützte sich im Wesentlichen auf die romantische Vorstellung eines anglosächsischen Volkes (Anglo-Saxon peoplehood). Danach ist die blonde, blauäugige und körperlich groß gewachsene nordische und arische Rasse eine überlegenere Rasse als die dunkle alpin-mediterrane Rasse aus Ost- und Südeuropa. Die Ideologie der „Anglo-conformity“ fand ihren vollen Ausdruck in der sozialen Bewegung der Amerikanisierung (Americanization movement), die vor dem Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreichte. Ihr Programm bestand in der politischen Forderung, einerseits die Zahl der Immigranten zu reduzieren und andererseits die Einwanderung der Nord- und Westeuropäer zu begünstigen. Die Folge war die restriktive Einwanderungsgesetzgebung von 1921, die den nicht nord- und westeuropäischen Ländern nur minimale Quoten der Einwanderung (pro Jahr insgesamt etwa 150.000 Einwanderungsvisa) zuteilte. Die Ideologie der „Angloconformity“ gilt in den USA nach wie vor als eine implizite aber dominante Theorie der Assimilation (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 93, 96-103). Im Ergebnis jedoch hat die Bewegung der Amerikanisierung ihren formalen Ansprüchen kaum genügen können. Ihre Ziele wurden de facto mit dem auf der äußeren Verhaltensebene stattfindenden Anpassungsprozess der Akkulturation der Immigranten er- Assimilationstheorie von Gordon <?page no="41"?> 32 reicht. In der Realität bestimmten die Immigranten das Tempo ihrer Anpassung an die amerikanische Gesellschaft selbst, indem sie weitgehend in ihren ethnischen Gemeinden geographisch konzentriert lebten und sich dadurch nur schrittweise an die Anforderungen der amerikanischen Gesellschaft anpassten. Die ethnischen Gemeinden übernahmen somit für ihre Angehörigen die Rolle einer Dekompressionskammer, in der sich ihre koethnischen Angehörigen und Neuankömmlinge langsam auf die äußeren Druckverhältnisse der amerikanischen Gesellschaft einstellen konnten. Die Ideologie der „Anglo-conformity“ konnte dadurch nur auf der äußeren Verhaltensebene (behavioral area) einen Erfolg verbuchen. Sie erreichte jedoch kaum Erfolg auf der strukturellen Ebene der Assimilation der Immigranten, was eine unabdingbare Grundvoraussetzung für die weiteren Phasen der Assimilation darstellt. Es bleibt somit die amerikanische Erfahrung mit der Ideologie der „Angloconformity, dass ihre Wirkung auf die äußere Akkulturation der Immigranten beschränkt blieb (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 106, 114). Parallel zu der vorherrschenden Ideologie (prevalent ideology) der „Anglo-conformity“ existierte in den USA seit dem 19. Jahrhundert die Vorstellung, dass die amerikanische Gesellschaft ein großer Schmelztiegel (melting pot) sei, der die Immigranten verschiedener Rassen so zusammen verschmelzt, dass daraus eine völlig neue Zivilisation entsteht. So wurde 1893 von Frederick Jackson Turner die Vorstellung des „frontier melting pot“ vertreten. Danach besteht das prägende Kennzeichen der amerikanischen Gesellschaft nicht in dem europäischen Erbe (European heritage), das die Immigranten mitgebracht haben, sondern in den vielfältigen sozialen Erfahrungen der Einwanderer in ihrer Westwanderung (the experiences created by a moving and variagated western frontier). Diese Erfahrungen haben die Immigranten von ihrer Herkunft befreit und zu einer gemischten Rasse (a mixed race) und zu einer neu komponierten Nationalität (a composite nationality) des amerikanischen Volkes geführt. Dabei sind die Befürworter der Idee des „melting pot“ weitgehend von den historischen Erfahrungen mit Immigranten aus den nord- und westeuropäischen Ländern, d.h. von der sog. „old immigration“, ausgegangen, die sich in ihrer Kultur und ihren physischen Merkmalen kaum von den Amerika- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="42"?> 33 nern anglosächsischer Herkunft unterscheiden (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 115-119). Die Idee des „melting pot“ wurde 1908 durch das Drama „The Melting Pot“ des englisch-jüdischen Schriftstellers Israel Zangwill populär gemacht. Er schilderte darin einen jungen jüdischen Immigranten aus Russland, der eine Symphonie mit der Überschrift „Amerika“ komponierte. Darin wurde Amerika als ein göttlich inspirierter Schmelztiegel (a divinely inspired crucible) dargestellt, in dem alle ethnischen Gruppen von ihren alten Feindseligkeiten und Differenzen befreit und zu einer brüderlichen Gruppe fusioniert werden. Die Konzeption des „melting pot“ von Zangwill kennt keine Ausnahmen und Unterschiede der Qualifikationen ethnischer Gruppen und Rassen bei der Verschmelzung bzw. bei der Fusionierung. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehörte der Ausdruck „melting pot“ zur allgemeinen Rhetorik der damaligen Zeit, so dass er sogar in den Reden und Schriften der beiden amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson Eingang gefunden hat (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 120-121). Die Idee des „melting pot“ hatte in der Folgezeit viele Anhänger und Kritiker gefunden. Eine grundlegende Kritik erfuhr sie in den 1940er Jahren durch eine soziologisch-empirsche Untersuchung (investigation) interethnischer Ehen (intermarriage) in New Haven und Connecticut durch Ruby Jo Reeves Kennedy, deren Ergebnisse eine Revision der Idee nahe legten. Kennedy fand in ihrer empirischen Untersuchung heraus, die die Zeitspanne von 1870 bis 1940 umfasste, dass die Rate der religiösen Endogamie (in-marriage / endogamy), d.h. die Rate der Ehen zwischen den Angehörigen verschiedener Nationalitätsgruppen innerhalb einer Religionsgruppe, über die gesamte von der Untersuchung erfasste Zeitspanne hinweg konstant hoch blieb. Dabei stellte sie fest, dass es eine abnehmende Tendenz der Ehen entlang der nationalen Herkunftslinie gab, die Rate der interethnischen Ehen innerhalb der religiösen Gruppen blieb jedoch relativ hoch. 1940 heirateten 70,72 % der Amerikaner britischer, deutscher und skandinavischer Herkunft untereinander, d.h. sie heirateten innerhalb der protestantischen Glaubensgruppe, während 83,71 % Amerikaner irischer, italienischer und polnischer Herkunft, d.h. innerhalb der katholischen Glaubensgruppe, untereinander heirateten. 94,32 % der Amerikaner jüdischer Herkunft Assimilationstheorie von Milton M. Gordon <?page no="43"?> 34 heirateten Juden. Es gab Ehen zwischen Katholiken und Protestanten, hier bevorzugt mit Protestanten britischer Herkunft. Solche Ehen blieben jedoch eher Ausnahmen, weil die katholische Kirche diese nur unter der Bedingung erlaubte, dass die Kinder, die aus solchen Ehen hervorgehen, im katholischen Glauben erzogen werden. Die Ergebnisse der Untersuchung machten deutlich, dass Ehen zwischen den Angehörigen verschiedener Nationalitäten geschlossen wurden, jedoch solche interethnischen Verbindungen weitgehend innerhalb der Grenzen der drei Religionsgemeinschaften der Protestanten, Katholiken und Juden stattfanden. Weiterhin war erkennbar, dass die endogamen Ehen innerhalb einer Nationalitätsgruppe eine abnehmende Tendenz zeigten, während die religiöse Endogamie in ihrem Ausmaß unverändert blieb. Damit wurde deutlich, dass die Spaltungen (cleavages) in der amerikanischen Gesellschaft nicht entlang der Nationalitätslinien, sondern entlang der religiösen Linien verliefen. Kennedy vertrat daher die Auffassung, dass die Idee des „single-melting-pot“ durch die des „triplemelting-pot“ der Assmilation ersetzt werden müsse (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 122-123). Eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Ideologien der „Anglo-conformity“ und des „melting pot“ bestand darin, dass sie die restlose Auslöschung (the disappearance) der ethnischen Gruppenidentität durch die völlige Absorption der Immigranten in die amerikanische Gesellschaft als Ziel hatten. Diese Zielsetzung wurde jedoch von den Immigranten selbst nie geteilt. Sie versuchten umgekehrt von dem ersten Jahrhundert der Immigration an ausgehend von dem Residenzland (land base), das von der Regierung jeder ethnischen Gruppe offiziell zugeteilt werden soll, unabhängige ethnisch-nationale Kommunen (ethnic communality) zu gründen. Der Kongress hat diese Bestrebungen ethnischer Gruppen jedoch nie unterstützt, um die Zersplitterung der amerikanischen Gesellschaft zu verhindern. Dadurch konnte de jure keine unabhängige ethnischnationale Kommune entstehen. Die einzelnen ethnischen Immigrantengruppen haben sich dennoch gruppenweise in bestimmten Regionen niedergelassen. Sie haben dort ihre eigenen Kirchen, Schulen und soziale Strukturen aufgebaut, so dass de facto unabhängige ethnisch-nationale Kommunen gegründet wurden, die jeweils ihre Kultur und ethnische Identität gepflegt und bewahrt ha- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="44"?> 35 ben. 1850 bestand z.B. die Stadt Milwaukee aus 6.000 deutschen Einwanderern und 4.000 Einheimischen. Die irischen Einwanderer waren bekannt dafür, dass sie nach und nach pan-katholische „subsocieties“ in Amerika gründeten. Die Italiener, die Juden und die Slawen, d.h. die ethnischen Einwanderergrupppen der sog. „new immigration“ folgten der Nachfrage nach Arbeitskräften aus der Industrie und drängten in die städtischen Zentren. Sie bildeten dort residential konzentrierte Armenviertel, die nicht nur auffällig wurden, sondern zusätzliche Nahrung für die einwandererfeindliche Bewegung des amerikanischen Nativismus (American nativism) lieferten. Der kulturelle Pluralismus (cultural pluralism) wurde damit eine Realität der amerikanischen Gesellschaft, bevor er theoretische Bedeutung im Zusammenhang mit den kontroversen Debatten zur Eingliederung der Immigranten in die amerikanische Gesellschaft erhalten konnte (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 132-136). Im Frühjahr 1915 erschien in der Zeitung „The Nation“ zwei Artikelserien von Horace Kallen, einem an der Harvard-Universität ausgebildeten Philosophen jüdischer Herkunft, unter der Überschrift „Democracy Versus the Melting Pot“. In dieser Serie lehnte Kallen die Ideologien der „Americanization“, „Anglo-conformity“ und des „melting pot“ als wenig nützlich für die amerikanische Gesellschaft ab. Er wies vielmehr darauf hin, dass die ethnischen Einwanderergruppen einerseits ihre Kultur bewahren, andererseits voll an dem politischen und wirtschaftlichen Leben der amerikanischen Gesellschaft teilnehmen. Dadurch entwickeln sich die USA zu einem föderalen Staat (federal state) nicht nur im geographisch-administrativen Sinn, sondern auch im Sinne der kulturellen Vielfalt (cultural diversity) und eines Gemeinwesens verschiedener nationaler Kulturen (commonwealth of national culture). Die amerikanische Gesellschaft steht am Scheideweg, so die Auffassung von Kallen. Sie kann entweder eine anglosächsische Uniformität den ethnischen Einwanderergruppen aufoktroyieren oder ihnen erlauben und sie ermutigen, sich demokratisch zu entwickeln und ihr kulturelles Erbe (cultural heritage) zu bewahren. Im letzten Fall sei eine föderale Republik (federal republic) zu erwarten, deren Substanz die Demokratie der Nationalitäten und die freiwillige und autonome Kooperation der Menschen bei ihrer Selbstverwirklichung (self-realization) durch die gemeinsamen sozialen Institutio- Assimilationstheorie von Gordon <?page no="45"?> 36 nen sein wird. Als gemeinsame Sprache schlug er die englische Sprache vor. Er sieht in dieser föderalen Republik eine Vielfalt in der Einheit (multiplicity in a unity) und ein Orchester der Menschheit (an orchestration of mankind). Weitere Aufsätze von Kallen wurden 1924 in einem Sammelband mit dem Titel „Culture and Democracy in the United States“ veröffentlicht. Im Vorwort zu diesem Sammelband gebrauchte Kallen zum ersten Mal den Ausdruck „cultural pluralism“, um einen demokratischen Gegenpol zur Theorie der Überlegenheit der anglosächsischen Rasse zu schaffen. Horace Kallen gilt daher nicht nur als der Schöpfer des Ausdruckes „cultural pluralism“, sondern auch als philosophischer Exponent der demokratischen Idee des „cultural pluralism“. Kallen war der Überzeugung, dass die Deklaration der Unabhängigkeit und die Präambel der Verfassung der USA die Grundlage für die Gleichheitsdoktrin (doctrine of equality) darstellt, die jedem Menschen und jeder Gruppe das Recht zugesteht, anderes zu sein (an affirmation of the right to be different) (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 141- 145). Die Idee des „cultural pluralism“ von Horace Kallen geht jedoch nicht über den allgemein gehaltenen rhetorischen Rahmen hinaus, da er die politischen, ökonomischen und institutionellen Strukturen nicht analysiert, die erst eine Einheit aus der Vielfalt unterschiedlicher Kulturen entstehen lassen. Er zeigt auch nicht auf, wie zwischen den verschiedenen ethnischen Kulturen soziale Interaktionen stattfinden sollen. Seine Idee bleibt somit philosophisch und allgemein, so dass sie in der Folgezeit von Isaac Berkson besonders heftig kritisiert wurde (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 148-150). Die amerikanische Gesellschaft ist ein Mosaik von ethnischen Gruppen, die nicht nur unterschiedliche rassische, religiöse und nationale Herkunft aufweisen, sondern auch durch die Stratifikation der sozialen Klasse überkreuzt werden. Die Folge ist wie bereits erwähnt die Entstehung von „ethclass“, d.h. von ethnischen Teilgesellschaften (subsocieties). In der modernen Gesellschaft mit der sich weiterentwickelnden Kommunikationstechnik sind solche Teilgesellschaften als soziale Konstrukte in der Vorstellung der Menschen (a social construct in the minds of the residents) zu verstehen und nicht im räumlichen Zusammenhang. Sie sind aber deswegen nicht weniger real. Zur empirischen Illustration dieser These Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="46"?> 37 sollen vier ethnische Gruppen vorgestellt werden, die der Schwarzen, Juden, Katholiken und weißen Protestanten. Die 20 Mio. Schwarzen (Negroes), etwa 11 % der Bevölkerung, leben getrennt von der weißen Bevölkerung in ihrer eigenen Welt mit eigenen Institutionen und Organisationen. Im Süden wurde diese Segregation der Schwarzen nicht nur durch Gesetze (Jim Crow laws) legalisiert, sondern auch durch Rassenhass und Antipathie der Weißen gegenüber den Schwarzen zusätzlich verstärkt, so dass Primärgruppenkontakte zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen kaum denkbar waren. Die Migration der Schwarzen vom Süden in den Norden, die während des Ersten Weltkriegs einsetzte, hat zusätzlich die berufliche Differenzierung innerhalb der schwarzen Bevölkerung und damit auch ihre Klassengegensätze vergrößert. Dennoch ist die Oberschicht (upper class) der Schwarzen relativ klein. Die Angehörigen der Oberschicht wohnen weitgehend in der Nachbarschaft der Schwarzen (Negro neighborhoods) und gehören der „Episcopal“ und „Presbyterian“ Kirche an. Die Mittelschicht (middle class) der Schwarzen ist größer als die Oberschicht und gehört weitgehend der baptistischen und methodistischen Kirche an. Die Unterschicht (lower class) der Schwarzen stammt aus dem Süden, sie sprechen daher auch Dialekt. Die Männer in der Unterschicht sind in der Regel auf der aussichtslosen Suche nach Beschäftigung, so dass die Frauen irgendwie das Überleben der Familie sichern müssen. Die Kinder sind weitgehend auf sich allein gestellt, ihre Kriminalitätsrate ist hoch (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 160, 163-164, 168- 170). Die jüdische Bevölkerung in den USA beträgt 5,5 bis 6 Mio. und macht etwa einen Anteil von 3 % an der gesamten Bevölkerung aus. Sie stellt eine hochurbanisierte Gruppe dar. Sie lässt sich überwiegend (9 von 10 Juden) in den städtischen Regionen nieder. Etwa 70 % der Juden leben im Nordosten der USA und etwa 40 % aller Juden leben im städtischen Bereich der Metropole New York. Das Leben der jüdischen Gemeinde zeichnet sich durch diverse Aktivitäten zahlreicher Organisationen aus. Eine Gemeinsamkeit aller jüdischen Organisationen besteht darin, dass sie überwiegend Ziele der Nächstenliebe (philanthrophy) verfolgen und dazu wohltätige Aktivitäten im In- und Ausland entwickeln, insbesondere für den Staat Israel. Sie haben gut funktionierende soziale Netzwerke, Assimilationstheorie von Gordon <?page no="47"?> 38 so dass sie in der Lage sind, die notwendigen Finanzmittel zu mobilisieren (fund-raising). Eine weitere Funktion des jüdischen Gemeindelebens besteht in der Erhaltung der endogamen Ehen durch die Anbindung und Beschränkung der primären sozialen Beziehungen der Mitglieder an bzw. auf die Gemeinde. 1900 lag die Rate der „in-marriage“ der Juden in New Haven bei 98,82 % und 1950 bei 96,10 %, wie die empirische Untersuchung von Ruby Jo Reeves Kennedy gezeigt hat. Im religiösen Bereich sind drei große Gruppierungen voneinander zu unterscheiden: Die Gruppe der Orthodoxen, Konservativen und Reformierten, die sich nach dem Grad der Rigidität, in dem sie die traditionellen religiösen Rituale beibehalten und praktizieren, voneinander unterscheiden (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 174-177, 181). Die jüdische Einwanderung in die USA vollzog sich wesentlich in drei Wellen. Die erste Welle fand während der Kolonialzeit statt. In dieser Zeit wanderten zuerst die Juden spanischer und portugiesischer Herkunft (Sephardim) direkt aus den Niederlanden, aus England und aus den europäischen Kolonialgebieten in Zentral- und Südamerika in die USA ein. Im Anschluss daran wanderten die Juden deutscher Herkunft (Askenazim) aus Zentraleuropa in die USA ein. Diese Juden stammten größtenteils aus der handeltreibenden Mittelschicht. Die Reichen und Einflussreichen unter ihnen wurden von der Oberschicht damaliger Zeit so akzeptiert, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Mischehen (intermarriage) zwischen Juden und Angehörigen der nicht jüdischen Oberschicht (Gentile upper class) geschlossen wurden. Die zweite Welle fand Mitte des 19. Jahrhunderts statt und bestand zunächst aus den Juden, die aus den verschiedenen deutschen Territorialstaaten stammten. Viele unter ihnen waren so verarmt, dass sie nach der Einwanderung in die USA als wandernde Händler (peddlers) ihren Lebensunterhalt verdienten. Später kamen jüdische Intellektuelle und Fachkräfte (professionals) als Einwanderer nach. Die deutschen Juden, die von der Idee der Freiheit und europäischen Aufklärung beeinflusst waren, brachten den reformierten Judaismus (Reform Judaism) mit in die USA. Die dritte Welle begann ab 1870 und nahm in ihrem Ausmaß bis 1890 kontinuierlich zu. Sie wurde von den osteuropäischen Juden gebildet, die vor der politischen Verfolgung und den ökonomischen Problemen in Osteuropa flüchteten. Etwa 2,3 Mio. Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="48"?> 39 Juden konnten in die USA einwandern, bis diese Welle durch den Ersten Weltkrieg und durch die restriktiven Einwanderungsgesetze von 1920 unterbrochen wurde. Der große Teil dieser osteuropäischen Juden blieb in New York, Boston und Philadelphia, weil sie hier Arbeit finden konnten und sie finanziell nicht in der Lage waren, in andere Regionen der USA weiterzuwandern. Die Periode der großen jüdischen Einwanderung endet etwa 1920. Seit dieser Zeit hat sich die Zahl der jüdischen Bevölkerung in den USA kaum verändert (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 175, 183-184). Um 1940 zeigten die Juden in den USA, mehrheitlich osteuropäischer Herkunft, eine berufliche Verteilung (occupational distribution), die mit der der protestantischen Mittelschicht des gehobenen Status vergleichbar war. Nach einer Studie des „American Institute of Public Opinion“ von 1945 / 1946 gehörten 36 % der Juden der Gruppe der Geschäftsleute und Fachkräfte (business and professional occupations) an, während der Anteil der Protestanten an dieser Berufsgruppe etwa bei 32 % lag. Der Anteil der Katholiken an dieser Berufsgruppe lag dagegen bei nur 14 %. Die kulturellen Wertvorstellungen der Mittelschichtsjuden mit ihrer typischen Neigung zu Wirtschaftlichkeit (thrift), Besonnenheit (sobriety), Ambition, Wunsch nach Bildung (desire for education), Fähigkeit, unmittelbare Befriedigung der Bedürfnisse zugunsten langfristiger Ziele zurückzustellen (ability to postpone immediate gratification for the sake of long-range goals) und Aversion gegen Gewalt (aversion to violence) waren gute Voraussetzungen für ihren relativ schnellen Aufstieg in der beruflichen und wirtschaftlichen Hierarchie der amerikanischen Gesellschaft. Der Akkulturationsprozess der Juden hat selbst im Bereich des religiösen Lebens zu einer Anpassung an die Wertvorstellungen der Mittelschicht Amerikas geführt (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 185-187, 194). Mitte des 20. Jahrhunderts bezeichnete sich jeder vierte Amerikaner als Angehöriger der römisch-katholischen Kirche. Die katholische Kirche ist damit die größte einzelne Denomination in den USA, obwohl die Zahl der Protestanten, wenn man alle ihre Glaubensgruppen zusammenzählt, die der Katholiken übersteigt. Die katholische Bevölkerung konzentriert sich in den nordöstlichen Staaten der USA. Sie macht dort etwa 45 % der Bevölkerung aus. Sie stellt auch eine hochurbanisierte Bevölkerung dar, so dass sie in Assimilationstheorie von Gordon <?page no="49"?> 40 den großen städtischen Regionen einen Anteil von etwa 38 % erreicht. Diese Einwanderer stammen aus unterschiedlichen Kulturen und Nationen. Die einzelnen ethnischen Einwanderergruppen wünschten daher einen koethnischen Priester, so dass die Amtskirche jeder ethnischen Gruppe eine nationale Gemeinde (national parish) zugestanden hat, die sich teilweise mit der territorialen Gemeinde überschnitt. So konnten z.B. irische, deutsche oder polnische Gemeinden gleichzeitig innerhalb einer territorialen Gemeinde vorkommen. Die Entwicklung der katholischen Teilgesellschaften (Catholic subsocieties), in der die nationale Herkunft eine zunehmend geringere Rolle spielt, ist zwar ein bemerkenswerter Vorgang, wie die These des „triple melting pot“ belegt, jedoch ist dieser Verschmelzungsprozess der nationalen Unterschiede auf die weißen Angehörigen der katholischen Kirche beschränkt. Zu Beginn der Einwanderung im 19. Jahrhundert bestand die katholische Einwanderung überwiegend aus Menschen der armen Arbeiterschicht, wie dies die irischen, italienischen, polnischen und slawischen Einwanderer dokumentierten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen die nachfolgenden Generationen mit einem spürbaren sozioökonomischen Aufstieg in der amerikanischen Gesellschaft (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 195-198, 208-209). Die Protestanten bilden die größte ethnische Gruppe in den USA, die wiederum nach sozialen Klassen differenziert wird, wie dies auch bei anderen großen ethnischen Gruppen der Fall ist. Sie setzt sich, wie bei den Juden und Katholiken, größtenteils aus der Bevölkerung ländlicher Herkunftsregionen zusammen. Sie sind auch in allen sozialen Klassen vertreten. Dabei bildet die Überschneidung (intersection) der ethnischen Gruppen mit der sozialen Klasse die Grenzen des kommunalen Systems, innerhalb dessen sich die primären Beziehungen der Protestanten abspielen. Die hohe Rate der endogamen Ehen bei den Protestanten (91 %) ist auf diese primären Beziehungen zurückzuführen (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 221-222). Der Ausgangspunkt der bisherigen Analysen war die Überlegung, die Natur und Struktur des Gruppenlebens (the nature and structure of group life) der Immigranten als den entscheidenden sozialen Rahmen (as constituting the social setting) zu betrachten, innerhalb dessen die sozialen Beziehungen zwischen den Men- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="50"?> 41 schen verschiedener Rassen, Religionen und Nationalitäten stattfinden. Die Vereinigten Staaten stellen mehrfach einen Schmelztiegel (a multiple melting pot) dar, in dem der Prozess der Assimilation der Einwanderer stattfindet. In Anlehnung an den Begriff der „core culture“ von Joshua Fishman und den der „core group“ von A. B. Hollinghead kann man sagen, dass sich die Immigranten in diesem Assimilationsprozess der „core culture“ der weißen protestantischen Gruppe der Anglosachsen anpassen. Der Assimilationsprozess umfasst dabei, hier im Sinne eines analytischen Modells, 7 verschiedene Phasen. Die erste Phase des Assimilationsprozesses besteht in der Akkulturation, d.h. die Einwanderer passen sich zweckorientiert und äußerlich den kulturellen Verhaltensweisen und der Sprache der Aufnahmegesellschaft an, um sich im Alltag zurechtzufinden. Diese Akkulturation wird als die kulturelle bzw. verhaltensmäßige Assimilation (cultural or behavioral assimilation) bezeichnet. Sie findet auch dann statt, wenn alle weiteren Phasen der Assimilation nicht folgen sollten. Die erfolgreiche Akkulturation bringt dabei keine Garantie für einen Zugang der Immigranten zu den primären Gruppen und Institutionen der weißen Protestanten mit sich. Sie bedeutet auch nicht, dass die Vorurteile und Diskriminierungen beseitigt werden. Kennzeichnend für die Akkulturation ist die strukturelle Separation (structural separation), d.h. die Kontakte zwischen den Angehörigen unterschiedlicher rassischer, religiöser und nationaler Herkunft finden überwiegend oberflächlich auf der sekundären und zweckorientierten Ebene (z.B. berufliche Kontakte) statt und erreichen die primäre und intime Ebene nicht. Als unmittelbare Folge tritt der strukturelle Pluralismus (structural pluralism) ein (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 69-83, 233-235). Die strukturelle Assimilation (structural assimilation) bildet dann die zweite Phase des Assimilationsprozesses. Sie besteht darin, dass die Immigranten nach und nach in strukturelle Bereiche der Aufnahmegesellschaft eindringen und zunehmend am Leben sozialer Cliquen, Organisationen und Institutionen partizipieren. Während die kulturelle Assimilation nicht notwendigerweise zur strukturellen Assimilation führen muss, führt umgekehrt die strukturelle Assimilation unvermeidbar (inevitably) zur Akkulturation (bzw. kulturellen Assimilation) und zu weiteren Phasen der Assimilation. Assimilationstheorie von Gordon <?page no="51"?> 42 Die strukturelle Assimilation bildet damit die grundlegende Voraussetzung des gesamten Assimilationsprozesses: „it need hardly be pointed out that while acculturation, as we have emphasized above, does not necessarily lead to structural assimilation, structural assimilation inevitably produces acculturation. Structural assimilation, then, rather than acculturation, is seen to be the keystone of the arch of assimilation.” (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 80-81). Der Phase der strukturellen Assimilation schließt sich die Phase der „marital assimilation“ an, in der die Assimilation auf der Basis der interethnischen Heirat von Immigranten mit Angehörigen der „core society“ stattfindet. Die dabei stattfindende biologische Angleichung bezeichnet Gordon als Prozess der Amalgamierung. Wenn die „marital assimilation“ als unvermeidbares Nebenprodukt (an inevitable by-product) der strukturellen Assimilation in vollem Umfang stattfindet, geht die ethnische Identität verloren und es folgt die identifikative Assimilation als nächste Phase. In dieser spielen die Vorurteile und Diskriminierungen keine Rolle mehr, weil die Nachkommen der Immigranten von den Einheimischen kaum mehr unterscheidbar werden. Ihre primären Gruppenbeziehungen führen zur Entstehung des „in-group feeling“, das alle Gruppenmitglieder erfasst. Nach der identifikativen Assimilation treten die restlichen Phasen des Assimilationsprozesses (attitude receptional assimilation, behavioral receptional assimilation, civic assimilation) sukzessiv, relativ problemlos und zügig ein, so dass Wert- und Machtkonflikte weitgehend ausgeschlossen sind (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 80-81). Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="52"?> 43 The Assimilation Variables _________________________________________________________ Subprocess or Types or Stages of Special Term Conditions Assimilation _________________________________________________________ Change of cultural patterns Cultural or behavioral Acculturation to those of host society assimilation Large-scale entrance into Structural assimilation None cliques, clubs, and institutions of host society, on primary group level Large-scale intermarriage Marital assimilation Amalgamation Development of sense of Identificational None peoplehood based assimilation exclusively on host society Absence of prejudice Attitude receptional None assimilation Absence of discrimination Behavioral receptional None assimilation Absence of value and power Civic assimilation None conflict _________________________________________________________ Source: Milton M. Gordon, 1964, 71 Soziale Institutionen, die die Aufgabe übernehmen, die Akkulturation bzw. kulturelle Assimilation der Immigranten zu fördern, müssen dieses Ziel behutsam verfolgen. Es kommt darauf an, dass die Immigranten sowohl zur amerikanischen Kultur als auch zu den sekundären Gruppen und Institutionen erfolgreich ihre sozialen Beziehungen aufbauen. Es ist dabei zu beachten, dass sich eine übertriebene strukturelle Separation (excessive structural separation / compartmentalization) der Immigranten negativ auf ihre sozialen Assimilationstheorie von Gordon <?page no="53"?> 44 Beziehungen auswirken und Vorurteile hervorbringen wird. Auf der anderen Seite brauchen sie die emotionale Sicherheit, die die ethnische Gemeinde ihnen geben kann. Struktureller und kultureller Pluralismus (structural and cultural pluralism) sind deshalb in einem moderaten Umfang notwendig und zulässig. Es ist daher zu empfehlen, parallel zur Förderung der strukturellen Assimilation die funktionale Notwendigkeit des ethnischen Gemeindelebens für die Immigranten zu akzeptieren. Dabei sind die ethnischen Gemeinden nicht nur als notwendige Konzession zu sehen, sondern als effektive Möglichkeit zu werten, ihre Angehörigen zur Akkulturation zu befähigen. Die ethnischen Teilgesellschaften haben dabei die wichtige Funktion der Vermittlung zwischen der Herkunftskultur der Immigranten und der amerikanischen Kultur. Die Anerkennung dieser Tatsache ist hilfreich, um die Kommunikationskanäle und Netzwerke der Immigranten für die Erreichung der Ziele der Akkulturation effektiv nutzen zu können (vgl. Milton M. Gordon, 1964, 236-245). 1.3 Shmuel N. Eisenstadt Prozess der Absorption der Immigranten in die jüdische Gemeinde in Palästina und in den Staat Israel (The Absorption of Immigrants A Comparative Study Based Mainly on the Jewish Community in Palestine and The State Israel, 1954. 275 S.) Die Migration wird als der physische Übergang (the physical transition) eines Individuums bzw. einer Gruppe von Individuen von einer Gesellschaft in eine andere definiert. Der Migrant gibt dabei seinen bisherigen sozialen Kontext (social setting) auf und begibt sich in einen neuen und anderen sozialen Kontext hinein. Diese Art der Migrationsbewegung (the migratory movement) besteht allgemein aus drei Phasen (stages), wobei sich jede Phase Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="54"?> 45 durch eine Reihe von typischen und grundlegenden psychosozialen Merkmalen auszeichnet. Die erste Phase ist die der Motivation zur Migration. Der potentielle Migrant fühlt sich in seinem Herkunftsland frustriert, weil er seine Aspirationen und Erwartungen nicht befriedigen kann. Dieses Gefühl der Frustration und Unzulänglichkeit (feeling of frustration and inadequacy) und das Vorhandensein einer objektiven Möglichkeit zur Migration (the existence of some objective opportunity) zum Zwecke der Realisierung der Aspirationen sind die Bedingungen dafür, dass der potentielle Migrant zur Migration motiviert wird. Die wesentlichen Gründe, die zur Entstehung von Frustration und Unzulänglichkeit führen, sind zum einen die Feststellung, dass im Herkunftsland kaum Möglichkeiten zur Anpassung und Sicherung der physischen Existenz vorhanden sind. Dadurch sind die instrumentellen Ziele (certain goals, mainly instrumental in nature), wie etwa die Befriedigung materieller Grundbedürfnisse, nicht zu erreichen. Zum anderen sind die Aspirationen zur Solidarisierung mit der Herkunftsgesellschaft kaum zu befriedigen, wie dies z.B. bei Flüchtlingen der Fall ist. Schließlich bietet das Herkunftsland geringe Chancen, ein sinnvolles Leben nach eigener Weltanschauung zu führen. In solchen Fällen entwickelt der potentielle Migrant allmählich Vorstellungen und Erwartungen (expectations) darüber, wie er in einem anderen Land seine Aspirationen verwirklichen könnte. Diese bestimmen dann seine anfänglichen und vordisponierten Haltungen (his initial and predisposing attitude) und dienen dazu, die Erwartungen bezüglich seiner neuen Rolle, die er zur Verwirklichung seiner Aspirationen zu spielen hat, nach und nach zu konkretisieren. Dabei ist davon auszugehen, dass der potentielle Migrant nicht in allen Lebensbereichen seines Herkunftslandes unzufrieden war, d.h. es gibt Lebensbereiche, in denen er kein Gefühl von Frustration und Unzulänglichkeit gehabt hat. Dies ist auch Grund dafür, warum er mit seiner Herkunftskultur und -gesellschaft innerlich verbunden bleibt und warum die konkreten Erwartungen auf bestimmte Segmente des sozialen Lebens im neuen Land beschränkt bleiben. Seine Integration in die neue Gesellschaft wird durch diese parziellen Erwartungen teilweise gehindert, weil seine Integrationsbereitschaft nicht auf alle Lebensbereiche der neuen Gesellschaft bezogen ist. Damit wird deutlich, dass die anfängliche Motivation (initial moti- Absorptionstheorie von Eisenstadt <?page no="55"?> 46 vation) zur Migration generell einen entscheidenden Einfluss auf die darauf folgenden Phasen des Migrationsprozesses ausübt. Die grundlegende Einstellung und Orientierung des Migranten hängt wesentlich davon ab, in welchem Ausmaß er die migrationsbedingten Veränderungen in seinem Leben zu akzeptieren bereit ist (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 1-4). Die zweite Phase der Migration besteht aus dem physischen Prozess der Migration bzw. aus dem Prozess der faktischen Transplantation des Migranten selbst. Bei näherer Betrachtung beinhaltet dieser Prozess jedoch nicht allein den physischen Vorgang, vielmehr schließt er eine Reihe von sozialen Veränderungen (wide social changes) mit ein. Er steht am Beginn der tatsächlichen Neugestaltung (actual stage of reforming) des sozialen Umfeldes des Migranten, weil seine bisherige soziale Partizipation und sein bisheriges Gruppenleben eine grundlegende Einschränkung bzw. Schrumpfung (a shrinkage) erfahren. Er trennt sich von Freunden, Bekannten und Führungspersonen, zu denen er bisher soziale Kontakte unterhalten hatte. Seine verschiedenen Bezugsgruppen (reference groups), an denen er bisher teilhaben konnte, hat er verlassen. Seine Kommunikationsbeziehungen sind weitgehend abgebrochen. Seine bisher übernommenen sozialen Rollen kann er nicht mehr wie gewohnt ausfüllen. So gesehen ist die Migration nicht nur mit der Einschränkung sozialer Rollen und Beziehungen, sondern auch mit einer generellen Desozialisierung (desocialization) verbunden. Damit verändert sich das gesamte Wertgefüge (the whole set of values). Auf der anderen Seite verfügt er noch nicht über genügend neue Werte, die sein Verhalten normieren könnten. Das Leben des Migranten im aktuellen Prozess der Migration ist damit weitgehend strukturlos (unstructured) und ungenügend definiert (incompletely defined). Diese Situation löst oft das Gefühl von Unsicherheit (insecurity) und Angst (anxiety) aus. Seine Einsicht in die Notwendigkeit, sowohl sein anfängliches Gefühl der Frustration und Unzulänglichkeit, das ihn zur Migration motiviert hat, als auch seine zusätzlichen Unsicherheiten und Ängste überwinden und bewältigen zu müssen, führt ihn schließlich zu der Bereitschaft, neue soziale Rollen und Verhaltensweisen im Aufnahmeland anzunehmen. Dieser Prozess der sozialen Veränderung (social change), der jeder Form der Migration inhärent ist, schließt somit nicht nur die An- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="56"?> 47 nahme neuer Ziele und kultureller Formen der Bedürfnisbefriedigung (patterns of cultural gratification), sondern auch die Notwendigkeit der Resozialisierung und Reformierung der gesamten Statusvorstellung (status image) sowie des Wertgefüges des Migranten mit ein (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 1, 5-6). Die dritte Phase der Migration besteht in dem Prozess der Absorption (the process of absorption) des Migranten in das soziale und kulturelle System (the social and cultural framework) des Aufnahmelandes. Aus Sicht des Migranten besteht dieser Prozess aus der Institutionalisierung seiner Rollenerwartungen (instituionalizing his role-expectations). Dies bedeutet, dass er einerseits eine neue Sprache und neue soziale Rollen erlernen und andererseits diese auch im Sinne der Wertvorstellungen der absorbierenden Gesellschaft anwenden und spielen muss. Mit anderen Worten muss er seine primären Gruppen, die bisher die Grundlage seiner gesellschaftlichen Partizipation bildeten, so transformieren bzw. überformen, dass sie mit der sozialen Struktur der absorbierenden Gesellschaft verzahnt werden können. Seine Verhaltensweisen können jedoch nur in dem Ausmaß institutionalisiert werden, in dem einerseits seine Erwartungen kompatibel mit den Rollendefinitionen der absorbierenden Gesellschaft und andererseits diese auch dort tatsächlich realisierbar werden. Mit zunehmender Institutionalisierung des Verhaltens wächst die Möglichkeit, seine soziale Partizipation über die eigenen primären Gruppen hinaus auszudehnen (extension of participation) und dadurch in die institutionellen Hauptsphären (main spheres) der absorbierenden Gesellschaft einzudringen. In dem Ausmaß, in dem der Prozess der Absorption gelingt, kann er zu einem funktionsfähigeren Mitglied der absorbierenden Gesellschaft (absorbing society) werden (vgl. Shmuel N. Eisenstadt,1954, 1, 6-9). Der Prozess der Institutionalisierung des Verhaltens des Migranten findet im Rahmen der sozialen Struktur der absorbierenden Gesellschaft statt. Dabei sind die Erwartungen des Migranten und die Anforderungen (demands) der absorbierenden Gesellschaft nur selten übereinstimmend, so dass der Prozess der Institutionalisierung nicht immer reibungslos und erfolgreich verläuft. Damit wird deutlich, dass es notwendig ist, den Prozess der Absorption nicht nur Absorptionstheorie von Eisenstadt <?page no="57"?> 48 aus Sicht des Migranten, sondern auch aus der der absorbierenden Gesellschaft zu betrachten, die selbst durch die Immigration verändert wird. Vor diesem Hintergrund ist zunächst der Frage nachzugehen, wann von einer völligen Absorption (full absorption) eines Migranten bzw. einer Gruppe von Migranten in die absorbierende Gesellschaft gesprochen werden kann. Die Vielzahl der Indizien, die zur Bestimmung einer völligen Absorption herangezogen wird, kann auf die drei Hauptindizien reduziert werden. Der erste Index ist die Akkulturation, die darin besteht, dass der Migrant verschiedene soziale Rollen, Normen und Gewohnheiten der absorbierenden Gesellschaft erlernt. Dieser Lernprozess (process of learning) kann unter zwei Aspekten gesehen werden. Zum einen lernt der Migrant additiv und in quantitativ größer werdendem Umfang nach und nach die Nuancen der neuen Sprache, neue Verhaltensformen, fremde religiöse Orientierungen, wirtschaftliche Gepflogenheiten usw. im alltäglichen Verhaltenskontext (day-by-day behavior) kennen. Andererseits muss sich der Migrant nicht nur eine Vielzahl von Verhaltensmustern (a definite set of new patterns of behavior) aneignen, sondern sie auch internalisieren, indem er sich erwartungsgemäß verhält. Der zweite Index besteht in der persönlichen Anpassung (personal adjustment) des Migranten. Diese bezieht sich auf seine Sichtweise (point of view), seine Zufriedenheit, seine Fähigkeit Probleme zu bewältigen und die Art und Weise, wie die absorbierende Gesellschaft ihn beeinflusst. Dabei ist davon auszugehen, dass die Migration für die Migranten viele Frustrationen und Schwierigkeiten mit sich bringt. Die unmittelbaren Folgen sind Symptome der persönlichen Desorganisation (personal disorganization), wie z.B. abweichendes Verhalten (u.a. Rückzugstendenzen, exzessiver Alkoholkomsum, Aggressivität), psychische Erkrankungen, Kriminalität, Selbstmord, die als negative Indizien der Anpassung anzusehen sind. Der dritte Index besteht in der institutionellen Durchdringung (institutional dispersion). Es geht hier darum, dass die Gruppen der Migranten in die verschiedenen institutionellen Sphären der absorbierenden Gesellschaft so eindringen, dass sie zunehmend ihre separatistische Identität ablegen. Bleiben sie dagegen nur in dem einen oder anderen Sektor konzentriert und kulturell und sozial isoliert, können sie ihre separatistische Identität (separate identity) nicht aufgeben. Dann gelingt die Absorption in die Ge- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="58"?> 49 sellschaft nicht. Die Absorption gelingt nur dann, wenn die Migranten in die formalen und institutionellen Bereiche der absorbierenden Gesellschaft so eindringen, dass sie nicht nur dort ihre formallen sozialen Interaktionen ausbauen, sondern sich darüber hinaus Zugang zu primären Gruppen, wie verschiedenen Cliquen und informellen Gruppen, verschaffen. Nur dann ist eine soziale Nähe (social proximity) zur absorbierenden Gesellschaft möglich und damit auch eine völlige Absorption erreichbar. Dieser dritte Index ist entscheidend für eine erfolgreiche Absorption (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 9-15). Die Realisierung des dritten Indizes ist in der Realität mit enormen Schwierigkeiten verbunden, weil dies nicht nur eine Reihe von Veränderungen der institutionellen Strukturen der absorbierenden Gesellschaft erfordert, sondern auch eine neue Umverteilung der Menschen in den verschiedenen institutionellen Bereichen (z.B. Rollen und Opportunitäten) nach sich zieht. Dabei ist zu bedenken, dass sich diese strukturellen Veränderungen nur sehr langsam vollziehen können, indem sie schrittweise die unterschiedlichen Gruppen der Migranten inkorporieren, anstatt deren unterschiedliche Identitäten auszulöschen (obliterate the distinct identities of different immigrant groups). Die Absorption einer großen Zahl von Migranten führt daher zur strukturellen Pluralisierung (pluralistic structure) der absorbierenden Gesellschaft, d.h. die Zahl der ethnischen Subgruppen, die ihre eigene Identität bewahren, wird größer. Es ist daher zu fragen, in welchem Ausmaß die Integration bzw. Desintegration der Migranten Veränderungen (changes) und Spannungen (tension) in dem institutionellen Gefüge der absorbierenden Gesellschaft mit sich bringt. Im Prinzip sind die Spannungen und Abweichungen, die durch die Migranten erzeugt werden, nicht grundsätzlich anders als die, die auch die Einheimischen bewirken. Dennoch sind einige typische Abweichungen zu nennen, die bei der Absorption der Immigranten endemisch auftreten. Eine der häufigsten Abweichungen ist die persönliche Desorganization (personal disorganization), die sich hauptsächlich als Folge des Abbruchs (breakdown) der primären Gruppenbeziehungen im Herkunftskontext darstellt. Weitere Formen der Abweichung sind Aggression und Verletzung der sozialen Normen. Die Aggression richtet sich dabei sowohl gegen die eigene Gruppe (z.B. Spannun- Absorptionstheorie von Eisenstadt <?page no="59"?> 50 gen zwischen den Generationen) als auch gegen die Gruppen der absorbierenden Gesellschaft. Die Verletzung sozialer Normen manifestiert sich in kriminellen Handlungen, die wesentlich bei der Verfolgung von Zielen ohne angemessene institutionelle Mittel (z.B. unkontrollierte Geldausgabe) begangen werden. Eine dritte Form stellt sich in der fehlenden Solidarisierung mit den Wertvorstellungen und Symbolen der Aufnahmegesellschaft (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 15-22) dar. Die Entwicklung der pluralistischen Bedingungen durch die einwanderungsbedingte Entstehung von Subgruppen bedeutet einerseits, dass die ethnischen Gruppen den allgemeingültigen Rollen (universal roles) der absorbierenden Gesellschaft nicht in vollem Umfang nachkommen. Andererseits werden die legitim erlaubten Grenzen bei dem Vollzug der Sonderrollen übertreten, die von der absorbierenden Gesellschaft für die einzelnen Subgruppen zugestanden werden. Solche Abweichungen sind zwar jeder komplexen Gesellschaft und jedem rapiden sozialen Wandel inhärent, sie kennzeichnen aber in einem besonderen Ausmaß die absorbierenden Gesellschaften der Migranten. Wie bereits erwähnt, ist die Institutionalisierung der Verhaltensweisen der Migranten nichts anderes als die Aneignung eines neuen Wertgefüges und einer entsprechenden Statusvorstellung. Die persönliche Desorganisation ist ein Ausdruck dafür, dass die Institutionalisierung der Verhaltensweisen für einzelne Migranten nicht zufriedenstellend gelingt. Die daraus resultierenden Abweichungen sind nicht nur ein Problem für die Migranten, sondern auch für die absorbierende Gesellschaft, weil sie dadurch selbst desorganisiert wird. Die strukturelle Pluralisierung ist eine andere Ausdruckweise für diese desintegrative Entwicklung (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 22-25). Die jüdische Immigration in Palästina (Aliyoth) nimmt nach 1930 zu, bedingt durch die Einwanderungsbegrenzung der meisten europäischen Länder. Dabei bestand die „Aliyoth“ weitgehend aus relativ jungen Menschen jüdischer Herkunft, die sich von ihren Eltern losgelöst haben. Die „Aliyoth“ war eine zionistische Bewegung rebellierender junger Menschen (young Jews) gegen das jüdische Leben in der Diaspora, das stark unter dem allgemein säkularisierenden Einfluss geriet und dadurch von seinem traditionell-religiösen Ursprung entfremdet wurde. Die Meisten dieser jungen Men- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="60"?> 51 schen haben eine zweigleisige Erziehung sowohl in der traditionellen hebräisch-yiddischen als auch in der „modernen“ Schule ihres jeweiligen Herkunftslandes absolviert. Sie stammten überwiegend aus wohlhabenden und sozial angesehenen Elternfamilien, so dass die instrumentellen Ziele für sie keine allzu große Rolle spielten. Vielmehr hatten sie die Errichtung einer neuen jüdischen Gemeinde und Gesellschaft, die modern, wirtschaftlich unabhängig und gänzlich jüdisch (wholly Jewish) sein sollten, zum Ziel. Sie suchten dabei nach neuen Formen der intimen sozialen Beziehungen und nach sozialer sowie kultureller Identität. Die jungen Menschen errichteten landwirtschaftliche Siedlungen in Palästina und versuchten die hebräische Kultur neu zu beleben. Diese Verhaltensmerkmale machten die „Aliyoth“ einzigartig, im Gegensatz zu anderen Formen der jüdischen Migration (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 35-41). Auf der anderen Seite zeichnete sich die jüdische Gemeinde (community) in Palästina (Yishuv), in die die jüdischen Immigranten unterschiedlicher Herkunft integriert und absorbiert wurden, durch eine Reihe von besonderen Charaktermerkmalen aus. Die Yishuv war keine fest etablierte und vollentwickelte Gemeinde, die vor der Immigration der jüdischen Einwanderer existiert hat, sondern eine Gemeinde, die erst durch die jüdischen Immigranten nach und nach errichtet und ständig weiterentwickelt wurde. Sie hatte daher auch keine festen institutionalisierten Strukturen. Ihre Strukturen mussten, wie die Gemeinde selbst, durch die nachkommenden Immigranten ständig neu ergänzt, ausgebaut und weiterentwickelt werden. Einige Beispiele können diese Besonderheit der Yishuv verdeutlichen. Die Absorption der jüdischen Einwanderer in die Yishuv erfolgte in anderer Form als die normale Integration der Immigranten in die ethnischen Kolonien, die durch die ökologische Konzentration nach dem Kriterium der gleichen Herkunft gebildet werden. Die residentiale Konzentration (z.B. die Ghettobildung) der Immigranten in den traditionellen Aufnahmeländern ist ein Beispiel dafür. Die Niederlassung der jüdischen Immigranten in verschiedenen landwirtschaftlichen Kooperativen war primär durch ihre Solidarisierung mit der zionistischen Pionierbewegung motiviert, so dass die Kooperativen von Anbeginn an stark kohäsive Primärgruppen bildeten. Sie waren damit nicht beliebig um- Absorptionstheorie von Eisenstadt <?page no="61"?> 52 gruppierbar, wie dies bei einer Neuverteilung der Bevölkerung (redistribution of population) von einer zur anderen Siedlung möglich gewesen wäre. Die neuen Immigranten gründeten in der Nähe der bereits etablierten landwirtschaftlichen Siedlungen neue, so dass eine Reihe landwirtschaftlicher Siedlunggruppen (agricultural clusters) entstand. Dabei war nicht die gleiche Herkunft, sondern die Identifizierung mit der zionistischen Pionierbewegung entscheidend. Dadurch konnten neue Immigranten nach der internen Differenzierung einzelner Siedlungen absorbiert werden und zwar unabhängig von der ethnischen Herkunft. Es wurden kontinuierlich neue wirtschaftliche, industrielle, landwirtschaftliche und geschäftliche Aktivitäten entwickelt, so dass die ökonomischen Differenzierungen einen dauernden Prozess darstellten (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 46-51). Zur Entwicklung der politischen Strukturen in der Yishuv kann festgestellt werden, dass die meisten jüdischen Immigranten bereits in der Diaspora mit ihren politischen Organisationen (z.B. the Zionist Congress, the Executive of the Jewish Angency) Kontakt hatten, die sie auch bei der Immigration in die Yishuv unterstützten. Die politischen Parteien in der Yishuv waren daher eng mit den politischen Organisationen in der Diaspora verbunden. Es gab kaum Möglichkeiten, andere politische Parteien in der Yishuv zu gründen. Ein wichtiges Anliegen der Yishuvbewegung war die Erziehung. Die Wiederbelebung der hebräischen Sprache bildete ein Hauptziel des Zionismus, das auch in der Erziehungsstruktur der Yishuv ihren Niederschlag gefunden hat. Ein weiterer struktureller Bereich, der einem zunehmenden Wandel ausgesetzt war, war der der Familie. Die endogamen Ehen zwischen den Immigranten gleicher ethnischer Herkunft nahmen kontinuierlich ab. Dagegen entwickelte sich die Heirat zwischen den Immigranten unterschiedlicher ethnischer Herkunft (intermarriage) zu einem normalen Prozess. Nur die orientalischen Juden bildeten hier eine Ausnahmegruppe, in der die endogamen Ehen nach wie vor eine strenge kulturelle Norm darstellten. Die Bezeichnung der orientalischen Juden (the oriental Jews) umfasst Juden unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die einerseits aus verschiedenen Regionen des ehemaligen osmanischen Reiches (z.B. Türkei, Griechenland, Jemen, Persien, Irak) und andererseits aus den nordafrikanischen Ländern (z.B. Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="62"?> 53 Ägypten, Marokko, Tunesien) stammen (Sephardim Juden). Ihre Motivation zur Migration nach Palästina war in erster Linie durch die politische Verfolgung und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in ihren jeweiligen Herkunftsländern und weniger durch die Identifizierung mit der zionistischen Bewegung bestimmt. So gesehen brachten sie kaum die innere Disposition mit, an der Neugestaltung der jüdischen Gemeinde in Palästina aktiv mitzuwirken. Sie waren eher bestrebt, ihre religiösen Gewohnheiten und traditionellen Lebensweisen aufrechtzuerhalten und Veränderungen ihrer kulturellen und sozialen Strukturen so gering wie möglich zu halten. Sie bildeten daher eine relativ isolierte Gruppe innerhalb der Yishuv. Ihre starke Konzentration in den unteren sozialen Schichten bzw. in der unteren Mittelschicht innerhalb der Sozialstruktur der Yishuv war ein sichtbarer Ausdruck dieser Isolation (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 51-60, 90-104). Ein auffallendes Strukturmerkmal der Yishuv war die relative Abwesenheit desintegrativer Symptome und sozialer Spannungen, die allgemein für die Aufnahmeländer der Migranten typisch sind. Die Instabilität sozialer Beziehungen und die abweichenden Verhaltensweisen der Immigranten sind in der Regel eine Folge der Unvereinbarkeit (incompatibility) ihrer Wertvorstellungen mit denen der absorbierenden Gesellschaft. Dieses Problem war jedoch für die Yishuv relativ gering. Es gab wohl Spannungen zwischen den Generationen, diese blieben jedoch weitgehend auf den privaten Bereich beschränkt und hatten kaum Auswirkungen auf die anderen gesellschaftichen Bereiche. Es gab viele soziale Bewegungen junger Menschen (many youth movements), sie waren jedoch weder rebellisch noch abweichend, sondern wurden voll in dem neuen sozialen Kontext institutionalisiert. Einer der wesentlichen Gründe dafür ist in der großen Kompatibilität der Aspirationen und Rollenerwartungen der Immigranten mit den Anforderungen der Yishuv zu sehen. Die jüdischen Immigranten in Palästina hatten nicht nur ähnliche Motivationen zur Migration, sie waren auch in ihrer allgemeinen Disposition bereit, sich den neu entwickelnden Strukturen der Yishuv flexibel anzupassen (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 63-64). Im Gegensatz zu dem relativ homogenen Bild der Immigranten in der Yishuv trat mit der Gründung des Staates Israel am 14. Mai Absorptionstheorie von Shmuel N. Eisenstadt <?page no="63"?> 54 1948 eine Reihe grundlegender Veränderungen in der sozialen und demographischen Struktur der Immigranten ein. Einerseits stieg die Zahl der Immigranten in den ersten 4 bis 5 Jahren nach der Gründung des Staates Israel so drastisch an, dass der Ausdruck „Massenimmigration“ (mass immigration) gebraucht wurde. Vom 15. Mai 1948 bis 30. Juni 1952 wanderten insgesamt 698.123 Juden in den Staat Israel ein. Die große Mehrheit von ihnen stammte aus Osteuropa und dem Orient, während die Zahl der Immigranten aus den zentraleuropäischen Ländern signifikant zurückging. Die Motivation der neuen Immigranten unterschied sich dabei wesentlich von der der Immigranten in der Yishuv. Die Letzteren kamen weitgehend aus zentraleuropäischen Ländern und waren mit der erfolgreichen Assimilation der jüdischen Diaspora-Gemeinden in die modernen universalistischen Gesellschaften nicht einverstanden. Sie wollten eine andere, neue und nur traditionell ausgerichtete jüdische Gemeinde in Palästina aufbauen. Ihre Motivation zur Migration liegt damit wesentlich in einer kulturellen Krise begründet, die besonders von jungen Menschen aus gehobenen sozialen Schichten wahrgenommen wurde. Dagegen lag die Motivation der neuen Immigranten in einer umfassenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise der jeweiligen Herkunftsländer, die sich auf die gesamte jüdische Gemeinde in den einzelnen Herkunftsländern negativ auswirkte. In den Staat Israel wanderten Familiengruppen bzw. ganze Gemeinden aus den verschiedenen Krisenländern geschlossen ein. Ihre Motivation zur Immigration war damit in erster Linie durch die Suche nach wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit und durch die Solidarisierung mit der existierenden jüdischen Nation geprägt. Diese Immigranten haben sich in Israel, anders als die Primärgruppe der Yishuv, gruppenweise in verlassenen Dörfern und Gebieten niedergelassen und relativ isolierte eigene ethnische Gemeinden gebildet, um ihre kulturellen, religiösen und sozialen Gewohnheiten aufrechtzuerhalten. Eine solche ökologische Konzentration und Separation der Immigranten ethnischer Herkunft war der Yishuv weitgehend fremd. Damit wurde auch deutlich, dass diese Immigranten in Israel von ihrer Prädisposition her kaum auf die Veränderung ihrer traditionellen Lebensweise eingestellt waren, während die jungen Immigranten in der Yishuv die Prädispostion Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="64"?> 55 mitbrachten, sich den neu entstehenden Strukturen flexibel anpassen zu wollen. (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 105-112). Die ökologische Konzentration und Separation, die bei den Immigranten in Israel zu beobachten war, war besonders vor dem Hintergrund der allgemeinen Ambivalenz (ambivalence) der Juden gegenüber der nichtjüdischen Gesellschaft (Gentile society) zu sehen. Wie die Geschichte dokumentiert, haben die jüdischen Gemeinden in der Diaspora innerhalb des ökologischen und politischen Wirkungskreises (ecological and political orbit) der generellen Gesellschaft existiert, sie haben jedoch in einer Situation der formalen und informellen Diskriminierung, Segregation und sozialen Unterlegenheit (social inferiority) gelebt. Gleichzeitig haben sie ihre eigene Kultur und Tradition in dem Glauben bewahrt, dass diese einen höheren Wert haben als die in der nichtjüdischen Umwelt. Die Spannung zwischen der faktischen Unterlegenheit im gesellschaftlichen Leben einerseits und der kulturellen Überlegenheit in der eigenen ideellen Bewertung (evaluative cultural superiority) andererseits erzeugte nicht nur Verunsicherung (a feeling of insecurity), sondern auch eine Ambivalenz gegenüber der nichtjüdischen Gesellschaft (Gentile society). Die jeweilige Gestalt (the shape) und Lösung (resolution) dieser Ambivalenz variierten nach folgenden sozialen Situationen: a) Trennung der Sphären von Überlegenheit und Unterlegenheit, b) effektive Begrenzung der Statusverleihung (bestowal of status) innerhalb der Gemeinde auf solche Sphären, in denen die kulturelle Überlegenheit erhalten werden kann, c) Kanalisierung der aggressiven Tendenzen zur Außengruppe (outgroup), die als Folge der Ambivalenz entstehen, während gleichzeitig innerhalb der Eigengruppe (in-group) ein hohes Maß an Kohäsion und Solidarität angestrebt wurde. Solche Vorgehensweisen setzten jedoch ein hohes Maß an sozialer Autonomie (social autonomy), Selbstregulierung (self-regulation) und Autarkie (autarchy) der unterschiedlichen jüdischen Gemeinden voraus (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 117-118). Betrachtet man die verschiedenen neuen Immigrantengruppen im Staat Israel vor dem oben skizzierten Hintergrund, dann sind 4 Haupttypen jüdischer Gemeinden zu unterscheiden. Der erste Typus ist der traditionelle Gemeindetypus, der aus den jemenitischen und nordafrikanischen Juden besteht. Er zeichnet sich durch ein Absorptionstheorie von Eisenstadt <?page no="65"?> 56 relativ hohes Maß an Autonomie, Orientierung an den partikularistischen jüdischen Werten, Traditionen, interner Solidarität und Kohäsion aus, was für die Abgrenzung besonders gegenüber anderen Außengruppen erforderlich war. Der zweite Typus ist der der unsicheren Übergangsgemeinde (the insecure, transitional sector) in die nichtjüdische Gesellschaft (Gentile society), die weitgehend aus den nordafrikanischen sowie zentral- und osteuropäischen Juden besteht. Seine Charaktermerkmale sind eine geringe soziale Autonomie, eine relativ starke Orientierung und Identifizierung an bzw. mit der nichtjüdischen Gesellschaft und die gefühlsmäßige Einschätzung, dass die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde ein Mobilitätshindernis in der nichtjüdischen Gesellschaft darstellt. Dieser Gemeindetyp entwickelt intern weder Kohäsion noch Solidarität. Er lebt in einem dauernden Zustand der Spannung, Statusängste und Unsicherheit. Der dritte Typus ist eine sichere Übergangsgemeinde (the secure, transitional sector) in die nichtjüdische Gesellschaft, die aus serbischen und bulgarischen Juden besteht. Dieser Gemeindetypus zeichnet sich durch eine auf Familientradition und religiöse Riten bezogene soziale Autonomie und eine primäre Identifizierung mit der allgemeinen Gesellschaft aus. Der vierte Gemeindetypus bildet sich aus den Juden, die das Konzentrationslager (camp-life) und die Zerstörung (the experience of destruction) in den osteuropäischen Ländern überlebt haben (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 118-119). Das dringendste Problem der Immigranten besteht generell in dem physischen Überleben in der Aufnahmegesellschaft durch die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse. Erst danach kommen die Bemühungen um das Erreichen eines akzeptierten sozialen Status und um den Vollzug verschiedener und neuer Rollen im Sinne der Erwartungen der absorbierenden Gesellschaft. Da die Vorstellungen der Immigranten selten mit der Realität der neuen Gesellschaft übereinstimmen, werden ihnen Enttäuschungen kaum erspart bleiben. Die Immigrantengruppen müssen daher zumindest in zwei Bereichen einen Prozess der Transformation durchlaufen, um in der neuen Gesellschaft zurechtzukommen. Zum einen gilt es ihre Partizipation an den Hauptbereichen des sozialen Systems kontinuierlich auszubauen und zum anderen ihre Verhaltensweisen zu institutionalisieren. Dies bedeutet, dass sie sich mit den Wertvorstel- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="66"?> 57 lungen und Symbolsystemen der absorbierenden Gesellschaft so identifizieren, dass ihre Verhaltensweisen im Rahmen der akzeptierten institutionellen Normen vollzogen werden können (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 139-143). In dem Ausmaß, in dem die Immigrantengruppen diese Prozesse der Transformation (processes of group transformation) erfolgreich durchlaufen, integrieren sie sich nach und nach in die absorbierende Gesellschaft. Bei der Integration (integration) der Immigranten in die Hauptsphären (main spheres) der sozialen Aktivitäten der absorbierenden Gesellschaft sind jedoch die adaptiven, instrumentellen, solidarischen und kulturellen Sphären zu unterscheiden. In diesen 4 Sphären der Integration treten generell folgende immanente Probleme auf. Das erste Problem besteht in der Ungeklärtheit, ob die Immigranten die grundlegenden und allgemeinen Rollen (the basic, universal roles), die sie in den jeweiligen Sphären zu spielen haben, tatsächlich akzeptieren und erwartungsgemäß ausfüllen. Solche Rollen umfassen z.B. berufliche Aktivitäten, Erlernen der hebräischen Sprache, Einschulung der Kinder, Wehrdienst und Einhalten der Gesetze (compliance of laws). Das zweite Problem besteht in der Unsicherheit, ob die Immigranten in ihren sozialen Rollen und Beziehungen eine durchgehende Stabilität beibehalten können, oder ob sie durch diverse Normbrüche abweichende Verhaltensweisen hervorbringen. Das dritte Problem ist darin zu sehen, dass die Immigranten zwar ihre sozialen Rollen spielen und ihre sozialen Beziehungen stabil halten, sie sich jedoch nicht vorbehaltlos mit den damit verbundenen allgemeinen Normen und Wertvorstellungen identifizieren. In diesem Fall ist fraglich, ob und wie lange Rollenverhalten und soziale Beziehungen im Rahmen der strukturellen Kompatibilität vollzogen und stattfinden können. Das letzte Integrationsproblem liegt in der Frage, ob zwischen den primären Gruppen der Immigranten und deren verschiedenen sozialen Partizipationsfeldern eine geregelte bzw. institutionalisierte Kommunikation stattfindet. Die skizzierten Problemaspekte machen bereits deutlich, dass in allen Hauptsphären der Integration Unsicherheit und Desorganisation im Verhalten und im Spiel der sozialen Rollen auftreten können. Dabei ist hervorzuheben, dass das Vorhandensein eines minimalen Ausmaßes an Stabilität (minimum degree of stability) die unverzichtbare Grundvoraussetzung für eine Absorptionstheorie von Eisenstadt <?page no="67"?> 58 erfolgreiche Partizipation, Identifikation und Integration darstellt (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 168-169). Nun sind die genannten Hauptsphären der Integration der Immigranten in die absorbierende Gesellschaft zu thematisieren. Es ist bekannt, dass die anfänglichen Bemühungen zur Integration zuerst in den adaptiven und instrumentellen Bereichen unternommen werden, weil hier die Grundbedürfnisse (basic needs) zu befriedigen sind. Die Anpassungsbemühungen in der Anfangszeit und der Vollzug eines Minimums von grundlegenden sozialen Rollen bedeuten jedoch noch nicht, dass die Immigranten die verschiedenen Normen akzeptieren, die ihre Allokation in der absorbierenden Gesellschaft regeln. Bereits in diesen Sphären können desintegrative Tendenzen auftreten. Zum einen ist von der Wahrscheinlichkeit auszugehen, dass die vorwiegend auf die Zuschreibung und Verteilung von instrumentellen Möglichkeiten und Belohnungen (facilities and rewards) gerichteten Interessen der Immigranten leicht zu einem Wettbewerb führen können, der den normativ erlaubten Rahmen überschreitet. Zum anderen sind Normverletzungen bei der Allokation von Möglichkeiten, die für die Befriedigung der Grundbedürfnisse von Bedeutung sind, nicht gänzlich auszuschließen. Solche Normbrüche reichen von der Schwarzmarktaktivität bis zur Kriminalität. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Immigranten oft übermäßig hohe Forderungen an die absorbierende Gesellschaft stellen, die einseitig durch ihre partikularistischen Interessen begründet werden und weniger die grundlegenden Allokationsprinzipien der absorbierenden Gesellschaft berücksichtigen. Die erfolgreiche Integration der Immigranten in die adaptiven und instrumentellen Sphären ist für die wirtschaftliche Zukunft der absorbierenden Gesellschaft von zentraler Bedeutung, weil dadurch zuverlässige Charaktereigenschaften und Anreize zur Arbeit (adaquate work attributes and incentives) entstehen. Diese sind wiederum wichtige Voraussetzungen dafür, dass das Kapital in die Produktion investiert und die Produktivität gesteigert werden. Dabei kommen die kontinuierlich zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Differenzierungen zwischen den Einheimischen und Immigranten der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes langfristig zugute (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 169-170). Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="68"?> 59 Bei der Integration in die solidarische Sphäre geht es darum, die bisherige Orientierung an der eigenen primären Gruppe schrittweise auf die aktuellen und zentralen Werte des sozialen Systems der absorbierenden Gesellschaft auszudehnen. Es ist dabei wichtig, möglichst viele gemeinsame Berührungspunkte (the existence of common meeting-grounds) zwischen den Einheimischen und Immigranten herauszufinden, um schließlich eine komplette Solidarität erreichen zu können. Ein häufiges Problem in dieser Hinsicht besteht in der kulturellen Unvereinbarkeit (cultural incompatibility) zwischen den unterschiedlichen Formen der Identifikation und Solidarität. Während z.B. die traditionsorientierten Immigranten die charismatische Form der Identifikation und Solidarität bevorzugen, wird in der Yishuv und im Staat Israel auf die moderne Form der Identifikation und Solidarität Wert gelegt. Solche Hindernisse (stumbling-blocks) auf dem Weg der Integration können nur überwunden werden, wenn die traditionsorientierten Gruppen bereit sind, einen Transformationsprozess in der absorbierenden Gesellschaft zu durchlaufen. Ein weiteres Problem bei der Integration in die solidarische Sphäre besteht darin, dass die kommunalen Führungskräfte die zentralen Werte der absorbierenden Gesellschaft nicht genügend und nicht deutlich genug vermitteln, so dass sie eine positive Identifikation der Immigranten mit diesen Werten de facto nicht unterstützen. Weiterhin können die partikularistischen Gruppen und ihre Symbole der Identifikation die Akzeptanz der grundlegenden Normen und Wertvorstellungen erschweren und auch dazu führen, dass die Beziehungen zwischen den Gruppen belastet werden (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954,170-171). Die Integration der neuen Immigranten in die kulturelle Sphäre ist unter folgendem Aspekt zu sehen. Ihre prinzipielle Identifikation mit der absorbierenden Gesellschaft und mit dem Judaismus schafft in erster Linie nur den gemeinsamen äußeren Rahmen für eine solidarische Orientierung. Dagegen sind kaum Gemeinsamkeiten auf dem Gebiet der gefühlsmäßigen Ausdruckweisen (expressive field) zu finden, bedingt durch die unterschiedliche Herkunft aus der Diaspora. Die verschiedenen kulturellen Lebensweisen bleiben in der Regel in der Privatsphäre erhalten, so dass die Gemeinsamkeiten in der absorbierenden Gesellschaft nur auf wenige äußere Lebenspraktiken (z.B. die Einhaltung der Sabbatregelung) Absorptionstheorie von Eisenstadt <?page no="69"?> 60 reduziert werden. Das Fehlen der gemeinsam akzeptierten Standards und Traditionen erschwert die Integration der expressiven Symbole in die institutionalisierten Normen auf den verschiedenen Ebenen sozialer Aktivitäten. Diese Situation wirkt sich logischerweise desintegrativ auf die anderen Sphären aus (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 171). In den Hauptsphären der Integration bleibt die zentrale Problematik darin, dass sich die Integration häufig von Machtfragen und Machtprinzipien und weniger von gemeinsamen und universalen Normen leiten lässt. Im instrumentellen Bereich beeinflussen die Machtfragen generell die Allokation. Im solidarischen Bereich beeinflussen die Machtfragen (z.B. die nationale Identität) entscheidend die solidarische Identität der Einzelnen. Im emotional expressiven Bereich wird die Regelung der Machtbeziehungen zu einem integralen Fokus der Persönlichkeit (personality). Parallel zu diesen Aspekten ist anzumerken, dass die Integration in den einzelnen Hauptsphären kaum mit gleicher Geschwindigkeit (at the same pace) und in gleicher Richtung (in the same direction) stattfindet. Dieses Ungleichgewicht (lack of equilibrium) der Integration zwischen den einzelnen Sphären ist oft die Bedingung dafür, dass sich eine Vielzahl von desintegrativen Tendenzen entwickelt (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 172). Aufgrund der Absorption großer Zahlen von Immigranten mit unterschiedlichen Motivationen verändern sich die grundlegenden sozialen Strukturen der israelischen Gesellschaft. Diese strukturellen Veränderungen sind in sinkendem Lebensstandard, der zunehmenden Konzentration der Macht, der zunehmenden internen Differenzierung zwischen Eliten und einfacher Bevölkerung, der desinegrativen Entwicklung der primären Gruppen, der Schwächung der kollektiven Orientierung, der zunehmenden Formalisierung der grundlegenden gesellschaftlichen Identifikation und schließlich im steigenden Wettbewerb gesellschaftlicher Gruppierungen um die Macht erkennbar. Als Folge entsteht eine neue Gesellschaft (a new society) mit pluralistischen sozialen Strukturen. Die gemeinsame Identifikation wird dabei durch formale Organisationen erreicht und weniger durch die primären Gruppen geformt, wie dies in der Yishuv der Fall war. Dadurch erfährt die instrumentelle Sphäre der Gesellschaft eine zunehmende Aufwertung, während die so- Theorien zur Assimilation und Absorption <?page no="70"?> 61 lidarische und expressive Sphäre einer pluralistischen Entwicklung ausgesetzt wird. Insgesamt haben sich die Bedingungen der Absorption der Immigranten in der Periode nach der Staatsgründung Israels in ihren Hauptmerkmalen grundlegend verändert. Die Absorption fand nicht mehr durch die Primärgruppen wie in der Yishuv, sondern durch die bürokratischen Organisationen statt, die zu diesem Zweck geschaffen wurden. Die Immigranten haben sich nach ethnischen Gesichtspunkten gruppenweise voneinander getrennt niedergelassen, so dass sie kaum in sozialer Beziehung zueinander und zu den Einheimischen stehen. Dabei bildeten sie eine neue untere soziale und wirtschaftliche Stratifikation, die unterhalb der Stratifikation der Einheimischen angesiedelt war. Die Bereitschaft der Einheimischen, ihre Primärgruppen für die Immigranten zu öffnen, war relativ gering (vgl. Shmuel N. Eisenstadt, 1954, 221-225). Absorptionstheorie von Eisenstadt <?page no="71"?> 62 2. Theorien zur ethnisch pluralen Gesellschaft als Absage an die Theorie der Assimilation und Bewertung des ethnischen Pluralismus Die ethnischen Minderheiten in den USA haben bis in die 1950er Jahre hinein versucht, durch die Anpassung an die Wertvorstellungen und Standards der dominanten anglo-protestantischen Mehrheitsgesellschaft die gesellschaftliche Integration, soziale Gleichberechtigung und Gleichheit zu erreichen. Diese Anpassungsbemühungen, die von unzähligen organisierten Protest- und Bürgerrechtsbewegungen begleitet wurden, haben jedoch kaum positive Veränderungen mit sich gebracht. Umgekehrt wurden die sozialen Ungleichheiten, denen die Minderheiten ausgesetzt waren, trotz der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungen zunehmend größer. So entstanden aus den Bürgerrechtsbewegungen, die anfänglich Integrationsziele anstrebten, radikalisierte soziale Bewegungen vorrangig der Schwarzen (z.B. die „Black Power“ und „Black Panther“), die der bisherigen Integrations- und Assimilationspolitik eine klare Absage erteilten. Für sie ist nun nicht mehr die Gleichberechtigung die Voraussetzung für die gesellschaftliche Integration, sondern umgekehrt sind politische Macht und Gleichheit die unverzichtbaren Grundbedingungen für die soziale und gesellschaftliche Integration der benachteiligten Minderheiten. Die Bürgerrechtsbewegungen der Schwarzen nahmen nationalistische Züge an. Sie propagierten nun „Pan-Africanism“ und „culture of resistence“, indem sie die Schwarzen an ihre afrikanischen Wurzeln mit der Eigenwertigkeit ihrer Kultur, Musik, Folklore und Literatur erinnerten. Ethnische Merkmale und Symbole sollten zur Herstellung einer gemeinsamen Identität kultiviert werden, um sich von den Weißen abgrenzen und Solidarität für die gemeinsamen politischen Aktionen mobilisieren zu können. Damit war das „black ethnic revival“ entstanden (vgl. Petrus Han, 2005, 326-327). Inmitten dieser zeitgeschichtlichen Entwicklung wurde das Buch „Beyond the Melting Pot“ von Nathan Glazer und Daniel Patrick Moynihan im Jahre 1963 veröffentlicht, ein Jahr vor der Publikation des Buches „Assimilation in American Life“ von Milton M. Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="72"?> 63 Gordon. Obwohl die beiden Publikationen fast zeitgleich erschienen sind, sind ihre theoretischen Ausrichtungen diametral entgegengesetzt, wie bereits die beiden Buchtitel erkennen lassen. In einer Zeit, in der die dominante weiße Mehrheit Amerikas in ihrer Vormachtstellung von den Minderheiten zunehmend attakiert wurde, geht das Buch von Milton M. Gordon von der Existenz einer „core society“ mit anglo-protestantischer Kultur aus und macht die sukzessive Verringerung der Vorurteile und Diskriminierungen, denen die ethnischen Minderheiten ausgesetzt sind, von ihrer stufenweisen Assimilation in diese „core society“ abhängig. Nathan Glazer und Daniel Patrick Moynihan gehen in ihrem Buch umgekehrt von der empirischen Feststellung aus, dass keine anglo-protestantische „core society“ in den USA existiert, in die die ethnischen Minderheiten der Einwanderer assimiliert werden sollten. Sie sind eher der Überzeugung, dass die weißen Angloprotestanten keine „core society“ und „core group“ Amerikas bilden, wie Milton M. Gordon sie bezeichnet, sondern lediglich eine ethnische Gruppe neben vielen anderen darstellen. Damit leiten sie das Ende der Assimilationstheorien ein und kündigen gleichzeitig den Beginn einer pluralistischen Zeit an. Sie schlussfolgern vielmehr, dass in der Zukunft Amerikas Religion und Rasse die Hauptgruppen sein werden, in denen die spezifischen ethnischen und nationalen Unterschiede miteinander vermischt und nivelliert werden. Sie gehen jedoch von der Überzeugung aus, dass diese Zukunft eher in der Ferne liegt. Nach ihrer Auffassung würden bis zum Anbruch dieser fernen Zukunft immer wieder ethnische Gruppen neu gebildet und geschaffen (continually created and recreated) werden, selbst dann, wenn die distinktiven ethnischen Kulturen und Sprachen in der dritten und vierten Generation der Einwanderer verschwinden (vgl. Russell A. Kazal, 1995, 451-452). In der Migrationsforschung markiert die theoretische Position von Nathan Glazer und Daniel Patrick Moynihan den Wendepunkt von der Assimilationstheorie zur Pluralismustheorie, die im Gleichklang mit den sozialen Bewegungen des „ethnic revival“ in den USA und der „new ethnicity“ in Kanada der 1970er Jahre nicht nur weitere wissenschaftliche und journalistische Publikationen zum ethnischen Pluralismus angeregt, sondern auch dazu beigetragen hat, dass die Politik der traditionellen Einwanderungsländer offi- Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="73"?> 64 ziell von der Assimilationszur Multikulturalismuspolitik übergegangen ist (vgl. Petrus Han, 2005, 328-333). Das Buch „The Ethnic Myth“ von Stephen Steinberg, das in diesem Kapitel vorgestellt wird, ist gut 26 Jahre nach dem Erscheinen des Buches „Beyond the Melting Pot“ von Nathan Glazer und Daniel Patrick Moynihan erschienen. In einer Retrospektion bilanziert es den ethnischen Pluralismus in den USA. Sein Ausgangspunkt ist dabei die historische Realität, dass die heutige ethnische Pluralität in den USA ein Produkt der langen Geschichte der Eroberung, Kolonialisierung, Versklavung, Ausbeutung und Enteignung darstellt. Die weißen Siedler Amerikas haben gegen die Ureinwohner (Indianer) nicht nur Eroberungskriege geführt, um deren Land zu enteignen, sondern sie zudem zwangsrekrutiert und versklavt, um deren Arbeitskraft auszubeuten. Sie haben gegen Mexikaner einen Krieg provoziert, um deren Land zu enteigenen und die Bodenschätze auszubeuten. Um die Arbeitskräfte für die Baumwollwirtschaft im Süden der USA zu sichern, wurden Millionen Afrikaner zwangsweise importiert und versklavt. Um die Infrastruktur (z.B. Straßen und Eisenbahnlinien) an der pazifischen Westküste der USA auszubauen und die Bodenschätze zu erschließen, haben die USA Millionen Asiaten (z.B. Chinesen, Inder und Japaner) als Arbeitskräfte rekrutiert und deren Arbeitskraft ausgebeutet. Um ihren Arbeitskräftebedarf abzudecken, wurden Millionen von europäischen Immigranten zugelassen. Diese historischen Fakten belegen die Entstehung der ethnischen Pluralisierung der amerikanischen Gesellschaft. Diese Pluralität ist heute jedoch in eine tiefgehende Krise geraten, so die Auffassung von Stephen Steinberg, weil die authentische ethnische Kultur durch den kontinuierlichen Rückgang der Immigrantenzahl immer schwieriger erlebbar wird. Die bewusste Betonung des ethnischen Pluralismus und die Aufwertung der symbolischen Merkmale der Ethnizität seien daher als Beleg für diese Krise zu deuten. Auf der anderen Seite verstärkt die voranschreitende Assimilation der dritten und vierten Generation der Einwanderer durch die zunehmende Zahl der interethnischen und interreligiösen Ehen die genannte ethnische Krise in den USA. Der ethnische Pluralismus hat zwar das Bewusstsein der Minderheiten verschärft und auf die ethnische Vielfalt der amerikanischen Gesellschaft aufmerksam gemacht, er Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="74"?> 65 hat bisher jedoch kaum die massive soziale Ungleichheit thematisiert, die die ethnischen Gruppen wirtschaftlich und sozial depriviert. Damit bringt die Existenz des ethnischen Pluralismus de facto die Klassengegensätze in der amerikanischen Gesellschaft zum Ausdruck. Das Hauptproblem der amerikanischen Gesellschaft liegt weniger darin, dass die ethnischen Gruppen in ihrem kulturellen Leben zu wenig Unterstützung erhalten. Es liegt vielmehr in der Wirtschaftspolitik, die die soziale Ungleichheit der ethnischen Minderheiten festigt und verstärkt. Der ethnische Mythos ist der Glaube daran, dass die kulturellen Symbole der Vergangenheit mehr als die Illusionen liefern, die die ethnischen Minderheiten vor der Unzufriedenheit der Gegenwart schützen können (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 257-262). 2.1 Nathan Glazer und Daniel Patrick Moynihan Jenseits des Schmelztiegels Ethnische Gruppenbildungen der Schwarzen, Puertoricaner, Juden, Italiener und Iren in der Stadt New York (Beyond the Melting Pot The Negroes, Puerto Ricans, Jews, Italians, and Irish of New York City, 1963. 347 S.) Das Ziel des Buches ist es, die Rolle der Ethnizität (the role of ethnicity) in dem sich ständig verändernden und unendlich komplexen Leben der Stadt New York in ihren Wesenszügen nachzuzeichnen. Dieser Versuch wird von der Vorstellung geleitet, dass die Idee der intensiven Vermischung ethnischer und religiöser Gruppen in der amerikanischen Gesellschaft alle Gruppen zu einem homogenen Endprodukt verschmelzen würde, ihre Nützlichkeit und Glaubwürdigkeit verloren hat. Die Ethnizität bleibt erhalten. Sie verdient mehr Aufmerksamkeit, Verständnis und Vertrautheit. Die faktische Realisierung des Schmelztiegels (melting pot) ist zumindest in der Pluralismustheorie von Glazer und Moynihan <?page no="75"?> 66 Stadt New York und in vergleichbaren Teilen Amerikas nicht eingetreten. Vielmehr erhalten die zentralen ethnischen Gruppen selbst dann ihre distinktive ethnische Identität, wenn diese von einer zur anderen Generation modifiziert würde. Keine Gruppe gleicht der anderen. Sobald religiöse und kulturelle Werte involviert sind, werden ihre Unterschiede zur persönlichen Wahl und zum historischen Erbe. In einem neuen Land werden die alten Werte der ethnischen Gruppen weitgehend beibehalten und neue Werte erzeugt. Die Untersuchung dieser unterschiedlichen Werte schließt daher die unterschiedlichen Formen der Leistungen ethnischer Gruppen im Bereich z.B. der Bildung, Wirtschaft und Politik mit ein (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, V-VI). Bereits 1660 wurden in Fort Amsterdam an der Spitze von Manhattan 18 Sprachen gesprochen. Die Zahl der Sprachen in der Handelsmetropole New York mit einer extrem heterogenen Bevölkerung ist in den letzten 3 Jahrhunderten keineswegs zurückgegangen. Die Komplexität der Stadt, die auch auf die aus verschiedenen Ländern und Rassen stammende Bevölkerung zurückzuführen ist, macht sie zu einer der am schwierigsten verstehbaren Städte der Welt. New York ist nicht Amerika. Kein Segment des gesellschaftlichen Lebens der Stadt, wie Politik, Wirtschaft, Kultur, Geschichte oder soziales Leben, kann ohne den Bezug auf ihre ethnischen Gruppen adäquat beschrieben und erklärt werden. In der Stadt New York sind genügend viele Menschen aus fast allen Ländern der Welt ansässig, die eine eigene Gemeinde mit eigener Kirche, Sprache, Organisation und Kultur bilden könnten. In den 1840er Jahren kam eine große Zahl von irischen und deutschen Immigranten in die Stadt. 1890 machten die beiden ethnischen Gruppen 52 % der Bevölkerung aus. In den 1880er Jahren begann dann die Immigration der Juden und Italiener, die bis 1924 angedauert hat. Nach dem Ersten Weltkrieg begann die Immigration der Schwarzen aus dem Süden der USA und nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten die Puertoricaner ein. Damit sind zum alten Grundstock (the old stock) der weißen Bevölkerung mit anglosächsisch-protestantischer Herkunft nacheinander 6 weitere große ethnische Gruppen hinzugekommen (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 1-5, 7-8). Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="76"?> 67 Es ist eine Realität, dass Sprache und Kultur der ethnischen Gruppen in der ersten und zweiten Generation weitgehend verloren gehen. Der Assimilationseinfluss der amerikanischen Gesellschaft hat die Immigrantengruppen so transformiert, dass sie ihre originären Eigenschaften weitgehend abgelegt haben. Sie sind auf der anderen Seite durch neue Erfahrungen in der amerikanischen Gesellschaft zu neuen, aber weiterhin für die einzelnen Gruppen unverwechselbar eindeutig identifizierbaren und voneinander unterscheidbaren Gruppen neu geformt (recreated) worden. Diese Neuformung erfolgte jedoch für jede Gruppe in unterschiedlicher Weise, da sie gegenüber der amerikanischen Gesellschaft unterschiedlich offen war. Trotz der Assimilation gibt es damit „den“ Amerikaner im abstrakten Sinn nicht (The „American“ in abstract does not exist.). Im Folgenden werden 5 ethnische Haupteinwanderungsgruppen in der Stadt New York beschrieben (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 13-14, 17, 20, 23). 2.1.1 Die ethnische Gruppe der Schwarzen (the Negroes) 1960 waren in New York 1.088.000 Schwarze ansässig, was eine Zunahme von 340.000 gegenüber der Zahl von 1950 bedeutete, während in den 1950er Jahren die weiße Bevölkerung umgekehrt um fast eine halbe Million reduziert wurde. 1960 machten die Schwarzen ein Siebtel der Bevölkerung New Yorks aus. Die Hälfte der nicht weißen Bevölkerung wanderte aus dem Süden ein. Diese Bevölkerungsumschichtung war dennoch relativ gering, wenn man sie mit Städten wie Chicago (24 % schwarze Bevölkerung), Philadelphia (mehr als 25 % schwarze Bevölkerung), Cleveland und Detroit (jeweils 20 % schwarze Bevölkerung) vergleicht. Die schwarze Bevölkerung war jünger als die weiße, so dass sie sich demographisch besonders in der Schülerpopulation und Jugenddelinquenz bemerkbar machte. Nach dem Zensusbericht von 1960 verdienten die schwarzen Arbeiter im Bereich der Metropole New York durchschnittlich etwa 70 % des Durchschnittslohns der weißen Arbeiter. Als zu Beginn der 1960er Jahre die Rezession der Wirtschaft einsetzte, stieg die Arbeitslosigkeit bei den Schwarzen (10 %) überproportional an, obwohl diese Zahl im Vergleich mit Pluralismustheorie von Glazer und Moynihan <?page no="77"?> 68 der der anderen Städte relativ niedrig blieb. Die Arbeitsmarktsituation schwarzer Frauen mit geringer beruflicher Qualifikation war im Vergleich zu der der schwarzen Männer deutlich besser. Ihr Durchschnittlohn betrug 1960 93 % des Durchschnittslohns der weißen Frauen (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 25-26, 29-30). Generell waren die Schwarzen nicht in der Lage, durch unternehmerische Aktivitäten Arbeitplätze für die eigene Gruppe zu schaffen. Als Folge des Sklaventums hatten sie weder Erfahrungen im Umgang mit Geld noch Gelegenheit zum Erwerb von Fähigkeiten, die sie im geschäftlichen Bereich vorausschauend und planend hätten einsetzen können. Die Sklaven der Oberschicht (the upper class of slaves), die als Hausdiener (the house servants) gearbeitet haben, erhielten zwar auf Kosten der Plantagengesellschaft (plantation society) eine minimale Erziehung, für sie war es jedoch leichter, den Prozess der Konsumtion als den von Produktion und Marketing zu beobachten. Nach der Befreiung vom Sklaventum wanderten sie in den Norden, verfügten jedoch über keine finanziellen Ressourcen, die eventuell für die Gründung von Geschäften hätten eingesetzt werden können. Außerdem begegneten sie in ihren Bemühungen um die Beschaffung von Kapital oder Räumlichkeiten überall Vorurteilen und Diskriminierungen. Die Entstehung von Harlem (um 1920), dem Stadtteil der Schwarzen, brachte theoretisch die Möglichkeit mit sich, Geschäfte nur für den Bedarf der eigenen Gruppe zu eröffnen, wie es viele andere ethnischen Gruppen für ihre speziellen Erfordernisse getan haben. Doch selbst unter diesen Voraussetzungen taten sich Probleme auf, da die Schwarzen im Gegensatz zu anderen ethnischen Gruppen keine Herkunftskultur kannten, die die Nachfrage nach typischen ethnischen Konsumgütern hätte auslösen können. Das Interesse beschränkte sich fast ausschließlich auf Bestattungsunternehmen, Friseurgeschäfte und Kosmetikläden. Ein weiterer Nachteil für die Schwarzen bestand darin, dass ihre Familienstruktur zu schwach war, um einen starken Familienklan zu bilden, der im geschäftlichen Bereich stützend wirken kann. In anderen ethnischen Gruppen spielt der Zusammenhalt der Familie als soziales Kapital bei der Verselbständigung als Unternehmer eine entscheidende Rolle. Weiterhin ist zu erwähnen, dass die Schwarzen kaum Sparverhalten entwickeln (to develop a Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="78"?> 69 pattern of saving) konnten, was eine unabdingbare Voraussetzung zur Kapitalbildung darstellt (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 32-33). Im Gegensatz zu den einheimischen Schwarzen, die aus dem ländlichen Süden stammten, hatten die Schwarzen aus dem britischen Westindien (Jamaika) kaum Probleme im geschäftlichen Bereich. Sie sind in den 1920er Jahren in New York eingewandert und haben einen Anteil von etwas weniger als 17 % an der schwarzen Bevölkerung. Sie hatten eine große Spar- und Investitionsneigung, arbeiteten hart und legten großen Wert auf Erziehung, so dass sie überproportional viele Führungspositionen in der schwarzen Bevölkerung eingenommen haben (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 34-37). 1960 machten die Kinder der Schwarzen einen Anteil von 25 % in den Grundschulen, 20 % in den Mittelschulen, 20 % in den Berufsschulen und 10 % in den Gymnasien aus. Eines der Hauptprobleme der Erziehung für die schwarzen Kinder war die schulische Segregation. 1960 machten die schwarzen Kinder 90 % der Schüler in den 95 von insgesamt 589 Grundschulen und 85 % in den 22 von insgesamt 125 Mittelschulen aus, so dass heftige öffentliche Diskussionen über die segregierten und integrierten Schulen stattgefunden haben. Die schwarzen Eltern kämpften um das Recht, ihre Kinder unabhängig von ihren Wohnbezirken in integrierte Schulen schicken zu können, obwohl der Anteil der schwarzen Kinder in den integrierten Schulen (integrated schools) bereits fast 50 % betrug (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 44-49). Die größte Diskrepanz (the greatest gap) in den Lebensbedingungen zwischen der allgemeinen nicht-schwarzen und der schwarzen Bevölkerung der Stadt New York lag im Wohnungssektor, der wohl die größten Diskriminierungen brachte. Obwohl die Benachteiligungen auf dem Wohnungsmarkt gesetzlich verboten waren, konzentrierten sich die Schwarzen in der Regel dort, wo die Wohnungen durch öffentliche Wohnungsbauprojekte (puplic housing projects) errichtet wurden. In solchen Wohngebieten lebten die Weißen und Schwarzen räumlich nebeneinander, ohne dabei miteinander in Kontakt zu treten. Zu anderen Wohnungen hatten die Schwarzen aufgrund der hohen Mietkosten und Diskriminierungen Pluralismustheorie von Glazer und Moynihan <?page no="79"?> 70 kaum Zugang. Auf der anderen Seite wurden die suburbanen Wohngebiete der Mittelschicht zunehmend zu Wohngebieten der Mittelschicht-Schwarzen, weil die wohlhabenden Weißen in bessere Wohngebiete wegzogen. Sie hatten oft trotz gewaltsamer Bemühungen, den Einzug der Schwarzen in ihrem Wohngebiet zu verhindern, keine rechtliche Unterstützung erhalten. Abgesehen davon war die Dominanz der weißen Protestanten in den suburbanen Wohngebieten der Mittelschicht durch den zunehmenden Einzug von Katholiken und Juden ohnehin gebrochen (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 53, 57-63). Die politische Beteiligung (z.B. die aktive Wahlbeteiligung) der Schwarzen war relativ groß, weil sie in der Politik ein Mittel ihrer Interessendurchsetzung sahen. Sie erhofften vor allem, dass die von ihnen gewählten Politiker neue Arbeitsplätze für sie schaffen. Obwohl die Rassenbeziehungen in New York allgemein gut waren und sich die jüdischen Politiker für die Interessen der Schwarzen einsetzten, herrschten unter den Schwarzen antijüdische Gefühle (anti-Jewisch feeling) bzw. Antisemitismus (anti-Semitism), was auf mehrere Faktoren zurückzuführen war. Die Einwanderung der Juden in New York fand 35 bis 40 Jahre früher statt als die der Schwarzen aus dem Süden der USA, so dass die Juden in vielen gesellschaftlichen Bereichen New Yorks etabliert waren. Die Juden waren gegenüber den Minderheiten, auch gegenüber Schwarzen, generell liberal und tolerant, weil sie selbst als Minderheit viele Diskriminierungen erleiden mussten. Die zunehmende Niederlassung der Schwarzen in der Nachbarschaft der Juden war daher relativ unproblematisch. Die Schwarzen wurden damit zu Kunden in jüdischen Geschäften, zu Pächtern jüdischer Grundbesitzer und zu Arbeitern jüdischer Arbeitgeber in einer Stadt, die zu einem Viertel jüdisch war und in der die jüdischen Betriebe (z.B. Bekleidungs-, Spielzeug-, Elektro- und Plastikindustrie) konzentriert waren. Die Schwarzen begegneten als gering verdienende Lohnarbeiter überall jüdischen Vorgesetzten. Selbst die Mittelschicht-Schwarzen in den Regierungsbehörden (governmental agencies) hatten Juden als Vorgesetzte. Darüber hinaus arbeiteten schwarze Frauen als Hilfskräfte (domestic labor) in privaten jüdischen Haushalten. Diese Begegnungen waren jedoch nicht immer konfliktfrei. Für die Schwarzen war alles, was die Juden und andere ethnische Gruppen für sie ge- Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="80"?> 71 tan haben, nicht genug. Eine der Konsequenzen waren die nationalistischen und exklusiven Tendenzen, die die politischen Wortführer der Schwarzen, ausgehend von dem aktuellen Beispiel der unabhängigen Staatsgründungen in Afrika, schürten. Die Zeit, in der die Schwarzen versucht haben, sich der ausbeuterischen weißen Welt anzupassen (accommodation to an exploitative white world), ging damit zu Ende (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 67, 71-73, 76-79, 84). 2.1.2 Die ethnische Gruppe der Puertoricaner (the Puerto Ricans) Die kleine Insel Puerto Rico mit einer Fläche von 3.435 qm wurde im Jahr 1900 von den USA okkupiert und unter amerikanische Verwaltung gestellt. Erst 1948 war es soweit, den ersten einheimischen Gouverneur aufzustellen. 1952 hat Puerto Rico eine eigene Verfassung mit einer größtmöglichen Unabhängigkeit erhalten, blieb jedoch ein „Commonwealth“ der USA. Die Puertoricaner wurden zu US-Staatsbürgern. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde eine Fluglinie zwischen den Städten San Juan und New York eröffnet, so dass die Zahl der Puertoricaner, die in die Stadt New York einwanderte, seit 1945 kontinuierlich gestiegen war. 1961 waren 613.000 Puertoricaner in New York ansässig. Obwohl die Massenimmigration der Puertoricaner in New York in den 1960er Jahren allmählich abebbte, stellten sie dennoch eine demographisch wachsende Bevölkerungsgruppe dar, weil sie eine relativ hohe Geburtenrate (jede siebte Geburt) aufwies. Die gestiegene Zahl der Kinder, die in New York geboren sind und die billigen Flugverbindungen führten dazu, dass sich die Pendelbewegungen der Puertoricaner zwischen New York und Puerto Rico zu einem normalen Phänomen entwickelten (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 86, 93-97). Die puertoricanischen Immigranten konzentrierten sich weitgehend im Gebiet von Ost-Harlem, aus dem die Juden in den östlichen Teil des Stadtbezirkes Bronx, wo Einfamilienhäuser bzw. Zweifamilienhäuser waren, umgezogen sind. 20 % der Puertoricaner in New York waren schwarz. Unabhängig von der Hautfarbe Pluralismustheorie von Glazer und Moynihan <?page no="81"?> 72 lehnten es alle Puertorikaner ab, als Schwarze klassifiziert zu werden, während die einheimischen Schwarzen gegenüber den Puertoricanern und generell allen Immigranten aus Britisch-Westindien auf Distanz gingen. Obwohl über 85 % der Puertoricaner katholisch waren, spielte die Kirche eine relativ geringe Rolle bei der Familienplanung, so dass viele Frauen, die zur Entbindung ins Krankenhaus gingen, sich gleichzeitig sterilisieren ließen. Ein auffallendes Phänomen waren die fast 4.000 kleinen puertoricanischen Geschäfte in New York, die ausschließlich auf die Befriedigung ethnischer Bedürfnisse ausgerichtet waren. 1960 machte dennoch das durchschnittliche Einkommen der puertoricanischen Familien nur 63 % des Durchschnittseinkommens aller Familien in New York aus. Die überwiegende Mehrheit der Puertoricaner verfügte kaum über berufliche Qualifikationen. Ihre Arbeitslosigkeit war im Vergleich zu anderen ethnischen Gruppen wesentlich höher (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 92-93, 98-99, 112- 113, 116-117). Ein typisches Phänomen für die puertoricanischen Immigrantenfamilien war ihre Teilung, d.h. ein Teil der Familie blieb in Puerto Rico, während ein anderer Teil in New York war. Ein besonderes Merkmal bestand darin, dass die Zahl der Mütter mit Kindern stieg, die von ihren Ehemännern verlassen wurden. Aufgrund der Erwerbsarbeit der Mütter waren die Kinder überwiegend auf sich allein gestellt, so dass viele Verwahrlosungstendenzen, wie Kriminalität und Drogenprobleme, deutlich wurden. Insgesamt war die familiale Desorganisation eines der großen sozialen Probleme dieser Gruppe (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 120-123). 2.1.3 Die ethnische Gruppe der Juden (the Jews) Etwa 25 % der Bevölkerung und etwa ein Drittel der weißen und nicht puertoricanischen Bevölkerung New Yorks sind jüdisch. Diese enorme Konzentration ist die größte in der jüdischen Geschichte. Allein in New York machen die Juden zwei Fünftel aller Juden in den USA aus. Die Juden in New York und im Umland der Metropole stellen zusammen etwa die Hälfte der gesamten jüdischen Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="82"?> 73 Bevölkerung in den USA. Die erste jüdische Gruppe ist bereits 1654 in New York eingewandert und bestand aus den Sephardim- Juden aus Spanien und Portugal. Sie wurden auch als holländische Juden („Dutch“ Jews) bezeichnet, weil sie nach ihrer Vertreibung aus Spanien und Portugal gegen Ende des 15. Jahrhunderts nach Holland gekommen waren. Man nannte sie jedoch auch brasilianische Juden („Brazilian“ Jews), weil sie nach ihrer Vertreibung aus Holland nach Brasilien geschickt wurden. Sie hatten dort über Jahrzehnte eine große und wichtige jüdische Gemeinde gebildet. Die Synagoge, die diese erste jüdische Immigrantengruppe in New York gebaut hat und den Namen „Shearith Israel“ (das Überbleibsel Israels) trägt, steht heute im „Central Park West“ (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 138). Mitte des 19. Jahrhunderts immigrierte eine große Zahl deutscher Juden nach New York. 1880 waren etwa 80.000 Juden in New York ansässig, die etwa einen Anteil von 4 % an der Bevölkerung New Yorks ausmachten. Sie stammten aus Österreich, Böhmen, Ungarn und Deutschland. Die Mehrheit von ihnen arbeitete im Bereich des Einzelhandels (retail trade) und erreichte einen relativ ansehnlichen wirtschaftlichen Erfolg. In den 1880er Jahren fand dann eine weitere Massenimmigration der Juden aus Osteuropa statt, die unter anderem aus dem Russischen Reich (Russian Empire), Österreich, Ungarn und Rumänien stammten. 1910 lebten in New York bereits 1 Mio. Juden, die etwa einen Anteil von 25 % an der Bevölkerung ausmachten. Dieser Anteil an der Bevölkerung New Yorks ist bis heute in seiner Größenordnung erhalten geblieben. Die Immigration der osteuropäischen Juden in New York hielt mit einer vorübergehenden Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg bis zum Jahr 1924 an, in dem die US-Gesetze die Quotenregelung (the National Origins Act) eingeführt hatten, die die Einwanderung aus nicht nordwesteuropäischen Ländern massiv einschränkten. Die osteuropäischen Juden waren die Nachkommen der Jiddisch (spanischer Dialekt) sprechenden orthodoxen Juden. 1924 waren etwa 2 Mio. Juden in New York ansässig. Dabei unterschieden sich die aus Deutschland stammenden Juden sprachlich, religiös, kulturell und beruflich von den neu immigrierten osteuropäischen und orthodoxen Juden. Die Ersteren vertraten den Reformjudaismus. Trotz der genannten Unterschiede hielten die bei- Pluralismustheorie von Glazer und Moynihan <?page no="83"?> 74 den jüdischen Gruppen an ihrer jüdischen Identität fest und kooperierten miteinander, um gemeinsam ihre Interessen zu vertreten. So gründeten die wohlhabenden Juden aus Deutschland 1906 „The American Jewish Committee“, um die Interessen der osteuropäischen Juden zu verteidigen. 1917 wurde eine gemeinsame Organisation „Federation of Jewish Charities“ gegründet, um im sozial karitativen Bereich gemeinsam aktiv werden zu können (z.B. die finanzielle Unterstützung bei der Gründung des Staates Israel). Als 1920 eine neue Gruppe der Sephardim-Juden aus Griechenland und der Türkei, 1930 die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland und 1940 und 1950 die vertriebenen Juden aus Europa nacheinander in die USA immigrierten, konnten sie von einer gemeinsamen Organisation der amerikanischen Juden (American Jewish) empfangen und betreut werden. Die Mehrheit der amerikanischen Juden stammt aus Osteuropa. Sie besteht aus den orthodoxen Juden, die durch die gemeinsamen Erfahrungen von Isolation und Antisemitismus geprägt worden sind. Sie sind durch das gemeinsame Schicksal (the common fate) miteinander verbunden. Sie wissen sich, trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und Kultur, der jüdischen Gruppe (a single group) zugehörig (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 138-142). Die osteuropäischen Juden waren mehrheitlich erfolgreiche Geschäftsleute, die generell großen Wert darauf legten, dass ihre Kinder eine möglichst gute Ausbildung erhielten und qualifizierte Arbeitskräfte (professionals) wurden. Sie schafften es in erstaunlicher Weise und unabhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen, denen sie ausgesetzt waren, sich aus der unteren Arbeiterschicht herauszuarbeiten und in die Mittelschicht aufzusteigen. In New York war ein Siebtel der Regierungsangestellten jüdisch, fast 50 % der Lehrer (teaching force) und die Mehrheit der Schuldirektoren (school principals) waren jüdisch. Die jüdischen Geschäftsleute betrieben traditionell kleine Familienunternehmen und arbeiteten lieber selbständig, so dass sie kaum in großen Banken und Versicherungsgesellschaften zu finden waren. Selbst die qualifizierten jüdischen Fachleute arbeiteten eher selbständig und freiberuflich, weil ihnen in der Vergangenheit öffentliche Ämter nicht zugänglich waren. Dabei waren die jüdischen Geschäftsleute weniger akkulturiert als die jüdischen Fachleute, weil die Ersteren oft Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="84"?> 75 „self-made men“ waren, die in relativ enger Verbindung mit der jüdischen Gemeinde lebten, während die Letzteren durch ihre fachliche Ausbildung mehr akkulturiert wurden. Die jüdischen Geschäftsleute hatten besonders in den Bereichen der Bekleidungsindustrie (clothing manufacture), Kaufhäuser (department stores), Unterhaltung (entertainment / Filmindustrie) und Immobilien eine dominierende Stellung (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 146-154). Aufgrund des schnellen wirtschaftlichen Aufstiegs hatte eine große Zahl der Juden sozialen Zugang zu höheren gesellschaftlichen Kreisen. Die amerikanische Gesellschaft reagierte bei dieser Entwicklung mit der Ausgrenzung (exclusion) der Juden aus erlesenen sozialen Klubs, berühmten Schulen, aus der Nachbarschaft der höheren sozialen Schichten und angesehenen Berufen. Diese Exklusion erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1920 bis 1930. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sie nach, dennoch fühlten sich die Juden zunehmend ghettoisiert. Die residentiale Konzentration (z.B. the Forest Hills, the Bayside-Oakland Gardens, Central Queens) hatte zur Folge, dass interethnische Ehen der Juden mit Angehörigen anderer ethnischer Gruppen kaum vorkamen. Die Separation der orthodoxen Juden hat außerdem einen religiösen Hintergrund, der die Assimilation in die Gesellschaft durch ihre eigene Kleiderordnung, die spezifischen Bräuche und normierten äußeren Erscheidnungsoformen erschwerte. Politisch gehörten die Juden aufgrund ihrer liberalen Einstellung zu den traditonellen Wählern der Demokratischen Partei, während die weißen Protestanten traditionell die Republikanische Partei wählten (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 159-170). 2.1.4 Die ethnische Gruppe der Italiener (the Italians) Obwohl die Venezianer und Genuesen bereits im 19. Jahrhundert nach Spanien und Portugal emigriert sind, fanden die größten und dauerhaftesten Massenemigrationen der Italiener in der modernen Geschichte erst nach 1870 statt. Die Tatsache, dass aus einem Land so viele Menschen emigriert sind, ist einmalig. Diese Emigrationen bestanden aus den Bauern und landlosen Arbeitern, einer großen Pluralismustheorie von Glazer und Moynihan <?page no="85"?> 76 Zahl von Handwerkern und Bauarbeitern und einer kleineren Zahl von Facharbeitern, die auf der Suche nach Beschäftigung zunächst nach Frankreich, in die Schweiz und nach Deutschland ausgewandert sind. Von dort wanderten sie mit Franzosen und Briten weiter nach Nordafrika. Sie bauten die Eisenbahnlinien und Tunnel in Zentraleuropa, arbeiteten am Bau des Assuan-Staudamms, am Suezkanal sowie beim Bau von Häfen und Eisenbahnlinien in Tunesien und Algerien. Viele von ihnen arbeiteten dort als Steinmetze (stonecutters) und Maurer (masons) und wurden zu Facharbeitern, während sich Andere als Landwirte dort dauerhaft niedergelassen haben. Diese Migrationsbewegungen der Italiener durch Europa und im Mittelmeerraum wurden ab 1885 durch die transatlantischen Migrationen überlagert. Zwischen 1860 und 1900 floss ein großer Strom von italienischen Arbeitern und Bauern nach Argentinien. Sie bauten dort Eisenbahnstrecken, errichteten die Stadt Buenos Aires und kultivierten das Land, so dass sie de facto die Wirtschaft Argentiniens umgeformt haben. Die Hälfte aller Immigranten, die zwischen 1857 und 1926 nach Argentinien gekommen sind, waren Italiener. Zwischen 1884 und 1941 kam mehr als die Hälfte aller Immigranten in Brasilien aus Italien. Die wirtschaftlichen Krisen in Argentinien, Brasilien und Uruguay im 19. Jahrhundert haben dazu geführt, dass der Strom der italienischen Migranten von Südamerika in die USA umgeleitet wurde. Die Immigration der Italiener in Kalifornien bildete eine Ausnahme, weil hier die Italiener relativ zeitgleich wie in Südamerika mit Weinanbau und -produktion sowie Weinvermarktung begonnen haben. Dagegen waren die Anforderungen in New York und in anderen Industrie- und Handelsstädten im Nordosten der USA, wo sich eine große Zahl italienischer Immigranten niedergelassen hat, grundsätzlich verschieden zu denen im wenig entwickelten Nord- und Südamerika. Der nach 1900 beginnende neue Emigrationsstrom aus Süditalien und Sizilien, der von seinem Ausmaß her so groß war wie der aus Nord- und Zentralitalien, floss ausschließlich in die USA. Die italienischen Immigranten in New York stammten überwiegend aus Süditalien. Sie unterschieden sich kulturell von denen aus Nord- und Zentralitalien (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 182-183). Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="86"?> 77 Zwischen 1899 und 1910 immigrierten insgesamt 2,3 Mio. Italiener in die USA und davon stammten 1,9 Mio. aus Süditalien. 77 % der süditalienischen Immigranten waren Bauern und Arbeiter ohne berufliche Qualifikation. Dagegen waren nur 66 % der norditalienischen Immigranten Arbeiter ohne berufliche Qualifikation. Die Zahl der Facharbeiter bei den norditalienischen Immigranten war dreimal größer als die bei den süditalienischen. Die Hälfte der süditalienischen Immigranten waren Analphabeten, während das Analphabetentum bei den norditalienischen Immigranten nur 12 % betrug. Die süditalienischen Immigranten arbeiteten am Bau von Eisenbahnlinien und ersetzten die irischen Bauarbeiter. 1880 waren 44.000 Italiener in den USA und davon 12.000 in New York ansässig. New York war damit von Anfang an eine Stadt, in der sich die größste italienische Immigrantengruppe niedergelassen hat. In der Folgezeit haben sich etwa 25 % aller italienischen Immigranten in New York niedergelassen. Die Immigration der Italiener blieb bis zur Einführung der Quotenregelung in den USA (1924) mit zeitweiligen Schwankungen erhalten, so dass 1930 insgesamt 1,7 Mio. in den USA ansässig waren. In den 1950er Jahren immigrierten pro Jahr 15.000 bis 20.000 Italiener, ein Drittel davon hat sich in New York niedergelassen. 1930 bestand ein Sechstel der Bevölkerung New Yorks aus italienischen Immigranten, deren Anteil bis heute etwa erhalten geblieben ist. Sie sind nach den Juden die zweitgrößte ethnische Immigrantengruppe in New York (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 184-186). Für das Gemeinschaftsleben der Süditaliener spielten die Nachbarschaft (neighborhood) und die Familie (family) seit jeher eine zentrale Rolle. Die erste italienische Nachbarschaft, die 1920 in Ost-Harlem (East Harlem) entstanden ist, blieb bis heute in abgeschwächter Form erhalten, obwohl sich Schwarze und Puertoricaner rund um das Siedlungsgebiet der Italiener niedergelassen haben. Ähnlich blieben die Wohnbezirke von „North Bronx“, „Greenwich Village“ und „Staten Island“ weitgehend italienisch. Selbst die Kinder, die eine eigene Familie gründeten, blieben in der Nachbarschaft der Eltern. Der Wohnortswechsel war für die Süditaliener keine individuelle, sondern stets eine gesamtfamiliale Angelegenheit. Im Gegensatz zu der bleibenden Stärke der Nachbarschaft und Familie der Elterngeneration entwickelten die heran- Pluralismustheorie von Glazer und Moynihan <?page no="87"?> 78 wachsenden Kinder als zweite oder dritte Generation andere Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, so dass sie ihr Leben auf der Straße ausgelebt haben, wie das Buch „Street Corner Society“ von W. F. Whyte zutreffend beschreibt. Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen besteht darin, dass die italienische Kultur den männlichen Exhibitionismus, die männliche Stärke und sexuelle Potenz betont, die traditonell das Publikum von Nachbarschaft und Familie voraussetzten. Die nächtlichen Zusammenkünfte der Jugendlichen auf der Straße waren vor diesem kulturellen Hintergrund zu sehen. Dabei war für die italienische Nachbarschaft typisch, dass sie, wie die Dorfgemeinschaft in Italien (Italian village), stets eine geschlossene Gemeinschaft darstellte, die Fremde (strangers) generell ausschließt. Das Eindringen der Schwarzen und Puertoricaner in die New Yorker Wohngebiete der Italiener war für sie daher ein Ärgernis. (resentful). Der Zusammenhalt von Familie und Nachbarschaft der Süditaliener setzte sich in der Arbeitswelt fort, so dass die italienischen Arbeiter in der Regel in koethnischen Gruppen unter der Führung eines „padroni“ arbeiteten, der aus dem gleichen Dorf stammte wie sie selbst. 1897 wurde geschätzt, dass zwei Drittel aller italienischen Arbeiter in New York unter der Kontrolle von „padroni“ arbeiteten. Da das „padroni“-System oft zur Ausbeutung der Arbeiter führte, hatte die italienische Regierung versucht, die „padroni“ durch offizielle Regierungsbehörden zu ersetzen. Sie konnte dieses Vorhaben jedoch nicht durchsetzen, weil die Arbeiter dies nicht akzeptierten. Die nachbarschafts- und familienzentrierte Lebensweise der Süditaliener führte außerdem dazu, dass die Gründung von großen und überregionalen sozialen Hilfsorganisationen kaum möglich war, während dies bei anderen ethnischen Gruppen fast selbstverständlich realisiert wurde. Die Italiener in New York waren eher bereit, für die politischen Führungspersönlichkeiten aus dem eigenen Dorf kostpielige Statuen zu errichten, was für die anderen ethnischen Gruppen völlig abwegig war. Sie waren jedoch nicht in der Lage, eine gemeinsame und über die eigene Nachbarschaft hinausgehende überregionale karitative Organisation aufzubauen (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 186-194). Der ausgeprägte Familialismus der Italiener widersprach dem modernen Individualismus anderer ethnischer Gruppen. Tatsäch- Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="88"?> 79 lich waren Scheidungen (divorce), Trennungen (separation) oder Verlassen (desertion) der ehelichen Gemeinschaft bei den Italienern relativ selten. Gleichzeitig war es selten, dass die italienischen Männer und Frauen Junggesellen (bachelors) bzw Altjungfern (spinsters) bleiben. Selbst die Kriminalität der Italiener wäre nicht verständlich, wenn man den starken Zusammenhalt der Familie und Nachbarschaft nicht berücksichtigen würde. Auf der anderen Seite haben die Bauern in Süditalien stets die Erfahrung gemacht, dass den Behörden und Gesetzen nicht zu trauen war. Die Verletzung der Gesetze, die allgemein die Illegalität ausmacht, hat damit für sie eine relative Bedeutung. Die italienische Familie weist mit ihrem starken Zusammenhalt und in ihrer ungehinderten emotionalen Qualität viele Parallen zur jüdischen Familie auf. Ein Beispiel hierfür ist darin zu sehen, dass in beiden Gruppen kaum Alkoholismus vorkommt, obwohl der Weinkonsum in der Familie für beide Gruppen normal war. Diese Tatsache wurde durch die oft übertriebene emotionale Zuwendung (overprotection) der Mütter zu ihren Kindern erklärt. Ein Unterschied bestand jedoch darin, dass die jüdischen Kinder beim Übergang von der Familie in die Gesellschaft kaum Konflikte hatten, weil sie stets ein Teil der gesamten Gruppe waren, die die Stellung der Einzelnen bestimmt hat. Für sie war die Mobilität eine Mobilität der gesamten Gruppe. Dagegen hatten die italienischen Kinder wesentlich häifiger Konflikte, weil für sie die Mobilität stets eine individuelle Mobilität bedeutete, während umgekehrt ihre zugehörige Gruppe in ihrer Mobilität überaus langsam blieb. Die italienischen Kinder wurden durch Familie und Nachbarschaft stärker abgeschirmt, so dass sich ihre Assimilation langsamer vollzog. Bereits der Übergang von der Familie zur Schule brachte oft große Probleme mit sich, so dass die Lehrer von dem sog. „Italian problem“ sprachen. Außerdem betrachteten die süditalienischen Eltern die Erziehung der Kinder eher als notwendiges Mittel zur finanziellen Entlastung der Familie. Sie hatten daher wenig Verständnis für eine langdauernde Erziehung der Kinder (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 194- 202). Die kulturelle Betonung der Nachbarschaft und Familie bei den italienischen Immigranten in den ersten Dekaden der Massenimmigration hatte den sozialen und geistigen Einfluss der katholi- Pluralismustheorie von Glazer und Moynihan <?page no="89"?> 80 schen Religion weitgehend verdrängt, so dass viele Italiener der Kirche fernblieben bzw. aus der Kirche ausgetreten sind. Als in den 1950er Jahren, in der sog. Eisenhower-Epoche, die allgemeine Stimmung der amerikanischen Gesellschaft in den suburbanen Wohngebieten zu dem Meinungsbild führte, dass jeder Mensch eine Religion haben müsse, veränderte sich die Haltung der Italiener gegenüber der katholischen Kirche. Ihre wachsende Mittelschicht entdeckte plötzlich in der Zugehörigkeit zur ethnisch gemischten römisch-katholischen Kirche ein neues Statussymbol für die amerikanische Mittelschicht. Dadurch bekam der suburbane Katholizismus eine wichtigere Bedeutung als die Kirche in der Nachbarschaft. Er stellte eine spezielle Variante des „melting pot“ dar, in dem die traditionelle Rivalität zwischen Italienern und Iren nach und nach nivelliert wurde. Er integrierte unterschiedliche ethnische Gruppen in einer neuen Identität des amerikanischen Katholizismus. Die Heirat mit einer Frau irischer Herkunft, die eine gute katholische Schule besucht hat, galt als ein signifikantes Symbol des aufsteigenden sozialen Status. Für die Italiener hatte eine solche Heirat große symboliche Bedeutung, die die Diskriminierung durch die protestantisch-amerikanische Gesellschaft ausgleicht (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 202-204). Wirtschaftlich und residentiell hat sich die zweite Generation der italienischen Immigranten gegenüber der Elterngeneration kaum verbessern können, während der soziale und wirtschaftliche Unterschied zwischen der zweiten und dritten Generation wesentlich bedeutsamer ins Gewicht fiel. Die Enkelkinder der italienischen Immigranten haben den sozialen Aufstieg in die qualifizierten Berufe der Weißen geschafft, ebenso wie die Enkelkinder der jüdischen Immigranten es vor ihnen geschafft haben. Während die dritte Generation der jüdischen Immigranten aufgrund ihrer qualifizierten Ausbildung zunehmend den Einzug in die Hierarchiebene des Managements großer Konzerne erreicht hat, ist dieser Einzug den italienischen Immigranten der dritten Generation noch verwehrt geblieben. Im Gegensatz zu den Juden verfügten die Italiener nicht über ethnische Organisationen, die die Interessenvertretung ihrer Gruppe in der Gesellschaft übernehmen können. Die Italiener sind auch im politischen Bereich relativ wenig vertreten, obwohl ihre Bevölkerung zahlenmäßig die zweitgrößte Gruppe ist. Politik und Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="90"?> 81 Wirtschaft werden weitgehend von der irirschen Gruppe dominiert (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 206-210). 2.1.5 Die ethnische Gruppe der Iren (the Irish) Die Emigration der Iren nach Nordamerika begann bereits im 17. und 18. Jahrhundert. Sie wurde überwiegend von den Protestanten mit englischen oder schottischen und in geringem Umfang auch mit keltisch-irischen Vorfahren gebildet. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann dann die Emigration der katholischen Bevölkerung Irlands nach Nordamerika. Die große irische Immigration in New York fand erst in der Zeit von 1846 bis 1850 statt, in einer Zeit der großen Hungersnot (the Great Famine) in Irland. 1850 waren in New York 133.730 irische Immigranten, die einen Anteil von 26 % an der Stadtbevölkerung ausmachten. Dieser Anteil stieg bis 1855 auf 34 % an. 1890 bestand 80 % der Bevölkerung New Yorks aus Immigranten (1.215.463), von denen ein Drittel (409.924) aus Irland stammte (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 219-221). Die irischen Immigranten im New York des 19. Jahrhunderts waren nicht nur Wähler der Demokratischen Partei, vielmehr spielten sie auch bei der Organisation der hierarchischen und bürokratischen Strukturen der Demokratischen Partei eine aktive Rolle. Sie waren erfolgreich in der Politik, konnten jedoch ihre politischen Chancen auf Regierungsebene nicht ausbauen, weil sie es aufgrund ihrer starken Neigung zum Parochialismus nicht verstanden hatten, die Politik als Mittel sozialer Veränderungen zu sehen (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 222, 226, 229). Die irischen Immigranten in New York haben, wie in anderen Orten auch, für ihre katholische Kirche immense Opfer gebracht, um sie zu einer ansehnlichen Organisation auszubauen. 1963 war ihre religiöse Organisation mit 43.851.000 Mitgliedern die größte des Landes. 1960 lebte allein in New York 1 Mio. irische Katholiken. Ihnen war es jedoch nicht gelungen, eine lebendige intellektuelle und kreative Kultur und Tradition aufzubauen, was bei der Größe der Organisation durchaus zu erwarten gewesen wäre. Obgleich sich viele im kirchlichen Bereich engagierten, gingen aus Pluralismustheorie von Glazer und Moynihan <?page no="91"?> 82 diesen Reihen nur wenige Intellektuelle und politische Führungspersönlichkeiten hervor. Vielleicht liegt dies in der Geschichte der katholischen Kirche Irlands begründet. Sie wurde im 17. und 18. Jahrhundert durch die englische Übermacht weitgehend zerstört, so dass zwar der Glaube erhalten blieb, ihre Institutionen jedoch praktisch verschwanden. Die irisch-katholische Kirche war insofern mit der traditionellen Organisationsstruktur der römisch-katholischen Kirche nicht vergleichbar. Sie entwickelte England gegenüber Aversionen. Ihre Führungspitze identifizierte sich vielmehr mit der Freiheitsidee der französischen Revolution, die die Vorstellung der religiösen Unabhängigkeit unterstützte. Sie war insgesamt defensiv, insularisch und parochial. Die irischen Kleriker in New York waren von Anfang an konservativ orientiert. Die irisch-katholische Kirche in New York befand sich außerdem in anhaltenden Konflikten mit den liberalen Protestanten. Dieses zeigte sich auch in der geringen Bereitschaft, im Gegensatz zu der Position der Protestanten, die Abschaffung der Skalverei in den USA zu unterstützen. Als sich die Protestanten nach dem Bürgerkrieg mit sozialen Reformen befassten, blieben die irischen Katholiken abseits solcher Reformbemühungen. Sie entwickelten eher separatistische Tendenzen (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 230-233). Es gibt sicherlich eine irische Identität (Irish identity) in Amerika. Sie nimmt jedoch zunehmend ab (decline), weil die irische Immigration deutlich zurückgegangen ist und weil sie kaum durch den kulturellen Einfluss aus dem Ausland gestärkt wurde. Die erste Generation der irischen Immigranten stirbt allmählich aus. Selbst irische Lokale werden nach und nach geschlossen, weil sie mit den anderen ethnischen Gruppen (z.B. Italiener) nicht mithalten können. Die irischen Immigranten und ihre Nachfahren wurden auf alle Schichten verteilt und von der amerikanischen Gesellschaft absorbiert, so dass sie kaum die Notwendigkeit hatten, sich mit der irischen Vergangenheit auseinander zu setzen. Selbst die Mitglieder der „The American Irish Historical Society“, die 1897 in New York gegründet wurde, um die irische Rolle für die amerikanische Gesellschaft besser zu verdeutlichen, interessieren sich zunehmend weniger für die Geschichte Irlands. Die Iren sind traditionell stark im Bereich des Rechts- und Bankenwesens vertreten. Auf der „Wall Street“ haben namhafte irische Rechtsanwaltskanzleien und Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="92"?> 83 große Banken ihren Sitz. Dennoch war der Erfolg der Iren im Vergleich zu dem anderer ethnischer Gruppen eher bescheiden. Die Engländer und Niederländer, die früher als die Iren nach New York immigriert sind, gehörten fast ausschließlich der Mittelschicht an. Die Deutschen, die zeitgleich mit den Iren immigriert sind, gehören weitgehend zur Mittelschicht, ebenso wie die Juden, die später als die Iren nach New York kamen. Die Mehrheit der Iren hat zwar den Aufstieg aus der Arbeiterklasse geschafft, blieb jedoch auf der nächsthöheren Stufe stehen. Während sich der Aufstieg der Juden außerordentlich schnell vollzog, war der der Iren außerordentlich langsam (exeptionally slow). Der Anteil der Iren unter den Alkoholabhängigen (alcohol addiction) und unter den durch Alkohol verursachten psychisch Erkrankten lag in New York mit 25,6 % am höchsten. Eine allgemein akzeptierte Erklärung wurde aus der irischen Kultur abgeleitet, die generell die Sexualität unterdrückt (suppressed sexuality) und dadurch zum Aggressionsstau geführt haben soll. Untersuchungen in New York belegten, dass der Alkoholismus bei den Nachkommen der Iren 74 mal häufiger als Ursache einer Psychose identifiziert wurde als bei den Nachkommen der Juden (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 250 -252, 255-258). Die Reduzierung der irischen Bevölkerung in New York ging mit dem Verlust ihrer politischen Macht (decline of the political power) einher. 1890 bestand ein Drittel der Bevölkerung New Yorks aus irischen Immigranten. 1960 machten dagegen die erste und zweite Generation nur noch 312.000 der Stadtbewohner aus. Viele irische Immigranten sind in das Umland New Yorks umgezogen, während ein großer Teil derjenigen, der in New York geblieben war, zu Wählern der Republikanischen Partei wurden, so dass ihr politischer Einfluss gespalten und damit geschwächt wurde. Viele Iren konnten zwar Führungspositionen in der Politik einnehmen, aber die irische Bevölkerungsbasis wurde immer geringer. Die politische Zukunft der irischen Bevölkerung wird somit entscheidend von der katholischen Kirche abhängen, die bisher im Wesentlichen eine irisch-katholische Kriche war. Dabei wird die Kursbestimmung der katholischen Erziehung (the course of Catholic education) und des intellektuellen Lebens (intellectual life) eine entscheidende Rolle spielen, da die katholische Kirche eine in der Ge- Pluralismustheorie von Glazer und Moynihan <?page no="93"?> 84 schichte beispiellose Institution darstellt, die das gesamte Erziehungssystem abdeckt. Bisher hat die katholische Kirche einen signifikanten Einfluss auf das konservative Denken (conservative thought) Amerikas ausgeübt. Die irischen Katholiken, die diese traditionelle Erziehung erhalten haben, haben die konservative Meinung Amerikas im Geiste der katholischen Doktrin der individuellen Verantwortung, des individuellen Rechts und der Eingrenzung der staatlichen Macht (limitations on the power of the state) vertreten. Insgesamt scheint jedoch die Epoche der irischen Hegemonie in New York der Vergangenheit anzugehören (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 262-263, 274-276, 286-287). Die Idee des „melting pot“, die Israel Zangwill durch sein Drama populär gemacht hat, entspricht weder der Realität Amerikas noch der ethnischen Realität der Stadt New York. Sicherlich haben sich viele Individuen assimiliert, jedoch sind die ethnischen Gruppen erhalten geblieben. Die Verschmelzung der ethnischen Gruppen im Schmelztiegel zu einer religionslosen und homogenen Gesellschaft ist nicht eingetreten. 8 Jahre nach der Aufführung seines Dramas „The Melting Pot“ hat Zangwill, der sich intensiv für den Zionismus engagiert hatte, seine Position zur rassischen und religiösen Vermischung (racial and religious mixture) zurückgenommen. Es ist beeindruckend, dass im Jahre 1963, also 40 Jahre nach dem Ende der Massenimmigration aus Europa, die ethnischen Muster (ethnic pattern) in der Stadt New York so deutlich geblieben sind. Die ethnische Differenzierung (ethnic diffrentiation) ist tief im sozialen Leben der amerikanischen Gesellschaft verankert. Dabei werden ihre konkreten Formen entscheidend von den spezifischen Ereignissen der jeweiligen Generation bestimmt. Bezogen auf die Stadt New York sind einige markante Entwicklungen zu nennen, die die ethnische Differenzierung der Stadt in der letzten Generation bestimmt haben und diese auch in naher Zukunft weiterhin bestimmen werden (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 288-292). Der erste dieser Prozesse bestand in der Entstehung der jüdischen Gemeinde von New York unter dem Einfluss der Judenverfolgung in Europa und der Entstehung des Staates Israel. New York ist zu einem Viertel jüdisch, d.h. mehr als ein Viertel des Reichtums, der Talente, Energien und Lebensstile in New York werden durch Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="94"?> 85 Juden bestimmt. Die jüdische Gemeinde in New York hat in den letzten 30 Jahren einen tiefgehenden emotionalen Prozess durchlebt, indem sie aufgrund der jüdischen Immigration und Involvierung in den Zionismus fast ausschließlich mit dem Judentum (Jewishness) beschäftigt war. Dabei ist die jüdische Gemeinde (Jewish community), die aus einem Bevölkerungsanteil von 2 Mio. Juden besteht, durch zwei historischen Ereignisse entscheidend geprägt worden. Eines dieser Ereignisse war die Revolution in Russland, bei der die russischen Juden eine prominente Rolle gespielt haben. Dieses Ereignis hat einen Teil der jüdischen Gemeinde in New York zu einem politischen Radikalismus angestiftet, so dass in den 1930er Jahren eine kleine Minderheit Mitglieder der kommunistischen Partei wurden, obwohl die Mehrzahl der Juden weder zum Sozialismus noch zum Kommunismus tendiert. Gleichzeitig waren die Juden New Yorks stark in den zionistischen Bewegungen (Zionist movement) involviert, die im Zusammenhang mit der Judenverfolgung durch den Nationalsozialismus, der Vertreibung der Juden in Europa und der Gründung des Staates Israel große Aktualität gewonnen hatten. Diese Ereignisse haben über alle religiösen Rivalitäten hinweg die jüdischen Gruppierungen zu einer solidarischen Gemeinschaft zusammengeschweißt. Die jüdische Gemeinde in New York trat offen für die rassische Integration und für die Toleranz gegenüber allen ethnischen Gruppen ein. Allerdings hatte diese Haltung nichts mit der Vision des „melting pot“ von Zangwill gemein. Im Gegenteil waren alle politischen, wirtschaftlichen und bildungspolitischen Aktivitäten der jüdischen Gemeinde auf die Intensivierung der jüdischen Identität (jewish identity) gerichtet. Die genannten Ereignisse haben die jüdische Gemeinde zwar nicht gegründet, sie haben diese jedoch entscheidend geformt (shaped) und zur Belebung des Judentums beigetragen. Nun wird die jüdische Gemeinde ihrerseits entscheidend die Stadt New York prägen (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 292-294). Eine weitere Entwicklung in New York wurde durch die Entstehung der katholischen Gemeinde gekennzeichnet, die auf die Kontroversen über die staatliche Untersützung katholischer Schulen (government aid to Catholic schools) zurückgeht. Die Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen Staat und Kirche war für die Pluralismustheorie von Glazer und Moynihan <?page no="95"?> 86 amerikanische katholische Kirche nicht neu. Neu war jedoch die Tatsache, dass sie durch die Unstimmigkeiten (disagreement) zwischen Juden und Katholiken verschärft wurden. Die Beziehungen zwischen den Katholiken und Protestanten sind besser geworden. Beide Konfessionen vertraten die Auffassung, dass die Vereinigten Staaten ein „Christian Commonwealth“ sein sollte, während die Juden umgekehrt eine stärkere Trennung von Staat und Kirchen verlangten. Dies ging soweit, dass Eltern jüdischer Schüler geklagt hatten, das Sprechen christlicher Gebete in öffentlichen Schulen zu verbieten. Am 25. Juni 1962 hat das oberste Gericht der USA dieser Klage stattgegeben und das Beten in öffentlichen Schulen als nicht verfassungskonform erklärt. Weiterhin ist die Mehrheit der Juden gegen die staatliche Unterstützung der katholischen Schulen. Damit werden die konfessionellen Schulen zu ethnischen Angelegenheiten, was sich nachteilig auf die ethnischen Gruppen (z.B. Iren, Italiener, Polen) auswirkte. Hier wird die Tatsache deutlich, dass zwei große Religionsgemeinschaften in New York nebeneinander leben, die unterschiedliche Vorstellungen zur religiösen Ausrichtung öffentlicher Schulen haben (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 294-299). Die Beziehungen zwischen Juden und Katholiken in New York sind ethnischer Art. Etwa 22 % der Bevölkerung New Yorks besteht aus Schwarzen und Puertoricanern. Sie bilden die Gruppe der Proletarier, die unterdrückt und ausgebeutet wird. Es ist unglaublich, dass inmitten einer der reichsten Städte der Welt eine Demarkationslinie verläuft, die nach Hautfarbe und ethnischer Zugehörigkeit gezogen ist. Die wirtschaftlichen Bedingungen verstärken hier die ethnischen Unterschiede, die zur Ausgrenzung der Schwarzen und Puertoricaner führen. Damit sind vier Gruppen in New York zu unterscheiden: Die Juden, die Katholiken, die in eine italienische und irische Gruppe zu unterteilen sind, die Schwarzen und Puertoricaner und schließlich die weißen anglosächsischen Protestanten. Dabei bilden Religion (religion) und Rasse (race) die zwei entscheidenden Faktoren der Gruppenbildung, in die nationale und ethnische Elemente integriert und nivelliert werden. Sie werden die nächste Stufe der Evolution der amerikanischen Gesellschaft bestimmen (vgl. Nathan Glazer, Daniel Patrick Moynihan, 1963, 299-301, 314-315). Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="96"?> 87 2.2 Stephen Steinberg Mythos des ethnischen Pluralismus Klasssenbildung und Verschmelzung ethnischer Gruppen in Rassen- und Religionsgruppen in Amerika (The Ethnic Myth Race, Ethnicity, and Class in America, 1989. 302 S.) In den späten 1960er Jahren ist das „ethnische Fieber“ (ethnic fever) in den USA ausgebrochen. Rassische und ethnische Minderheiten (racial and ethnic minorities) haben ihre Ethnizität neu entdeckt und versucht, die Bindungen zu ihrer kulturellen Vergangenheit zu beleben und bekräftigen. Dieses „Fieber“ war auf den Nationalismus der Schwarzen zurückzuführen und steckte schnell andere rassische Minderheiten (z.B. Chicanos, Puertoricaner, Asiaten, Indianer) an, die bis dahin nur eine lockere Koalition unter dem Banner der Dritten Welt gebildet hatten. Es erreichte auch die weißen Minderheiten europäischer Herkunft (z.B. Juden, Iren, Italiener, Polen). Diese Minderheiten, die über Jahrzehnte die Integration in den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen „mainstream“ der USA angestrebt hatten, lehnten nun die Assimilation radikal ab und bekräftigten das Recht, eine für jede ethnische Gruppe eigentümliche und separate Identität (a separate identity) und Solidarität (solidarity) in der pluralistischen Nation zu bewahren und zu fördern. Dadurch wurde dem Pluralismus sowohl im politischen als auch im symbolisch nationalen Sinn eine verspätete Legitimation verliehen. Die ganze Nation schien die anglosächsische Vormachtstellung (Anglo-Saxon supremacy) in Frage zu stellen und dazu überzugehen, sich als eine Nation von Nationen (a nation of nations) zu verstehen. In diesem Klima der Toleranz proklamierte eine Vielzahl von Publikationen inner- und außerhalb der Universitäten, dass die ethnischen Gruppen in dem legendären Schmelztiegel (the legendary melting pot) überlebt haben. Diese Publikationen sagten gleichzeitig eine verheissungsvolle Zukunft für die Ethnizität voraus (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 3-4). Kritische Bewertung der Pluralismustheorie durch Steinberg <?page no="97"?> 88 Der ethnische Pluralismus in Amerika hat seinen Ursprung in der Eroberung (conquest), Sklaverei (slavery) und Ausbeutung (exploitation) ausländischer Arbeitskräfte (foreign labor). Die eingeborenen Amerikaner (Indianer) wurden durch Eroberung systematisch entwurzelt, dezimiert und in Reservate deportiert. Das Land der Mexikaner im Südwesten des nordamerikanischen Kontinents wurde erobert und annektiert. Millionen von Afrikanern wurden aus ihren Heimatländern verschleppt und zur Fronarbeit auf einem anderen Kontinent gezwungen. Millionen von Immigranten wurden importiert, um das Land zu bevölkern und billige Arbeitskräfte für die industrielle Entwicklung zu gewinnen. Es ist sachlich notwendig, diese negative Ausgangsbasis in der Entwicklung des Pluralismus darzustellen, um verstehen zu können, warum alle Minderheiten für die Bewahrung ihrer ethnischen Identität und Institutionen kämpfen mussten (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 5-6). Im Gegensatz zur europäischen Kolonialisierung in Asien und Afrika, hatten die europäischen Kolonialmächte in Amerika keine große einheimische Bevölkerung vorgefunden, die hätte ausgebeutet werden können. Dieser Mangel an Bevölkerung hat unterschiedliche Implikationen für die verschiedenen Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung Amerikas. Vor diesem Hintergrund war es der Prozess der sukzessiven Bevölkerungsaggregation, in dem die amerikanische Nation die rassische und ethnische Vielfalt (racial and ethnic diversity) erhalten hat, die heute für die amerikanische Gesellschaft charakteristisch ist. Dabei sind vier Phasen der nationalen Entwicklung zu unterscheiden. In jeder dieser Phasen hat sich das ethnische Profil (ethnic profile) der US-Bevölkerung verändert (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 6). Die erste Phase bestand in der Besiedlung (settlement) des Landes. Die frühen kolonialen Siedler waren überwiegend Briten. Auch nach der Unabhängigkeit der Kolonien von Britanien war die Bevölkerung homogen. 1790 waren 61 % der US-Bevölkerung englischer und 17 % schottischer und irischer Abstammung. Damit stammten drei Viertel der Bevölkerung der USA von den britischen Inseln. Selbst die wenigen nicht britischen Siedler (z.B. Deutsche, Niederländer, Skandinavier) hatten eine kulturelle Affinität zur englischen Mehrheit. Noch bedeutsamer war die Tatsache, dass 99 % der ersten weißen Siedler protestantisch waren. In der ersten Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="98"?> 89 Zeit der Ansiedlung war somit die Bevölkerung der USA ethnisch und religiös homogen, so dass die Nation aus der weißen protestantischen Bevölkerung anglosächsischer Herkunft bestand. Obwohl die Gründerväter (founding fathers) großen Wert auf die homogene Herkunft der kolonialen Siedler gelegt hatten, waren die britischen Siedler gezwungen, Immigranten anderer ethnischer Herkunft ins Land einwandern zu lassen, weil einerseits die Zahl der britischen Immigranten zurückging und andererseits die Knappheit an Arbeitskräften die wirtschaftliche Entwicklung und Erschließung des Landes beeinträchtigte. Die erste Maßnahme zur Gewinnung weißer Arbeitskräfte bestand in der Einführung des Systems der „indentured servitude“. Dabei verpflichteten sich die Vertragsarbeiter freiwillig und rechtsverbindlich für die Dauer von 7 Jahren zur Arbeit, um die von dem Arbeitgeber übernommenen Transportkosten zu tilgen. Diese ökonomisch induzierte Toleranz gegenüber den Immigranten nicht britscher Herkunft löste jedoch nativistische Bewegungen in den USA aus, die die Zielsetzung verfolgten, das anglosächsische und protestantische Vermächtnis der Gründerzeit zu verteidigen (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 6-13). Die zweite Phase bestand in der territorialen Expansion der kolonialen Siedler. Unzählige Kriege wurden gegen die Indianer (the endless series of Indian wars) geführt, um das Land gewaltsam zu enteignen. Mit jedem Krieg wurden die Indianer zu einem Friedensvertrag genötigt, der sie gezwungen hat, einen großen Teil des Landes abzutreten. Dafür gaben die weißen Siedler ihr Versprechen, das Selbstbestimmungsrecht über das Restland nicht anzutasten. Solche Verträge waren jedoch faktisch wertlos, weil sie kaum eingehalten wurden. Der Landhunger (land hunger) der weißen Siedler war zu groß. Die brutale Vertreibung der Tscherokesen (Cherochee / nordamerikanischer Indianerstamm) aus ihrem angegestammten Territorium kann als historisches Beispiel stellvertretend für alle anderen Indianerstämme die erbarmungslose Landenteigung dokumentieren. Das Heimatland der Tscherokesen erfasste die gebirgigen Regionen zwischen den US-Staaten Georgia, Tennessee und North Carolina, deren großer Teil (Millionen Morgen Land) bereits vor und nach der Revolution von Weißen enteignet wurde. Die Wahrung der Souveränität der restlichen Gebiete ist durch den Vertrag von 1791 von den Vereinigten Staaten Kritische Bewertung der Pluralismustheorie durch Steinberg <?page no="99"?> 90 feierlich anerkannt und zugesichert worden. Die Tscherokesen waren insofern eine einzigartige Indianergruppe, weil sie nicht nur eine eigene Schriftsprache, sondern seit 1827 auch eine eigene Verfassung hatten, die nach dem Verfassungsmuster der angrenzend lebenden weißen Bevölkerung entworfen wurde. Die Tatsache, dass sie an der Seite der Amerikaner 1812 im Krieg gegen Großbritanien gekämpft hatten, wurde nicht honoriert. Vielmehr wurde ihr Land von den weißen Siedlern begehrt, weil 1829 dort Gold gefunden wurde. Besonders bemerkenswert war die Tatsache, dass sie nicht nur gewaltsam, sondern auch durch formal-rechtliche Beschlüsse der höchsten politischen und juristischen Institutionen vom Land ihrer Vorfahren vertrieben wurden. 1823 wurden die bestehenden Verträge zur Souveränität der Tscherokesen über ihr Land durch ein Urteil des höchsten Gerichts (Suprime Court) annulliert. Auf der Basis dieses Urteils hat der US-Staat Georgia alle Statuten der Tscherokesen, die das Entäußern des eigenen Landes verboten hatten, für ungültig erklärt. Daraufhin baten die Tscherokesen bei der Bundesregierung (federal government) um Hilfe zum Schutz ihres Landes. Die offizielle Antwort lautete, dass der Präsident der Vereinigten Staaten keine Macht hat, das Land der Tscherokesen vor dem Gesetz des Staates Georgia zu verteidigen. 1830 verabschiedete der US-Kongress das Gesetz zur Umsiedlung der Indianer (the Removal Act), das den Präsidenten ermächtigte, die Tscherokesen in das Gebiet östlich des Mississippi deportieren zu lassen. Dieses Gebiet wurde von weißen Siedlern wegen seiner Trockenheit aufgegeben und zum Indianerreservat erklärt. 1838 sind etwa 12.000 Tscherokesen gewaltsam zusammengetrieben und zu einem anstrengenden Wintermarsch nach Kansas gezwungen worden. Schätzungsweise sind 2.500 Tscherokesen bei der Gefangennahme und weitere 1.500 auf dem Marsch nach Kansas, der als „Pfad der Tränen“ (Trail of Tears) bezeichnet wurde, ums Leben gekommen (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 13-17). 1880 fand der letzte Krieg gegen die Indianer statt. Die Überlebenden wurden im Indianerreservat interniert. Zwischen 1800 und 1850 wurde die indianische Bevölkerung von 500.000 auf 250.000 halbiert. Die Verwaltung des Indianerreservats übernahm die Regierungsbehörde „Bureau of Indian Affairs“, die durch verschiedene Maßnahmen bemüht war, die Indianer schnell in die amerika- Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="100"?> 91 nischen Gesellschaft zu assimilieren. De facto wurde dadurch die Entfremdung der Indianer von ihrer eigenen Kultur beschleunigt. Die Enteignung des indianischen Grundbesitzes setzte sich im 20. Jahrhundert fort. Nun finden die Kämpfe um das Land im Indianerreservat selbst statt. Ironischerweise stellte sich heraus, dass die Gebiete, die vor einem Jahrhundert von den Weißen als unfruchtbar aufgegeben und den Indianern überlassen wurden, überaus reich an Bodenschätzen sind. 50 Mio. Morgen Land im indianischen Besitz enthalten ein Drittel des Kohlevorkommens, die Hälfte des gesamten Uranvorkommens der USA sowie große Ölquellen. Heute dringen daher nicht die weißen Siedler, sondern die multinationalen Konzerne mit den Waffen der modernen Industrietechnologie in das Indianergebiet ein. An Stelle der einstigen Kavallerie kommen heute Bürokraten mit weißem Kragen und versuchen mit List und Betrug das Nutzungsrecht über das Indianerland auszuhandeln. Die Tötung der Indianer geht heute mit anderen Mitteln weiter, nämlich durch Armut, Krankheit, Vernachlässigung und Hunger, wie „The New York Times“ berichtete (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 18-21). Die Indianer waren nicht die einzige ethnische Gruppe, die von der landhungrigen Nation verschlungen (be engulfed by a landhungry nation) wurde. Auch die mexikanischen Gebiete wurden von den USA erobert und annektiert. Die Eroberung (conquest) ist nur der erste zerstörerische Schritt in einer langen Geschichte der Enteignung (expropriation). Die moralische und ideologische Rechtfertigung (the moral and ideological justification) der Annektion bestand in der Argumentation, dass die Mexikaner degenerierte und rückständige Menschen (backward people) seien, die das Land und seine Ressourcen vergeuden. 1846 provozierten die USA Mexiko zu einem Krieg. Nach der Einnahme der Stadt Mexiko wurden die Einwohner gezwungen, die Hälfte ihres Territoriums, das etwa ein Gebiet von Deutschland und Frankreich ausmachte, abzutreten. Heute umfasst dieses Gebiet die US-Staaten Arizona, Kalifornien, Nevada, New Mexiko, Utah, die Hälfte von Colorado und den Teil von Texas, der bis dahin noch nicht annektiert war. Etwa 80.000 Mexikaner lebten in diesem Gebiet, deren Mehrheit sich dafür entschieden hat, die US-Staatsbürgerschaft anzunehmen, die der Friedensvertrag von 1848 angeboten hat. Trotz der Schutzklausel für Kritische Bewertung der Pluralismustheorie durch Steinberg <?page no="101"?> 92 die Eigentumsrechte (property rights) der Mexikaner im Friedensvertrag wurde ihr Land nach und nach enteignet. Als 1848 in Kalifornien Gold entdeckt wurde, wurden die spanischsprechenden Minenarbeiter aus den Bergwerken vertrieben. Andererseits wurden mexikanische Arbeiter dann zur Arbeit rekrutiert, wenn Knappheit an Arbeitskräften herrschte, wie dies z.B. in der Zeit der beiden Weltkriege der Fall war (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 21-24). Die dritte Phase bestand in der landwirtschaftlichen Entwicklung (agricultural development). Im Gegensatz zu Europa existierte in Amerika weder eine Überschussbevölkerung (surplus population) noch eine Klasse der Leibeigenen (class of serfs), die als billige Arbeitskräfte zur Landwirtschaft hätten herangezogen werden können. Da die Indianer, unabhängig von ihrer relativ geringen Zahl, generell für die landwirtschaftliche Arbeit ungeeignet waren, sahen die weißen Siedler im Import afrikanischer Sklaven die Möglichkeit, billige Arbeitskräfte für die arbeitsintensive, aber für die Exportwirtschaft wichtige Baumwollproduktion zu finden. Als der Baumwollexport ab 1790 dramatisch anstieg, wurde die gesamte Landwirtschaft im Süden der USA auf die monokulturelle Produktion von Baumwolle umgestellt. Diese Transformation der Landwirtschaft war nur möglich, weil die Arbeitskraft der Sklaven (the slave labor force) dafür eingesetzt wurde. 1860 arbeiteten auf den Baumwollplantagen 2,34 Mio. afrikanische Sklaven, zwei Drittel aller Sklaven im Süden. Der Anbau und Export der Baumwolle war nicht nur für die Südstaaten, sondern für das Land insgesamt zu einem wachstumsorientierten wirtschaftlichen Faktor geworden. 1860 machte der Baumwollexport nach England einen Anteil von 60 % an dem gesamten amerikanischen Export aus. Umgekehrt brachte der Textilimport von England ein Drittel des gesamten amerikanischen Imports. Damit rückte die Baumwolle (cotton) in den Mittelpunkt des anglo-amerikanischen Handels. Die Entstehung der Textilindustrie im England des 19. Jahrhunderts und zeitlich versetzt auch in den USA, hat die parallele Entwicklung des Transportwesens, der Schiffs- und Hafenbauindustrie sowie der Banken- und Versicherungssysteme beschleunigt, so dass Karl Marx zu der Festellung kam, dass ohne Sklaven keine Baumwolle und ohne Baumwolle keine Industrialisierung möglich gewesen wäre. Ähnlich wie bei der Ausbeutung der Indianer wurde die Aus- Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="102"?> 93 beutung der afrikanischen Sklaven mit der Rassenideologie legitimiert, die die Afrikaner als rassisch minderwertige Menschen definierte, für die eine diskriminierende Behandlung durchaus angemessen sei (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 24-31). Die vierte Phase der nationalen Entwicklung bestand in der industriellen Entwicklung. Die Expansion des Binnenhandels in den USA ab 1815 hat zu einer territorialen Arbeitsteilung geführt, so dass die landwirtschaftlichen Exportgüter im Süden, die Nahrungsmittel im Westen und Industriegüter im Osten produziert wurden. Dabei herrschte in allen Regionen ein akuter Arbeitskräftemangel. Während die Landwirtschaft im Süden auf die Arbeitskraft der Sklaven angewiesen war, waren der Norden und Westen auf die Arbeitsmigranten aus Europa angewiesen. Zwischen 1840 und 1880 immigrierten über 8 Mio. Menschen überwiegend aus Nordeuropa (z.B. Briten, Deutsche, Iren und Skandinavier) und zwischen 1880 und 1930 immigrierten über 23 Mio. Menschen überwiegend aus Südeuropa (z.B. Italiener, Polen, russische Juden). Die sinkende Nachfrage nach Arbeitskräften in Europa, bedingt durch die Industrialisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft, die damit verbundene Freisetzung der Arbeitskräfte und das Bevölkerungswachstum aufgrund sinkender Sterberaten waren die wesentlichen Ursachen für diese Massenimmigration der Europäer. Es ist schwierig einzuschätzen, welche Rolle die Massenimmigration aus Europa für die Industrialisierung der USA gespielt hat. Die „Dillingham Commission“ kam 1910 zu der Schlussfolgerung, dass die wirtschaftliche Expansion der USA in den letzten zwei Dekaden ohne immigrierte ausländische Arbeitskräfte nicht möglich gewesen wäre. In der Tat, hätten die USA die hohe Anzahl an Immigranten kaum zugelassen, wenn nicht ein massiver Bedarf an Arbeitskräften vorhanden gewesen wäre. Mit anderen Worten: Amerika brauchte die Immigranten als Arbeitskräfte, umgekehrt brauchten die Immigranten Amerika als Einwanderungsland (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 31-40). Die skizzierte Aggregation der Bevölkerung in den verschiedenen Phasen der nationalen Entwicklung hat das ethnische Gefüge der amerikanischen Bevölkerung drastisch und irreversibel verändert. Zwischen 1820 und 1930 sind fast 32 Mio. Europäer immigriert. Etwa 80 % dieser Immigranten stammten aus 7 ethnischen Kritische Bewertung der Pluralismustheorie durch Steinberg <?page no="103"?> 94 Gruppen (Deutsche, Italiener, Iren, Polen, Engländer, Kanadier und Juden). Die Nation der USA, einst stolz auf ihre ethnische Homogenität, ist nun zu einer der vielsprachigsten Nationen der Geschichte (the most polyglot nation in history) geworden (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 40-43). Die dritte und vierte Generation der Immigranten geraten heute insofern in eine ethnische Krise (the ethnic crisis), als sie zunehmend von der authentischen Kultur (authentic culture) ihrer Vorfahren entfremdet werden. In dem Ausmaß, in dem die Zahl der nachfolgenden Immigranten schrumpft, reduzieren sich auch die kulturellen Bezugspunkte (cultural point of reference) und verringert sich die Anzahl der Menschen, die die Ethnizität personifiziert und mit authentischen kulturellen Inhalten füllt. Die Erosion der Ethnizität wird beim kompletten Verlust der Muttersprache (complete break in language transmission) in der dritten Generation der Immigranten besonders deutlich. Mit dem Verlust der Muttersprache geht die lebendige Verbindung (a vital link) zur kulturellen Vergangenheit (cultural past) verloren. Die entscheidende Frage ist daher, ob die Anpassung (the accommodations) der früheren Generationen der Immigranten eine neue Basis (a new basis) für die Erhaltung der Ethnizität schafft, oder ob diese ein Zeichen für den Untergang der ethnischen Gruppe (demise of ethnic group) darstellt. Zwei theoretische Positionen sind hierzu zu finden. Die erste Position, die von der Universität Chicago unter der wissenschaftlichen Leitung von Rober E. Park um 1910 vertreten wurde, kann als die der „Melting-Pot-Theorie“ bezeichnet werden. Fast 70 % der Bevölkerung Chicagos bestanden damals aus Immigranten, die mehr als 20 verschiedene Nationalitäten repräsentierten. Park charakterisierte die Phase der Assimilation, die die letzte Phase seines „race-relations-cycle“ darstellt, als eine, in der die ethnischen Unterschiede (ethnic difference) der Immigranten noch nicht gänzlich aufgelöst wurden. Zwischen der Minderheit der Immigranten und der dominanten Mehrheit besteht nach seiner Auffassung eine oberflächliche Uniformität (superficial uniformity), die die Unterschiede der Meinungen, Gefühle und des Glaubens verdeckt. Er war der Überzeugung, dass diese Phase progressiv und irreversibel (progressive and irreversible) zur l etzten Phase der Amalgamierung Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="104"?> 95 führt, die durch interethnische Ehen zu Stande kommt (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 44, 46-47). Die zweite Position, die die Ethnizität als einen machtvollen und bleibenden Faktor für die amerikanische Gesellschaft betrachtet, kann als die der ethnischen Pluralisten (ethnic pluralists) bezeichnet werden. Diese traten in einer Zeit, in der die Kultur der ethnischen Gruppen durch die über mehrere Genrationen andauernde Anpassung und Veränderung eine radikale Transformation erfahren hatte, auf die wissenschaftliche Bühne und polemisierten gegen die Idee des „melting pot“. Ihre Argumente basierten jedoch auf zwei falschen Annahmen: Zum einen darauf, dass die „Melting- Pot-Theoretiker“ die Auflösung der ethnischen Gruppen in den amerikanischen „mainstream“ vorausgesagt und zum zweiten darauf, dass sie die Assimilation langfristig für unvermeidbar gehalten hätten. Aufgrund dieser Annahmen konnten sie als Verteidiger der Ethnizität auftreten. Bei näherer Betrachtung gingen beide Positionen von einer unterschiedlichen Konzeption der Ethnizität aus. Während die Soziologen der Chicago-Schule von der Transformation der Immigrantenkultur ausgingen, die sie beobachten konnten, meldeten sich die ethnischen Pluralisten ein halbes Jahrhundert später zu Wort, als sich die Kultur der ethnischen Gruppen deutlich abgeschwächt hatte, und stellten die Formen der Identität und Kohäsion, die sie in der zweiten und dritten Generation der Immigranten beobachten konnten, in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Dabei ignorierten sie die Frage, ob diese neue Form der Ethnizität auf eine unvermeidbare Assimilation hinausläuft oder ob sie eine neue Basis für die dauerhafte Konservierung der Ethnizität schafft. Die ethnischen Pluralisten versuchten zu Beginn der 1970er Jahre nicht nur das „ethnische Fieber“ dieser Zeit zu interpretieren, sondern selbst zum Fürsprecher der „new ethnicity“ zu werden. Ihre Bücher trugen Titel, wie „Beyond the Melting Pot“, „The Decline of WASP“ und „The Rise of the Unmeltable Ethnics“. Sie zelebrierten dabei das, was sie als den ethnischen Triumpf bezeichneten. Es ist jedoch nicht korrekt, die Ethnizität der rassischen Minderheiten (racial minorities) und die der weißen Minderheiten der Immigranten (immigrant white minorities) zu vermengen. Geht man ausschließlich von den Letzteren aus, dann ist die Revitalisierung der Ethnizität (revitalization of ethnicity) eher als Symptom Kritische Bewertung der Pluralismustheorie durch Steinberg <?page no="105"?> 96 wohl für die Verkümmerung der ethnischen Kulturen (athropy of ethnic cultures) als auch für den Verfall der ethnischen Gemeinden (the decline of ethnic communities) zu deuten (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 44, 48-51). Die Umstände, unter denen die europäischen Immigranten in den USA ihr neues Leben begonnen haben, waren nicht dazu angetan, einen dauerhaften ethnischen Pluralismus zu pflegen. Sie mussten die Erfahrung machen, dass ihre mitgebrachten Gewohnheiten und Vorstellungen nicht amerikanisch waren. Die Lebenssituation ihrer zweiten Generation wurde von den Soziologen der Chicago-Schule mit dem Begriff der Marginalität (marginality) beschrieben, weil sie in zwei Welten lebte und keiner dieser Welten ganz angehörte. Sie erlebte Identitäts- (crisis of identity) und Wertekrisen (crisis of values), die sie dem Prozess der Anpassung und Veränderung aussetzten. Um wirtschaftlich und sozial überleben zu können, musste sie sich amerikanisieren lassen. Die Tatsache, dass die Mehrheit der Immigranten außerhalb ihrer ethnischen Gemeinde arbeiten musste, dass sie keine Kontrolle über die assimilative Erziehung ihrer Kinder in den Schulen hatte, spricht eher gegen die These der ethnischen Aufrechterhaltung (ethnic preservation). Die ethnischen Gruppen in Amerika befinden sich in einer tiefen Krise. Ihre Kultur wird modifiziert und sukzessiv aufgegeben. Selbst diejenigen kulturellen Aspekte, die bewahrt werden, verlieren ihren authentischen Bezug. Die Ethnizität in Amerika ist „dünn“ geworden, weil die objektive Basis für eine ethnische Kultur verschwindet. Die ethnische Identität wird auf die symbolische Ebene verlagert. Sogar der Wunsch, ethnische Gefühle haben zu wollen, geht darauf zurück, dass das Ethnisch-Sein (being ethnic) seine Voraussetzung verloren hat. Die Soziologen, die sich mit den ethnischen Gruppen in Amerika befasst haben, kommen mehr und mehr zu einer jeweils anderen Schlussfolgerung. So hat eine Generation der Soziologen das Fazit vertreten, dass die ethnischen Gruppen Amerikas sich angepasst hätten ohne sich zu assimilieren (accommodating without assimilating), während andere zu der Schlussfolgerung gelangten, dass die ethnischen Gruppen in ihrer Assimilation weit fortgeschritten seien, aber die soziale Assimilation noch nicht eingetreten sei. Die steigende Zahl der interethnischen und interreligiösen Eheschließungen in der dritten und vierten Generation der Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="106"?> 97 Immigranten weist jedoch darauf hin, dass die soziale Assimilation unaufhaltsam stattfindet. Es ist damit schwierig die Schlussfolgerung abzulehnen, dass trotz energischer Widerlegung ein Schmelztiegel im Entstehen begriffen (the melting pot in the marking) ist. Es scheint eine inhärente Begrenzung bei der Belebung der Ethnizität zu geben, weil die zu extensive Identitätsbildung in der Residenzgesellschaft zu dem Punkt führen wird, an dem die Bindung zur kulturellen Vergangenheit abreisst. Umgekehrt wird die extensive Wiederherstellung der Herkunftskultur zur Inkompatibilität mit der amerikanischen Kultur führen. Diese Zusammenhänge sind wenig vielversprechend für den ethnischen Pluralismus (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 51-55, 63, 72-74). Es ist allgemein bekannt, dass alle ethnischen Gruppen auf ihre jeweils eigene Weise versucht haben, den amerikanischen Traum (the American Dream) zu verwirklichen. Dabei wird allgemein eine enge Korrelation zwischen dem Erfolg ethnischer Gruppen (ethnic success) und ihren angeblich typischen kulturellen Eigenschaften und Wertvorstellungen hergestellt. So wird der relativ schnelle Aufstieg der Juden in der Berufshierarchie und in der Wirtschaft auf ihre kulturellen Wertvorstellungen zurückgeführt, die sich in typischen Eigenschaften (sparsam, mäßig, ambitiös, bildungshungrig und fähig sein, Bedürfnisse auch langfristigen Zielen unterzuordnen) zeigen. Ähnlich wird der Erfolg der Japaner und Chinesen interpretiert. Dies bedeutet, dass die ethnischen Gruppen, die nicht den vergleichbaren Erfolg haben, defizitäre kulturelle Wertvorstellungen haben müssen. Es ist an der Zeit, diese Mythenbildung und Mythisierung der Kultur zu beenden, indem die Interaktionen zwischen kulturellen und materiellen Bedingungen analysiert werden, die zum Erfolg der ethnischen Gruppen geführt haben. Die Ursachen des Misserfolges dürfen nicht von dem sozialen Kontext abgekoppelt und auf die ethnischen Gruppen selbst zurückgeführt werden (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 82-88). Zur Versachlichung der Diskussion hinsichtlich des Erfolgs ethnischer Gruppen soll exemplarisch die Gruppe der Juden untersucht werden. Das durchschnittliche Einkommen der Juden betrug im Jahre 1971 14.000 US-Dollar und lag 30 % höher als das der Durchschnittsfamilien in Amerika. 1971 hatten 36 % der erwachsenen jüdischen Bevölkerung einen College-Abschluss, während bei Kritische Bewertung der Pluralismustheorie durch Steinberg <?page no="107"?> 98 der nichtjüdischen Bevölkerung nur 11 % diesen Abschluss hatten. 59 % der 25 bis 59jährigen Juden hatten eine College-Ausbildung abgeschlossen, während nur 17 % der Nicht-Juden im vergleichbaren Alter eine solche abgeschlossen hatten. 70 % der jüdischen Männer übten Berufe mit besonderen Qualifikationsanforderungen aus, während nur etwa 30 % der Nicht-Juden solche Berufe ausübten. Obwohl viele Juden an diesem Erfolg nicht teilhaben konnten und weiterhin der Arbeiterklasse angehörten, war der wirtschaftliche Erfolg der Juden insgesamt relativ eindeutig. Dieser Erfolg ist vor dem Hintergrund der urbanen Herkunft der osteuropäischen Juden zu sehen. Sie arbeiteten als qualifizierte Arbeitskräfte in der Industrie (z.B. Bauzeichner und Metallarbeiter), im Handwerk (z.B. Tischler, Maler, Gold- und Silberschmied) und im Handel (z.B. Geschäftsleute und Händler), wie die russische Volksbefragung von 1897 zeigt. Dagegen waren die europäischen Immigranten, die zeitgleich mit den Juden in die USA eingewandert sind, überwiegend Bauern. Die Juden brachten mit den beruflichen Qualifikationen, die die amerikanische Wirtschaft benötigte, bessere Voraussetzungen für das neue Leben in Amerika mit als andere europäische Immigranten bäuerlicher Herkunft. Sie konnten aufgrund ihrer besseren Schulbildung und beruflichen Qualifikaiton nicht nur relativ schnell die englische Sprache erlernen, sondern auch die Chancen besser nutzen, die die amerikanische Gesellschaft ihnen eröffnete. Der Erfolg der Juden in Amerika (Jewish success in America) ist auf das günstige historische „timing“ des Zusammentreffens der genannten Faktoren zurückzuführen, das bei den anderen ethnischen Gruppen nicht in gleichem Ausmaß vorhanden war (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 89-91, 94-103). Ein weiteres Erklärungsmuster, das besonders die hervorragenden intellektuellen Leistungen (intellectual achievements) der Juden und Asiaten (z.B. die Chinesen und Japaner) zu begründen versucht, besteht ebenfalls in der sog. kulturellen Theorie (cultural theory). Danach hätten die Juden aufgrund ihrer kulturellen und religiösen Tradition eine besondere Vorliebe für die Erziehung (so setzt das Lesen des Talmuds die Alphabetisierung voraus), die bei vielen Juden nicht nur für ihren wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch für ihre hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen (z.B. Karl Marx, Siegmund Freud, Albert Einstein) ursächlich sei. Diese Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="108"?> 99 kulturelle Theorie wird durch die soziale Klassentheorie (social class theory) in Frage gestellt. Diese leugnet die Tatsache nicht, dass Juden und Asiaten eine auf ihre Tradition zurückzuführende Vorliebe für die Erziehung haben, dass viele namhafte Wissenschaftler jüdischer Herkunft waren und der zahlenmäßige Anteil der Juden an den Studierenden und Professoren der Colleges und Universitäten der USA überproportional groß ist. Vielmehr vertritt sie umgekehrt die Auffassung, dass die traditionell und religiös begründete Vorliebe für Erziehung erst durch die sozialen Klassenbedingungen bzw. den wirtschaftlichen Aufstieg aktiviert wird. Erst dies öffnet den Weg zur Erziehung und fördert die mit der Erziehung korrespondierenden Wertvorstellungen und Aspirationen, so dass das Primat der Erklärung nicht auf den kulturellen, sondern auf den sozialen Klassenfaktoren gelegt werden muss (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 128-132). Überprüft man historische Daten über die jüdischen Schüler in New York, so stellt man fest, dass die Schulen bis 1940 nur für eine kleine Zahl privilegierter jüdischer Schüler als Weg zum sozialen Aufstieg gedient haben. Die überwiegende Mehrheit der jüdischen Schüler hat dagegen ihre schulische Ausbildung abgebrochen, um einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen. Erst die Bildungsexpansion nach dem Zweiten Weltkrieg öffnete für viele die Chance, sowohl die schulische Ausbildung als auch die College- und Universitätsausbildung abzuschließen, die ihre berufliche und soziale Aufwärtsmobilität entscheidend gefördert haben. Als in den 1960er Jahren die Bildungsexpansion einsetzte, waren die jüdischen Eltern bereits beruflich und wirtschaftlich so etabliert, dass sie die tertiäre Ausbildung ihrer Kinder finanzieren konnten. Damit hat die ökonomische und erzieherische Entwicklung für die jüdische Bevölkerungsgruppe gleichzeitig stattgefunden. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass die ökonomischen Voraussetzungen der Eltern ihre ohnehin kulturell vorhandene Vorliebe für die Erziehung besonders stark aktiviert haben, weil sie den Wert der Erziehung für den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg ihrer Kinder in der amerikanischen Gesellschaft erkannt hatten (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 132-138). Im Gegensatz zum relativ schnellen Aufstieg der Juden und der Asiaten waren die Schwarzen der kategorischen Ausgrenzung Kritische Bewerung der Pluralismustheorie durch Steinberg <?page no="109"?> 100 (categorical exclusion) auf dem Arbeitsmarkt der Industrie im Norden und der zwangsweisen Verpflichtung für die landwirtschaftliche Arbeit im Süden ausgesetzt. Zwischen dem Ende des Bürgerkriegs (Civil War / 1865) und dem Beginn des Ersten Weltkriegs löste die Industrialisierung im Norden eine große Nachfrage nach Arbeitskräften aus, so dass über 24 Mio. Europäer einwandern konnten. Dagegen wurde den Schwarzen der Zugang zu den Arbeitsplätzen in der Industrie verwehrt, so dass 89 % der 10 Mio. Schwarzen entweder im Süden bleiben oder in den Südwesten (z.B. Florida und Texas) bzw. auf die karibischen Inseln ausweichen mussten. Bereits vor dem Bürgerkrieg herrschte bei den weißen Arbeitern im Norden die Angst vor der Invasion der Schwarzen, die die Ersteren als ihre Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt angesehen haben. Nach dem Ende des Bürgerkriegs und nach der Abschaffung des Sklaventums (abolition of slavery) verstärkte sich diese Angst. Insbesondere die irischen Einwanderer, die auf der unteren Ebene der Berufshierarchie (the botom of the occupational ladder) standen, befürchteten einen verschärften Wettbewerb mit den Schwarzen. Vor diesem Hintergrund wurden die irischen Immigranten nicht nur zu entschiedenen Gegnern der Abschaffung der Sklaverei, sondern auch zu den Urhebern blutiger Ausschreitungen (bloody riots) gegen die Schwarzen (z.B. in New York), als diese aus dem Süden geflüchtet sind oder von der Unionsarmee (the Union Army) befreit in die Städte des Nordens kamen. Um den konflikthaften Arbeitswettbewerb zwischen den Rassen (labor competition between the races) zu vermeiden, machte Präsident Lincoln 1862 sogar den Vorschlag, die karibischen Inseln mit ehemaligen Sklaven zu kolonialisieren. Wie dieser Vorschlag erkennen läßt, war die Integration der Schwarzen in den Arbeitsmarkt der Industrie kein Thema der Politik. Umgekehrt hatten die Nordstaaten, wie Pennsylvania, Ohio, Illinois, bereits vor der Sklavenemanzipation die „Schwarzen Gesetze“ erlassen, die die Immigration der Schwarzen generell einschränkten (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 173- 181). Während die Nordstaaten das Eindringen der Schwarzen in den Arbeitsmarkt der Weißen verhinderten, waren die Südstaaten umgekehrt für den arbeitsintensiven, aber wirtschaftlich unverzichtbaren Baumwollanbau auf die schwarzen Arbeitskräfte angewie- Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="110"?> 101 sen. Alle Versuche, den Bedarf an Arbeitskräften durch Chinesen und europäische Immigranten abzudecken, haben keinen Erfolg gebracht, weil diese die körperlich anstrengende Arbeit auf den Baumwollplantagen ablehnten. Der Baumwollanbau setzte den Einsatz der Arbeitskräfte fast für das ganze Jahr voraus. Außerdem spielte die Baumwolle für die Wirtschaft sowohl im Norden als auch im Süden eine zentrale Rolle. Einerseits stammte das Kapital, das in die Plantagenwirtschaft im Süden investiert wurde, von den Finanzinstitutionen des Nordens. Andererseits waren die Textilindustrien fast ausschließlich im Norden konzentriert, so dass der Löwenanteil der Gewinne aus der Baumwollwirtschaft in den Norden geflossen ist. Außerdem mussten die Plantagenbesitzer im Süden ihre Gewinne in den Kauf von Maschinen und Konsumgüter investieren, die im Norden produziert wurden. Der Süden war so gesehen wirtschaftliche Kolonie des Nordens, während umgekehrt die Industrialisierung und die Wirtschaft im Norden von dem Baumwollrohstoff des Südens abhängig waren. Die Baumwollwirtschaft im Süden, die durch den Bürgerkrieg zerstört wurde, musste im wirtschaftlichen Interesse des ganzen Landes wiederhergestellt werden. Vor diesem Hintergrund waren die Schwarzen unverzichtbar. Um die Interessen der ehemaligen Sklaven besser zu vertreten, wurde eine Regierungsorganisation „Freedmen’s Bureau“ gegründet, die letztlich aber dazu übergegangen war, mehr die Interessen der Wirtschaft als die der ehemaligen Sklaven zu vertreten. Sie hat mit allen Mitteln versucht, die Schwarzen zu Arbeitsverträgen zu zwingen. Zu diesem Zweck wurden sogar die Landstreichergesetze (the vagrancy laws) eingeführt. Danach wurden Schwarze inhaftiert, wenn sie keinen Arbeitsvertrag vorweisen konnten. Jeder befreite Schwarze (each freedman) musste einen solchen Arbeitsvertrag vorweisen, um nicht als Landstreicher zu gelten. Der Bürgerkrieg hat zwar das Skalventum beseitigt, die Situation der Schwarzen hat sich dadurch jedoch kaum verändert. Sie wurden gezwungen Vertragsarbeiter zu werden. Das „Freedman’s Bureau“ hat damit das Problem der Arbeitskräfteknappheit für die Plantagenbesitzer gelöst, indem es ihnen billige Arbeitskräfte (cheap labor) zur Verfügung stellte (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 182-200). Kritische Bewertung der Pluralismustheorie durch Steinberg <?page no="111"?> 102 Das Nachlassen des Immigrantenstroms aus Europa durch den Ersten Weltkrieg hat im Norden zur Knappheit der Industriearbeitskräfte (the labor shortages) geführt. Die Zahl der Immigranten sank von 1,2 Mio im Jahre 1914 auf 111.000 im Jahre 1918. Dieser dramatische Rückgang trat in einer Zeit des rasanten wirtschaftlichen Booms im Norden ein, der von der erhöhten Nachfrage durch den Krieg ausgelöst wurde. Die Zahl der Lohnarbeiter in der Industrie stieg von 7 Mio. im Jahre 1914 auf 9 Mio. im Jahre 1919 an. Die Industrien waren gezwungen, im Süden Rekrutierungsagenturen zu errichten, um nun auch Schwarze für die Industriearbeit im Norden anzuwerben. Dadurch sollte die steigende Nachfrage der wachsenden Wirtschaft nach Arbeitskräften befriedet werden. Es war dennoch ein bemerkenswerter Vorgang, dass die Unternehmer unter wirtschaftlichen Zwängen sogar bereit waren, ihre rassistischen Einstellungspraktiken aufzugeben und schwarze Arbeiter zu rekrutieren. Die Zeitung „Chicago Defender“, eine führende Stimme der Schwarzen, rief die Schwarzen auf, in den Norden zu emigrieren. Bei den Plantagenbesitzern im Süden brach Panikstimmung aus. Sie änderten sogar ihre Rhetorik, die bisher in der rassistischen Abwertung der Schwarzen als arme und unproduktive Arbeitskräfte bestand, und ermahnten sie nun, ihr Zuhause im Süden (their „natural home“ in the South) nicht aufzugeben. Der Erste Weltkrieg markierte damit den Beginn des Exodus der Schwarzen aus dem Süden der USA, der ein halbes Jahrhundert andauerte. In dieser Zeit wanderten insgesamt 4,7 Mio. Schwarze in den Norden aus. Sie waren weitgehend in der Kriegsindustrie beschäftigt. Obwohl die Mechanisierung der Landwirtschaft im Süden bereits in den 1920er Jahren begonnen hatte, wurde die volle Mechanisierung, auch bei der Baumwollernte, erst in den 1950er Jahren erreicht. Damit konnten die Schwarzen erst nach dem Zweiten Weltkrieg, d.h. nach der vollen Mechanisierung der Landwirtschaft im Süden, weitgehend aus der ländlichen Arbeit entlassen und für die städtische Wirtschaft freigestellt werden. Dieser Übergang der Schwarzen von einem System der agrarisch-feudalen Ausbeutung zu einem industriellen Kastensystem (industrial caste system) kann auch an statistischen Zahlen deutlich gemacht werden. Zu Beginn der großen Massenimmigration im Jahre 1890 waren 85 % der schwarzen Männer und 96 % der schwarzen Frauen Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="112"?> 103 im Bereich der Landwirtschaft und der privaten Haushalte beschäftigt. 40 Jahre später zu Beginn der Depression waren 90 % der schwarzen Frauen immer noch als „domestic servants“ in privaten Haushalten beschäftigt, während der Anteil der schwarzen Männer, die im Bereich der Landwirtschaft beschäftigt waren, von 85 % auf 54 % reduziert wurde (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 201-206). Um abschließend das Dilemma des ethnischen Pluralismus aufzuzeigen, soll vorab die Idee des kulturellen Pluralismus (cultural pluralism) in Erinnerung gerufen werden. Als Horace Kallen im Jahre 1915 in einem Aufsatz „Democracy Versus the Melting Pot“ die Idee des kulturellen Pluralismus vertrat, meinte er damit die Demokratie der Nationalitäten (democracy of nationalities), in der sich die ethnischen Gruppen zur Loyalität gegenüber der Nation verpflichten und am politischen und wirtschaftlichen Leben der Nation partizipieren, aber so frei sind, ihre ethnischen Unterschiede (ethnic differences) zu kultivieren. Vergleichend mit einem Symphonieorchester vertrat Kallen die Auffassung, dass der Zusammenschluss (union) der unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu einer Einheit nicht in der Uniformität, sondern in der Harmonie zwischen den Teilen (harmony among parts) besteht. Nach seinem Credo besteht die Demokratie nicht in der Beseitigung der Unterschiede, sondern umgekehrt in der Vervollständigung und Konservierung der Unterschiede. Seine Vorstellung von Demokratie ging damit über die Appelle zur Toleranz hinaus und bekräftigte die Werte der ethnischen Unterschiede (value of ethnic difference). Amerika sollte sich als Nation von Nationen (nation of nations) verstehen. Seine Idee des kulturellen Pluralismus stellte somit eine Alternative gegenüber der Ideologie der Amerikanisierung (Americanization) dar, die die ethnischen Kulturen der Immigranten auslöschen wollte. Die Idee des kulturellen Pluralismus markierte damit einen Wendepunkt im sozialen Denken (social thought) Amerikas (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 253-254). Die Idee des Pluralismus hat dagegen zu einer Zeit Einfluss gewonnen, in der die ethnischen Unterschiede verringert wurden und die Bildung einer nationalen Identität und Kultur durch die Vermischung ethnischer Gruppen so nah war wie nie zuvor. Das eigentliche Problem der Pluralisten besteht jedoch in der Tatsache, dass sich ihre Idee auf die systematische Ungleichheit (systematic ine- Kritische Bewertung der Pluralismustheorie durch Steinberg <?page no="113"?> 104 qualities) der Gesellschaft stützt, die langfristig keine Basis für die ethnische Erhaltung (ethnic preservation) geben kann. Ethnische Gruppen auf der untersten Ebene der gesellschaftlichen Hierarchie werden keinen Grund haben, sich mit ihrem „status quo“ abzufinden. Es ist überraschend, dass sich die ethnischen Pluralisten in ihren Publikationen so wenig mit dem Problem der Ungleichheit befasst haben, obwohl ihre Visionen von einer pluralistischen Gesellschaft die grundlegende Gleichheit (basic equality) zwischen den ethnischen Gruppen implizit voraussetzen. Ohne diese Gleichheit wäre der Pluralismus faktisch nur die Herrschaft einiger ethnischer Gruppen über die anderen, wie dies in allen pluralitischen Gesellschaften der Fall ist. Sie befassen sich kaum mit der Frage, wie beispielsweise die Schwarzen in ein pluralistisches System hineinpassen. Die Schwarzen haben mit dem Pluralismus stets die bittere Erfahrung machen müssen, dass seine Rechtfertigungsideologien von der Idee der rassischen Segregation getragen wurden. Die Intellektuellen unter den Schwarzen hatten daher guten Grund, die Theorie der Pluralisten zu durchkreuzen, während die Nationalisten unter den Schwarzen umgekehrt die Idee des Pluralismus übernommen und genutzt haben, um ihren Separatismus zu rechtfertigen. Die separatistischen Tendenzen unter den Schwarzen resultierten weitgehend aus der Erkenntnis, dass die Integration für sie nicht möglich ist (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 254-257). Die Demokratie und der Pluralismus sind miteinander nicht in dem Maße kompatibel, wie es sich die ethnischen Pluralisten vorgestellt haben. Denn die pluralistischen Strukturen tendieren dazu, die existierenden sozialen Klassenunterschiede zu verstärken. Das Modell „Die Demokratie der Nationalitäten“ von Horace Kallen kann nur in einer Gesellschaft funktionieren, in der die grundsätzliche Parität für die verfassungsgebenden ethnischen Gruppen (constituent ethnic groups) vorhanden ist. Abgesehen davon ist auch zu bedenken, dass die ethnischen Unterschiede in der Regel von den Gruppen besonders aufrechterhalten werden, die sich nicht erfolgreich assimilieren konnten und ökonomisch am Rande der Gesellschaft leben mussten. Umgekehrt ist es für die Gruppen, die eine soziale Aufwärtsmobilität erreicht haben, übliche Praxis, durch interethnische Ehen die ethnischen Unterschiede abzulegen. Die Existenz des ethnischen Pluralismus hängt damit nicht nur von der Theorien zum ethnischen Pluralismus <?page no="114"?> 105 Bewahrung der Tradition allein, sondern zusätzlich auch von der Aufrechterhaltung der Klassengegensätze ab, die erst die ethnischen Grenzziehungen verstärken. Damit wird deutlich, dass das Hauptproblem der Gesellschaft nicht mit den ethnischen Gruppenbildungen, sondern mit der Wirtschaftspolitik und mit den Klassenbeziehungen zu tun hat. Der ethnische Mythos ist vielleicht der Glaube daran, dass die kulturellen Symbole der Vergangenheit mehr als die Illusionen liefern, die die ethnischen Gruppen vor der Unzufriedenheit der Gegenwart schützen können (vgl. Stephen Steinberg, 1989, 257-262). Kritische Bewertung der Pluralismustheorie durch Steinberg <?page no="115"?> 106 3. Theorien zur Migration der Frauen Die Geschichte der irischen Massenemigration in die USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auf die der Theorieansatz von Hasia R. Diner in diesem Kapitel näher eingeht, war in mehrerer Hinsicht in der Migrationsgeschichte Europas beispiellos. Sie war deswegen einzigartig, weil mehr als die Hälfte der irischen Emigranten aus jungen ledigen Frauen bestanden hat. Diese Frauen waren nicht im Familienverband als Siedlungsmigrantinnen in die USA emigriert, sondern individuell als unabhängige Arbeitsmigrantinnen, die ohne Familie allein auf der Suche nach bezahlter Arbeit waren. Die wirtschaftliche Krise, bedrückende Armut und generelle Perspektivlosigkeit der jungen Frauen in der irischen Gesellschaft und die große Nachfrage nach billigen Frauenarbeitskräften der privaten Haushalte in den USA haben diese Massenemigration ausgelöst. Diese unabhängige Massenemigration unverheirateter junger Frauen war also wirtschaftlich motiviert und nachfrageorientiert. Obwohl die traditionelle Erbregelung und die soziale Institution der Mitgift diese Frauen schon immer veranlasst haben, vor der Ehe außerhalb der Elternfamilie zu arbeiten und Geld zu verdienen, war die Massenemigration von Millionen lediger Frauen nach der großen Hungerkatastrophe in Irland beispiellos (vgl. Petrus Han, 2003, 41-46). Die Analysen der spezifischen soziokulturellen Bedingungen im Irland des 19. Jahrhunderts, die Hasia R. Diner in ihrem Buch „Erin’s Daughters in America“ vorgelegt hat, verdienen besondere Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit der Feminisierung der Migration, die seit den 1980er Jahren als neue Entwicklung im Bereich der internationalen Migration weltweit eintritt (vgl. Petrus Han, 2003, 57-77). Der Strukturwandel der Weltwirtschaft und die neue internationale Arbeitsteilung zwischen den entwickelten und unterentwickelten Ländern im Zuge der Globalisierung haben Millionen von Frauen in Asien, Lateinamerika und in den karibischen Ländern von ihren patriarchalischen Sozialbindungen freigesetzt und zur Arbeitsmigration veranlasst. Es gibt viele Parallelen zu den „Push- und Pull-Faktoren“, die einst die jungen irischen Frauen zur Theorien zur Migration der Frauen <?page no="116"?> 107 Arbeitsmigration freigesetzt haben, und die heute Millionen Frauen aus den Ländern der Dritten Welt zur Arbeitsmigration veranlassen. Dadurch tritt weltweit eine neue Entwicklung zur Feminisierung der Migration ein. Es ist bemerkenswert, dass die wirtschaftlichen Entwicklungen vor den uralten patriarchalischen Strukturen von Familie und Gesellschaft nicht Halt machen. Vielmehr stellt man heute fest, dass die tradierten kulturellen und sozialen Strukturen unter dem Einfluss der wirtschaftlichen Zwänge langsam aber stetig erodiert werden. Geht man von den traditionellen Rollenvorstellungen der geschlechtlichen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau aus, so hatten die Männer die Ernährerrolle (husband-breadwinner) für die Familie zu übernehmen, während die Frauen als Ehe- und Hausfrauen (wife-homemaker) bei der Wahrnehmung ihrer häuslichen Aufgaben von den Männern wirtschaftlich abhängig blieben. Aus der Sicht dieser geschlechtlichen Arbeitsteilung war die Arbeitsmigration primär Aufgabe der Männer, so dass die Frauen während deren Abwesenheit zu Hause zu bleiben und die häuslichen Aufgaben wahrzunehmen hatten (vgl. Sylvia Walby, 1990, 61; Petrus Han, 2003, 1). Die Mobilität der Frauen in den traditionellen Gesellschaften war so gesehen kulturell weitgehend eingeschränkt (vgl. Sylvia Chant, Sarah A. Radcliffe, 1992, 16) bzw. gänzlich verboten, wie dies im alten China der Fall war (vgl. Lin Lean Lim, 1995, 40). Die wirtschaftlich induzierte Feminisierung der Migration löst damit einen gewaltigen sozialen Wandel in den patriarchalischen Strukturen von Ehe, Familie und Gesellschaft aus und führt zur Erosion der traditionellen Rollenvorstellungen der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Die theoretische Erarbeitung der besonderen soziokulturellen Bedingungen Irlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die die Massenemigration der jungen ledigen Frauen ausgelöst haben, enthält eine Reihe von Hinweisen, die hilfreich sind für das Verständnis der Feminiserung der Migration in der Gegenwart. Bei dem Theorieansatz von Evelyn Nakano Glenn, der in diesem Kapitel vorgesellt wird, handelt es sich primär um die Lebens- und Arbeitsbedingungen japanischer Frauen in den USA, die zwischen 1909 und 1960 immigriert sind. Obwohl die Arbeitsmigration japanischer Männer in die USA um 1891 begonnen hat, haben die USA durch ihre Immigrationspolitik bis 1908 die Einreise der Ehefrauen Theorien zur Migration der Frauen <?page no="117"?> 108 und Kinder japanischer Männer streng untersagt, um die Reproduktionskosten für die Arbeitskräfte ausländischer Herkunft so gering wie möglich zu halten und gleichzeitig ihre dauerhafte Niederlassung zu verhindern. Dies zeigt offenkundig, dass die Arbeitsmigranten nach einer temporären Beschäftigung in ihr Herkunftsland zurückkehren sollten (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 24). Diese Politk hat dazu geführt, dass die Immigration japanischer Frauen etwa 20 Jahre später begonnen hat als die der Männer. Aufschlussreich sind die Analysen der politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Bedingungen Japans in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Migration japanischer Arbeitskräfte nach Hawaii und auf das Festland der USA verständlich machen. Die Japanerinnen, die etwa 20 Jahre nach der Migration der japanischnen Männer als frisch vermählte Ehefrauen japanischer Männer in die USA immigriert sind (Issei-Frauen als erste Generation der Japanerinnen in den USA), und deren in den USA geborene zweite Generation (die Nisei-Frauen) und die „war brides“ bilden die drei Kohorten der Japanerinnen in den USA, die im Buch von Evelyn Nakano Glenn untersucht wurden. Die „war brides“ sind Japanerinnen, die in Japan stationierte amerikanische Soldaten geheiratet haben. Evelyn Nakano Glenn stellt dabei fest, dass der Bereich des „domestic service“ das größte Beschäftigungsfeld außerhalb der Landwirtschaft für die drei Kohorten der Japanerinnen war. Ihre detaillierten Analysen der Vor- und Nachteile des „live-in domestic service“ und „live-out domestic service“ für die dort arbeitenden Japanerinnen sind dewegen wertvoll, weil sie die Lebenssituation vieler Migrantinnen in unserer Zeit analog verständlich machen. Gerade der „domestic service“ stellt auch heute noch das größte Beschäftigungsfeld für die Mehrheit der Migrantinnen mit geringen beruflichen Qualifikationen dar. Die Analysen von Evelyn Nakano Glenn sind hilfreich für die adäquate Einschätzung und Bewertung der bedrückenden Erfahrungen unzähliger Migrantinnen, die in der Gefangenschaft der privaten Haushalte Sklavenarbeit leisten und dabei physisch, psychisch und sexuell ausgebeutet werden (vgl. Petrus Han, 2003, 149-174). Theorien zur Migration der Frauen <?page no="118"?> 109 3.1 Hasia R. Diner Lebenssituation und wirtschaftlicher Aufstieg irischer Frauen in Amerika Einwanderung und Akkulturation irischer Frauen im 19. Jahrhundert (Erin’s Daughters in America Irish Immigrant Women in the Nineteenth Century, 1983. 161 S.) Nach der Auffassung von Hasia Diner markieren die Jahrhunderte lange politische und wirtschaftliche Herrschaft (domination) und Unterjochung (subjugation) durch England und die ebenso lange Erfahrung erdrückender agrarischer Armut (long tradition of grindling agrarian poverty) die Geschichte Irlands. Die passionierte Bindung zum römischen Katholizismus trotz der brutalen Unterdrückung durch die protestantische Herrschaft und das kollektive Gedächtnis an die patriotischen, aber fehlgeschlagenen Aufstände gegen den alten Feind liegen tief im Bewusstsein der Iren. Irland hat wie kaum ein anderes europäisches Land so viele Söhne und Töchter ins Ausland geschickt. Viele von ihnen sind auf die britischen Nachbarinseln emigriert, nach London, Liverpool, Manchester, Glasgow und Edinburgh, während andere nach Kanada, Australien und Neuseeland emigriert sind. In der Dekade nach der großen Hungerkatastrophe (The Great Famine) sind mehr irische Frauen als Männer in die USA immigriert. Die irischen Gemeinden in den USA bestanden aus einer Überzahl an Frauen. Die irischen Immigranten bildeten die einzige signifikante ethnische Gruppe in den USA, in der die Zahl der Frauen die der Männer überstieg. Diese Frauen akzeptierten auch solche Berufe, die die meisten Frauen anderer ethnischer Gruppen generell abgelehnt haben. Die Rate ihrer wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegsmobilität war jedoch die größte unter den Frauen aller ethnischen Gruppen. Sie betrachteten sich in ihrer Selbsteinschätzung als selbstgenügsam (self-sufficient), obwohl sie in ihrer wirtschaftlichen Rolle, die sie in der Ge- Theorie zur Migration irischer Frauen von Diner <?page no="119"?> 110 meinde und Familie zu spielen hatten, relativ erfolgreich waren. Sie waren entscheidungsfreudig, wie es auch die entschlossene Art und Weise ihrer Emigration in die USA gezeigt hat. Sie unterwarfen sich dennoch bedingungslos ihrem ethnisch-nationalen Verhaltenskodex, dessen Ursprung auf die Verhaltensnormen der katholischen Kirche und die traditionelle Struktur des irischen Lebens (the traditional structure of Irish life) zurückgeht. Trotz ihrer führenden wirtschaftlichen Rolle forderten sie niemals die öffentliche Hegemonie der Männer heraus. Politik, Klubleben und Organisationen waren ausschließlich die Domäne der Männer, während Heim, Geldausgaben und Entscheidungen über die Zukunft der Familie die Domäne der Frauen waren (vgl. Hasia R. Diner, 1983, XIV- XV, 2). Um zu verstehen, was es im 19. Jahrhundert in den USA bedeutete, eine katholische Immigrantin aus Irland zu sein, muss man die Stellung der Frauen (the women’s place) in der irischen Kultur und insbesondere in der irischen Familie untersuchen. Die Historiker haben bei solchen Untersuchungen die Neigung, von den dramatischen historischen Ereignissen auszugehen, die in einer Epoche plötzlich eintreten und wie eine historische Wasserscheide (waterscheds) wirken. Die große Hungerkatastrophe von 1845 bis 1849, die durch die anhaltende Mehltauseuche der Kartoffelpflanzen (blight on the potato crop) und die dadurch bedingten mehrjährigen Kartoffelmissernten ausgelöst wurde, wird generell als ein solches Ereignis in der irischen Geschichte angesehen. Die Schockwellen (shock waves) gingen durch die gesamte irische Gesellschaft und ihr Widerhall (reverberations) ging um die ganze Welt, so dass man diesen zeitgleich in Boston, London, Toronto, Sydney und Melbourne registrieren konnte. Nach der Verwüstung (devastation) durch die große Hungerkatastrophe war in der irischen Gesellschaft nichts mehr wie zuvor. Die Erinnerung an Hungertod (starvation), Krankheit (z.B. Typhus und Cholera) und Zerstörung (destruction) hat alle sozialen Beziehungen zwischen den Menschen, alle bewährten Qualitäten der persönlichen Bindungen und alle intimen Beziehungen zwischen Mann und Frau sowie zwischen Eltern und Kindern so grundlegend und nachhaltig verändert, dass die gesamte soziale Struktur davon betroffen wurde. Sogar die Klasse der ärmsten Kleinbauern (the Irish cottier class) im untersten Stratum der Theorien zur Migration der Frauen <?page no="120"?> 111 irischen Gesellschaft war von der gesellschaftlichen Bühne verschwunden. Trotz dieser tiefgreifenden gesellschaftlichen und sozialen Umwälzungen muss jedoch konstatiert werden, dass die große Hungerkatastrophe die Kräfte und Entwicklungen, die sich bereits vor der Katastrophe in der irischen Gesellschaft abzeichneten, lediglich verstärkt und beschleunigt haben, so dass sie in eine verheerende gesellschaftliche Katastrophe einmündeten (vgl. Hasia R. Diner, 1983, 2-4). Die kontinuierlich schrumpfende Bevölkerung aufgrund der sinkenden Heiratsrate und die steigende Rate der Ehelosigkeit (celibacy), das soziale Umfeld der strengen Geschlechtstrennung (gender segregation), die Ablehnung der Sexualität und die „gender“-feindliche Ethik hatten ihre historischen Wurzeln im irischen Volksleben (Irish folk life) und charakterisierten die soziale Struktur der Gesellschaft lange vor dem Eintreten der großen Hungerkatastrophe. Nach der großen Hungerkatastrophe sind diese Erfahrungen zu einem Bestandteil der irischen Kultur geworden und haben die Normen der kollektiven Verhaltensweisen geprägt. Die Hungerkatastrophe war nicht das erste Ereignis, das Irland in der modernen Zeit verwüstet hat und nicht der erste Anlass zur Massenemigration. Bereits in den Jahren 1800, 1807, 1816, 1822 und 1839 hatten die verheerenden Missernten (massive crop failures) und weitreichenden Epidemien das ländliche Irland erschüttert. Nicht zuletzt deshalb hat die Emigration aus Irland bereits vor der großen Hungerkatastrophe begonnen und sich nach der Katastrophe verstärkt fortgesetzt. Zwischen 1825 und 1844 haben etwa 700.000 Iren das Land verlassen. In der Dekade von 1831 bis 1841 sind eine halbe Million Iren emigriert (vgl. Hasia R. Diner, 1983, 4). Trotz des anhaltenden Stroms der Emigration wuchs die Bevölkerung Irlands so dramatisch und kontinuierlich, dass sie am Vorabend der großen Hungerkatastrophe die Zahl von 8 Millionen erreichte. Ein Grund für diese Bevölkerungsdynamik wird in den frühen und unbedachten Ehen (the pattern of early and improvident marriage) gesehen, die besonders bei der armen Kleinbauern- und Arbeiterklasse (the cottiers and the poor laborers) in Irland vor dem Eintreten der großen Hungerkatastrophe weit verbreitet waren. Für diese Klasse reichte eine kleine Parzelle an Kartoffelanbaufläche aus, um eine Familie zu gründen. Die armen Bauern hatten ohnehin Theorie zur Migration irischer Frauen von Diner <?page no="121"?> 112 nichts zu verlieren. Die Fertilität der Frauen in solchen Frühehen war relativ hoch. Umgekehrt zögerten die Stadtbewohner, Geschäftsleute und relativ vermögenden Bauern die Eheschließung möglichst lange hinaus, um ihre ökonomische Stabilität nicht zu gefährden. Mit anderen Worten sahen die Angehörigen der sozialen Mittelklasse in der früheren Heirat ein wirtschaftliches Risiko. Sie heirateten entweder im späteren Alter (latemarriers) oder gar nicht (nonmarriers), so dass viele von ihnen ein Leben lang ledig blieben. Das rapide Bevölkerungswachstum im 19. Jahrhundert war somit auf das Heiratsverhalten der unteren sozialen Schicht zurückzuführen. Die große Hungerkatastrophe hat bewirkt, dass eine dramatische Verstärkung der skizzierten Tendenzen, die bereits vor ihrem Eintreten wirksam war, einsetzte. Dies geschah auf mehreren Ebenen. Zum einen hat die Hungerkatastrophe zum Aussterben der armen Bauernklasse (the cottier class) geführt. Zum zweiten haben die Gesetzgeber die Erbgesetze so novelliert, dass die gleichmäßige Aufteilung der landwirtschaftlichen Anbaufläche nach der Zahl der Kinder abgeschafft wurde. Die Hungerkatastrophe hat vor Augen geführt, dass der Kartoffelanbau auf klein parzelliertem Land nicht ausreichte, um eine Familie zu ernähren. Die Eltern gingen dazu über, nur ein Kind als alleinigen Erben auszuwählen. Schließlich hat die Hungerkatastrophe zur Veränderung des Heiratsverhaltens geführt, so dass nun der ökonomische Aspekt bei der Heiratsentscheidung eine zentrale Rolle spielte. Das Nicht-Heiraten wurde zu einer legitimen Option (vgl. Hasia R. Diner, 1983, 5-7). Nach der großen Hungerkatastrophe hatten viele Iren, insbesondere junge unverheiratete Frauen, keinen Grund zu Hause zu bleiben. Weder Beschäftigungsnoch Heiratschancen hielten sie in der Heimat, so dass in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts eine Massenemigration dieser Frauen in die USA eingesetzt hat. Die Bevölkerung Irlands schrumpfte von 8.175.124 im Jahre 1841 auf 4.704.750 im Jahre 1891. Der Bevölkerungsverlust betrug damit in dieser Zeitspanne von 50 Jahren fast 3.5 Millionen. Von diesem dramatischen Bevölkerungsrückgang waren besonders die ärmsten ländlichen Regionen betroffen. Nach der Hungerkatastrophe ist Irland noch mehr als vorher zu einem Land der späteren Heirat und zu einem Land der Emigration geworden. 1864 waren 18,1 % der heiratenden Frauen im Alter unter 21 Jahren, während 1911 nur Theorien zur Migration der Frauen <?page no="122"?> 113 5,3 % der Frauen im entsprechenden Alter heirateten. Zudem blieben viele Männer und Frauen ihr Leben lang ledig. 1861waren 11 % der Männer im Alter von 65 Jahren Junggesellen (permanent bachelors), während 1926 bereits 26 % der Männer im gleichen Alter Junggesellen waren. Der Anteil der Frauen im Alter zwischen 25 und 35 Jahren, die ledig waren, betrug im Jahr 1841 28 %, während er im Jahr 1851 auf 39 % angestiegen war. Auch der Anteil der Frauen im Alter zwischen 45 und 55 Jahren, die ledig waren, stieg von 12 % im Jahre 1841 auf 17 % im Jahre 1891 an. Parallel zu dieser Entwicklung zeichnete sich mehr und mehr die Praxis ab, in der die Eltern von der traditionellen Erbregelung abgingen und nur ein Kind als alleinigen Erben auswählten. Dabei spielte die Reihenfolge der Geburten keine entscheidende Rolle. Die Eltern bestimmten aus freier Entscheidung nur ein Kind, in der Regel einen Sohn, als alleinigen Erben des elterlichen Vermögens (Hof und Land). Sie trafen jedoch diese Entscheidung im relativ hohen Alter, um möglichst lange ihre wirtschaftliche Entscheidungsmacht beibehalten zu können. Diese Entwicklung wirkte sich dahingehend aus, dass z.B. im Jahr 1841 insgesamt 691.000 kleine Landbesitzungen (pro Besitzung etwa 5 Morgen Land) registriert waren, während diese bis zum Jahr 1891auf den 469.000 relativ größeren Landbesitzungen reduziert wurden, die durchschnittlich aus einem Landbesitz von etwa 30 Morgen Land bestanden. Dies bedeutete, dass eine zunehmende Konzentration des Landes bei abnehmender Zahl der Bauern stattgefunden hat, die der sozialen Mittelklasse angehörten. Damit wurde die entscheidende Voraussetzung erreicht, um eine allmähliche Umwandlung der Landwirtschaft vom monokulturellen und ertragsarmen Kartoffelanbau zur produktiveren Weidelandwirtschaft (pasture-faming) einzuleiten (vgl. Hasia R. Diner, 1983, 7-10). Der Landbesitz (occupation of land) war in Irland die Grundvoraussetzung für die Heirat der Männer. Nach der großen Hungerkatastrophe hat dieser Grundsatz noch größere soziale Bedeutung gewonnen. Die Eltern achteten bei der Heirat ihres erbenden Sohnes streng auf die Mitgift der zukünftigen Schwiegertochter. Diese Mitgift (dowry) bestand in der Regel aus Bargeld, Vieh und Land. Sie achteten auch darauf, ob die zukünftige Schwiegertochter gesund, arbeitswillig und auch bereit war, ihre Rolle in Haus und Hof der Theorie zur Migration irischer Frauen von Diner <?page no="123"?> 114 Schwiegereltern zu akzeptieren. Die Ehe bedeutete somit primär ein ökonomisches Arrangement zwischen den zwei eheschließenden Familien, das auf die individuelle Zuneigung der unmittelbar betroffenen jungen Menschen keine Rücksicht nahm. Die Bedeutung der Mitgift bestand einerseits darin, dass sie die Aufnahme und Versorgung der Frau in der Familie des Mannes kompensieren und gleichzeitig dazu dienen sollte, wiederum als Mitgift für eine der Schwestern des Mannes eingesetzt zu werden. Für die Töchter galt weitgehend die Regelung, dass nur eine von ihnen damit rechnen konnte, mit einer Mitgift ausgestattet zu werden. Die Mitgift war damit das weibliche Äquivalent zur männlichen Erbschaft. Die Kinder, die keine Chance hatten zu heiraten, weil ihnen entweder das Land oder die Mitgift fehlte, gingen leer aus. Im Elternhaus bzw. in der größer werdenden Familie des verheirateten Bruders konnten sie auch nicht bleiben. So blieb nur die Suche nach Arbeit auf anderen Höfen, die keine Nachkommen hatten, oder bei gut situierten Familien in den Städten oder sie mussten das Heimatland für immer verlassen und emigrieren. Die irische Familie wurde somit von einer zentrifugalen Kraft geleitet, die ihre Mitglieder aus dem Elternhaus getrieben hat. Dennoch war sie weder desorganisiert noch hat sie an mangelndem Zusammenhalt gelitten. Umgekehrt bewahrte sie eine intakte familiale Geschlossenheit, die über die Grenzen des Landes hinweg ihre Mitglieder miteinander verband. Die emigrierten Kinder schickten ihr erspartes Geld nach Hause, sie holten ihre Geschwister nach, hielten schriftlich Kontakt und berichteten über die Möglichkeiten der Neuen Welt, die die irische Gesellschaft nicht bieten konnte. Dies führte dazu, dass die sog. „auserwählten Kinder“ (those who were chosen), die entweder das elterliche Vermögen erbten oder aufgrund der elterlichen Mitgift heiraten konnten, ihre Situation gegenüber der der ausgewanderten Geschwister nicht unbedingt als vorteilhafter einschätzten. Sie waren eher unzufrieden mit der Tatsache, zu Hause geblieben zu sein (vgl. Hasia R. Diner, 1983, 10-13). Die sozialen Beziehungen irischer Familien im 19. Jahrhundert können allgemein wie folgt beschrieben werden. Eltern und Kinder respektierten jeweils die Interessen der anderen Partei und kamen im Frieden miteinander aus, obwohl die Eltern eine starke Kontrol- Theorien zur Migration der Frauen <?page no="124"?> 115 le über ihre Kinder ausübten, insbesondere bei der Frage der Partnerauswahl. Die Kinder hatten die Frustrationen, die ihnen von den Eltern zugefügt wurden, grundsätzlich mit sich selbst auszumachen und zu verdrängen anstatt sie den Eltern gegenüber offen zum Ausdruck zu bringen. Daher suchten sie oft mit Hilfe des Alkohols ihre Frustrationen zu verarbeiten oder sie verließen das Land, um alles hinter sich lassen zu können. Als eine extreme Folge dieser Situation wurde auch die Schizophrenie (into a delusional world of schizophrenia) gesehen. Im späteren 19. Jahrhundert war Irland das Land mit der höchsten Rate an Schizophrenie-Kranken in der Welt. Die Beziehungen zwischen den Brüdern, den Schwestern und den Geschwistern waren dagegen positiv und am wenigsten mit Problemen belastet, obwohl nur ein Bruder erben konnte bzw. nur eine Schwester die elterliche Mitgift zu erwarten hatte. Die emigrierten Brüder und Schwestern holten in der Regel ihre zu Hause gebliebenen Geschwister nach, so dass eine Kettenmigration (chain of sibling migration) die Folge war. Dagegen gaben die Beziehungen zwischen dem Ehepaar ein relativ komplexes und schwieriges Bild ab. Die irische Kultur räumt generell dem Ehemann Vorrechte (the upper hand) ein. Die Tradition, die sich auch in volkweisheitlichen Sprichwörtern widerspiegelt und die Empfehlungen der Kleriker legen den Ehefrauen nahe, sich der Führung des Ehemannes unterzuordnen. Die Iren verstanden sich als patriarchalische Gesellschaft, in der der Ehemann gegenüber Ehefrau und Kindern das Sagen hatte. Da die Frau mit der Heirat in die Familie des Mannes übersiedelt, lebt sie mit ihren Schwiegereltern zusammen. Damit übernimmt sie die selbstverständliche Verpflichtung, ihre täglich anfallenden Aufgaben im Haushalt, auch gegenüber ihren Schwiegereltern, wahrzunehmen. Geht man von Beobachtungen der Anthropologen Conrad Arensberg und Solon Kimball von 1930 aus, so folgte eine irische Frau ihrem Ehemann mit einigen Schritten Abstand, wenn sie zusammen in die Stadt gingen. Dadurch brachte sie in der Öffentlichkeit ihre Unterwürfigkeit (subservience) gegenüber ihrem Mann zum Ausdruck. Bei den Mahlzeiten aßen die Männer zuerst das warme und frisch zubereitete Essen (husbands ate their meals first, fresh and hot), während sich die Ehefrauen erst nach dem Essen der Ehemänner mit dem Essensresten begnügen mussten (wives had to satisfy themselves with lukewarm remain- Theorie zur Migration irischer Frauen von Diner <?page no="125"?> 116 ders). Von den Ehefrauen wurde selbstverständlich erwartet, dass sie ihren Männern bei den Arbeiten halfen, während die Aufgaben der Ehefrauen als Arbeiten betrachtet wurden, die sie alleine zu erledigen hatten. Mann und Frauen lebten ein separates Leben, in jeweils geschlechtlich streng getrennten Lebensphären. Im öffentlichen Bereich und in der Kirche traten sie nicht zusammen auf. In Anwesenheit der Kinder und Verwandten benutzten sie gegenseitig nicht die Vornamen. All dieses bedeutet jedoch nicht, dass die Frauen in der Familie keinen Einfluss hatten. Die Frauen in der irischen Familie verfügten nach der großen Hungerkatastrophe (women in the post-Famine family) in der Regel über eigene finanzielle Ressourcen, die sie z.B. durch den Verkauf von Geflügel und Milchprodukten angesammelt hatten. Es war außerdem kulturelle Selbstverständlichkeit, dass die Männer ihr Einkommen den Ehefrauen ablieferten, so dass die Geldausgaben prinzipiell der Entscheidungskompetenz der Frauen unterlagen (vgl. Hasia R. Diner, 1983, 14-17). Nach der großen Hungerkatastrophe hatte die Mehrheit der irischen Ehefrauen damit zu rechnen, dass sie früh Witwen (widows) wurden. Kulturell bedingt heirateten die irischen Männer, die lange mit der Heirat gewartet haben, jüngere Frauen, die in der Regel ihre Ehemänner überlebten. 1873 zählte man z.B. in der Grafschaft Wexford (County Wexford) 2.800 Witwer und 6.500 Witwen. Obwohl das Witwendasein (widowhood) emotionale Probleme und wirtschaftliche Anstrengungen einschlossen, waren die irischen Witwen in ihren wirtschaftlichen Aktivitäten so erfolgreich, dass sie durchweg den Lebensstandard halten konnten, den ihre Familie zu Lebzeiten ihrer Ehemänner erreicht hatte. Es schien ein kulturelles Kennzeichen irischer Frauen zu sein, wirtschaftlich eine dem Mann gegenüber überlegene Rolle zu spielen. Die irische Literatur, die besonders den nationalen Geist und die katholischen Tugenden preist, räumt der Mutterliebe (mother love) einen respektvollen und ehrenwerten Platz ein und bringt mit Bewunderung die Stärke und Macht der Mütter zum Ausdruck, mit denen sie das Leben gemeistert haben (vgl. Hasia R. Diner, 1983, 18). In der irischen Familie nach der großen Hungerkatastrophe erfuhren die Söhne generell größere Wertschätzung von den Eltern als die Töchter, die nicht als dauerhafte Mitglieder der Familie ange- Theorien zur Migration der Frauen <?page no="126"?> 117 sehen wurden. Die Söhne wurden dagegen als diejenigen betrachtet, die Mitglieder der Familie bleiben und die Pflege der alten Eltern übernahmen. Sie erhielten daher eine bevorzugte Behandlung (preferential treatment) durch die Eltern, besonders durch die Mutter. Die elterliche Bevorzugung der Söhne ist eine weit verbreitete Praxis in vielen patriarchalischen Kulturen. Viele psychokulturelle Studien (many psychocultural studies) in den USA und Europa vertreten jedoch die These, dass die irischen Männer durch ihre Mütter emotional so überversorgt (overwhelmed by their mothers) und dadurch in ihrer natürlichen emotionalen Entfaltung so gehindert werden, dass sie Zeit ihres Lebens die Folgen der eigenen unterdrückten Gefühle nicht überwinden können. Die relativ hohe statistische Inzidenz der Schizophrenie bei irischen Männern wird oft als Beleg für die genannte These herangezogen. Dagegen stellte man fest, dass die psychische Erkrankung (mental disorder) bei den Töchtern signifikant weniger auftrat. Dies wird auch damit erklärt, dass sie nicht nur weniger Wertschätzung erfuhren, sondern auch in geringerem Ausmaß durch die Mütter beherrscht und manipuliert wurden. Die Tatsache, dass die Frauen bewusster ihr Heimatland verlassen und dabei weniger emotionale Schwierigkeiten hatten, wurde auch vor diesem Hintergrund gesehen. Die irische Familie war schon immer eine ökonomische Produktionseinheit (an economic unit of production), in der alle Familienmitglieder mitarbeiten mussten, um zu überleben. Diese Zusammenarbeit erfolgte streng auf den geschlechtlich orientierten Regelungen (gender-based). Sowohl in der Familie als auch außerhalb war die rigide Trennung der Geschlechter (the rigid gender division) ein Charaktermerkmal für das soziale Leben der irischen Gesellschaft, das nach der Hungerkatastrophe noch verstärkt worden ist. Die Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter lebten in einer geschlechtlich voneinander getrennten Welt. Die Freizeitgestaltung erfolgte somit geschlechtsspezifisch. Die Trinkkultur der Männer in den irischen „pubs“ ist ein Beispiel dafür. Diese Geschlechtstrennung im sozialen Leben wurde durch die Sexualnormen der römisch-katholischen Kirche gefördert, gefestigt und überwacht. Die niedrige Rate unehelich geborener Kinder (illegitimacy) und des Ehebruchs (adultery) ist auch als unmittelbare Folge dieser strengen Geschlechtstrennung anzusehen. Die Tatsache, dass die irischen Frauen ihre Selbstdefi- Theorie zur Migration irischer Frauen von Diner <?page no="127"?> 118 nition im ökonomischen Erfolg gesucht haben, geht ebenfalls auf die rigide Geschlechtstrennung zurück (vgl. Hasia R. Diner, 1983, 19-29). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Exodus der notleidenden Menschen aus Irland in die USA zu einer „Flutwelle“ (tidal wave). Dabei bestand mehr als die Hälfte dieses Migrantenstroms aus Frauen. Die Massenemigration aus Irland war somit eine Massenbewegung der Frauen (a mass female movement). Keine andere Immigrantengruppe in der amerikanischen Geschichte bestand aus so vielen Frauen wie die irische. Unter den Deutschen, die fast zeitgleich in die USA immigriert sind, betrug der Anteil der Frauen 41 %, während der Anteil der Frauen an den irischen Immigranten 52,9 % betrug. Der Anteil der Frauen an den Immigranten aus Süditalien machte 21 % und an den griechischen Immigranten nur 4 % aus. Die irische Einwanderung in die USA war eine einzigartige und beispiellose Immigration überwiegend von Frauen. Im Jahr 1900 machte der Frauenanteil an den irischen Immigranten in den USA 53,8 % aus, obwohl die Familienstruktur in Irland bis dahin eine Konsolidierung erfahren hatte. Zwischen 1847 und 1854, d.h. in den schlimmsten Jahren der Hungerkatastrophe, sind 1,25 Millionen und zwischen 1851 und 1901 weitere 3 Millionen Iren in die USA immigriert. Vor der Hungerkatastrophe bestand die irische Emigration aus land- und mittellosen Bauern, während in den Hungerjahren diese überwiegend aus jungen und ledigen Frauen bestand. Das geringe Durchnschnittsalter der Frauen war ein ausgeprägtes Merkmal der Frauenemigration nach der Hungerkatastrophe. Von 1852 bis 1921 betrug das Durchschnittsalter aller männlichen irischen Immigranten in den USA 22,5 Jahre, während das der Frauen bei 21,2 Jahre lag. Die Emigration der Frauen aus Irland hielt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unbeirrt an, auch während der Depressionsjahre in den USA 1873 und 1893. Die Folgen davon waren einerseits die Entvölkerung der ländlichen Regionen Irlands, in denen überwiegend die Männer übrig blieben und andererseits in dem Frauenüberschuss der irischen Gemeinden in den USA, in denen nun die Frauen eine signifikant aktivere wirtschaftliche Rolle gespielt haben (vgl. Hasia R. Diner, 1983, 30-33, 41). Theorien zur Migration der Frauen <?page no="128"?> 119 Viele der typischen Merkmale der irischen Familie, die vor der großen Hungerkatastrophe zu beobachten waren, sind auch nach der Immigration in die USA erhalten geblieben, bis auf die Stellung der Männer in der Familie. In den USA mussten irische Männer einen innerfamilialen Autoritätsverlust hinnehmen, während die Frauen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Rolle an Autorität gewinnen konnten. Die Mütter und Töchter hatten neue berufliche Optionen, die sie in Irland nicht hatten (z.B. Arbeit in privaten Haushalten als „domestic worker“ oder „white-collar“- Arbeit in Büros). Dagegen blieben die verbreiteten Normen der späteren Heirat und der relativ hohen Ehelosigkeit weiterhin als kulturelle Muster erhalten. 1850 heiratete z.B. in Boston jeder 50. irische Mann im Vergleich zu jedem 27. deutschen Mann. 1873, d.h. mehr als zwei Dekaden nach der Hungerkatastrophe, heirateten nur 10 irische Männer im Vergleich zu 42 deutschen Männern pro Tausend. Nach einer Untersuchung in Boston von 1907 hatten irische Frauen die niedrigste Heiratsrate unter den Frauen aller ethnischen Gruppen. Eine vergleichende Untersuchung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestätigte diese relativ geringe Heiratsneigung irischer Männer und Frauen. Darüber hinaus heirateten sie in relativ spätem Alter. 1882 heirateten irische Frauen in Buffalo und New York mit durchschnittlich 31 Jahren, während die irischen Männer mit durchschnittlich 35 Jahren heirateten. Die relativ späte Heirat blieb auch bei den irischen Frauen der zweiten Generation als kulturelles Muster erhalten. 1970 heirateten 35,3 % der irischen Frauen auf Rhode Island erst im Alter von 45 Jahren. Der Anteil der irischen Männer und Frauen, die nicht heirateten, blieb relativ hoch. Er lag in der irischen Gemeinde „Inis Beag“ bei 37,4 %. Damit wird offensichtlich, dass die Migration der Iren eindeutig wirtschaftlich motiviert war. Sie sind nicht in die USA immigriert, um dort einen Ehepartner zu finden. Besonders für die irischen Frauen war es kulturelle Selbstverständlichkeit, vor der Ehe zu arbeiten und Geld zu verdienen, um ihre Herkunftsfamilie und Geschwister finanziell zu unterstützen. Für sie gehörte ebenso selbstvertständlich dazu, mit der Eheschließung aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Eine verheiratete Frau gehört ganz der Familie (a married woman belonged in the home). Damit bedeutete die Heirat die bewusste Aufgabe der ökonomischen Unabhängigkeit, die kulturell einen hohen Stellen- Theorie zur Migration irischer Frauen von Diner <?page no="129"?> 120 wert hatte und für sie oft persönlich wichtiger war als eine unglückliche Ehe (any sort of work is a thousand times better than an unhappy marriage). Das Familienleben der Iren in den USA zeigte damit viele Parallen mit dem sozialen Leben in Irland auf (vgl. Hasia R. Diner, 1983, 30-33, 45-54). Auf der anderen Seite war das Familienleben der irischen Immigranten in den USA von extrem hohen Spannungen (extremely high level of tension) und Problemen häuslicher Gewalt (domestic violence) geprägt, deren Ursprung kulturell auf die strenge Geschlechtstrennung in Irland zurückgeht. Bezogen auf die amerikanische Gesellschaft lag eine der Ursachen darin, dass die Frauen durch die Erwerbsarbeit ihre individuelle Unabhängigkeit und Selbstbestätigung erreicht hatten und somit nicht mehr bereit waren, sich passiv der Herrschaft des Mannes zu unterordnen. Eine häufige Reaktion der Männer auf diese innerfamilialen Spannungen bestand darin, Frau und Kinder vorübergehend oder für immer zu verlassen (desert/ male desertion). Man geht davon aus, dass viele irische Frauen, die sich als Witwen (widows) ausgegeben haben, von ihren Männern verlassen wurden. Es war somit nicht erstaunlich, dass ungewöhnlich viele irische Familien in den USA die Mutter als Haushaltsvorstand angaben (the female-directed family). 1870 wurden 16,9 % der irischen Familien, 14,3 % der einheimischen Familien und 5,9 % der deutschen Familien in Philadelphia von Frauen als Familienvorstand geführt. Weitere familiale Probleme lagen in der pathologisch hohen Alkoholabhängigkeit der irischen Männer, in der relativ hohen Fertilität der irischen Frauen und in der bedrückenden Armut. Außerdem lag in der Tatsache, dass die irischen Männer wesentlich größeren Anpassungsproblemen in der amerikanischen Gesellschaft ausgesetzt waren als die Frauen, ein weiteres Konfliktpotential. Die Männer stammten aus einer Gesellschaft, in der ihre bevorzugte Behandlung eine kulturelle Norm war. Sie waren daher weniger auf das harte Leben im egalitären Amerika vorbereitet. Darüber hinaus wurde ihre Autorität in der Familie relativiert, weil sie weder Land noch berufliche Qualifikationen an ihre Kinder weitergeben konnten. Dagegen waren die irischen Frauen traditionell dazu erzogen, möglichst früh außerhalb der Elternfamilie zu arbeiten und ökonomisch unabhängig zu werden. So gesehen waren sie für das Leben in Amerika besser Theorien zur Migration der Frauen <?page no="130"?> 121 vorbereitet. Sie waren diejenigen, die auf das wirtschaftliche Wohlergehen der Familie achteten und die Männer vom exzessiven Trinken abhielten. Dies war auch der Hintergrund, warum die Frauen in der irischen Literatur für ihre starke Führungsrolle in der Familie gewürdigt wurden und man in Amerika von dem irischen Matriarchat sprach. Die Kehrseite dieser Frauendominanz in der irischen Familie war die relativ hohe Rate an psychischen Krankheiten, insbesondere der Schizophrenie bei den Männern (vgl. Hasia R. Diner, 1983, 30-33, 57-69). Die genannten Merkmale der späteren Heirat, der relativ hohen Ehelosigkeit, der relativ hohen Fertilität der Frauen und der strengen Geschlechtstrennung als typische Merkmale für die einzigartige Struktur der irischen Familie bildeten den Hintergrund für die aktive wirtschaftliche Selbstbestimmung der irischen Frauen. Die amerikanische Wirtschaft hatte diesen Frauen, die überwiegend unqualifiziert und unverheiratet (unskilled, unmarried women) waren, eine breite Palette beruflicher Möglichkeiten angeboten. Dennoch war der „domestic service“ die von den irirschen Frauen am meisten bevorzugte Arbeit. Dies war mehr als erstaunlich, weil der „domestic service“ z.B. von den amerikanischen, jüdischen, italienischen und französischen Frauen als berufliche Arbeit generell abgelehnt wurde. Die jungen einheimischen und protestantischen Frauen arbeiteten lieber in den Fabriken als „domestic servants“, weil der „domestic service“ von ihnen als erniedrigende (demeaning) und entwürdigende (beneath their dignity) Arbeit eingeschätzt wurde. Die italienischen Frauen lehnten den „domestic service“ ab, weil er mit der traditionellen Vorstellung des italienischen Familienlebens nicht zu vereinbaren war. Es war für sie kulturelle Tradition, unter dem besonderen Schutz des Vaters oder Bruders zu arbeiten und mit anderen Frauen zusammenzuarbeiten. Die Frauen anderer ethnischer Gruppen lehnten den „domestic service“ ab, weil er junge Frauen in einem Alter sozial isoliert, in dem die für eine spätere Partnerschaft entscheidenden sozialen Beziehungen zum anderen Geschlecht angebahnt werden. Trotz dieser allgemeinen Ablehnung wählten die jungen unverheirateten irischen Frauen mit großer Präferenz den „domestic service“ als Erwerbsarbeit. Für sie spielten die wirtschaftlichen Gründe (for economic reasons) eine zentrale Rolle. Sie teilten die Bedenken der Theorie zur Migration irischer Frauen von Diner <?page no="131"?> 122 Frauen anderer ethnischer Gruppen nicht, weil sie in einer Gesellschaft groß geworden sind, in der die Geschlechtstrennung ohnehin streng geregelt war und in der die spätere Heirat bzw. die Ehelosigkeit als kulturelle Norm galt. Abgesehen davon brachte der „domestic service“ in den Mittelschichtsfamilien die beste Möglichkeit der Akkulturation in die amerikanische Gesellschaft mit sich, in der sie ihr neues Leben einrichten mussten. Für sie gab es kein Zurück nach Irland. Die Ablehnung des „domestic service“ durch die Frauen anderer ethnischer Gruppen und die große Nachfrage der amerikanischen Hausfrauen nach Frauenhilfskräften lösten eine so große Knappheit auf dem Arbeitsmarkt des „domestic service“ (the shortage of demestic servants) aus, dass die katholische Glaubenszugehörigkeit der jungen irischen Frauen für die protestantischen Mittelschichtshausfrauen Amerikas keine Rolle mehr spielte. Die Frauen hatten daher weder Schwierigkeiten bei der Anstellung noch Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Im späten 19. Jahrhundert arbeiteten 60,5 % aller irischen Frauen in den USA im Bereich des „domestic service“. In der amerikanischen Gesellschaft entstand daher ein Stereotypenbild für irische Frauen als „Bridget“ und „Norah“. Diese beiden Namen wurden zur generellen Bezeichnung dieser Frauen, die in den privaten Haushalten amerikanischer Familien als „the servant girls“ arbeiteten (vgl. Hasia R. Diner, 1983, XIII, 70-74, 80-89, 93-94). Die verheirateten irischen Frauen und Witwen mit Kindern konnten nicht als „domestic servants“ arbeiten. Sie und solche junge Frauen, die keine Arbeit im Bereich des „domestic service“ gefunden hatten, arbeiteten in Industriebetrieben unterschiedlicher Art. Baumwollspinnereien (the cotton textile mills) und der Nadelhandel (needle trades) machten dabei zwei starke Konzentrationsbereiche der irischen Frauen aus. Viele der jungen Frauen, die mit der Heirat ihren Arbeitsplatz in der Industrie verlassen hatten, kehrten später als Witwen zurück. Die Industriearbeit galt generell als gesundheitsschädlich und gefährlich, weil dort aufgrund der mangelhaften Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen die Krankheits- und Unfallhäufigkeit relativ hoch war. 1860 starben z.B. 88 irische Frauen und 116 erlitten schwere Brandverletzungen bei einem Feuerausbruch in der „Pemberton Mill“ in New England. Viele der Frauen hatten keine berufliche Alternative, so dass die Annahme Theorien zur Migration der Frauen <?page no="132"?> 123 der Arbeit in den Textilindustrien oft ein Akt der Verzweifelung war. Auf der anderen Seite hatten die Witwen mit kleinen Kindern die Möglichkeit, die Näharbeiten auf Kontraktbasis zu Hause als Heimarbeit (homework) zu verrichten, so dass sie Erwerbsarbeit und Mutterpflichten in Einklang bringen konnten. Der Verdienst in der Bekleidungsindustrie war erbärmlich niedrig, weil das Überangebot an Frauenarbeitskräften in diesem Bereich für kontinuierlich sinkende Löhne gesorgt hatte. Erst in der 1. Dekade des 20. Jahrhunderts trat eine allmähliche Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen ein (vgl. Hasia R. Diner, 1983, XIII, 74-78). Die Migration der irischen Frauen war von Anfang an wirtschaftlich motiviert. Sie verfolgten auch nach der Immigration in den USA konsequent ihre wirtschaftlichen Ziele, so dass sie eine stetige soziale Aufwärtsmobilität erreichen konnten. Sie stiegen von der Arbeit im „domestic service“ nach und nach in semiprofessionelle Positionen auf, in denen sie zu Krankenschwestern und Lehrerinnen avancierten. Die Spätehe bzw. Ehelosigkeit als kulturelle Norm unterstützte diese soziale Mobilität von der Küche über die Fabriken und Büros in die Krankenhäuser und Schulen. 1870 waren 20 % aller Lehrerinnen in der Stadt New York irischer Herkunft. In der 1. Dekade des 20. Jahrhunderts bestand in New York die größte ethnische Gruppe unter den Lehrerinnen aus irischen Frauen. Um die ökonomischen Ziele der Migration zu erreichen, haben Viele den irischen Weg gewählt, indem sie sich für die Ehelosigkeit entschieden, um die Möglichkeiten, die die amerikanische Gesellschaft ihnen angeboten hat, zu nutzen (vgl. Hasia R. Diner, 1983, XIII, 94-105). Auf der anderen Seite konnten Viele der irischen Frauen, die verlassen (abandoned), verwitwet (widowed), verwaist (orphaned) und missbraucht (abused) wurden, nicht an den Opportunitäten der amerikanischen Gesellschaft teilhaben. Armut, Kriminalität, Alkoholabhängigkeit, Abhängigkeit von karitativen Hilfen und psychische Erkrankungen kennzeichneten ihr Leben. Nach einem Bericht der US-Regierung von 1901 stellten die Iren den höchsten Anteil der Insassen in karitativen Einrichtungen und Strafvollzugsanstalten. Die Kriminalität war dabei überwiegend eine Folge von Armut, Desorganisation der Familie und häuslicher Gewalt. Die Armut hat diese Frauen zwar zu kleinen Gesetzesverstößen und / oder Theorie zur Migration irischer Frauen von Diner <?page no="133"?> 124 zur Störung der Öffentlichkeit durch Trunkenheit veranlasst, sie wirkte jedoch kaum als Ursache für die Prostitution, was im unmittelbaren Zusammenhang mit der strengen Sexualmoral des katholischen Irlands zu sehen war (vgl. Hasia R. Diner, 1983, XIII, 106- 119). Insgesamt betrachtet verfügten die irischen Frauen über eine Reihe sozialer Erfahrungen und Charaktermerkmale, die auf den ersten Blick eine Nähe zu feministischen Bewegungen vorstellbar erscheinen lassen. Viele von ihnen haben bewusst eine Gesellschaft verlassen, die ihnen keine Zukunftschancen bietet, und eine andere gewählt, die ihnen umgekehrt viele neue Möglichkeiten anbieten konnte. Die Migration war somit für sie auch eine Befreiung. Sie bauten ein dichtes Netzwerk gegenseitiger Hilfen und Unterstützung auf. In der Erwerbsarbeit haben sie konsequent ihre ökonomischen Ziele verfolgt. So wurde der „domestic service“, den Frauen anderer ethnischer Gruppen generell ablehnten, von ihnen als Erwerbsarbeit akzeptiert. Sie haben als Ehefrau, Tochter und Schwester ihre Familien nicht nur ökonomisch vorwärts getrieben, sondern auch „kultiviert“, indem sie Wertvorstellungen und Verhaltensweisen der sozialen Mittelschicht eingeführt haben. Diese Beispiele genügen bereits, um sich die irischen Frauen als geeignete Rekruten für den feministischen Kampf um die Verbesserung und Erweiterung der Frauenemanzipation im politischen, sozialen und ökonomischen Sektor vorzustellen. In der Tat haben die Feministinnen versucht, die irischen Frauen zu überzeugen, dass der Kampf um das politische Wahlrecht (suffrage) der Frauen und für die gleiche Bezahlung der gleichen Arbeit (equal pay for equal work) in ihrem Interesse ist. Die irischen Frauen erteilten jedoch dem Feminismus in den USA eine deutliche Absage. Sie leugneten nicht, dass sie für die wichtigen Entscheidungen in der Familie die letzte Verantwortung tragen, dennoch wollten sie sich nicht in die Aktivitäten hineinmischen, die den Männern vorbehalten sind. Die geschlechtsspezifische Trennung der Lebenssphären sollte beibehalten werden. Viele irische Frauen haben aktiv in der Gewerkschaftsbewegung mitgearbeitet und sich einen Namen gemacht, jedoch nur um ihre ökonomischen Interessen besser vertreten zu können. Sie lehnten aber die Idee der Feministinnen ab, dass es zwischen Mann und Frau keine fundamentalen Unterschiede geben solle. Sie haben die Theorien zur Migration der Frauen <?page no="134"?> 125 untergeordnete und unterwürfige Rolle (the subordinate and submissive role), die die irische Kultur ihnen zugeschrieben hat, in Wirklichkeit nie akzeptiert. Dennoch haben sie die traditionelle Vorstellung nie abgelehnt, dass die geschlechtlich getrennten Lebenssphären im Interesse beider Geschlechter sind. Die kulturelle Tradition der Geschlechtstrennung (gender segregation) und die damit zusammenhängende Feindlichkeit der Geschlechter (gender hostility) haben eine Situation geschaffen, in der die Frauen kein Interesse an der Teilhabe an männlichen Aktivitäten zeigten. Der Feminismus thematisierte eher Aspekte, die die irischen Frauen als verletzend empfanden, wie Fragen zu Scheidung, Abtreibung, Empfängnisverhütung und sexueller Emanzipation. Die kulturelle (cultural outlook) und religiöse Orientierung (religious orientation) der feministischen Frauenbewegung unterschied sich damit grundlegend von der der irischen Frauen. Die Ethnizität und kulturellen Werte haben sich stärker erwiesen als das „gender“. Trotz der vielen Schritte der Akkulturation, die die irischen Frauen vollzogen hatten, blieb das kulturelle Erbe Irlands (Irish heritage) intakt. Ihre ökonomische Zuversicht (economic assertiveness) und das starke Selbstgefühl (strong sense of self) widersprachen der kulturellen Tradition nicht, sondern wirkten als Mechanismus, der die Ideale der alten Welt mit den Bedürfnissen Amerikas verband (vgl. Hasia R. Diner, 1983, XIII, 139-141, 149-153). Theorie zur Migration irischer Frauen von Diner <?page no="135"?> 126 3.2 Evelyn Nakano Glenn Familiale, berufliche und soziale Situation der ersten, und zweiten Generation japanischer Frauen sowie der japanischen Kriegsbräute in Amerika Drei Generationen der amerikanischen Frauen japanischer Herkunft im Beruf des „domestic service“ (Issei, Nisei, War Bride Three Generations of Japanese American Women in Domestic Service, 1986. 277 S.) Um die wirtschaftliche Bedeutung der Frauenmigration hervorzuheben, weist Evelyn Nakano Glenn einleitend darauf hin, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts Millionen Frauen ihr Heimatland in Europa, Lateinamerika und Asien verlassen haben, um in den USA zu arbeiten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts begann die Migration schwarzer Frauen aus dem ländlichen Süden der USA in die Städte des Nordens und Südens. Obwohl nicht immer bemerkt, waren diese Frauen ein integraler Teil des Migrationsstroms, der durch die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften ausgelöst wurde. Ihre geringen Löhne auf dem nach der Rassen- und Geschlechtszugehörigkeit stratifizierten Arbeitsmarkt waren für das Überleben der Familien unverzichtbar. Eines der Hauptbeschäftigungsfelder für diese Frauen war, beginnend von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, der „domestic service“. Die Hälfte aller Frauenarbeitskräfte und 80 % der schwarzen Frauen waren in diesem Bereich beschäftigt. Während der „domestic service“ für die Frauen europäischer Herkunft eine temporäre Beschäftigung blieb, die ihren Übergang von der Alten zur Neuen Welt begleitete, war sie für die Frauen nichtweißer Rasse die einzige und lebenslange berufliche Option außerhalb der Landwirtschaft, unabhängig davon, welche Qualifikation sie mitbrachten. Die Konzentration in diesem Bereich verstärkte ihre Degradierung in der Gesellschaft. Sie wurden generell mit den Reinigungsfrauen in den privaten Haushalten der Weißen assoziiert. Die Niederlassung (settlement) Theorien zur Migration der Frauen <?page no="136"?> 127 in den USA bedeutete für sie nicht die Assimilation, sondern den Übergang (transition) zu einer rassisch-ethnischen Minderheit (racial-ethnic minority). Wie die Frauen anderer ethnischer Gruppen war mehr als die Hälfte aller Japanerinnen in dem „the San Francisco Bay Area“ auf dem Arbeitsmarkt des „domestic service“ konzentriert. Dabei waren drei Gruppen zu unterscheiden: Die „Issei“, die erste Generation der japanischen Immigrantinnen, die vor 1924 in die USA eingewandert sind, die „Nisei“, die in den USA geborene zweite Generation und die Kriegsbräute (war brides), d.h. die Ehefrauen der amerikanischen Soldaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan stationiert waren. Während die dominante Mehrheitsgesellschaft versucht hat, diese Gruppen in untere soziale Schichten zu verweisen und auszubeuten, unternahmen die Frauen selbst Alles, um in der amerikanischen Gesellschaft Fuss zu fassen. Jede sich bietende wirtschaftliche Chance wurde für ihre Ziele genutzt. Dadurch wurden sie zu Ernährerinnen der Familie, aktiven Bewahrerinnen der ethnischen Gruppenkultur und unverzichtbaren wirtschaftlichen Ressourcen für das Überleben der japanischen Immigranten in der Gesellschaft der USA (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 3-6). Die erste Periode der Migration japanischer Frauen fällt in die Zeitspanne von 1909 bis 1924. In dieser Zeit kam die große Mehrheit als Ehefrauen japanischer Männer (Issee-Frauen), die bereits seit vielen Jahren in den USA arbeiteten. Die zweite Immigration der Japanerinnen fand nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Diese bestand aus den Frauen, die amerikanische Soldaten geheiratet haben. Die Mehrheit dieser Frauen kam zwischen 1950 und 1960 in die USA. Die Immigration der Japanerinnen war ein Teil der umfassenden Immigrationswellen aus unterentwickelten Ländern in die USA. Generell haben die Arbeitsmigranten aus diesen Ländern für die Entwicklung des amerikanischen Kapitalismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle gespielt. Die Rekrutierungsgebiete der Arbeitskräfte haben sich jedoch im Laufe der kapitalistischen Entwicklung sukzessiv verlagert. Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Infrastruktur des amerikanischen Westens aufgebaut wurde, wurden Hunderttausende lateinamerikanische und asiatische Männer für schwerste Arbeiten (dirty manual work) rekrutiert. Während des Ersten Weltkrieges wurden dann Theorie zur Migration japanischer Frauen von Glenn <?page no="137"?> 128 schwarze Männer und Frauen aus dem Süden der USA für die Industrie- und Dienstleistungsarbeit im Norden und Mexikaner für die Saisonarbeit in der Landwirtschaft des Südwestens rekrutiert. In den 1970er und 1980er Jahren wurden Frauen als billige Arbeitskräfte aus den karibischen Ländern und Lateinamerika für die Dienstleistungs- und Manufakturarbeiten im urbanen Nordosten eingesetzt. Trotz der Unterschiede zu Zeitpunkt und Region der Rekrutierung zeichnete sich der Prozess der Arbeitsmigration in folgenden Punkten durch eine relative Kontinuität aus. Erstens wurden die Arbeitsmigranten aus wirtschaftlich rückständigen Gebieten rekrutiert, in denen die koloniale „Verbiegung“ (distortion) der Wirtschaft den großen Teil der Bevölkerung aus ihrer traditionellen Verwurzelung gerissen hat. Die entwurzelten Menschen wurden für den Arbeitskräftebedarf der entwickelten Regionen eingesetzt. Zweitens war diese Rekrutierung sowohl für die Industrieländer als auch für die Arbeitsmigranten selbst als temporäre Maßnahme geplant. Die Aufnahmeländer wollten ihren Arbeitskräftebedarf nur für eine begrenzte Zeit durch die Arbeitsmigranten abdecken. Die Politik der Industrieländer hat daher von Anfang an die dauerhafte Niederlassung (long-term settlement) nicht gewollt und verhindert. Drittens wurden die Arbeiten, die die Arbeitsmigranten verrichteten, wegen der geringen Bezahlung, körperlichen Anstrengung und hohen gesundheitlichen Belastung von den Einheimischen abgelehnt. Indem die Politik die Rekrutierung der Arbeitsmigranten nur für solche Arbeiten zugelassen hat, widersprach sie im Endeffekt ihrer eigenen Zielsetzung, sie nur temporär zu beschäftigen, denn die geringe Bezahlung führte zwangsläufig zur längeren Verweildauer der Arbeitsmigranten. Sie mussten länger als geplant bleiben, um ihre wirtschaftlichen Ziele zu erreichen. Die Folgen zeigten sich in der wachsenden Fremdenfeindlichkeit und der Exklusion der Migranten auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 8-11). Um die Unterschiede aufzuzeigen, die im Arbeitsprozess bei weißen und nichtweißen Immigranten eintreten, wurden traditionell das Modell des Humankapitals der Wirtschaftswissenschaft und das Modell der Assimilation der Soziologie herangezogen. Danach soll das Humankapital der Migranten die berufliche Position erklären, die sie in der Wirtschaft einnehmen. Migranten haben gering be- Theorien zur Migration der Frauen <?page no="138"?> 129 zahlte Jobs (menial jobs), weil sie nur über geringe berufliche Qualifikationen und mangelhafte englische Sprachkenntnisse verfügen. Ihre soziale Mobilität wird durch die Assimilation erklärt. Dies bedeutet, dass die Migranten und ihre Kinder sich in dem Ausmaß von den niedrig bezahlten Jobs befreien, in dem sie sich die Wertvorstellungen, die Lohnstandards und die Arbeitsbedingungen der Gastgesellschaft (host society) aneignen. Mit anderen Worten hängen die Assimilation und der Aufstieg von den Merkmalen des Humankapitals ab, die sich die Migranten in der Gastgesellschaft aneignen. Diese traditionellen Modelle erklären zwar plausibel die Migration und Mobilität der europäischen Migranten, jedoch kaum die typischen Merkmale der Migration und Niederlassung der nichteuropäischen Immigranten. Sie können beispielsweise nicht erklären, wieso Migranten trotz guter Ausbildung und Qualifikation (Humankapital) nur Jobs mit geringen Qualifikationsanforderungen zugewiesen bekommen und bestimmte ethnische Gruppen über mehrere Generationen hinweg sozial und wirtschaftlich untergeordnet bleiben. Ein Modell, das diese theoretischen Mängel mitberücksichtigt, ist das der dualen Wirtschaft (dual economy) und des dualen Arbeitsmarktes (dual labor market), das besonders die Ausbeutung der Migranten durch die Aufnahmegesellschaft hervorhebt. Danach beuten die entwickelten Länder die billigen Arbeitskräfte der unterentwickelten Länder aus. Diese Migrationsdynamik, so die Erklärung des Modells, wird durch die monopolistischen Tendenzen der kapitalistischen Wirtschaft der entwickelten Länder ausgelöst. Im Gegensatz zu den wettbewerbsorientierten Firmen können die monopolistischen Betriebe die Unsicherheiten der Wirtschaft durch die Kontrolle der Rohstoffe, der Finanzierung, des Marketings und des Arbeitskräfteeinsatzes reduzieren. So kann die Mechanisierung die Abhängigkeit der Produktion von der Interessenlage der Arbeiter reduzieren. Das Problem ist jedoch, dass es Prozesse gibt, die nicht mechanisiert werden können. In solchen Bereichen findet weiter der Wettbewerb um Arbeitskräfte statt. Diesem dualen Aspekt der Wirtschaft (Monopol und Wettbewerb) trägt das Modell des dualen Arbeitsmarktes Rechnung. Danach besteht der primäre Markt (the primary market) aus den Jobs des monopolistischen Sektors, die sich durch die Merkmale wie höhere Löhne, Sicherheit und Aufstiegsmöglichkeiten kennzeichnen, wäh- Theorie zur Migration japanischer Frauen von Glenn <?page no="139"?> 130 rend der sekundäre Markt (the secondary market) aus den Jobs des Wettbewerbssektors besteht, die sich durch die gegenteiligen Merkmale kennzeichnen. Die Allokation (allocation) der Arbeitskräfte in diesen beiden Märkten erfolgt nach den vorhandenen Einteilungen entlang des Geschlechts (gender), der Rasse (race), der Nationalität (nationality) und des Alters (age). Die Allokation der Arbeitskräfte zu bestimmten Berufen und Industrien im sekundären Markt erfolgt dagegen nach den Kategorien (categories) von Minderheit (minority), Geschlecht und Migranten (migrants). Dabei stellen die Migranten die flexibelste Kategorie in dem Sinne dar, in dem sie je nach Konjunktur und Produktion beliebig eingestellt bzw. entlassen werden können. Sie sind in diesem Sinne die Reservearmee für den Kapitalismus. Sie spielen im Kapitalismus insofern eine entscheidende Rolle, als sie die Unsicherheiten zum Vorteil des Monopolkapitalismus reduzieren. Ihre Allokation auf dem Arbeitsmarkt ist nicht von dem Humankapital, sondern von den zugeschriebenen Merkmalen der Ethnizität und Nationalität abhängig. Ihre Mobilität ist in dem Ausmaß möglich, in dem ihnen die Kapitalisten und die einheimischen Arbeiter den Zugang zum primären Arbeitsmarkt erlauben (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 12-14). Diese Modelle basieren auf den Erfahrungen der Migranten. Die Erfahrungen der Migrantinnen werden dagegen ignoriert bzw. nur am Rande thematisiert. Damit wird übersehen, dass der Einzug der Migrantinnen in den Arbeitsmarkt gravierende Veränderungen des Wirtschaftslebens der Familie mit sich bringt. Die Arbeit der Frauen verdient eine separate Behandlung, weil ihre Beziehungen zur Arbeit fundamental anders sind als die der Männer. Ihre Position auf dem Arbeitsmarkt wird nicht nur durch die rassisch-ethnische Stratifikation, sondern auch durch die Geschlechtsstratifikation (gender stratification) bestimmt. Diese beiden Determinanten sind Gründe dafür, dass sich der Arbeitsmarkt der Migrantinnen von dem der Migranten unterscheidet. Weiterhin unterscheidet sich die Arbeit der Frauen von der der Männer insofern, als die Erstere die reproduktiven Aktivitäten einschließt. Die Aufrechterhaltung des Familienlebens und die Übermittlung der kulturellen Werte an die nächste Generation gehören zu den zentralen Aspekten der reproduktiven Arbeit der Frauen (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 14- 18). Theorien zur Migration der Frauen <?page no="140"?> 131 Obwohl eine kleine Zahl von Japanern bereits um 1860 in die USA immigriert ist, fand die eigentliche erste japanische Immigration zwischen 1891 und 1900 nach San Francisco statt. In dieser Zeit immigrierten 27.440 Japaner, in der Zeit zwischen 1901 und 1908 wurde mit einer Zahl von 51.694 Immigranten die Höchstzahl erreicht. Bis 1908 waren die japanischen Immigranten fast ausschließlich Männer. Erst nach 1908 kamen nach und nach japanische Frauen. Zwischen 1909 und 1923 machte der Frauenanteil zwei Fünftel der offiziell zugelassenen japanischen Immigranten in den USA aus. Mit dem Gesetz der Einschränkung der Immigration von 1924 hörte dann die Immigration der Japaner auf. Diese Immigration war ein Teil der Immigration einer großen Zahl von Asiaten, die von 1850 bis 1930 als Antwort auf die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften nach Hawaii und Kalifornien gekommen sind. Der Aufbau der Infrastruktur im Westen, die Kultivierung der Landwirtschaft und die Erschließung der Bodenschätze lösten einen enormen Bedarf an Arbeitskräften aus, der allein durch einheimische Arbeitskräfte nicht abgedeckt werden konnte. Auf der anderen Seite haben die politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen in China und Japan im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Lebensgrundlage eines großen Teils der agrarischen Bevölkerung zerstört, so dass viele Arbeitskräfte freigesetzt wurden. Die Vereinigten Staaten konnten als imperiale Macht die asiatischen Länder zu Verträgen zwingen, die ihnen die Rekrutierung billiger Arbeitskräfte zu vorteilhaften Konditionen erlaubte. Dabei wurde die Einreise der asiatischen Frauen und Kinder gesetzlich verboten. Die dauerhafte Niederlassung der rekrutierten Arbeitskräfte in den USA sollte verhindert werden (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 22-24). Die Chinesen waren die ersten Asiaten, die von den USA in den 1850er Jahren rekrutiert wurden, so dass ihre Erfahrungen die Verhaltensmuster der nachfolgenden asiatischen Gruppen bestimmten. Die rechtlichen Einschränkungen (legal restrictions), die die USA den Chinesen auferlegt hatten, dienten umgekehrt als Modell für die Behandlungen anderer Asiaten durch die USA. Den Chinesen waren generell die bürgerlichen Rechte vorenthalten, so dass sie den dauernd belästigenden Gesetzgebungen (subject to harassing legislation), wie z.B. Sonderkopfsteuern (special head taxes) und Theorie zur Migration japanischer Frauen von Glenn <?page no="141"?> 132 lokalen Verordnungen (local ordinances) ausgesetzt waren, die ihnen auch das Betreiben von Geschäften untersagten. Auf Bundesebene legte das Gericht aus, dass die Verfassung die Einbürgerung nichtweißer Immigranten, die nicht afrikanischer Herkunft sind, d.h. der Asiaten, verbietet. Damit wurde in einer Zeit der großen chinesischen Immigration ein rassisch stratifizierter Arbeitsmarkt fest installiert (firmly entrenched). Danach durften die asiatischen Arbeiter nur für schmutzige, gefährliche, gering bezahlte und demütigende Arbeiten (dirty, dangerous, low payed, degrading work) beschäftigt werden, die die weißen Arbeiter ablehnten. Trotz solcher Restriktionen haben die Chinesen Nischen in Industrie und Dienstleistung gefunden, so dass sie bereits 1860 ein Viertel der Arbeitskräfte Kaliforniens ausmachten. Tausende von Chinesen haben beim Bau der transkontinentalen Eisenbahnstrecke ihr Leben verloren. Um Landwirtschaft betreiben zu können, haben sie Tausende von Morgen Land erworben. Sie haben in der neu entstehenden Zigarren- und Schuhindustrie gearbeitet. Als 1870 der Bau der Eisenbahnlinie fertiggestellt wurde, trat eine wirtschaftliche Rezession ein und die Arbeitslosenzahlen schnellten nach oben. Die Chinesen wurden als Sündenböcke (scape-goats) abgestempelt, so dass sie aus den Städten und Minenbergwerken gewaltsam vertrieben (expelled), ghettoisiert (ghettoized) und entqualifiziert (deskilled) wurden. Unter dem Druck der weißen Arbeiter hat schließlich das Bundesgesetz (a federal law) von 1882 die Einreise von Chinesen aus der Arbeiterklasse untersagt. Eine unmittelbare Folge war die massive Reduzierung der chinesischen Arbeitskräfte, obwohl die Nachfrage, insbesondere aus der expandierenden Landwirtschaft Kaliforniens, kontinuierlich stieg. Eine neue Quelle billiger Arbeitskräfte (cheap hands) musste erschlossen werden. Die Ereignisse in Japan in den 1880er Jahren führten dazu, dass Japan zum nächsten Rekrutierungsgebiet für die USA wurde (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 24-25). Vor 1868 hat die japanische Regierung eine Isolationspolitik (a isolationist policy) betrieben und erlaubte ihren Bürgern nicht, das Land zu verlassen. Im Zuge der erzwungenen Öffnung Japans (forced opening of Japan) durch die amerikanische Militärmacht (1854) und der Wiedererrichtung des Kaisertums Meiji (1868) hat eine neue Generation eine Politik der Modernisierung eingeleitet. Theorien zur Migration der Frauen <?page no="142"?> 133 Technologien und Institutionen wurden vom Westen übernommen, Studenten, insbesondere Angehörige des Adels, ermutigt, im Ausland zu studieren. Die japanische Regierung ließ sich in ihrer Migrationspolitik von den Erfahrungen der chinesischen Arbeitsmigranten in den USA leiten und zögerte, japanischen Arbeitern die Arbeitsmigration in die USA zu erlauben. Sie befürchtete, dass eine große Zahl von Arbeitsmigranten das Ansehen Japans beeinträchtigen könnte. Vor diesem Hintergrund war die Migration bis 1885 nicht erlaubt. Die Industrialisierung und die Schaffung eines modernen Militärapparats verursachten in Japan jedoch finanzielle und soziale Probleme, deren Hauptlast die japanische Landbevölkerung durch hohe Steuerabgaben tragen musste. Die Depression im Jahre 1880 war so dramatisch, dass die Bauern ihrer Steuerpflicht nicht mehr nachkommen konnten. Daraufhin erlaubte die Regierung den Bauern, nach Beschäftigungsmöglichkeiten im Ausland zu suchen. Die ersten japanischen Arbeitsmigranten wurden auf den Zuckerpantagen in Hawaii eingesetzt. In den folgenden Jahren gingen viele junge Japaner der Mittelschicht, die die eigenen Fahrtkosten selbst finanzieren konnten, auf das Festland der USA, insbesondere nach Kalifornien. Sie waren dort als Ersatz für die chinesischen Arbeiter willkommen (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 25-26). Die überwiegende Mehrzahl der Japanerinnen, die einige Jahre nach dem Höhepunkt der Immigration der japanischen Männer kamen, waren frisch vermählte Bräute der Arbeiter, die bereits seit Jahren in den USA lebten. Die Heirat kam in aller Regel durch Heiratsvermittler („baishakunin“) zustande. In vielen Fällen haben die Bräute ihre zukünftigen Ehemänner nur auf Fotos gesehen und durch Fernheirat geehelicht (picture marriage). Da die Fotos oft vor 10 oder 20 Jahren gemacht wurden, fanden die jungen Frauen bei der Ankunft in den USA oft wesentlich ältere Männer vor, so dass große Enttäuschungen die Folge waren. Dies führte auch dazu, dass die Frauen ihre wesentlich älteren Ehemänner heimlich verlassen (desertion) haben. Die erste Generation der Japanerinnen (Issei) wurde fast ausschließlich aus den vier ärmsten Verwaltungsbezirken (prefectures) Japans, nämlich aus Hiroschima, Yamaguchi, Kumamoto und Fukuoka rekrutiert, weil hier die Frauen an harte Arbeit gewöhnt waren. Sie zeichneten sich außerdem durch Theorie zur Migration japanischer Frauen von Glenn <?page no="143"?> 134 die kulturell vermittelte Fähigkeit aus, den Zusammenhalt der Gemeinschaft (cohesiv community) zu stärken und diesen durch ihren ausgeprägten Sinn für soziale Verantwortung (concept of „giri“) aufrechtzuerhalten. Ein weiterer Aspekt, der der Bewältigung der schwierigen Lebenssituation in der Migration zugute kam, war das kollektiv orientierte Familiensystem im Süden Japans. Dort bildete die Hausgemeinschaft (household) das Fundament der Gesellschaft und war zugleich grundlegende wirtschaftliche Produktionsgemeinschaft. In ihr existierte eine nach Alter und Geschlecht voneinander abgegrenzte Rollen- und Aufgabenverteilung der einzelnen Mitglieder, die jeweils ihren individuellen Beitrag pflichtbewusst zum Wohle der gesamten Hausgemeinschaft zu leisten hatten (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 27-28, 42, 46). Die japanischen Immigranten haben sich mehrheitlich in den pazifischen Küstenregionen der USA niedergelassen. Die Nähe zu Asien, die Seehäfen, in denen die von Asien kommenden Schiffe vor Anker gingen und die große Nachfrage nach Arbeitskräften in diesen Regionen haben dieses konzentrierte Siedlungsverhalten bewirkt. Sie lebten, wie alle anderen ethnischen Gruppen in den USA, geographisch konzentriert und von den Einheimischen getrennt in segregierten Siedlungen. 1930 waren 70,2 % der japanischen Immigranten in den USA in Kalifornien ansässig. In dieser Konzentration war die erste Phase der dauerhaften Niederlassung und Anpassung der japanischen Arbeitsmigranten erkennbar, die durch ihre regionale Konzentration die Fremdenfeindlichkeit der Einheimischen auslösten. Bis 1907 bildete „The San Francisco Bay Area“ eines der drei Hauptzentren der japanischen Immigranten. Nach 1908 verlagerte sich das Zentrum nach „Los Angeles County“. 1950 betrug die Zahl der japanischen Bevölkerung in Kalifornien 85.000, wobei Los Angeles mit 26.000 japanischen Einwohnern die größte Konzentration zeigte (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 28-29, 34). Die wachsende Zahl der japanischen Bevölkerung führte zu fremdenfeindlichen Agitationen der Einheimischen, so dass das amerikanische Außenministerium der japanischen Regierung nahegelegt hat, die Zahl der Emigranten zu reduzieren. Als Folge wurde eine Vereinbarung (Gentlemen’s Agreement von 1907/ 1908) zwischen den beiden Regierungen mit dem Ziel erreicht, durch die Reduzie- Theorien zur Migration der Frauen <?page no="144"?> 135 rung der Emigrantenzahl die japanische Bevölkerung in den USA zu verkleinern. Diese Vereinbarung hat einerseits dazu geführt, dass zwischen 1910 und 1929 die Zahl der japanischen Remigranten deutlich größer ausfiel als die der Emigranten. Andererseits wurde den in den USA ansässigen Japanern erlaubt, ihre Frauen und Verwandten nachzuholen, so dass die Zahl japanischer Frauen kontinuierlich stieg. Nach der Volkszählung von 1900 lebten nur 985 japanische Frauen unter 15 Jahren in den USA. Bis 1910 stieg diese Zahl auf 9.087 an. Zwischen 1909 und 1923 sind 45.706 Japanerinnen in die USA immigriert, davon 33.628 als Ehefrauen. Diese Entwicklung hat zur Veränderung der Geschlechtsproportion (sex ratio) der japanischen Bevölkerung in den USA geführt. Während 1900 einer japanischen Frau 25 japanische Männer gegenüber gestanden haben, standen 1920 einer japanischen Frau zwei japanische Männer gegenüber. Die Ankunft der japanischen Frauen markierte den Beginn der dauerhaften Niederlassung (settlement period) der japanischen Immigranten (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 30-31). Von 1924 bis 1940 fand eine Periode der Stabilisierung (stabilization period) der Niederlassung der japanischen Immigranten in dem Sinne statt, dass die weitere japanische Immigration ausblieb und das Wachstum der japanischen Bevölkerung ausschließlich von der natürlichen Geburtenrate abhängig wurde. Die erste Elterngeneration der Japaner (Issei) projektierten eigene unerfüllte Träume auf ihre Kindergeneration, die als amerikanische Staatsbürger alle bürgerlichen Rechte hatten, die der Elterngeneration vorenthalten blieben. Für die japanischen Eltern spielte die Erziehung ihrer Kinder eine zentrale Rolle, weil sie erkannt hatten, dass eine gute Ausbildung eines der wichtigsten Mittel zum sozialen Aufstieg darstellte. Während die Mehrheit der ersten Elterngeneraration zwischen 1870 und 1900 geboren war, ist die zweite Kindergeneration (Nisei) zwischen 1915 und 1940 geboren, so dass sie seit Mitte der 1930er Jahre allmählich auf den Arbeitsmarkt drängte. Trotz Collegeausbildung und Staatsbürgerschaft (citizenship) blieb ihnen, weil sie rassischen Diskriminierungen ausgesetzt waren, die Beschäftigung (the door to employment) im öffentlichen Sektor weitgehend verschlossen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führte dazu, dass die Japaner ohne Staatsbürgerschaft als Theorie zur Migration japanischer Frauen von Glenn <?page no="145"?> 136 potentielle Feinde in Internierungslagern (internment camp) an der Westküste kaserniert wurden. Alle Ersparnisse und aller Besitz gingen ihnen dadurch verloren. Nach dem Krieg blieben Viele im mittleren Westen oder zogen in den Osten weiter. In der Nachkriegszeit von 1947 bis 1975 konnten schätzungweise 45.000 japanische Frauen als Ehefrauen amerikanischer Soldaten in die USA immigrieren. Im Gegensatz zur relativ homogenen ländlichen Herkunft der Issei stammten diese Kriegsbräute (war brides) überwiegend aus den industrialisierten urbanen Regionen Japans. Sie waren im Jugendalter, als sie zwischen 1950 und 1960 amerikanische Soldaten heirateten, die in Japan stationiert waren. Die allgemeine Situation in Japan unmittelbar nach dem Zweiten Krieg war durch die kriegsbedingte Entwurzelung (uprooting) vieler Familien, durch die generelle Knappheit an Arbeitskräften (labor shortage), die durch den Tod einer großen Zahl von Männern im Krieg bedingt war, und durch große materielle Entbehrungen (hunger and privation) gekennzeichnet. Es wurde dadurch normal, dass die Frauen arbeiteten. Viele junge Frauen haben in den amerikanischen Militärbasen ihre Erwerbsarbeit gefunden, so dass sie mit US-Soldaten in Berührung kamen. Die geringe Zahl japanischer Männer im heiratsfähigen Alter und die Einsamkeit der amerikanischen Soldaten waren unter anderem Anlass dafür, dass relativ viele interethnische Ehen geschlossen wurden. Für die Japanerinnen bedeutete die Heirat mit einem Amerikaner materielle Sicherheit und eine egalitäre Partnerbeziehung. Dafür mussten sie in Kauf nehmen von der eigenen Familie und der japanischen Gesellschaft verstoßen und isoliert zu werden. Ihre Emigration in die USA war somit fast zwangsläufig. Nach der Immigration stellte sich jedoch für viele „war brides“ heraus, dass ihre Träume nur Illusionen waren. Sie gerieten oft aufgrund ihrer Anpassungsprobleme in große Abhängigkeit von ihren Ehemännern, die zudem noch häufig dienstlich versetzt wurden. Häufige Trennungen (separation) von den Ehemännern, ausbleibende Unterhaltszahlungen (nonsupport) und häufige Alkoholabhängigkeit (drinking) dieser Männer, die mehrheitlich einen niedrigen Bildungsstand hatten, führten zu Zerrüttung (breakup) und Scheidung (divorce) vieler dieser Ehen. Betrachtete man die japanische Bevölkerung insgesamt, so stellte man einen allmählichen Generationswechsel fest. Die „Issei“ starb aus, die „Nisei“ erreichte Theorien zur Migration der Frauen <?page no="146"?> 137 das Rentenalter und die dritte Generation der „Sansei“ wuchs zum Jugendalter heran. Die „Sansei“ entwickelte deutlich entspanntere Beziehungen zu den Weißen. 40 bis 50 % der „Sansei“ heirateten außerhalb ihrer eigenen ethnischen Gruppe (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 32-37, 59-66). Die Erfahrungen, die die drei Kohorten der „Issei“, „Nisei“ und „war brides“ auf dem Arbeitsmarkt machten, waren durch die Auswirkungen der Stratifikation des Arbeitsmarktes geprägt und durch die Kriterien „gender“, „Rasse“ und „Migrantenstatus“ bestimmt. Die „picture marriage“, die die Issei-Frauen zur Immigration in die USA veranlasst hatten, ging auf die Initiativen der japanischen Männer zurück, die ohne jegliche romantische Vorstellung zu Partnerschaft und Familie lediglich eine unbezahlte und unterstützende Mitstreiterin bei der Verfolgung ihrer wirtschaftlichen Ziele suchten. Die Issei-Frauen arbeiteten daher von Anfang an in Landwirtschaft, Dienstleistung und Geschäften (z.B. Wäscherei), in denen bereits ihre Ehemänner beschäftigt waren. Aufgrund der Rassendiskriminierung wurden die Japaner vom besser bezahlten Arbeitsmarkt der Industrie ausgegrenzt, so dass für sie nur die landwirtschaftlichen und die entwürdigenden Arbeiten im Dienstleistungssektor übrig blieben. Der „domestic service“ wurde in der Vorkriegszeit zum größten Beschäftigungsfeld außerhalb der Landwirtschaft für die Issei-Frauen. Die zweite Generation der Nisei- Frauen, die um 1930 das Jugendalter erreichte, war trotz ihrer guten Schulbildung und ihrer Englischkenntnisse fast ausschließlich, wie ihre Müttergeneration, in den Bereichen Landwirtschaft, „domestic service“ und Verkauf (sales work) konzentriert. 1940 waren 56,7 % der Nisei-Frauen im Bereich des „domestic service“ beschäftigt. In der Nachkriegszeit lag die Erwerbsbeteiligung der Nisei-Frauen etwa 20 % höher als die der weißen Frauen. Durch die Internierung während der Kriegszeit litten die japanischen Familien unter großer materieller Not, da nicht nur der gesamte Besitz verloren ging, sondern auch keinerlei Verdienst möglich war. Alle Familienmitglieder mussten arbeiten, um Einkommen zu erzielen. Die Öffnung der sog. „Büroarbeit für Fachkräfte mit weißem Kragen“ (white-collar work) für Angehörige nichtweißer Rassen hat dazu geführt, dass viele Nisei-Frauen in die berufliche Position der „professionals“ aufrücken konnten, die bisher nur den Weißen vorbehalten war. Theorie zur Migration japanischer Frauen von Glenn <?page no="147"?> 138 Die dritte Kohorte der „war brides“ ist nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Zeit der wirtschaftlichen Veränderungen in die USA immigriert. Sie brachten unterschiedliche berufliche Vorerfahrungen mit, so dass man annehmen könnte, dass sie wesentlich bessere berufliche Chancen hatten. Die Realität des Arbeitsmarkts zeigte für die „war brides“ jedoch viele Parallen zu der der Issei-Frauen in der Vorkriegszeit auf. Ihre Beschäftigung beschränkte sich auf traditionelle Frauenarbeiten, wie Nähen, Kochen und Erbringen personbezogener Dienstleistungen. Nimmt man die drei Kohorten der japanischen Frauen zusammen, so stellt man fest, dass ihre Beschäftigung auf einen schmalen Sektor der Wirtschaft, zumeist auf den vorindustriellen Sektor der Landwirtschaft, begrenzt blieb. Sie waren weitgehend aus den entwickelten und besser bezahlten Sektoren der Wirtschaft ausgegrenzt. Sie arbeiteten fast ausschließlich in dem arbeitsintensiven Sektor der Wirtschaft als billige Arbeitskräfte (cheap labor), in dem der Grad an Technisierung und Kapitalisierung relativ niedrig war (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 67 -78, 83-96). Der „domestic service“ war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das einzige und größte Feld bezahlter Beschäftigung (the largest single field of paid employment) aller Frauen in den USA. Um die typischen Erfahrungen zu verstehen, die die japanischen Frauen in diesem Bereich gemacht haben, ist es sinnvoll, einen Überblick über die Entwicklung des „domestic service“ als Frauenberuf (as a female occupation) zu geben. Zwischen 1870 und 1910 stieg die Zahl der Frauen in den USA, die im „domestic service“ beschäftigt war, von einer Million auf zwei Millionen an. Diese Zahl blieb bis zum Zweiten Weltkrieg erhalten. Immigrantinnen aus Irland, Deutschland und den skandinavischen Ländern konzentrierten sich im „domestic service“ des Ostens und mittleren Westens. Sie arbeiteten bis zu ihrer Heirat. Im Südwesten der USA arbeiteten die mexikanischen Frauen im „domestic service“. Nach dem Bürgerkrieg im Süden waren dort überwiegend schwarze Frauen im Bereich des „domestic service“ beschäftigt. Zur Bedeutung des „domestic service“ für die Immigrantinnen sind unterschiedliche Positionen zu finden. Eine sieht im „domestic service“ einen „Brückenberuf“ (the bridging occupation), der die Akkulturation und soziale Mobilität der Immigrantinnen fördert, weil die Frauen durch ihre Theorien zur Migration der Frauen <?page no="148"?> 139 Arbeit mit den Wertvorstellungen und Lebensweisen der Mittelschicht vertraut werden. Eine andere Position sieht darin umgekehrt einen Beruf, der die Immigrantinnen ghettoisiert, indem er die Frauen von normalen sozialen Beziehungen isoliert und sie daran hindert, alternative Berufe kennenzulernen. Immigrantinnen europäischer Herkunft arbeiteten bis zu ihrer Heirat als „live-in domestic workers“. Nach der Heirat kehrten sie nicht in ihren Beruf zurück. Später lehnten die Töchter dieser Frauen den „domestic service“ ab und arbeiteten im Büro oder als Verkäuferinnen. Dagegen gab es für die schwarzen Frauen aufgrund der Rassendiskriminierung weder eine individuelle noch intergenerationelle soziale Mobilität. Für sie war der „domestic service“ eine lebenslange Option, die von der Mutterauf die Tochtergeneration weitervererbt wurde. Für die japanischen Frauen bedeutete der „domestic service“ sowohl den Einstieg in den urbanen Arbeitsmarkt als auch ein Vehikel zur Akkulturation. Sie ghettoisierte jedoch die Japanerinnen, weil sie, wenn sie einmal durch informelle Netzwerke zum „domestic service“ vermittelt wurden, kaum einen Berufswechsel vollzogen, um ihre Verbundenheit mit der Anstellungsfamilie zu dokumentieren (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 97-105). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Kalifornien eine boomende wirtschaftliche Entwicklung, in der die chronische Knappheit an Arbeitskräften eine ständige Begleiterscheinung darstellte. Frauenarbeitskräfte waren besonders knapp, so dass die einheimischen Frauen keine Mühe hatten, außerhalb des „domestic service“ eine geeignete Beschäftigung zu finden. Die Folge war die große Nachfrage der privaten Haushalte nach Hilfskräften. Die Chinesen entdeckten darin eine Marktlücke. In den 1850er Jahren begannen chinesische Waschmänner und Köche, kommerzielle Dienstleistungen im Haushalt anzubieten und die Hausarbeit der weißen Frauen zu ersetzen. Chinesische Hausboys (houseboys) und Köche übernahmen die traditionellen Stellen der Dienstmädchen. Sie wurden sogar zum Statussymbol für die „upper-class“ in San Francisco. 1880 war die Mehrheit der Hausbediensteten (domestic servants) in Kalifornien und Washington Männer. Die Japaner folgten nicht nur im Bau der Eisenbahnlinien, sondern auch im „domestic service“ dem Beispiel der Chinesen. Junge Japaner wurden als Lehrlinge (live-in apprentice servant) für den Haushaltsdienst in Theorie zur Migration japanischer Frauen von Glenn <?page no="149"?> 140 Pensionsbetrieben aufgenommen. Man bezeichnete sie generell als „school boys“. Sie halfen im Haushalt der Pensionen, übten dabei die englische Sprache und lernten die amerikanischen Sitten und Gewohnheiten kennen. Dafür erhielten sie Unterkunft, Essen und einen minimalen Lohn. Zwischen 1904 und 1907 waren über 4.000 Japaner als „school boys“ in San Francisco registiert. Nach der Ausbildungszeit avancierten sie zu professionellen Butlern und Köchen. Der „domestic service“ bedeutete für die Japaner einen Einstiegsberuf, den sie nur temporär ausübten. Sobald sie eine Arbeit in Landwirtschaft, Gartenbau oder Handel gefunden hatten, kündigten sie ihre Anstellung im „domestic service“ (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 105-108). Die verbreiteste Form des „domestic service“ in den USA vor dem Ersten Weltkrieg war der „live-in service“, d.h., dass die Frauen im Haushalt der Anstellungsfamilie wohnten. Sie hatten dort ein eigenes Zimmer und Verpflegung, deren Kosten von ihrem Arbeitslohn abgezogen wurden. Der Restlohn wurde ausgezahlt. Die Identität von Wohn- und Arbeitsort bildete eine auffällige Ausnahme zur übrigen Entwicklung, da die Industrialisierung die Auslagerung der Produktionsstätten aus dem Wohnbereich notwendig gemacht hat. Die Identität des Wohn- und Arbeitsortes bedeutete für die „live-in domestic workers“, dass es keine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit gab und damit die Arbeitzeit faktisch unbegrenzt und ungeregelt blieb. Die Isolation der „domestic workers“ von der Außenwelt wurde unvermeidbar. Schon allein deshalb hätten die Frauen, wenn sie die Wahl gehabt hätten, eine Beschäftigung in den Fabriken oder Geschäften dem „domestic service“ vorgezogen. Vor dem Zweiten Weltkrieg hat nur eine geringe Zahl japanischer Frauen als „live-in domestic servants“ gearbeitet. Die Mehrheit hatte dagegen den „live-out domestic service“ gewählt. Bis 1930 war es somit allgemein üblich, dass die Issei-Frauen täglich in die Familien der sozialen Mittelschicht kamen, um dort ganztägig alle anfallenden Dienstleistungen (all-around service) zu erbringen. Diese Form des „full-time non-residential domestic service“ implizierte jedoch einen langen Arbeitstag. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat eine Veränderung im Bereich des „domestic service“ ein. Das steigende Angebot der „day work“, d.h. einer Form des „domestic service“, in der die Frauen nur für einen Tag in der Wo- Theorien zur Migration der Frauen <?page no="150"?> 141 che in eine Familie kommen, um dort Hausarbeiten zu erledigen, hat den Übergang der japanischen Frauen von der früheren Form des „domestic service“ zur „day work“ ermöglicht. Die älteren Issei-Frauen, die Nisei-Frauen im mittlerem Alter und die „war brides“ nahmen zunehmend die „day work“ an und arbeiteten von Woche zu Woche bei mehreren Familien für jeweils einen Tag. Da der Arbeitstag regulär vor dem Abendessen beendet wurde, konnten die Frauen rechtzeitig zu Hause sein, um für die eigene Familie zu sorgen. Darüber hinaus waren sie insofern weniger der Fremdbestimmung ausgesetzt, da sie nicht von einem einzigen Arbeitgeber abhängig waren. Der Übergang des „domestic service“ vom „live-in service“ über den „non-residential domestic service“ bzw. „live-out service“ zur „day work“ stellte eine Modernisierung der „domestic work“ dar, weil dadurch das Arbeitsleben von dem Leben der Nicht-Arbeit deutlich getrennt wurde. Innerhalb der „day work“ hatten die Frauen mehr Möglichkeiten, Selbstkontrolle über den eigenen Arbeitsprozess auszuüben, was in der anderen Form der „domestic work“ nicht möglich war. Dennoch stellte die Arbeit im privaten Haushalt eine vorindustrielle Arbeitsform dar, weil sie nur den Gebrauchswert (use value) erzeugte. Die Arbeit in der Industrie erzeugte dagegen einen Überschusswert (surplus value), der als Tauschwert (exchange value) in der Marktwirtschaft (market economy) für den Unternehmer Profit brachte. Während die Arbeit in der Industrie arbeitsteilig organisiert und spezialisiert war, blieb die Arbeit im privaten Haushalt diffus und unspezialisiert (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 141-144, 162). In der Industriegesellschaft wird der Mensch überwiegend durch das, was er beruflich tut, in seiner Identität bestimmt. Der „domestic service“ stellt jedoch keine berufliche Arbeit dar, auf die die in diesem Bereich arbeitenden Frauen persönlich stolz sein konnten. Dieser Beruf bietet kaum Anlass zum positiven Selbstwertgefühl an. Vielmehr ist er mit der Einschränkung persönlicher Freiheit und persönlicher Unterordnung (personal subordination) verbunden. Die oft demütigenden und körperlich anstrengenden Arbeiten im privaten Haushalt beinhalten kaum positive Herausforderungen und das Erlernen neuer Fähigkeiten (new skills). Es ist daher nicht verwunderlich, dass der „domestic service“ in die unterste Stufe der beruflichen Hierarchie (at the bottom of the occupational hierarchy) Theorie zur Migration japanischer Frauen von Glenn <?page no="151"?> 142 eingeordnet wird. Die Frauen, die im „domestic service“ arbeiten, haben daher Probleme, Arbeitszufriedenheit und Selbstachtung (self-esteem) sowie eine unabhängige Identität (an independent identity) zu finden und zu erhalten. Die drei Kohorten der japanischen Frauen im Bereich des „domestic service“, d.h. die Issei- Frauen, die Nisei-Frauen und die „war brides“, hatten ähnliche Probleme. Sie betrachteten ihre berufliche Arbeit als degradierend (as degraded), weil sie in untergeordneter Stellung arbeiten mussten. Sie nahmen diese Arbeit dennoch an, weil sie keine anderen beruflichen Optionen hatten. Mit dem Problem der Degradierung des beruflichen und sozialen Status hatten die „war brides“ in besonderem Maß zu kämpfen, weil sie aufgrund ihrer Tätigkeit den negativen Bewertungen (negative assessments) sowohl ihrer eigenen Familien und Freunde in Japan, als auch ihrer weißen Ehemänner ausgesetzt waren. Die Dienstmädchen (houshold servants) in privaten Haushalten nahmen in der japanischen Gesellschaft traditionell die unterste soziale Stellung ein, so dass viele japanische Frauen aus der persönlichen Beschämung heraus ihre Arbeit als „domestic servants“ geheim hielten. Die Ehemänner der „war brides“ stuften den „domestic service“ als typische Arbeit schwarzer Frauen ein und rieten von dieser Arbeit eher ab. Für alle drei Kohorten der japanischen Frauen bestand jedoch der tröstende Gedanke in der Feststellung, dass alle koethnischen Frauen dem gleichen Schicksal ausgesetzt waren (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 165-168, 177- 178, 182). Die Erwerbstätigkeit der japanischen Frauen war, wie oben angedeutet, im dualen Kontext sowohl des politischen und wirtschaftlichen Systems (the political economic system) der Gesellschaft als auch des Familienlebens (family life) zu sehen. Die amerikanische Gesellschaft war gegenüber anderen rassisch-ethnischen Familien (other racial-ethnic families) ablehnend eingestellt, so dass sich die Japanerinnen auch innerhalb des eigenen Haushalts mit der geschlechtlichen Ungleichheit (gender inequality) auseinandersetzen und gleichzeitig außerhalb der Familie die institutionellen Angriffe (institutional assaults), die das Familienleben gefährdeten, abwehren mussten. In einer Gesellschaft, die von den unpersönlichen Werten der Marktwirtschaft (the impersonal values of market economy) bestimmt wurde, waren nicht nur die Männer, sondern auch Theorien zur Migration der Frauen <?page no="152"?> 143 die Frauen auf die emotionale und wirtschafltiche Unterstützung der Familie angewiesen. Auf der anderen Seite stellte die Familie eine Institution dar, die nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch fortgesetzt die Frauen unterdrückt hat (oppressiv for women). Diese Dualität der Unterstützung und Unterdrückung (duality of support and oppression) war kennzeichnend für die Erfahrungen der Frauen zu allen Zeiten, in allen Klassen- und Rassenpositionen. Dies galt auch für die japanischen Issei- und Nisei-Frauen und „war brides“. Die Familie war für sie Quelle unterstützender Ressourcen in ihrem gesellschaftlichen Überlebenskampf (struggle for survival) und gleichzeitig Institution der geschlechtlichen Unterordnung (gender subordination). Es war unbestritten, dass die reproduktiven Arbeiten der Issei- und Nisei-Frauen die japanischen Familien aufrechterhalten haben. Umgekehrt haben die starken Verwandtschaftsbeziehungen (strong kinship bonds) und die klare ethnische Identität den Issei- und Nisei-Frauen die Kraft gegeben, den ökonomischen und psychologischen Außendruck auszuhalten und ein positives Selbstwertgefühl in einer rassistischen Gesellschaft zu entwickeln. Dagegen machte die rassendiskriminierende Gesellschaft die „war brides“ wesentlich verletzbarer, weil sie nicht über eine kohärente ethnische Familie verfügten (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 191-193). Bei der Inkorporation der Migranten in den Arbeitsmarkt verfolgen die Aufnahmeländer die Zielsetzung, die Arbeitskraft der Migranten voll auszuschöpfen. Um späteren Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen vorzubeugen, treffen die Aufnahmeländer entsprechende Vorkehrungen. Zum einen wird die Rekrutierung der Migranten auf die Gruppe von Arbeitskräften beschränkt, die am produktivsten und problemlosesten sind. In der Regel werden also junge, ledige und politisch inaktive Arbeitskräfte gesucht. Zum zweiten werden den Migranten bürgerliche Rechte vorenthalten, um potentielle Agitationen auszuschließen. Zum dritten wird das Familiensystem der Migranten manipulativ kontrolliert (z.B. Verbot des Nachzugs von Ehefrauen und Kindern), um einerseits die Reproduktionskosten (cost of reproduction) niedrig zu halten und andererseits die Migranten leichter disponierbar zu machen. Im Falle der Immigration der asiatischen Arbeitskräfte Theorie zur Migration japanischer Frauen von Glenn <?page no="153"?> 144 war die Politik der USA von Anfang an darauf ausgerichtet, die Familiengründung (family formation) mit allen Mitteln zu verhindern. Der Nachzug der Ehefrauen und Kinder sowie die Eheschließung mit einer weißen Frau waren den asiatischen Arbeitsmigranten rechtlich untersagt. Diese Politik wurde sowohl von den Kapitalisten als auch von den einheimischen Arbeitern unterstützt, weil dadurch die Ersteren die asiatischen Arbeitskräfte für sich ausbeutbar halten (to keep Asian laborers as an exploitable labor force) und die Letzteren den Wettbewerb mit den billigeren Arbeitskräften vermeiden konnten. Die Folge war das geschlechtliche Ungleichgewicht der asiatischen Bevölkerung (a radically unbalanced population). Als 1890 die Immigration der Chinesen in die USA ihren Höhepunkt erreichte, standen einer chinesichen Frau 26,8 chinesische Männer gegenüber. Die chinesischen Männer lebten somit in einer Gesellschaft von Junggesellen (a bachelor society). Die Politik der Verhinderung von Familiengründungen wurde auf die japanischen Immigranten ausgedehnt, die den Chinesen in die USA nachgefolgt sind. Eine große Zahl japanischer Männer der ersten Generation (Issei-men) blieb ein Leben lang Junggeselle, während Andere als Saisonarbeiter zwischen Japan und den USA hin und her pendelten. Nach einem langen Kampf für den Erhalt der Familie stellt die japanische Familie heute eine Institution dar, die eine Gegenmacht (counterforce) zur ausbeuterischen Gesellschaft bildet. Sie ist der Ort, in dem die Einzelnen ihren individuellen Selbstwert finden, ihre ethnische Kultur weiter pflegen und sie an die nächste Generation weitergeben können. Sie bildet auch eine Verteidigungsstellung gegen den Rassismus (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 193-200). In allen Gesellschaften stellt die Familie die zentrale Institution dar, die die Stellung und soziale Identität der Frauen definiert. Sie war auch für die Issei-Frauen von großer Bedeutung, weil die Struktur der Familie in das umfassende Familiensystem der japanischen Gesellschaft eingebettet war. Diese Struktur war durch die kulturellen Werte Japans geprägt, die die Dominanz und die Privilegien der Männer perpetuierten. Dennoch war sie keineswegs immun gegenüber den äußeren Veränderungen der Gesellschaft. Die interne Struktur der japanischen Immigrantenfamilie durchlief daher einen grundlegenden Wandel, indem sie sich den neuen poli- Theorien zur Migration der Frauen <?page no="154"?> 145 tischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der USA anpassen musste. Um die dabei stattgefundene Transformation besser bewerten zu können, ist das Familiensystem darzustellen, in dem die Issei-Frauen aufgewachsen und erzogen worden sind (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 201). Der Haushalt (japanisch „ie“) bildete die grundlegende soziale Einheit (the fundamental sozial unit) in den Städten und Dörfern des späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts im Süden Japans, aus dem die Issei-Frauen stammten. Das Konzept des traditionellen Haushaltes (houshold) bzw. „ie“ ist dabei zentral für das Verständnis sowohl des Familienlebens als auch der japanischen Gesellschaft. Der Haushalt war eine residentiale Einheit (residential unit), in der alle Mitglieder zusammenlebten, die durch Blutsverwandtschaft, Heirat und Dientsverhältnis (z.B. Knecht) miteinander verbunden waren. Unter den Angehörigen fasste man auch alle verstorbenen Ahnen und alle diejenigen, die in Zukunft mit dem Haushalt verbunden sein werden, zusammen. Zum zweiten war der Haushalt eine kooporative wirtschaftliche Einheit (a corporate economic body), die nicht nur gemeinsam produziert und konsumiert, sondern auch den gemeinsamen Besitz (property) teilt. Alle Mitglieder hatten unbezahlte Arbeit im Interesse des Haushaltes zu leisten und alle Gewinne wurden dem gemeinsamen Haushalt zugeführt. Dafür übernahm der Haushalt die Versorgung der Angehörigen mit Nahrung, Kleidung und Unterkunft. Zum dritten war der Haushalt eine organisatorische und soziale Basiseinheit für das religiöse, politische und rechtliche Leben. Die Größe des Dorfes wurde durch die Zahl der Haushalte bestimmt. Die Gruppierung einiger Dörfer, die beim Bau von Brücken und Straßen und bei der Organisation von Festen und Zeremonien miteinander kooperierten, machte dann die nächstgrößere soziale Einheit der „buraku“ aus. Aus dem Zusammenlegen einiger „buraku“ entstand eine weitere soziale Einheit „mura“ als grundlegende ländliche Verwaltungseinheit. Zum vierten hatte der Haushalt eine hierarchische Struktur, die von den drei Prinzipien des Geschlechts, Alters und „insider-outsider-Status“ bestimmt wurde. Damit standen die Männer (males) über den Frauen, die Älteren über den Jüngeren und die Einheimischen über diejenigen, die von außen kamen. Autorität, Verantwortung und Privilegien wurden nach diesen drei Prinzipien verteilt. Theorie zur Migration japanischer Frauen von Glenn <?page no="155"?> 146 Das Oberhaupt des Haushalts war der älteste im Haushalt geborene Mann. Er hatte die absolute Autorität (ultimate authority) und die letzte Verantwortung für die Hausgemeinschaft. Er repräsentierte diese juristisch und sozial nach außen. Entsprechend der offiziellen Vertretungsmacht nach außen waren seine Regelungen für alle Angehörigen des Haushalts verbindlich. Sie waren ihm gegenüber zu Respekt und Gehorsam verpflichtet. Er hatte das Privileg, vor allen Anderen zu essen und das Abendbad zu nehmen. Dagegen war die Position der Hausherrin (the mistress of the houshold) nicht eindeutig definiert. Formal waren Frauen untergeordnet. Sie durften auch im öffentlichen Bereich keine Rolle übernehmen, so dass sie schon von daher die Familie weder juristisch noch politisch repräsentieren konnten. Die informelle Macht der Frauen wuchs jedoch im Laufe des Lebenszyklus (life cycle). Nach dem Tod der Schwiegermutter wurde sie zur Hausherrin. Sie hatte dann die Kontrolle über ihre eigenen Töchter und über die Schwiegertöchter. Während die Vater-Sohn-Beziehung in der Regel distanziert war, basierte die Mutter-Sohn-Beziehung auf wesentlich intensiveren Gefühlsbeziehungen, die auf die überwiegend mit der Mutter verbrachte Kindheit zurückzuführen war. Vor diesem Hintergrund gewann die Mutter großen Einfluss auf den Sohn, wenn er als Erstgeborener (the principle of primogeniture) bzw. als der älteste Sohn nach dem Tod des Vaters an dessen Stelle trat. Die jüngeren Söhne erbten nur einen Teil des väterlichen Vermögens. Die Töchter wurden nicht als dauerhaft dem Haushalt zugehörig angesehen, weil sie durch Heirat den elterlichen Haushalt verließen. Die Schwiegertochter (the new daughter-in-law) galt als Fremde, die von außen kam, um zu arbeiten und Kinder, insbesondere einen Stammhalter, zu gebären. Sie hatte unter der strengen Aufsicht der Schwiegermutter ihre Pflichten zu erfüllen. Alle Kinder, die sie gebar, gehörten dem Haushalt des Mannes an, so dass sie im Falle einer Scheidung ihre Kinder zurücklassen musste. Insgesamt war die rechtliche, politische und persönliche Unterdrückung der Frauen in Japan extensiv (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 201-204). Trotz der dramatischen Veränderungen der äußeren Lebensumstände, die durch die Migration eingetreten waren, bewahrten die japanischen Familien in den USA eine Kontinuität in den Wertvor- Theorien zur Migration der Frauen <?page no="156"?> 147 stellungen und Strukturen des Haushalts. Für die japanischen Frauen war die Migration keine individuelle Entscheidung, sondern die ihrer Familie. Die Issei-Frauen wurden so gesehen in die Migration geschickt (sent abroad) und hatten deshalb ihre Bindungen zu Japan nie abgebrochen. Die zurückgebliebene Familie hatte viele reproduktive Belastungen (reproductive burden) übernommen, damit die Issei-Frauen emigrieren konnten. Diese waren daher zu Gegenleistungen gegenüber Familie und Verwandtschaft in Japan verpflichtet. Eine dieser Verpflichtungen bestand in der finanziellen Unterstützung (remittances) der Familie in Japan. Die Kontinuität in der Struktur des Haushalts wurde dadurch gewahrt, weil die Issei-Frauen die südjapanischen Haushaltsstrukturen in die USA transplantiert hatten. Da die japanischen Immigranten weitgehend in der Landwirtschaft und in den Geschäften für den typisch ethnischen Bedarf beschäftigt waren, entstand zudem keine Irritation mit der japanischen Tradition. Die Issei-Frauen kannten keine Trennung zwischen Arbeit und Familie und arbeiteten unter der Autorität und Entscheidungsmacht des Mannes. Nur in den Familien, in denen die Frauen nicht im Familienbetrieb mitarbeiteten, sondern außerhalb der Familie einer Lohnarbeit (wage labor) nachgingen, wurden Widersprüche und Ambivalenzen zu der japanischen Tradition ausgelöst, weil die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen für sie selbst einen befreienden Effekt (a liberating effect) mit sich brachte (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 204- 218). Für die Nisei-Familien bildete die Elternfamilie (Issei-Familie) in vieler Hinsicht ein Modell. Für sie war es selbstverständlich, dass ihre Ehe durch die Eltern arrangiert wurde (arranged marriage) und dass sie durch ihre Lohnarbeit außerhalb der Familie zum Familieneinkommen beitrugen. Die kulturell tradierten Formen des japanischen Familienlebens haben jedoch durch die Internierung während des Zweiten Weltkriegs und die wirtschaftlichen Entwicklungen in der Nachkriegszeit eine radikale Transformation erfahren. Die patriarchalische Autoritätsstruktur, die die politische und ökonomische Basis der japanischen Familien und Gemeinden bildete, war einem sukzessiven Erosionsprozess ausgesetzt. Während der Internierungszeit konnten die japanischen Väter ihre Rolle als Familienoberhaupt nicht behaupten, weil sie aufgrund des Ausländer- Theorie zur Migration japanischer Frauen von Glenn <?page no="157"?> 148 status und der mangelnden Sprachkenntnisse nicht ernst genommen wurden. Sie mussten sich oft durch ihre Kinder (die zweite Generation der Nisei) vertreten lassen, so dass diese de facto zwischen Lagerverwaltern und den Interessen der eigenen Familie vermittelten. Die ökonomische Unabhängigkeit der Familie war auch untergraben, weil die gesamte Familie von der Unterstützung der Regierung gelebt hat. Die Wiederansiedlung nach dem Krieg (the postwar resettlement) brachte weitere Veränderungen mit sich. So hat auch die geographische Zerstreuung die Macht der ethnischen Gemeinden, die bisher eine strenge Wächterfunktion für die Wertvorstellungen und Traditionen der japanischen Familien gespielt haben, entscheidend geschwächt. Die jüngere Generation vollzog in ihrem Heiratsverhalten einen Wechsel von der traditionellen Vermittlungsehe zur freien Partnerwahl (free marriage), bei der die Vorstellung der egalitären Partnerschaft die traditionelle Vorstellung der Männerdominanz ablöste. Im Gegensatz zu der realtiv stabilen Ehe der Issei- und Nisei-Frauen war die der „war brides“ durch signifikante Konflikte und Probleme geprägt. Die Ehen waren häufig zerrüttet und durch Scheidung (frequently disrupted by divorce) und Wiederheirat gekennzeichnet. Diese Situation war für die „war brides“ gerade deshalb besonders tragisch, weil sie wegen ihrer Ehe von der eigenen Elternfamilie vestoßen wurden, sie sich von den Verwandten und Freunden in Japan entfremdet hatten und in ihrer amerikansichen Umwelt oft sozial isoliert lebten. Ihre materielle und emotionale Abhängigkeit von den Ehemännern war umfassend und oft ausschließlich. In den zerrütteten Ehen waren die Kinder häufig die einzige Quelle emotionaler Unterstützung für die „war brides“. Aufgrund ihrer unzureichenden Sprachkenntnisse und fehlenden beruflichen Qualifikationen hatten sie kaum individuelle Ressourcen, die ihnen ein wirtschaftlich unabhängiges Leben außerhalb der Ehe hätten ermöglichen können. Die Wiederheirat war in dieser ausweglosen Situation oft der einzige Strohhalm, nach dem viele geschiedene „war brides“ griffen, wohlwissend von der zweiten Ehe kaum Wunder erwarten zu können (vgl. Evelyn Nakano Glenn, 1986, 219-242). Theorien zur Migration der Frauen <?page no="158"?> 149 4. Theorien zu Transmigranten und zum Transnationalismus Der neue Forschungsansatz der Migration mit den Aspekten der Transmigration und des Transnationalismus wurde 1992 von Anthropologen und Ethnologen in den USA in einem Sammelband „Toward a Transnational Perspective on Migration. Race, Class, Ethnicity, and Nationalism Reconsidered“ vertreten. In diesem Band werden kurze Einzelbeiträge zusammengetragen, die auf neue Entwicklungen im Migrationsprozess hinweisen, die in den USA bei Immigranten aus Mexiko, von den Philippinen und den westindischen Inselstaaten zu beobachten sind. 1994 erschien dann die erste und bisher einzige Monographie, die sich ausführlich und intensiv mit den Phänomenen auseinandersetzt. Bevor diese Monographie vorgestellt wird, wird eine generelle Einführung in die Themen sowie eine vorläufige Bewertung des neuen Forschungsansatzes vorausgeschickt. Der zentrale Schwerpunkt der Migrationsforschung lag bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts in der Eingliederung der Migranten in die Aufnahmegesellschaft. Die deskriptiv-klassifikatorischen Sequenz- und Zyklenmodelle, die mit der Institutionalisierung der Migrationssoziologie als Fachdisziplin an der Universität Chicago/ USA in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts nach und nach entwickelt wurden, sind weitgehend von einem linearprogressiv verlaufenden Eingliederungsprozess der Migranten in die Aufnahmegesellschaft ausgegangen. Die darauf folgenden Migrationstheorien der 60er Jahre (z.B. die von Shmuel N. Eisenstadt und Milton M. Gordon) waren inhaltlich umfassender angelegt (z.B. theoretische Berücksichtigung der oft vorkommenden Diskontinuitäten und Regressionen des Eingliederungsprozesses der Migranten) als die Sequenz- und Zyklenmodelle. Ihre zentralen Interessen richteten sich ebenfalls auf die Eingliederung der Migranten in die Aufnahmegesellschaft. Im Mittelpunkt der Migrationsforschungen im deutschsprachigen Raum steht seit den 80er Jahren auch die Eingliederung der Migranten (vgl. Petrus Han, 2005, 69). Transmigranten und Transnationalismus <?page no="159"?> 150 Die genannten Migrationsforschungen gingen von der gemeinsamen Vorstellung der bipolaren Vehältnisse aus, die zwischen den Sende- und Empfängerländern generell zu beobachten waren (vgl. Roger Rouse, 1992, 26-27). Erkenntnisleitend war dabei die historische Realität des einseitig fließenden Migrationsstroms von den Sendezu den Empfängerländern (z.B. Siedlungsmigration Millionen verarmter Menschen aus Europa in traditionelle Einwanderungsländer). Unter diesem bipolaren Denkmodell machten unter anderem Probleme der Entwurzelung (uprooted), der soziokulturellen Entfremdung (alienation) und des unvermeidlichen Abbruchs (rupture) der Migranten von bzw. mit ihren Herkunftsländern einerseits und ihrer schwierigen und mühevollen Niederlassung (settlement), Akkulturation, Integration und Assimilation / Absorption in die Aufnahmeländer andererseits die zentralen Fragestellungen der Migrationsforschungen aus (vgl. Nina Glick Schiller, Linda Basch, Cristina Blanc Szanton, 1992, 1; Petrus Han, 2005, 69-70). Zu Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts identifizierten und thematisierten Anthropologen und Soziologen in den USA einen neuen Immigrantentypus aus den karibischen Ländern, aus Mexiko und den Philippinen, der sich grundlegend vom traditionellen Typus der Immigranten unterscheidet. Dieser zeichnete sich durch die Tatsache aus, dass er, abweichend von dem traditionellen Bild, aus zirkulierenden (circulation) Migranten bestand, die sich ständig zwischen ihrer Residenz- und Herkunftsgesellschaft hin und her bewegten (the constant back and forth flow of people). Sie waren damit weder permanente noch temporäre Einwanderer im herkömmlichen Sinn bzw. „sojourners“, die nur für einige Jahre ihr Glück im Ausland suchten und dann als Remigranten in ihre Heimat zurückkehrten. Sie entwickelten Aktivitäten und multilokale soziale Beziehungen (multi-stranded social relations) über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg und erhielten ihre Bindungen zum Heimatland aufrecht. Um die Erfahrungen dieses neuen Typus theoretisch zu erfassen, wurde eine neue Konzeption des Transnationalismus (transnationalism) als notwendig erachtet, weil nach Meinung der Forscher die herkömmlichen Begriffe und Konzepte der Migrationssoziologie nicht mehr geeignet waren. Der Transnationalismus wurde dabei als Prozess definiert, in dem die Migran- Transmigranten und Transnationalismus <?page no="160"?> 151 ten soziale Felder (social fields) erschließen, die ihr Herkunftsland mit ihrem Aufnahmeland verbinden. Die Immigranten, die solche sozialen Felder erschließen, die die nationalstaatlichen Grenzen überspannen und dadurch mehrfache Beziehungen (multiple relations) familialer, wirtschaftlicher, sozialer, religiöser, politischer und organisatorischer Art entwickeln und aufrechterhalten, wurden als Transmigranten bezeichnet. Diese unternehmen Aktionen, treffen Entscheidungen, artikulieren Interessen und bilden Identitäten innerhalb ihrer sozialen Netzwerke, die gleichzeitig zwei oder mehrere Gesellschaften verbinden (vgl. Nina Glick Schiller, Linda Basch, Cristina Blanc Szanton, 1992,1-2, 5; 1997, 121; Petrus Han, 2005, 70-71). Transmigranten und Transnationalimus sind somit wissenschaftliche Konstruktionen, die helfen, die strukturell bedingten Veränderungen von Einstellungen, Aktivitäten, Erfahrungen, Identitäten und Lebensentwürfen des neuen Migrantentypus theoretisch erklärbar und erfassbar zu machen. Das Phänomen der Transmigranten und des Transnationalismus war bisher nur in den USA ein aktuelles Forschungsthema. Das einzigartige Migrationssystem, das zwischen den USA und Mexiko, den Philippinen und den karibischen Ländern aufgrund ihrer engen gegenseitigen kolonialgeschichtlich bedingten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen seit dem 19. Jahrhundert entstanden ist, hat mit der Globalisierung der Wirtschaft die Erscheinung des neuen Typus der Transmigranten begünstigt. Transnationale Migration ist damit als regional begrenzte neue Form der Migration zu betrachten, die zur globalen Diversifizierung der Migrationsformen beiträgt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die von den Forschungen zur Transmigration in den USA gewonnen werden, sind daher nicht uneingeschränkt auf andere Länder übertragbar. Die vorliegende emprische Forschungsarbeit versucht die Existenz der Transmigranten durch die Untersuchung der Pendelbewegungen von mexikanischen Arbeitsmigranten im Großraum New York zu begründen, die größtenteils aus illegalen Arbeitern (indocumentado) bestehen (vgl. Ludger Pries, 1998, 136, 143-144). Diese Begründung ist jedoch für den europäischen Kontext kaum vorstellbar, weil solche Pendelbewegungen illegaler Arbeitsmigranten aufgrund der generell restriktiven Ausländer- und Arbeitsmarktpolitik der euro- Transmigranten und Transnationalismus <?page no="161"?> 152 päischen Aufnahmeländer kaum möglich sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die neuen Forschungsansätze zur transnationalen Migration in den USA für den europäischen Migrationskontext irrelevant wären. Europäische Forschungen können viele Anregungen erhalten, um ähnliche Phänomene (z.B. Urlaubsreisen von Arbeitsmigranten und deren Kinder in ihre Heimatländer und transnationale Lebensformen als mögliche Folgen der Freizügigkeit der Bewegungen von Personen innerhalb der EU) zu untersuchen (vgl. Petrus Han, 2005, 71, 84-85). 4.1 Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc Territorial ungebundene Nationen Transnationale politische Projekte aus postkolonialer Lage und Entwicklung konzeptioneller Umrisse zu entterritorialisierten Nationalstaaten (Nations Unbound Transnational Projects, Postcolonial Predicaments, and Deterritorialized Nation-States, 1994. 329 S.) Das Wort „Immigrant” ruft Vorstellungen des endgültigen Bruches mit dem Herkunftsland, der Aufgabe der gewohnten Lebensweise (old patterns of life) und des mühsamen Aneignens von Sprache und Kultur des neuen Landes hervor. Geht man von der traditionellen Vorstellung aus, so sind die Immigranten Menschen, die aus ihrem Herkunftsland entwurzelt (uprooted) sind, weil sie auf Dauer in ein anderes Land gehen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Dagegen werden die Migranten als diejenigen verstanden, die nur temporär ins Ausland gehen, um dort zu arbeiten und dann möglichst schnell zu remigrieren. Solche Begriffsvorstellungen beruhen auf den Erfahrungen der Vergangenheit und entsprechen nicht mehr umfassend der heutigen Realität. Die Immigranten entwickeln heute Netzwerke, Aktivitäten, Lebensmuster und Ideo- Transmigranten und Transnationalismus <?page no="162"?> 153 logien, die ihre Herkunfts- und Residenzgesellschaft miteinander verbinden. Viele Sozialwissenschaftler benutzen für diese neue Form der Migration das Wort „transnational“, obwohl es oft inhaltlich undeutlich bleibt. Die Autorinnen des oben angegebenen Buches haben sich in ihren voneinander unabhängig durchgeführten Forschungsprojeken mit den Organisationsmustern (patterns of organization) und der Selbstidentifizierung (self-identification) der Migranten aus Grenada, St. Vincent, Haiti und den Philippinen befasst, die sich in den USA und insbesondere in New York niedergelassen haben. Dabei stellten sie fest, dass sich die Migranten zwischen ihrer Herkunfts- und Residenzgesellschaft hin und her bewegten und gleichzeitig am sozialen und politischen Leben beider Gesellschaften teilhatten. Diese zirkulierende Migration machte deutlich, dass die beiden Gesellschaften keine gegensätzlichen Pole, sondern einen Teil der gleichen sozialen Erfahrung (part of a single social experience) darstellten. Damit wurde gleichzeitig deutlich, dass die dichotomisierenden Begriffe der traditionellen Migrationsforschung nicht geignet waren, die beobachtete neue Entwicklung zu beschreiben. Die Autorinnen benutzten daher die Begriffe des Transnationalismus (transnationalism) und des transnationalen sozialen Feldes (transnational social field), um die Verbindungen zwischen den sozialen Erfahrungen (interconnected social experience) in zwei Gesellschaften zu beschreiben, die die Migranten durch ihr gleichzeitiges Involviertsein sowohl in das Geschehen der Herkunftsals auch der Residenzgesellschaft herstellen (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 3-7). Vor diesem Hintergrund wird der Transnationalismus (transnationalism) als ein Prozess definiert, in dem die Immigranten multilokale soziale Beziehungen (multi-stranded social relations) aufbauen und aufrechterhalten, die ihre Herkunfts- und Residenzgesellschaft miteinander verbinden. Dieser Prozess wird deswegen als Transnationalismus bezeichnet, weil man betonen will, dass heute viele Immigranten soziale Felder (social fields) erschließen, die die geographischen, kulturellen und politischen Grenzen überspannen. Immigranten, die solche mehrfachen Beziehungen (multi-plerelationships) familialer, wirtschaftlicher, sozialer, organisatorischer, religiöser und politischer Art entwickeln, die die nationalstaatlichen Theorie zu transterritorialen Nationen und Nationalstaaten <?page no="163"?> 154 Grenzen überbrücken, werden als Transmigranten (tranmigrants) bezeichnet. Zentral für den Transnationalismus ist die Tatsache, dass die Transmigranten ihr vielfaches Involviertsein (multiplicity of invovements) sowohl in ihrer Herkunftsals auch in ihrer Residenzgesellschaft aufrechterhalten (sustain). Die Transmigranten unternehmen Aktionen, treffen Entscheidungen und entwickeln Aufgaben und Identitäten, die in Netzwerken eingebunden sind und gleichzeitig (simultaneously) zwei oder mehrere Nationalstaaten (nationstates) miteinander verbinden. Auf der anderen Seite konnte ihre transnationale Identität nicht genügend artikuliert werden, weil die Identitätsdiskurse bisher im Rahmen der Loyalität zu Nation und Nationalstaat geführt wurden. Die Transmigranten und die politischen Führer der Herkunfsländer sprechen daher von einem entterritorialisierten Nationalstaat (deterritorialized nationstate). Dies bedeutet, dass die Sendeländer der Migranten ihren Nationalstaat aus den Bürgern (citizens) bestehend verstehen wollen, die verstreut in mehreren Nationalstaaten leben, die aber dennoch kulturell, politisch, sozial und wirtschaftlich Angehörige des Nationalstaats ihrer Vorfahren bleiben (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 7-8). Die Autorinnen lehnen sich beim Transnationalismus an die globale Perspektive der Theorie des Weltsystems (global perspective of world systems theory) an, die Immanuel Wallerstein entworfen hat (siehe Kap. 6.1). Seine Einteilung der Welt in „core“ und „periphery“ hat nach wie vor eine große analytische Kraft. Dabei sind sich die Autorinnen dessen bewusst, dass die Theorie des Weltsystems die Migration auf die Arbeitsmigration und die Migranten auf den Status der Arbeiter reduziert und dadurch die Diskussion über die rassischen, ethnischen und nationalen Identitäten ausblendet, die entscheidend die Aktionen und das Bewusstsein der Migranten prägen. Es ist nicht zu leugnen, dass die Migranten ihre Arbeitskraft für die kapitalistische Produktion der Weltwirtschaft anbieten. Sie sind jedoch mehr als bloße Arbeitskräfte, weil sie gleichzeitig auch politische und soziale Akteure sind. Die Entwicklung des Transnationalismus in den letzten Dekaden ist die Folge eines langfristigen Prozesses der globalen Durchdringung des Kapitalismus (global capitalist penetration). Die Entwicklung der internationalen Arbeitsteilung und die Integration der Welt durch transnationale Transmigranten und Transnationalismus <?page no="164"?> 155 Firmen, die weltweit Produktion, Verteilung und Marketing organisieren, bestimmen sowohl den Strom der Immigranten als auch das, was sie in ihrem Aufnahmeland tun (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 11-12). Zur Entwicklung einer Theorie des Transnationalismus gehen die Autorinnen von vier theoretischen Prämissen aus: a) Transnationale Migration ist unentwirrbar mit den sich verändernden Bedingungen des globalen Kapitalismus verbunden. Sie muss daher im Kontext der globalen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit analysiert werden. Transnationale Migration wird durch die Beziehung zwischen den Klassen hervorgerufen, die als Produktionsform im Zentrum des Kapitalismus existiert. Unter Kapitalismus wird dabei eine historisch konstruierte Produktionsform verstanden, die sich um die Beziehung zwischen der kapitalistischen Klasse, die die Produktionsmittel besitzt, und der Arbeiterklasse, die Überschusswerte (surplus value) produziert bzw. solche Produktion möglich macht, bildet. Klasse wird definiert als eine Reihe von Menschen, die gleiche Positionen im Produktionsprozess haben. Während die kapitalistische Klasse zunehmend global wird, indem sie alle Gebiete der Welt in einem einzigen System der Produktion (into a single system of production) integriert, werden die politischen Prozesse, in denen die Ungerechtigkeiten (inequities) zwischen den Klassen gefestigt werden, von den Nationalstaaten strukturiert. Diese grundlegenden Aussagen erklären, wieso die gegenwärtige historische Situation zur zunehmenden transnationalen Migration führt (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 23). Viele Theoretiker führen die technologischen Innovationen als Erklärung dafür an, dass Immigranten in unserer Zeit intensivere Beziehungen zu ihren Herkunftsländern pflegen als in der Vergangenheit. Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten und technologischen Innovationen können jedoch nicht erklären, warum Immigranten so viel Zeit, Energie und Ressourcen zur Aufrechterhaltung der Beziehung zum Herkunftsland investieren. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Transnationalimus der Ge- Theorie zu transterritorialen Nationen und Nationalstaaten <?page no="165"?> 156 genwart (the current transnationalism) einen neuen Typus von Migrationserfahrungen markiert, der die zunehmende globale Durchdringung des Kapitals widerspiegelt. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre haben transnationale Konzerne ihre industrielle Produktion in die Peripherie verlagert, weil dort die Arbeitskräfte billiger waren, die repressiven Regierungen dort den Arbeitsfrieden (labor peace) garantierten und damit der Profit gesichert wurde. Die Folge war der Abbau der industriellen Produktion in den „core“-Regionen, wie in den USA, und die Errichtung von kapitalintensiven Industrien in der Peripherie, wie in den karibischen Ländern und auf den Philippinen. In den 1980er Jahren machte die Beschäftigungsstruktur der USA eine grundlegende Transformation der „Entindustrialisierung“ (deindustrialization) durch, in der die industriellen Arbeitsplätze massiv abgebaut und sukzessiv durch den Dienstleistungsbereich ersetzt wurden (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 23-24). Die globale Restrukturierung der Wirtschaft hat außerdem die lokale Wirtschaft in den Ländern der Dritten Welt zerstört. Große Anleihen der Dritten Welt beim Internationalen Währungsfond (IWF / the International Monetray Fond), bei der Weltbank und auf den Finanzmärkten haben zu einem ständig wachsenden Schuldenberg geführt. Diese wirtschaftliche Entwicklung wurde von der intensiven Durchdringung des Kapitals begleitet, so dass steigende Arbeitslosigkeit (unemployment) und Unterbeschäftigung (underemployment) die Folgen waren. Bedingt durch diese Entwicklung stiegen die Migrationsbewegungen aus Ländern der Dritten Welt in die Industrieländer, obwohl die Migranten dort keine sichere soziale und ökonomische Lebensbasis aufbauen konnten. Sie mussten sich auf eine transnationale Existenz einstellen (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 25-27). b) Der Transnationalismus ist ein Prozess, in dem die Migranten durch ihre Aktivitäten des Alltagslebens und durch ihre sozialen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen soziale Felder (social fields) erschließen, die die nationalstaatlichen Grenzen überspannen. Transmigranten und Transnationalismus <?page no="166"?> 157 Das Wort „transnational“ bringt die Flüssigkeit der Bewegungen (fluidity) von Ideen, Waren, Kapital und Personen über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg zum Ausdruck. Bezogen auf die Migration bedeutet dies, dass die Migranten durch ihre Alltagspraktiken die Räumlichkeit (space) neu so figurieren, dass sie ihr Leben gleichzeitig in zwei oder mehreren Nationalstaaten gestalten können. Sie stellen zu den unterschiedlichen Orten, zu denen sie Bezug haben, ständig neue Verbindungen (the ongoing connectedness) her, so dass ihre sozialen Beziehungen wie ein Spinnennetz (spider-web) erweitert werden. Um ihre sozialen Beziehungen zu verstehen, ist zu untersuchen, wie die Verbindungen im Kontext von Familie, Institutionen, politischen Organisationen und Strukturen, Wirtschaft sowie Finanzen erhalten, erneuert und rekonstruiert werden. Dabei sind die Migranten als aktive Akteure im Prozess der hegemonialen Konstruktionen zu sehen. Sie erschließen transnationale soziale Felder und leiten dadurch ein Zeitalter des Transnationalismus bzw. ein postnationales Zeitalter (a post-national age) ein (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 27-30). c) Inhaltlich fixierte und festgelegte Konzepte der Sozialwissenschaft, wie z.B. die der ethnischen Gruppe, Rasse, Nation schränken die Fähigkeit der Forscher ein, das Phänomen des Transnationalismus wahrzunehmen und zu analysieren. Bereits vor der Einführung des Konzepts des Transnationalismus mangelte es nicht an anthropologischer Literatur, die beschrieb, wie sich Menschen zwischen verschiedenen sozialen Standorten (between various social locations) hin und her bewegen. Was jedoch bisher gefehlt hat, war die Konzeptualisiserung der Zwischenverbindungen (interconnectedness), die die Migranten als Akteure zwischen mehreren unterschiedlichen Standorten entwickeln und aufrechterhalten. Dies spiegelt die analytische Begrenztheit der bisherigen konzeptionellen Instrumente der Sozialwissenschaft wider, mit denen die Forscher arbeiten. Die inhaltlich gebundenen Konzepte der Kultur sind, unabhängig davon, ob sie durch Stämme, ethnische Gruppen, Rassen oder Nationen repräsentiert werden, letztlich soziale Konstruk- Theorie zu transterritorialen Nationen und Nationalstaaten <?page no="167"?> 158 tionen. Sie geben nicht die stabilen Grenzen der kulturellen Unterschiede, sondern die Relationen von Kultur und Macht wieder. Dennoch bleiben die kulturell konstruierten Grenzen, seien sie Nationen, Ethnien oder Rassen, nicht nur relativ dauerhaft, vielmehr beeinflussen sie entscheidend die Verhaltensweisen und alltägliche Praxis der Menschen. Um solche konstruierte Konzepte und Grenzen problematisieren zu können, ist eine globale Perspektive und ein Gespür für die prozesshafte Natur der kulturellen und sozialen Konstruktionen erforderlich (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 30- 34). d) Indem die Transmigranten ihr Leben, das die nationalstaatlichen Grenzen überspannt, realisieren, sind sie in den Prozess der Nationbildung zweier oder mehrerer Nationalstaaten involviert. Ihre Identitäten und Praktiken werden durch die hegemonialen Kategorien, wie Rasse und Ethnizität geformt, die tief im Prozess der Nationbildung der involvierten Nationalstaaten eingebettet sind. Die Paradoxie der heutigen Welt besteht darin, dass die kulturellen und politischen Grenzziehungen in einer Zeit zunehmen, in der die unterschiedlichen Sektoren der Welt durch die dichte und schnelle Kommunikation zu einem einzigen Wirtschaftssystem vereint werden. Um diese Widersprüche zu lösen, ist es notwendig, die kulturellen Demarkationen und politischen Grenzen, die zwischen den Gruppen von Menschen konstruiert und errichtet werden, im Kontext des Streits um die politische Macht und Kontrolle der produktiven Ressourcen (within the context of contention for political power and control of productive resources) zu betrachten. Für die Sozialwissenschaft war bisher nicht selbstverständlich, die Existenz der Beziehungen zwischen dem Kapitalismus, dem Prozess der Nationbildung und den Kategorien von Rasse und Ethnizität anzuerkennen. Die Tatsache, dass die Diskussionen über Rasse, Ethnizität und Nation bisher nur als Randdiskussionen innerhalb der Sozialwissenschaft geführt wurden, weist auf den Mangel an kritischer Perspektive hin, die die Beziehungen zwischen Rasse, Kultur und Transmigranten und Transnationalismus <?page no="168"?> 159 Macht beleuchtet. Die Kategorien Rasse, Ethnizität und Nation sind als hegemonale Konstruktionen zu betrachten, die Teil der Ausübung staatlicher Macht und Herrschaft sind. Eine solche Sichtweise ist hilfreich für das Verständnis, dass die transnationalen Migranten die hegemonialen Konstruktionen prägen und gleichzeitig daran beteiligt sind (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 34-35). Die Legitimität des Nationalstaates, Macht über ein Territorium auszuüben, wurde im 18. und 19. Jahrhundert eingeführt. Ihre Grundlage lag in der Erinnerung an die gemeinsam erlebte Vergangenheit (memories of a shared past). Die Existenz des Nationalstaates in Europa ist aus historisch gewachsener Kultur und religiös-philosophischen Konzepten hervorgegangen. Die Nationbildung ist ein hegemonialer Prozess, in dem die Machtunterworfenen die Herrschaft des Staates akzeptieren. Dieser Prozess findet im Rahmen des Nationalstaates statt. Eine Begleiterscheinung der Nationbildung ist der Nationalismus, d.h. die Ideologie der nationalen Identität, die durch die gleiche biologische Herkunft begründet wird. Im 19. Jahrhundert erfolgte daher eine Gleichsetzung (equation) der Rasse mit der Nation. Dabei wurden die Konzepte der Nation und Rasse im Kontext der europäischen Expansion und Kolonialisierung entwickelt, um die natioale Identität der Kolonialländer gegenüber der Bevölkerung der Kolonialgebiete abzugrenzen, die eine andere Rassenzugehörigkeit hatte. Im Prozess der Nationbildung in den postkolonialen Nationalstaaten wird daher die globale Bedeutung der Rasse abgelehnt, die im Zuge des europäischen Kolonialismus entwickelt worden ist. Gleichzeitig definieren die postkolonialen Nationalstaaten die Bedeutung der Rasse neu, um ihrerseits den Unterschied ihrer Rasse bestimmen zu können. Im Gegensatz zum Konzept der Rasse wird das der Ethnizität, so die Situation in den USA, von dem dominanten Sektor des Nationalstaates gebraucht, um die politische und wirtschaftliche Unterordnung (subordination) der Bevölkerungsgruppen zu erklären. So wurden die irischen und italienischen Immigranten in den USA als Gruppen angesehen, die nicht nur von der biologischen, sondern auch von der nationalen Herkunft her unterschiedlich sind. Das Konzept der Ethnizität dient so gesehen zur Erklärung der diffe- Theorie zu transterritorialen Nationen und Nationalstaaten <?page no="169"?> 160 rentiellen Inkorporation der Bevölkerung innerhalb eines Nationalstaates. Bezogen auf die USA ist die Inkorporation der Immigranten in die amerikanische Nation und die Konstruktion des amerikanischen Volkes (American people) ein schwieriger und konfliktreicher Prozess, da die dominante Schicht von der Konzeption des Weiß-Seins (concept of whiteness) ausgeht und versucht, die Assimilation ethnischer Gruppen in die angloamerikanische Kultur durchzusetzen. Umgekehrt gehen die Minderheiten von der ethnischen und kulturellen Vielfalt (ethnic and cultural diversity) aus und versuchen den kulturellen Pluralismus (cultural pluralism) bzw. Multikulturalismus (multiculturalism) aufrechtzuerhalten (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 35-46). Ausgehend von dem skizzierten Theorierahmen und auf der Datenbasis der Projekte, die die Autorinnen durchgeführt haben, werden im Folgenden konkrete transnationale Praktiken (transnational practices) der Migranten aus St. Vincent, Grenada, Haiti und den Philippinen aufgezeigt, die in die USA, insbesondere in die Stadt New York, immigriert sind. St. Vincent und Grenada sind kleine englischsprachige Inselstaaten im karibischen Raum, die zusammen mit der Insel Guyana Britisch-Westindien (the British West Indies) bilden. Im Zuge der Entkolonialisierung haben 1974 Grenada und 1979 St. Vincent die Unabhängigkeit erhalten. Die Bevölkerung der beiden Inselstaaten besteht aus den Nachkommen afrikanischer Sklaven, die die britische Kolonialmacht zur Verrichtung der Arbeit auf den Zucker- und Baumwollplantagen importiert hat. Aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen Probleme der beiden postkolonialen Inselstaaten migrieren seit den 1970er und 1980er Jahren Arbeitskräfte in die USA, insbesondere nach New York. Nach einem Zensus von 1980 waren in der Stadt New York etwa 2.700 Vincenter und 5.000 Grenadinen ansässig. Sie haben sich weitgehend im östlichen Parkgebiet des Stadtteils Brooklyn niedergelassen (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 55-56, 66-77). Typisch für die westindischen Inseln ist ihre wechselvolle Geschichte. Sklaverei, Kolonialismus, chronische Unterentwicklung der Wirtschaft und andauernde ökonomische und kulturelle Einmi- Transmigranten und Transnationalismus <?page no="170"?> 161 schungen von außen markieren die Geschichte. Dabei spielt die Institution der Familie für das Überleben (survival) der Menschen eine zentrale Rolle. Ihre Mitglieder leben und arbeiten in der Regel voneinander getrennt in mehreren Ländern, sie bleiben aber über Eltern, Kinder und Netzwerke gegenseitiger Unterstützung (reciprocal support networks) miteinander verbunden. Geht man vom Beispiel der Familie Carrington in St. Vincent aus, so lebt und arbeitet die Tochter Marvis seit ihrem 23. Lebensjahr in New York, weil eine Tante sie mit einem Studentenvisum geholt hat. Sie arbeitete als „live-in domestic worker“ in einem privaten Haushalt und konnte durch den Besuch einer Abendschule (night school) einen dem Diplom der „high school“ äquivalenten Abschluss erreichen. Nach 11 Jahren erhielt sie die „Green Card“, so dass sie zum erstenmal nach jahrelanger Trennung von der Familie ihre Mutter in St. Vincent besuchen konnte. Ihr älterer Bruder Elton, verheiratet in Trinidad, musste seine Frau Sandra mit zwei Kindern zurücklassen und allein nach St. Vincent zurückkehren, weil Trinidad aufgrund der wirtschaftlichen Probleme alle Ausländer ausgewiesen hat. Seine Frau bringt jedoch ihre beiden Kinder zur Schwiegermutter nach St. Vincent, um mit der Unterstützung ihrer Schwägerin Marvis nach New York zu gehen und dort als „live-in domestic worker“ zu arbeiten. Sie hofft auch die „Green Card“ erhalten und ihren Mann mit den Kindern nach New York nachholen zu können. Wie dieser Bericht dokumentiert, stellt die Familie in den karibischen Ländern den Ort dar, in dem transnationale Strategien (transnational strategies) des Überlebens für die Familienmitglieder entwickelt werden, die durch soziale, wirtschaftliche und politische Unsicherheiten (social, economic, and political insecurities) erzwungen wurden. Die Familie gründet sich dabei nicht auf die Residenz, sondern auf die transnationalen Netzwerke zwischen den Mitgliedern, die in mehreren Ländern verstreut leben und arbeiten. Ihre Geldüberweisungen (remittances) in die Heimat festigen die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern. Oft sind die Kinder der entscheidende Faktor für den Zusammenhalt der Familiengruppe. So gesehen ermöglicht die Familie nicht nur die Reproduktion ihrer Mitglieder, sondern trägt durch ihre Solidarität sogar zur sozialen Aufwärtsmobilität ihrer Mitglieder bei, die eine neue Klassenbildung (class formation) sowohl im Herkunftsals auch im Theorie zu transterritorialen Nationen und Nationalstaaten <?page no="171"?> 162 Aufnahmeland zur Folge hat (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 77-93). Die Vincenter und Grenadinen sind zu einer Zeit nach New York immigriert, in der die Bürgerrechtsbewegung (Civil Rights Movements) und „Black Power Movement“ in den USA das soziale und politische Klima bestimmt haben. Sie stellten fest, dass die Rassenstruktur in den USA differenzierter und hierarchisierter war als die in ihrem Heimatland. Sie wurden politisch und sozial als Teil der großen schwarzen Bevölkerung der USA betrachtet. Ihre sozialen Erfahrungen mit der rassischen Erniedrigung (racial humiliation) und wirtschaftlichen Marginalisierung (economic marginalization) haben die Rückbesinnung auf die eigene kulturelle und ethnische Identät verstärkt, die zur Gründung einer Reihe ethnischer Organisationen geführt hat. Sie suchten nach ihren kulturellen und nationalen Wurzeln und unternahmen alle Anstrengungen, einerseits ihre Heimatbindung zu intensivieren und andererseits sich gegenüber der schwarzen Bevölkerung der USA abzugrenzen. Sie mussten ihre transnationale Identität neu konstruieren, weil sie sich als Immigranten, Vincenter, Grenadinen, britische Westinder und Kariben verstanden. Umgekehrt versuchten die postkolonialen Staaten St. Vincent und Grenada, die mit chronischer wirtschaftlicher Unterentwicklung zu kämpfen hatten, ihre im Ausland lebenden ehemaligen Bürger für transnationale wirtschaftliche Projekte und für die Nationbildung zu gewinnen. Die Politiker besuchten ihre Landsleute in New York, appellierten an ihre neue Rolle als Transmigranten und an ihre bleibende Verantwortung (ongoing responsibility), Verpflichtung (obligation) und Loyalität (loyalty) gegenüber dem Heimatland. Sie boten die doppelte Staatsbürgerschaft (dual citizenship) und das politische Wahlrecht in der Heimat an, unabhängig davon, ob sie Staatsbürger der USA sind oder nicht. Die Politiker konstruierten damit eine entterritorialisierte Nation (deterritorialized nation) und einen entterritorialisierten Nationalstaat (deterritorialized nation-state). Die im Ausland lebenden ehemaligen Staatsbürger sollen weiterhin mit ihrem Herkunftsland kulturell, politisch, wirtschaftlich und sozial verbunden bleiben. Zu diesem Zweck werden soziale und politische Räume neu konstruiert (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 97-113, 127-136, 143). Transmigranten und Transnationalismus <?page no="172"?> 163 Obwohl Kolumbus 1492 den territorialen Anspruch Spaniens auf Haiti erhoben hatte, wurde der westliche Teil der Insel 1697 offiziell an Frankreich abgetreten. Damit begann die kulturelle und politische Prägung der Plantagengesellschaft (plantation society) Haitis durch die europäische Kolonialmacht Frankreich, die über 100 Jahre lang andauerte. 1804 wurde Haiti durch eine Revolution zu einer unabhängigen Nation, in der sich die sog. „affranchis“ (die befreiten Schwarzen und Mulatten) zusammen mit den afrikanischen Sklaven gegen das Militär des napoleonischen Frankreichs aufgelehnt und es besiegt hatten. Die einheimische Führungsschicht Haitis hat sich erst eine Dekade nach der Revolution gebildet. Sie hat versucht, die Plantagengesellschaft wiederherzustellen, scheiterte jedoch mit diesem Vorhaben, weil die afrikanischen Sklaven die Arbeit auf den Plantagen abgelehnt haben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen die haitianischen Politiker nicht nur ausländische Kredite auf, um laufende Kosten und Schuldenzinsen zu begleichen, sondern suchten generell nach Unterstützung von außen, um ihre politische Macht zu erhalten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm der wirtschaftliche Einfluss der USA auf Haiti zu. 1915 besetzten die US-Truppen Haiti und stellten die Politik unter die Aufsicht der US-Militärverwaltung, um den europäischen Einfluss auszuschließen. Erst 1934 verliessen die US-Truppen Haiti und hinterliessen eine nach dem US-Muster aufgebaute Armee und einen Präsidenten, der weiterhin den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss der USA garantierte. Die US-Okkupation Haitis hat die politische und wirtschaftliche Führungsrolle der Mulatten (mulato stratum) in der Gesellschaft gestärkt, in der die Hautfarbe eine statusbestimmende Rolle spielte. Es hat sich eine politisch einflussreiche Mittelschicht (klas mwayen) in der Hauptstadt etabliert, die eine intermediäre Stellung zwischen den Bauern und Landbesitzern einnahm. 1957 kam Francois Duvalier als Präsident an die Macht und begann mit Hilfe seiner Geheimpolizei „tonton makout“ eine diktatorische Herrschaft aufzubauen (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 151-156). Die Migration ist aus mehreren Gründen eng mit der Geschichte Haitis verbunden. Die nach der Unabhängigkeit Haitis neu entstandene Bourgeoisie kontrollierte die Wirtschaft des Landes und ent- Theorie zu transterritorialen Nationen und Nationalstaaten <?page no="173"?> 164 eignete weitgehend den Überschuss (surplus), den die produzierende Klasse der Bauern erwirtschaftete. Vor diesem Hintegrund begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Arbeitsmigration der verarmten Bauern nach Kuba und in die Dominikanische Republik. Sie verrichteten dort die körperlich anstregenden Arbeiten (backbreaking labor) beim Zuckeranbau, um ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Die Okkupation Haitis durch die US-Truppen (1915-1934) hat den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss der USA auf Haiti so sehr vergrößert, dass er auch in der Migration seinen Niederschlag gefunden hat. Die Haitianer, die aus politischen und wirtschaftlichen Gründen auswanderten, wählten die USA als Zielland. Insbesondere gingen die Oppositionellen, die mit der diktatorischen Herrschaft Francois Duvaliers nicht einverstanden waren und politisch verfolgt wurden, ins Exil in die USA. Die Oppositionspolitiker schätzten damals die Dauer der politischen Herrschaft Duvaliers als kurzlebig ein und wählten als „temporäres Exil“ deswegen die USA. Dadurch sollte zudem das diktatorische Regime diskreditiert werden. Nach der Machtergreifung von Duvalier ist die Zahl der haitianischen Immigranten signifikant gestiegen. Zwischen 1961 und 1980 sind 90.834 Haitianer legal und weitere 90.000 illegal in die USA immigriert. Geht man von der Gesamtzahl von 3.000 Haitianer aus, die über eine Zeitspanne von 20 Jahren unmittelbar vor der Präsidentschaft Duvaliers legal in die USA immigriert sind, so dokumentiert allein die Zahl der legalen Immigranten eine Steigerungsrate von 300 %. 1980 lebten fast eine Million Haitianer im Ausland, überwiegend in den USA. Die Bevölkerung Haitis betrug zur gleichen Zeit 6.630.000. 1980 waren allein in New York etwa 100.000 Haitianer ansässig (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 149, 153-154, 156-157, 162). Die sich zunehmend verschlechternde wirtschaftliche Situation auf Haiti löste soziale Unruhen und politische Widerstände aus, so dass Francois Duvalier im Februar 1986 mit einem amerikanischen Militärjet das Land in Richtung Frankreich verlassen musste. In der Interimszeit übernahm eine Militärjunta die politische Kontrolle. 1990 wurde Jean Bertrand Aristide als Präsident gewählt, der nach einer langen Periode der Diktatur neue demokratische Hoffnungen bei den Haitianern geweckt hatte. Viele der politischen Unterstüt- Transmigranten und Transnationalismus <?page no="174"?> 165 zer von Aristide waren Transmigranten, die im Ausland gelebt haben und von ihren Einstellungen her transnational ausgerichtet waren. Der neugewählte Präsident selbst vertrat die Idee eines entterritorialisierten haitianischen Nationalstaats, indem er alle im Ausland lebenden Haitianer als Bürger des haitianischen Staates bezeichnete, unabhängig von ihrer jeweiligen Staatsangehörigkeit. Nach seiner Beschreibung bilden sie das 10. Department Haitis (Dizye`m Departman-an / Dizye`m-nan), das den 9 geographisch existierenden Departments hinzugefügt wird. Der Präsident forderte die Haitianer im Ausland auf, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit ihre Verpflichtungen (responsibilities) gegenüber dem Staat Haiti aufrechtzuerhalten. Das Militär, das das Regime von Duvalier lange Jahre unterstützt und davon profitiert hatte, schickte jedoch den demokratisch gewählten Präsidenten Aristide im September 1991ins Exil. Am 11. Oktober 1991 fanden in New York auf der Wall Street und in Brooklyn große Demonstrationen der Haitianer statt. Sie forderten die Rückkehr von Aristide nach Haiti und prangerten die USA an, das Militär in Haiti zu unterstützen. Alle Haitianer in Frankreich, Kanada und in den USA beteiligten sich an der Diskussion zum „Dizye`m-nan“ und brachten ihre Verantwortung für ihr Herkunftsland zum Ausdruck (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 144-146, 150, 162). Wie es für die karibischen Länder allgemein üblich ist, werden die transnationalen Praktiken der haitianischen Migranten weitgehend durch die Struktur der Familie und Verwandtschaft (kinship) begründet. Die Familie auf Haiti ist überwiegend eine Großfamilie bzw. erweiterte Familie, die auf den erweiterten Netzwerken der Verwandtschaft (extended kin networks) basiert und weniger eine geschlossene residentiale Einheit darstellt. Sie ist eine soziale Einheit, die die Reproduktion von Personen, die geschlechtliche Arbeitsteilung und die Klassenpositionen organisiert. Innerhalb dieser sozialen Einheit werden Personen und Ressourcen so disponiert und verteilt, dass das Überleben der einzelnen Mitglieder selbst in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit gewährleistet werden kann. Die Migration von Familienmitgliedern gehört zu den Überlebensstrategien (strategies of survival) der Familie. Für die Migranten, die in solchen Familienstrukturen eingebunden sind, ist es eine kul- Theorie zu transterritorialen Nationen und Nationalstaaten <?page no="175"?> 166 turelle Selbstverständlichkeit, selbst im Ausland enge soziale Beziehungen zu den zurückgebliebenen Familienmitgliedern aufrechtzuerhalten. Sie erschließen multilokale soziale Felder (multistranded social fields) und bleiben mit ihrer Heimat familial, kulturell und sozial eng verbunden. Sie nehmen am sozialen und ritualen Leben der Familie teil. Zeichen dieser engen Verbundenheit mit Familie und Heimat sind die regelmäßigen Geldüberweisungen (remittances) der Migranten, um die Familie bei ihren Konsum- und Investitionsausgaben (z.B. Kauf von Nahrungsmitteln, Land oder Haus) finanziell zu unterstützen. Die im Ausland lebenden Haitianer überweisen jährlich über 100 Mio. US-Dollar, eine Summe, die der Größenordnung an Auslandshilfen entspricht, die die haitianische Regierung erhält (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 161, 166-173, 176-177). Die enge Verbundenheit der haitianischen Migranten mit Familie und Heimat erfordert neben der kulturell und wirtschaftlich bedingten Familienstruktur eine weitere Untermauerung durch eine kollektive Identität. Für die Haitianer ist jedoch die Suche nach kollektiver Identität ein schwieriger Prozess, weil diese Suche in der Geschichte des zweihunderjährigen Klassenkampfes (class contention) bisher nur klassenspezifische Beantwortung erfahren hat. Die haitianische Bourgeoisie hat zur Definition der eigenen Klassenidentität die Kriterien der helleren Hautfarbe (light skin color), französischen Kultur, französischen Sprache und katholischen Religion herangezogen, um ihre eigene Klasse gegenüber der unteren sozialen Klasse der Bauern (peasants) abzugrenzen. Die untere soziale Klasse zeichnet sich dagegen durch die Merkmale der dunkleren Hautfarbe, kreyolischen Sprache und afrikanischen Kultur aus. Damit hat die Bourgeoisie ihre Klasse über die Grenzen Haitis hinaus im Rahmen der europäische Kultur und Zivilisation positioniert. Dagegen haben die Bauern ihre schwarze Hautfarbe nicht als unveränderliches Merkmal sozialer Unterordnung, sondern als situatives Merkmal von Armut und fehlender Bildung angesehen, das sie durch die Aquisition von Reichtum und europäischer Bildung überwinden können. Sie identifizierten sich dabei mit der haitianischen Nation (Haitian nation), weil die unabhängige Nation der überwiegenden Bevölkerung mit schwarzer Hautfarbe (Blackness) neue Würde (dignity) verliehen hat. Sie identifizierten sich jedoch Transmigranten und Transnationalismus <?page no="176"?> 167 nicht mit dem haitianischen Staat (Haitian state), weil er die Kultur der Dominanz (z.B. Französisch als Amtssprache) verkörpert. Die US-Okkupation Haitis hat zwar die Klassenteilung (the class division) intensiviert, sie hat auf der anderen Seite eine soziale Bewegung des kulturellen Widerstands (cultural resistance) gegen die Kultur der Besatzungsmacht ausgelöst, eine „Negritude movement“, die eine kulturelle Eigenständigkeit Haitis einforderte. Francois Duvalier, der aus der „klas mwayen“ stammt, hat diese Konstruktion der Negritude geschickt in seine Politik integriert, um seine politische Herrschaft auszubauen und zu rechtfertigen (justification). Zur Demonstration seiner politischen Absichten hat er die Angehörigen der Mulattenschicht der Bourgeoisie aus den Führungspositionen von Armee und Regierungsbürokratie entlassen. Wie diese Entwicklung zeigt, sind die Konzepte der Rasse (race) und Nation (nation) für die kollektive Identität der Haitianer seit jeher zwei voneinander nicht trennbare Bausteine (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 182-186). Die Tatsache, dass Haiti auch nach der Absetzung Duvaliers weiterhin von seinen Gefolgsleuten regiert wurde, hat die haitianischen Migranten in den USA veranlasst, ihre transnationalen Aktivitäten mit dem politischen Kampf (political struggle) zu verknüpfen und das Konzept des „Dizye`m-nan“ von Aristide populär zu machen. Aristide wollte mit seinem Konzept einen Prozess der Nationbildung (a nation building process) auslösen, der die territoriale Anbindung des Staates aufhebt und zum erstenmal nach der haitianischen Revolution die Bauern und Armen in die politischen Prozesse des Nationalstaates direkt integriert. Durch diese Entwicklung sollten neue Bündnisse (bonds) entstehen, die vorher nicht möglich waren. Die Diaspora der Haitianer im Ausland sollte in das Heimatland (homeland) voll inkorporiert werden. Dies bedeutet, dass die Haitianer im In- und Ausland unabhängig von ihrem Lebensort ihre transnationalen Erfahrungen konzeptualisieren können. Im Endeffekt sollte dadurch der Nationalstaat (Haitian nationstate) wiedererfunden (reinvent) werden. Die Konzeption des entterritorialisierten Nationalstaats (deterritorialized nation-state) von Aristide war nicht nur revolutionär, sondern sie gefährdete auch die Privilegien der Bourgeoisie, so dass die Koalition von Armee und Theorie zu transterritorialen Nationen und Nationalstaaten <?page no="177"?> 168 Bourgeoisie im September 1991, 8 Monate nach der Amtseinführung, Aristide ins Exil gezwungen hat (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 207-213). Nachdem Aristide ins Exil ging, hat das Konzept „Dizye`m-nan“ den haitianischen Immigranten in den USA eine politische Stimme und Identität (political voice and identity) gegeben. Die Haitianer in den USA gingen in Opposition zur Außenpolitik der USA. Sie konnten ihre Bindungen zu Haiti offen zum Ausdruck bringen, ohne dabei die zu den USA zu leugnen. Ihre bisherige Selbsteinschätzung, verstreut lebende Menschen ohne Bezugspunkt (dispersed people) zu sein, konnten sie zu dem Bewusstsein transformieren, nun trotz multilokaler sozialer Felder eine bleibende nationale Verbindung zu haben. Sie konnten für sich das symbolische Kapital (the symbolic capital) beanspruchen, das ihnen die Rassenordnung der USA verweigert hat. Bei näherer Betrachtung beinhaltet das Konzept „Dizye`m-nan“ neben den genannten identitätsstiftenden Aspekten auch eine Reihe von Widersprüchen (contradictions). Es bleibt nur als politische Idee, die keine verfassungsrechtliche Verwirklichung erfahren hat. Zudem betont es die nationale Einheit über die Klassengegensätze der Haitianer. Es konstruiert gemeinsame Geschichte und Symbole für die Migranten und die Menschen, die in Haiti leben, die jedoch der Kultur der dominanten Klasse widersprechen. Die Inkorporation der Kultur der Mehrheit in die nationalstaatliche Identität legitimiert zwar den Staat, sie bringt die untergeordneten Menschen dem Staat jedoch nicht näher. Die Rekonstruktion des haitianischen Volkstums (Haitian nationhood) beseitigt die Klassenteilung (class divisions) nicht, die die Geschichte Haitis durchzieht. Der intendierte formale und verfassungsmäßige Prozess (the formal constitutional process) als Mittel der Stärkung (empowering) der machtlosen und verarmten Menschen übersieht die unterschiedlichen Interessen und Machtververhältnisse zwischen den sozialen Klassen innerhalb Haitis und unter den Haitianern im Ausland. Die Vorstellung des entterritorialisierten Nationalstaats lässt zudem keinen Raum für die Anerkennung der ungleich großen Lasten, die die Frauen für das physische Überleben der Familien tragen müssen. Es ist auch zu überprüfen, inwiefern die Annahme der Konstruktion des entterritorialisierten Nationalstaats die Interessen der Herkunfts- und Residenz- Transmigranten und Transnationalismus <?page no="178"?> 169 gesellschaft der Migranten beeinträchtigt bzw. fördert (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 215- 221). Die Philippinen unterscheiden sich kulturell, geschichtlich, politisch und rassisch von den karibischen Inselstaaten. Dennoch ähneln sie in mehreren Punkten den Entwicklungen, die in den karibischen Ländern St. Vincent, Grenada und Haiti stattgefunden haben. Die Philippinen standen 300 Jahre unter der indirekten spanischen Kolonialherrschaft. 1898 übernahmen die USA die Philippinen von Spanien und machten sie zu ihrer Kolonie. Erst 1945 wurden sie von der US-Kolonialherrschaft in die Unabhängigkeit entlassen. Ihre Bevölkerung mit 80 Millionen Menschen setzt sich aus unterschiedlichen ethnischen und rassischen Gruppen zusammen. Ihre große Mehrheit besteht jedoch aus den vom Malaytiefland stammenden Menschen (Malay lowlanders), die auf den drei großen Hauptinseln der Philippinen leben. Sie sprechen 8 verschiedene Sprachen. Die Philippinen bestehen aus 7.000 Inseln. Durch die spanische Kolonialherrschaft hat ein großer Teil der Bevölkerung den römisch-katholischen Glauben angenommen, so dass heute 70 % der Bevölkerung katholisch sind. Im 19. Jahrhundert haben die lokalen Eliten mit Hilfe britischen Kapitals große Zuckerplantagen errichtet und ein Pächtersystem für den Reisanbau eingeführt. Die USA haben als Kolonialmacht Ananas- und Kokosnussplantagen eingeführt und industrielle Minenbergwerke errichtet, um Bodenschätze, wie Kupfer, Gold und Chrom zu fördern. Nach der Unabhängigkeit wurde im Zusammenhang mit der „Grünen Revolution“ eine Landreform (land reform) durchgeführt, um die exportorientierte Landwirtschaft zu fördern. Infolge dessen wurden die Pächter freigesetzt, was wiederum die Preissteigerungen des Grundnahrungsmittels Reis mit sich brachte. Der Lebensstandard der ländlichen Bevölkerung sank dramatisch, so dass viele Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht abdecken konnten und unterhalb des Existenzminimums lebten. Mitte 1970 ordnete das IWF und die Weltbank die Liberalisierung der Wirtschaft an, um das exportorientierte landwirtschaftliche und industrielle Wachstum zu fördern. Präsident Marcos, der 1965 an die Macht kam, führte exportorientierte Zonen (export processing zones) ein Theorie zu transterritorialen Nationen und Nationalstaaten <?page no="179"?> 170 und öffnete das Land für den Tourismus, um Devisen zu erhalten. Alle diese Strategien zur wirtschaftlichen Entwicklung scheiterten schließlich daran, dass das Verteilungsproblem nicht gelöst werden konnte. Das Land erlebte einen wirtschaftlichen Bankrott mit steigenden Zahlungsbilanzdefiziten (increasing balance of payments deficits). Mitte 1980 waren die Philippinen eines der am höchsten verschuldeten Länder im IWF. Die Zentralisierung der Macht unter der Herrschaft Marcos und die politische Unterdrückung der Oppositionellen schritten unaufhaltsam voran (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 227-232). Die wirtschaftlichen Fehlentwicklungen und politischen Repressionen haben zur steigenden Migration der Philippinos in die USA geführt. Ihre Zahl stieg von 19.307 im Jahre 1950 auf 477.4885 im Jahre 1980 an. Annähernd 2 Millionen sind bereits in die USA immigriert. Die Mehrheit der Migranten sind gutausgebildete und qualifizierte Fachkräfte der sozialen Mittelschicht, die an der Erhaltung ihres Lebensstandards interessiert waren. Viele von ihnen immigrierten auf dem Wege der Familienzusammenführung, da sie bereits Angehörige in den USA hatten. Diejenigen, deren Immigration in die USA aufgrund beruflicher Qualifikation erlaubt wurde, versuchten eine neue transnationale familiale Basis zu errichten. Die Immigranten lebten in kleinen Wohnungen mit ihren Vewandten zusammen, um die Mietkosten zu reduzieren, obwohl die dominante Familienform auf den Philippinen die der Kernfamilie ist. Sie entwickelten transnationale familiale Netzwerke über die politischen und nationalstaatlichen Grenzen hinweg und ermöglichten durch gegenseitige Unterstützung das Überleben der Angehörigen in einer Situation der sozialen Unterordnung (subordination) sowohl im Herkunftsals auch im Ausland. Die regelmäßigen Geldüberweisungen (remittances) sind eine zumeist praktizierte Überlebensstrategie für diejenigen, die zu Hause geblieben sind. Diese transnationalen Strategien gründen sich auf Erfahrungen, die durch mehrere Generationen der Immigranten wiederholt gewonnen wurden. Die philippinischen Immigranten gründeten viele transnationale Organisationen, die entweder geschäftliche Beziehungen zwischen den USA und den Philippinen herstellten oder die Rekrutierung und Vermittlung von Fachkräften erleichterten. Die transnationalen politischen Organisationen waren bei der politischen Transmigranten und Transnationalismus <?page no="180"?> 171 Mobilisierung der Transmigranten besonders aktiv und deshalb auch in der Lage, ihren politischen Einfluss sowohl in den USA als auch auf den Philippinen geltend zu machen. Ein Beispiel hierfür ist die Regierung der Präsidentin Aquino, die durch die politische Unterstützung in den USA an die Macht kommen konnte. Da die transnationalen politischen Organisationen eine wichtige Rolle bei der Konstruktion der politischen Identität und Loyalität spielen, tragen sie letztlich entscheidend zur Nationbildung sowohl im Herkunftsland als auch in den USA bei (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 233-251). 1973 hat Präsident Marcos das Programm „Operation Homecoming“ gestartet, um die im Ausland lebenden Philippinos zu Heimatbesuchen zu animieren. Er bezeichnete die Besucher als „balikbayan“ (homecomers/ Heimkehrer). Marcos wollte mit diesem Programm primär das schlechte politische Image seines Landes in den USA verbessern. Als Anreiz wurde den Besuchern eine Reihe von Vergünstigungen eingeräumt. Sie erhielten bei der Einreise einen Stempel in ihrem Pass, der den Status eines „balik-bayan“ bestätigte. Damit waren sie berechtigt, Waren im Wert bis zu 1.500 US- Dollar zollfrei einzukaufen. Außerdem wurden ihnen zwei speziell angefertigte „balikbayan“-Körbe zur Verfügung gestellt, die sie mit den gekauften Waren füllen durften, für die keine Steuern zu zahlen waren. Das Programm war ursprünglich auf nur ein Jahr begrenzt. Es wurde jedoch in den folgenden 20 Jahren immer wieder verlängert und schließlich von der Aquino-Regierung übernommen und fortgeführt. Als die Besucherwellen anrollten, bezeichnete Marcos die Migranten als rechtlich und ideologisch wichtigen Teil des philippinischen Nationalstaats. Die transnationalen politischen Organisationen der Philippinos in den USA unterstützten das Programm, indem sie ihre Landsleute zum Heimatbesuch motivierten, obwohl die politische Situation dort antidemokratisch war. Die Philippinos im Ausland nahmen das Programm positiv auf und bekundeten damit ihr Zugehörigkeitsgefühl zur philippinischen Nation. Das wiederum veranlasste sie auch politische Forderungen an die philippinische Regierung zu stellen. So forderten sie u.a. die Migranten stärker als bisher in die philippinische Nation zu inkorporieren. Dazu sollen ihnen das politische Wahlrecht in der Heimat und die doppelte Staatsbürgerschaft gewährt werden. Dieses Theorie zu transterritorialen Nationen und Nationalstaaten <?page no="181"?> 172 Beispiel zeigt, dass die transnationalen Verbindungen (transnational connections) der philippinischen Migranten, wie in den postkolonialen Staaten der karibischen Länder, zu einer zunehmenden Zirkulation von Menschen, Waren, Kapital und Denkweisen über die nationalen Grenzen hinweg führten. Diese Zirkulation wurde durch Appelle an Treue und Loyalität (allegence and loyalty) gegenüber Nation und Heimatland zusätzlich verstärkt. In diesem neuen Typus der Nationbildung bleibt der autonome Nationalstaat weiterhin intakt, obwohl seine geographische Anbindung zunehmend aufgehoben wird, um die ehemaligen Staatsbürger im Ausland inkorporieren zu können. Damit nimmt der entterritorialisierte Nationalstaat allmählich Konturen an (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 256-260). Die transnationalen Migranten sind konzeptionell nicht in die Konstruktion des territorial gebundenen Nationalstaats integrierbar. Vor diesem Hintergrund haben die postkolonialen Staaten mit der Konstruktion des entterritorialisierten Nationalstaats begonnen, um ihre ehemaligen Staatsbürger wieder in die Nationbildung zu inkorporieren. Der entterritorialisierte Nationalstaat unterscheidet sich dabei von der Konzeption der Diaspora. Die Menschen in der Diaspora befinden sich in einem Exil außerhalb des Heimatlandes (homeland). Sie bewahren ihre kulturelle Identität und Einheit als ein Volk, obwohl sie keinen Staat bilden. Sie sehnen sich nach der Rückkehr in das Heimatland und haben die innere Bereitschaft jederzeit zurückzukehren. Die Konzeption des entterritorialisierten Staates schließt dagegen die Existenz der Diaspora aus. Die Angehörigen des entterritorialisierten Staates leben nicht außerhalb des Heimatlandes, weil sie unabhängig von ihrem Residenzland Staatsbürger des Heimatlandes sind. „By the logic, there is no longer a diaspora because wherever its people go, their state goes too.“ Diese Konzeption ist auf der anderen Seite mit einigen Widersprüchen behaftet. Sie strebt nach der Inkorporation der Transmigranten primär unter dem finanziellen Aspekt und sieht daher ihr politisches Mitspracherecht nicht selbstverständlich vor. Sie ignoriert die Klassenunterschiede und Klassenpositionen, die die Transmigranten mit Hilfe ihres im Ausland erworbenen Wohlstands reproduzieren und auch zu ihrem Vorteil nutzen (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 269-280). Transmigranten und Transnationalismus <?page no="182"?> 173 Die Tatsache, dass die Transmigranten als Bürger des entterritorialisierten Nationalstaats gleichzeitig in das Geschehen des Heimatlandes und das der USA involviert sind, führt dazu, dass sie gleichzeitig von der Rassenidentität (racial identity) beider Gesellschaften beeinflusst werden. Dabei werden sie gegenüber der Konstruktion der Rasse (racial construction) besonders empfänglich, weil sie in den USA persönliche Erfahrungen mit der sozialen und rassischen Unterordnung gemacht haben. Die Konstruktion der Rassenidentität überkreuzt die Grenzen der Nationalität. Sie dient als Mittel des Widerstands gegenüber der hegemonialen Konstruktion der Nation der USA. Die Transmigranten lehnen daher die Assimilation in die USA ab, weil sie diese als Unterordnung empfinden. Sie ziehen die Bezeichnungen, wie „African-Americans“, „Asian-Americans“ oder „Hispanic-Americans“ vor, weil diese die Schwarzen, die Asiaten und die Spanier über die Grenzen der Nationalität hinweg vereinigen. Die Einheit der Rasse (racial unity) und der Stolz der Rasse (racial pride) wird in den USA dadurch akzentuiert. Gleichzeitig erlebt die Konstruktion der globalen Identitäten (global identities) eine neue Renaissance. Die Antwort der USA zum Transnationalismus besteht in der Auseinandersetzung mit den Ideen des Multikulturalismus und Rassismus. Die Sozialwissenschaft als Beobachterin des transnationalen Prozesses kann ihren Beitrag leisten, indem sie die festgefahrenen Denkweisen zu durchbrechen hilft, die bisher die Nationbildung definiert und begrenzt haben (vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc, 1994, 283-291). Theorie zu transterritorialen Nationen und Nationalstaaten <?page no="183"?> 174 5. Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration Die Wirtschaftswissenschaftler gehen von unterschiedlichen Konzepten, Annahmen und Bezugspunkten aus, um die auslösenden Ursachen für die internationale Migration wissenschaftlich zu erklären. Im Mittelpunkt ihrer Theorien steht primär die Migration der Arbeitskräfte (labor migration), die als einer der wichtigsten Indikatoren für die wirtschaftliche Entwicklung gewertet wird. Der Makroansatz (macro theory) der neoklassischen Wirtschaftstheorie (neoclassical economics) geht dabei von der unterschiedlichen Angebots- und Nachfragesituation der Arbeitskräfte aus, die zwischen den Ländern besteht. Ihre zentrale theoretische Annahme besteht darin, dass die Marktlöhne in den Ländern sinken, in denen ein Überschuss an Arbeitskräften im Verhältnis zum Kapital existiert, während umgekehrt in den Ländern, in denen eine Knappheit an Arbeitskräften im Verhältnis zum Kapital existiert, die Marktlöhne steigen. Diese Disparitäten der Löhne veranlassen, so die Theorie, die Arbeiter aus Ländern mit niedrigeren Marktlöhnen zu denen mit höheren Marktlöhnen zu migrieren. Somit emigrieren die Arbeitnehmer aus den kapitalarmen Ländern (capital poor countries) mit geringer Nachfrage nach Arbeitskräften in die kapitalreichen Länder (capital rich countries) mit großer Nachfrage nach Arbeitskräften. Aufgrund dieser Arbeitsmigration sinkt das Angebot (supply) der Arbeitskräfte in den Ländern, von denen die Arbeitskräfte abwandern, so dass dort die Löhne allmählich wieder steigen. Umgekehrt wird das Angebot der Arbeitskräfte in den Ländern größer, in die die Arbeitskräfte einwandern, so dass dort die Löhne wieder sinken. Diese durch die Disparitäten der Marktlöhne ausgelösten Migrationsbewegungen kommen zum Stillstand, wenn die Angebots- und Nachfragekurven am Punkt des Gleichgewichts (equilibrium) zusammentreffen, weil dann die Disparitäten zwischen Angebot und Nachfrage ausgeglichen werden. Diese Angleichungsbewegung tritt deswegen ein, weil wegen der hohen Renditechancen das Kapital in die kapitalarmen Länder fließt. Indem die Kapitalbesitzer in diesen Ländern investieren, um ihre Gewinnchancen wahrzunehmen, fließt gleichzeitig auch das Humankapital Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="184"?> 175 (z.B. Manager, Ingenieure, Buchhalter, Facharbeiter) dorthin mit und erzeugt die neue Nachfrage nach Arbeitskräften (vgl. Douglas S. Massey und andere, 1993, 453-434; 1994, 701, 710). Der Mikroansatz (micro theory) der neoklassischen Wirtschaftstheorie geht von der Annahme aus, dass die einzelnen Individuen rational denkende Wirtschaftssubjekte sind. Diese stellen eine Kosten-Nutzen-Analyse bei der Frage nach der Arbeitsmigration auf und entscheiden sich dann für die Migration, wenn der erwartete Nutzen (expected net return), der für die gesamte Zeitspanne des Erwerbslebens entsteht, insgesamt größer ist als die Kosten der Migration. Die internationale Migration wird somit als Form der Investitition in das Humankapital (investment in human capital) konzeptualisiert. Dies bedeutet, dass sich die Menschen bei der Suche nach Beschäftigung rational entscheiden und dorthin gehen, wo die Produktivität ihrer Arbeitskraft am größten ist. Sie erwarten wegen der höheren Produktivität ihrer Arbeitskraft entsprechend höhere Löhne. Bevor jedoch die Arbeitskraft eine höhere Produktivität erreicht, müssen die Arbeitnehmer in ihr Humankapital investieren, indem sie z.B. die mehrdimensionalen Migrationskosten übernehmen (vgl. Douglas S. Massey und andere, 1993, 434-436). Die neue Wirtschaftstheorie der Migration (the new economics of migration) stellt die These der neoklassischen Wirtschaftstheorie in Frage, wonach die Migration auf die rationale individuelle Entscheidung zurückzuführen ist. Sie geht davon aus, dass die Migrationsentscheidung auf die Entscheidung einer größeren Kollektiveinheit zurückgeht, wie die der Familie bzw. des Haushalts. Danach versucht jede Familie / jeder Haushalt in den Ländern der Dritten Welt wirtschaftliche Risiken durch die strategische Verteilung und Allokation ihrer / seiner Arbeitskräfte zu minimieren, um das wirtschaftliche Wohlergehen (economic well-being) der gesamten Gruppe sicherzustellen. Die Arbeitsmigration ausgewählter Mitglieder ins Ausland gehört zu dieser Strategie der wirtschaftlichen Risikominimierung. Die Risikoverteilung ist für die Familie / den Haushalt absolut notwendig, weil weder sozialpolitische Absicherungen noch privatwirtschaftliche Versicherungen gegen Risiken vorhanden sind (vgl. Douglas S. Massey und andere, 1993, 436; 1994, 711). Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="185"?> 176 Bei näherer Betrachtung sind sowohl die neoklassische Humankapitaltheorie als auch die neue Wirtschaftstheorie der Migration mikrotheoretische Entscheidungsmodelle (essentially micro-level decision models). Die Unterschiede bestehen lediglich in den Einheiten, die die Migrationsentscheidung treffen (Individuum oder Haushalt), in den Zielsetzungen der Migration (Maximierung des Einkommens oder Minimierung der Risiken) und in den Annahmen zu den wirtschaftlichen Bedingungen (Unterstellung eines vollkommenen und ideal funktionierenden oder unvollständigen Marktes), die bei der Migrationsentscheidung vorausgesetzt werden (vgl. Douglas S. Massey und andere, 1993, 440). Die Migrationstheorie von Michael J. Piore, die in diesem Kapitel vorgestellt wird, geht von einem völlig anderen Ansatz aus, bei dem die rationale individuelle Entscheidung keine Rolle spielt. Nach seiner Theorie entsteht in den modernen Industriegesellschaften die strukturell bedingte Nachfrage nach Arbeitskräften (the intrinsic labor demands), die durch die Einheimischen nicht befriedigt werden kann. Die Nachfrage löst schließlich die internationalen Arbeitsmigrationen aus und bildet ihre zentrale Ursache. Piore nennt in seiner Theorie 4 Gründe dafür, dass diese Nachfrage durch die einheimischen Arbeitskräfte nicht befriedigt werden kann und expliziert, warum die Industrieländer in der Rekrutierung der Arbeitsmigranten die Lösung des Problems suchen. Einer dieser Gründe, liegt in der strukturell bedingten Teilung des Arbeitsmarktes der Industrieländer in die primären und sekundären Arbeitsmärkte, die in Fachkreisen als „Theorie des dualen Arbeitsmarktes“ bezeichnet wird. Diese besagt, dass das Kapital den Fixfaktor und die Arbeit den variablen Faktor der Produktion bildet. Das Kapital übernimmt dabei die Aufgabe der Organisation und Kontrolle des Produktionsprozesses. Es reserviert daher die stabilen Nachfragen nach Gütern und Dienstleistungen für den primären Markt. Dieser lässt aufgrund der stabilen Nachfrage die Standardisierung der Produktion durch den Einsatz von kapitalintensiven Technologien zu, so dass dann dort weniger Arbeitskräfte benötigt werden. Da die Bedienung dieser Technologien höhere berufliche Qualifikationen voraussetzt, werden die Arbeiter besser bezahlt und die Arbeitsplätze sicherer. Die höheren Qualifikationsanforderungen erschweren den beliebigen Austausch der Arbeitskräfte. Der Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="186"?> 177 primäre Arbeitsmarkt bleibt den einheimischen Arbeitern vorbehalten. Dagegen ist der sekundäre Arbeitsmarkt für die saisonal fluktuierenden Nachfragen vorgesehen, die eine kontinuierliche und standardisierte Produktion kaum zulassen, so dass ein kapitalintensiver Technologie-Einsatz kaum in Frage kommt. Die Produktion wird überwiegend durch arbeitsintensive Verfahren bewältigt, die geringere berufliche Qualifikationen voraussetzen. Die Arbeitsplätze sind entsprechend unsicherer und die Bezahlung ist schlechter. Die Industrieländer haben immanente Probleme, für den sekundären Markt die notwendigen Arbeitskräfte zu gewinnen. Der sekundäre Arbeitsmarkt ist daher für die Arbeitsmigranten vorgesehen. Diese sind „target earners“, d.h. sie arbeiten für ein selbst gesetztes wirtschaftliches Ziel, so dass sie eher bereit sind, auch solche Arbeiten anzunehmen, die die Einheimischen aus unterschiedlichen Erwägungen und Prestigegründen ablehnen (vgl. Douglas S. Massey und andere, 1993, 442; 1994, 715). Der theoretische Ansatz von George J. Borjas, der außerdem in diesem Kapitel vorgestellt wird, ist eine unmittelbar auf die Einwanderungspolitik der USA bezogene Migrationstheorie, die konkrete Implikationen für die Politik enthält. Er nimmt eine Kosten- Nutzen-Analyse der Einwanderung von Arbeitskräften aus dem Blickwinkel der USA vor. Dabei überprüft er die Folgen für den Wettbewerb der Einheimischen auf dem Arbeitsmarkt, für die Konsumenten der Güter und Dienstleistungen, die die Immigranten produzieren, die gesamtwirtschaftlichen Effekte der Einkommensverteilung und die fiskalische Be- und Entlastung des Wohlfahrtsstaates. Unter der Prämisse, dass die Einwanderungspolitik das wirtschaftliche Wohlergehen der einheimischen Bevölkerung zum Ziel hat, kommt er zu der Schlussfolgerung, dass für eine Politik einzutreten sei, die vorzugsweise die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte fördert, weil diese am ehesten dem wirtschaftlichen Interesse des Aufnahmelandes dient. Die theoretisch dargestellen wirtschaftlichen Sichtweisen und die Auswertung der Analysen sind für Politiker von besonderer Bedeutung, weil sie trotz ihrer fachlichen Abstraktion konkret auf das Alltagsleben der Gesellschaft bezogen sind. Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="187"?> 178 5.1 Michael J. Piore Zugvögel Nachfrageorientierte temporäre Arbeitsmigration aus den Entwicklungsländern in die urbanen Industriegesellschaften (Birds of Passage Migrant Labor and Industrial Societies, 1979. 217 S. ) Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben alle westlichen Industrieländer Erfahrungen mit der Immigration einer großen Anzahl ausländischer Arbeitskräfte gemacht. In den Ländern, in denen diese Immigration von der Öffentlichkeit aufmerksam wahrgenommen wurde, bestand die herrschende Auffassung darin, dass die Immigration ausländischer Arbeitskräfte sowohl für die Sendeals auch für die Empfängerländer nützlich war. Bei den Sendeländern wurde unterstellt, dass die Emigration der Arbeitskräfte nicht nur den Bevölkerungsdruck und die Arbeitslosigkeit mindert, sondern auch zu Deviseneinnahmen des Staates und zur Anhebung der Qualifikation der Arbeiter beigetragen hat, die für die Industrialisierung der Länder notwendig war. Für die Aufnahmeländer ging man von der Annahme aus, dass die ausländischen Arbeiter die einheimischen Arbeiter ergänzen, weil diese weitgehend solche Arbeiten übernahmen, die die Ersteren abgelehnt haben. So wurde der Mangel an Arbeitskräften reduziert. Auf der anderen Seite stellten sich eine Reihe sozialer Probleme (z.B. Familiennachzug, Erziehung der Kinder, medizinische Versorgung) ein, die die Beziehungen zu den Einheimischen belasteten. Die Migranten selbst, die anfänglich die niedrigeren Löhne und schlechteren Arbeitsbedingungen akzeptiert haben, haben mit der Zeit sowohl die Bezahlung als auch die Arbeitsbedingungen generell zu verbessern versucht, was oft zu Konflikten mit den einheimischen Arbeitern geführt hat. Diese Konflikte wurden teilweise durch rassische Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit zusätzlich verstärkt. In der Konsequenz war Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="188"?> 179 die Politik gezwungen, die Immigration ausländischer Arbeitskräfte restriktiv zu kontrollieren und sogar gänzlich zu unterbinden. Mit der Zeit wurden die Migranten auch für ihr Herkunftsland zum Problem, weil sie tendenziell die Arbeitsplätze in der Industrie und die traditionelle Arbeit in der Landwirtschaft abgelehnt haben. Ihre Ersparnisse wurden entweder für westliche Konsumgüter oder zum Kauf von Bau- und Ackerland in der Heimat ausgegeben. Dieser Landerwerb war insofern problematsch, da in der Regel die landwirtschaftlichen Anbauflächen nicht bewirtschaftet wurden. Letztlich wurde nicht nur ein dramatischer Inflationsprozess ausgelöst, sondern auch zum Untergang der heimischen Landwirtschaft (killed traditional agriculture) beigetragen. Außerdem wurde die Immigration ausländischer Arbeitskräfte aus noch ärmeren Ländern notwendig, die nun die Arbeiten übernehmen sollten, die die remigrierten Arbeitsmigranten abgelehnt haben (vgl. Michael J. Piore, 1979, 1-3). Der Prozess der Migration weist charakteristische Merkmale auf, die jede Theorie der Migration berücksichtigen muss. Ein Merkmal besteht darin, dass die Jobs, die die Migranten in verschiedenen Ländern und zu unterschiedlichen Zeitperioden angenommen haben, in ihrer Art fast immer gleich zu sein scheinen. Dabei ist der entscheidende strategische Faktor, der den Strom der Arbeitsmigration auslöst, die aktive Rekrutierung durch Unternehmer und offizielle Vermittlungsagenturen der Industrieländer. Die Tatsache, dass die Unternehmer jederzeit durch ihre Nachfrage nach Arbeitskräften einen neuen Migrationsstrom auslösen können, weist darauf hin, dass das Arbeitsangebot (supply) der potentiellen Migranten völlig elastisch, d.h. unerschöpflich (inexhaustible) ist. Schließlich ist es kaum möglich, den einmal begonnenen Migrationsprozess zum Stillstand zu bringen. Die gesetzlichen Maßnahmen zur Unterbindung des Migrationsprozesses, die die Industrieländer ergreifen, werden ständig unterlaufen. Die genannten Merkmale zeigen, dass der Schlüssel für das Verständnis des Migrationsprozesses in den Industrieländern selbst liegt. In allen Industrieländern ist zu beobachten, dass sich die Migranten in wenigen Berufen und in bestimmten Sektoren der Industrie (z.B. Bau-, Metall- und Autoindustrie) konzentrieren. Die dort zu verrichtenden Arbeiten sind in der Regel erniedrigend (menial work), gering bezahlt, körperlich Theorie des dualen Arbeitsmarktes von Piore <?page no="189"?> 180 anstrengend, gefährlich und bieten kaum Aufstiegsmöglichkeiten. Die Arbeitsmigranten sind aus den Bereichen von Handel, Transport, Kommunikation und Verwaltung weitgehend ausgeschlossen (vgl. Michael J. Piore, 1979, 15-19). Die Unternehmer in den Industrieländern rekrutieren ausländische Arbeitskräfte, um solche Arbeitsplätze zu besetzen, die die Einheimischen ablehnen. Damit ist die aktive Rekrutierung durch die Unternehmer der Faktor, der den Migrationsstrom auslöst und nicht der Einkommensunterschied (income differential) zwischen den Sende- und Empfängerländern. Wenn die Migration erst einmal in Gang gesetzt wird, entwickelt sie sich zu einem fast selbsterhaltenden Prozess (self-sustaining prozess), so dass es kaum möglich ist zwischen der Rekrutierung und dem selbstversorgenden Informationsfluss der Migranten zu unterscheiden. Dennoch sind die Unternehmer diejenigen, die den Migrationsprozess ursprünglich auslösen. Die Rekrutierung der Arbeitsmigranten in den europäischen Ländern in den 1960er Jahren fand durch offizielle Regierungsbehörden statt, die zwischen Wirtschaft und Arbeitsmigranten vermittelten. Die Rekrutierung der Schwarzen aus dem ländlichen Süden in den industriellen Norden der USA während des Ersten Weltkrieges erfolgte auch durch die Unternehmer und Eisenbahngesellschaften. Diese Rekrutierung bestimmte sowohl das „timing“ als auch die Fließrichtung der Migration in die vorgesehene Region. Dies war auch der Grund dafür, warum die Auswanderung (out-migration) trotz vergleichbarer Bedingungen bei Einkommen, Transportkosten, Kultur und sonstigen Voraussetzungen für die Arbeitskräfte nicht in allen, sondern nur in bestimmten Regionen stattfand (vgl. Michael J. Piore, 1979, 19-24). Wie bereits angedeutet, ist das Angebot der Arbeitskräfte aus den Entwicklungsländern hoch elastisch, d.h. fast unbegrenzt (unlimited). Michael J. Piore zeigt dies an historischen Beispielen auf. Vor dem Zweiten Weltkrieg hat Frankreich aus Osteuropa, insbesondere aus Polen Arbeitskräfte rekrutiert. Als dieses Angebot während des Zweiten Weltkriegs und durch die Errichtung des Eisernen Vorhangs (Iron Curtain) ausblieb, verlagerte Frankreich seine Rekrutierung nach Nordafrika, Italien und Spanien. Als diese durch interne Entwicklungen in Italien und Spanien nicht fortgesetzt wer- Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="190"?> 181 den konnte, verlagerte Frankreich diesmal das Rekrutierungsgebiet nach Portugal und Jugoslawien. Ähnlich sah auch die Rekrutierungspraxis Deutschlands aus. Vor dem Zweiten Weltkrieg rekrutierte Deutschland Arbeitskräfte aus Osteuropa, dann in den 1950er Jahren aus Ostdeutschland und schließlich aus Italien, der Türkei und Jugoslawien. Ein ähnliches Muster findet sich auch in den USA. Die USA rekrutierte durch eine gezielte Immigrationspolitik Arbeitskräfte aus Europa. Als der europäische Immigrationsstrom ausblieb, verlagerten sie die Rekrutierung in den eigenen Süden und nach Mexiko und schließlich in die karibischen Inselstaaten. Diese Beispiele zeigen, dass einerseits die Unternehmer relativ schnell und einfach die notwendigen Arbeitskräfte rekrutieren können, und dass andererseits die ausländischen Arbeitskräfte relativ schnell auf die Nachfrage (demand) der Industrieländer reagieren. Die Tatsache, dass die einmal begonnene Migration kaum zu unterbinden ist, wird in allen Industrieländern durch die illegale Migration bestätigt. Allein 2 % bis 12 % der gesamten Arbeitskräfte (the labor force) der USA bestehen aus illegalen Arbeitern, die weder über Aufenthaltsnoch Arbeitserlaubnis (undocumented workers) verfügen (vgl. Michael J. Piore, 1979, 25-26). Nach Piore hat die bleibende Nachfrage (demand) der Industrieländer nach Migranten drei Gründe. Ein Grund liegt in der generellen Knappheit an Arbeitskräften (labor shortages), die durch die wirtschaftliche Expansion verursacht wird. Da die Nachfrage in ihrer Anfangsphase die einheimischen Arbeitskräfte absorbiert, tritt die Verknappung erst nach dieser Phase besonders im unteren Lohnbereich ein, weil die einheimischen Arbeiter in der Regel in besser bezahlte Beschäftigungsfelder aufsteigen. Die Knappheit an Arbeitskräften kann im Normalfall nur beseitigt werden, indem entweder die Löhne erhöht und die Arbeitsbedingungen verbessert oder die Arbeit durch Kapital substituiert werden. Der dadurch eintretende Kostendruck würde jedoch die Arbeitsplätze eher vernichten als einheimische Arbeiter anlocken. Die billigste Lösung dieses Problems liegt in der Rekrutierung von Migranten. Die Ablehnung dieser Lösung würde bedeuten, dass die Güter, die die Migranten hätten produzieren können, entweder aus dem Ausland zu importieren sind, oder dass man die wirtschaftliche Expansion einschränkt und die steigende Arbeitslosigkeit der Einheimischen in Kauf Theorie des dualen Arbeitsmarktes von Piore <?page no="191"?> 182 nimmt. Dies würde wiederum bewirken, dass die Wirtschaft strukturell neu angepasst (structural adjustment) werden müsste, was automatisch die Umschichtung und Entlassung einheimischer Arbeitter nach sich ziehen würde. Dies hätte schließlich zur Folge, dass der Lebensstandard der Einheimischen sinkt (decline in native living standards) und ihre Konsumgewohnheiten generell umstrukturiert werden müssten. Alle diese Folgewirkungen sprechen aus unternehmerischer Sicht für die Rekrutierung von Migranten. Die angeführten wirtschaftlichen Überlegungen stehen im Einklang mit der konventionellen Wirtschaftstheorie. Dennoch sind einige ihrer Annahmen zu diskutieren, um bei spezifischen Fragestellungen weiterzukommen. Zum einen ist nicht von der Annahme auszugehen, dass die typischen Merkmale der Arbeit der Migranten von den typischen Merkmalen der Migranten selbst abzuleiten sind. Weiterhin kann die konventionelle Wirtschaftstheorie nicht erklären, warum der Arbeitsmarkt der Migranten nicht wesentlich größer ist, um alle Migranten absorbieren zu können. Geht man von der Prämisse aus, dass es einen Einkommensunterschied gibt und die Unternehmer durch ihre Rekrutierung jederzeit einen Migrationsprozess auslösen können, um ihre Nachfrage nach Arbeitskräften abzudecken, dann ist nur schwer zu verstehen, warum die Nachfrage nach Migranten nicht extensiver ist. Parallel besteht ein Problem in der umgekehrten Frage, warum der Arbeitsmarkt der Migranten nicht wesentlich kleiner ist als der tatsächlich existierende Arbeitsmarkt. Alle Industrieländer haben in den letzten Jahren versucht, die Größe des Arbeitsmarkts für die Migranten zu verkleinern, was jedoch nie gelang. Die konventionelle Wirtschaftstheorie führt die Ursachen hierfür auf die Migrationspolitik zurück, die die sog. strukturelle Trägheit der ökonomischen Aktivität (inertia of the structure of economic activity) der Menschen nicht berücksichtigt. In der Tat tendieren Menschen generell dazu, das Konsumverhalten und die produktiven Aktivitäten nicht zu verändern. Sie versuchen jeden Druck zur Veränderung auszuweichen. Es ist genau diese Trägheit (inertia), mit der sich die Politik beschäftigen muss, wenn sie die Nachfrage nach Migranten erfolgreich reduzieren will. Es gibt jedoch keine Theorie der Trägheit in der konventionellen Wirtschaftstheorie (vgl.Michael J. Piore, 1979, 26-31). Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="192"?> 183 Die konventionelle Wirtschaftstheorie behandelt die Lohnstruktur (the wage structure) so, als ob sie ein Instrument zur Verteilung der Arbeit in unterschiedlichen Sektoren der Wirtschaft wäre. Dabei übersieht sie, dass der Arbeitslohn auch eine soziale Funktion hat, indem er den arbeitenden Menschen einen sozialen Status und ein soziales Prestige vermittelt. Die Arbeiter haben daher klare Vorstellungen darüber, welcher Arbeitslohn für welche Arbeit angemessen ist. Sie erwarten, dass die Lohnstruktur generell der Hierarchie von Status und Prestige entspricht. Die soziale und ökonomische Funktion des Arbeitslohns bringt jedoch analytische Probleme mit sich. Die Wirtschaftswissenschaftler achten weniger auf die soziale Funktion des Arbeitslohns und gehen eher davon aus, dass die ökonomische Funktion dominierend ist. Nach der konventionellen Wirtschaftstheorie resultiert der soziale Lohn aus dem wirtschaftlichen. Danach spiegeln Status und Prestige, die durch die Arbeit determiniert werden, den Lohn wieder, der mit der Arbeit verknüpft ist. Diese Sichtweise kann, wenn sie überhaupt stimmt, nur für eine langfristige Betrachtungsweise zutreffend sein, während sie für eine kurzfristige (in the short run) problematisch ist. Der Grund liegt darin, dass jede Änderung des Arbeitslohns kurzfristig einen massiven Widerstand der Arbeiter auslöst, bis hin zum Streik, der die Produktion lahmlegt. Die Struktur des relativen Lohns ist daher durch das Merkmal der Trägheit gekennzeichnet. Der ökonomische Druck ist bei der Bestimmung des sozial angemessenen Lohns in der Praxis nicht entscheidend. Er kann nur langfristig zur Veränderung des relativen Lohns führen. Diese Überlegungen führen zu zwei Konsequenzen. Eine Konsequenz besteht darin, dass auf der Makroebene die Folgen zu antizipieren sind, die durch den Verzicht auf Migranten eintreten können. Diese Folgen können nicht nur im sinkenden Lebensstandard und Wachstum der Wirtschaft, in der notwendigen Wiederherstellung des Gleichgewichts der Zahlungsbilanzen (adjustment in the balance of payments), in der steigenden Arbeitslosigkeit, sondern auch in dem zusätzlichen Inflationsdruck bestehen. Auf der Mikroebene der einzelnen Industrien entsteht die Angst, dass die Erhöhung der Löhne im unteren Bereich eine Hebelwirkung (leverage) für andere Lohnbereiche haben könnte. Es ist beispielsweise für einen Hotelbesitzer undenkbar, nur die Löhne der Tellerwäscher und Busjungen zu Theorie des dualen Arbeitsmarktes von Piore <?page no="193"?> 184 erhöhen, ohne gleichzeitig die Löhne der Kellner und Köche zu erhöhen. Die Unternehmer lehnen es daher in kurzfristiger Betrachtungsweise generell ab, die Löhne im unteren Bereich anzuheben. Sie sind eher bereit, Migranten zu rekrutieren als allgemeine Lohnerhöhungen für alle Arbeitsbereiche zu riskieren (vgl. Michael J. Piore, 1979, 31-33). Der zweite Grund für die Nachfrage der Industrieländer nach Migranten liegt in dem Bedarf an Arbeitskräften, die für die untersten Positionen der sozialen Hierarchie benötigt werden. Die konventionelle Wirtschaftstheorie betrachtet die Hierarchie der Jobs lediglich als zufälliges Resultat (accidental result) der unterschiedlichen Produktivität der einzelnen Arbeiter. Es ist jedoch möglich, dass eine solche Hierarchie für die Motivation der Arbeiter entscheidend ist. Menschen arbeiten oft mehr für die Akkumulation und Erhaltung des sozialen Status und weniger für die des Einkommens. Vor diesem Hintergrund haben die, die auf den untersten Positionen der Hierarchie (at the bottom of hierarchy) arbeiten, in zweierlei Hinsicht ein fundamentales Motivationsproblem. Zum einen haben sie keine Position inne, die erhaltenswert ist. Zum anderen stellen diese Jobs berufliche Sackgassen (dead end) dar, weil sie keine Aufstiegschancen (no opportunities for advancement) bieten. Die Rekrutierung der Arbeiter für diese Jobs ist daher ein schwierieges Problem für die Wirtschaft. Wollte man die Menschen für diese Jobs motivieren, müsste man diese Jobs so hoch ansiedeln, dass es sich lohnt, für ihre Erhaltung zu kämpfen. Die andere Lösung wäre, solche Jobs durch Technologie zu substituieren. Das Dilemma bleibt dennoch erhalten, unabhängig davon, welche Maßnahmen man ergreift. Die unterste Ebene der Hierarchie des Arbeitsmarkts kann prinzipiell nicht beseitigt werden (the bottom of the hierarchy can never be eliminated). Die temporären Migranten bieten hier eine Lösung des Dilemmas an, weil sie die Arbeit nur als Mittel zum Zweck (work is simply a means to an end) betrachten, eine Einstellung, in der die Arbeit auf das Einkommen reduziert bleibt. Dies bedeutet, dass die Migranten unabhänig vom sozialen Status bereit sind, jegliche Arbeit anzunehmen, um ihre wirtschaftlichen Ziele so schnell wie möglich zu erreichen. Sie sind „target earners“. Im Gegensatz zu den Einheimischen haben Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="194"?> 185 sie daher die genannten Motivationsprobleme nicht (vgl. Michael J. Piore, 1979, 26, 33-35). Der dritte Grund für die Nachfrage der Industrieländer nach Migranten liegt in dem Arbeitskräftebedarf im sekundären Sektor des dualen Arbeitsmarkts (the requirements of the secondary sector of a dual labor market). Die Hypothese des dualen Arbeitsmarkts geht von der Teilung in primäre und sekundäre Sektoren aus. Die Jobs in dem primären Sektor sind überwiegend für die Einheimischen reserviert, während sich die Migranten im sekundären Sektor konzentrieren. Diese Dichotomie hängt mit der Organisaton der kapitalistischen Wirtschaft zusammen. Das Kapital ist ein Fixfaktor (the fixed factor) der Produktion. Das Kapital kann bei seiner Fluktuation zwar vorübergehend ohne konkrete Zweckbindung unbeschäftigt bleiben (it can be idled), es kann jedoch nicht freigesetzt werden (it cannot be laid off). Die Eigentümer des Kapitals müssen daher die Kosten der Arbeitslosigkeit tragen. Die Arbeit ist dagegen ein variabler Faktor der Produktion. Wenn die Nachfrage nach Arbeitskräften zurückgeht bzw. ausbleibt, werden diese freigesetzt. Die Arbeiter sind Eigentümer ihrer eigenen Arbeitskraft. Sie müssen daher die Kosten der Arbeitslosigkeit selbst tragen. Ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden Produktionsfaktoren besteht jedoch darin, dass das Kapital den Produktionsprozess im kapitalistischen Wirtschaftssystem organisiert und kontrolliert. Dies bedeutet, dass die Arbeit den größeren Teil der Kosten, die durch die wirtschaftliche Unstetigkeit (uncertainty) entstehen, tragen muss. Das Kapital sucht dagegen den sicheren Teil der Nachfrage und reserviert diesen für sich und für den Einsatz der Ausrüstung (employment of his own equipment), die es beschafft hat. In der Produktion sind zwei technologische Situationen zu unterscheiden. In einer kapitalintensiven (intensiv in capital) Produktion werden wenig Arbeitskräfte beschäftigt, während umgekehrt in einer arbeitsintensiven (labor intensive) Produktion wenig Technologie eingesetzt wird. Wenn in der kapitalistischen Wirtschaft die Nachfrage in einen stabilen und in einen instabilen und saisonal fluktuierenden Bereich geteilt wird, wird die kapitalintensive Produktionstechnik für die stabile Nachfrage eingesetzt, während die arbeitsintensive Produktionsmethode für die saisonale Nachfrage genutzt wird. Dies hat zur Folge, dass die Arbeiter im kapitalinten- Theorie des dualen Arbeitsmarktes von Piore <?page no="195"?> 186 siven Produktionsbereich über wesentlich höhere Qualifikationen verfügen müssen. Dafür erhalten sie deutlich sicherere Arbeitsplätze. Die Arbeiter im arbeitsintensiven Produktionsbereich verfügen dagegen über geringe Qualifikationen und unsichere Arbeitsplätze. Damit setzt sich die Dualität zwischen Kapital und Arbeit auf dem Arbeitsmarkt (labor market) fort. Die stabile und vorhersagbare Nachfrage im kapitalintensiven Bereich ermöglicht die Zerlegung der Produktion in mehrere standardisierte und repetitive Teilarbeiten und erleichtert die Massenproduktion (mass production). Dagegen verlangt die kurzfristige und sich ständig verändernde Nachfrage von den Arbeitern ständige Neuanpassung. So entwickelt sich die Tendenz, die Arbeiten, die durch instabile und fluktuierende Nachfrage unsicher und mit höherer Wahrscheinlichkeit mit Arbeitslosigkeit verbunden sind, in den sekundären Sektor zu verlagern, sofern gesetzliche Regelungen und Interessenvertretungen der Arbeiter dies zulassen (vgl. Michael J. Piore, 1979, 35-39). Die Migranten sind aufgrund ihrer unsicheren Situation auf dem Arbeitsmarkt generell und stärker auf den sekundären Sektor der Wirtschaft angewiesen. Sie werden oft ausschließlich für den sekundären Sektor rekrutiert. Dabei konzentrieren sich die unsicheren Jobs (the unsecured jobs) im sekundären Sektor besonders stark auf der untersten Ebene der Hierarchie. Sie haben die Funktion, die Beschäftigung der Einheimischen sicherzustellen. Die Hypothese des dualen Arbeitsmarkts liefert somit eine umfassende Erklärung für die Nachfrage nach Migranten. Diese Erklärung beschränkt sich nicht auf einzelne Betriebe, sondern bezieht sich auf alle Sektoren der Wirtschaft. Dabei ist die Konzentration von Migranten dort zu erwarten, wo die instabile Nachfrage mit einer Vielzahl von Jobs zusammentrifft, die geringe Qualifikationen voraussetzen. Diese Situation ist besonders in der saisonabhängigen Landwirtschaft und in der konjunkturabhängigen Automobilindustrie sowie in der Bauwirtschaft zu finden. Die skizzierten Zusammenhänge sind Erklärungen dafür, warum einheimische Arbeiter und Unternehmer daran interessiert sind, in einem gewissen Umfang die Zuwanderung der Migranten aufrecht zu erhalten. Wenn jedoch die Kosten der Produktion im sekundären Sektor so niedrig werden, dass sie sich negativ auf die Kostenstruktur des primären Sektors auswirken können, dann haben die einheimischen Arbeiter im pri- Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="196"?> 187 mären Sektor Sorge um den Verlust ihrer Arbeitsplätze. Sie treten dann mit der Forderung nach Mindestlöhnen oder restriktiver Einschränkung der Migration in Aktion (vgl. Michael J. Piore, 1979, 39-42). Die temporären Migranten unterscheiden sich insofern von den permanenten Migranten, als sie für ein selbst gesetztes wirtschaftliches Ziel arbeiten. Sie sind „target earners“. Um ihre Ziele zu erreichen, sind sie bereit, jegliche Arbeit anzunehmen, unabhängig davon, welches Ansehen diese in der Sozialstruktur mit sich bringt. Die Bereitschaft ist deswegen gegeben, weil Migranten ihre Arbeit (work) von ihrer sozialen Identität trennen. Die Sozialstruktur des Gastlandes ist für ihre soziale Identität nicht maßgebend, weil sie zurückkehren wollen, sobald ihre wirtschaftlichen Ziele erreicht sind. So gesehen hat die Arbeit im Gastland nur instrumentelle Bedeutung bzw. ist sie nur Mittel zum Zweck (a means to an end). Die Migranten sind in diesem Sinne nur „homo oeconomicus“, für die die soziale Dimension keine Bedeutung hat. Die Trennung zwischen sozialer Rolle und Selbstwahrnehmung (self-perception) einerseits und der Arbeit andererseits ist bei den temporären Migranten ein bewusster Vorgang. Dies wird auch darin deutlich, dass sie den Löwenanteil ihres Verdienstes in die Heimat überweisen, ein Stück Land, ein Taxi oder einen Lastwagen kaufen, um sich später wirtschaftlich selbständig zu machen. Solche Investitionen zeigen, dass der Lebensmittelpunkt der temporären Migranten eindeutig in ihrem Herkunftsort bleibt. Es ist daher auch ihre Zielsetzung, möglichst schnell zurückzukehren. Jedoch bleibt die ursprünglich geplante temporäre Migration oft nur vorläufig zeitlich begrenzt, weil sie erfahrungsgemäß in die permanente Migration übergeht, wie die historischen Erfahrungen belegen. Die meisten sozialen Probleme und Spannungen treten bei diesem Übergang auf. Dieser Übergang und die damit verbundene Niederlassung (settlement) der Migranten verleiten oft zu zwei vorschnellen Schlußfolgerungen. Zum einen meint man, dass die gesetzten wirtschaftlichen Ziele nicht erreicht worden seien. Zum anderen geht man davon aus, dass die Migranten mit den Anforderungen der entwickelten Wirtschaft in den Industriegesellschaften zurechtgekommen seien. Diese Schlußfolgerungen zum Erfolg bzw. Misserfolg der Migration sind deswegen vorschnell, weil die Migration nur von den wirtschaftli- Theorie des dualen Arbeitsmarktes von Piore <?page no="197"?> 188 chen Variablen abhängig gemacht wird. Dagegen werden die sozialen Bindungen zur Gemeinschaft und der strukturelle Lebenskontext der Migranten ausgeblendet. Ihr Aufenthalt in der Fremde ist generell mit Isolation und Einsamkeit verbunden, so dass sie nicht nur die Nähe zu koethnischen Migranten suchen und ihre Familienangehörigen nachholen, sondern auch Freundschaftsbeziehungen zu Arbeitskollegen entwickeln. Sie gehen oft auch heterosexuelle Beziehungen und Bindungen ein, so dass mit der Zeit eine neue soziale Struktur entsteht, in die sie fest eingebunden sind, und die ihre Rückkehr zunehmend erschwert. Mit der allmählichen Niederlassung verändern sich die Einstellungen der Migranten bezüglich ihrer beruflichen Aspiration, Sicherheit (job security), Karrierechancen (career opportunities) und die Einstellung zum sozialen Status. Diese Veränderungen bringen die Migranten letztlich in einen Wettbewerb mit den Einheimischen, so dass sie durch Gründung politischer Organisationen und durch sonstige Aktivitäten ihre Interessen besser zu vertreten suchen. Soziale Konflikte mit den Einheimischen sind damit vorprogrammiert (vgl. Michael J. Piore, 1979, 54-65, 82). Um die Auswirkungen der Migration auf dem Arbeitsmarkt besser zu verstehen, werden im Folgenden arbeitsmarktrelevante Aspekte thematisiert. Zuerst ist die Wettbewerbssituation der Migranten mit den Einheimischen zu nennen. Oft wird behauptet, dass die Migranten den Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen, und dass alle einheimischen Arbeitslosen Beschäftigung finden würden, wenn die Ersteren das Land verließen. Andere argumentieren umgekehrt, dass die Migranten die Einheimischen ergänzen, indem sie solche Arbeiten übernehmen, die von diesen abgelehnt werden. Sie würden dadurch zur Erhaltung der Industrie und Technologie beitragen, die ansonsten hätten aufgegeben werden müssen. Es bleibt jedoch zu berücksichtigen, dass die Migranten nur eine Teilgruppe der industriellen Arbeiterschaft ausmacht. Es gibt andere einheimische Arbeiter, die temporär nach Beschäftigung suchen (z.B. Hausfrauen, Bauern, Jugendliche, Studenten), um ein Ergänzungseinkommen (supplemental income) zu erzielen. Diese Gruppe stellt die marginalen Arbeitskräfte (marginal labor force) auf dem Arbeitsmarkt dar, für die die Arbeit nur eine sekundäre und instrumentelle Bedeutung hat. Ihre persönliche und soziale Identität wird Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="198"?> 189 durch diese temporäre Beschäftigung nicht tangiert, so dass sie die angenommene Arbeit nur als Mittel zum Zweck betrachten können. Ihre Anpassungsfähigkeit an die Anforderungen des Arbeitsmarkts ist jedoch durch ihre Ortsgebundenheit (z.B. Haus, Land, Ausbildungsstätte) weitgehend eingeschränkt. Migranten unterscheiden sich von dieser Gruppe der marginalen Arbeiterschaft grundlegend, weil ihre Bereitschaft zur Anpassung an die Anforderungen des Arbeitsmarkts fast uneingeschränkt bleibt (vgl. Michael J. Piore, 1979, 86-93). Ein weiteres arbeitsmarktrelevantes Thema ist die Lohnbestimmung (wage determination). Es ist bekannt, dass die Migranten weitgehend im untersten Bereich der Lohnskala angesiedelt sind. Die Löhne werden dabei in allen Industrieländern durch den gesetzlich vereinbarten Tarif bestimmt. Es gibt eine Hierarchie der Löhne (wage hierachy), deren unterste Grenze bei dem gesetzlich festgelegten Mindestlohn (statutory minimum wage) liegt. Bei den Migranten geht es daher letztlich um den Mindestlohn. Dabei sind zwei analytische Sichtweisen zum Mindestlohn zu unterscheiden. Die ökonomische Sicht geht davon aus, dass der Lohn nur den Preis zum Ausdruck bringt, der für die Arbeit zu zahlen ist. Dieser Preis wird, wenn keine Außeneinwirkung hinzukommt, durch Angebot und Nachfrage (supply and demand) so geregelt, dass sein Gleichgewicht ausbalanciert wird. Wenn die Nachfrage größer wird als das Angebot, steigt der Lohn, so dass mehr Arbeiter auf den Arbeitsmarkt strömen. Wenn umgekehrt das Angebot größer wird, sinkt der Lohn, so dass die Nachfrage sich bis zu dem Punkt ausdehnt, an dem der Überschuss an Arbeitskräften absorbiert worden ist. Wenn der gesetzliche Mindestlohn über dem Wettbewerbslohn (the competitiv wage) liegt, entsteht Arbeitslosigkeit, weil in diesem Fall das Angebot an Arbeitskräften größer sein wird als die Nachfrage. Bis zu einem bestimmten Grad wird diese Arbeitslosigkeit durch höhere Löhne kompensiert, wobei es darauf ankommt, wie die Arbeit verteilt (distribution) wird. In dieser Betrachtung wird der Mindestlohn (minimu wage) als Eingriff von außen auf den Arbeitsmarkt angesehen. Dagegen geht die soziale Sicht des Mindestlohns davon aus, dass die Verrichtung der Arbeit und ihre Bezahlung im Kontext der menschlichen Gemeinde erfolgen. Dabei stellt der Lohn nicht den Preis für die Ware der Arbeit, Theorie des dualen Arbeitsmarktes von Piore <?page no="199"?> 190 sondern die sozialen Beziehungen der Menschen im Produktionsprozess dar, die Prestige, Autorität und Unterordnung beinhalten. Die Löhne werden dabei durch soziale Kräfte (social forces), wie Gewerkschaften, Berufsverbände, informelle Gruppen der Arbeitnehmer und Politik reguliert. Es ist davon auszugehen, dass die Löhne der Migranten anfänglich durch den gesetzlichen Mindestlohn formal bestimmt werden, sie sich jedoch allmählich sozial verschieben können, so dass das Wettbewerbsmodell zur Erklärung der Löhne in zweierlei Hinsicht problematisch ist (vgl. Michael J. Piore, 1979, 86, 93-95). Zum einen sind die Migranten „target erarners“. Dies bedeutet, dass das Arbeitsangebot der Migranten durch eine zurückfallende Angebotskurve (backward bending supply curve) gekennzeichnet wird. Also sinkt das Arbeitskräfteangebot der Migranten mit steigendem Stundenlohn, weil die „target earners“ in dem Ausmaß ihre wirtschaftlichen Ziele (targets) schneller erreichen können, in dem die Löhne steigen. Diese Situation tritt auch bei anderen gering verdienenden Gruppen auf, wie z.B. Hausfrauen, die für die Anschaffung bestimmter Konsumgüter arbeiten. Die konventionelle Wettbewerbstheorie berücksichtigt die Tatsache nur ungenügend, dass das Arbeitsangebot für die Wirtschaft aus einer Reihe individueller „target earners“ besteht. Die zurückfallende Kurve des Arbeitsangebots der Migranten bedeutet nicht, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften der einzelnen Firmen auch zurückfallen muss. Die Firmen haben auch die Möglichkeit, Arbeiter anderer Betriebe abzuwerben. Außerdem ist daran zu denken, dass das Arbeitsangebot der Migranten außerordentlich elastisch (extremely elastic) bzw. unendlich (infinitely) ist. Theoretisch kann der Unternehmer der Arbeitskräfteknappheit (labor shortage) zu jeder Zeit durch die zusätzliche Rekrutierung von Migranten begegnen. Selbst wenn eine Rekrutierungsquelle versiegt, ist relativ problemlos eine andere zu erschließen, weil wegen der großen Einkommensunterschiede (disparities in income) zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern Arbeitskräfte jederzeit nachrücken. Dies bedeutet, dass der Unternehmer nicht unbedingt die Löhne anheben muss, um die Knappheit an Arbeitskräften zu beseitigen. Berücksichtigt man die genannten beiden Faktoren, dann ist die landläufige Auf- Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="200"?> 191 fassung zur Lohnbestimmung und zum gesetzlichen Mindestlohn in einem anderen Licht zu betrachten. Geht man von dem unbegrenzten Arbeitsangebot der Migranten aus und unterstellt dabei, dass es keine formalen Interventionen durch gesetzliche Eingriffe gibt, dann ist zu schlussfolgern, dass die Löhne bis zu dem Punkt kontinuierlich fallen, an dem die Löhne der Einheimischen gefährdet sind. Es ist unwahrscheinlich, dass die Gesellschaft eine solche Entwicklung zulässt. In politischer Hinsicht ist auch zu bedenken, dass die Migranten „target earners“ sind, d.h., dass das Arbeitsangebot der Migranten in dem Ausmaß zunehmen wird, in dem die Löhne sinken, weil die sinkenden Löhne bedeuten, dass sich die Aufenthaltsdauer der Migranten verlängert, um die gesteckten wirtschaftlichen Ziele zu erreichen. Je länger der Aufenthalt der Migranten wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass aus der temporären eine permanente Migration wird, was wiederum den Wettbewerb der Migranten mit den Einheimischen verschärft (vgl. Michael J. Piore, 1979, 95-99). Ein dritter Aspekt liegt in der Arbeitslosigkeit (unemployment) der Migranten. Die Tatsache, dass die Gemeinden, in denen die Mehrheit der Migranten lebt, in der Regel Gemeinden der unteren Lohngruppe (low-income communities) sind, führt oft zu der Vermutung, dass die Arbeitslosigkeit der Migranten, wie die ihrer Gemeinden selbst, relativ hoch sein muss. Diese Vermutung bedarf jedoch einer differenzierteren Betrachtung, weil viele Migranten, die offiziell als arbeitslos gelten, im informellen Bereich beschäftigt sind. Zunächst ist festzustellen, dass die friktionelle Arbeitslosigkeit in der Anfangsphase der Migration aus verständlichen Gründen besonders groß ist. Eine Gruppe der Migranten wird in dieser Phase buchstäblich floaten (free-floaters), weil sie ohne konkrete berufliche Ziele und Perspektiven immigriert ist. Sie ist in dieser Phase auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Eine andere Gruppe verfolgt konkrete Ziele und schließt sich Verwandten und Bekannten an, die vor ihr immigriert sind. Beide Gruppen sind in der Anfangsphase der Migration auf die Jobs angewiesen, die den konjunkturellen und saisonalen Schwankungen ausgesetzt, instabil, unqualifiziert und ohne Aufstiegschancen sind. In der späteren Phase ist die Arbeitslosigkeit der Migranten deswegen hoch, weil die zweite Generation der permanenten Migranten aus unterschied- Theorie des dualen Arbeitsmarktes von Piore <?page no="201"?> 192 lichen Gründen in ihrer sozialen Aufwärtsmobilität (upward mobility) gehindert ist. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die für die Aufwärtsmobilität wichtigen sozialen Institutionen, wie das Bildungssystem, die Gewerkschaften und Berufsorganisationen für die zweite Generation geöffnet werden. Die Paradoxie besteht jedoch darin, dass die politische Macht, die diese Institutionen eröffnen kann, bereits den sozialen Aufstieg der zweiten Generation voraussetzt (vgl. Michael J. Piore, 1979, 86, 102-114). In politischen Analysen und wissenschaftlichen Publikationen wird die Auffassung vertreten, dass die internationale Migration von den unterentwickelten zu den entwickelten Ländern zwei positive Auswirkungen auf die Herkunftsländer der Migranten hat. Eine dieser Auswirkungen wird in der wirtschaftlichen Entwicklung gesehen, die angeblich durch die Geldüberweisungen (remittances) und die in den Industrieländern erworbenen Fähigkeiten (skills) der Migranten unterstützt wird. Bei näherer Betrachtung ist jedoch diese Auffassung eher trügerisch. Die Migranten sind keine signifikante Quelle industrieller Fähigkeiten, weil sie in der Regel für die Arbeiten rekrutiert werden, die geringe Qualifikationen erfordern. Im Falle der Remigration sehen sie die eigene Rolle im Herkunftsland anders als sie von der offiziellen Politik erwartet wird. Sie lehnen durchweg eine abhängige Beschäftigung in der heimischen Industrie ab. Sie investieren ihr angespartes Kapital primär in den Kauf von Land oder in die Gründung eigener Geschäfte (z.B. Taxi- oder Busunternehmen, Reparaturwerkstätten). Sie bringen westliche Konsumgewohnheiten mit, die sie sich durch ihre kulturelle Assimilation und soziale Integration in den Industrieländern angeeignet haben. Deshalb bevorzugen sie importierte westliche Konsumgüter, so dass die Nachfrage nach heimischen Gütern durch sie kaum vergrößert wird. Es ist nicht eindeutig, welchen Beitrag die Migranten zur wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Herkunftsländer leisten, weil sie die Rolle nicht annehmen wollen, die die Politik für sie antizipiert hat. Die zweite positive Auswirkung der internationalen Migration wird in ihrer Funktion als Sicherheitsventil (safety-valve) gesehen, d.h. sie entlastet die Herkunftsländer angeblich sowohl vom Bevölkerungsdruck als auch vom politischen und sozialen Druck, der als Folge frustrierter Wünsche entsteht. Die Funktion als Sicherheitsventil ist für die frustrierten Aspiratio- Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="202"?> 193 nen und Erwartungen aus analytischer Sicht problematisch, weil nicht deutlich wird, wann und wie diese entstanden sind. Bekanntlich ist der internationale Migrationsstrom selten stabil, so dass er im Laufe der Zeit in seiner Komposition grundlegende Veränderungen und Verschiebungen erfährt. Den überwiegenden Anteil an diesem Migrationsstrom bilden jedoch seit jeher Menschen aus den ländlich-agrarischen Regionen. Dabei migrieren anfänglich die Mittelschichtsangehörigen, die die Barrieren zur Aufwärtsmobilität in den urbanen Regionen überwinden wollen. So gesehen werden sie durch den Wunsch nach urbanem Leben in der Industriegesellschaft zur Migration motiviert. Der Migration als Mittel zur Realisierung dieser Ziele werden alle anderen Aspirationen untergeordnet. Die Herkunftsgesellschaft wird daher tatsächlich vom sozialen Druck entlastet, der sonst politisch explosiv werden könnte. Mit der Zeit verschiebt sich jedoch die Komposition des Migrationsstroms von den Mittelschichtsangehörigen zu den Bauern (peasants), die aus den relativ rückständigen Regionen (the relatively backward regions) stammen. Ihre Motivation zur Migration ist durch den Wunsch nach Aufstieg (advancement) innerhalb der sozialen Struktur der ländlichen Regionen bestimmt. Sie haben kaum Erfahrungen mit dem Leben in einer Industriegesellschaft, so dass die Migration eine fundamentale Veränderung des Alltags und der Einstellungen mit sich bringt. Im Falle einer Remigration werden diese Erfahrungen mit der neuen Realität konfrontiert. So tritt eine Umkehrung der angesprochenen Funktion der Migration als Sicherheitsventils ein (vgl. Michael J. Piore, 1979, 86, 115-123, 127- 129). Die Auswirkungen der Migration auf die soziale Struktur der bäuerlichen Gemeinden sind folgenschwer. Die internationale Migration hat allgemein die Tendenz, die traditionelle Berufsstruktur, in der Autorität (authority) und Unterordnung (subordination) eine besonders wichtige Rolle gespielt haben, zu degradieren und abzuwerten (to degrade and devalue). Diese berufliche Abwertung ist vergleichbar mit dem Prozess, in dem die zweite Generation der Migranten die Berufe ihrer Eltern abwertet, auf sie herabblickt und sie schließlich ablehnt. Dieses Phänomen kann sogar die Knappheit an Arbeitskräften in dem betroffenen Bereich zur Folge haben. Das ländliche Puerto Rico liefert in diesem Zusammenhang ein drama- Theorie des dualen Arbeitsmarktes von Piore <?page no="203"?> 194 tisches Beispiel. Beim Anbau von Zuckerrohr (sugarcane) und Kaffee ist traditionell ein so großer Teil der dortigen Überschussbevölkerung beschäftigt, dass die offizielle Politik die Produktivitätssteigerung in diesem Wirtschaftsbereich durch Mechanisierung verzögerte, um die Beschäftigungschancen der Menschen nicht zu gefährden. Die verlängerte Migrationsdauer der Arbeitskräfte in den USA und die Entstehung neuer Beschäftigungschancen in Puerto Rico führten zur Abwertung der traditionellen Berufe in den ländlichen Regionen. Während die ältere Generation weiterhin die traditionellen Berufe akzeptierte, lehnte die jüngere diese rigoros ab. Als Folge erlebte Puerto Rico in den 1960er Jahren eine Verknappung an Arbeitskräften in den ländlichen Regionen, weil die ältere Generation altersbedingt immer kleiner wurde. Diese Knappheit wuchs sogar trotz der hohen Arbeitslosigkeit und großzügigen Lohnsubvention der Regierung (government wage subsidy) weiter an. Die offizielle Politik hat die Lohnsubvention bis zur Parität mit den Löhnen, die die Migranten in den USA verdienten, angehoben. Trotzdem zog die jüngere Generation die Arbeitslosigkeit der Beschäftigung im landwirtschaftlichen Sektor vor, weil sie die Letztere als demütigend und degradierend (humiliating and degrading) empfand. Die Knappheit an Arbeitskräften wurde so dramatisch, dass die Arbeitgeber versuchten, Arbeitskräfte aus Kolumbien zu importieren. Nach der konventionellen Wirtschaftstheorie wäre eine solche Knappheit an Arbeitskräften zu überwinden, indem entweder die Löhne angehoben oder die alternativen Einkommensquellen (z.B. die Migration) beseitigt werden. An diesem Beispiel wird überdeutlich, dass die Knappheit an Arbeitskräften nicht nur Folge niedriger Löhne, sondern auch die einer gewandelten Wertestruktur (the changing value structure) ist, deren Ursache auf den Prozess der Migration zurückgeht (vgl. Michael J. Piore, 1979, 130 -133). Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="204"?> 195 5. 2 George J. Borjas Eingangstür zum Wohlfahrtsstaat Auswirkungen der Einwanderung von Arbeitskräften auf die Wirtschaft der USA und einwanderungspolitische Implikationen (Heaven’s Door Immigration Policy and the American Economy, 1999. 256 S.) In den USA entzünden sich immer wieder neu die Debatten darüber, welche Richtung der Einwanderungspolitik (the type of immigration policy) für die Weiterentwicklung des Landes förderlich sein kann. Daher hat von jeher die Kosten-Nutzen-Kalkulation (cost-benefit calculus) eine zentrale Rolle gespielt. Diese Güterabwägung ist jedoch nur dann effektiv realisierbar, wenn die zentralen Ziele, die durch die Einwanderungspolitik erreicht werden sollen, vorab geklärt sind. Es geht also bei der Kursbestimmung der Einwanderungspolitik um grundsätzliche Entscheidungen darüber, was, weswegen, in wessen Interesse politisch durchgesetzt und erreicht werden soll. Da solche Entscheidungen in aller Regel nicht auf der Basis eines nationalen Konsens herbeizuführen sind, werden mit Hilfe statistischer Daten typische Auswirkungen angeführt, die als kurz- und langfristige Folgen der Einwanderung für die USamerikanische Gesellschaft zu erwarten sind. Die jeweilige Gewichtung dieser Auswirkungen wird dann sowohl die Richtung der Debatten bestimmen als auch begründbare Empfehlungen für die Politik zulassen. Nach der Theorie von Geoge Borjas sind insgesamt 10 Auswirkungen (top ten symtoms of immigration) zu erwarten, die die Einwanderung von Arbeitskräften für die US-amerikanische Gesellschaft mit sich bringen könnten. Es gilt daher diese Aspekte kritisch zu überprüfen, da deren Analyse als Entscheidungshilfe für die Zielfindung der Einwanderungspolitik herangezogen werden kann (vgl. George J. Borjas, 1999, 4-6). Kosten-Nutzen-Analyse der Migration von Borjas <?page no="205"?> 196 Als erste Auswirkung ist zu nennen, dass die Zahl der Einwanderer in den letzten Jahren eine bisher beispiellose Rekordhöhe erreicht hat. Geschichtlich gesehen fanden die großen Einwanderrungswellen in die USA, die man als „the Great Migration“ bezeichnet, ab etwa 1880 statt und setzten sich bis 1924 fort. In dieser Zeit sind etwa 26 Mio. Menschen in die USA eingewandert. Zwischen 1901 und 1910 erreichte dieser Prozess seinen Höhepunkt mit einer jahresdurchschnittlichen Immigrantenzahl von 900.000. Die gesetzliche Beschränkung der Einwanderung (the national quota system) ab 1924 und die große Depression haben dazu geführt, dass die Zahl der Immigranten bis etwa 1930 massiv reduziert wurde. Seitdem steigt sie wieder stetig an und erreichte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die Rekordhöhe von jährlich 1Mio. Immigranten, ohne dabei die Zahl der illegalen Einwanderer zu berücksichtigen. Angesichts der sinkenden Fertilität der Frauen macht heute die Zahl der Immigranten ein Drittel der Bevölkerungsveränderung der USA aus. Die Immigranten spielen daher im sozialen und wirtschaftlichen Leben eine entscheidende Rolle, so dass man die steigenden Einwanderungen, die seit 1965 wieder zu registrieren sind, als „the Second Great Migration“ bezeichnet. George J. Borjas plädiert, um es vorweg zu sagen, für eine wirtschaftlich orientierte Immigrationspolitik der USA, die bevorzugt die Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften (skilled workers) fördert und zeitgleich die derzeitig hohe jährliche Einwandererzahl auf ein vertretbares Niveau von 500.000 reduziert (vgl. George J. Borjas, 1999, 6-8, 15-18). Als zweite Auswirkung ist die Verschlechterung der beruflichen Qualifikation (the relative skills) der Immigranten zu nennen, was wiederum deren wirtschaftliche Leistung (economic performance) verschlechtert. So verdiente 1960 ein Immigrant (the average immigrant man) in den USA durchschnittlich 4 % mehr als ein Einheimischer, während 1998 umgekehrt ein Immigrant durchschnittlich 23 % weniger verdiente als ein Einheimischer. 1998 hatten die neu ankommenden Immigranten (the newest immigrants) durchschnittlich zwei Jahre weniger schulische Ausbildung (two years of schooling) vorzuweisen als die Einheimischen. Aufgrund des sinkenden Humankapitals sinkt auch das Einkommen der Immigranten. Allgemein ist festzustellen, dass sich die berufliche Qualifika- Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="206"?> 197 tion der Immigranten in den USA seit 1960 verschlechtert hat im Vergleich zu der der Immigranten, die vor 1960 eingewandert sind. Die berufliche Qualifikation hat dabei unmittelbare fiskalische Auswirkungen auf den Wohlfahrtsstaat (welfare state). Immigranten mit höheren beruflichen Qualifikationen verdienen in der Regel mehr als die mit geringer beruflicher Qualifikation. Sie zahlen daher höhere Steuern (high taxes), nehmen aber weniger soziale Leistungen in Anspruch, so dass dem Staat kaum Kosten entstehen. Außerdem assimilieren sie sich schneller in die Aufnahmegesellschaft. Der Wohlfahrtsstaat hat nicht nur auf all diese Vorteile zu verzichten, sondern darüber hinaus zusätzlich mit steigenden fiskalischen Belastungen zu rechnen, wenn sich die Qualifikation der Immigranten verschlechtert. Angesichts der global und dramatisch eintretenden strukturellen Veränderungen der Wirtschaft, die zur steigenden Nachfrage nach Arbeitskräften mit höheren Qualifikationen führen, ist die allgemeine Verschlechterung des Qualifikationsprofils der Immigranten ein ernst zu nehmendes politisches Problem. Es ist daher zu überprüfen, ob die Einwanderungspolitik auf der Basis der Familienzusammenführung, die seit der Aufhebung der nationalen Quotenregelung im Jahre 1965 praktiziert wird, die geeignete Politik ist, um das notwendige Qualifikationsniveau der Immigranten anzuheben (vgl. George J. Borjas, 1999, 8, 19-22, 31-34). Die dritte Auswirkung ist in dem niedrigeren Einkommen der Immigranten zu sehen. 1960 verdienten z. B. die neu ankommenden Immigranten 13 % weniger als die Einheimischen. 1998 war das Einkommen um 34 % geringer als das der Einheimischen. Damit wird offenkundig, dass das berufliche Qualifikationsniveau der Immigranten gesunken ist. Die historischen Erfahrungen zeigen, dass der Prozess der wirtschaftlichen Assimilation (z.B. die Verbesserung der Sprachkenntnisse) den Einkommensabstand (wage gap) zwischen Einheimischen und Immigranten verringert. Die Verringerung dieses Abstands liegt 20 Jahre nach der Ankunft der Immigranten bei etwa 10 %. Bei den Immigranten, die nach 1980 eingewandert sind, betrug dieser Abstand zum Zeitpunkt ihrer Ankunft (at the time of entry) gegenüber den Einheimischen etwa 25 %. Selbst in dem Fall, in dem diese Immigranten einen Assimilationsprozess so durchlaufen hätten, wie die Immigranten früherer Zei- Kosten-Nutzen-Analyse der Migration von Borjas <?page no="207"?> 198 ten, so wäre der Einkommensabstand in der Größenordnung von etwa 15 % zum Einkommen der Einheimischen für die gesamte Lebenserwerbszeit erhalten (vgl. George J. Borjas, 1999, 9). Die vierte Folgewirkung liegt heute in dem gravierenden Wandel der ethnischen Komposition der Immigranten. Während 1950 zwei Drittel der Immigranten europäischer und kanadischer Herkunft waren, machte in den 1990er Jahren der Anteil der Immigranten europäischer und kanadischer Herkunft nur noch 16 % aus. Dagegen kamen 49 % der Immigranten aus Lateinamerika und 32 % aus Asien. Zwischen 1960 und 1990 ist damit eine historische Verschiebung (a historic shift) bei den Herkunftsländern der Immigranten eingetreten. Der Schwerpunkt der Herkunftsländer wurde eindeutig von den industrialisierten europäischen Ländern auf die Entwicklungsländer verlagert. Damit verändert sich die Komposition der Immigranten nach der nationalen Herkunft (national origin mix) grundsätzlich. Die entscheidende Ursache für diese Verschiebung und Veränderung liegt in der Aufhebung der nationalen Quotenregelung (the national origin quota system) bei der Einwanderung im Jahre 1965. Dabei wird offenkundig, dass das Qualifikationsniveau und die wirtschaftlichen Leistungen der Immigranten, die nach 1965 eingewandert sind, im Vergleich zu denen der Immigranten früherer Zeit relativ gesunken sind. Das bedeutet, dass die Immigranten aus den Entwicklungsländern durchschnittlich 2 Jahre schulische Ausbildung weniger mitbringen als Migranten aus den Industrieländern. Dabei wird allgemein angenommen, dass ein zusätzliches schulisches Ausbildungsjahr das Einkommen der Immigranten in den USA um 5 % vergrößert. Weiterhin geht man davon aus, dass die beruflichen Qualifikationen, die die Immigranten in ihren industrialisierten Herkunftsländern erworben haben, prinzipiell leichter auf den Arbeitsmarkt der USA transferiert werden können. Dies bedeutet, dass die schlechten wirtschaftlichen Leistungen der Immigranten aus den Entwicklungsländern teilweise darauf zurückzuführen sind, dass sie die in ihren Herkunftsländern erworbenen Qualifikationen nicht ohne weiteres auf dem Arbeitsmarkt der USA transferieren können (vgl. George J. Borjas, 1999, 9-10, 39-47). Vor diesem Hintergrund verdient die Einwanderungspolitik Kanadas besondere Aufmerksamkeit. Kanada hat in den 1960er Jah- Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="208"?> 199 ren, wie die USA, seine Einwanderungspolitik aufgegeben, die bis dahin die Immigranten aus den europäischen Ländern bevorzugt hatte. Diese ging zu einem neuen Punktsystem (point system) über, wonach alle Antragsteller auf ein Einwanderungsvisum einen Test durchlaufen müssen, in dem sie je nach Alter, schulischer Ausbildung, Sprachkenntnissen, Berufserfahrung usw. mit einer bestimmten Punktzahl bewertet werden. Zum Schluss qualifizieren sich für ein Einwanderungsvisum diejenigen, die mindestens 70 Punkte von 112 möglichen Punkten erreichen. Dieses Auswahlverfahren (filtering) wirkt sich, wie die bisherigen Erfahrungen zeigen, positiv auf die Anhebung der Qualifikation und wirtschaftliche Leistung der Immigranten aus. Die Immigranten in Kanada haben im Vergleich zu denen in den USA höhere Qualifikationen und erbringen höhere wirtschaftliche Leistungen. So verdienten z.B. die neu ankommenden Immigranten in den USA 28 % weniger und hatten ein schulisches Ausbildungsjahr weniger (one less year of schooling) vorzuweisen als die Einheimischen, während die neu ankommenden Immigranten in Kanada nur 16 % weniger verdienten und ein Ausbildungsjahr mehr vorzuweisen hatten (one more year of schooling) als die Einheimischen. Damit scheint das Punktsystem in Kanada einerseits die Einwanderung produktiverer Arbeitskräfte zu fördern und andererseits die Einwanderung gering qualifizierter Arbeitskräfte aus den Entwicklungsländern zu bremsen. Es verändert die Komposition der nationalen Herkunft der Immigranten. Gleichzeitig ist der Eindruck nicht zu vermeiden, dass das Punktsystem de facto eine Rückkehr zum alten Quotensystem beinhaltet, wie es die Einwanderungspolitik der USA von 1924 bis 1965 praktiziert hat (vgl. George J. Borjas, 1999, 9-10, 58-61). Als fünfte Auswirkung ist zu nennen, dass sich die große Mehrheit der Immigranten massiert (the geographic clustering) in einem der 6 US-Staaten Kalifornien, New York, Texas, Florida, New Jersey und Illinois niederlässt. 1998 lebten etwa 72 % der Immigranten in diesen Staaten, allein in Kalifornien waren es 32 %. Diese extreme geographische Konzentration der Immigranten hat ihre Ursache teilweise darin, dass sie in der Regel durch die begrenzte Anzahl der sog. „Städte des Eingangstors“ (gate-way cities) in die USA einwandern und aufgrund ihrer geringen Mobilität dort bleiben, wo sie sich zuerst niedergelassen haben. Diese hohe geogra- Kosten-Nutzen-Analyse der Migration von Borjas <?page no="209"?> 200 phische und residentiale Konzentration ist auch in einigen Großstädten besonders ausgeprägt. 1990 lebten allein in den fünf Großstädten Los Angeles, New York, Miami, Chicago und Anaheim 42 % der Immigranten. Man könnte daher die Auffassung vertreten, dass sich diese geographische Konzentration besonders negativ auf die Arbeitsmarktsituation der Einheimischen auswirkt, die in diesen Staaten bzw. Städten leben. Denn die Einwanderung von Arbeitskräften bedeutet, dass sich das Angebot der Arbeitskräfte (supply of workers) auf dem Arbeitsmarkt vergrößert. Das steigende Angebot führt im Normalfall zum verschärften Wettbewerb (competition) zwischen den Arbeitern und dadurch zu einem Lohndruck nach unten. Eine andere Auffassung, die im Zusammenhang mit der Immigration oft vertreten wird, besteht darin, dass sich die Immigranten überwiegend in einigen Sektoren des Arbeitsmarkts konzentrieren, in denen weitgehend solche Arbeiten zu verrichten sind, die nur geringe Qualifikationen voraussetzen. Die Immigranten üben daher solche Berufe aus, die die Einheimischen ohnehin ablehnen. Diese Auffassung könnte dahingehend verstanden werden, dass die Immigranten keine negativen Auswirkungen auf die Arbeitsmarktsituation der Einheimischen ausüben. Die empirischen Fakten relativieren jedoch beide Positionen. Danach ist davon auszugehen, dass in einer Stadt ein Migrantenzuwachs von 10 % die Reduzierung der Löhne der einheimischen Arbeiter um etwa 0,03 % bewirkt. Diese geringe Reduzierung darf jedoch nicht zu der Schlussfolgerung verleiten, dass die Immigration keine Auswirkungen auf die Beschäftigung der Einheimischen hat. Die Fakten belegen, dass sowohl die einheimischen Unternehmer als auch die einheimischen Arbeiter auf die Immigration ausländischer Arbeitskräfte reagieren. So werden die Unternehmer in den Städten investieren, in denen viele Immigranten sind, weil die billigen Arbeitskräfte dort die Gewinne der Unternehmer vergrößern. Damit fließt das Kapital dort hin. Die Tatsache, dass sich die Gewinne der Unternehmer in den Städten mit höherer Konzentration an Immigranten steigern, lässt andererseits erwarten, dass diese Gewinne bei geringer Konzentration an Immigranten umgekehrt wettbewerbsbedingt zurückgehen. Damit tritt auf der nationalen Ebene ein Ausgleich ein. Die einheimischen Arbeiter reagieren ebenfalls, indem sie aus den Städten mit hoher Immigrantenkonzentration auswan- Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="210"?> 201 dern (out-migration) und sich in Städten mit geringerer Konzentrationsrate (in-migration) niederlassen. Sie weichen dadurch dem Wettbewerbsdruck durch die Immigranten aus. Dies bedeutet, dass nicht nur die einheimischen Arbeiter, die in den Städten und Staaten mit höherer Konzentrationsrate an Immigranten leben, sondern im Endeffekt alle einheimischen Arbeitnehmer von den negativen Auswirkungen der Immigration unmittelbar oder mittelbar betroffen werden. Diese Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt müssen deshalb nicht nur auf der lokalen, sondern auch auf der nationalen Ebene untersucht werden. Dabei scheint die Immigration zur höheren Ungleichheit der Einkommensverteilung zu führen, indem sie die Arbeitsmarktsituation der gering qualifizierten einheimischen Arbeiter (the less-skilled workers) verschlechtert (vgl. George J. Borjas, 1999, 10-11, 64-67, 78-86). Als sechste Folgewirkung ist die enge Korrelation zwischen der Immigration und dem Wohlfahrtsstaat zu sehen. Es ist unstrittig, dass der Anteil der Immigranten an den Empfängern wohlfahrtsstaatlicher Leistungen generell höher liegt als der der Einheimischen, so dass die fiskalischen Belastungen besonders dann wachsen, wenn eine hohe Konzentration der Immigranten vorliegt. 1998 erhielten 10 % der Immigrantenhaushalte Bargeldleistungen (cash benefits) des Staates, im Vergleich zu 7 % der einheimischen Haushalte. Im Gegensatz zu den einheimischen Haushalten sind der niedrigere Bildungsstand und die Großfamilienstruktur die typischen Merkmale der Immigrantenhaushalte. In der Regel leben die Migranten in Großfamilien, in denen mehrere jüngere und ältere Personen einen Haushalt bilden. Solche für die Immigrantenhaushalte typischen sozioökonomischen Merkmale scheinen den Bedarf an wohlfahrtsstaatlichen Leistungen eher wahrscheinlich zu machen. Es bleibt jedoch eine offene Frage, inwieweit die großzügigen Leistungen des Wohlfahrtsstaates einen Anreiz für die potentiellen Immigranten aus den Entwicklungsländern bieten, in die USA einzuwandern. 1996 erhielt z.B. in Kalifornien ein typischer AFDC-Haushalt (Aid to Families with Dependent Children) mit zwei Kindern Bargeldleistungen des Staates in Höhe von 7.200 US- Dollar, Essensmarken im Wert von 3.000 US-Dollar und weitere Leistungen im Wert von 6.500 US-Dollar (im Rahmen des „medi- Kosten-Nutzen-Analyse der Migration von Borjas <?page no="211"?> 202 caid program“). Diese Leistungen übersteigen bei weitem z.B. das Pro-Kopf-Einkommen in China in Höhe von 3.200 US-Dollar oder das auf den Philippinen in Höhe von 3.000 US-Dollar (vgl. George J. Borjas, 1999, 12, 105-114, 116). Die Höhe der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen ist in den USA nicht einheitlich geregelt, so dass sie von Staat zu Staat variiert. 1990 waren die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen des kalifornischen Staates die großzügigsten. Sie waren 20fach höher als die des Staates New York, 136mal höher als die des Staates Florida und 280mal höher als die des Staates Texas. Vor diesem Hintergrund ist vielleicht auch die hohe Konzentration der Immigranten in Kalifornien zu sehen, weil zu vermuten ist, dass die Höhe der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen bei der Wohnortsentscheidung der Immigranten eine Rolle gespielt haben könnte. Es ist kein Geheimnis, dass Buchhandlungen in Taiwan, Hongkong und auch in den USA Bücher in chinesischer Sprache verkaufen, die ausführlich über die unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen der einzelnen US-Staaten informieren. Tatsache ist, dass 45 % der Immigrantenhaushalte in Kalifornien Empfänger wohlfahrtsstaatlicher Leistungen sind. Nur 29 % der Immigrantenhaushalte in Kalifornien sind unabhängig von diesen Leistungen. Allgemein ist zu vermuten, dass die Immigranten in der ersten Eingliederungsphase besonders auf die Hilfen des Wohlfahrtsstaats angewiesen sind. Es ist weiterhin bekannt, dass die Immigranten im Laufe ihres Assimilationsprozesses nicht nur die Opportunitäten auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch die Chancen der Einkommensbeschaffung durch Transferleistungen des Wohlfahrtsstaats (welfare state) kennenlernen. Die historischen Erfahrungen belegen, dass die Immigranten, die auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen angewiesen sind, auch für sehr lange Zeit davon abhängig bleiben. Es ist wahrscheinlich, dass die Inanspruchnahme der Sozialleistungen durch die Immigranten in dem Ausmaß wächst, in dem deren Qualifikationsniveau sinkt. Nach einer Studie der „National Academy of Science“ bringt die Immigration für die durchschnittlichen einheimischen Haushalte in Kalifornien eine zusätzliche jährliche Steuerbelastung in Höhe von ca. 1.200 US-Dollar mit sich. Die Immigration hat somit ernsthafte fiskalische Auswirkungen auf die Staaten mit einer höheren Kon- Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="212"?> 203 zentrationsrate an Immigranten. 1994 beliefen sich die Gesamtkosten aller wohlfahrtsstaatlichen Progamme der USA auf über 345 Billionen US-Dollar (vgl. George J. Borjas, 1999, 115-118). Die siebte Auswirkung bezieht sich darauf, dass die Immigration von Arbeitskräften sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die Wirtschaft des Aufnahmelands hat. Dadurch gibt es Gewinner (winners) und Verlierer (losers) in der heimischen Wirtschaft. Zunächst wirkt sie sich auf die gering qualifizierten einheimischen Arbeiter (the less-skilled native workers) negativ aus. Diese werden einem verschärften Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt, weil das Angebot der gering qualifizierten Arbeitskräfte durch die Immigration größer wird, was wiederum einen Lohndruck auf dem betroffenen Sektor des Arbeitsmarkts erzeugt. Ihnen drohen oft Lohnkürzungen bzw. die Gefahr des Arbeitsplatzverlusts, weil die Unternehmer die Immigranten als billige Arbeitskräfte einsetzen, um die Lohnkosten zu reduzieren. Die gering qualifizierten einheimischen Arbeiter sind daher die Verlierer. Dagegen geht die Wirtschaft insgesamt als Gewinner hervor, weil sie vor allem mit folgenden positiven Auswirkungen zu rechnen hat. Die Immigration von Arbeitskräften vergrößert die wirtschaftliche Gesamtnachfrage durch den einwanderungsbedingten zusätzlichen Konsum von Gütern und Dienstleistungen. Sie vergrößert auch die Produktivität der einheimischen Arbeiter, weil die Immigranten viele Arbeiten übernehmen, die nur geringe Qualifikationen voraussetzen, so dass die einheimischen Arbeiter für die produktivere Arbeit freigesetzt werden. Weiterhin fallen die Preise von Gütern und Dienstleistungen, die durch die eingewanderten Arbeitskräfte produziert werden. Ihre Lohnkosten liegen niedriger als die der einheimischen Arbeiter. Zuletzt schafft ein nicht geringer Teil der Immigranten durch ihre unternehmerischen Aktivitäten neue Arbeitsplätze und leistet dadurch einen positiven Beitrag zum Wirtschaftswachstum. Insgesamt ist festzuhalten, dass viele Güter und Dienstleistungen nicht hätten produziert werden können, wenn die Arbeitskraft der Immigranten nicht verfügbar gewesen wäre. Damit wäre der Lebensstandard der einheimischen Bevölkerung ohne Immigranten wesentlich niedriger. Gewinner sind weiterhin auch die Konsumenten der billiger gewordenen Güter und Dienstleistungen, Kosten-Nutzen-Analyse der Migration von Borjas <?page no="213"?> 204 die durch die eingewanderten Arbeitskräfte produziert werden. Die Immigration von Arbeitskräften verändert damit auch die Preise von Gütern und Dienstleistungen, die Opportunitätsstrukturen des Arbeitsmarkts für die einheimischen Arbeiter (opportunities of workers) und die Zusammensetzung der Belegschaft der Unternehmungen. Dabei wird der wirtschaftliche Nutzen (economic benefits) der Immigration umso größer, je größer die Andersartigkeit der Qualifikation der Immigranten ist. Wenn die Qualifikation der Immigranten völlig anders ist als die der Einheimischen, entstehen die Bedingungen für eine komplementäre Produktion, d.h. die Produktion solcher Güter und Dienstleistungen wird möglich, die keine der beiden Bevölkerungsgruppen (Einheimische und Immigranten) ohne die andere Gruppe produzieren kann (vgl. George J. Borjas, 1999, 12-13, 87-89). Betrachtet man die wirtschaftlichen Auswirkungen der Immigration auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, so stellt man fest, dass die Gewinne der Unternehmer und Verbraucher, die die billigeren Güter und Dienstleistungen der Immigranten konsumieren, die Verluste der einheimischen Arbeiter überwiegen. Die Gesellschaft insgesamt hat daher Vorteile durch die Immigration. Schätzungsweise beträgt der Nettogewinn jährlich etwa 0,01 % des Bruttoinlandsprodukts. 1990 betrug dieser Nettogewinn für die USA ca. 10 Mrd. US-Dollar bzw. ca. 30 US-Dollar pro Kopf. Die Differenzen zwischen dem Gewinn der Gewinner und dem Verlust der Verlierer werden als „immigrant surplus“ bezeichnet. Durch die Immigration entsteht damit ein Überschuss für die gesamte Wirtschaft. Dieser Überschuss macht den eigentlichen Gewinn aus, der für das nationale Einkommen der Einheimischen durch die Immigration entsteht. Er kann nur entstehen, wenn die Qualifikationen der eingewanderten Arbeitskräfte wesentlich andere sind als die der Einheimischen, so dass dadurch die komplementäre Produktion von Gütern und Dienstleistungen möglich wird. Die Immigration hat damit zwei Konsequenzen: Zum einen vergrößert sie das verfügbare Bruttoinlandsprodukt (GDP) der Einheimischen (immigration increases the size of the economic pie abvailable to natives). Zum anderen führt sie zu einer neuen Umverteilung des Einkommens (redistribution of income) von einheimischen Arbeitern mit geringen Qualifikationen, die mit Immigranten konkurrieren, zu den Unter- Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="214"?> 205 nehmern, die die Immigranten als billige Arbeitskräfte nutzen sowie zu den Verbrauchern, die die Güter und Dienstleistungen der Immigranten konsumieren. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Immigration liegen wesentlich in dieser Umverteilung des Einkommens (distributional impact). Wollte die Einwanderungspolitik das Ziel verfolgen, das Pro-Kopf-Einkommen der Einheimischen zu maximieren, dann müsste sie eher hoch qualifizierte Arbeitskräfte einwandern lassen, weil dadurch das angesprochene Verteilungsproblem vermieden und darüber hinaus die fiskalischen Belastungen des Staates verkleinert werden, die durch die Immigration der Geringqualifizierten entstehen (vgl. George J. Borjas, 1999, 12, 90- 91, 95, 102-104). Als achte Folgewirkung ist zu nennen, dass die wirtschaftlichen Folgen der Immigration nicht nur von dem Anpassungsprozess der Immigranten der ersten Generation und deren wirtschaftlichen Leistungen, sondern darüber hinaus auch von denen der nachfolgenden Generationen abhängt. 1998 waren 11 % der US-Bevölkerung in zweiter Generation Immigranten, die in den USA geboren sind und einen Elternteil mit ausländischer Herkunft (one foreignborn parent) hatten. Bis zum Jahr 2050 wird der Anteil der zweiten Generation an der Bevölkerung auf 14 % ansteigen. Dabei ist zu beobachten, dass zwischen den ethnischen Immigrantengruppen beträchtliche Unterschiede im Hinblick auf die beruflichen Qualifikationen vorhanden sind. Geht man von einer Rechnung von 1910 aus, so hatte eine Lohndifferenz (wage differential) von 20 % zwischen zwei beliebigen ethnischen Immigrantengruppen der ersten Generation eine Lohndifferenz von 12 % in der zweiten Generation und eine Lohndifferenz von 5 % in der dritten Generation zur Folge. Nach der Metapher des „melting pot“ hätte diese anfängliche Lohndifferenz, völlig unabhängig von der ethnischen Herkunft und individuellen Qualifikation, im Prozess der Assimilation in die große und einheitliche anglo-amerikanische Gesellschaft der USA buchstäblich wegschmelzen müssen. Dies ist jedoch nicht eingetreten. Die historischen Erfahrungen weisen vielmehr darauf hin, dass der Unterschied der durchschnittlichen Fähigkeiten (the average skill differential) zwischen zwei beliebigen ethnischen Gruppen bis zu 50 % auch in der zweiten und bis zu 25 % auch in der dritten Generation erhalten bleibt. Mit anderen Worten besteht zwischen Kosten-Nutzen-Analyse der Migration von Borjas <?page no="215"?> 206 dem sozioökonomischen Status der ersten und der nachfolgenden zweiten und dritten Generation eine positive Korrelation. Nach den historischen Erfahrungen wird der ethnische Hintergrund (the ethnic background) der Immigranten mit ihren kulturellen Eigenschaften und Qualifikationen in einer verminderten Form bis zur dritten Generation weiter übermittelt (transmitted) und vererbt. Erst nach ca. 100 Jahren scheint der anfängliche Unterschied der Fähigkeiten und Qualifikationen zwischen den ethnischen Gruppen zu verschwinden. Dies bedeutet, dass die Unterschiede der Fähigkeiten (the skill differentials) zwischen den heutigen Immigrantengruppen die Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen in der Zukunft ausmachen (vgl. George J. Borjas, 1999, 13-14, 127-128, 133, 136, 139-140, 143). Die neunte Auswirkung besteht darin, dass die Fähigkeiten der Immigrantenkinder nicht nur durch ihre Eltern, sondern in beträchtlichem Umfang auch durch die ethnische Umgebung (ethnic envirronment) beeinflusst werden. Diese gibt den Rahmen an, in dem das ethnische Kapital (ethnic capital) entsteht, das aus dem gesamten „set“ der ethnischen Kultur, Charakterzüge, wirtschaftlichen Opportunitäten und Aspirationen gebildet wird. Die Kinder sind tagtäglich dem Einfluss ihrer ethnischen Umgebung ausgesetzt. Ihre Denkweisen, Einstellungen und Verhaltensweisen werden durch diese Umgebung beeinflusst und geprägt. Da diese Umgebung je für sich unverwechselbar einmalig ist, werden die Kinder unterschiedlicher ethnischer Gruppen später auch unterschiedliche Leistungen erbringen, selbst dann, wenn sie vergleichbare Startchancen hatten. Die Einflüsse dieser ethnischen Umgebung fließen, bildhaft gesprochen, auf die Kindergeneration über (spills over), so dass sie es schwer hat, dem Schicksal der eigenen ethnischen Gruppe zu entfliehen (vgl. George J. Borjas, 1999, 14). Die letzte und zehnte Folgewirkung, die untrennbar mit der ethnischen Umgebung zusammenhängt, besteht in der residentialen Konzentration und Segregation der Immigranten. Man verwendet dafür Begriffe wie „ethnische Enklave“, „ethnisches Ghetto“ und „ethnische Nachbarschaft“ (z.B. „barrios“ der Mexikaner). Gemeinsam für diese konzentrierte Wohn- und Lebensform der ethnischen Gruppen sind die soziale Isolation und Deprivation der Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="216"?> 207 Bewohner. Sie hemmen die kulturelle, soziale und wirtschaftliche Assimilation in die US-amerikanische Gesellschaft, so dass ihre soziale Aufwärtsmobilität weitgehend eingeschränkt wird (vgl. George J. Borjas, 1999, 14-15, 146-173). Die dargestellten Auswirkungen tragen keine politischen Implikationen in sich. Welche Einwanderungspolitik daraus abgeleitet wird, hängt davon ab, wie die genannten Folgen unter dem Aspekt der Kosten-Nutzen-Analyse der einzelnen Interessengruppen gewichtet werden. Es ist jedoch klar, dass es keine objektive Gewichtung geben kann, die alle Gruppen zufrieden stellt. Bei jeder Kosten-Nutzen-Analyse ist immer mit Gewinnern und Verlierern zu rechnen. Die politische Entscheidung ist damit eine Entscheidung über die Prioritäten unter Berücksichtigung relevanter Sachverhalte auf der Basis wissenschaftlicher Analysen. Unterstellt man, dass die Einwanderungspolitik das Ziel verfolgt, das wirtschaftliche Wohlergehen der einheimischen Bevölkerung (to maximize the economic well-being of natives) zu maximieren, und unterstellt man weiterhin, dass die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens (per capita income) der einheimischen Bevölkerung und seine Verteilung (distribution of income) die zentralen Indikatoren für das wirtschaftliche Wohlergehen sind, dann hat diese Politik eindeutig die Einwanderung von hoch qualifizierten Arbeitskräften (skilled workers) zu fördern. Dafür sprechen zum einen fiskalische Gründe. Die hoch qualifizierten Arbeitskräfte verdienen mehr, bezahlen mehr Steuern und nehmen weniger soziale Leistungen des Staats in Anspruch als die Arbeitskräfte mit geringen Qualifikationen. Die Ersteren erhöhen damit das Einkommen der Einheimischen, das nach Abzug der Steuern übrig bleibt, während die Letzteren umgekehrt das Einkommen der einheimischen Steuerzahler reduzieren. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass das Einkommen nach seiner Höhe progressiv besteuert wird. Dies bedeutet, dass die hoch qualififizierten Arbeitskräfte zur besseren Verteilung des Einkommens beitragen, weil sie durch höhere Steuerabgaben die Steuerlast (tax burden) der gering qualifizierten einheimischen Arbeiter (less-skilled natives) reduzieren. Weitere Gründe liegen in der Veränderung der Produktivität der einheimischen Arbeiter und Unternehmer, die durch die Einwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte eintritt. Es ist nicht zu leugnen, dass ein Teil der einheimischen Unterneh- Kosten-Nutzen-Analyse der Migration von Borjas <?page no="217"?> 208 mer durch die Einwanderung von Arbeitskräften mit geringen Qualifikationen Vorteile haben, weil sie besonders in der arbeitsintensiven Produktion billigere Arbeitskräfte einsetzen können. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die leistungsfähigen modernen Maschinen und die kapitalintensive Produktion in der modernen Wirtschaft eindeutig zu höherer Produktivität führen, wenn dafür hoch qualifizierte Arbeitskräfte eingesetzt werden. Insgesamt wird die Steigerungsrate des Einkommens der Bevölkerung durch die Einwanderung von hoch qualifizierten Arbeitskräften größer als im umgekehrten Fall. Der wirtschaftliche Gewinn durch die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte wird umso größer, je komplementärer ihre Qualifikationen sind, d.h., wenn die Einwanderer solche Fähigkeiten und Qualifikationen mitbringen, die den Einheimischen fehlen. Dabei wird die komplementäre Produktion zwischen Einheimischen und Einwanderern generell größer, wenn die Einwanderer hoch qualifizierte Arbeitskräfte sind. Diese tragen eher dazu bei, den Einkommensunterschied (income gap) zwischen den qualifizierten und unqualifizierten Arbeitern zu verkleinern. Die Ungleichheit des Einkommens (income inequality) wird dadurch geringer. Die Einwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte ist daher zu befürworten, weil sie die soziale Wohlfahrt (social welfare) erhöht und einen positiven Verteilungseffekt erzielt (vgl. George J. Borjas, 1999, 189-192). Das Punktsystem (point system) ist trotz seiner Umsetzungsprobleme (z.B. großer bürokratischer Aufwand) ein geeignetes Instrumentarium zur Förderung der Einwanderung von hoch qualifizierten Arbeitskräften. Es beachtet jedoch nur die Nachfrageseite (demand side). Die Tatsache, dass man Fachkräfte haben will, heißt jedoch noch nicht, dass die Fachkräfte tatsächlich kommen. Das Punktsystem ist daher wegen der finanziellen Anreize (financial incentives) für die Fachkräfte attraktiver zu gestalten. Es kann auch zur Bewahrung der ethnischen Vielfalt (ethnic diversity) beitragen, wenn die Vergabe der Punktzahlen dafür sorgt, dass keine der ethnischen Gruppen zu groß wird (vgl. George J. Borjas, 1999, 192- 194, 197). Es gibt keine objektiven Kriterien, die die jährlich zulässige Zahl der Immigranten festschreiben können. Vielmehr sind bei der Fest- Theorien der Wirtschaftswissenschaft zur Migration <?page no="218"?> 209 legung der Immigrantenzahl die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen zu berücksichtigen, so dass bei einer hohen Zahl von Arbeitslosigkeit nicht zu vertreten wäre, eine hohe Zahl von Immigranten zuzulassen. Zu berücksichtigen ist auch der Verteilungseffekt des Einkommens durch die Einwanderung. Es wurde bereits erwähnt, dass 10 % mehr Immigranten die Löhne der Einheimischen um etwa 0,03 % reduzieren. Es gibt damit eine bestimmte Grenze bei der Zahl der Immigranten, die zur größeren Ungleichheit des Einkommens führt. Die derzeitige Immigratenzahl von 1 Mio. Menschen pro Jahr scheint eindeutig zu groß zu sein. Für die einheimischen Arbeiter, die sich einer übergroßen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sehen, sind die Grenzen der Zumutbarkeit überschritten. Selbst die „Commission on Immigration Reform“ empfiehlt pro Jahr nur 500.000 Immigranten zuzulassen. Die vertretbare Zahl der Immigranten wird daher dem Prinzip von „Versuch und Irrtum“ (a painfull process of trial and error) der Politik ausgeliefert (vgl. George J. Borjas, 1999, 200- 203). Kosten-Nutzen-Analyse der Migration von Borjas <?page no="219"?> 210 6. Theorien zur Migration aus Sicht der Systemtheorie Aus Sicht der Systemtheorie ist die internationale Migration weder das Resultat rationaler individueller Entscheidung Einzelner mit dem Ziel, die höheren Löhne im Aufnahmeland zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil zu nutzen, noch eine Antwort auf die Nachfrage nach Arbeitskräften, die durch den dualen Arbeitsmarkt der Industrieländer entsteht. Für die Systemtheorie steht die internationale Migration im unmittelbaren Zusammenhang mit der Struktur des weltweiten kapitalistischen Wirtschaftssystems, dessen Entstehung, wie die Studie von Immanuel Wallerstein aufzeigt, auf das 16. Jahrhundert zurückgeht. Alle Länder und Regionen der Welt haben sich zu einem einzigen und weltumspannenden kapitalistischen Wirtschaftssystem entwickelt. Dabei sind drei wirtschaftliche Zonen zu unterscheiden, um die Begrifflichkeiten von Wallerstein zu gebrauchen: Das wirtschaftlich hoch entwickelte Zentrum (core area), die wirtschaftlich rückständige Peripherie (periphery) und die Zwischenzone (semiperiphery). In der Literatur wird oft vereinfachend vom „Zentrum-Peripherie-Modell“ gesprochen, weil die wirtschaftliche Bedeutung der „semiperiphery“ im Vergleich zu den beiden anderen Zonen relativ gering ist. Insgesamt wird unterstellt, dass die Knappheit an Investitionschancen in den Zentren, die die höheren Renditen mit sich bringt, dazu führt, dass die Menge des Überschusskapitals, die nach rentablen Investititonsmöglichkeiten sucht, wächst. Dieses Überschusskapital fließt in der Regel von den Zentren in die wirtschaftlich rückständigen Peripherieregionen, weil dort aufgrund der großen Überschussbevölkerung und relativ hohen Beschäftigungslosigkeit Arbeitskräfte generell billiger, landwirtschaftlich nutzbare Flächen in relativ großem Ausmaß vorhanden und fast alle wichtigen Rohstoffe verfügbar sind. Die Investitionen des Kapitals in den unterschiedlichen Wirtschaftsprojekten dieser Regionen lösen jedoch unweigerlich einen strukturellen Umbruch aus. Die tradierten bäuerlich-agrarischen Wirtschaftsstrukturen werden durch die Einführung der Plantagenwirtschaft, Mechanisierung der Landwirtschaft und Massenproduktion zerstört. Die auf die reziproken Hilfen angelegten solidari- Systemtheorie und Migration <?page no="220"?> 211 schen Sozialstrukturen erodieren durch die Einführung der Lohnarbeit und Geldwirtschaft auf dem expandierenden Markt. Dies bedeutet, dass die sozialen Beziehungen zunehmend ökonomisiert und auf Tauschbeziehungen reduziert werden, bei denen eine Leistung nur für eine entsprechende Gegenleistung erbracht wird. Die unmittelbare Folge ist die Freisetzung unzähliger Menschen von ihren traditionellen Lebensformen und Sozialbindungen. Diese strukturell bedingte Freisetzung von Menschen und Arbeitskräften bildet den Hintergrund der regionalen und internationalen Migration (vgl. Douglas S. Massey und andere, 1993, 444-448). Um die skizzierten systemtheoretischen Perspektiven der Migration von ihren Anfängen bis in die Gegenwart hinein in einem historischen Gesamtkontext aufzuzeigen, werden in diesem Kapitel drei Theorieansätze vorgestellt. Der Theorieansatz von Immanuel Wallerstein ist insofern von besonderer Bedeutung, weil er als Standardwerk gilt, das eine grundlegende Einführung in die wirtschaftliche Weltsystemtheorie gibt. Ausgehend von den wirtschaftlichen Bedingungen Europas im 14. und 15. Jahrhundert zeigt das Werk auf, wie die damalige Krise des gesamten Feudalismus die europäischen Länder gezwungen hat, in der geographischen Expansion der wirtschaftlichen Aktivitäten nach einer Lösung der Krise zu suchen. Die Entstehung der europäischen Weltwirtschaft, des europäischen Weltsystems und der drei Wirtschaftszonen innerhalb dieses Wirtschaftssystems im 16. Jahrhundert nimmt ihren Ausgang von dieser Krise des Feudalismus. Die unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungen zwischen den drei genannten Zonen haben entscheidend zur Entstehung des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems beigetragen, so die Analyse in dem Theorieansatz von Wallerstein. Diese Zonen haben nicht nur die wirtschaftliche Arbeitsteilung und Spezialisierung, sondern zugleich den wirtschaftlichen Wettbewerb ermöglicht. Das Thema der Migration wird insofern angesprochen, als die Zirkulation der Eliten und Landstreicher zwischen den wirtschaftlichen Zonen, die Niederlassung vieler Händler aus den norditalienischen Stadtstaaten in Spanien, die Ankunft der europäischen Kolonialisten in „Hispanic America“ und die Vertreibung der Juden im Zuge der Zentralisierung der staatlichen Macht und Homogenisierung des Beamtentums thematisiert wurden. Die Vielzahl historischer Fakten, die die Ar- Systemtheorie und Migration <?page no="221"?> 212 beit von Wallerstein analysiert, ist besonders aufschlussreich für das Verständnis der europäischen Wirtschaftsgeschichte, die die entscheidenden Bedingungen für die Entstehung des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems europäischer Prägung gebildet hat. Der Theorieansatz von Alejandro Portes und John Walton, der in diesem Kapitel nach der Theorie von Wallerstein vorgestellt wird, geht in Anlehnung an die Theorie von Wallerstein von einem einzigen kapitalistischen Wirtschaftssystem der Welt aus und versucht die Aufmerksamkeit auf die Strukturen und Prozesse zu lenken, die in den Zentren dieses umfassenden Systems existieren, weil sie sich unmittelbar auf die Strukturen und Prozesse der Peripherien auswirken. Dabei greift dieser Theorieansatz besonders den Prozess des ungleichen Austausches (unequal exchange) zwischen den Zentren und Peripherien als typische kapitalistische Form der Ausbeutung auf. Der „unequal exchange“ tritt ein, wenn für die Arbeit mit gleich hoher Produktivität in den Peripherien weniger bezahlt wird als in den Zentren. Der dadurch erzeugte Überschuss in den Peripherien wird in die Zentren abgeführt, zum Vorteil der dortigen Konsumenten und Arbeiter. Die theoretische Erklärung dieses ungleichen Austausches besteht darin, dass der Ausbau der Produktion in den Peripherien nicht zu steigendem Konsum und Realeinkommen der dortigen Arbeiter, sondern zu Zahlungsbilanzdefiziten der Staaten in den Peripherien führt, weil der Ausbau der Produktion fast ausschließlich durch das externe Kapital der Zentren erreicht wird. Die Zahlungsbilanzdefizite, die den staatlichen Haushalt belasten, schränken letzlich auch den Konsum und das Realeinkommen der einheimischen Arbeiter ein. Andererseits können die Arbeiter trotz steigender Produktion keine Forderungen nach höherem Lohn stellen, weil der Ausbau der Produktion nur durch die steigende externe Nachfrage aus den Zentren möglich wird. Diese wird jedoch nur in dem Ausmaß steigen, in dem in den Peripherien die Löhne sinken und dadurch die produzierten Güter billiger werden. Setzt man diese ökonomische Logik konsequent fort, so führt dies unweigerlich zur Proletarisierung der Arbeiter und zu sozialen Unruhen, die letztlich nur durch repressive Regierungen in den Peripherien unterdruckt werden können. Aus systemtheoretischer Sicht bedeutet der internationale Handel daher nichts anderes als die Übertragung des Überschusses in die Zentren, der in den Systemtheorie und Migration <?page no="222"?> 213 Peripherien produziert wird. Damit findet die Ausbeutung der Peripherieregionen durch die Zentren statt. Nach diesem Theorieansatz ist die internationale Migration eindeutig von dem bipolaren Denkmodell der Vergangenheit abzulösen. Sie wird nicht aus dem Blickwinkel der Sende- und Empfängerländer betrachtet, sondern als Vorgang der internen Dynamik des weltweiten kapitalistischen Wirtschaftssystems. Darüber hinaus ist die besondere Bedeutung der informellen Wirtschaft in den Peripherieregionen realistisch zu bewerten, weil diese für die Arbeiter die einzige Möglichkeit bietet, ihre Reproduktionskosten so niedrig wie möglich zu halten und so unter den Bedingungen der Ausbeutung zu überleben. Der Ansatz von Saskia Sassen, der abschließend in diesem Kapitel vorgestellt wird, stellt die aktuellste Theorie dar, die die neuesten Entwicklungen, die im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft ausgelöst werden, aus dem Blickwinkel der spezifischen Rolle der globalen Städte thematisiert. Er stellt zum einen fest, dass seit den 1960er Jahren ein Prozess der Deindustrialisierung in den Industrieländern eingetreten ist und fortdauert. Dies bedeutet, dass die mächtigsten Industriestandorte der führenden Industrieländer massiv abgebaut wurden, und dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Parallel dazu finden seit den 1980er Jahren weltweit zwei neue Prozesse der geographischen Streuung und globalen Integration wirtschaftlicher Aktivitäten statt. Die geographische Streuung bedeutet, dass die Produktionsstätten aus den Industrieländern in die Länder der Peripherien verlagert und dezentralisiert werden. Die globale Integration impliziert, dass die Besitzverhältnisse trotz der weltweiten Dezentralisierung der Produktion unverändert bleiben, weil die dezentralisierten Produktionseinheiten in transnationale Großfirmen integriert werden. Diese Prozesse sind bei näherer Betrachtung zwei Subprozesse, die im Rahmen der Zentralisierung der Besitzverhältnisse und globalen Kontrolle notwendig werden. Ein Beleg für die gleichbleibenden Besitzverhältnisse trotz zunehmender Dezentralisierung ist in der Transnationalisierung der Besitzverhältnisse zu sehen. Mit anderen Worten wachsen die transnationalen Firmen durch Auslandsdirektinvestitionen, Fusionen, Akquisitionen und „joint ventures“ in Größe und Komplexität kontinuierlich an. Dieses Wachstum ist nur deswegen möglich, Systemtheorie und Migration <?page no="223"?> 214 weil die Geschwindigkeit von Mobilität und Zirkulation des Kapitals insgesamt schneller bzw. akzeleriert wird. Dadurch haben die transnationalen Firmen leichteren Zugang zu den Märkten der Peripherien. Die Folge ist die Transnationalisierung der Besitzverhältnisse. Diese macht jedoch eine grundlegende Reorganisation und Innovation der Finanzindustrie und der globalen Kontrolle der weltweit dezentralisierten Produktionseinheiten, Organisationen und Arbeiterschaft notwendig. Diese neuen Entwicklungen in der globalen Wirtschaft haben den Weltmetropolen neue spezifische Funktionen und Aufgaben zugewiesen. Die globalen Städte sind zu Orten geworden, in denen die transnationalen Firmen ihren Hauptsitz unterhalten, der als Kommando- und Schaltzentrale für die weltweit dezentralisierten Produktionseinheiten und Organisationen unverzichtbar ist. Gleichzeitig wurden sie zu Produktionsstätten und Marktorten, in denen die sog. unternehmensorientierten Dienstleistungen (producer services) produziert und vermarktet werden. Die „producer services“ umfassen alle spezifischen Dienstleistungen, die notwendig werden, um die in Größe und Komplexität wachsenden und dezentralisierenden Produktionsstätten, Organisationen und Arbeiterschaft der transnationalen Firmen zu integrieren und funktionsfähig zu halten. Hierzu gehören z.B. Entwicklung, Innovation, Planung, Design, Werbung, Buchhaltung, Lagerung, Lieferung, Transport, Kommunikation, Versicherung, Management, Risikomanagement, Rechtsberatung, Produktionstechnologie und Wartung. Die Nachfrage nach solchen Dienstleistungen wächst parallel zur wachsenden Größe, Komplexität, Diversifikation, Dezentralisierung, Produktdifferenzierung, Marktdifferenziezierung und zu Fusionen der Firmen und Organisationen in allen Sektoren der Wirtschaft. Daher entstehen viele unabhängige Einzelfirmen, die sich nur auf die Produktion einer spezifischen Dienstleistung spezialisiert haben. Da diese Spezialisierung wiederum von den ergänzenden Dienstleistungen anderer Einzelfirmen abhängig ist, tritt in den globalen Städten eine dichte Konzentration solcher Unternehmen auf, die je für sich spezifische Dienstleistungen produzieren. Sie sind bei dieser Produktion voneinander abhängig und aufeinander angewiesen. Damit findet in den globalen Städten die sog. „agglomeration economy“ statt. Systemtheorie und Migration <?page no="224"?> 215 Die Weltmetropolen weisen eine überaus hohe Konzentration von jungen Spitzenfachkräften aller Fachrichtungen auf, die für transnationale Firmen und Einzelfirmen arbeiten und sich auf die Produktion dieser spezifischen Dienstleistungen spezialisiert haben. Aufgrund ihres relativ hohen Einkommens entwickeln sie einen konsumorientierten „life-style“ und lösen einen Prozess der Verfeinerung und Veredelung des Lebensstils (gentrification) aus, der alle Bereiche der Lebensführung umfasst. Die individualisierten Konsumwünsche dieser höheren Einkommensgruppen können oft nicht durch standardisierte Massengüter befriedigt werden. So werden z.B. alte Häuser, Fabrikhallen, Möbelstücke kostenaufwändig restauriert oder ganz spezifische häusliche Dienstleistungen in Anspruch genommen. Dadurch entstehen viele Gelegenheits- und Teilzeitarbeiten, die häufig von Immigranten in der informellen Wirtschaft übernommen werden. Hinzuweisen ist jedoch, dass die einheimische Bevölkerung, die keine Chance hat, an den Vorzügen der Globalisierung der Wirtschaft teilzuhaben, relativ groß ist, so dass die räumlich-residentiale und einkommensmäßige Polarisierung zwischen den Bevölkerungsgruppen der globalen Städte wächst. Die Sozialstruktur der Weltmetropolen erfährt dadurch eine grundlegende Umstrukturierung und Umgestaltung. Weltwirtschaft und Weltsystem von Wallerstein <?page no="225"?> 216 6. 1 Immanuel Wallerstein Entstehung der modernen europäischen Weltwirtschaft, der drei wirtschaftlichen Zonen und des modernen europäischen Weltsystems im 16. Jahrhundert (The Modern World-System Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, 1974. 386 S.) Im Europa des 14. und 15. Jahrhunderts existierte zwar die Synthese bzw. Einheit der christlichen Zivilisation, es bestand jedoch weder eine europäische Weltwirtschaft (European world-economy) noch ein europäisches Weltsystem (European world-system). Die meisten Gebiete Europas wiesen feudale Sozialstrukturen auf, die sich auf relativ kleine und selbstgenügsame (self-sufficient) wirtschaftliche Produktionseinheiten stützten und dafür sorgten, den im Rahmen der Gutsherrenwirtschaft (manorial economy) produzierten landwirtschaftlichen Überschuss (agricultural surplus) relativ direkt an den Grundbesitzer abzuführen (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 36). Dieses feudale Europa (Feudal Europe) ist aus der Desintegration der imperialen politischen Strukturen des territorial weit umspannenden Römischen Reiches (Roman Empire) hervorgegangen. Der bürokratische und finanzielle Aufwand, der zur Integration und Überwachung des politischen Herrschaftsgebietes erforderlich war, wurde parallel zu seiner territorialen Expansion immer größer und erreichte schließlich den Punkt, an dem die politische Integrationskraft des Reiches aufgrund seiner begrenzten bürokratischen und finanziellen Ressourcen restlos überfordert wurde. Sein politischer Untergang war damit unausweichlich (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 15-20). Wie Shmuel N. Eisenstadt definiert, wird der Begriff „Reich“ (empire) gebraucht, um ein hochzentralisiertes politisches System mit einem riesigen Herrschaftsgebiet zu bezeichnen, in dem das Zentrum (the center), verkörpert sowohl durch die Person des Kaisers als auch durch die zentralen politischen Institutionen, eine au- Systemtheorie und Migration <?page no="226"?> 217 tonome politische Entität bildete. In diesem Sinne war das Reich ein konstantes Merkmal der Welt seit 5000 Jahren. Seine Stärke (strength) bestand darin, die wirtschaftlichen Ströme (economic flows, z.B. Tribute und Steuern) durch Zwang von der Peripherie in das Zentrum fließen zu lassen und dadurch den monopolisierten Handel zu garantieren. Die Schwäche (weakness) des Reiches bestand dagegen darin, dass seine politische Struktur auf eine große Bürokratie angewiesen war, die zu hohe Einnahmen (profits) aufbrauchte. So führten die Revolten der Bauernbevölkerung, die durch die Unterdrückung und Ausbeutung durch die politische Macht des Zentrums ausgelöst wurden, zu steigenden militärischen Ausgaben. Politische Reiche sind damit ein primitives Mittel der wirtschaftlichen Herrschaft (economic domination). Eine soziale Errungenschaft der modernen Welt liegt darin, Technologien zu entwickeln, die ermöglichen, die Ströme des Überschusses (surplus) von der unteren zur höheren Schicht (strata), von der Peripherie zum Zentrum und von der Mehrheit zur Minderheit durch die Eliminierung von Verschwendung zu vergrößern. Dadurch werden de facto die hohen Kosten einer schwerfälligen politischen Superstruktur vermieden (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 15-16). Im späten 15. bzw. im frühen 16. Jahrhundert entstand die europäische Weltwirtschaft (European world-econonmy). Diese Art eines sozialen Systems hatte die Welt bis dahin nicht gekannt. Sie bildete keine politische Entität, wie das Reich, die Stadtstaaten und die Nationalstaaten, sondern eine wirtschaftliche Entität, die innerhalb ihrer Grenzen diese politischen Einheiten einschloss. Sie stellte ein Weltsystem (world system) dar, nicht weil sie die gesamte Welt umfasste, sondern weil sie größer war als alle juristisch definierten politischen Einheiten dieser Zeit. Sie bildete eine Weltwirtschaft (world economy), weil die grundlegenden Verbindungen (the basic linkages) zwischen den Teilen des Systems wirtschaftlich orientiert waren (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 15). Im 16. Jahrhundert war Europa nicht die einzige Region, in der sich eine Weltwirtschaft entwickelte. Es gab andere Regionen, in denen eine Weltwirtschaft existierte. Dennoch ist festzuhalten, dass die europäische Weltwirtschaft die einzige Wirtschaft war, die eine kapitalistische Entwicklung einleitete und dadurch andere Regionen ausschalten konnte. Um diesen Sachverhalt zu erläutern, geht Weltwirtschaft und Weltsystem von Wallerstein <?page no="227"?> 218 Immanuel Wallerstein darauf ein, wie die Welt vor der Entstehung der europäischen Weltwirtschaft ausgesehen hat. Die östliche Hemisphäre (Eastern Hemisphere) bestand im 12. Jahrhundert aus einer Mehrzahl politischer Reiche (empires) und kleiner Welten (small worlds), die in ihren Grenzen teilweise miteinander verbunden waren. Zu dieser Zeit bildete der Mittelmeerraum ein Handelszentrum, in dem Byzanz, die italienischen Stadtstaaten und einige Teile Nordafrikas zusammentrafen. Die Gebiete des Indischen Ozeans und des Roten Meeres bildeten ein ähnliches Zentrum, ein drittes die chinesische Region. Zentralasien und die großen Gebiete zwischen der Mongolei und Russland waren zu einem vierten Zentrum zusammengeschlossen. Die baltische Region befand sich in den Anfängen einer solchen Entwicklung. Nordwesteuropa stellte dagegen ein ökonomisches Randgebiet (marginal area) dar. Die grundlegende soziale Form bzw. Organisation dort war das, was später als Feudalismus bezeichnet wurde (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 17). Der Feudalismus stellte keine natürliche Wirtschaft (natural economy) dar, sondern eine Subsistenzwirtschaft (economy of selfsubsistence). Der westeuropäische Feudalismus ist aus der weitgehenden Desintegration des Römischen Reiches hervorgegangen, einer Desintegration, die weder in der Realität noch de jure total eingetreten war. Noch heute sorgt der Mythos des Römischen Reiches für einen symbolischen, kulturellen und legalen Zusammenhalt Europas. Das Christentum diente als Gefüge von Parametern für die sozialen Aktionen. Das feudale Europa war so gesehen als Zivilisation zu bezeichen, aber noch nicht als Weltsystem (worldsystem). Der westeuropäische Feudalismus umfasst eine Reihe kleiner wirtschaftlicher Einheiten (a series of tiny economic nodules), deren Bevölkerung und Produktivität langsam wuchsen und deren rechtlicher Mechanismus dafür sorgte, dass der Großteil des Überschusses den Grundherren abgeführt wurde. Da dieser Überschuss weitgehend aus Naturalien (surplus in kind) bestand, brachte er kaum Nutzen, wenn er nicht verkauft wurde. Die Entstehung der Städte ermöglichte schließlich bei Handwerkern (artisans) diesen Überschuss gegen deren Produkte und Dienstleistungen zu tauschen. Die Händlerklasse (a merchant class) bestand zum einen aus Gutsverwaltern (agents of the landlords), die entweder im Auftrag Systemtheorie und Migration <?page no="228"?> 219 der Grundherren arbeiteten oder selbständig die Bauern vermittelten, die ihren Überschuss verkaufen wollten. Zum anderen waren es die ortsansässigen Händler (resident agents) des Fernhandels (z.B. Händler aus den norditalienischen Stadtstaaten und später aus den Hansestädten), die die Preisdifferenzen zwischen den verschiedenen Regionen, die eine natürliche Folge der generellen Kommunikationsprobleme damaliger Zeit waren, für sich kapitalisierten. Damit wird deutlich, dass der Feudalismus und der Handel keineswegs Gegensätze waren. Vielmehr gingen der Feudalismus und die Expansion des Handels Hand in Hand. Dennoch konnte das Feudalsystem nur im begrenzten Umfang den Fernhandel (long-distance trade) unterstützen, im Gegensatz zum lokalen Handel. Das liegt auch darin begründet, dass der Fernhandel nicht ein Handel mit Massengütern, sondern ein Handel mit Luxusgütern (z.B. Gold, Silber, Seide, Gewürze) war, der von den Preisdisparitäten (price disparities) zwischen den wirtschaftlichen Regionen und Zonen profitierte. Dabei war der Fernhandel wesentlich von der politischen Duldung sowie der ökonomischen Kaufkraft der wohlhabenden Besitzschicht abhängig. Erst durch die Expansion der Produktion im Rahmen der modernen Weltwirtschaft konnte der Fernhandel teilweise in einen Massenhandel übergehen, der seinerseits wiederum den Prozess der Expansion der Produktion unterstützt hat. Insgesamt vollzogen sich die ökonomischen Aktivitäten dieser Zeit wesentlich im Handel mit Nahrungsmitteln und handwerklichen Produkten innerhalb kleiner wirtschaftlicher Regionen. Der Umfang der wirtschaftlichen Aktivitäten expandierte langsam. Allmählich entstanden verschiedene wirtschaftliche Zellkerne (various economic nuclei) und neue Städte. Parallel dazu wuchs auch die Bevölkerung. Im 14. Jahrhundert wurde jedoch diese Expansion abrupt unterbrochen. Die Bevölkerung ging zurück und viele kultivierte Regionen mussten aufgegeben werden. Im feudalen Europa entwickelte sich damit eine Krise, deren ausgeprägte Kennzeichen Krieg, Krankheit und wirtschaftliche Not waren (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 17-21, 37). Die feudale Form der Produktion in Europa, die in der Zeit von 1150 bis 1300 sogar eine Expansion erlebte, wurde von etwa 1300 bis 1450 durch wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Krisen erschüttert. Die Folgen dieser Krisen waren: Sinkende land- Weltwirtschaft und Weltsystem von Wallerstein <?page no="229"?> 220 wirtschaftliche Erträge aufgrund der abnehmenden Bodenproduktivität, die wesentlich auf fehlende Düngemittel zurückzuführen war, Knappheit an Nahrungsmitteln, steigende Preise und Löhne, die einerseits dem stabilen Geldangebot (a stable money suppy) und andererseits dem sukzessiven Ertrags- und Bevölkerungsrückgang folgten, unzählige und über eine lange Zeitspanne andauernde Kriege, steigende finanzielle Belastungen der darin verwickelten Staaten und schließlich Krankheiten und Seuchen unterschiedlicher Art. Die Hauptursache des Bevölkerungsrückgangs und der sich daraus ergebenden Probleme lag primär in der unzureichenden Ernährung der Menschen. Diese Entwicklung hat kontinuierlich zu sinkenden Einnahmen der Feudalherren (the decline of seigniorial revenues) und schließlich zum fiskalischen Kollaps vieler Staaten geführt. Die herrschende Klasse versuchte ihre finanziellen Probleme und ausbleibenden Einnahmen durch willkürliche Steuererhöhungen auszugleichen. Dies wiederum hatte unzählige und gewaltsame Proteste und Aufstände der Bauern zur Folge, die sich gegen die willkürliche und zunehmende Ausbeutung durch Staat und Grundherren auflehnten. Mit dieser Entwicklung setzte eine abwärtsgerichtete Spiralbewegung der Wirtschaft ein. Die fiskalischen Belastungen führten zur Reduktion des Konsums, was wiederum die Reduktion der Produktion und des im Umlauf befindlichen Geldmengenvolumens zur Folge hatte. Dies wiederum löste allgemeine Liquiditätsprobleme aus, die wiederum die Krise des Kreditwesens mit sich brachten und schließlich eine Welle von Insolvenzen auslösten. Weiterhin verkleinerten die rapiden Preissteigerungen die Gewinnmargen der Selbstständigen. Die Landbesitzer verloren ihre Pächter und die Handwerker ihre Kunden. Mit dieser wirtschaftlichen Krise verband sich unmittelbar eine soziale Krise. Die sozialen Konflikte nahmen an Härte zu. Besonders die Bauern revoltierten gegen das System der Ausbeutung. Die Bauernaufstände waren in Europa ein weit verbreitetes Phänomen der damaligen Zeit (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 22-27). Im politischen Bereich führten die wirtschaftliche Stagnation und der wirtschaftliche Zusammenbruch zur Schwächung des Staates. Die Machtposition der Gutsherren (the lords of the manor) und Landbesitzer wurde parallel zur Schwächung der Staatsmacht gestärkt, weil diese nun von der staatlichen Kontrolle und Besteue- Systemtheorie und Migration <?page no="230"?> 221 rung freier wurden. Dieses Machtvakuum ermöglichte ihnen ihrerseits die uneingeschänkte und unkontrollierte Ausbeutung der Bauern. In einer solchen politischen Situation gab es keine effektive Verbindung zwischen der Zentralautorität mit ihrer Rechtsordnung und der Masse. Die Krise des gesamten Feudalismus (the crisis of feudalism) im 14. und 15. Jahrhundert war die Folge (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 28-31). Das feudale Europa musste dringend nach Auswegen aus der Krise suchen. Erst unter diesem Druck zu grundlegenden strukturellen Veränderungen wurden entscheidende Vorbedingungen herbeigeführt, die einen umfassenden sozialen Wandel (the enormity of social change) und die Entstehung einer kapitalistischen Weltwirtschaft europäischer Prägung ermöglichten. Das feudale Europa brauchte dringendst eine neue Form der Aneignung des Überschusses (a new form of surplus appropriation), die die feudale Form der direkten Aneignung des landwirtschaftlichen Überschusses und der Pachtrente ablöste. Diese Form konnte nur die der kapitalistischen Aneignung sein, d.h. in der Aneignung des Überschusses bestehen, der durch effektive und expansive Produktivitätssteigerung erreicht wird. Dies setzte nach der Theorie von Wallerstein drei Bedingungen voraus: Die Errichtung der kapitalistischen Weltwirtschaft (capitalist world-economy) durch die geographische Expansion wirtschaftlicher Aktivitäten, die Entwicklung unterschiedlicher Methoden der Arbeitskontrolle (labor control), die in den unterschiedlichen wirtschaftlichen Zonen auf unterschiedliche Produkte differenziert anwendbar ist und die Schaffung effektiver staatlicher Verwaltungsapparate (strong state machine-ries), die die notwendigen Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft herstellen und sichern können (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 37-38). Aufgrund der Krise des Feudalismus brauchte Westeuropa dringend eine Reihe lebensnotwendiger Güter, um die dramatische Situation verbessern zu können. Zum einen brauchte Europa Edelmetalle (precious metals, Gold und Silber), insbesondere als Zahlungsmittel für den innereuropäischen Tauschverkehr und als Tauschmittel im Handel mit dem fernen Orient, um wirtschaftlich expandieren zu können. Seit dem Mittelalter führte das christliche Europa aus der arabischen Welt Gold (z.B. Sudan) ein, während Silber von Europa über Byzanz nach Indien, China und in die ara- Weltwirtschaft und Weltsystem von Wallerstein <?page no="231"?> 222 bische Welt ausgeführt wurde. Aufgrund der steigenden Nachfrage musste der Abbau von Silber in den Minenbergwerken Serbiens und Bosniens gesteigert werden. Zwischen 1460 und 1530 konnte die Silberproduktion aufgrund der verbesserten Fördertechnologie verfünffacht werden. Trotzdem reichte die Produktion nicht aus. Erst mit der Entdeckung Amerikas konnte Europa über eine riesige Menge von Gold und Silber verfügen (Goldvorkommen in Amerika war größer als das im Sudan, das Silbervorkommen größer als das in Zentraleuropa), so dass Gold- und Silberbarren in den Osten exportiert, während aus dem Osten Gewürze und Juwelen importiert wurden (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 39-41). Zum anderen brauchte Westeuropa im 14. und 15. Jahrhundert Nahrungsmittel (food), Holz (wood) als Brennstoff (fuel) und für den Schiffsbau (shipbuilding). Die Expansion Europas in den Mittelmeeraum und zu den atlantischen Inseln, nach West- und Nordafrika, nach Osteuropa und Russland sowie nach Zentralasien war primär mit der Zielsetzung verbunden, neue Lieferquellen von Nahrungsmitteln und Holz zu erschließen. So entdeckte Westeuropa zunächst in den Wäldern Nordeuropas und in der Steppe des Mittelmeerraums sein „internes Amerika“ (internal America). Gleichzeitig wurden technologische Innovationen zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität besonders dort eingeführt, wo die Bevölkerungsdichte und das Wachstum der Industrie überproportional hoch war (z.B. England, Flandern). Die Umstellung der Landwirtschaft auf den kommerziellen Getreideanbau (commercial crops), den Gartenbau (horticulture) und auf die Rinderzucht (cattle-breeding / cattle-raising) erwiesen sich wesentlich profitabler. Dabei stand die Produktion von Weizen (wheat) im Vordergrund der kommerziellen Landwirtschaft. Im 14. Jahrhundert wurde der Anbau neuer Weizensorten von der baltischen Region ausgehend auf den gesamten europäischen Kontinent ausgeweitet. Im 15. Jahrhundert ging dieser Anbau über die Mittelmeerregion nach England. Die gute Ernährung (good diet) beruht jedoch nicht allein auf dem Getreideanbau. Außerdem wurde Fisch und Fleisch als Proteinquelle benötigt. Eine der wichtigsten Ergänzungen zur europäischen Ernährung war der Zucker, der sowohl als Kalorienquelle als auch zum Ersatz von Fett gebraucht wurde. Er wurde auch zu Alkohol verarbeitet. Bereits im 12. Jahrhundert wurde im Mittelmeer- Systemtheorie und Migration <?page no="232"?> 223 raum, im Zusammenhang mit dem Zuckeranbau, die Sklaverei eingeführt, die dann später westwärts weiter wanderte (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 42-45). Während die Feudalherren Europas ihre rückläufigen Einnahmen dadurch auszugleichen versuchten, den Bauern und Handwerkern zwangsweise willkürliche Steuern aufzuerlegen, unternahm Portugal als einziges europäisches Land die Expansion in Überseegebiete (overseas expansion). Eine solche Expansion ist traditionell mit den Interessen der Monarchen und der Händler (merchants) verbunden. Während sich die Händler durch den erweiterten Handel größere Gewinne erhofften, versprachen sich die Herrscher größeren Ruhm und höhere Einnahmen (glory and revenue). Die Motivation der iberischen Expansion ging dagegen auf die Interessen der Adeligen, insbesondere auf die der jungen landlosen und von der sozialen Deklassierung bedrohten Nachkommen zurück. Die Tatsache, dass aus den europäischen Ländern allein Portugal in der Lage war, die ersten Schritte zur überseeischen Expansion (z.B. atlantische Expansion) zu wagen, war zum einen durch die günstige geopolitische Lage bedingt. Portugal grenzt unmittelbar an den Atlantik an und liegt unmittelbar vor Afrika. Zum zweiten verfügte Portugal bereits über umfassende Erfahrungen im Fernhandel mit Venezianern und Genuesen. Außerdem konnte Portugal die Genuesen als Kapitalgeber für die Expansion in Übersee gewinnen. Schließlich war der portugiesische Staat relativ stabil, da das Land im Europa der damaligen Zeit keine internen Konflikte zu bewältigen hatte. In keinem anderen europäischen Land gab es eine zentrale Institution, die für solche langfristig ausgelegten Projekte hätten in Aktion treten können. Portugal verfügte über verschiedene Gruppen, die große wirtschaftliche Interessen an der Expansion nach Übersee hatten: Der Staat, die Adeligen, das in- und ausländische Handelsbürgertum und selbst das Proletariat der Städte, das von der Expansion in Übersee neue Beschäftigungschancen erhoffte. Diese optimalen Bedingungen für die Überseeexpansion wurden schließlich durch die Bestrebungen der portugiesischen Bourgeoisie verstärkt, die bestrebt war, die engen Grenzen des Binnenmarktes zu überwinden. Diese Bestrebungen sind in folgendem Zusammenhang zu sehen. Portugal war nur am Rande in die Zone der entstehenden europäischen Weltwirtschaft integriert. Es Weltwirtschaft und Weltsystem von Wallerstein <?page no="233"?> 224 gehörte eher der islamisch-mediterranen Zone an, so dass die portugiesische Wirtschaft insgesamt viel weiter monetarisiert war als die Wirtschaft der anderen Länder Europas. Berücksichtigt man hierzu die langjährigen Erfahrungen im Fernhandel, dann ist festzustellen, dass Portugal bestens für den modernen Kapitalismus vorbereitet war. Die Begrenzung auf den Binnenmarkt wurde für die Bourgeoisie Portugals zu eng (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 46-52). Erst im 16. Jahrhundert konnte Europa eine europäische Weltwirtschaft auf der Basis kapitalistischer Produktionsweisen (the capitalist mode of production) aufbauen und durch den Ausbau des weltumspannenden Handels (world-embracing commerce) und Marktes die Entstehung eines kapitalistischen Systems (the emergence of a capitalist system) einleiten. Es gab jedoch nicht nur einen Kapitalismus, sondern mehrere Kapitalismen (existence of several capitlisms), die jeweils ihre eigenen wirtschaftlichen Zonen und Güterzirkulationen hatten. Dadurch nahm nicht nur der Grundstock an Edelmetallbarren (bullion) zu, auch die Geschwindigkeit ihrer Zirkulation zwischen den wirtschaftlichen Zonen erhöhte sich. Die tragende Ideologie dieser neuen Entwicklung war weder die des freien Unternehmertums noch die des Individualismus, sondern eine Ideologie des Staates (raison d`etat). Die Tatsache, dass die Entwicklung des Kapitalismus vom Staat getragen wurde, ist insofern bemerkenswert, da die wirtschaftlichen Entscheidungen an der Weltarena orientiert sind, während sich die politischen Entscheidungen an den rechtlichen Strukturen eines Staates orientieren und sich in einem relativ engen und begrenzten Radius bewegen. Trotz dieser doppelten Orientierung darf nicht übersehen werden, dass die ökonomischen und politischen Entscheidungen nicht voneinander getrennt zu betrachten sind. Sie bilden eine Einheit, in der beide Bereiche jeweils auf den anderen Bereich verwiesen und angewiesen sind (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 67, 77). Wenn hier vom 16. Jahrhundert gesprochen wird, ist diese Zeitangabe nicht im streng chronologischen Sinn zu verstehen, weil Beginn und Ende eines Jahrhunderts je nach nationaler Betrachtung unterschiedlich definiert werden kann. Bezogen auf die Entstehung der europäischen Weltwirtschaft (the European world-economy) ist die Zeitspanne von 1450 bis 1640 entscheidend, weil in diesem Systemtheorie und Migration <?page no="234"?> 225 Zeitrahmen eine kapitalistische Weltwirtschaft geschaffen (was created) wurde. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts umfasste die europäische Weltwirtschaft nicht nur Nordeuropa, den christlichen Mittelmeerraum, die iberische Halbinsel und die atlantische Inselgruppe, sondern auch Zentraleuropa und die baltische Region. Sie umfasste außerdem diejenigen Regionen Südamerikas, die unter der effektiven spanischen und portugiesischen Verwaltung standen (z.B. Mexiko, die Antillen, Peru, Chile, Brasilien). Geht man von der kolonialen Expansion europäischer Mächte aus, so ist festzustellen, dass Spanien allein in den 5 Jahren zwischen 1535 und 1540 mehr als die Hälfte der Bevölkerung in der westlichen Hemisphäre kontrollierte. Unterstellt man diese räumliche Dimension, so wird deutlich, dass die Landfläche, die unter der Kontrolle der europäischen Länder stand, sich in der Zeit von 1670 bis 1680 von 3 Mio. qkm auf 7 Mio. qkm. ausgedehnt hat (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 68). Typisch für das Europa des 16. Jahrhunderts waren die erste industrielle Revolution, das Bevölkerungswachstum (demographic growth), die steigende Nachfrage nach Nahrungsmitteln (z.B. Getreide und Fleisch) und Holz (Brennstoff und Rohstoff zum Schiffsbau), das Wachstum der Agrarprodukte (increased agricultural productivity), die Etablierung des regulären internationalen Handels zwischen Europa und dem Rest der Welt, der wachsende transatlantische Handel und der steigende Lebensstandard einiger Schichten der Bevölkerung. Die geographische Expansion Europas nach Amerika (Hispanic America) und die Integration Amerikas in die europäische Weltwirtschaft trugen im 16. Jahrhundert entscheidend dazu bei, dass Wirtschaft und internationaler Handel expandieren konnten. Gold und Silber, die in Amerika entdeckt und gefördert wurden, konnten zum einen als Zahlungsmittel in Form von Gold- und Silberbarren (bullion) im internationalen Handel verwendet werden. Zum anderen trugen sie auch zur großen Kapitalakkumulation bei, die die wirtschaftlichen Investitionen über die Spareinlagen (savings) hinaus möglich machten. Zusätzlich führte im 16. Jahrhundert die Integration Osteuropas in die europäische Weltwirtschaft dazu, die Versorgung der Bevölkerung Westeuropas mit Nahrungsmitteln durch die Agrarprodukte Osteuropas sicherzustellen. Osteuropa wurde damit zum „Brotkorb“ (bread-basket) für Westeuropa (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 99, 101-102, 128). Weltwirtschaft und Weltsystem von Wallerstein <?page no="235"?> 226 Diese geographische und wirtschaftliche Expansion Europas wurde besonders durch die ungleiche Entwicklung (unequal development) einzelner Regionen begünstigt, weil die Lohn- und Preisdifferenzen sowie die Differenzen der Produktionsweisen zwischen den Regionen dazu führten, dass eine innere Solidarisierung innerhalb einzelner Regionen mobilisiert wurde, während umgekehrt polarisierende Wettbewerbssituationen zwischen den Regionen entstehen konnten. Damit tritt innerhalb der europäischen Weltwirtschaft eine Differenzierung zwischen den Zentren (core areas) und Peripherieregionen (peripheral areas) ein. Dabei sorgten die regionaltypischen Gegebenheiten für die faktische Arbeitsorganisation und Produktionsweise einzelner Regionen. In Osteuropa und „Hispanic America“, wo einerseits große Landmassen vorhanden, aber Arbeitskräfte knapp waren, wurde die feudale Form der Arbeitsorganisation, die sog. zweite Leibeigenschaft (second serfdom) und das System der „encomienda“, eingeführt und beibehalten. Das Letztere hatte das Ziel, das Angebot an Arbeitskräften für Bergbau und Rinderzucht sowie die Produktion der Agrargüter für den wachsenden Bedarf zu gewährleisten. Die ideologische Rechtfertigung des Systems der „encomienda“ lag ursprünglich in der Christianisierung Amerikas im Auftrage des spanischen Königs. In der Realität hat es sich zu einem kolonialen Ausbeutungssystem der einheimischen Indianer entwickelt. Beide Formen der Arbeitsorganisation können als „coerced cash-crop labor“ bezeichnet werden, in der Bauern und Arbeiter per Gesetz vom Staat gezwungen wurden, für die Produktion landwirtschaftlicher Güter (z.B. Getreide und Rindfleisch) und für die Förderung von Gold und Silber in Minenbergwerken zu arbeiten. Die Produkte dieser Arbeit waren für den Verkauf auf dem Weltmarkt bestimmt. Damit ging die feudale Produktion in eine kapitalistische Produktion über, weil die Produktion von Gütern und Edelmetall nicht zum heimischen Eigenbedarf, sondern für den Verkauf auf dem Weltmarkt bestimmt war. Hier wird der Unterschied zwischen dem Feudalismus im Mittelalter und dem des 16. Jahrhunderts in Osteuropa und „Hispanic Amerika“ deutlich. Im ersteren Fall produzierten die Gutsherren (landowner/ seignior) primär für die lokale Wirtschaft und leiteten ihre Macht von der Schwäche der zentralen Autorität ab. Die Grenzen der Ausbeutung wurden limitiert durch die Grenzen des Luxus- Systemtheorie und Migration <?page no="236"?> 227 lebens der Gutsherren und ihrer Kriegskosten. Im zweiten Fall produzierten die Gutsherren für die kapitalistische Wirtschaft. Die wirtschaftlichen Grenzen der Ausbeutung wurden durch Angebot und Nachfrage des Marktes bestimmt. Die Macht der Gutsherren wurde umgekehrt durch die Stärke der zentralen Autorität erhalten. Die Bezeichnung der „coerced cash-crop labor“ sollte die Arbeitsorganisation des Feudalismus kapitalistischer Prägung zum Ausdruck bringen. Sie stellt eine nur für Osteuropa und „Hispanic Amerika“ typische Arbeitsform dar. Diese Regionen bildeten in der damaligen Weltwirtschaft zwei Peripherieregionen (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 86-87, 90-94). Die Bauern in dem entwickelteren und bevölkerungsreicheren West- und Südeuropa waren dagegen entweder Lohnarbeiter (wage labor) oder Pächter (tenants), die auf der Basis freiwilliger Verträge arbeiteten. Freie und selbständige Bauern (the yeoman farmers) waren überwiegend nur in Nordwesteuropa zu finden. Damit bildeten sich innerhalb der europäischen Weltwirtschaft drei wirtschaftliche Zonen heraus: Die „core“-Zone (Westeuropa und der christliche Mittelmeerraum), in der die Arbeitsorganisation auf der Basis von Lohnarbeit und selbständigem Unternehmertum geregelt war, die „periphery“-Zone (Osteuropa und „Hispanic Amerika“), die die Rolle der Lieferanten von Rohstoffen für die Industrialisierung Westeuropas übernahm und in der Sklaverei und feudale Arbeitsweisen praktiziert wurden, und die „semiperiphery“-Zone. Die „semiperiphery“ bildete sich aus Regionen, die einst den „core areas“ angehörten, die sich jedoch bei der Verfolgung ihrer imperialen politischen Ziele finanziell übernommen hatten und dadurch wirtschaftliche Rückschläge hinnehmen mussten (z.B. kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Spanien und Frankreich). So waren die Stadtstaaten Norditaliens unmittelbar von den negativen wirtschaftlichen Folgen des spanisch-französischen Krieges betroffen, weil sie intensive Handelsbeziehungen zu Spanien unterhielten. In den Regionen der „semiperiphery“ war die Arbeitsform „sharecroping“ dominierend. Bei dieser Arbeitsform fehlte der Zwang, der ein zentraler Bestandteil der Arbeitsform „coerced cash-crop labor“ war. Unter „sharecroping“ wurde die Arbeitsform verstanden, die zwischen der Lohnarbeit auf Vertragsbasis und der Arbeitsform „coerced cash-crop labor“ platziert werden konnte. Weltwirtschaft und Weltsystem von Wallerstein <?page no="237"?> 228 Erst durch diese Zonenbildung entstand ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, in dem der in der „periphery“ erzielte Überschuss (surplus) durch die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte in die „core areas“ überführt wurde (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 87, 95, 103, 107-108,). Das Edelmetall (Gold und Silber) und die Nahrungsmitteln, die im Rahmen des sozialen Systems der Ausbeutung in den Peripherien arbeitsintensiv produziert wurden, und der dadurch erzeugte Überschuss flossen in die „core areas“ Westeuropas, um die Bedürfnisse der dortigen Bevölkerung zu befriedigen. In Westeuropa mit seiner hohen Bevölkerungsdichte und seiner großen Nachfrage nach Nahrungsmitteln (food) entstanden nach und nach Städte, Industrien und Handelszentren, die zunehmend einen Prozess der Spezialisierung der Arbeiter auslösten. Die herkömmliche Landwirtschaft wurde zur intensiven Landwirtschaft, d.h. auf Weidewirtschaft umgestellt, um einerseits Arbeitskräfte einzusparen und andererseits trotz der wenigen Arbeitskräfte die Produktivität zu steigern (z.B. Produktion von Fleisch, Milchprodukten und Leder). Die Arbeitskräfte hatten spezifische Qualifikationen erworben (skilled labor) und konnten nicht mehr beliebig ausgetauscht werden. Dies bedeutete, dass die „core areas“ in Westeuropa die qualifizierten Arbeitskräfte besser bezahlen mussten, um deren Fluktuation zu verhindern. Dies war auch der Grund dafür, warum die freie Lohnarbeit (wage labor), die auf der Basis eines freien Arbeitsvertrages geleistet wurde, die vorherrschende Arbeitsform für die „core areas“ war. Damit fand in den „core areas“ Westeuropas eine Spezialisierung und Monetarisierung der Arbeit und gleichzeitig eine Transformation der landwirtschaftlichen Aktivitäten von der feudalen zur kapitalistischen Produktionsform statt (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 102-103, 116, 126-129). Darüber hinaus trat de facto eine neue internationale Arbeitsteilung (a world-wide division of labor) zwischen den drei Zonen innerhalb der europäischen Weltwirtschaft ein, die entscheidend zur Entstehung des kapitalistischen Systems europäischer Prägung beigetragen hat. Unmittelbare Folge dieser Arbeitsteilung war die Entstehung einer Berufshierarchie (a hierarchy of occupational tasks), in der die Arbeiten, die höhere Qualifikation und Kapitalisierung (z.B. Investitionen in die Humankapitalbildung) voraus- Systemtheorie und Migration <?page no="238"?> 229 setzten, den „core areas“ vorbehalten blieben. Da das kapitalistische Wirtschaftssystem die Arbeitskräfte mit höheren Qualifikationen eine leistungsgerechte höhere Entlohnung gewähren musste und da die höher qualifizierten Arbeitskräfte sich in den „core areas“ konzentrierten, waren die ökonomischen und sozialen Disparitäten und Ungleichheiten zwischen den wirtschaftlichen Zonen unvermeidbar. Diese Ungleichheiten waren kaum zu beseitigen, weil zum einen die qualifizierten Arbeitskräfte ihre Privilegien zu verteidigen suchten und zum anderen noch kaum eine staatliche Sozialpolitik vorhanden war, die politische Gegenmaßnahmen gegen diese Ungleichheiten ergreifen konnte. Die Konsolidierung der europäischen Weltwirtschaft im Rahmen des neu entstehenden kapitalistischen Weltsystems europäischer Prägung im 16. Jahrhundert führte damit zur Entstehung eines geographisch umfassenden sozialen Systems, das einen historisch noch nie da gewesenen Vorschub zur Bildung sozialer Klassen (z.B. kapitalistische Klasse und besitzlose Klasse) und zum Klassenbewusstsein leistete. Die geographische Zirkulation von Eliten (circulation of the elites) zwischen den „core areas“ und die zunehmende Landstreicherei (vagabondage) bzw. die Binnenmigration verarmter Männer, die aufgrund wachsender wirtschaftlicher Probleme und der Bevölkerungsvermehrung im 16. Jahrhundert vermehrt in Erscheinung traten, waren unmittelbare Folgen der skizzierten Entwicklung sozialer Ungleichheit (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 117, 349- 352). Die Konsolidierung der europäischen Weltwirtschaft machte es notwendig, dass insbesondere die Staaten der zentralen Zone (core) ihre Verwaltung und innere Kontrolle konzentrieren und zentralisieren mussten. Zu diesem Zweck wurden vier effektive Maßnahmen unternommen. Die erste Maßnahme bestand in der Bürokratisierung von Verwaltung und Armee. Diese Bürokratisierung setzte jedoch in ihrer Anfangsphase besonders hohe Finanzmittel voraus, die den Staaten jedoch nicht zur Verfügung standen. Das Finanzproblem wurde dadurch geschickt gelöst, dass die Staaten die offiziellen Ämter ihrer bürokratischen Verwaltung zum freien Verkauf (venality of office) angeboten haben, so dass diejenigen, die solche Ämter kaufen bzw. bezahlen konnten, diese auch tatsächlich bekleideten und ausübten (venal bureaucrats), um wirtschaftlichen Weltwirtschaft und Weltsystem von Wallerstein <?page no="239"?> 230 Gewinn daraus zu erzielen. So konnten sowohl das notwendige Verwaltungspersonal gewonnen als auch die fehlenden Finanzmittel zur Bürokratisierung beschafft werden. Parallel dazu wurde ein Teil der vagabundierenden Männer zum Dienst in der Armee (mercernary armies) „käuflich erworben“ und rekrutiert. Diese Männer wurden zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung eingesetzt. Die zweite Maßnahme lag in der Monopolisierung der Gewalt (monopolization of force) durch den Staat. Die dritte Maßnahme bestand in der ideologischen Legitimation der staatlichen Autorität. Der Absolutismus diente hier als die Ideologie der Legitimation, obwohl der Begriff „absolut“ missverständlich war. Absolut heißt in diesem Zusammenhang nicht unbegrenzt (unlimited), weil die auf der göttlichen Delegation beruhende Autorität des Monarchen (divine right of Kings) immerhin durch das göttliche Recht und Naturrecht (divine law and natrual law) begrenzt werden sollte. Der Begriff „absolut“ ist vielmehr im Sinne der Freiheit von der Kontrolle bzw. Unkontrolliertheit (unsupervised) zu verstehen, weil die Macht des Monarchen im Gegensatz zu der zersplitterten feudalen Macht der Vergangenheit (the past feudal scattering of power) absolut war. Trotz der Tendenz zur Vergöttlichung (deification) der absolutistischen Macht, die in der Spätphase des Absolutismus zu beobachten war, blieb er im Sinne der Stärke des Staates (a strengthened state or stateness) bzw. des staatlichen Machtanspruchs (statism) bestehen. „Statism is a claim for increased power in the hands of the state machinery.“ Er bildete die Grundlage des Staates. Die vierte Maßnahme umfaßte die kulturelle und ethnische Homogenisierung der Bevölkerung. Dabei bezog sich diese Homogenisierung weniger auf die Masse der Bevölkerung, sondern vielmehr auf den Kader, wie z.B. König, Hofleute, Verwaltungsbeamte, ländliche Gutsherren und Händler. In den zentralen Staaten des 16. Jahrhunderts trat auf diese Weise eine zunehmende Entwicklung zur Homogenierung der Kaderbevölkerung ein, während sich eine umgekehrte Entwicklung in den Peripherien abzeichnete (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 133-147). Vor dem Hintergrund dieser Homogenisierungstendenzen ist die Reaktion der zentralen Staaten gegenüber der jüdischen Minderheit zu sehen. Die Juden spielten seit dem Mittelalter eine dominierende Rolle im Bereich der Handelsaktivitäten. Die starke Zentralisie- Systemtheorie und Migration <?page no="240"?> 231 rung und Homogenisierung der europäischen Länder hat dazu geführt, dass die Juden aus England, Frankreich und Spanien vertrieben wurden, so dass sich ihre soziale und wirtschaftliche Situation merklich geschwächt hatte. Im 16. Jahrhundert waren in Westeuropa kaum noch Juden ansässig, während ihre Zahl in Ost- und Südeuropa, d.h. in den Peripherien und Semiperipherien der europäischen Weltwirtschaft, zunahm. Die Juden konnten z.B. in Norditalien großen Einfluss im Bereich des Handels gewinnen, vor allem durch die Schwächung der Finanzkraft der norditalienischen Stadtstaaten. Dies bedeutete, dass sie zu einer wichtigen Steuereinnahmequelle für den Staat wurden. Die einheimischen Händler betrachteten jedoch die Juden als Konkurrenten, so dass sie diese stets auszuschalten suchten. Eine oft praktizierte Lösungsform dieses Konflikts bestand europaweit in der Vertreibung der Juden aus dem jeweiligen Land (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 147-149). Insgesamt hat sich die Staatsbildung (state building) positiv auf die Entwicklung des Kapitalismus ausgewirkt. Der Staat schaffte als Garant der inneren sozialen Ordnung die Voraussetzungen für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung. Seine steigenden Ausgaben für die Armee stimulierte die Produktion von Gütern, die für die Versorgung des Militärs erforderlich waren (z.B. Nahrungsmittel, Uniformen, Ausrüstungen), was wiederum zur Vergrößerung des Überschusses beitrug. Auch die Unterhaltung der Armee setzte hohe Finanzmittel voraus, die oft durch Kredite finanziert werden mussten. So förderte der Staat auch das Kreditgeschäft. Auch in anderer Weise trat der Staat als Unternehmer und Konsument auf, was die wirtschaftliche Nachfrage insgesamt förderte. Die Befriedigung der Bedürfnisse des Staates durch die Wirtschaft kam daher der Expansion des Kapitalismus zugute (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 140-141). Betrachtet man die Ereignisse im 16. Jahrhundert, dann ist der wirtschaftliche Untergang Spaniens besonders auffällig. Spaniens wirtschaftlicher Aufstieg begann ca. 1450 und es entwickelte sich zu einem Zentrum des Handels, das Flandern, Süddeutschland und Norditalien umfasste. Im 16. Jahrhundert kam dann der transatlantische Handel hinzu und Spanien errichtete in Amerika eine Kolonie mit eigener Verwaltung. In Europa expandierte es seit der Krönung von Charles V. (1519) zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Weltwirtschaft und Weltsystem von Wallerstein <?page no="241"?> 232 (Holy Roman Emperor) kontinuierlich und umfasste schließlich das Habsburger Reich, Spanien, die Niederlande, Süddeutschland, Österreich, Böhmen, Ungarn, Mailand, Neapel, Sizilien, Sardinien und die Balearen. Die imperialen Bestrebungen von Charles V., die europäische Weltwirtschaft in sein Reich zu integrieren, führten zur starken Rivalität mit Frankreich. Die über 50 Jahre andauernden Kriege zwischen Spanien und Frankreich haben beide Länder in den finanziellen Bankrott geführt. Der letzte Krieg, der 1557 begann, endete mit dem Friedensvertrag (peace treaty) im Chateau- Cambre’sis 1559. Beide Länder standen vor dem wirtschaftlichen Ruin. Anstatt zur führenden politischen und wirtschaftlichen Macht in Europa zu werden, wurde Spanien zur ersten Semiperipherie Europas. Der Untergang Spaniens brachte gleichzeitig den Untergang seiner Verbündeten mit sich, nämlich Norditaliens (z.B. Genuesen und Venezianer), Süddeutschlands (z.B. Bankhaus Fugger) und Antwerpens. Spaniens Habsburger Reich wurde geteilt. Philip II., Sohn von Charles V. übernahm die Niederlande, die jedoch durch die Revolution in zwei Teile geteilt wurden, in die unabhängige nördliche Provinz der Kalvinisten (Calvinist, independent United Provinces: die heutigen Niederlande) und in die unabhängigen südlichen Niederlande (southern, Catholic Spanish Netherlands) bzw. in das katholische Spanien, das heutige Belgien (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 165-221). Nach dem Frieden im Chateau-Cambre’sis war das ökonomische Gleichgewicht Europas in Bewegung geraten. Nordwesteuropa, insbesondere England und Frankreich, wurden nun zur wirtschaftlichen Kernregion der europäischen Weltwirtschaft. Entscheidend für diese Entwicklung war die Konzentration der Industrien im Nordwesten ab etwa 1550, während in anderen Regionen die Industrie zurückging. England erlebte bereits in der Zeit von 1540 bis 1640 eine „frühe industrielle Revolution“ (an „early industrial revolution“). Dabei konnte England nicht nur viele Industrien (z.B. Papier-, Aluminium- und Kupferindustrie), sondern auch viele industrielle Techniken (z.B. Bergwerk- und Hüttenkunde) vom Kontinent einführen und eigene neue Techniken (z.B. die Substitution der Holzdurch die Steinkohleenergie) entwickeln. Die Einwanderung vieler Facharbeiter vom Kontinent, die in England nach besserer Honorierung ihrer Qualifikation suchten, kam der Industrialisie- Systemtheorie und Migration <?page no="242"?> 233 rung zugute. Die Textilindustrie, die für England einen Schwerpunkt der Industrialisierung bildete, entstand in den ländlichen Regionen und verschaffte ein Ersatzeinkommen für die Bauernbevölkerung, die durch die langanhaltende Rezession der Landwirtschaft massive Einkommensreduzierungen hinnehmen musste. Für die Unternehmer war die ländliche Region wirtschaftlich vorteilhafter, weil dort die Arbeitskräfte billiger waren. Weitere Vorzüge lagen einerseits im Wettbewerbsvorteil, der durch die neue technische Organisation eintrat, und andererseits in der vergleichsweise günstigeren Besteuerung zu Flandern und Norditalien. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatte England einen florierenden Exporthandel (a flourishing export trade) mit Antwerpen und mit der iberischer Halbinsel. Die innere politische Vereinigung Englands zu dieser Zeit wirkte positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung. England konnte sich frei von imperialen Ambitionen auf den Handel mit Rohstoffen aus Osteuropa konzentrieren, in kommerzieller Allianz mit der niederländischen Republik. Ab etwa 1590 begann auch die Überseekolonialisierung Englands in Irland, Nordamerika und Westindien, die viele Engländer zur Emigration veranlasst und dadurch zumindest teilweise den Druck der Überbevölkerung relativiert hat (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 225-231, 260-262). Gegen Ende des 16. Jahrhunderts begann die zweite Expansion Europas, an der England, Holland und in geringem Umfang auch Frankreich beteiligt waren. Von 1550 bis 1560 herrschte in Frankreich eine so massive Knappheit an Gold (gold shortage), so dass Frankreich mit der Expansion nach Afrika begann. Im Land selbst brach ein religiöser Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten aus. Zeitgleich musste sich Frankreich in der neuen europäischen Weltwirtschaft umorientieren. Dies führte dazu, dass seine Expansionspolitik durch ständige Spannungen belastet wurde, zumal Frankreich zwischen der See- und Landorientierung schwankte. England und die Niederlande nutzten die Vorteile ihrer geographischen Lage (Seeroute) maximal aus. Dies hat die Bildung kleiner Nationalstaaten unterstützt, die einen politisch ökonomischen Einfluss in der nicht imperialen Weltwirtschaft gewinnen sollten. Der französische Monarch entschied sich letztlich für die Seite der Aristokraten, die um ihr wirtschaftliches Überleben kämpften. Mit dieser Entscheidung wurde die Bourgeoisie in Frankreich Weltwirtschaft und Weltsystem von Wallerstein <?page no="243"?> 234 geschwächt, während der Monarch in England umgekehrt die kommerzielle Bourgeoisie stärkte, die an der wirtschaftlichen Expansion und an einem starken Nationalstaat interessiert war (vgl. Immanuel Wallerstein, 1974, 262-267, 284, 296-297). 6. 2 Alejandro Portes und John Walton Migration von Arbeitskräften und Klassenbildung im internationalen System (Labor, Class, and the International System, 1981, 219 S.) Alejandro Portes und John Walton gehen in ihren Ausführungen von der Feststellung aus, dass das Verhältnis zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern lange Zeit unter dem Aspekt der Modernisierung untersucht wurde. Typisch für diese Forschungsrichtung war ihre theoretische Sichtweise, die Unterentwicklung der Länder der Dritten Welt als defizitäres soziales Problem darzustellen. Diese Sichtweise hat dazu geführt, dass das Objekt der Forschung einseitig auf die Probleme der Entwicklungsländer eingeschränkt wurde. Dagegen wurden die Industrieländer als Modelle dargestellt, an denen sich die Entwicklungsländer zu orientieren und anzupassen haben. Portes und Walton weisen darauf hin, dass die neueren Theorien, die in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts vertreten wurden, diese Forschungstradition in Frage stellen. Diese definierten die Entwicklung (development) als Prozess, der in der Struktur des umfassenden Weltsystems (world-system) eingebettet ist und dessen Folgen sowohl die Industrieals auch die Entwicklungsländer treffen. Dieses Weltsystem mit seiner kapitalistischen Wirtschaft erzeugt weltweite Bedingungen für die wirtschaftliche Ungleichheit (economic inequality). Vor diesem Hintergrund legen neue Theorien ihren Forschungsschwerpunkt auf die Strukturen und Prozesse (structures and processes), so die Auffassung von Portes und Walton, die im Zentrum des internationalen Systems zu finden sind und sich negativ auf die Peripherien auswir- Systemtheorie und Migration <?page no="244"?> 235 ken. Die Frage nach der lokalen wirtschaftlichen Entwicklung bzw. Unterentwicklung ist damit nicht isoliert, sondern im Kontext der umfassenden Gesamtheit des Weltsystems zu thematisieren (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 3-4). Nach Portes und Walton geht die theoretische Sicht, die Welt als System (world-system perspective) zu betrachten, ursprünglich auf die Theorie des Imperialismus von J. A. Hobson und Wladimir I. U. Lenin zurück. Wie Hobson am Beispiel Englands und des „Britisch Empire“ aufgezeigt hat, besteht das zentrale Problem der entwickelten Wirtschaft (the advanced economies) darin, dass die Masse des Überflusskapitals (surplus capital) aufgrund begrenzter Investitionsmöglichkeiten, die Gewinnchancen mit sich bringen, wächst. Aus dieser Situation ist der Finanzkapitalismus (financial capitalism) entstanden, der weit über die Aktivitäten des bisherigen Industrie- und Handelskapitalismus (industrial and commercial capitalism) hinausgeht. Der Finanzkapitalismus formt die Rolle der unterentwickelten Länder grundlegend um. Diese werden von ihrer einstigen Rolle der billigen Lieferanten von Rohstoffen für die Industrieländer und Konsumenten der Industriegüter zur neuen Rolle als Empfänger des Überflusskapitals übergeleitet. Das Kapital sucht dort nach profitbringenden Investitionsmöglichkeiten (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 5). Die Imperialismusanalyse von Lenin stützte sich, wie Portes und Walton ausführen, auf die empirischen Daten von Hobson. Danach zeigte Lenin auf, dass der Imperialismus und die weltweite Expansion des Kapitalismus logische Konsequenzen der Gesetze der Kapitalbewegung (laws of motion of capital) sind, wie es Karl Marx als Erster erkannt hatte. Nach Auffassung von Karl Marx besteht der Kernaspekt des kapitalistischen Wettbewerbs (capitalist competition) darin, dass die Produktivitätssteigerung zu sinkenden Preisen der Güter führt. Seit etwa 1880 ging jedoch das Aufkommen des Finanzkapitalismus mit der abnehmenden Preisreduzierung (decline of price cutting) einher. Diese Tatsache ist nach Portes und Walton vor dem Hintergrund folgender Entwicklungen zu sehen. Die höhere Entlohnung der Arbeiter in den Industrieländern wird weitgehend durch höhere Renditen ermöglicht, die die Industrieländer für ihre Investitionen in den unterentwickelten Ländern erzielen. Die Aneignung des Überschusses durch die Industrieländer wird Kapitalismus und informelle Wirtschaft von Portes und Walton <?page no="245"?> 236 größer, indem sie die Arbeitskräfte in den unterentwickelten Ländern möglichst unterhalb des Existenzminimums halten und dadurch die Arbeitskosten billiger machen. Die Entstehung des Finanzimperialismus und der „Arbeiteraristokraten“ (aristocracy of labor) in den Industrieländern geht damit auf den ungleichen Austausch (unequal exchange) zwischen den Zentren (centers) und Peripherien (periphery) des Weltsystems zurück. Der „unequal exchange“ tritt dann ein, wenn die Arbeit mit gleicher Produktivität in den Peripherien weniger bezahlt wird als sie normalerweise in den Zentren hätte bezahlt werden müssen. Somit ist die Vergütung für die Arbeiter in den Peripherien im Vergleich zu der in den Zentren so niedrig, dass sie nur einen Teil ihrer Reproduktionskosten abdecken kann. Sie reicht für die Selbsterhaltung (subsistence) der Arbeiter nicht aus (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 6, 11). Die theoretische Erklärung des „unequal exchange“ ist in dem Aufsatz „Laws of Motion of Capital in the Center-Periphery Structure“ von Alain de Janvy und Carlos Garramon zu finden. Danach ist der „unequal exchange“ durch die grundlegenden strukturellen Unterschiede zwischen der Wirtschaft in den Zentren und Peripherien zu erklären. Die Wirtschaft in den Zentren (center economies) hat eine klare sektorale und soziale Gliederung. Diese klare sektorale Gliederung (sectoral articulation) bedeutet, dass zwischen den Produktionssektoren eine interdependente Wechselbeziehung besteht. So hat z.B. die Produktionszunahme der Konsumgüter auf der Angebotsseite (the supply side) die wachsende Nachfrage nach Kapital zur Folge. Eine klare soziale Gliederung (social articulation) bedeutet, dass zwischen Unternehmergewinn (profits) und Reallohn der Arbeitnehmer (real wages) eine konträre Wechselbeziehung besteht. So führt der steigende Reallohn der Arbeitnehmer zum sinkenden Unternehmergewinn, weil die Löhne der Arbeitnehmer Kosten für die Unternehmer sind. Auf der Ebene der gesamten Nachfrage (the demand side) der Volkswirtschaft führt jedoch der steigende Reallohn der Arbeitnehmer zu steigendem Konsum, der wiederum die Rendite des Kapitals größer werden lässt. Vor diesem Hintergrund hat die höhere Lohnforderung im Arbeitskampf eine objektiv begründbare Basis, um im Prozess der Kapitalakkumulation eine öffentliche Unterstützung zu erhalten, während die Systemtheorie und Migration <?page no="246"?> 237 Expansion der Konsumkapazität letztlich zur Proletarisierung der Arbeiterklasse führt (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 68-69). Die Wirtschaft in den Peripherien (peripheral economies) basiert dagegen auf dem Nichtvorhandensein der sektoralen und sozialen Gliederung. Die fehlende sektorale Gliederung (sectoral disarticulation) beinhaltet, dass zwischen den wirtschaftlichen Sektoren keine interdependente Wechselbeziehung besteht. Die Industrialisierung der Peripherie findet vielmehr unter der Abhängigkeit (conditions of external dependency) von Kapital und Technologie statt, die extern von den Zentren der Weltwirtschaft eingeführt werden, so dass die Expansion der industriellen Produktion die Belastung der Zahlungsbilanz unmittelbar zur Folge hat. Die fehlende soziale Gliederung (social disarticulation) bedeutet, dass es keine objektive Wechselbeziehung zwischen Unternehmergewinn und Reallohn der Arbeitnehmer gibt. Die exportorientierte Wirtschaft ist gänzlich von der externen Nachfrage der Zentren abhängig. Dies schließt ein, dass die Produktionszunahme an Gütern paradoxerweise die heimische Konsumkapazität einschränkt, weil die Produktionszunahme nur durch die unmittelbare Belastung der Zahlungsbilanz erfolgen kann. Die Produktion von Konsumgütern ist damit primär für den externen Markt der Zentren und weniger für den heimischen Markt der Peripherien vorgesehen. Die Lohnforderungen der Arbeitnehmer sind daher kaum durchzusetzen, weil nur die billige Arbeit (cheap labor) die Wettbewerbsfähigkeit der Exportgüter aus den Peripherien garantieren kann. Die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit ist somit nur möglich, wenn die Löhne im Vergleich zu denen der Zentren sukzessiv sinken. Dies würde dann die Proletarisierung der Arbeiter konsequent verstärken. Der Klassenkampf in den Peripherien hat aufgrund der dargestellten Abhängigkeit der Wirtschaft von den externen Nachfragen der Zentren keine objektive Unterstützungsbasis, so dass die Radikalisierung der Arbeiterbewegung und entsprechende repressive Reaktionen des Staates die Folgen sind. Der steigende Konsum in den Zentren wird de facto durch die Extraktion des Überschusses, der durch die niedrigen Lohnkosten in den Peripherien erzielt wird, subventioniert. Vor diesem Hintergrund stellt der internationale Handel einen Transfervorgang des Überschusses (transfer of surplus value) von den Peri- Kapitalismus und informelle Wirtschaft von Portes und Walton <?page no="247"?> 238 pherien zu den Zentren des kapitalistischen Wirtschaftssystems der Welt dar (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 69-70). Dabei ist der „unequal exchange“ und die dadurch eintretende Ausbeutung der Peripherien, die zur Kapitalakkumulation in den Zentren beiträgt, entscheidend davon abhängig, dass die benachteiligenden Bedingungen der Reproduktion der Arbeitskräfte (the conditions of reproduction of labor forces) in den Peripherien des Weltsystems perpetuiert werden. Nur dadurch können die vorhandenen Lohndifferenzen (wage differentials) bzw. Ungleichheiten der Löhne (inequality of wages) zwischen den Zentren und Peripherien aufrechterhalten werden. Um diese bleibenden Lohndifferenzen zu erklären, wurden bisher unterschiedliche theoretische Erklärungsansätze (z.B. Theorieansätze zur Subsistenzwirtschaft, zur marginalisierten Masse, zur städtischen Reservearmee und zur Hyperurbanisierung in den Peripherien) vertreten, die jedoch durch die empirischen Fakten kaum Unterstützung erfahren konnten. Eine sinnvolle theoretische Erklärung der Reproduktion der Arbeitskräfte in den Peripherien, die erst die vorhandenen Lohndifferenzen zwischen den Zentren und Peripherien weiterträgt und reproduziert, ist daher nur durch eine theoretische Neubewertung des informellen Sektors (informal sector) der Wirtschaft in den Peripherieregionen möglich (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 67, 71, 80-85). Der informelle Sektor umfasst alle einkommenerzeugenden Aktivitäten außerhalb der formalen Wirtschaft. Für die Unternehmungen in der informellen Wirtschaft ist es typisch, dass sie Familienmitglieder unbezahlt beschäftigen. Die Arbeitskräfte, die außerhalb der Familie angeworben werden, können oft nur dann beschäftigt werden, wenn ihre Bezahlung deutlich unterhalb des Mindestlohns liegt, der für die formale Wirtschaft festgeschrieben ist. Die Höhe des Mindestlohns wird zu einem gegebenen Zeitpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung durch die biologischen und normativen Vorgaben der Gesellschaft festgelegt. Da die Güter und Dienstleistungen, die der informelle Sektor produziert, in der Regel mit niedrigeren Lohnkosten hergestellt werden als in der formalen Wirtschaft, können sie auch billiger angeboten werden. Das billige Angebot von Gütern und Dienstleistungen bedeutet für die konsumierenden Arbeitnehmer niedrigere Kosten für die Reproduktion der Systemtheorie und Migration , <?page no="248"?> 239 eigenen Arbeitskraft. Dies schließt wiederum ein, dass der Überschuss (surplus), den die formale Wirtschaft vom informellen Sektor extrahiert, größer wird (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 85-88). Vor diesem Hintergrund sind nach der Theorie von Portes und Walton drei Strategien zu nennen, die die urbanen Haushalte der Arbeiterklasse (the urban working-class households) in den Peripherieregionen zu ihrer Einkommenserzeugung einsetzen. Die erste Strategie liegt in dem Aufbau eines sozialen Netzwerkes zur Selbsterhaltung (subsistence networks) und Selbstversorgung. Die Arbeiterhaushalte erzeugen selbst unterschiedliche Nahrungsmittel (z.B. Milch, Eier,Geflügel, Schweinefleisch, Gemüse) sowohl für den eigenen Bedarf als auch für den Verkauf, so dass die Nahrungsmittelproduktion (production of food) eine zusätzliche Einkommensquelle darstellt. Daneben werden die erwerbslosen Haushaltsmitglieder bevorzugt mit der Aufgabe betraut, Kontakte zu stadtnahen Dörfern zu knüpfen, um kostengünstige Versorgungs- und Nachschubmöglichkeiten von alltäglichen Bedarfsgütern zu erschließen und aufzubauen. Die Arbeiterhaushalte versuchen oft auch ein Stück Land zu erwerben, um dort in Eigenleistung, mit Hilfe von Verwandten, Nachbarn und Freunden, ihre Häuser selbst zu bauen. Damit können sie de facto ihre Arbeitskraft kapitalisieren, obwohl sie kaum über Kapital zum Bau eines Hauses verfügen. Innerhalb des intensiven sozialen Netzwerks, das in der Arbeitersiedlung existiert, organisieren sie gegenseitig kleinere Darlehn für unerwartete Bedarfsfälle, tauschen Informationen über Jobs aus, versorgen Kinder, Alte und Kranke. Solche sozialen Netzwerke stellen ein effektives soziales Sicherheitssystem (effectiv social security system) dar. Alle diese Aktivitäten der Selbsterhaltung und Selbstversorgung reduzieren im Endeffekt die Reproduktionskosten und sichern das Überleben der Menschen in der Siedlung. Von dieser Strategie des Überlebens profitieren letztlich die kapitalistischen Unternehmer, weil sie die so kostengünstig reproduzierten Arbeitskräfte mit geringem Lohn (low wages) als Gelegenheits- oder Teilzeitarbeiter für die formale Wirtschaft rekrutieren (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 88-91). Eine zweite Strategie der Einkommenserzeugung besteht zum einen in der Produktion verschiedener Güter (z.B. Gemüse, Eier, Ge- Kapitalismus und informelle Wirtschaft von Portes und Walton <?page no="249"?> 240 flügel, Möbel, Kleidung, Schuhe, Lederwaren) und Dienstleistungen (z.B. Reparaturen und Änderungen aller Art, Waschen, Bügeln, Haarschneiden) innerhalb der Nachbarschaft der Arbeitersiedlung. Sie werden in kleinen Mengen und nach Bedarf produziert und durch die informellen Netzwerke angeboten (petty commodity production). Zum anderen findet der Handel mit diesen Gütern und Dienstleistungen entweder in kleinen Läden (small stores) oder auf der Straße (street traiding) statt. Eine Besonderheit für diese Form des Handels besteht in der Geflogenheit, dass die Händler ihren Kunden bei Bedarf einen zinslosen Kredit (interest-free credit) gewähren. Aufgrund solcher Kredite erhalten die Kunden Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, die sie sonst nicht hätten konsumieren können. Der Kredit verpflichtet auf der anderen Seite die Kunden zur Loyalität gegenüber den Händlern. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die Kunden aufgrund ihres geringen und unregelmäßigen Einkommens gezwungen werden, die alltäglichen Bedarfsgüter in nur kleinen Mengen, aber umso häufiger einzukaufen. Vor diesem Hintergrund findet im wahrsten Sinne des Wortes ein Kleinhandel (petty commerce / local petty trade) in der Siedlung statt. Dabei ist die Ortsnähe (physical proximity) der Angebote für die Kunden entscheidender als der Preis, weil die Kunden in der Regel in den verkehrsmäßig abgelegenen Randregionen der Städte wohnen. Dennoch sind die Güter und Dienstleistungen, die im informellen Sektor produziert und angeboten werden, insgesamt billiger als die des formalen Marktes, so dass die Arbeiter trotz ihres geringen Einkommens in der Lage sind, über die Abdeckung ihrer Grundbedürfnisse (basic needs) hinaus kleine Ersparnisse zu schaffen, die wiederum in den „petty commerce“ anderer Haushaltsangehörigen investiert werden können (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 88-94). Eine dritte Strategie besteht in der illegalen Besetzung von brachliegenden Landparzellen (illegal land occupation) in der Stadtrandregion. Solche Landinvasionen (land invasions) stellen einen normalen und integralen Teil der städtischen Wirtschaft in den Peripherieregionen dar, weil die minimalen Löhne einen legalen Erwerb von Siedlungsland nicht erlauben. Der Zugang zu einem Stück Land ist erst die Basis dafür, dass eine Vielzahl von Aktivitäten zur Selbstversorgung und Selbsterhaltung (z.B. Produktion von Systemtheorie und Migration <?page no="250"?> 241 Nahrungsmitteln, Bau von Hütten) entwickelt, eine Siedlungsgemeinde und soziale Netzwerke aufgebaut werden können. Die Entstehung solcher Siedlungsgemeinden ist wiederum der Rahmen für die informelle Wirtschaft, die erst die Reproduktion der Arbeiterklasse trotz ihres geringen Einkommens möglich macht (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 94-97). Die dargestellten Strategien zeigen auf, wie die Arbeiterklasse in den städtischen Peripherieregionen die Kosten der Reproduktion und Selbsterhaltung niedrig hält. Indem diese Arbeiterklasse mit niedrigen Löhnen in der formalen Wirtschaft beschäftigt wird, wird umgekehrt die Extraktion des Überschusses für die kapitalistischen Unternehmen größer. Dies genügt den kapitalistischen Unternehmern jedoch nicht, so dass sie die Lohnkosten weiter zu senken versuchen. So wird u.a. die Interessenvertretung der organisierten Arbeiterschaft politisch verhindert und in den informellen Sektor der Wirtschaft abgedrängt. Dadurch sollen die für die formale Wirtschaft geltenden sozialen Abgaben eingespart werden. Zu diesem Zweck gehen die kapitalistischen Firmen immer mehr dazu über, Arbeitskräfte aus dem informellen Sektor zu beschäftigen, indem sie ihre Aufträge an Subunternehmer aus dem informellen Sektor vergeben (a system of multiple subcontracting). Die Subunternehmer teilen ihrerseits diese Arbeitsaufträge in Teilaufträge und vergeben sie an Frauen, die diese in Heimarbeit (home work) ohne arbeitsrechtlichen Schutz ausführen. Sie arbeiten isoliert und unter Zeitdruck, der von der Industrie gesetzt wird (z.B. saisonbedingte Aufträge in der Textilbranche) und erhalten nur geringe Entlohnung nach der angefertigten Stückzahl (the piece-rate system). Alle Risiken haben sie selbst zu tragen. Ähnliche Praktiken sind besonders häufig auch im Baugewerbe zu finden, wo große Bauprojekte an eine Kette von Subunternehmen (the system of chain subcontracting) vergeben werden. Der Straßenverkauf von Zeitungen durch Kinder ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Zeitungsindustrie ihre Vertriebskosten gering hält (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 98-103). Die informelle Wirtschaft, die heute in den Peripherieregionen des Weltsystems existiert, ist eine Folge, die durch die weltweite Struktur der Kapitalakkumulation ständig reproduziert wird. Sie ist integraler Teil der Wirtschaft in den Peripherien. Dabei wird deut- Kapitalismus und informelle Wirtschaft von Portes und Walton <?page no="251"?> 242 lich, dass es eine Hierarchie bei der Aneignung des Überschusses gibt, in der der informelle Sektor durch niedrige Reproduktionskosten den „herrschaftlichen Lebensstil“ (seignorial life style) der kleinen besitzenden Klasse (petty bourgeoisie) der Peripherien subventioniert, während der Wohlstand in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems durch den Überschuss, der in den Peripherien erzeugt wird, subventioniert wird (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 104-106). Die Theorie von Immanuel Wallerstein, dass der atlantische Handel entscheidend für die Entstehung des Kapitalismus im Europa des 16. Jahrhunderts gewesen sei, ist nach Portes und Walton nicht absolut zutreffend. Die Entstehung des Kapitalismus geht nach ihrer Auffassung einerseits auf eine Serie von Ereignissen, die mit der industriellen Revolution verbunden war, und andererseits auf den hegemonialen Anspruch der Bourgeoisie zurück. Die kapitalistische Weltwirtschaft hat zwar ihren Ausgang vom merkantilistischen Handel und der Kolonialisierung der Europäer genommen, hat jedoch ihre volle Entfaltung erst mit dem Übergang zum Finanzimperialismus erreicht. Aus Sicht des Letzteren sind Investitionen im Ausland dann zu tätigen, wenn dadurch die Extraktion des Überschusses auf dem Wege des internationalen Handels, „unequal exchange“ und der fiskalischen Verschuldung der Peripherieländer gesichert erscheint (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 12-13). Die Weiterentwicklung der Theorie des Weltsystems zeigt jedoch, dass sie bisher wenig auf die vermittelnden Subprozesse (intermediary subprocesses) geachtet und dadurch oft zu Missverständnissen geführt hat. Ein Beispiel ist darin zu sehen, dass die Theorie des „unequal exchange“ bisher eine vollkommene Mobilität des Kapitals, aber eine relative Immobilität der Arbeiter in den Peripherien unterstellt hat. Diese Unterstellung entspricht jedoch der heutigen Realität der Peripherien nicht. Die massive Emigration der Arbeitskräfte aus den Peripherien in die Zentren des Weltsystems führt heute zunehmend dazu, dass die Produktionskosten in den Zentren gesenkt, aber gleichzeitig die überschüssigen Arbeitskräfte (surplus labor) in den Peripherien abgebaut werden. Diese Systemtheorie und Migration <?page no="252"?> 243 Tatsache hat bisher in der Theorie des Weltsystems kaum systematische Berücksichtigung gefunden (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 14-15). Die Theorie des Weltsystems hat nicht nur die ökonomischen Aspekte (z.B. Kapital, Aneignung der Überschüsse, ungleicher Austausch, Finanzimperialismus) zu thematisieren, wie sie es bisher getan hat. Sie hat verstärkt auf die Prozesse zu achten, in denen die Arbeiter einerseits in verschiedenen Bereichen des Weltsystems eingesetzt und kontrolliert werden und muss andererseits gegenüber der sich verändernden Organisation der Überschussaneignung durch die Zentren des Weltsystems reagieren. Damit hat die Theorie des Weltsystems mehr auf die Widersprüche zu achten, die zwischen den Klassenstrukturen in den Zentren und Peripherien auftreten und die Formen der Klassenkonflikte (the class struggle) beeinflussen. Nur dadurch können die unsichtbaren Strukturen (hidden structures) aufgezeigt werden, die den ungleichen Austausch erhalten und die globale Akkumulation des Kapitals möglich machen (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 18-19). Migration von Menschen ist, wie die historischen Beispiele zeigen, immer mit strukturellen Veränderungen (structural changes) der Gesellschaft verbunden, die die soziale Ordnung verändern und dadurch unzählige Menschen von ihren traditionellen und sozialen Bindungen freisetzen. Dabei sind die Kräfte, die diese Freisetzung bewirken, überwiegend ökonomischer Natur. Die Migrationsbewegungen sind damit weitgehend Bewegungen der freigesetzten Arbeitskräfte (displacement of labor). Dabei zeigen die internationalen Migrationsbewegungen der Gegenwart einen grundlegenden Wandel auf. Im Gegensatz zur kolonisierenden Migration (colonizing migration) des 19. Jahrhunderts, in der sowohl das Kapital als auch die Menschen aus den entwickelteren Zentren in die weniger entwickelten und erschlossenen Peripherieregionen geflossen bzw. emigriert sind, in denen Bodenschätze und billige Arbeitskräfte vorhanden waren, migrieren heute umgekehrt Menschen mit unterschiedlichen Qualifikationen von den Peripherien in die Zentren, um die Bedürfnisse der Menschen dort zu befriedigen. Dabei wird das bipolare und statische Modell der Migration, in dem die Sende- und Empfängerländer als zwei entgegengesetzte und getrennte Pole behandelt wurden, durch das Modell des Weltsys- Kapitalismus und informelle Wirtschaft von Portes und Walton <?page no="253"?> 244 tems abgelöst. In diesem Modell werden die Bewegungen der Emigration und Immigration als interne Dynamik angesehen, die innerhalb eines kapitalistischen Weltsystems eintritt. Somit werden die Peripherieregionen durch die Finanz- und Handelsbeziehungen, die von den Zentren (centers) des kapitalistischen Weltsystems beherrscht werden, zunehmend in die Zentren des umfassenden Weltsystems integriert (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 22-24, 28-29). Diese Integration und Einbindung der Peripherien in das Weltsystem führt jedoch dazu, dass die überschüssigen Arbeitskräfte der Peripherien stärker als je zuvor den dominierenden politischen Einflüssen der Zentren ausgesetzt werden und kaum Möglichkeiten haben, sich dagegen zu wehren. Dabei verfolgt die Politik der Zentren konsequent die Zielsetzung, die für die Produktion des Überschusses notwendigen Arbeitskräfte in den Peripherien (supply of cheap labor) möglichst billig zu gewinnen, oft auch mit Hilfe politischer Manipulationen. Politisch herbeigeführte Destabilisierung sozialer Ordnungen, Einführung neuer Steuerformen, Monetarisierung der Stammeswirtschaft und Enteignung des Landes waren typische Maßnahmen dieser Politik, die z.B. die weißen Kolonialherren in Südafrika ergriffen haben, um aus den eigenständigen Bauernarbeitskräften abhängige Lohnarbeiter in den Diamantenbergwerken zu machen. Die Errichtung neuer Ausbildungsstätten für Mediziner nach westlich-wissenschaftlicher Schulmedizin ohne entsprechende Errichtung sozialer Infrastrukturen war ein anderes Beispiel in Südamerika. Die massive Emigration der so ausgebildeten Ärzte aus den südamerikanischen Ländern (z.B. Chile, Brasilien, Panama, Argentinien) in die USA war de facto ein politisch induzierter Vorgang des „brain drain“, der dazu diente, den Ärztebedarf in den USA kostenneutral abzudecken. Die einheimischen Ärzte in den USA konnten so für die lukrativen Privatpraxen freigesetzt werden, während die minderbezahlten Stellen in Krankenhäusern durch die eingewanderten Ärzte besetzt werden konnten (staffing low-paid hospital positions). Wie diese Beispiele zeigen, ist die Emigration der Arbeitskräfte aus den Peripherien in die Zentren eine Bewegung, die durch die interessenorientierte Politik der Zentren induziert wird. Dabei hängt die jeweilige Form der Rekrutierung (z.B. zwangsweise oder freiwillige) der Arbeitskräfte Systemtheorie und Migration <?page no="254"?> 245 aus den Peripherien von den unterschiedlichen strukturellen Bedingungen einzelner Regionen ab. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass sich die nationale und internationale Ungleichheit und Ausbeutung (exploitation) der benachteiligten Klassen zunehmend in dem Phänomen der wachsenden Arbeitsmigration verdichten. In diesem Phänomen wird deutlich, wie die Ausgebeuteten (the exploited) auf ökonomische Zwänge reagieren, und wie sie paradoxerweise durch ihre Arbeitsmigration zur strukturellen Verfestigung und Expansion der ökonomischen Vorherrschaft der Zentren beitragen (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 32, 34-36, 41, 65). Die Legitimation des „unequal exchange“ zwischen den Zentren und Peripherien des Weltsystems und der dadurch stattfindenden Ausbeutung der Peripherien durch die Zentren erfolgt durch die wechselnden Ideologien religiöser, wissenschaftlicher und politischer Provenienz, die die herrschenden Klassen der Zentren zur Stützung ihrer interessenorientierten Politik einsetzen. Geht man vom historischen Beispiel Lateinamerikas aus, so ist festzustellen, dass die Veränderung machtpolitischer Konstellationen der europäischen Kolonialländer mit der Veränderung der grundlegenden Legitimationsideologien von Ausbeutung und Ungleichheit (inequality) verbunden waren. Die Spanier und Portugiesen, die mit ihrer merkantilistischen Politik fast 300 Jahre die Agrarprodukte (z.B. Zucker) und Bodenschätze (z.B. Gold und Silber) Lateinamerikas ausgebeutet haben, legitimierten ihre Kolonialisierung und Ausbeutung durch die patrimoniale Ideologie (the patrimonial ideology), die von der katholischen Theologie abgeleitet wurde. Die Verleihung des Titels „ Kaiser von Indien“ (Emperor of the Indies) an den spanischen König durch Papst Alexander VI. bildete die Grundlage für diese patrimoniale Ideologie und Praxis. Demnach hatte der spanische König den religiös motivierten Auftrag, die ungläubigen Ureinwohner Lateinamerikas zu christianisieren. Die Eroberungszüge spanischer Kolonisten wurden daher von Missionaren (Jesuiten, Dominikaner und Franziskaner) begleitet. Trotz ihrer unterschiedlichen ordenstypischen Zielsetzungen waren sie sich in der gemeinsamen Weltdeutung einig, die durch die katholische Theologie der damaligen Zeit begründet wurde. Danach war die Welt nach göttlichen Naturordnung (a divinely ordained natural or- Kapitalismus und informelle Wirtschaft von Portes und Walton <?page no="255"?> 246 der) hierarchisch strukturiert (the principle of natural hierachy). Die weltliche Macht des Königs stellt eine Delegation göttlicher Autorität in einer hierarchisch strukturierten Welt dar. Die Herrschaft der Vollkommeneren (the perfect) über die Unvollkommeneren (the imperfect) stellt ein Gebot des Naturrechts (natural law) dar. Demnach sind die weißen Europäer Menschen höherer Qualität als die Indianer, die die minderwertige braune Hautfarbe haben (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 107-111). Von 1550 bis 1551 fand in Valladolid / Spanien ein Streitgespräch (the Debates of Valladolid) zwischen zwei rivalisierenden theologischen Schulen statt, um den König bei der Kursbestimmung seiner „Indien-Politik“ (Indian policy) zu beraten. Fray Juan Gines de Sepulveda favorisierte einen gerechten Krieg (just war) gegen die Ungläubigen und begründete seine Position mit der Lehre von Augustinus, die denjenigen jegliche persönliche Rechte (all personal rights) abspricht, die außerhalb des christlichen Glaubens sind. Dagegen lieferte Bartolome de Las Casas Argumente für die juristische Rechtfertigung der kolonialen Eroberung, verteidigte jedoch die fundamentalen Rechte der Indianer und begründetet seine Position mit der Lehre von Thomas von Aquin. Der König machte sich die theologischen Begründungen von Bartolome de Las Casas zu eigen und ordnete per Dekret die humane Behandlung der Einheimischen an und unterstellte die einheimischen Arbeitskräfte der Aufsicht der spanischen Kolonisten, die zuerst die Bezeichnung „repartimiento“, dann später „encomienda“ erhielten. Die Dekrete des spanischen Königs konnten jedoch die menschenunwürdige Versklavung und erbarmungslose Ausbeutung der einheimischen Arbeitskräfte vor Ort nicht verhindern, so dass selbst Bartolome de Las Casas die „encomienda“ als Institution der brutalsten Tyrannei bezeichnete. Das verheerende Ausmaß der erbarmungslosen Ausbeutung wurde in dem demographischen Kollaps sichtbar. 50 Jahre nach der Eroberung wurde fast die gesamte Bevölkerung der karibischen Inseln vernichtet. 100 Jahre nach der Eroberung wurde die Bevölkerung des „New Spain“ (Mexiko) um fast 90 % reduziert (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 112-115). Die imperialen Träume Spaniens konnten jedoch nicht verwirklicht werden. Die Gefangennahme des spanischen Königs Ferdi- Systemtheorie und Migration <?page no="256"?> 247 nand VII. durch die Truppen von Napoleon im Jahre 1808 hat das Ende der spanischen Vorherrschaft in Lateinamerika eingeleitet. Dagegen wurde der hegemoniale Einfluss von England und Frankreich in Lateinamerika zunehmend größer. Die herrschenden kolonialen Klassen Lateinamerikas orientierten sich politisch und wirtschaftlich an der veränderten Situation, dennoch wollten sie nicht auf die koloniale Struktur und Rassentrennung verzichten, um ihre eigenen Privilegien verteidigen zu können. Dies bedeutete, dass sie nach einer neuen Ideologie suchen mussten, die einerseits die bestehende Ungleichheit und Ausbeutung legitimierte und andererseits die patrimoniale Ideologie Spaniens ablöste. In dieser Situation waren der Positivismus und die Evolutionstheorie aus Europa vielversprechend. Die lokalen Eliten Lateinamerikas nutzten den Positivismus, um ihre Führungsansprüche im Prozess der Modernisierung zu untermauern, indem sie der Masse die Voraussetzungen zur vollen Partizipation an diesem Prozess absprachen. Die Evolutionstheorie von Herbert Spencer, die die Gesellschaft mit einem Organismus vergleicht, der dem biologischen Prinzip der Anpassung (the biological priciple of adaptation) unterliegt, lieferte die Legitimation für eine rassisch-ethnische Hierarchie (a racialethnic hierarcy). Damit konnte die Überlegenheit der Europäer begründet werden. Die neue Ideologie am Ende des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika, die im Gewand von Wissenschaft und Fortschritt in Erscheinung trat, war rassistisch orientiert und legitimierte die politische und wirtschaftliche Unterordnung (political and economic subordination) der Peripherien unter die europäischen Zentren, die rassische Ungleichheit (racial inequality) und die Ausbeutung der nichtweißen Rasse. Nach dieser Ideologie war die politische Förderung der Einwanderung aus Nordeuropa ein Weg zur Erhellung der Rassen (whitening miscegenated population), so dass die Plantagenbesitzer in Brasilien nach der Abschaffung des Sklavenhandels eher italienische Einwanderer angeworben haben als chinesische Einwanderer(vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 1981, 115-120). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der hegemoniale Einfluss der USA in Lateinamerika zunehmend größer, während der britische Einfluss bereits in der Depressionszeit (um 1930) fast gänzlich verloren ging. Unter dem Einfluss der Sozialwissenschaften Nord- Kapitalismus und informelle Wirtschaft von Portes und Walton <?page no="257"?> 248 amerikas wurde nun die Erklärung der Ungleichheit und Unterordnung der Peripherien in den kulturellen Werten (cultural value) gesucht. Danach sind die Ursachen der Unterentwicklung auf den fehlenden kulturellen Antrieb (cultural motor) zurückzuführen, wie einst Max Weber von der kalvinistischen Ethik als Antriebskraft und Geist des Kapitalismus gesprochen hat. Damit entstand eine neue Ideologie der Ungleichheit, die als Theorie der Marginalität (the theory of maginality) bezeichnet wurde. Die Marginalität ist eine Folge der fehlenden kulturellen Ressourcen, die notwendig sind, um an der modernen Gesellschaft partizipieren zu können. Diese neue sozialistische Ideologie machte die Dichotomie zwischen Tradition und Modernität und zwischen Marginalität und Integration zu ihren zentralen Themen (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 122-126). Kehrt man von den wechselnden Rechtfertigungsideologien zu Ungleichheit und Ausbeutung in Lateinamerika zum Ausgangsthema des Weltsystems zurück, so bleibt abschließend die Entwicklung zu thematisieren, die ab etwa 1960 als globaler Prozess (global process) eintritt und gravierende Veränderungen in den Klassenstrukturen mit sich bringt. Ein wichtiger Aspekt dieser Entwicklung besteht in der Internationalisierung des Kapitals (the internationalization of capital) in Form direkter Auslandsinvestitionen transnationaler Konzerne (multinationals). Die Folgen dieser Internationalisierung des Kapitals sind für die Zentren des Weltsystems vielfältig, wie Beispiele der USA eindrucksvoll belegen. Die Internationalisierung des Kapitals führt dazu, dass die Arbeitsplätze in der Industrie abgebaut werden. Dies kommt einem Export der Arbeitsplätze gleich. Dabei werden besonders solche Arbeitsplätze abgebaut, die geringe Qualifikationen voraussetzen und daher niedrig entlohnt werden. Dadurch sinkt die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie. Weiterhin führt die Internationalisierung des Kapitals dazu, dass die Macht der organisierten Arbeiterschaft eingeschränkt wird. Der Wettbewerbsdruck wird besonders für die kleinen mittelständischen Unternehmen größer, die nicht in der Lage sind, ihre Produktionsstätten in Billiglohnländer zu verlagern. Für diese bleibt die Beschäftigung billiger importierter Arbeitskräfte oft als einzige Möglichkeit, um den Wettbewerbsdruck zu reduzieren. So entsteht eine neue soziale Unterschicht (underclass) von impor- Systemtheorie und Migration <?page no="258"?> 249 tierten Arbeitskräften. Die Internationalisierung des Kapitals führt auf der kommunalen Ebene dazu, dass die Steuereinnahmen aufgrund der Schließung von Industrien und Geschäften zurückgeht, während umgekehrt die kommunalen Ausgaben zur Unterstützung der Bedürftigen steigen. Insgesamt führt die Internationalisierung des Kapitals dazu, die arbeitsintensiven Produktionsstätten in die Peripherien zu verlagern, während in den Zentren eine Konzentration von Fachleuten, Technikern und Managern stattfindet. Dies bedeutet, dass die traditionelle Arbeiterklasse (traditional bluecollar working class) besonders benachteiligt wird. Dabei werden insgesamt die Arbeitsprozesse grundlegend transformiert und durch die Internationalisierung des Kapitals weltweit interdependent. Portes und Walton stellen abschließend fest, dass eine Internationalisierung von Kapital, Arbeit (z.B. zunehmende Arbeitsmigration) und Ungleichheit eintritt. Die Klassenbildung der Benachteiligten erhält damit Weltdimension (vgl. Alejandro Portes und John Walton, 1981, 141-150, 158, 165-169, 176, 184, 189). Globale Städte und globale Kontrolle von Sassen <?page no="259"?> 250 6. 3 Saskia Sassen Globale Städte als Konzentrationspunkte der globalen Kontrolle und transterritorialen Produktionsstätten sowie Märkte von „producer services“, Finanztransaktionen und Innovationen für die globale Wirtschaft (The Global City New York, London, Tokyo, 1991, 389 S.) Nach der Auffassung von Saskia Sassen hat die Weltwirtschaft (world economy) über mehrere Jahrhunderte hinweg das Leben der Städte geprägt. Zu Beginn der 1960er Jahre trat jedoch die Organisation der wirtschaftlichen Aktivitäten in eine Phase der tiefgreifenden Transformation ein, die zu massiven strukturellen Veränderungen der Weltwirtschaft führte. Einige dieser Veränderungen bestanden in dem Abbau (dismantling) der einst mächtigsten Industriezentren in den USA, in Großbritannien und zuletzt in Japan. Weitere Veränderungen zeigten sich in der akzelerierenden Industrialisierung einiger Länder in der Dritten Welt und in der rapiden Internationalisierung der Finanzindustrie (financial industry) im Zuge der Entstehung eines weltumspannenden Netzwerkes der Finanztransaktionen. Jeder der genannten Aspekte hat, so die Auffassung von Sasssen, die Beziehungen der Weltmetropolen (major cities of world) zur internationalen Wirtschaft grundlegend verändert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden, ausgehend von der Führungsrolle der USA in der Weltwirtschaft, die Regeln des globalen Handels (the rules for global trade) in Bretton Woods (1945) vereinbart. Als zu Beginn der 1970er Jahre diese Vereinbarungen in Frage gestellt wurden, wirkte sich die dadurch entstandene Unsicherheit in erster Linie auf die großen transnationalen Industriekonzerne und Banken in den USA aus. Zu Beginn der 1980er Jahre waren die großen internationalen Banken der USA mit der Schuldenkrise der Dirtten Welt (Third World debt crisis) konfrontiert, während die transnationalen Industriekonzerne einen empfindlichen Verlust ihres Marktanteils im internationalen Wettbewerb hinnehmen mussten. Systemtheorie und Migration <?page no="260"?> 251 Seit 1980 tritt außerdem ein grundlegender Wandel in der Geographie und Komposition der Weltwirtschaft ein. Dieser Wandel stellt sich in der dualen Entwicklung der wirtschaftlichen Aktivitäten, nämlich in der geographischen Streuung (territorial / spatial dispersion) einerseits und der globalen Integration (global integration) andererseits dar (vgl. Saskia Sassen, 1991, 3). Diese duale Entwicklung hat nach der Auffassung von Sassen für die Metropolen der Welt neue strategische Funktionen mit sich gebracht. Zum einen übernahmen diese Städte die Rolle der Kommandozentrale (command points) für die Organisation der Weltwirtschaft. Zum zweiten wurden sie zu Schaltzentralen (key locations) für Finanzunternehmen und spezialisierte Dienstleistungsfirmen, die die Industrien als führenden Sektor der Wirtschaft ersetzt haben. Zum dritten wurden sie zu zentralen Orten der Produktion und Innovation. Schließlich entwickelten sie sich zu Marktorten von Produkten und Innovationen insbesondere im Bereich der Finanzdienstleistungen. In den zentralen Städten konzentrierte sich damit die Kontrolle über riesige Ressourcen (control over vast resources), während gleichzeitig die Finanzindustrien und spezialisierten Dienstleistungsfirmen dort eine grundlegende Umstrukturierung der städtischen Sozialstruktur und Wirtschaftsordnung einleiteten. Damit trat ein neuer Stadt-Typus in Erscheinung, nämlich die globale Stadt (the global city). Repräsentative Beispiele dafür sind die Städte New York, London und Tokio. Dabei war festzustellen, dass mit dem fortschreitenden Globalisierungsprozess die Agglomeration zentraler Funktionen in einigen globalen Städten zunahm. Sie wurden nicht nur zu zentralen Knotenpunkten (nodal points) unterschiedlicher Aktivitäten der Wirtschaft, sondern auch zu Produktionsstätten (particular sites of production) spezialisierter Dienstleistungen (the production of specialized services), die notwendig wurden, um die komplexen Organisationen der geographisch gestreuten Netzwerke von Firmen funktionsfähig zu halten. Hier wurden auch finanzielle und marktbezogene Innovationen produziert, auf die die Internationalisierung und Expansion der Finanzindustrie (financial industry) angewiesen waren. Die in den globalen Städten produzierten Güter sind vor allem Dienstleistungen und Finanzgüter (financial goods) unterschiedlicher Art. Dabei handelt es sich um Outputs, die vom technischen Wissen höheren Niveaus Globale Städte als Orte globaler Kontrolle von Sassen <?page no="261"?> 252 (high-level technical knowledge) abgeleitet werden. Es geht somit um die Produktion von Inputs, die eingesetzt werden, um Möglichkeiten der globalen Kontrolle (capability for global control) und der Weiterentwicklung der Infrastruktur für die darin involvierten Jobs sicherzustellen (vgl. Saskia Sassen, 1991, 3-6). Die geographische Streuung (the spatial dispersion) der ökonomischen Aktivitäten bedeutet, dass die industriellen Produktionsstätten aus den Industrieländern in die Niedriglohnländer (lower-wage foreign locations) verlagert werden. Diese Dezentralisierung (decentralization) der Produktion bedeutet de facto den Abbau der industriellen Standorte (the dismantling of the old industrial centers) und Arbeitsplätze in den Industrieländern. So wurden in den einst größten Industriezentren (industrial centers), wie Detroit in den USA, Manchester und Birmingham im Vereinigten Königreich die industriellen Arbeitsplätze massiv abgebaut. Japan verlagerte z.B. die Autoindustrie nach Südkorea, Thailand und Mexiko. Die Dezentralisierung der Produktion macht jedoch eine grundlegende Reorganisation der Finanzindustrie (reorganization of financial industry) notwendig, um die dezentralisierten Produktionsstätten mit Finanzmitteln und spezialisierten Dienstleistungen zu versorgen. Dabei stellen die geographische Streuung der wirtschaftlichen Aktivitäten und die Reorganisation der Finanzindustrie zwei Subprozesse der neuen Zentralisierung (new forms of centralization) der globalen Besitzverhältnisse (ownership) und Kontrolle (control) dar. Die rasanten Entwicklungen im Bereich der Telekommunikation und Informationstechnologie ermöglichen dabei die Fernsteuerung bzw. das „long-distance management“ der dezentralisierten Produktionseinheiten und Arbeitskräfte. Solche Fernsteuerung setzt jedoch komplexe Kapazitäten (compex physical facilities) voraus, deren Aufbau Investitionen des Fixkapitals (investments in fixed capital) in größerem Umfang notwendig macht (vgl. Saskia Sassen, 1991, 19, 24-25). Um den gegenwärtigen Prozess der Globalisierung (the current process of globalization) mit ihren geographischen Regionen, Industrien und institutionellen Ordnungen (institutional arrangements) besser verdeutlichen zu können, sieht Saskia Sassen die Notwendigkeit, ein Konzept der Mobilität des Kapitals (the concept of capital mobility) auszuarbeiten. Hierin sind neue Formen der Systemtheorie und Migration <?page no="262"?> 253 Zentralisierung (the new forms of centralization), die Reorganisation der Quellen der Überschusswerte (surplus values), die erst die massive Kapitalverschiebungen möglich macht, und die Transnationalisierung der Besitzverhältnisse (transnationalization in ownership) durch Auslandsdirektinvestitionen (foreign direct investment), Fusionen (mergers), Akquisitionen (acquisitions) und „joint ventures“ zu berückichtigen. Die Mobilität des Kapitals als Prozess und theoretisches Konzept schließt eine Reihe von Faktoren mit ein. Die zunehmende Mobilität des Kapitals (increased capital mobility) bringt nicht nur grundlegende Veränderungen in der geographischen Organisation der Produktion und im Netzwerk der Finanzmärkte (financial markets) mit sich. Sie löst auch Nachfrage nach den Inputs aus, die für Management, Kontrolle und Dienstleistungen bei der Neuorganisation von Produktion und Finanzierung erforderlich werden (vgl. Saskia Sassen, 1991, 22-23). Ein wichtiger Aspekt der Mobilität des Kapitals ist die Transnationalisierung der Besitzverhältnisse und die Kontrolle der transnationalen Konzerne. In den 1980er Jahren wurde eine Reihe von Investitionen und Akquisitionen vorgenommen, die sich von den traditionellen Formen unterscheidet. Ein Beispiel hierfür ist die Entstehung eines Zentrums für Forschung, Entwicklung, Design, Engineering, Marketing und Management von neun japanischen Autofirmen in Südkalifornien, die zusammen einen Marktanteil von 30 % an allen in den USA verkauften Autos erreichen. Ein anderes Beispiel ist die Konzentration der japanischen Banken, Versicherungsgesellschaften und Finanzinstitute in New York, die zusammen ein komplexes und hoch diversifiziertes Operations- und Finanzzentrum (financial center) in den USA bilden, das die direkte Partizipation an der globalen Wirtschaft effektiver ermöglichen soll. Die Restrukturierung der Wirtschaft in Japan umfasst die Verlagerung vieler Industrien (z.B. Textil- und Autoindustrien) ins Ausland, den Übergang von der Schwer- und Chemieindustrie zur wissensintensiven High-Tech-Industrie und die Schaffung internationaler Finanzinstitutionen. Diese Restrukturierung führte zur drastischen Steigerung der Zahl der Arbeiter, die im Ausland beschäftigt waren. Ein weiteres Beispiel für die zunehmende Dezentralisierung sind die Büroarbeiten in den USA. Die modernen com- Globale Städte als Orte globaler Kontrolle von Sassen <?page no="263"?> 254 putergestützten Büroarbeiten, wie z.B. bei Versicherungsgesellschaften, werden zunehmend in die Wohngegenden der großen Städte verlagert, um gut ausgebildete Frauen (well-educated women) aus dem häuslichen Bereich als billige Arbeitskräfte zu rekrutieren, die bisher mangels Kinderbetreuungseinrichtungen und Beschäftigungschancen zu Hause blieben. Die Internationalisierung der Büroarbeiten wird durch den uneingeschränkten Fluss von Daten (unrestricted flow of data) und die frei zu vereinbarende Vergütung (absense of tariffs) erleichtert. Es ist bemerkenswert, dass die Dezentralisierung der Industrien und Büroarbeiten, die hier nur als selektive Beispiele genannt werden, bisher keineswegs die Dezentralisierung ihrer Besitzverhältnisse (ownership) und Kontrollformen (control) mit sich gebracht hat. Vielmehr haben die großen transnationalen Konzerne ihre Finanztransaktionen so organisiert, dass weder Barrieren für die Finanzzirkulation noch unverhältnismäßige Zirkulationskosten entstehen. Die Zentralisierung der Besitzverhältnisse im Prozess der zunehmenden Dezentralisierung stellt jedoch die transnationalen Großfirmen vor die neue Aufgabe, in einem weltweiten Produktionssystem (world-wide production system) mit Montageeinrichtungen, Büros und Servicestellen im In- und Ausland zu operieren. Damit wächst gleichzeitig die Notwendigkeit der effektiven Kontolle des weltweit dezentralisierten Produktionssystems und der Arbeitskräfte. Dabei tritt eine neue Form der Zentralisierung (centralization) der Planung, Produktion von Dienstleistungen und des „top-level management“ ein, die die weltweit dezentralisierten Einheiten in das globale Produktionssystem integriert (vgl. Saskia Sassen, 1991, 4, 22, 24-29). Diese Entwicklung ist unmittelbar mit der neuen Form der Mobilität des Kapitals verbunden (new forms of capital mobility), wobei das Tempo der Mobilität durch ständige Innovationen im Finanzwesen akzeleriert wird. Diese Innovationen bestehen in der Umwandlung der Finanzvermögen (financial assets) zu marktfähigen Instrumenten (marketable instruments), so dass nun das ständige und teilweise spekulative An- und Verkaufen dieser Finanzinstrumente (buying and selling of instruments over and over again) die weltweite Zirkulation des Finanzkapitals maximiert. Dabei erleichtern die zunehmende Deregulierung und Internationalisierung des Finanzmarktes die Partizipation der Investoren aus allen Teilen der Systemtheorie und Migration <?page no="264"?> 255 Welt auf diesem internationalen Finanzmarkt. Die Kontrolle der Finanzindustrie (financial industry) setzt, wie bei der Kontrolle der geographischen Streuung der Produktion, ständige Innovation und Reorganisation der Finanzdienstleistungen und -infrastruktur voraus, wie sie die transnationalen Großbanken in ihren intermediären Aktivitäten bisher kaum gekannt haben (vgl. Saskia Sassen, 1991, 25, 30). Die steigende Mobilität des Kapitals hat unterschiedliche Auswirkungen auf die Eigentümer des Kapitals, auf den Arbeitsmarkt und auf die globale Regulierung der Arbeitskräfte (global labor force). Für die Eigentümer des Kapitals bedeutet dies, die Produktion geographisch neu zu organisieren und das Netzwerk der Finanzmärkte völlig umzubauen. Sie benötigen eine neue Produktionsform, in der Management, Kontrolle, Dienstleistungen und Finanzierung miteinander verzahnt und sichergestellt werden können. Solche Formen der Produktion haben dahingehend Auswirkungen, dass der wirtschaftliche Raum (economic space) weitgehend homogenisiert wird, indem die Konsumgüter weltweit standardisiert werden. Eine weitere Folgewirkung ist darin zu sehen, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt in den Peripherieregionen der globalen Wirtschaft durch die allgemeine geographische Streuung wirtschaftlicher Aktivitäten leichter wird. Dennoch besteht die Tendenz, die strukturell randständigen Bedingungen der Peripherien (peripheral condition) unverändert zu lassen, weil die Investoren dort ihre Gewinn- und Kostenvorteile aufrechterhalten wollen. Die Tatsache, dass dort Konsumgüter für den externen Markt der Zentren der globalen Wirtschaft produziert werden, ändert nichts daran. Damit werden die qualitativ differenzierten Angebote der Arbeitskräfte (labor supplies) auf der differenzierten strukturellen Ebene der globalen Wirtschaft erhalten und reproduziert, so dass die eventuell denkbaren politischen und sozialen Folgen subversiver Art neutralisiert werden. Die Mobilität und internationale Zirkulation des Kapitals führen somit zur Entstehung des globalen bzw. internationalen Arbeitsmarktes, auf dem eine bisher beispiellose Vielzahl neuer Jobs und Gelegenheitsarbeiten (casual labor) angeboten werden, die auch für die benachteiligten Migranten Beschäftigungsmöglichkeiten mit sich bringen. Die weltweit steigenden Migrationsbewegungen der Arbeitskräfte sind daher als natürliche Begleitungserschei- Globale Städte als Orte globaler Kontrolle von Sassen <?page no="265"?> 256 nungen der steigenden Mobilität des Kapitals anzusehen (vgl. Saskia Sassen, 1991, 23, 31-32). Die steigende Mobilität des Kapitals steht dabei im unmittelbaren Zusammenhang mit der rapiden Transformation der Finanzindustrie. Bis in die 1970er Jahre hinein bestanden die internationalen Aktivitäten der Banken weitgehend in der Unterhaltung von Filialen im Ausland (foreign branches), die hauptsächlich vor Ort die Operationen der multinationalen Firmen in ihrem Handel mit Krediten und Devisen unterstützten. Dabei waren die Entwicklungsländer die Hauptempfängerländer der Kredite. Die Banken übernahmen dabei überwiegend Vermittlungsaufgaben. Diese intermediären Aktivitäten der Banken haben durch die Öffnung der nationalen Märkte im Zuge der Deregulierung (z.B. Abschaffung der Devisenkontrolle) und durch die akute Schuldenkrise der Entwicklungsländer zu Beginn der 1980er Jahre zunehmend ihre Geschäftsgrundlage verloren. Anstelle der transnationalen Banken spielen seit 1980 die Finanzdienstleistungsfirmen, die z.B. die Investitionen in Aktien vermitteln (stockbroking/ investment portfolio management) und Bürgschaften leisten (securities firms), und die Investmentbanken (investment bank), die die internationalen Firmenfusionen und Akquisitionen vorbereiten und abschließen, eine dominierende Rolle auf dem internationalen Finanzmarkt. Die Deregulierung hat auch dazu geführt, dass die institutionellen Investoren (z.B. Versicherungsgesellschaften, Pensionsfonds) große Kapitalmengen über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg hin und her bewegen und sie überall dort investieren, wo höhere Renditen zu erwarten sind. Sie sind einer der größten Investoren in der globalen Wirtschaft. Im Gegensatz zu den 1970er Jahren sind nun die Industrieländer dominierende Anbieter und Nutzer des Kapitals. Insgesamt expandiert der internationale Finanzmarkt mit einem rasanten Tempo sowohl in seiner Größe als auch in seiner Komplexität. Seine Bedeutung nimmt in dem Ausmaß zu, indem er eine Vielzahl kapitalintensiver und hochspezialisierter Dienstleistungen für die diversen Finanzinstitutionen erbringt. Seine Aktivitäten, die über die Aktivitäten der traditionellen Banken weit hinausgehen sind wettbewerbsorientiert, hochkomplex, hochinnovativ und risikofreudig (vgl. Saskia Sassen, 1991, 64-67, 76, 83). Systemtheorie und Migration <?page no="266"?> 257 Eine bemerkenswerte Entwicklung bei dieser geographischen Streuung der wirtschaftlichen Aktivitäten und Transaktionen hochspezialisierter Dienstleistungen besteht in der Zentralisierung (centralization) der globalen Kontrolle (global control) in einigen führenden Finanzzentren (financial centers). Dies bedeutet, dass je mehr die Wirtschaft globalisiert wird, desto mehr die Agglomeration der zentralen wirtschaftlichen Funktionen des „top-level management“ in einigen Orten (few sites) zunimmt. Diese Orte sind die globalen Städte (global cities), wie New York, London und Tokio. Sie sind die zentralen Orte (central locations) in der globalen Wirtschaft (global economy), in denen die Kapazitäten der globalen Kontrolle (global control capability) für die geographisch dezentralisierten Produktionsstätten erzeugt und gesichert werden. Sie sind daher die zentralen Orte von Produktion, Koordination, Management und Marketing der spezialisierten Dienstleistungen, die alle transnationalen Produktionsfirmen und Organisationen für die effektive Abwicklung ihrer vielfältigen Kontroll- und Koordinationsaufgaben benötigen. Die transnationalen Konzerne und Banken haben daher ihren Hauptsitz (headquarters) in diesen globalen Städten. Alle Dienstleistungen, die dort für transnationale Firmen und Organisationen produziert werden, werden unter dem Begriff der „producer services“ zusammengefasst. Die Abnehmer dieser „producer services“ sind ausschließlich transnationale Firmen, Banken und Organisationen. Sie sind nicht für individuelle Personen vorgesehen. Sie umfassen, im Gegensatz zu den „consumer services“, alle Dienstleistungen, die im Zusammenhang mit Innovation, Entwicklung, Planung, Management, Risikomanagement, Rechtsberatung, Produktionstechnologie, Design, Werbung, Buchhaltung, Lagerung, Lieferung, Transport, Kommunikation, Versicherung, Reinigung usw. für internationale Firmen stehen. Dabei haben diese Dienstleistungen unterstützende und ergänzende Funktionen, die quasi als ein zwischenvermittelnder bzw. zwischengeschalteter Input (intermediated or complementary input) notwendig werden, um die Endprodukte vervollständigen zu können. Die Nachfrage nach diesen Dienstleistungen in der globalen Wirtschaft wächst parallel und kontinuierlich mit zunehmender Größe (growing size), Komplexität (complexity), Diversifikation (diversification), Dezentralisierung (decentralization), Produktdifferenzierung (product diffe- Globale Städte als Orte globaler Kontrolle von Sassen <?page no="267"?> 258 rentiation), Marktdifferenzierung (market differentiation) und mit zunehmenden Fusionen (mergers) der Firmen und Organisationen in allen Sektoren der Wirtschaft. Diese Entwicklung kann vor dem Hintergrund des allgemeinen Übergangs der Industriegesellschaft zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft gesehen werden. Abgesehen davon macht die Partizipation am globalen Markt zunehmend die Nutzung von solchen „producer services“ unumgänglich. Die einzelnen Firmen und Organisationen können solche „producer services“ zum eigenen Bedarf selbst produzieren, oder solche zum Verkauf produzieren oder von anderen Firmen einkaufen. Vor diesem Hintergrund entsteht in der globalen Wirtschaft eine völlig neue, tendenziell sich weiter expandierende und unabhängige Industrie (freestanding producer services industry), die nur auf die Produktion von „producer services“ ausgerichtet ist (vgl. Saskia Sassen, 1991, 5-6, 87-91, 95-100, 124, 325). Typisch für diese „producer services“ ist einerseits die Tatsache, dass sie völlig unabhängig von der geographischen Nähe (proximity/ vicinity) zu ihren Kunden bzw. Konsumenten sind. Sowohl die inländischen als auch die ausländischen Konsumenten können unabhängig von der Entfernung solche Dienstleistungen ordern und kaufen. Andererseits ist die Herstellung dieser „producer services“ in der Regel auf die diversifizierten Dienstleistungen (diversified resource base) anderer spezialisierter Firmen angewiesen, so dass viele Firmen, die jeweils „producer services“ in einem bestimmten spezialisierten Segment herstellen, an einem spezifischen Ort stark konzentriert nebeneinander existieren. Dies ist auch Grund dafür, warum die globalen Städte die Orte in der globalen Wirtschaft sind, in denen eine Agglomeration von Firmen eintritt, die jeweils unterschiedliche, aber dennoch voneinander interdependente „producer services“ produzieren. Damit entsteht in den globalen Städten eine völlig neue Wirtschaftsform der „agglomeration economy“, die im weitesten Sinn eine gemeinsame Produktion (joint production) der „producer services“ praktiziert. Diese Agglomeration wird zusätzlich durch ihre hochentwickelte und hochleistungsfähige moderne technologische Infrastruktur der Telekommunikation erleichtert (vgl. Saskia Sassen, 1991, 104-105, 109). Die globalen Städte sind transnationale Räume (internationalized spaces) mit der dichtesten Konzentrationsrate an Produktionsstätten Systemtheorie und Migration <?page no="268"?> 259 von „producer services“. Gleichzeitig bilden sie internationale Finanz- und Dienstleistungsmärkte mit vielfältigen Angeboten und Nachfragen. Sie konkurrieren nicht miteinander, wie man vermuten könnte, sondern stellen systemische Verbindungen untereinanander her, weil sie gemeinsam am globalen Markt orientiert (strong orientation to the global market) sind. Damit entsteht ein ökonomisches System (an economic system), das sich auf verschiedene regionale Räume in den globalen Städten, wie New York, London, Tokio, gründet (vgl. Saskia Sassen, 1991, 126, 164, 168-169). Die höchste Konzentration der Finanz- und Dienstleistungsfirmen sowie der hochbezahlten Spitzenfachkräfte aller Fachrichtungen in den globalen Städten hat unweigerlich zur Entstehung des teuersten internationalen Immobilienmarktes (high-price real estate market) beigetragen. Internationale Firmen sind generell bereit, die höchsten Miet- und Grundstückspreise zu akzeptieren, wenn sie ihre Firmenzentrale (headquarters) und Büros in den zentralen Regionen der Städte öffnen können. 1989 betrugen z.B. die Mietpreise pro qm (a square yard = 0,914 Meter) im zentralen Geschäftsbezirk von Tokio 210.000 US-Dollar. Die Akquisition des großen Anteils des „Rockfeller Center“ durch die Japaner und deren Großinvestitionen in den Immobilienmarkt von New York sind weitere Beispiele. Die große Wohnungsnachfrage der Angestellten internationaler Firmen in den zentralen und stadtnahen Wohngebieten treibt ebenfalls die Mietpreise in die Höhe. Eine unmittelbare Folge des wachsenden Bedarfs an Büro- und Wohnräumen liegt in der massiven Zunahme von Bauprojekten (construction projects). Dies führt wiederum zu einem Prozess der Rehabilitierung (process of rehabilitation) der Stadtrandregionen (z.B. in London), auf deren Modernisierung und kommerzielle Nutzung bis dahin verzichtet wurde. Vor diesem Hintergrund werden z.B. die Gebäude zu begehrten ökonomischen Gütern (commodities), die unabhängig von der nationalen Volkswirtschaft auf dem internationalen Immobilienmarkt gekauft bzw. verkauft werden. Dadurch entstehen in den globalen Städten transnationale ökonomische Räume (transnational economic spaces), in denen transnationale wirtschaftliche Aktivitäten stattfinden (vgl. Saskia Sassen, 1991, 185-191). Die skizzierten Entwicklungen bedeuten, dass seit 1980 die soziale Struktur der drei globalen Städte einen grundlegenden Wandel Globale Städte als Orte globaler Kontrolle von Sassen <?page no="269"?> 260 vollzogen hat. Die massive Zunahme und Konzentration der Dienstleistungen fanden weitgehend auf Kosten des massiven Abbaus der Industrie und der damit unmittelbar verbundenen Arbeitsplätze (losses in manufacturing jobs) statt. Zwei Folgen dieser Entwicklung waren zu registrieren. Eine bestand darin, dass die massive Beschäftigung von hochqualifizierten Fachkräften zu steigendem Lebensstandard und zur Verbesserung der Lebensqualität der Mehrheit der Stadtbewohner geführt hat. Gleichzeitig hatten die globalen Städte allgemein steigende Steuereinnahmen (tax revenues), die sie für die soziale Unterstützung der Bevölkerungsgruppe, die nicht an dieser neuen wirtschaftlichen Entwicklung teilhatte, verwenden konnten. Die hochqualifizierten Arbeitskräfte haben auch dazu beigetragen, dass der Typus der aufgeklärten Arbeitskräfte (the growth of an enlightened type of work force) insgesamt größer geworden war. Eine andere Folge bestand in der massiven Freisetzung der Arbeitskräfte aus der Industrie und in der generellen Abstufung der Industriearbeit (a downgrading of manufacturing jobs). Diese hat dazu beigetragen, dass die Jobs im Niedriglohnbereich und Teilzeitbereich (the part-time works) überdurchschnittlich gestiegen waren, während die Arbeiten im Dienstleistungsbereich (z.B. die Informations- und Kommunikationsbereiche) umgekehrt eine allgemeine Aufstufung (upgrading) in der Einkommenshierarchie erfahren haben. Eine parallele Entwicklung bestand darin, dass der Verdienstunterschied zwischen Männern und Frauen und zwischen Facharbeitern und Büroarbeitern zunehmend größer wurde. Dabei wurden die mittleren Einkommensgruppen besonders stark von der generellen Abbzw. Aufstufung betroffen. Insgesamt ist dadurch eine zunehmende Polarisierung (considerable polarization) zwischen den Dienstleistungs- und Nicht- Dienstleistungsberufen einerseits und zwischen den höheren und unteren Einkommensgruppen andererseits eingetreten, die zur wachsenden Ungleichheit (inequality) in den unterschiedlichen Lebensbereichen der globalen Städte geführt haben (vgl. Saskia Sassen, 1991, 195, 217-221, 224, 228, 244). Eine auffallende Ungleichheit ist z.B. in der räumlichen Polarisieung (spatial polarization) zu sehen. Die steigende Nachfrage nach Fachkräften in den globalen Städten (demand for professional workers) hat dazu geführt, dass die Löhne im Vergleich zu anderen Be- Systemtheorie und Migration <?page no="270"?> 261 rufsgruppen überproportional gestiegen (strong upward pressure of salaries) sind. Dies hat wiederum veranlasst, dass junge und gut verdienende Fachkräfte (young and high-income professionals), die für nationale und internationale Großfirmen arbeiten, einen „lifestyle“ entwickelt haben, der unter anderem aus Luxuskonsum und Modeorientierung (fashion-oriented) besteht. Die Lebensphilosophie dieses neuen „lifestyle“ ist die Demonstration des Wohlstands durch Luxuskonsum. Ein Beispiel dieses „lifestyle“ ist die sog. „gentrification“ (Verfeinerung/ Veredelung). Der Begriff „gentrification“ wurde ursprünglich in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit der Rehabilitierung bzw. Restaurierung der verfallenen ehemaligen Warenhäuser, alten Fabrikgebäude, alten Möbelstücke usw. gebraucht. In den 1980er Jahren wurde jedoch seine Bedeutung erweitert und darunter allgemein der Prozess der räumlichen, wirtschaftlichen und sozialen Restrukturierung verstanden. Dadurch stellt nun die kosten- und arbeitsaufwändige Renovierung alter Häuser (residential rehabilitation) nur eine sichtbare räumliche Ausdrucksweise der umfassenden „gentrification“ dar, die bevorzugt von jungen Fachkräften der höheren Einkommensgruppe im Einklang mit ihrer Lebensphilosophie des luxusorientierten „lifestyle“ vorgenommen wird. Die „gentrification“ in diesem Sinn ist neu, neu ist auch ihr Ausmaß, in dem sie in den globalen Städten stattfindet. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass die globalen Städte zunehmend räumlich polarisiert werden, indem die sichtbare Konzentration von Luxushäusern der reichen Bevölkerungsschicht räumlich getrennt von den wirtschaftlich benachteiligten Menschen in den Peripherieregionen der Städte stattfindet. Im Zuge dieser Polarisierung werden viele Arbeiterhaushalte von ihrem städtischen Wohnsitz vertrieben (outmigration of workingage residents from central areas) und die ehemaligen innerstädtischen Wohngemeinden sterben buchstäblich aus (communities are dying as social unit). Die Zahl der Wohnungslosen (homelessness) ist enorm gestiegen. Ein Kennzeichen der sozialen Geographie der globalen Städte im fortgeschrittenen Kapitalismus (in advanced capitalism) ist damit die räumliche Polarisierung, die die Veränderung der Klassenstruktur in der postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft zum Ausdruck bringt (vgl. Saskia Sassen, 1991, 255, 267-268, 271 -278, 317). Globale Städte als Orte globaler Kontrolle von Sassen <?page no="271"?> 262 Eine weitere Ungleichheit in den globalen Städten ist nach Saskia Sassen in der ökonomischen Ungleichheit (economic inequality) zu sehen, die, unabhängig von der steigenden Zahl der Arbeitslosen, besonders in der Verteilung des Einkommens sichtbar wird. Ähnlich wie in der räumlichen Polarisierung tritt eine Zweiteilung der arbeitenden Menschen in die überdurchschnittlich hoch- und gering verdienenden Einkommensgruppen ein. Dabei wird die niedrige Einkommensgruppe zunehmend größer. Selbst im Dienstleistungssektor nehmen immer mehr Frauen und Männer Teilzeitarbeit (part-time work) und Gelegenheitsarbeit (temporary work) an und tragen so zur Vergrößerung der niedrigen Einkommensgruppen bei. Diese Polarisierung der Einkommensverteilung (polarized income distribution) findet ihren Ausdruck besonders in den unterschiedlichen Konsumstrukturen beider Gruppen. Der Prozess der „gentrification“, den die gutverdienenden Fachkräfte durch ihren Luxuskonsum auslösen, setzt gerade die Verfügbarkeit (availability) über ein großes Angebot von billigen Arbeitskräften voraus. Der wesentliche Grund dafür liegt in der Tatsache, dass Güter und Dienstleistungen, nach denen die höhere Einkommensgruppe nachfragt, keine Massengüter bzw. Dienstleistungen sind, die nach standardisierten Mustern hergestellt und angeboten werden können. Vielmehr sind diese Nachfragen überwiegend solche, die die Angehörigen der höheren Einkommensgruppe nach individuellem Bedarf und Geschmack (z.B. die Renovierung von Häusern oder antiken Möbelstücken) anmelden. Die Befriedigung solcher singulären Nachfragen ist in der Regel nur durch arbeits- und kapitalintensive Verfahren (labor and capital intensive process) möglich, die auf den Einzelfall zugeschnitten werden. Sie sind im Rahmen der formalen Wirtschaft nur schwer zu realisieren. Vor diesem Hintergrund entsteht in den globalen Städten die sog. informelle Wirtschaft (informal economy), eine besondere Komponente der Schattenwirtschaft (underground economy). Die wirtschaftlichen Aktivitäten in der informellen Wirtschaft sind, im Gegensatz zu den rechtlich verbotenen (illicit activities) und kriminellen Aktivitäten innerhalb der Schattenwirtschaft, überwiegend solche, die rechtlich zwar nicht verboten sind (licit activities), aber dennoch außerhalb des durch das Arbeitsrecht vorgegebenen Rahmens stattfinden. Dies bedeutet, dass es z.B. keine tariflich geregelte Löhne, Arbeitszeiten, Pausen Systemtheorie und Migration <?page no="272"?> 263 und Urlaubsregelungen gibt. Die arbeitsrechtlichen Sicherheits- und Schutzbestimmungen finden keine Anwendung, so dass z.B. unbezahlte Überstunden normal sind. Das Überleben der informellen Wirtschaft hängt von den schmalen Gewinnmargen (limited profit margins) ab, die durch Umgehung der steuer- und arbeitsrechtlichen Vorschriften entstehen. Die informelle Wirtschaft ist daher der wirtschaftliche Raum, in dem die Ausführungen der singulären Arbeitsaufträge überwiegend durch Gelegenheitsarbeit (casual work) und Teilzeitarbeit (part-time work) erledigt werden. Oft wird ein Arbeitsauftrag in mehrere Teilaufträge untergliedert und an weitere Subarbeiter bzw. Subunternehmer vergeben (subcontracting). Dies bedeutet wiederum, dass die dort arbeitenden Menschen aufgrund ihres geringen und unregelmäßigen Einkommens nicht die Güter konsumieren können, die auf dem normalen Markt angeboten werden. Sie sind vielmehr auf die Konsumgüter angewiesen, die der informelle Markt für sie anbietet. Damit tritt eine weitere Polarisierung zwischen dem formalen und informellen Arbeitsmarkt ein, die zur ökonomischen Ungleichheit führt (vgl. Saskia Sassen, 1991, 279-282, 284, 288, 294). Die informelle Wirtschaft in den globalen Städten geht auf die Präsenz großer Zahlen von Immigranten zurück, die im Einwanderungsland eine Vielzahl von Überlebensstrategien (survival strategies) entwickeln. Es ist dennoch darauf hinzuweisen, dass die Existenz der Immigrantengemeinden (immigrant communities) nicht die Ursache für die Entstehung der informellen Wirtschaft ist, sondern dass die Grundeigenschaften des entwickelten Kapitalismus (basic traits of advanced capitalism) die Bedingungen für die Informalisierung der Wirtschaft schaffen. So wird z.B. die informelle Wirtschaft oft von der Industrie der formalen Wirtschaft dazu genutzt, um Kosten der Produktion niedrig zu halten (to lower the costs of production) und die organisatorische Flexibilität (to raise the organizational flexiblity) in der Produktion zu erhöhen. Der steigende Wettbewerbsdruck (competitive pressures) veranlasst die Industrien zu solchen Schritten. Das komplizierte und mit Gebühren verbundene Genehmigungsverfahren der Produktion und die steuerrechtlichen Bestimmungen in der formalen Wirtschaft sind oft Hindernisse bei der Kostensenkung der Produktion und organisatorischen Flexibilität. Damit wird deutlich, dass die Gemeinde- Globale Städte als Orte globaler Kontrolle von Sassen <?page no="273"?> 264 bildung der Immigranten lediglich den Prozess der Informalisierung (process of informalization) der Wirtschaft vermittelt bzw. mediatisiert (mediating), der als Begleiterscheinung des Kapitalismus eintritt. Somit führt die Lebenssituation der Immigranten zu dieser Mediatisierung, weil sie jede Einkommenschance wahrnehmen müssen, um wirtschaftlich zu überleben, selbst wenn diese von der Informalisierung der Wirtschaft kommt. Ähnlich ist die Situation der Frauen mit Kindern zu sehen. Das Fehlen von Kindertagesstätten führt oft dazu, dass die Mütter jede Chance zur Teilzeitarbeit annehmen. Dies bedeutet nicht, dass die Mütter mit Kleinkindern erst die Teilzeitarbeit schaffen. Die Informalisierung der Wirtschaft und die zunehmende Teilzeitarbeit sind eher strukturelle Folgen (structural outcome) des entwickelten Kapitalismus. Die auffällige Konzentration der Immigranten in der informellen Wirtschaft hängt mit ihren begrenzten Arbeitsmarktchancen zusammen. Auf der anderen Seite sind sie billigere Arbeitskräfte, die von der informellen Wirtschaft gern genommen werden. Die Konzentration der Immigranten in der informellen Wirtschaft macht jedoch deutlich, dass es soziale und ökonomische Ungleichheit in den globalen Städten gibt, die mit der nationalen und ethnischen Herkunft der Menschen zusammenhängt. Die Konzentration der Schwarzen, Asiaten und Immigranten anderer Herkunft im geringbezahlten und mehr traditionellen Dienstleistungssektor von Gesundheit und Gastronomie ist hier ein Beispiel. Dabei ist die Bedeutung der Arbeitskraft der Immigranten für den wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozess der globalen Städte unter zwei Aspekten zu sehen. Zum einen stellen sie nicht nur die Niedriglohnarbeiter für die Industrie, sondern sie ermöglichen auch die Expansion des Dienstleistungssektors und den Lebensstil der höheren Einkommensschichten, die im hochspezialisierten Dienstleistungssektor arbeiten. Zum anderen tragen sie zur Rehabilitierung der räumlichen und wirtschaftlichen Sektoren bei, die sonst hätten aufgegeben werden müssen (vgl. Saskia Sassen, 1991, 282-288, 290, 292, 315- 319). Systemtheorie und Migration <?page no="274"?> 265 Vergleichende Bewertung der vorgestellten Theorien und Perspektiven der Migration Bei näherer Betrachtung sind Theorien, insbesondere solche, die das unmittelbare Alltagsleben der Gesellschaft betreffen, wie z.B. die der Migration, Ergebnisse der Forschungen, die durch den Zeitgeist und durch die zeittypischen Interessen sowie Stimmungslagen der jeweiligen Gesellschaft beeinflusst werden. Die vorgestellten Migrationstheorien zeigen, dass die Interessen der interdisziplinären Migrationsforschung in den letzten 80 Jahren (1920-1999) durch die sich nacheinander ablösenden Paradigmen, wie Assimilation, ethnischer Pluralismus, Feminisierung der Migration, Transnationalismus und Transmigranten, Migration als Funktion steigender Mobilität des Kapitals und Kosten-Nutzen-Analyse der Migration, bestimmt worden sind. In der abschließenden Betrachtung der Theorien sollen daher die makrostrukturellen gesellschaftlichen Bedingungen analysiert werden, die den sukzessiven Paradigmenwechsel in der Migrationsforschung notwendig gemacht haben. Diese Strukturanalyse zielt darauf ab, die Entstehungsgeschichte der Theorien sowie ihre Weiterentwicklung durch eine vergleichende Bewertung verständlich zu machen und zugleich zu einer Einschätzung der Perspektiven der Migration zu gelangen. Die Tatsache, dass die Migrationsforschung zuerst unter dem Forschungsschwerpunkt der Assimilation zu Beginn der 1920er Jahre in Chicago/ USA ihren Ausgang genommen hat, ist primär vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund zu sehen. Die Massenemigration der Not leidenden Menschen aus der „Alten Welt“ in die „Neue Welt“ (USA) erreichte um 1882 einen historischen Wendepunkt, weil seit diesem Zeitpunkt die bisherige zahlenmäßige Dominanz der Emigranten aus nordwesteuropäischen Ländern (England, Irland, Deutschland, Frankreich, Holland und skandinavische Länder), die sog. „old migration“, durch die neu einsetzende zahlenmäßige Dominanz der Emigranten aus südosteuropäischen Ländern (Italien, Portugal, Polen, Griechenland, slawische Länder, Juden), die sog. „new migration“, abgelöst wurde. Diese Wende sorgte in den USA für große soziale Spannungen und religiös-eth- Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="275"?> 266 nisch begründete Unruhen, weil die bereits etablierten Einwanderer aus den nordwesteuropäischen Ländern eine Verdrängung der überwiegend protestantischen und anglo-teutonischen Grundelemente in den USA durch überwiegend katholische und alpin-mediterrane Einflüsse befürchteten (vgl. J. W. Vander Zanden, 1966, 29; Milton M. Gordon, 1964, 97; Petrus Han, 2005, 32). Vor dem Hintergrund der skizzierten Ereignisse lösten die sozialen und ethnisch-religiös motivierten Unruhen in den USA antikatholische und nativistische Bewegungen unter der Dachorganisation „The American Protective Association“ aus, die das Ziel verfolgten, das anglosächsische und protestantische Vermächtnis der Gründerzeit zu verteidigen. Die nativistischen Bewegungen bestehen allgemein in dem Bemühen der Einheimischen, die tatsächlich oder vermeintlich drohende Beeinträchtigung und Relativierung der ethnischen, religiösen, rassischen und sonstigen Vorrangstellung, die durch fremde Elemente der Zugewanderten verursacht werden, zu beseitigen und den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen (vgl. Petrus Han, 2005, 309; Friedrich Heckmann, 1992, 152). Diese nativistischen Bewegungen haben sogar den US-Kongress zur restriktiven Einwanderungspolitik mit entsprechenden Gesetzgebungsinitiativen veranlasst, so dass 1921 die Quotenregelung (the national quota system) zugunsten der weißen Einwanderer aus Nordeuropa eingeführt wurde. Dadurch wurde die Zahl der nordeuropäischen Einwanderer in die USA durch großzügige Quotenzuteilung gefördert, während die Zahl der südeuropäischen Einwanderer umgekehrt drastisch reduziert wurde. Viele Südeuropäer (z.B. Spanier und Italiener) mussten daher nach Südamerika emigrieren, um der Armut in ihrem Herkunftsland zu entfliehen. Allein aus Italien sind 3 Millionen Menschen nach Argentinien ausgewandert, deren Nachfahren heute nach Italien remigrieren wollen (Vgl. Petrus Han, 2005, 95, 309; Peter Stalker, 1994, 13-14, 16, 221, 224). Die Publikation der Migrationstheorie von Robert E. Park und Ernest W. Burgess von 1921 ist im Kontext der dargestellten Stimmungslage der USA zu sehen. 1910 bestanden 70 % der Bevölkerung in Chicago, wo Park und Burgess ihre Forschung begonnen haben, aus Immigranten, die mehr als 20 Nationalitäten repräsentierten. Damit wird deutlich, warum Park und Burgess das Phänomen der Migration ausschließlich aus dem Blickwinkel des Auf- Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="276"?> 267 nahmelandes und unter dem Schwerpunkt der Assimilation thematisiert haben. Ihre soziologische Leitidee bestand in der Betonung der Tatsache, dass die Gesellschaft aus Individuen besteht, die kollektive Ziele verfolgen. Diese Individuen müssen daher durch die soziale und moralische Kontrolle der Gesellschaft angehalten werden, ihren individuellen Beitrag zu den kollektiven Zielen einzubringen. Unter dieser Leitidee macht die soziale Kontrolle den zentralen Aspekt der Gesellschaft aus. Sie selbst ist sozialer Prozess und zugleich dessen Ergebnis. Der fundamentale soziale Prozess besteht jedoch, so die Auffassung von Park und Burgess, aus sozialer Interaktion, weil die Individuen nur durch diese am Leben der Gesellschaft partizipieren können. Dabei besteht die soziale Interaktion aus 5 irreversibel progressiv verlaufenden Phasen (contakt / communication, competition, conflict, accommodation, assimilation). Die Migration wird dabei als Prozess der „Invasion“ von Menschen in fremde Gebiete, d.h. als Wettbewerb (competition) im Kampf ums Dasein verstanden. Dieser Wettbewerb in Form der Invasion/ Migration geht sukzessiv zu den nachfolgenden Phasen der sozialen Interaktion über und mündet letztlich in die Phase der Assimilation ein, in der die Immigranten die Kultur des fremden Gebietes übernehmen. Die Assimilationstheorie von Milton M. Gordon wurde 1964, d.h. 43 Jahre nach der Publikation von Park und Burgess in einer Zeit veröffentlicht, in der die ethnischen Minderheiten in den USA für ihre Bürgerrechte kämpften und die politische, wirtschaftliche, rechtliche und soziale Gleichheit und Gleichberechtigung einforderten. Die teilweise gewaltsamen Aufstände der Minderheiten waren Zeichen dafür, dass die lang andauernden individuellen Assimilationsbemühungen keineswegs die erhofften positiven Veränderungen der Lebensverhältnisse bewirkt hatten. Gordon war Zeitzeuge dieser Bürgerrechtsbewegungen. Seine Assimilationstheorie stellt, wie das Zyklenmodell von Park und Burgess, ein individualisierendes Konzept dar, das den Erfolg bzw. Misserfolg der Assimilation von den individuellen Akteuren abhängig sieht. Ein neuer und weitergehender Aspekt seiner Theorie besteht in der Berücksichtigung der rassischen und sozialen Vorurteile und Diskriminierungen der Minderheiten durch die dominante Mehrheit, weil Vorurteile und Diskriminierungen die individuellen Assimilationsbe- Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="277"?> 268 mühungen in der gesellschaftlichen Realität wirkungslos machen. Die Phasen der Assimilation, die Gordon in seiner Theorie einführt, sind konzeptionell differenzierter als die zyklischen Phasen des „race-relation-cycle“ von Park und Burgess, sie scheinen dennoch von dem Zyklenmodell beeinflusst und inspiriert worden zu sein. Sie unterscheiden sich gegenüber dem Zyklenmodell dahingehend, dass der Phasenverlauf der Assimilation nicht automatisch erfolgt. Dies wird auch auf die persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen zurückzuführen sein, die Gordon als Zeitzeuge mit den Bürgerrechtsbewegungen gemacht hat. Die Bürgerrechtsbewegungen machten überdeutlich, dass die Assimilation keineswegs einen Prozess darstellt, der linear progressiv und irreversibel verläuft. Die Absorptionstheorie von Shmuel N. Eisenstadt, in deren Mittelpunkt die jüdische Immigration (Aliyoth) und die Eingliederung der jüdischen Immigranten in die jüdische Gemeinde in Palästina (Yishuv) sowie in den Staat Israel stehen, ist genau 10 Jahre vor der Publikation der Assimilationstheorie von Milton M. Gordon veröffentlicht worden. Die Absorptionstheorie von Eisenstadt berücksichtigt, im Gegensatz zur Theorie von Gordon, ausdrücklich die Phasen des Migrationsprozesses, um die darauf folgenden Phasen der lang andauernden Eingliederung der Immigranten in die Aufnahmegesellschaft zu theoretisieren. Im Gegensatz zu den Immigranten in den USA bestand eine Besonderheit der jüdischen Immigranten darin, dass sie aus unterschiedlichen Kulturen und Nationalstaaten stammten, sie jedoch die gleiche ethnische Herkunft auswiesen. Dabei waren zwei Gruppen jüdischer Immigranten zu unterscheiden, eine Gruppe, die vor der Gründung des Staates Israel in die „Yishuv“ eingewandert und eine Gruppe, die nach der Gründung des Staates Israel eingewandert ist. Für die Erstere war die Solidarisierung mit der zionistischen Bewegung die Hauptmotivation zur Immigration, so dass ihre Eingliederung unter der emotional und sozial intimen Primärgruppenbildung in der „Yishuv“ erfolgte. Für die Letztere war der Wunsch nach politischer und wirtschaftlicher Besserstellung die entscheidende Motivation für ihre Immigration. Die Eingliederung erfolgte hier nicht durch die Primärgruppenbildung, sondern durch bürokratische Organisationen, die der Staat Israel zum Zwecke der Eingliederung von Immigranten geschaffen hatte. Diese inhomogene Motivationslage hatte un- Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="278"?> 269 terschiedliche und teilweise problematische Auswirkungen auf die Eingliederung, so dass die Pluralisierung der israelischen Gesellschaft die unausweichliche Folge war. Der theoretische Hinweis auf die Pluralisierung der Gesellschaft durch die Immigration in der Absorptionstheorie von Eisenstadt stellt einen wertvollen Aspekt dar, der in der Assimilationstheorie von Milton M. Gordon nicht vorkommt. Es ist anzunehmen, dass die Assimilationstheorie von Milton M. Gordon in ihrer Grundidee von der Absorptionstheorie von Shmuel N. Eisenstadt beeinflusst worden ist. Die 7 Phasen der Assimilation bei Gordon weisen deutliche inhaltliche Parallelen zu den adaptiven, instrumentellen, solidarischen und kulturellen Phasen der Integration von Immigranten und zu den Teilprozessen der darauf folgenden Absorption auf, die Eisenstadt in seiner Theorie ausführt. Das Thema der Integration als Vorphase der vollen Eingliederung (full absorption) spielt in der Assimilationstheorie von Gordon kaum eine Rolle (vgl. Petrus Han, 2005, 49-53, 334-347). Nathan Glazer und Daniel Patrick Moynihan haben 1963 durch die Publikation des Buches „Beyond the Melting Pot“ den Übergang von der Assimilationstheorie zur Theorie des ethnischen Pluralismus in der Sozialwissenschaft der USA eingeleitet. Der zeitgeschichtliche Hintergrund dieser Publikation lag in der gesellschaftlichen Situation ethnischer Minderheiten in Amerika, die von der offiziellen Integrations- und Assimilationspolitik der Regierung restlos enttäuscht waren. Diese Enttäuschung hat nicht nur zur Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegungen, sondern auch zur Multikulturalismusbewegung ethnischer Minderheiten geführt, die nun alle Versuche zur Assimilation bzw. Amerikanisierung radikal ablehnten. Die ethnischen Minderheiten hatten die Erfahrung gemacht, dass ihre jahrelangen Anpassungsbemühungen an die angloprotestantischen Wertvorstellungen und Lebensweisen weder soziale Gleichheit, rechtliche Gleichstellung noch die positive Veränderung ihrer Lebenssituation mit sich gebracht haben. Vielmehr mussten sie die Erfahrung machen, dass soziale Ungleichheit, rassische und ethnische Diskriminierungen trotz der wohlfahrtsstaatlichen Politik immer größer wurden. Sie betonten nun mehr denn je ihre ethnische Herkunft, Kultur und Lebensgewohnheiten. Diese Entwicklung führte zunehmend zur ethnischen Segmentierung der Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="279"?> 270 amerikanischen Gesellschaft (vgl. Petrus Han, 2005, 321-333, 363- 376). In dieser gesellschaftlichen Stimmungslage lieferte die Publikation von Glazer und Moynihan mit der These, dass die ethnischen Gruppen nicht nur den „Melting-pot“ überlebt hätten, sondern als festes Fundament der amerikanischen Gesellschaft lebendig geblieben seien, quasi eine sozialwissenschaftliche Legitimation für die ethnischen Bewegungen. Unter dem Einfluss der Multikulturalismusbewegung, die von der Basis der frustrierten ethnischen Minderheiten als Protest ausgelöst wurde, ist in den 1970er und 1980er Jahren eine Reihe von Publikationen zur überdauernden Vitalität ethnischer Gruppen in der amerikanischen Gesellschaft erschienen (z.B. Peter Schrag, 1970: The Decline of the WASP ; Michael Novak, 1978: The Rise of the Unmeltable Ethnics). Sie sind jedoch nicht wissenschaftlich analytisch, sondern in narrativer Form für ein breites Publikum geschrieben, so dass sie für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung wenig geeignet sind. Die Publikation von Glazer und Moynihan stellt, soweit dem Autor bekannt ist, die einzige wissenschaftliche Monographie zu diesem Thema dar. Eine retrospektive Bewertung der Theorie des ethnischen Pluralismus ist in dem Buch von Stephen Steinberg „The Ethnic Myth“ von 1989 zu finden, das 26 Jahre nach der Publikation von Glazer und Moynihan erschienen ist. Steinberg vertritt darin die Gegenposition zur These von Glazer und Moynihan, dass die Ethnisierung der amerikanischen Gesellschaft ein Zeichen der ethnischen Krise ist. Die ethnische Kultur ist nach Auffassung von Steinberg in der dritten und vierten Generation kaum authentisch erlebbar, weil die Angehörigen dieser Generationen durch interethnische Ehen weitgehend in die Mehrheitsgesellschaft assimiliert werden. Das Hauptproblem der amerikanischen Gesellschaft besteht daher in der sozialen Ungleichheit und in den Klassenunterschieden, die zwischen den ethnischen Gruppen zu finden sind, und weniger in der ethnischen Gruppenbildung selbst. Es kommt somit primär auf die Wirtschaftspolitik an, die diese Klassenunterschiede beseitigen kann. Die Theorie des ethnischen Pluralismus geht de facto von dem Vorhandensein der Klassenunterschiede zwischen den ethnischen Gruppen aus und übersieht die Tatsache, dass die benachteiligten ethnischen Gruppen, die besonders große Integrationsprobleme auf- Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="280"?> 271 zuweisen haben, tendenziell stärker als andere Gruppen an ihrer Ethnizität festhalten. Eine sachgerechte Bewertung beider Positionen muss von der Feststellung ausgehen, dass die Ethnisierung der amerikanischen Gesellschaft eine frustrierte Reaktion ethnischer Minderheiten gegenüber der offiziellen Integrations- und Assimilationspolitik darstellt. Die Minderheiten haben über Jahrzehnte vergeblich versucht, durch Anpassung an die Standards der anglo-protestantischen Gesellschaft soziale Gleichheit zu erreichen. Die ausschließliche kulturelle Ausrichtung des Multikulturalismus wird diese soziale Gleichheit kaum bewirken können. Im Alltagsleben der Gesellschaft kommt es vielmehr darauf an, dass allen ethnischen Gruppen gleiche Chancen und Rechte in allen gesellschaftlichen Bereichen zugestanden werden. Die sozioökonomische Angleichung der Lebensverhältnisse ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die ethnische Kultur im privaten Bereich ausgelebt werden kann. Kulturelle Vielfalt kann nur unter dieser Voraussetzung zur Quelle gesellschaftlichen Reichtums werden (vgl. Petrus Han, 2005, 376). Hasia R. Diner (1983) und Evelyn Nakano Glenn (1986) gehen in ihrer Theorie auf die Arbeitsmigration der irischen und japanischen Frauen in der zweiten Hälfte des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA ein. Sie zeigen dabei auf, dass materielle Armut, berufliche Perspektivlosigkeit und restriktive patriarchalische Sozialverfassung die zentralen Push-Faktoren für die Emigration irischer und japanischer Frauen waren. Diese Frauen folgten der Nachfrage privater Haushalte nach billigen Arbeitskräften bzw. dem individuellen Heiratsangebot japanischer Männer nach Amerika. Zentral für beide Ansätze ist die Betonung der wirtschaftlichen und reproduktiven Rolle, die die Frauen trotz ihrer gesellschaftlichen und familialen Unterordnung für die ethnische Familie gespielt haben. Durch ihre Erwerbsarbeit im Bereich der „domestic work“ haben sie zum Überleben der Familie beigetragen. Sie waren diejenigen, die den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt und die Tradierung der Heimatkultur zur nächsten Generation trotz widriger Umstände sichergestellt haben. Beide Ansätze liefern wertvolle theoretische Sichtweisen und analytische Grundlagen für einen systematischen Zugang zum weltweiten Prozess der Feminisierung der Migration, der seit den 1980er Jahren einsetzt und in Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="281"?> 272 seinem Ausmaß kontinuierlich zunimmt (siehe Han, Petrus: 2003: Frauen und Migration. UTB 2390). Theorien zum Transnationalismus und zu Transmigranten in den USA nehmen Bezug auf die neue Entwicklung in der Migration, die wesentlich auf den Prozess der Globalisierung der Wirtschaft und auf die Entstehung regionaler Migrationssysteme zurückzuführen ist. Wie die wirtschaftliche und politische Gemeinschaftsbildung der EU zeigt, entstehen heute in mehreren Weltregionen ähnlich konzipierte regionale Gemeinschaften auf der Basis von relativ ähnlichen und engen geographischen, kulturellen, religiösen, geschichtlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zwischen mehreren Nationalstaaten in regionalen Räumen, um gemeinsam wirtschaftliche und politische Ziele zu verfolgen. Die neuen Herausforderungen, die die Globalisierung der Wirtschaft für alle Länder mit sich bringen, scheinen solche Gemeinschaftsbildungen zu fördern und zu begünstigen. Solche Gemeinschaftsbildungen stellen je für sich ein regionales Migrationssystem dar, innerhalb dessen die Migrationshäufigkeit steigt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Freizügigkeit der Bewegungen von Kapital, Waren, Arbeitskräften und Technologien innerhalb solcher regionalen Gemeinschaften unumgänglich werden. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Migration von Arbeitskräften zunimmt. Dies löst dann eine Entwicklung aus, in der die Arbeitsmigranten innerhalb ihrer zugehörigen Gemeinschaft multilokale Bezugspunkte (z.B. Familienmitglieder können in verschiedenen Regionen bzw. Ländern leben und arbeiten) entwickeln. Dies führt schließlich dazu, dass Menschen mit multilokalen Bezugspunkten dazu tendieren, sich nirgendwo festzulegen, weil sie gleichzeitig in verschiedenen Orten involviert bleiben. Sie bauen Brücken zwischen den Orten, indem sie kulturelle, politische, wirtschaftliche und soziale Netzwerke aufbauen. Sie sehen jedoch überall dort, wo sie involviert werden, nicht die Notwendigkeit, sich zu assimilieren. Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieser Prozess die Bildung von entterritorialisierten Nationen und Nationalstaaten ermöglichen kann. Die theoretische Position zu Transnationalismus und Transmigranten, die Linda Basch, Nina Glick Schiller, Cristina Szanton Blanc vertreten, nimmt Bezug auf diese neue Entwicklung in ausgewählten karibischen Ländern. Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="282"?> 273 Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie zur Migration von Michael J. Piore sieht in der Nachfrage der Industrieländer nach gering qualifizierten Arbeitskräften die Ursache für die internationale Arbeitsmigration. Er begründet die Entstehung dieser Nachfrage durch seine Theorie des dualen Arbeitsmarktes. Er geht davon aus, dass der sekundäre Arbeitsmarkt in den Industrieländern seinen Bedarf an Arbeitskräften nicht abdecken kann, weil die einheimischen Arbeitnehmer für den sicheren, gut bezahlten und höhere Qualifikationen voraussetzenden primären Arbeitsmarkt vorbehalten bleiben. Diese Begründung unterstellt stillschweigend, dass der primäre Arbeitsmarkt in den Industrieländern seinen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften durch einheimische Arbeitskräfte voll abdecken kann. Diese theoretische Betrachtung ist aus heutiger Sicht überholt und nicht mehr zutreffend. Die rasante Entwicklung technischer Innovationen führt zur steigenden Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften in Produktion und Dienstleistung gerade in den Indistrieländern. Diese können der Nachfrage schon deswegen nicht angemessen nachkommen, weil die überaus lang dauernde Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte in der Regel dem realen Bedarf nachhinkt. Um dieses „time-lag“ zu verkürzen bzw. zu überwinden, sind die Industrieländer heute darauf angewiesen, qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben. Die Industrieländer stehen mehr denn je im Wettbewerb bei der Anwerbung von hoch qualifizierten Fachkräften, wie sich dies die Green-Card-Regelung für IT-Fachleute in Deutschland gezeigt hat. Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie zur Migration von George J. Borjas sieht in der Nachfrage der Industrieländer nach Arbeitskräften die zentrale Ursache der Arbeitsmigration. Er tritt dabei wegen der fiskalischen Belastungen des Wohlfahrtsstaates und der positiven Verteilungseffekte des Volkseinkommens für eine Einwanderungspolitik ein, die ausschließlich die Immigration qualifizierter Arbeitskräfte sicherstellt und zugleich die Zahl der Immigranten auf ein wirtschaftlich zulässiges Ausmaß reduziert. Diese Einwanderungspolitik bedeutet, dass die Nachfrage der Industrieländer nach qualifizierten Arbeitskräften den Prozess der Arbeitsmigration auslöst. Dieser Ansatz unterstellt unausgesprochen, dass die Industrieländer keinen Bedarf an gering qualifizierten Arbeitskräften haben. Diese Sicht ist deswegen einseitig, weil die ein- Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="283"?> 274 heimischen Arbeitnehmer in den Industrieländern zunehmend zum primären Arbeitsmarkt abwandern und dadurch einen sozialen Aufstieg anstreben. Sie lehnen die Arbeiten, die geringe Qualifikationen voraussetzen und daher mit geringer Entlohnung verbunden sind, auch aus Prestigegründen ab, oft sogar trotz drohender oder faktischer Arbeitslosigkeit. Damit besteht in den Industrieländern ein zunehmend größer werdender Bedarf an gering qualifizierten Arbeitskräften, der durch die Einheimischen nicht befriedigt werden kann, wie die Theorie des dualen Arbeitsmarktes von Michael J. Piore darstellt. Trägt man die Argumente beider Theorien zusammen, so liefern sie in ihrer gegenseitigen Ergänzung ein wichtiges theoretisches Instrumentarium, das gut geeignet ist, die derzeit eintretenden globalen Entwicklungen auf dem internationalen Arbeitsmarkt im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration zu beleuchten. Sie wurden auch deswegen für dieses Buch ausgewählt, weil sie ohne Anwendung abstrakter und mathematischer Formeln, die in der wirtschaftswissenschaftlichen Migrationstheorie oft verwendet werden, die komplexen wirtschaftlichen Zusammenhänge verständlich erklären und sie für Jedermann zugänglich machen. Die Theorien zur Migration aus Sicht der Systemtheorie stellen die aktuellsten Bezüge zu den markanten Prozessen her, die im Zuge der Globalisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft in der Gegenwart stattfinden. Dabei liefert Immanuel Wallerstein durch seine Forschung über die Entstehung der Weltwirtschaft und des Weltsystems im Europa des 16. Jahrhunderts den grundlegenden systemtheoretischen Rahmen zur globalen Wirtschaft unserer Zeit. Seine Einteilung der Weltwirtschaft in drei wirtschaftlich unterschiedlich entwickelte Zonen ist grundlegend für die Analyse der subtilen wirtschaftlichen Verflechtungen der heutigen kapitalistischen Weltwirtschaft. Die analytische Zweiteilung der heutigen Weltwirtschaft in Zentren und Peripherien ist ihm zu verdanken. In Anlehnung an die systemtheoretische Betrachtung von Immanuel Wallerstein legen Alejandro Portes und John Walton ihren theoretischen Schwerpunkt auf Strukturen und Prozesse, die in den Zentren der kapitalistischen Weltwirtschaft stattfinden, weil diese sich nach ihrer Auffassung unmittelbar auf die Strukturen und Prozesse in den Peripherien auswirken. Ein zentrales Beispiel hierfür ist, so Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="284"?> 275 die Auffassung von Portes und Walton, in dem ungleichen Austausch (unequal exchange) zwischen den Zentren und Peripherien zu sehen. Durch diesen ungleichen Austausch wird wirtschaftlicher Überschuss in den Peripherieregionen produziert und in Form des internationalen Handels zu den Zentren transferiert, so dass de facto eine kapitalistische Enteignung des Überschusses durch die Zentren stattfindet. Portes und Walton zeigen auf, dass die Produktion dieses Überschusses durch die Ausbeutung sowohl der Arbeitskraft der Migranten in den Zentren als auch der in den Peripherien erfolgt. Die Tatsache, dass die Arbeitskräfte in den Peripherien trotz Ausbeutung überleben können, ist nach Auffassung von Portes und Walton auf die informelle Wirtschaft zurückzuführen, in der die Reproduktionskosten der Arbeiter durch die Entwicklung informeller und solidarischer Überlebensstrategien auf ein Minimum reduziert werden. Die reale Bedeutung der informellen Wirtschaft für die Klassenbildung innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems der Welt wird daher in der Theorie von Portes und Walton besonders hervorgehoben. Migration bzw. Arbeitsmigration wird in diesem Zusammenhang von der traditionellen und bipolaren Betrachtungsweise abgelöst und als Aspekt der internen Dynamik des gesamten kapitalistischen Weltsystems dargestellt. Die Theorie zur neuen strategischen Rolle der globalen Städte von Saskia Sassen zeigt auf, dass in den Industrieländern seit 1960 ein kontinuierlicher Prozess der Deindustrialisierung und Dezentralisierung der Produktion unter der gleichzeitigen Zentralisierung der Besitzverhältnisse eintritt. Dabei löst die Zentralisierung der Besitzverhältnisse zwei Subprozesse der geographischen Streuung (spatial dispersion) und globalen Kontrolle der dezentralisierten Produktionsstätten und Arbeitskräfte aus. Um die genannten Prozesse in der globalen Wirtschaft adäquat analysieren zu können, hält Sassen die Entwicklung eines theoretischen Konzepts zur steigenden Mobilität des Kapitals für zwingend notwendig, weil die genannten Prozesse nur unter der Bedingung der akzelerierenden Mobilität des Kapitals möglich sind. Globale Städte sind Konzentrationspunkte der globalen Steuerung und Kontrolle, Produktionsstätten und Marktorte der „producer services“, die für die Herstellung der „global capability“ der transnationalen Großunternehmen und Organisationen benötigt werden. Vor diesem Hintergrund er- Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="285"?> 276 halten globale Städte in der Weltwirtschaft eine völlig neue strategische Bedeutung. Damit zusammenhängend ist die Entwicklung zu sehen, dass in den globalen Städten nicht nur die Konzentration von transnationalen Firmenzentralen, sondern auch die junger, hoch qualifizierter und gut verdienender Spitzenfachkräfte aller Fachrichtungen eintritt. Diese Fachkräfte entwickeln einen luxusorientierten „lifestyle“ und lösen damit einen Prozess der „gentrification“ aus, der den Immigranten im Bereich der informellen Wirtschaft Gelegenheits- und Teilzeitarbeiten bietet. Alejandro Portes, John Walton und Saskia Sassen stimmen darin überein, dass die kapitalistische Enteignung des Überschusses sowie die Prozesse, die die Globalisierung der Wirtschaft in der Gegenwart auslösen, weltweit zur wachsenden sozialen Ungleichheit führen. Selbst in den Zentren und globalen Städten wächst die soziale Ungleichheit, indem die räumliche, wirtschaftliche und soziale Polarisierung zwischen der Bevölkerungsgruppe, die am Vorteil der Globalisierung partizipieren kann, und der Bevölkerungsgruppe, die keine Chance hat, daran teilzuhaben, wächst. Sie stimmen auch in der Bewertung der informellen Wirtschaft überein. Für sie bedeutet die informelle Wirtschaft nicht nur den wirtschaftlichen Raum, in dem die Migranten eine Reihe solidarischer Strategien zur billigen Versorgung mit Bedarfsgütern entwickeln und dadurch trotz des geringen Verdienstes überleben können, sondern zugleich ein Produkt des entwickelten Kapitalismus. Der Kapitalismus wiederum nutzt die informelle Wirtschaft dazu, einerseits die wirtschaftliche Überschussproduktion zum Vorteil der Zentren sicherzustellen und andererseits die durch die formale Bürokratie auferlegte Rigidität der Produktionsvorschriften aufzuweichen. Die systemtheoretisch orientierten Migrationskonzepte liefern wertvolle Hinweise auf die subtilen Zusammenhänge der globalisierten Wirtschaft. Sie verdeutlichen zugleich, dass die Arbeitsmigration zu einer Funktion der akzelerierenden Mobilität des Kapitals geworden ist. Die Bewertung der interdisziplinären Migrationstheorien, die bisher in der Reihenfolge der Inhaltsgliederung vergleichend vorgenommen wurde, erlaubt in ihrer Gesamtheit einige abschließende Schlussfolgerungen. Erstens kann festgehalten werden, dass der soziologische Ansatz der Migrationstheorien von der anfänglich indi- Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="286"?> 277 vidualisierenden und Kultur betonenden Sichtweise zur pluralistischen Betrachtungsweise übergegangen ist, in deren Mittelpunkt nun nicht die Kultur, sondern Rasse, Religion und Wirtschaft zu stehen scheinen. Wie die Ausführungen zum ethnischen Pluralismus gezeigt haben, werden die Ethnizität und Nationalität der Minderheiten letztlich in Rassengruppen (z.B. Asian-American, Hispanic-American, Afro-American) und Religionsgruppen (z.B. Katholiken, Protestanten, Juden) integriert und nivelliert. Dabei scheint es entscheidend auf die Wirtschaftspolitik anzukommen, die die Klassengegensätze und soziale Ungleichheit beseitigen kann. Zweitens kann die transnationale Sichtweise der Migration, die bisher in den USA von Ethnologen, Anthropologen und auch von Soziologen nur theoretisch konzipiert wird, zur gesellschaftlichen Realität werden, wenn die Bildung regionaler Migrationssysteme (z.B. die Ost-Erweiterung der EU und die nach der Übergangsregelung vorgesehene Freizügigkeit der Bewegungen von Personen) in ihrer Zahl weiter zunimmt. Diese Entwicklung würde zur Relativierung der nationalen Kulturen in dem Ausmaß führen, in dem die Zahl der Transmigranten steigt, die multilokale und transkulturelle Bezüge herstellen und ihr Leben entsprechend einrichten. Bei ihnen wird die Einsicht wachsen, dass eine völlige Inkorporation in die Residenzgesellschaft weder möglich noch wünschenswert ist. Die dabei entstehende Frage, inwiefern die Bildung der entterritorialisierten Nationen bzw. Nationalstaaten (z.B. doppelte Staatsbürgerschaft, politisches Wahlrecht für ehemalige Staatsbürger, die in Diaspora leben) konkrete Wirklichkeit werden kann, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. Die dritte Schlussfolgerung besteht darin, dass die wirtschaftstheoretische Erklärung der Migration eher bei den makroökonomischen Theorien (z.B. strukturell bedingte Nachfrage nach Arbeitskräften in den Industrieländern) zu suchen ist als im mikroökonomischen und individuell-rationalen Entscheidungsmodell der neoklassischen Wirtschaftstheorie (z.B. individuelle Nutzung der regionalen Lohndisparitäten durch die Migration). Die individuellen Entscheidungen werden angesichts der restriktiven Migrationspolitik der Aufnahmeländer an Bedeutung verlieren. Die Migrationspolitik der Aufnahmeländer ist seit jeher und heute verstärkt zu einer Interessenpolitik geworden, die sich zunehmend an fiskal-, wirtschafts- und verteilungspoliti- Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="287"?> 278 schen Kriterien orientiert. Viertens macht die allgemeine Entwicklung zur Globalisierung der Wirtschaft die systemtheoretische Betrachtungsweise der Welt unumgänglich, weil die Welt tatsächlich zu einem einzigen umfassenden Wirtschaftssystem wird. Die rasanten Entwicklungen der modernen Informations-, Kommunikations- und Transporttechnologien haben weltweit die Mobilität, Kontaktmöglichkeiten und die Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches von Menschen in ungeahntem Ausmaß erleichtert und vergrößert. Die Menschen können heute schnell und unabhängig von der geographischen Entfernung notwendige Informationen und nützliche Erfahrungen austauschen und sich nach Bedarf kostengünstig und mit geringem zeitlichem Aufwand hin und her bewegen. Der Eindruck, dass sich die Welt zu einem „globalen Dorf“ (global village) entwickelt (vgl. Arjun Appadurai, 1990, 2), ist mehr als eine Redensart und faktisch zur Realität geworden (vgl. Petrus Han, 2005, 77). Diese Schlussfolgerungen lassen folgende Perspektiven zur Migration zu. Es ist wahrscheinlich, dass in Zukunft die Zahl der regionalen Gemeinschaftsbildungen weiter steigen wird. Die Globalisierung der Wirtschaft macht solche Gemeinschaftsbildungen auf regionaler Ebene für die Nationalstaaten notwendig, um im harten Wettbewerb überleben zu können. Bereits heute ist eine Vielzahl solcher politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaften auf regionaler Ebene zu finden, wie z.B. EU, GUS (Gemeinschaft unabhängiger Staaten), NAFTA (the North American Free Trade Agreement), GCC (Gulf Cooperation Council), APEC (Asia Pacific Economic Cooperation) und ASEAN (Association of South East Asian Nations). Diese regionalen Gemeinschaftsbildungen führen zur regionalen Integration von Nationalstaaten. Die engen politischen und wirtschaftlichen Kooperationen zwischen den Mitgliedsstaaten werden dazu führen, dass die Freizügigkeit der Bewegung von Kapital, Waren, Technologien und Personen innerhalb der Gemeinschaft größer wird. Die regionalen Gemeinschaften bilden somit je für sich ein Migrationssystem (vgl. Petrus Han, 2005, 16-18), innerhalb dessen die Binnenmigrationen beispiellos zunehmen und erleichtert werden. Auf der anderen Seite bringt die Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft, wie der Begriff „Festung Europa“ (fortress Europe) dokumentiert, eine Abschottung nach Außen mit Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="288"?> 279 sich, so dass Migrationsbewegungen von Außen in die jeweilige Gemeinschaft mit allen rechtlichen und administrativen Mitteln unterbunden werden. Diese Ambivalenz ist nicht ohne Folgen für die Arbeitsmarktpolitik der Aufnahmeländer. Eine Konsequenz besteht darin, dass die Arbeitsmigrationen in Zukunft weitgehend innerhalb des jeweiligen Migrationssystems stattfinden, während solche, die über die Grenzen eines Migrationssystem hinausgehen, eher Ausnahmen bleiben werden. Solche Ausnahmen werden etwa in der Anwerbung von hoch qualifizierten Arbeitskräften liegen, die innerhalb des jeweiligen Migrationssystems nicht zu finden sind. Ein Beispiel dafür ist in der neuen Politik der Industrieländer zu sehen, die ausländischen Studierenden die Möglichkeit einräumt, nach erfolgreichem Studienabschluss zu bleiben, wenn sie im Gastland eine Beschäftigung finden. Das am 1.1.2005 in Deutschland in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz sieht in seinem § 16, Abs. 4 vor, dass ausländische Studienabsolventen in Deutschland eine Aufenthalterlaubnis bis zu einem Jahr zwecks Arbeitsplatzsuche erhalten können (vgl. Petrus Han, 2005, 199). Die Frage, ob die Industrieländer den steigenden Bedarf an gering qualifizierten Arbeitskräften durch die Arbeitskräfte abdecken können, die in dem jeweiligen regionalen Migrationssystem verfügbar sind, bleibt offen. Die Einheimischen wandern zum primären Arbeitsmarkt ab und entwickeln durch den generellen sozialen Aufstieg eine gestiegene Anspruchshaltung, so dass sie für die gering qualifizierte Arbeit kaum verfügbar sind. Dies ist arbeitsmarktpolitisch insofern von Bedeutung, als die Bevölkerung in den Industrieländern durch die demographische Verschiebung zunehmend älter und die Zahl der produktiven jungen Arbeitskräfte zunehmend kleiner wird. Die Tatsache, dass heute im Bereich der Altenarbeit und Altenhilfe von einer „Pflegelücke“ gesprochen wird (vgl. Petrus Han, 2003, 160- 161), weil es schwieriger wird, Arbeitskräfte für diesen Bereich zu finden, soll hier exemplarisch für den steigenden und spezifischen Arbeitskräftebedarf in den Industrieländern genannt werden. Insgesamt wird die globale Welt aus einer Vielzahl von regionalen Blöcken bestehen, wobei die Arbeitsmigration nicht nur eine Funktion der Mobilität des Kapitals, sondern auch eine Funktion der interessenorientierten Migrationspolitik der Aufnahmeländer sein wird. Es ist anzunehmen, dass sich die interdisziplinäre Mig- Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="289"?> 280 rationsforschung in Zukunft auch mit diesen Perspektiven der Migration beschäftigen muss, um die anstehenden Probleme aus theoretischer Sicht zu beleuchten und damit Grundlagen und Empfehlungen für politische Entscheidungsprozesse zu geben. Vergleichende Bewertung und Perspektiven <?page no="290"?> 281 Literaturverzeichnis Alba, Richard und Nee, Victor, 1997: Rethinking Assimilation Theory for a New Era of Immigration. In: IMR, 31(4), 826-874 Aleinikoff, Thomas Alexander und Martin, David A, 199: Immigration: Process and Policy. Second Edition. St. Paul, Minn.: West Publishing Co. 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171 Baumwollanbau 92, 101 Baumwollwirtschaft 101 Besitzverhältnisse 213 Bildungsexpansion 99 „black ethnic revival“ 62 „Black Panther“ 62 „Black Power“ 62, 162 Brückenberuf 138 Bürgerkrieg 100-101, 138 Bürgerrechtsbewegung 62, 162, 267-269 „Buraku“ 145 „Bureau of Indian Affairs“ 90 „Civil Rights Movement“ 162 „conflict“ 9, 20, 267 „consumer services“ 257 „contact“ 6, 71, 154 „core“ 6-7, 154 „core areas“ 210, 226-229 „core culture“ 41 „core group“ 41, 63 „core society“ 10, 12, 42, 63 „coerced cash-crop labor” 226-227 „core“-Zone 227 „cultural pluralism“ 10, 29,30, 36 „culture of resistance“ 62 „day work“ 140-141 Sachregister <?page no="302"?> 293 Deindustrialisierung 156, 213 Demographische Verschiedung 279 Deregulierung 254-256 Desozialisierung 46 Dezentralisierung der Büroarbeiten 254 Dezentralisierung der Produktion 252 Diaspora 172 Dizyem-nan 165, 167-168 „domestic service“ 108, 121-124. 126-127, 137-142 „domestic work“ 140-141, 271 Dualer Arbeitsmarkt 129, 185, 186, 210 Ehelosigkeit 111, 119, 122-123 Einkommensverteilung 201 Einwanderungsgesetze 31, 39 Einwanderungspolitik 177, 195, 197-199, 205, 207, 273 „encomienda“ 226, 245 Entfremdung 150 Entwurzelung 150 Entterritorialisierte Nation 162, 272, 277 Entterritorialisierter Nationalstaat 154, 162, 165, 167-168, 172-173, 272, 277 Erbregelung 106 „ethclass“ 29, 36 „ethnic revival“ 63 Ethnische Enklave 206 Ethnische Gruppe 28, 66-67, 87, 91, 95-97, 103-104, 119, 121-124, 129, 157, 270 Ethnische Homogenität 94 Ethnische Identität 96 Ethnische Krise 64, 94 Ethnische Minderheiten 61, 65, 127 Ethnische Nachbarschaft 206 Ethnische Umgebung 206 Ethnischer Pluralismus 63-65, 88, 96-97, 103, 265, 269-270, 277 Ethnisches Fieber 87, 95 Ethnisches Ghetto 206 Ethnisches Kapital 206 Ethnizität 28, 65, 87, 94-97, 125. 158-159, 277 Evolutionstheorie 18 Exklusion 75, 128 Familienzusammenführung 197 Feminisierung der Migration 5, 106-107, 265, 271 Feminismus 124-125 Feministische Frauenbewegung 125 Fernhandel 219 Fertilität 112, 121, 196 Festung Europa 278 Feudale Produktion 226 Feudalismus 218-219, 226 Finanzkapitalismus 235 Finanzimperialismus 235-236, 242 Frauenemanzipation 124 Frauenmigration 126 „Freedmen’s Bureau“ 106-107 Fremdenfeindlichkeit 134 Friedensvertrag im Chateau Cambre’sis 232 „frontier melting pot“ 32 Frühe industrielle Revolution 232 „full-time non-residential domestic service” 140 GCC (Golf Cooperation Council) 278 Geldüberweisung 166, 170, 192 Gelegenheitsarbeit 263 „gender hostility“ 125 „gender inequality“ 142 „gender segregation“ 111, 125 Sachregister <?page no="303"?> 294 „gender subordination“ 143 „Gentlemen’s Agreement“ 134-135 Geographische Konzentration 199-200 Geographische Streuung 213, 251, 255, 257 „gentrification“ 215, 261-262 Geschichte 14-15 Geschlechtliche Arbeitsteilung 107 Geschlechtliche Ungleichheit 142 Geschlechtsstratifikation 130 Geschlechtstrennung 111, 117-118, 120-122, 125 Geschlechtsproportion 135 Gesellschaft 15, 17-18, 27 Gesetze der Kapitalbewegung 235 Getreideanbau 222 Gewerkschaftsbewegung 124 Gewissen 16 „global village“ 278 Globale Integration 213, 251 Globale Städte 213,-214, 251, 257- 258, 260-264, 275 Globalisierung 106, 151, 213-214, 252, 274, 276, 278 „Green-Card-Regelung“ 273 Grenadinen 162 Große Hungerkatastrophe in Irland 106, 109-113, 116, 118-119 GUS (Gemeinschaft unabhängiger Staaten) 278 Gutsherrenwirtschaft 216 Haiti 163-169 Harlem 68 Hausgemeinschaft 134 Haushalt 145 Heimarbeit 241 „Hispanic America“ 211, 226-227 „home work“ 241 Homogenisierung 12 des Beamtentums 211 ethnische 230 kulturelle 230 „houseboys“ 139 Humankapaital 128-130, 175, 196 Humankapitaltheorie 176 Iberische Expansion 223 Ideologie der Ungleichheit 248 „immigrant surplus“ 204 Immigrantenhaushalte 201-202 Imperialismus 235 Indianergruppe 90 „Indien-Politik“ 245 „indentured servitude“ 89 „ Individuelle Freiheit 18 Informelle Wirtschaft 241, 262- 264, 275-276 Informller Sektor der Wirtschaft 238-242 Indianerland 91 Indianerreservat 90-91 Insel Puerto Rico 71 Integration 57, 150 in adaptive Sphäre 58 der expressiven Symbole 60 in kulturelle Sphäre 59 in solidarische Sphäre 59 Integrierte Schule 69 Interethnische Ehe 33-34, 75 Internationaler Handel 237 Internationalisierung des Kapitals 248 Internierungslager 136 Invasion 20, 267 Iren in New York 81 Italiener in New York 75-81 „Italian problem“ 79 Isolationspolitik 132 Sachregister <?page no="304"?> 295 „Issei-Frauen“ 108, 127, 133, 135- 138, 140-145, 147-148 IWF 156, 169-170 Jiddisch 73 Juden 97-99 Juden in New York 72-75, 84-85 „Kaiser von Indien“ 245 Kaisertum Meiji 132 Kampf ums Dasein 18, 20, 23 Kapitalintensive Produktion 185, 208 Kapitalismus 155, 158, 276 Kapitalistische Produktion 226 Kapitalistische Weltwirtschaft 225 Kapitalistische Wirtschaft 227 Kapitalistisches Wirtschaftssystem 228-229 Kettenmigration 115 Klasse 155 Klassenidentität 166 Kollektive Identität 166-167 Kollektive Repräsentation 16 Kollektiver Organismus 15 Kollektives Bewusstsein 7 Kommerzielle Landwirtschaft 222 Komplementäre Produktion 204, 208 Konflikt 18-20, 22-24 Kontrolle 16 Kosten-Nutzen-Analyse 6, 265, 175, 177, 207 Kosten-Nutzen-Kalkulation 195 Kosten der Selbsterhaltung 241 Kriegsbräute 127 Krise des Feudalismus 211 Kultureller Pluralismus 29, 35, 44, 103 Landhunger 89 Landinvasion 240 „laws of motion of capital“ 235 Leibeigenschaft 226 „lifestyle“ 261, 276 „live-in domestic service“ 108, 140, 141 „live-out domestic service“ 108, 140-141 Lohndifferenzen 238 Lohndruck 200, 203 Lohnforderung 236-237 Lohnsubvention 194 „long-distance management“ 252 „manorial economy“ 216 Marginalität 96, 248 Marktlöhne 174 Massenemigration aus Irland 111-112, 118 Massenemigration der Europäer 93 Matriarchat 145 „melting pot“ 10, 30, 32-35, 65, 79, 80, 84-85, 95, 205, 270 „mercernary amies“ 230 Merkantilistische Politk 245 Migration 21, 213, 243 - Arbeits- 6, 106-107, 127-128, 133 - Binnen- 21 der Arbeitskräfte 174, 243 - Forschung 1-2, 8, 63, 150, 153, internationale 174-175 kollektive 21 kolonisierende 243 - Kosten der 175 permanente 187 - Phasen der 44-47, 268 - Politik 277, 279 Sachregister <?page no="305"?> 296 - Siedlungs- 150 - System 277-279 temporäre 187, 191 - Theorien 2-4, 12, 177, 265, 276 transnationale 151, 155 Minderheit 87-88, 127 Mindestlohn 187, 189-190, 238 Mitgift 106, 113-115 Mobilität des Kapitals 214, 253- 256, 275-276 Modernisierung 234, 247 Mulatten 163 Multikulturalismus 173, 271 Multikulturalismusbewegung 269- 279 „Mura“ 145 Nationbildung 159, 167, 171 Nativismus 31, 35 Nativistische Bewegung 31, 39, 266 Neoklassische Wirtschaftstheorie 174-175 Neue internationale Arbeitsteilung 106 „new ethnicity“ 63, 95 „new migration“ 35, 265 „new Spain“ (Mexiko) 245 Nisei-Frauen 108, 127, 135, 137, 141-143, 148 Ökonomische Ungleichheit 264 „old migration“ 32, 265 Orientalische Juden 52 Orthodoxe Juden 73, 75 Osteuropäische Juden 73-74, 98 „Padroni“ 78 Paradigmen 265 Paradigmenwechsel 265 Patrimoniale Ideologie 245, 247 „peripheral areas“ 226 „periphery“ 6-7, 154, 210, 227-228 „periphery“-Zone 227 Perpetuation 23 „petty commerce“ 240 „Pfad der Tränen“ 90 „Pflegelücke“ 279 Phasen der Assimilation 43, 268 Philippinen 169-171 Physiokraten 18 „picture marriage“ 133, 137 Plantagengesellschaft 163 Pluralismus 87-88 Pluralismustheorie 63 Polarisierung der Einkommensverteilung 262 Positivismus 247 Primärer Markt 129, 176-177, 273-274 Primärer Sektor 185-186 „producer services“ 214, 257-259 Psychische Erkrankungen 117, 121, 123 Puertoricaner in New York 70-72 Punktsystem (point system) 199, 208 Quotenregelung 31, 73, 76, 197- 199, 266 „race-relation-cycle“ 9-10, 94, 268 Rassendiskriminierung 139 Rassenidentität 173 Rassentrennung 247, 267, 269 Rassengruppen 277 Rassisch-ethnische Hierarchie 247 Rassische Minderheit 87, 95, 127 Rassische Segregation 104 Rassische Ungleichheit 247 Rassische Vorurteile 267 Rassismus 31, 144 Sachregister <?page no="306"?> 297 Räumliche Polarisierung 260-261 Regionale Gemeinschaftsbildungen 278 Reich 216-217 Rekrutierung 180-182, 190 Religiöse Endogamie 33-34 „remittances“ 166, 192 „repartimiento“ 245 Reproduktionskosten 236, 239 Residentiale Konzentration 51, 73, 200, 206 Residentiale Segregation 206 „Sansei“ 137 „sharecroping“ 227 Schattenwirtschaft 262 Schizophrenie 115, 117, 121 Schmelztiegel 32-33, 41, 65, 83, 87, 97 Schulische Segregation 68-69 Schuldenkrise der Dritten Welt 250 Schwarze Bevölkerung in New York 67-70 Sektorale Gliederung der Wirtschaft 236-237 Sekundärer Markt 130, 176-177, 273 Sekundärer Sektor 185-186 Selbstselektion 22 „semiperiphery“ 6, 210, 227 „semiperiphery“-Zone 227 Sephardim 38, 73 Sequenzmodell 8-9, 149 Sexualmoral 124 Siedlungsverhalten 134 Silberproduktion 222 „single-melting-pot“ 34 Sklaven 92-93 Sklaventum 67, 100 Soziale Gliederung der Wirtschaft 236, 237 Soziale Identität 187 Soziale Interaktion 9, 13, 16, 18- 19, 20, 22, 27, 43, 267 Soziale Klasse 29 Soziale Kontrolle 17, 20, 27, 267 Soziale Ordnung 24, 27 Soziale Organisationen 20, 24, 27 „social physics“ 13 Soziale Probleme 27 Soziale Ungleichheit 6, 269-270, 276 Soziale Unterschicht 248 Sozialer Organismus 15 Sozialer Prozess 17-18, 267 Soziales Kapital 68 Soziologie 13-15, 26-27 Spätehe 123 Spätere Heirat 119, 121 „spatial dispersion“ 251 Strukturelle Separation 41, 43 Struktureller Pluralismus 41, 44 Strukturwandel der Wirtschaft 106 Subunternehmer 241, 263 „survival value“ 23 Symbolisches Kapital 168 Systemtheorie 210- , 274 „target earners“ 177, 187, 190, 191 „target society“ 10 Teilzeitarbeit 263 Textilindustrie 101, 233 „the American Dream“ 97 „The American Irish Historical Society“ 82 „The American Protective Association“ 31, 266 „the global city“ 251 „The Great Famine“ 81, 109 „the Great Migration“ 196 „the national quota system“ 196, Sachregister <?page no="307"?> 298 266 „the piece-rate system“ 241 „The Removal Act“ 90 „the Second Great Migration“ 196 Theologisches Streitgespräch in Valladolid/ Spanien 246 Theorie des ethnischen Pluralismus 5 Theorie des dualen Arbeitsmarktes 6, 176, 273 Theorie des Weltsystems 154, 242, 243 Theorie der Migration von Frauen 5 Theorie zum Transnationalismus und zu Transmigranten 5, 272 „time lag“ 273 „top-level management“ 254, 257 Transmigrant 151, 154, 158, 162, 165, 171, 173, 265, 272, 277 Transmigration 149 Transnationale soziale Felder 153, 157 Transnationalisierung der Besitzverhältnisse 253 Transnationalisierung der Finanzindustrie 214, 250, 253 Transnationalismus 149-157, 265, 272 Tscherokesen 89-90 Überschusskapital 210, 235 Überschusswert 141 Überseekolonialisierung Englands 233 „unequal exchange“ 212, 236, 238, 242-245, 275 „uneven assimilation“ 10 Ungleichheit der Löhne 238 Unterentwicklung 234 „venality of office“ 229 Vincenter 162 „war brides“ 108. 127, 137-138, 142-143, 148 Weidelandwirtschaft 113, 228 Weltsystem 234-235, 238, 241- 244, 248, 274, Weltwirtschaftssystem 6 Weltsystemtheorie 211 Westeuropäischer Feudalismus 218 Wettbewerb 18-20, 22-23, 27, 267 Wettbewerbsdruck 201, 248, 263 Wettbewerbsfähigkeit 237 Wettbewerbslohn 189 Wettbewerbstheorie 190 Wirtschaft in den Zentren 236 Wirtschaft in den Peripherien 236 Wirtschaftliche Risikominimierung 175 Wohlfahrtsstaat 177, 197, 201, 273 Wohlfahrtsstaatliche Leistungen 202 Yishuv 51-54, 59-61, 268 Zahlungsbilanzdefizite 212 Zentralisierung der Besitzverhältnisse 252, 254 Zentrum 216-217 Zentrum-Peripherie-Modell 210 Zionismus 52, 85 Zirkulierende Migration 153 Zuckeranbau 223 Zuckerplantagen 133 Zuwanderungsgesetz 4, 279 Zweite Expansion Europas 233 Zyklenmodell 8-9, 149, 267, 268 Sachregister <?page no="308"?> 299 Personenregister Alba, Richard 9, 11-12 Appadurai, Arjun 278 Arensberg, Conrad 115 Aristide, Jean Bertrand 164-165, 167-168 Basch, Linda 150-151, 152-173, 272 Berkson, Isaac 36 Blan, Cristina Szanton 150-151, 152-173, 272 Borjas, George J. 177, 195-209, 273 Brettel, Caroline B. 2 Burgess, Ernest W. 9-11, 13-28, 266-268 Chant, Sylvia 107 Cohen, Robin 2 Comte, Auguste 13, 15, 26 Darwin, Charles Robert 23 de Las Casas, Bartolome 245 de Sepulveda, Fray Juan Gines 245 Diner, Hasia R. 106, 109-125, 271 Durkheim, Emile 16 Duvalier, Francois 163-165, 167 Einstein, Albert 98 Eisenstadt, Shmuel N. 11, 44-61, 150, 216, 268-269 Esser, Hartmut 9-11 Fishman, Joshua 41 Freud, Sigmund 98 Garramon, Carlos 236 Giddens, Anthony 4 Glazer, Nathan 62-63, 65-85, 269-270 Glenn, Evelyn Nakano 107-108, 126-148, 271 Glick Schiller, Nina 150-173, 272 Gordon, Milton M. 10-11, 28-44, 63, 150, 266-269, Han, Petrus 1, 3, 8. 12, 62-64, 106-108, 150, 152, 266, 269-272, 278-279 Heckmann, Friedrich 266 Hobson, J. A. 235 Hollifield, James F. 2 Hollinghead, A. B. 41 Janvy, Alain de 236 Kallen, Horace 35-36 Kazal, Russel A. 9, 11-12, 63 Kennedy, Ruby Jo Reeves 33-34, 38 Kimball, Solon 115 Lenin, Wladimir I. U. 235 Lim, Lin Lean 107 Marx, Karl 92, 98, 235 Massey, Douglas S. 2-3, 175-177, 211 Moynihan, Daniel Patrick 62-64, 65-86, 269-270 Nee, Victor 9, 11-12 Personenregister <?page no="309"?> 300 Novak, Michel 270 Park, Robert E. 1, 9, 11, 13-28, 94, 266-268 Piore, Michael 176, 178-194, 273 Price, charles 9-10 Pries, Ludger 151 Portes, Alejandro 212, 234-249, 274-276 Radcliffe, Sarah A. 107 Roosevelt, Theodore 33 Rouse, Roger 150 Sassen, Saskia 213, 250-264, 275- 276 Schrag, Peter 270 Saint-Simon,Claude-Henri de Rouvroy, Conte de 13 Smith, Adam 18 Spencer, Herbert 15, 26, 247 Stalker, Peter 266 Steinberg, Stphen 7, 64-65, 87-105 Turner, Frederick Jackson 32 Vander Zanden, J. W. 266 von Aquin, Thomas 245 Walby, Sylvia 107 Wallerstein, Immanuel 7, 154, 211, 212, 216-234, 274 Walton, John 212, 234-249, 274- 276 Weber, Max 248 Whyte, W. F. 78 Wilson, Woodrow 33 Zangwill, Israel 33, 84-85 Personenregister <?page no="310"?> Kurzweilig und anschaulich Hubertus Niedermaier Wozu Demokratie? Politische Philosophie im Spiegel ihrer Zeit 2017, 402 Seiten, Broschur ISBN 978-3-8252-4867-3 Dieses Buch nimmt Sie mit auf einen Streifzug durch die politische Geschichte der Philosophie, um Ihnen so die Grundlagen der Demokratie nahezubringen. Es erzählt diese Geschichte im Kontext der jeweiligen Entstehungszeit und in Bezug auf unsere heutige Gesellschaft. Im Mittelpunkt stehen dabei Gründe für die Entstehung ausgewählter philosophischer Ansätze und deren nachhaltige Bedeutung für unsere heutige Form des Zusammenlebens. Dieses Buch richtet sich an Studierende der Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft und Geschichte. www.utb-shop.de <?page no="311"?> Einstiegs- und Überblickswerk für Studium und Praxis Iris Pufé Nachhaltigkeit 3., überarbeitete Auflage 2017, 322 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-8252-8705-4 Das Thema Nachhaltigkeit ist schon seit einigen Jahren in aller Munde. Doch was bedeutet Nachhaltigkeit überhaupt? Wie wird ein Konzept umgesetzt und mit welchen Instrumenten? Das Buch beantwortet diese und weitere Fragen und macht mit den relevanten Begriffen, Konzepten, Elementen und Themenfeldern von Nachhaltigkeit vertraut. Basierend auf einer geschichtlichen Herleitung des Konzeptes werden konkrete Schwerpunkte und Anwendungsbereiche vorgestellt. Durch die integrative Betrachtung ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte wird damit der Vielschichtigkeit, Komplexität und dem großen Einsatzspektrum von Nachhaltigkeit Rechnung getragen. Die 3. Auflage wurde u.a. um die drei Leitstrategien der Nachhaltigkeit - Suffizienz, Konsistenz und Effizienz erweitert. Bei der Behandlung der Nachhaltigkeit in Unternehmen wurde der Abschnitt Ökoeffizienz und -effektivität sowie Sozioeffizienz und -effektivität ergänzt. Neben generellen Aktualisierungen der Inhalte wurden viele empfehlenswerte Links und Hinweise aufgenommen - wie etwa zu Verbraucherschutzportalen oder zu lehrreichen Videos. www.utb-shop.de