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Fachsprachen

Die Konstruktion von Welten

0813
2018
978-3-8385-4962-0
978-3-8252-4962-5
UTB 
Kirsten Adamzik

Informationsexplosion, Verwissenschaftlichung, Wissensgesellschaft - angesichts solcher Schlagworte besteht kein Zweifel, dass Fachsprachen eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft zukommt. Zugleich lassen sie erkennen, dass fachsprachliche Elemente nicht (mehr) als Teile exotischer Ausdruckssysteme zu behandeln sind, die von Experten für Experten geschaffen wurden. Dieser Band nimmt die Perspektive von Nicht-Experten ein und präsentiert Fachsprachen als hochgradig variable und dynamische Ausdruckssysteme, an denen ständig weitergearbeitet wird. Er wendet sich an fortgeschrittene Studierende, die neben dem Grundlagenwissen gängiger Einführungen auch am Nachdenken über die Methoden und Theorien der Fachsprachenforschung Interesse haben und bereit sind, über die Grenzen ihres Faches hinaus gesellschaftliche Zusammenhänge zu erfassen.

<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-cejgcf! ISBN 978-3-8252-4962-5 Kirsten Adamzik Fachsprachen Die Konstruktion von Welten Informationsexplosion, Verwissenschaftlichung, Wissensgesellschaft - angesichts solcher Schlagworte besteht kein Zweifel, dass Fachsprachen eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft zukommt. Zugleich lassen sie erkennen, dass fachsprachliche Elemente nicht (mehr) als Teile exotischer Ausdruckssysteme zu behandeln sind, die von Experten für Experten geschaffen wurden. Dieser Band nimmt die Perspektive von Nicht-Experten ein und präsentiert Fachsprachen als hochgradig variable und dynamische Ausdruckssysteme, an denen ständig weitergearbeitet wird. Er wendet sich an fortgeschrittene Studierende, die neben dem Grundlagenwissen gängiger Einführungen auch am Nachdenken über die Methoden und Theorien der Fachsprachenforschung Interesse haben und bereit sind, über die Grenzen ihres Faches hinaus gesellschaftliche Zusammenhänge zu erfassen. Sprachwissenschaft Fachsprachen Adamzik Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 49625 Adamzik_M-4962.indd 1 16.07.18 13: 43 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 0000 UTB (M) Impressum_18.indd 1 22.05.18 09: 22 u t b 4 9 6 2 <?page no="2"?> Prof. Dr. Kirsten Adamzik ist Inhaberin des Lehrstuhls für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Genf. <?page no="3"?> Kirsten Adamzik Fachsprachen Die Konstruktion von Welten A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: „Edinburgh, Royal Observatory Library“ © Alessandro Caproni (www.flickr.com/ photos/ weyes/ 18005006546/ ) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany utb-Nr. 4962 ISBN 978-3-8385-4962-0 <?page no="5"?> 5 Inhalt Abkürzungen / Hinweis zur Textgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1. Angewandte Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2. Sprachtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.3. Deskriptive Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.4. Von der Innensicht zur Außensicht: Durchschnittsmenschen . . . 33 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.1. Der alltagsweltliche Umgang mit sprachlichen Auffälligkeiten . . 39 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.2.1. Der Faktor Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.2.2. Der Faktor Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.2.3. Der Faktor Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.2.4. Der Chamäleon-Faktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.2.5. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.3. Empirische Untersuchung sprachlicher Variation . . . . . . . . . . . . . 72 2.4. Der Faktor Fach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 114 3.2.1. Zur Krise der gesellschaftlichen Kommunikation . . . . . . . 114 3.2.2. Informationen zu Wissens- und Informationsgesellschaft aus der Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3.2.3. Informations- und Wissensgesellschaft aus Sicht der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3.3. Wege zum Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? . . . . . . . . . . . . . 163 4.1. Vorbemerkungen zum Problemfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4.2. Fächerklassifikationen aus historischer und theoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4.3. Fächergliederungen aus fachsprachenlinguistischer Perspektive . 177 <?page no="6"?> 6 Inhalt 4.4. Systematisierungen in praktischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 4.5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 5. Fächer als diskursive Konstrukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5.2. Denkkollektive und Paradigmenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 5.3.1. Zur situativen Dimension fachlicher Texte: offizielle und inoffizielle Wirklichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 5.3.2. Übersicht über relevante situative Faktoren . . . . . . . . . . . . 249 5.3.3. Relationen zwischen Texten und Textsorten . . . . . . . . . . . . 259 5.3.4. Ausgewählte Handlungsfelder und Aufgaben . . . . . . . . . . . 277 5.4. Fachwörter aus Fachtexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 5.4.1. Grundlegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 5.4.2. Arten von Fachausdrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen . . . . 310 6. Zum Schluss: Was ist an Fachsprachen interessant? . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 <?page no="7"?> 7 Abkürzungen Abkürzungen BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung (www.bmbf.de) DDC Dewey Decimal Classification (www.ddc-deutsch.de/ Subsites/ ddcdeutsch/ DE/ Home/ home_node.html) DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft (www.dfg.de/ ) DeReKo Das Deutsche Referenzkorpus: (www1.ids-mannheim.de / kl / projekte / korpora/ ) DUW Duden Deutsches Universalwörterbuch DWDS Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart (www.dwds.de/ ) FS Fachsprache(n) GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung (www.gsi.de) HRK Hochschulrektorenkonferenz (www.hrk.de) HSK Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (www.degruyter.com/ view/ serial/ 16647) IDS Institut für Deutsche Sprache (www1.ids-mannheim.de / index. php? id=1) IUPAC International Union of Pure and Applied Chemistry (https: / / iupac.org/ ) KMK Kultusministerkonferenz (www.kmk.org) OWID Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch (www.owid.de/ ) UDC Universal Decimal Classification (www.udcc.org/ ) Hinweis zur Textgestaltung In dieser Schrift erscheinen Passagen, die v. a. Beispiele und Zusatzinformationen enthalten und die bei diagonaler Lektüre übersprungen werden können. <?page no="8"?> Einem Apfel ist genausowenig oder genausoviel an Fachlichkeit eigen-- als natürlicher Eigenschaft-- wie einem Fernsehturm, einem Automotor oder einer Blinddarmoperation.-[…] Man kann über einen Gegenstand-- z. B. einen Apfel-- kommunizieren als Genießer, Hungriger, Obstfreund, Vegetarier, Biobauer, LKW-Spediteur, Supermarktkäufer, Marktverkäufer, Schulkind, Zigaretten-Neuabstinenzler, Chemiker, Biologe, Umweltschützer, Theologe (Eva! ), Lehrer, EG-Kommissar, Mediziner, Semiotiker (Symbolwert! ) usw.- - erst durch das Sprechen über den Apfel wird klar, wie er von dem Sprecher gesehen wird, welche fachliche Sichtweise der Sprecher einnimmt. (Hartwig Kalverkämper 1998b: 31) <?page no="9"?> 9 Hinweis zur Textgestaltung 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? Das vorangestellte Motto zeigt an einem einfachen Beispiel, dass wir uns Gegenständen unter verschiedenen Perspektiven nähern können. Das gilt natürlich auch für die Sprache und Einzelsprachen. Ein Blickwinkel stellt deren Variabilität in den Vordergrund, den Tatbestand nämlich, dass eine einzelne Sprache immer noch ein breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten bietet. Anders gesagt: Einzelsprachen wie das Deutsche stellen keine homogenen Systeme dar, sondern sie sind in sich heterogen. In der deutschen Linguistik spricht man heute in der Regel davon, dass sie eine Anzahl von Varietäten umfassen. Unter diesen sind die Fachsprachen besonders wichtig, sowohl hinsichtlich ihrer Anzahl als auch entsprechend der Menge spezifischer Sprachmittel, der Fachwörter, und der Menge und Vielfalt von Texten, in denen Fach(sprach)liches eine Rolle spielt. Angesichts der Bedeutung von Fachsprachen ist es nicht erstaunlich, dass sich die darauf bezogene Forschung in den letzten Jahrzehnten sehr stark entwickelt hat (vgl. v. a. HSK 14 und Roelcke 2010). In der öffentlichen Diskussion um die deutsche Sprache spielen Fachsprachen dagegen kaum eine Rolle. Eine Repräsentativumfrage zu Spracheinstellungen aus dem Jahr 2008 ermittelt auch „wahrgenommene Veränderungen“. Bei den Befragten stehen neben der Orthografiereform der Einfluss fremder Sprachen und die Jugendsprache an vorderster Stelle. An Fachsprachen hat allenfalls ein Prozent gedacht, wenn man dies unter der Kategorie Soziolekte vermuten darf (vgl. Projektgruppe Spracheinstellungen 2011: 37). Beispiele aus Fachsprachen hatten aber vielleicht manche im Sinn, deren Antworten in den Rubriken Lexikalische Abkürzungen und Veränderter Umfang des Wortschatzes abgebucht sind. Jedenfalls ist ganz sicher, dass ‚Akü-Wörter‘ für Fachsprachen besonders charakteristisch sind. Man denke an DSL , ASDL , ISDN , IP , VPN , HTML , TCP , WAN , LAN , W- LAN , UMTS , HSDPA , um nur einige Beispiele aus der digitalen Technik zu erwähnen. Die Menge der Fachwörter übersteigt auch bei weitem den Umfang des ‚normalen Wortschatzes‘ und in den Fächern entstehen kontinuierlich die meisten neuen Wörter: „Ohne die Fachwörter-[…] nimmt man 300.000-500.000 deutsche Wörter an, mit den Fachwörtern sind es 5-10 Millionen.“ (Römer / Matzke 2010: 1) <?page no="10"?> 10 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? Die genannten Beispiele zeigen auch, dass der stark wahrgenommene Einfluss des Englischen gerade die Fachkommunikation betrifft: Alle oben angeführten Kürzel entsprechen englischen Syntagmen. Das merkt man allerdings nicht, wenn man die Kürzel benutzt, wahrscheinlich können viele sie auch gar nicht (korrekt) auflösen. Das braucht man auch nicht, wenn man selbst die Geräte und Dienste bloß nutzen will. Nicht nur die Technik entwickelt sich in einem wahrhaft atemberaubenden Tempo. In fast allen Spezialgebieten arbeiten und forschen mehr Menschen denn je und türmen Informationsberg über Informationsberg auf. Noch dazu entstehen unentwegt neue Disziplinen und Subdisziplinen für immer spezialisiertere Gebiete. Dieser Prozess zieht sich schon seit langem hin. Allerdings hat das nicht nur auf das öffentliche Bewusstsein von Sprachentwicklungen einen erstaunlich geringen Einfluss gehabt. Auch im schulischen Sprachunterricht (vgl. dazu Roelcke 2009) und sogar im Curriculum der (germanistischen) Sprachwissenschaft stoßen Fach- und Wissenschaftssprachen auf viel weniger Interesse als z. B. Dialekte, Jugend- oder Werbesprache (vgl. dazu weiter 2.1.). So gibt es eine ganze Reihe viel benutzter oder neuer Einführungen in die Linguistik, in denen nicht einmal im Register das Stichwort Fachsprache erscheint. Wenn es- - in der Regel im Kapitel zu Varietäten oder zur Soziolinguistik-- mitbehandelt wird, so doch nicht als besonders zentrale Varietät bzw. Varietätenmenge. Einen festen Platz hat das Thema lediglich in der Ausbildung von Übersetzern und Dolmetschern. Denn diese Berufsgruppe muss auf die kommunikative Praxis vorbereitet sein, die in allen möglichen Bereichen anfällt. Und dabei spielt Fachliches eben sehr häufig eine Rolle. Es ist also eine Diskrepanz zu konstatieren zwischen der Bedeutung des Gegenstandes sowie der Intensität seiner Erforschung einerseits und seiner zumindest etwas randständigen Behandlung in elementaren wissensaufbereitenden Darstellungen zur Sprachwissenschaft andererseits. Sie erklärt sich sicherlich zunächst aus der Schwierigkeit, dieses extrem komplexe Feld systematisch in den Griff zu bekommen. Es handelt sich um „ein ausgesprochen ungeordnetes Gebiet“ (Roelcke 2010: 7). Roelcke erklärt dies auch damit, dass die Beschäftigung mit Fachsprachen „die längste Zeit allein in den einzelnen Fachbereichen selbst erfolgte“ (und zweifellos auch weiterhin erfolgen wird) und die „eigentliche [lies: linguistische] Fachsprachenforschung-[…] eine verhältnismäßig junge und noch unselbständige Disziplin“ (ebd.) darstellt. Denkt man an die Vielfalt der zu untersuchenden Disziplinen-- letzten Endes sind dies <?page no="11"?> 11 1.1. Angewandte Linguistik ja alle Fächer, die es überhaupt gibt-- stellt sich allerdings die Frage, worin der besondere Gegenstand linguistischer Fachsprachenforschung bestehen sollte und wie sie als eigenständige Disziplin zu konzipieren wäre. Könnte dies auf etwas anderes hinauslaufen als die Zusammenschau von Untersuchungen unter sehr unterschiedlichen Perspektiven? Roelcke (2010: 14 ff.) selbst rechnet mit drei Fachsprachenkonzeptionen. Sie entsprechen zugleich Phasen der linguistischen Fachsprachenforschung, von der frühestens seit den 1950er Jahren gesprochen werden kann. Die erste folge einem „systemlinguistischen Inventarmodell“, sie fasse Fachsprachen als Zeichensysteme auf. Dem „pragmalinguistischen Kontextmodell“, das Fachsprachen als Textäußerungen begreife, schreibt er besondere Vorzüge zu, gerade weil es stark interdisziplinär orientiert sei. Eben deswegen drohe es aber auch „genuin fachsprachenlinguistische Fragestellungen zu verwässern“ (ebd.: 22). Die neueste Entwicklung stellt für ihn das „kognitionslinguistische Funktionsmodell“ dar. Roelcke zeichnet damit für die Fachsprachenforschung Schwerpunktverschiebungen nach, die die Linguistik des 20. Jahrhunderts überhaupt kennzeichnen und als Umbrüche rekonstruiert werden: Systemlinguistik- - pragmatische Wende- - kognitive Wende. Im 21. Jahrhundert 1 ist zudem besonders häufig vom cultural turn und sozialen Praxen die Rede, womit auch eine soziologische Perspektive ins Spiel kommt. Mir scheint es sinnvoll, als Hintergrund eine Einteilung zu wählen, die weniger eng an die relativ kurzen Phasen der jüngsten Disziplinentwicklung gebunden ist: Sprachtheorie (bzw. theoretische) gegenüber Angewandter Linguistik sowie deskriptive (gegenüber präskriptiver) Sprachwissenschaft. Zur ersten gehören auch sprachphilosophische Fragen, die seit der Antike bearbeitet werden. Das Selbstverständnis, eine deskriptive Wissenschaft zu sein, kennzeichnet besonders stark die Linguistik des 20. Jahrhunderts. 1.1. Angewandte Linguistik Angewandte Linguistik existiert unter dieser Selbstbezeichnung seit den 1950er / 60er Jahren. Heute handelt es sich um ein sehr weites Feld (vgl. Knapp et al. 2011), insofern man dazu alle sprachwissenschaftlichen Arbeiten rechnen kann, die irgendeine Praxisrelevanz haben. Dabei erscheint Angewandte Linguistik sozusagen als Gegenkonzept zur Systemlinguistik, die sich allein mit 1 Roelckes Werk ist in 1. Auflage 1999 erschienen. <?page no="12"?> 12 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? sprachlichen Strukturen befasst, ohne die praktische Bedeutung von Sprache zu berücksichtigen. Nach einer sehr engen Auslegung bilden Sprachunterricht und Übersetzung den Kernbereich der Angewandten Linguistik. In diesem Kontext sind kontinuierlich seit der Antike auch Hilfsmittel wie insbesondere Wörterbücher und Grammatiken entstanden. Sie haben ursprünglich also eine praktische und damit auch präskriptive Funktion, da man mit ihrer Hilfe lernen soll, wie man eine Sprache richtig verwendet. Erst später ergab sich der Anspruch, dass es auch eine rein deskriptive, die Sprache beschreibende Variante solcher Werke geben solle. Sprachbeschreibende Werke setzen die Existenz einer Sprache voraus, und zwar einer Sprache auf einem bestimmten Stand ihrer Entwicklung, denn bekanntlich ist der Sprachwandel eine inhärente Eigenschaft natürlicher Sprachen. Nun gibt es Situationen, in denen ein gegebener Sprachentwicklungsstand unbefriedigend und damit seine bloße Beschreibung gerade nicht das gesellschaftlich Wünschbare ist. Das war z. B. der Fall, als Europa christianisiert wurde. Dabei mussten die heiligen Texte aus der Mittlersprache Latein in die Volkssprachen übersetzt werden. Im Althochdeutschen löste das einen erheblichen Sprachentwicklungsschub aus. Eine ähnliche Lage ergab sich, als man im 17./ 18. Jahrhundert dazu überging, in den Wissenschaften nicht mehr Lateinisch, sondern die Volkssprachen zu benutzen. Anders als bei den im Althochdeutschen neu geschaffenen Sprachmitteln ist das Erbe des Lateinischen in diesem Bereich auch heute noch deutlich erkennbar, denn in den Wissenschaften werden griechisch-lateinische Sprachmittel produktiv weiterverwendet (was die internationale Verständigung erheblich erleichtert). Es kann auch vorkommen, dass es nicht der Wechsel von der einen in eine andere Sprache ist, der die Entwicklung neuer Sprachmittel nötig macht, sondern die Veränderung der Welt selbst. Das eklatanteste Beispiel dafür ist die Industrialisierung. Mit dem Übergang von der handwerklichen zur industriellen Serienfertigung von Objekten und der Erfindung einer Unzahl von Apparaten und Maschinen ergab sich die Notwendigkeit der Standardisierung und Normierung: Für jeden Schraubentyp bedarf es eines geeigneten Schraubenziehers, Eisenbahnen können nur auf passenden Gleisen fahren usw. Der schier unvorstellbare Bedarf an normierten Benennungen und Regelungen im technischen Bereich führte zur Institutionalisierung der sog. Terminologiearbeit auf nationaler und internationaler Ebene. Dies geschah, lange bevor die <?page no="13"?> 13 1.1. Angewandte Linguistik Sprachwissenschaft Fachsprachen als Untersuchungsgegenstand entdeckte oder gar von einer spezifisch linguistischen Fachsprachenforschung die Rede sein konnte. Die für Deutschland noch heute wichtigste Institution ist das Deutsche Institut für Normung-- DIN , es wurde 1917 gegründet. In den 1930er Jahren initiierte Eugen Wüster dann im Zuge der Systematisierung und Theoretisierung der Terminologiearbeit die sog. Allgemeine Terminologielehre, deren Grundsätze noch heute gültig sind (vgl. K.-D. Schmitz 2011). Der Bedarf an Terminologie(arbeit) ist in den letzten hundert Jahren nicht geringer, sondern immer größer geworden. Ferner kommt es im postindustriellen Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung zu einem weiteren Entwicklungsschub. Terminologien werden jetzt in Datenbanken verwaltet und zusätzlich mit Instrumenten für computergestützte Redaktion und Übersetzung verbunden. Dies ist besonders im Bereich der extrem umfangreichen Technischen Dokumentation von Bedeutung, bei der auch die Kommunikation weit über terminologische Systeme hinaus standardisiert wird und kontrollierte Sprachen zum Einsatz kommen (vgl. dazu Göpferich 2011). Sie sind derzeit meist firmenspezifisch: „Anfang der 80er Jahre wurde in der Luft- und Raumfahrtindustrie Controlled English forciert unterstützt und verbreitet. Heute benötigt ein moderner Airbus eine halbe Million Seiten an unterschiedlichen technischen Anleitungen. Ohne Standardisierung wäre die Aufgabe nicht mehr zu bewältigen. Dieser Trend führte zu Firmensprachen wie: ▶ Caterpillar Technical English ( CTE ) ▶ Français Rationalisé (Groupement des Industries Françaises Aéronautiques et Spatiales-- GIFAS ) ▶ Scania Swedish ▶ IBM Easy English ▶ Multinational Customised English (Xerox Corporation) ▶ Siemens Dokumentationsdeutsch ( SDD ) ▶ GM Controlled Automotive Service Language ( CASL ) ▶ AECMA Simplified English ( AECMA - = ‚European Association of Aerospace Industries‘)“ 2 2 Website der D. O. G. Dokumentation ohne Grenzen GmbH: D. O. G. news 01 / 2003: Kontrollierte Sprachen. www.dog-gmbh.de/ index.php? id=278 <27. 10. 2015> <?page no="14"?> 14 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? Dem ständigen Zuwachs an Fachausdrücken, der sich sozusagen von selbst ergibt, im kommunikativen Austausch über die Gegenstände, steht also an der Seite die systematische Beschneidung von Benennungsvielfalt und Ausdrucksvarianz. Denn wenn wir verschiedene sprachliche Formen vor uns haben, müssen wir damit rechnen, dass damit auch Verschiedenes gemeint ist. Für genau denselben Gegenstand werden aber z. B. die folgenden Ausdrücke verwendet: Leichtmetallscheibenrad, Leichtmetallrad, Alufelge, Aluminiumscheibenrad, Aluminium-Scheibenrad, Leichtmetall-Scheibenrad, Scheibenrad Aluminium (vgl. Göpferich 2011: 531; für weitere Beispiele s. Roelcke 2010: 71 f.). Diese Vielfalt kann man nicht einfach mit einem normativen Akt aus der Welt schaffen. Innerhalb bestimmter Kontexte sollte jedoch dokumentiert werden, dass es sich um Synonyme handelt, von denen eines (hier das erste) zur Vorzugsbenennung erklärt wird. Wer sich von außen (z. B. aus sprachwissenschaftlicher Sicht) auf solche Systeme einlässt, ist zunächst einmal beeindruckt, geradezu sprachlos- - aber auch schnell übersättigt. Ausführlicheres aus einem oder gar mehreren Industriezweigen will ja niemand erfahren, der sich nicht aus bestimmten, meist beruflichen, Gründen damit auseinandersetzen muss. 1.2. Sprachtheorie Das gerade Gegenteil gilt für die sprachphilosophische Frage nach dem Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit; sie ist von allgemeinem Interesse. Die drei Ausdrücke bilden den Titel einer Sammlung von Aufsätzen von Benjamin Lee Whorf, dem ‚Erfinder‘ (vgl. Werlen 2002: 211) des sprachlichen Relativitätsprinzips (auch: Sapir-Whorf-Hypothese genannt). Es ist auch in der breiten Öffentlichkeit recht populär, wurde aber von der linguistischen Zunft lange nicht ernst genommen. 3 Es unterstellt eine starke, im Extremfall deterministische Abhängigkeit des Denkens von Einzelsprachen: Danach stellt sich uns die Welt verschieden dar, je nachdem welche Sprache wir sprechen. Denn Einzelsprachen geben die Kategorien vor, mit denen wir uns der Welt nähern. An zwei Standardbeispielen sei diese Auffassung vorgestellt und zugleich problematisiert: 3 Das erklärt sich teilweise aus den ideologischen Implikationen, die potenziell mit der Vorstellung einhergehen, in den Einzelsprachen sedimentiere sich der Nationalcharakter von Völkern (vgl. Felder / Gardt 2015b: 11 f.). <?page no="15"?> 15 1.2. Sprachtheorie 4 Vgl. zu diesem Komplex die sehr instruktive (und amüsante) Darstellung von Guy Deutscher (2011). Das erste betrifft Ausdrücke für Farben. Das Farbspektrum wird unterschiedlich aufgegliedert, viele Sprachen machen z. B. keinen Unterschied zwischen grün und blau, für das deutsche braun muss man im Französischen zwischen brun und marron wählen usw. Manche Sprachen haben überhaupt nur zwei oder drei Farbwörter. Das scheint zunächst ein klarer Beleg für das Relativitätsprinzip zu sein. In ihrem sehr einflussreichen Buch, Basic color terms, stellten Berlin / Kay (1969) dieser Annahme jedoch das Ergebnis von Untersuchungen entgegen, die auf sprachuniversale Prinzipien bei den Farbwörtern hindeuten. Es gebe nämlich überall nur eine begrenzte Anzahl von Grundfarbwörtern, und zwar zwischen zwei und elf, die in einer bestimmten Reihenfolge auftreten: nach schwarz / dunkel gegenüber weiß / hell, von den eigentlichen Farbwörtern (Regenbogenfarben) zunächst rot, dann grün oder gelb, anschließend das noch fehlende gelb bzw. grün, erst dann blau … Was hat dies nun mit dem Einfluss der Sprachen auf das Denken bzw. Wahrnehmen zu tun? Sollen wir annehmen, dass Menschen die Farben anders sehen, je nachdem wie viele Grundfarbwörter ihre Sprache aufweist? Genau dies schien vielen Forschern in den 1860er Jahren eine unausweichliche Schlussfolgerung zu sein. Beim Studium von Texten der ältesten Überlieferungsstufe (u. a. bei Homer) war ein merkwürdiger Gebrauch von Farbwörtern aufgefallen. Systematischere Sprachvergleiche zeigten dann, dass in den verschiedensten Sprachen bestimmte Farbwörter immer vor anderen auftreten. Es war eine Zeit, in der es sich aufdrängte, dieses Phänomen auch aus anderer Perspektive zu betrachten. 1859 hatte Darwin sein Hauptwerk veröffentlicht. Man wusste also schon etwas von der Evolution, allerdings noch nicht viel. So kam es zu der Theorie, der Farbensinn habe sich erst vor einigen tausend Jahren ausgebildet und Naturvölker befänden sich noch immer in einem unterentwickelten Stadium. Man testete also deren Farbwahrnehmung - es zeigte sich, dass die ‚Primitiven‘ die Farbtöne genauso gut unterscheiden konnten wie die Europäer, nur sahen sie offenbar keinen Anlass, all diese kleinen und kleinsten Differenzen auch zu benennen. 4 Ein anderes Standardbeispiel ist die unterschiedliche Menge von Ausdrücken für Schnee. Es repräsentiert den entgegengesetzten Fall. Während nämlich niemand (mehr) bezweifelt, dass alle gesunden Menschen dieselbe Farbwahrnehmung haben (wenngleich sie natürlich in unterschiedlich bunten Welten leben), hat noch nie jemand angenommen, überall herrschten die gleichen Wetterverhältnisse. Daher fragt sich, was <?page no="16"?> 16 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? Beide Beispiele machen zunächst Folgendes deutlich: Die Frage nach dem Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit ist offenbar etwas verkürzt, denn die Menschen sind nicht in erster Linie kontemplative Wesen, die lediglich beobachten, denken und sprechen, sondern Handelnde. Sie müssen in der Welt (über)leben und sich mit ihrer Umgebung auseinandersetzen. Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Handeln und Sprechen gehen Hand in Hand. Die Gegenüberstellung einiger weniger Wörter aus Einzelsprachen (z. B. nur der Grundfarbwörter) stellt ebenfalls eine grobe Vereinfachung dar und vernachlässigt das, was Searle (1971: 34) das Prinzip der Ausdrückbarkeit genannt hat. Auf unser Beispiel angewendet: Wenn man Unterschiede hervorheben will, dann findet man auch Mittel, sie sprachlich zu fassen, z. B. dunkel-, kastanien-, mahagoni-, rotbraun usw. Vernachlässigt wird gerade der Tatbestand, dass Sprachen weder homogene noch statische Gebilde sind, sondern uns in die Lage versetzen, Sprachmittel je nach Bedarf zu entwickeln. Wer mit Farbprodukten handelt und besonders viele Nuancen braucht (z. B. Nagellackhersteller), kann dafür etwa assoziativ interessante Benennungen wie z. B. Frauennamen heranziehen. Für eine wissenschaftliche Differenzierung wurde die sog. Farbmetrik entwickelt, die auf mathematische Formeln zurückgreift. Nimmt man beide Überlegungen zusammen, so wird unmittelbar deutlich, dass das Relativitätsprinzip (allerdings nicht in seiner elementaren Variante, die mit homogenen muttersprachlichen Weltansichten rechnet) für die Fachsprachen von herausragender Bedeutung ist. Denn zur Bildung von Fächern kommt es eben deswegen, weil bestimmte Menschen sich mit bestimmten Weltausschnitten immer intensiver auseinandersetzen. Dabei nehmen sie Differenzierungen vor, die ‚normalen Menschen‘ nicht in den Sinn kämen. Ferner kreieren sie in diesem Zusammenhang unweigerlich neue Kategorien, schaffen also Fachsprachen und bauen davon viele kontinuierlich weiter aus. Wir können uns damit zunächst die Relativität als eine quantitative vorstellen, als Skala zwischen einer minimalen und einer sehr ausgeprägten sprachlichen Gliederung eines Weltausschnitts. man aus Befunden über unterschiedlich differenziertes Vokabular für Schnee schließen soll, wieso man sie überhaupt für bemerkenswert hält. Es wäre doch höchst erstaunlich, wenn Leute, die dauernd mit Schnee zu tun haben (seien es nun Bewohner der Arktis oder Skifahrer), nicht differenziertere Ausdrucksmittel dafür hätten, als solche, die im Allgemeinen Schnee nie zu Gesicht bekommen. <?page no="17"?> 17 1.2. Sprachtheorie Viel interessanter sind natürlich qualitative Differenzen, wie das Motto zum Apfel sie verdeutlicht: Ein Gegenstand oder Weltausschnitt ist nicht ‚naturgemäß‘ mit einem bestimmten Fach verbunden, sondern lässt sich unter sehr vielen verschiedenen Perspektiven mehr oder weniger intensiv bearbeiten, es besteht also eine Fächervielfalt. Hier ist zudem der Einfluss der (Fach-)Sprache auf das Denken unabweisbar. Besteht nämlich erst einmal ein Fach, so werden diejenigen, die sich darin ausbilden, in genau die Denkschemata gezwungen, die darin zu einem gegebenen Zeitpunkt gültig sind. Sie lernen die Fachsprache sowie mit ihr und durch sie, die Welt bzw. einen bestimmten Ausschnitt davon in einer bestimmten Weise zu sehen, zu kategorisieren, entsprechend zu fragen und zu handeln (vgl. dazu weiter 5.2.). Damit nicht genug: Innerhalb eines Faches können wiederum unterschiedliche Perspektiven nebeneinander bestehen, und zwar einerseits als Subdisziplinen, die sich unterschiedlichen Teilaspekten widmen, ohne miteinander zu konkurrieren. Andererseits kann es auch verschiedene Schulen geben, die sich in einem Wettstreit darüber befinden, welche Grundannahmen gültig sind und welches die angemessenere, ergiebigere-… Perspektive, Modellierung, Theorie- … ist. Schlimmstenfalls denken, sprechen und schreiben sie in so unterschiedlicher Weise über ‚denselben‘ Gegenstand, dass sie sich nicht einmal mehr miteinander verständigen können. In einer solchen Situation befinden wir uns leider in Bezug auf die elementarsten sprachwissenschaftlichen Kategorien, die eigentlich in der Schule vermittelt werden sollen, nämlich Grundbegriffe der Grammatik. Hier gibt es so viele konkurrierende Ansätze, dass Grammatikterminologie und -unterricht v. a. als Problem wahrgenommen werden. Die Vielfalt der Begriffe, Gliederungen und Definitionen erschließt sich unmittelbar, wenn man mehrere Grammatiken vergleicht, die für Schule oder Studium gedacht sind. Wünschbar ist natürlich eine gewisse Vereinheitlichung des in der Schule Vermittelten. Offiziell ist in Deutschland dafür die Kultusministerkonferenz (KMK) zuständig, die 1982 eine Liste veröffentlicht hat. Diese war von Anfang an umstritten und hatte keine besondere Wirkung. Derzeit gibt es wieder verstärkte Bemühungen um einen Neuansatz, 5 der allerdings nur einem Kompromiss entsprechen kann und den man zunächst einmal den Lehramtsstudierenden vermitteln müsste. 5 Vgl. dazu www.grammatischeterminologie.de/ <6. 11. 2017>. <?page no="18"?> 18 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? Die Linguistik bietet auch sonst selbst ein gutes Beispiel für beide Arten der Perspektivenvermehrung. Neben Lautung, Schrift, Lexik, Grammatik usw. existieren viele (teilweise inkompatible) sprachtheoretische Ansätze. Das ist ein starkes Argument gegen die deterministische These: Fachsprachen zwingen uns doch keine Denkkategorien auf, vielmehr kann bzw. muss man zwischen Fächern, Subdisziplinen, Theorien und terminologischen Systemen wählen, sie kritisch vergleichend gegenüberstellen usw. Dies ist viel üblicher als der ebenso mögliche Wechsel zwischen Einzelsprachen. An solchen beherrschen die meisten Menschen ja kaum mehr als zehn (eher weniger). Fächer weisen dagegen in der Regel weit mehr Subdisziplinen und theoretisch-methodische Ansätze auf. Wer als Experte anerkannt sein will, muss davon einen nicht unerheblichen Ausschnitt kennen. Dazu gehören auch wesentliche Etappen der Fachbzw. Disziplingeschichte-- und damit Begriffe, Annahmen, Kategorien, Modelle, Theorien usw., die im Laufe der Zeit als ungeeignet verworfen wurden. Im Rahmen eines konkreten fachlichen Arbeitsprojekts muss man dann jeweils die Kategorien auswählen, erläutern, ggf. auch neue kreieren, die in diesem Zusammenhang-- möglicherweise nur für einen einzigen Text! -- gültig sind, und zwar weil es der Autor so festgelegt hat. Charakteristisch für fachliches Handeln sind nämlich bestimmte Formen der Metakommunikation, einerseits die Problematisierung von Begriffen, Theorien, Methoden usw., andererseits die (definitorische) Setzung gewisser Bestimmungen für einen Kontext, d. h. Sprechakte vom Typ der Deklaration. Es sind hier also weder die außersprachliche Wirklichkeit noch die Muttersprache oder ‚das‘ Kategorieninventar eines Faches, die determinieren, wie man über den Gegenstand spricht, sondern die reflektierte Wahl einer bestimmten Perspektive. Zumindest von Wissenschaftlern erwartet man, dass sie auch eigene Kategorisierungen erfinden und erproben. Im Deutschen ist ein Sprachmittel zum Ausdruck solcher Perspektivendifferenzen zentral, nämlich der Konnektor als. Er tritt in Fachtexten sehr häufig auf, und zwar in (mindestens) zwei Varianten: Jemand als Träger einer bestimmten Eigenschaft (z. B. als Vertreter eines Faches oder einer Theorie) betrachtet etwas unter einem bestimmten Blickwinkel, nämlich als Element einer bestimmten Kategorie (vgl. auch Feilke 1996: 15 f.). Im Motto wird die erste Variante realisiert, die Abbildung 1.2 exemplifiziert die zweite in Bezug auf den Gegenstand Sprache: Als Ökotrophologe betrachtet man Äpfel als Nahrungsmittel, als LKW -Fahrer dagegen als Transportgut usw. <?page no="19"?> 19 1.2. Sprachtheorie Sprache als System / Menge von Ausdrucksmitteln Mittel der Kommunikation Menge von Texten Mittel des Denkens … angeborene Anlage Gefüge von Varietäten Abb. 1.1: Perspektiven auf Sprache Abb. 1.1: Perspektiven auf Sprache In der Fachsprachenforschung spielt das sprachliche Relativitätsprinzip fast keine Rolle 6 und erkenntnistheoretischen Fragen wird überhaupt erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine neue Reihe, Handbücher Sprachwissen ( HSW ), 7 verspricht hier Abhilfe. Sie setzt nicht an Fächern und Fachsprachen an, sondern will gewissermaßen die Sachen zum Ausgangspunkt nehmen. Sie thematisiert das Verhältnis von Wissen und Sprache, um unter dieser Perspektive (in 21 Einzelbänden) sowohl die einzelnen sprachlichen Phänomene (Wort, Satz usw.) als auch den Stellenwert der Sprache in zentralen Wissensdomänen und Kommunikationsbereichen (Medizin, Recht, Wirtschaft usw.) darzustellen. Im ersten Band skizzieren Felder / Gardt Positionen zum Verhältnis von Welt, Sprache und Erkenntnis, wie sie seit der Antike überliefert sind. Sie stellen 6 Das belegt sehr umfassend Gardt (1998). Fluck (1996: 180 f.) widmet ihm einen kleinen Abschnitt, geht aber dabei nur auf die Kluft zwischen muttersprachlichem und wissenschaftlichem Weltbild ein (vgl. auch ebd.: 43). Bei Roelcke (2010: 24) findet sich zwar kein Hinweis auf das Relativitätsprinzip, er erwähnt aber, dass auf „die Interdependenz von Sprache und Denken-[…] in der neuzeitlichen Wissenschaftstheorie seit Wilhelm von Humboldt immer wieder hingewiesen wird“. Vgl. zum Thema weiter Kap. 5.2. und 6. 7 www.degruyter.com/ view/ serial/ 185144# <6. 11. 2017>. <?page no="20"?> 20 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? zwei grundsätzliche Ausrichtungen einander gegenüber, nämlich einerseits diejenige, die Sprache als Abbild der Wirklichkeit betrachtet und mit sprachunabhängiger Erkenntnis rechnet. „Diese Auffassung deckt sich mit der vorwissenschaftlichen, intuitiven, bisweilen auch naiven Überzeugung von der Möglichkeit eines objektiven sprachlichen Zugriffs auf die Welt“ (Felder / Gardt 2015b: 3). Dem stehen auf der anderen Seite gegenüber Auffassungen, die Sprache als unhintergehbare Voraussetzung von Erkenntnis ansehen. Verschiedene Spielarten davon werden „unter dem Begriff des Konstruktivismus zusammengefasst“, sie bilden „aktuell das vorherrschende Paradigma“ (ebd.: 4; Fettdruck K. A.). Eine andere Auffassung vertritt Roelcke, der die beiden Ausrichtungen als realistische vs. idealistische Sprachauffassung gegenüberstellt und annimmt: Die „idealistische Auffassung, nach welcher sich der Mensch die ihn umgebende Wirklichkeit durch sein sprachliches und epistemisches Handeln erst selbst erschafft, ist-[…] fachsprachenlinguistischen Konzeptionen in der Regel fremd.“ (Roelcke 2010: 19) Nach Roelcke ist also die realistische Position vorzuziehen, wie sie auch dem Alltagsverstand am nächsten liegt. Er kritisiert allerdings relativ scharf die „radikal-realistische Variante“ der sog. Begriffstheorie aus der Terminologielehre (vgl. 1.1.), die Begriffe als kognitive Repräsentationen außersprachlicher Gegenstände begreift. Sie sei mit „konzeptionellen Defiziten“ behaftet und „weder erkenntnistheoretisch noch kognitionspsychologisch hinreichend gesichert“ (ebd.: 117). Das ergebe sich daraus, dass sie dem systemlinguistischen Inventarmodell verpflichtet sei, d. h. den jeweiligen Ko- und Kontext, in dem Fachwörter erscheinen, nicht berücksichtige. Diese Kritik ist insofern wenig überzeugend, als das begriffstheoretische Modell für den technischen Sektor entwickelt wurde und auch in diesem seine eigentliche Bedeutung hat. Hier erschafft der Mensch nicht nur durch sprachliches und epistemisches, sondern in allererster Linie durch sein praktisches Handeln die ihn umgebende Wirklichkeit tatsächlich und im wahrsten Sinne des Wortes erst selbst - und normiert die entsprechende Terminologie. Das bedeutet, dass die sprachlichen Ausdrücke (signifiants), die dort Benennungen heißen, streng definiert sind und gerade nicht je nach Kontext Verschiedenes bedeuten dürfen - in bestimmten Kontexten erübrigt sich die Berücksichtigung des Kontextes! <?page no="21"?> 21 1.2. Sprachtheorie Radikale Versionen (beider Ausrichtungen) lehnen auch Felder / Gardt ab, sie sprechen aber dem konstruktivistischen Gestus „einen unschätzbaren Vorzug“ zu: „Als Gestus des Hinterfragens erlaubt er es, Sachverhalte, die als mehr oder weniger selbstverständlich oder gar natürlich gegeben dargestellt werden, in ihrem Konstruiertsein aufzuweisen“ (Felder / Gardt 2015b: 13; Hervorhebungen K. A.). Da das Hinterfragen vorliegender Annahmen bzw. die Falsifizierbarkeit von Hypothesen geradezu als oberstes Credo neuzeitlicher Wissenschaft anzusehen ist, muss es doch erstaunen, dass die Fachsprachenforschung dazu so wenig sagt und dem realistischen Gestus den Vorzug zu geben scheint. Allerdings haben wir es hier zweifellos mit außerordentlich schwierigen Grundsatzfragen zu tun, so dass immerhin verständlich ist, wenn man sich nicht leichtfertig auf die eine oder andere Seite schlagen will. Das ist nach Felder / Gardt auch nicht nötig: „Die Sprachwissenschaft-[…] muss sich diesen Fragen nicht in letzter Konsequenz stellen. Da es in ihren Analysen um Konstruktionen geht, die sprachlich-kommunikativ, also im gesellschaftlichen Raum entstehen, ist für sie eine konstruktivistische Perspektive in jeder Hinsicht plausibel. Denn dass wir mittels Sprache unsere Welt gestalten, dass sich vor allem in unseren Wortschätzen, in der Art und Weise unseres mündlichen Ausdrucks und in der unserer schriftlichen Textgestaltung unser Wissen, unsere Überzeugungen und unsere Werte spiegeln, ist ein selbstverständlicher Teil der Lebenserfahrung.“ (Felder / Gardt 2015b: 14) 8 Als plausibel wird die konstruktivistische Sicht also zunächst für die Sprachwissenschaft erklärt. Damit ist freilich zugleich gesagt, dass die Frage, wie angemessen die eine oder andere Perspektive ist, vom Fach und seinem Unter- 8 Der Verweis auf die Selbstverständlichkeiten der Lebenserfahrung kommt unerwartet, denn der konstruktivistische Gestus soll ja gerade (vermeintlich) Selbstverständliches in seinem Konstruiertsein erkennen lassen (vgl. das vorige Zitat). Die normativen Festlegungen sind natürlich - wie alle Normen - nur für bestimmte Menschen verbindlich, nämlich diejenigen, die ihnen von außen unterworfen sind (z. B. als Mitarbeiter eines Betriebs) oder die sich ihnen freiwillig unterwerfen. Die linguistische Fachsprachenforschung schließt sich der Begriffsbildung der Terminologielehre nicht an, daher haben insbesondere Terminus, Begriff und Benennung in sprachwissenschaftlichen Kontexten in aller Regel eine andere Bedeutung als dort. <?page no="22"?> 22 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? suchungsgegenstand abhängt. Besonders unplausibel scheint die konstruktivistische Position für die Technik, insoweit deren Aufgabe in der Herstellung von Artefakten besteht. Wer deren objektive Existenz infrage stellen wollte, könnte nur mit Unverständnis rechnen (vgl. ebd.: 13). Wichtiger als das Fach dürfte noch die Berücksichtigung des Handlungskontextes sein (vgl. dazu weiter 5.3.). Die Hinterfragung von Annahmen, Modellen, Theorien, Begriffssystemen usw. ist nämlich in allen möglichen Fächern grundsätzlich nicht angezeigt, wenn es um irgendwelche praktischen Zusammenhänge geht, die zu-- mindestens vorläufig gültigen-- Ergebnissen führen sollen. Selbst wenn man Experimente anstellt, um Hypothesen und Theorien zu überprüfen, muss man sich doch bei deren Durchführung strikt an bestimmte theoretische und methodische Konzepte, Konstrukte und möglichst wohldefinierte Kategorien halten, d. h. in diesem Handlungskontext kommt man nicht umhin, den Gestus des Hinterfragens (mindestens zeitweilig) zu suspendieren. Die Positionen von Realismus und Konstruktivismus erscheinen somit eher als kognitive Instrumente, die man gewissermaßen ein- und ausschalten kann bzw. muss-- je nach dem Handlungskontext, in dem man gerade agiert. Es sind selbst Werkzeuge des Denkens. 1.3. Deskriptive Linguistik Wenden wir uns jetzt dem zu, was man am ehesten als genuin fachsprachenlinguistischen Ansatz betrachten kann. Als zentrale Aufgabe gilt-- nicht nur im Bereich der Fachsprachen, sondern der Linguistik insgesamt- - die Beschreibung / Deskription: „Fachsprachenforschung [ist] weitgehend deskriptiver Natur“, schreibt Roelcke (2010: 127) im Kapitel zur Terminologienormung. Deskription setzt er also in Gegensatz zur Präskription, der die Normierung von Termini ja entspricht. Da es sich bei der Terminologiearbeit allerdings um eine ungeheuer große Daueraufgabe der Praktiker handelt, halte ich es für mehr als verständlich, dass man sich in diesem Kontext sowohl dem Präskriptionsverbot als auch dem Gestus des Hinterfragens widersetzt. Umso mehr ist es im wissenschaftlichen Kontext geboten, das eigene Vorgehen zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Mit dem Deskriptions- Postulat ist die realistische Position in gewissem Sinne mitgesetzt, nämlich die Annahme, dass es in der Wirklichkeit tatsächlich etwas gibt, was man als solches beschreiben kann. Die objektive Existenz von Sprachen infrage zu stellen, wäre natürlich ebenso abwegig wie eine entsprechende Skepsis bei technischen <?page no="23"?> 23 1.3. Deskriptive Linguistik Produkten oder natürlichen Objekten, z. B. Pflanzen und Tieren-- inklusive des sprechenden Tiers, als das man den Menschen begreifen kann. Beim Gestus des Hinterfragens geht es jedoch höchst selten darum, die reale Existenz irgendwelcher Phänomene infrage zu stellen, sondern darum, als was wir etwas begreifen, wie wir damit umgehen und den Gegenstandsbereich aufgliedern. Wie die Abbildung 1.1 gezeigt hat, gibt es auf Sprache sehr verschiedene Perspektiven. Es ist nicht einmal unzweifelhaft, ob wir sie eher den natürlichen oder den künstlichen Phänomenen zurechnen wollen, umso weniger als es ja auch Kunstsprachen gibt. 9 Dieselbe Frage stellt sich allerdings bei Pflanzen und Tieren: Es gibt Wildpflanzen und wilde Tiere, eigens angepflanzte und gehegte bzw. gezähmte Exemplare, gezüchtete und genetisch manipulierte. Fachsprachen korrespondieren-- ebenso wie kodifizierte Standardsprachen-- nicht naturwüchsigen Phänomenen, sondern gezüchteten Sorten. Was ihre Beschreibbarkeit betrifft, so werfen Sprachen jedoch im Gegensatz zu Flora und Fauna eine Schwierigkeit auf. Man kann Exemplare davon nämlich nicht zunächst einmal sammeln, auf ihre Eigenschaften prüfen, nach Ähnlichkeit sortieren usw. Als Gegenstände für eine solche Unternehmung kommen nur Texte und-- gewissermaßen daraus seziert-- Wörter infrage. Nun ist aber eine Wortsammlung ebenso wie ein Text offenkundig nicht dasselbe wie eine Sprache. Diese hat einen völlig anderen Status und ist insbesondere der direkten Beobachtung nicht zugänglich. Genauso wie heimische Pflanzen und Tiere sind Sprachen allerdings für den Lebensalltag derartig bedeutsam, dass man schon vor aller fachlichen Spezialisierung Differenzierungen vornimmt und verschiedene Arten von Sprache unterscheidet, u. a. Fachsprachen. Dieser Ausdruck ist keine linguistische Prägung, sondern eines der vielen allgemein gebräuchlichen bzw. gemeinsprachlichen x-Sprache-Komposita, die man zur Kennzeichnung eines irgendwie ungewöhnlichen Sprachgebrauchs verwendet und immer als Gegensatz zur unmarkierten ‚Normalsprache‘ bzw. Gemeinsprache denkt. Da die Ausdrücke Fach- und Gemeinsprache zunächst einmal vorwissenschaftliche Kategorien sind, ist es keineswegs selbstverständlich, dass es die Phänomene ‚wirklich gibt‘, d. h. es stellt sich sehr wohl die Frage, ob es auch im wissenschaftlichen Kontext sinnvoll ist, mit diesen Kategorien zu operieren. 9 In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, dass Eugen Wüster, der Vater der Terminologielehre, auch Esperantist war. <?page no="24"?> 24 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? Die letzte Feststellung entspringt dem Gestus des Hinterfragens. Dieser ist allerdings für die (deutsche) Fachsprachenforschung gerade nicht charakteristisch. Dies zeigt die Eingangspassage aus Flucks Monografie: „Der Terminus Fachsprache ist, so einfach er gebildet und so verständlich er zu sein scheint, bis heute nicht gültig definiert. Diese Schwierigkeit der Festlegung des Begriffes Fachsprache resultiert vorwiegend aus der Tatsache, daß er kontrastierend zu einem ebensowenig definierten Begriff Gemeinsprache gebraucht wird und so unterschiedliche Bereiche wie handwerkliche, technische oder wissenschaftliche Sprache und ihre Übergangsformen abdeckt. Deshalb besteht heute weitgehende Einigkeit in der Verwendung der Pluralform der Begriffsbenennung, die besagt, daß der Gemein- oder Standardsprache eine größere, bislang [! ? ] nicht fixierbare Zahl von primär sachgebundenen Sprachen als Subsysteme angehören.“ (Fluck 1996 [zuerst 1976]: 11; Hervorhebungen K. A.) Die gemeinsprachlichen Ausdrücke werden präsentiert bzw. umgedeutet als Terminus bzw. Begriff. 10 Durch diese Operation, sie nämlich zu kennzeichnen als fachliche Ausdrücke, bekommen sie das Merkmal Definierbarkeit zugeschrieben; zugleich erfährt man jedoch, dass sie nicht definiert sind (von gemeinsprachlichen Ausdrücken erwartet niemand, dass sie streng definierbar sind). Die Fachsprachenforschung findet sich damit in einer paradoxen Situation: Sie ist vor die Aufgabe von Definitionen gestellt, von denen eher zweifelhaft ist, dass sie überhaupt möglich sind. Bis heute ist der ‚Auftrag‘ jedenfalls noch nicht befriedigend erfüllt, wird aber weiterhin als zu erbringende Leistung eingefordert: „Die Frage der Fragen in der Fachsprachenforschung war und ist immer noch die nach dem Verhältnis der Fachsprachen zur (All-)Gemeinsprache“ (Hoffmann 1985: 48). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Beginn der Fachsprachenlinguistik gerade in den Zeitraum fällt, nämlich in die Mitte des 20. Jahrhunderts, in dem ein zunehmender ‚Einfluss von Fachsprachen auf die Gemeinsprache‘ festgestellt wurde (vgl. Fluck 1996: Kap. 8 und 196 ff. und weiter dazu 3.1.), die unterstellte Abgrenzbarkeit also schon ins Wanken geraten war. Das soll- 10 Terminus und Begriff werden hier offenbar synonym verwendet und sind nicht im Sinne der Terminologielehre zu verstehen, während Begriffsbenennung durchaus in dieses Konzept passt. <?page no="25"?> 25 1.3. Deskriptive Linguistik te eigentlich zur Problematisierung der Dichotomie führen und nicht zur fortgesetzten Suche nach klaren Definitionen für Kategorien, die erstens aus vorwissenschaftlichem Denken übernommen und zweitens auf nicht mehr zeitgemäße Formen der gesellschaftlichen Differenzierung zugeschnitten sind. Versuchen wir an dieser Stelle, einen Überblick darüber zu gewinnen, wie sich Fachsprachen nach etwa 60 Jahren Disziplingeschichte darstellen. Dafür eignen sich Einträge aus Fachwörterbüchern, wenngleich diese natürlich nur die allerknappste Quintessenz des Erkenntnisstands bieten und, wie wir sehen werden, relativ traditionellen Vorstellungen verpflichtet bleiben. Einträge aus Fachwörterbüchern zum Ausdruck Fachsprache (auch: Expertensprache. Engl. technical language, frz. langue professionelle) Entweder die sprachl. Spezifika oder die Gesamtheit der sprachl. Mittel, die in einem Fachgebiet verwendet werden. Vermutl. lassen sich allen Fachgebieten Berufe zuordnen, so dass ↗ Berufssprachen mit F. extensional ident. wären: Fachgebiete sind daneben jedoch z. B. auch Hobbies. Die F. werden demnach nicht nur in den betreffenden Berufen verwendet. Die Klassifizierung von F. ist außerordentl. kompliziert und kann unterschiedl. fein durchgeführt werden. Dementsprechend divergiert die Gesamtzahl der F. Den Kern einer F. bildet in der Regel ihre ↗ Terminologie, in der sich die Fachkenntnisse spiegeln. F. können jedoch auch syntakt. Besonderheiten (vgl. z. B. die aussagenlog. oder mathemat. Konnektoren) und spezif. Textformen (Versuchsbeschreibung usw.) aufweisen. (Glück 4 2010/ 5 2016; Hervorhebungen K. A.) [engl. (technical) jargon, languages for special purposes]. Sprachliche → Varietät mit der Funktion einer präzisen, effektiven Kommunikation über meist berufsspezifische Sachbereiche und Tätigkeitsfelder. Wichtigstes Merkmal ist der differenziert ausgebaute, z. T. terminologisch normierte Fachwortschatz ( → Sprachnormung), dessen Wortbedeutungen frei sind von alltagssprachlichen → Konnotationen und dessen Umfang in einzelnen F. den der Standardsprache (mit ca. 70.000 Wörtern) übersteigt. Weitere Kennzeichen sind ein differenzierter Gebrauch von Wortbildungsregeln […], Fremd- und Kunstwörter, Fachmetaphorik […], ferner in der Syntax das Vorherrschen des → Nominalstils und unpersönlicher Konstruktionen […] sowie auf Textebene der explizite Ausdruck von → Kohärenz […]. Allgemeine Charakteristika der modernen F. in Technik, Wissenschaft, Rechtswesen und Verwaltung […] sind überregionale Standardisierung, Exaktheit und Ökonomie der Informationsvermittlung. Das hohe gesellschaftliche Prestige von F. ist erkennbar an der stilistisch motivierten Übernahme fachsprachlicher Elemente in andere Kommunikationsbereiche, z. B. in die → Umgangssprache oder → Werbesprache. - Kennzeichnend für F. ist die große Zahl fachspezifischer → Textsorten […] (Bußmann 4 2008; Hervorhebungen K. A.) Beide Einträge stellen die Terminologie ins Zentrum und heben eine enge Bindung an Berufe hervor. Ansonsten sind sie recht unterschiedlich ausgerichtet. Im Eintrag aus Bußmann fallen die wertenden Ausdrücke auf (präzis, effektiv etc.), in denen eine Idealvorstellung zum Ausdruck kommt. <?page no="26"?> 26 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? Besonders bemerkenswert scheint mir, dass die Übernahme fachsprachlicher Elemente in andere Kommunikationsbereiche als stilistisch motiviert erscheint und auf das Prestige zurückgeführt wird - und nicht etwa darauf, dass man auch in anderen Kommunikationsbereichen über denselben Wirklichkeitsausschnitt sprechen und dabei auch Sachverstand erkennen lassen kann. Der sehr viel kürzere Artikel in Glück problematisiert stärker, insbesondere die Bindung an Berufe- - und damit zugleich die Abgrenzbarkeit von Fach- und Alltagswelt. Über die Frage, welche Entsprechung der Ausdruck Fachsprache im Englischen hat, sind sich die beiden Wörterbücher nicht einig, immerhin schlagen beide (auch) ein Syntagma mit technical vor. Das entspricht aber offensichtlich nur einem Ausschnitt dessen, was Fachsprachen umfasst, einem Teilbereich innerhalb der verschiedenen Fachsprachen. Dafür gibt es auch einen Internationalismus: Technolekt/ technolect / technolecte. Auf den ersten Blick mag die Schwierigkeit, anderssprachige Äquivalente für Fachsprache zu finden, vordergründig erscheinen, sie führt uns aber direkt auf den potenziellen Einfluss der Einzelsprachen sogar auf das wissenschaftliche Denken zurück. Was das Englische betrifft, so sind dort neben technical jargon / language auch die Ausdrücke special language und special subject language üblich. 11 Das Französische ist dem Englischen näher, als Glück erwarten lässt: Auch hier spricht man von jargon (z. T. spezifiziert durch technique, aber auch médical, juridique usw.), ferner von langues de spécialité(s), langue spécialisée oder auch langue de la technique et de la science oder langue scientifique et technique. Schon die Varianz der komplexen Ausdrücke des Englischen und Französischen weist darauf hin, dass sie weniger fest und damit auch weniger geläufig sind als das deutsche Fachsprache. Ihre wortgetreue Übertragung ins Deutsche (Spezialsprache, spezialisierte / spezielle Sprache, Sprache für spezielle Zwecke / Ziele / Absichten) führt nicht nur zu recht unidiomatischen Ausdrücken, sondern lässt auch an Anderes denken. Noch weniger entspricht das ausdrucksseitig identische Wort Jargon 11 Der für den englischen Titel des HSK-Bandes 14 gewählte Ausdruck, languages for special purposes, erscheint bei Bußmann übrigens erst in der letzten Auflage. Im HSK -Band 3 (Soziolinguistik, 2 2004, Art. 25) heißt es language of specific purposes (Verfasser ist Lothar Hoffmann). <?page no="27"?> 27 1.3. Deskriptive Linguistik der Gebrauchsweise im Englischen und Französischen. 12 Im Deutschen wird das infrage stehende Phänomen eben geläufigerweise mit Fachsprache bezeichnet, während in anderen Sprachen ein solch übergreifender Ausdruck unüblich ist. Der Ausdruck Fachsprache lädt wie andere Komposita auf--sprache ferner in besonders starkem Maße zur Hypostasierung ein. Mit Goethe gesprochen: Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen (Faust I, Vers 2.565 f.). Ganz wie es die Abbildtheorie bzw. die realistische Sprachauffassung nahelegt: Wenn Wörter die Wirklichkeit erfassen und es das (Fach-)Wort Fachsprache gibt, dann muss es auch ein reales Etwas geben, das dem korrespondiert. Man ist also leichter geneigt, Fachsprache als ein ‚existierendes Etwas‘ zu betrachten, und zwar als ein Etwas der Kategorie Sprache. Ob überhaupt und inwieweit allenfalls die typisch deutsche Wortprägung einen Einfluss auch auf die fachliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand hat, braucht hier nicht entschieden zu werden (vgl. in diesem Sinne besonders Kalverkämper, z. B. 1992). Sicher ist aber, dass Fachsprachenforschung sich in verschiedenen sprachlich-kulturellen Traditionen unterschiedlich darstellt: Im deutschen Sprachraum ist sie außerordentlich stark ausgeprägt und weist eine andere Ausrichtung auf als insbesondere die englischsprachige (vgl. dazu Adamzik 2001b). Während Fachsprache in Kontinentaleuropa als Untergebiet der Sozio- und Varietätenlinguistik erscheint, ordnet die englischsprachige Welt sie der Angewandten Disziplin English Foreign Language oder English Language Teaching zu, also der Fremdsprachendidaktik (vgl. ebd.: 15). Fachsprache ‚an und für sich‘, „the phenomenon of special language as such“, spielt dort fast keine Rolle. So liest man in einer der sehr seltenen englischen Arbeiten, die die kontinentaleuropäische Ausrichtung nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern sich stark daran orientiert. Es handelt sich um den Band von Sager et al. (1980: XXII ), der bezeichnenderweise in einem deutschen Verlag (so auch die 2. Aufl. von Kocourek 1991 fürs Französische) erschienen ist und im englischsprachigen Raum wenig rezipiert wird. Was die französische Fachsprachenforschung angeht, so ist sie sehr wenig entwickelt und dann stark auf Fragen der Terminologie bzw. Lexikologie bezogen (vgl. Pöckl in HSK 14, Art. 167; vgl. aber jetzt das - wiederum in einem deutschen Verlag erschienene - Handbuch von Forner / Thörle 2016). 12 Wenn dieser Ausdruck im Deutschen im Zusammenhang mit Fachwörtern verwendet wird, dann eher für nichtterminologische Prägungen, außerdem hat er meist eine pejorative Konnotation (vgl. Nabrings 1981: 150 und 172 f. sowie HSK 14: 120 (Becker / Hundt 1998) und 644 ff. (Brünner 1998); ausführlich zum Phänomen des Wissenschaftsjargons v. Polenz 1981). <?page no="28"?> 28 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? Sprache ist allerdings-- ebenso wie andere linguistische Grundbegriffe, deren Ausdrucksseite aus der Gemeinsprache übernommen wurde (Laut, Wort, Satz, Text usw.)- - vieldeutig. Diesem Problem begegnet man gewöhnlich dadurch, dass für fachsprachliche Zwecke verschiedene Lesarten mit speziellen Ausdruckseiten belegt werden, die möglichst gleich als fachsprachlich erkennbar sind. Für Sprache sind das bekanntlich die Saussure‘schen Begriffe langage (allgemeinmenschliche Sprache bzw. Sprachfähigkeit), langue (Einzelsprache; als eine Art Terminus dafür fungiert Sprachsystem) und parole (konkretes Ereignis des Sprachgebrauchs, d. h. Äußerung bzw. Text oder Gespräch). Saussure betrachtet Einzelsprachen / langues allerdings als homogene Systeme. Da man damit ihrer internen Heterogenität nicht beikommt, wurde seiner Trias noch eine weitere Ebene hinzugefügt, nämlich Varietät. Auch dies ist ein Ausdruck, der in der Gemeinsprache nicht in diesem Sinne üblich ist. Bei Bußmann wird er unmittelbar zur Definition herangezogen: Fachsprachen sind demnach keine Sprachen / langues, sondern Varietäten. Leider ist auch Varietät nicht sehr klar definiert (vgl. Kap. 2). Der Eintrag in Glück rekurriert (mit dem entweder-… oder) auf zwei gängige Interpretationen, nämlich a) ‚sprachliche Spezifika‘ und b) ‚Gesamtheit der sprachlichen Mittel‘. Die Lesart a) und damit die Auffassung, Fachsprachen seien im Wesentlichen Fachwortschätze, liegt auch frühen linguistischen Arbeiten zugrunde. Fluck konstatiert dies, weist diese Auffassung aber entschieden zurück. Bemerkenswert ist das zuletzt vorgebrachte Argument: „Die Bedeutung der Fachwörter, die Sachverhalte möglichst exakt und eindeutig benennen, wurde allerdings lange gegenüber der Bedeutung der Syntax überschätzt. Zwar ist es richtig, ‚daß das Wesentliche der fachlichen Aussagen in den Fachworten, nicht in der Syntax liegt‘ [Jumpelt 1961: 3]; es ist jedoch ebenso wesentlich für das Strukturbild und die Charakterisierung der Fachsprachen, daß ihre syntaktischen Eigenheiten berücksichtigt werden. Außerdem wären Fachsprachen ohne- - wie es häufig geschieht [Verweis auf zwei Arbeiten aus den 1950er Jahren]-- Einbeziehung der Syntax keine Sprachen, sondern nur eine Ansammlung [! ? ] von Fachwörtern, deren Gesamtheit Terminologie genannt wird.“ (Fluck 1996: 12; Hervorhebungen im Orig.) Versuchen wir, diese Argumentation zu entfalten: Wenn die Besonderheit des Sprachgebrauchs in fachlichen Kontexten (fast) nur den Wortschatz betrifft / beträfe, dürfen / dürften wir nicht von Fachsprachen sprechen. Da wir aber mit Fach-Sprachen als wissenschaftlichen Konzepten rechnen, die sich auf eine au- <?page no="29"?> 29 1.3. Deskriptive Linguistik ßersprachliche Realität beziehen, muss es sich dabei um ein Etwas handeln, das man als Sprache kategorisieren kann. Sprachen sind keine Ansammlungen von Wörtern. Also dürfen wir Fachsprachen nicht auf Fachwortschätze reduzieren. Als Schlussfolgerung aus dieser Argumentation ist die Aussage zweifellos nicht akzeptabel, da sie von einem Wort auf die Existenz einer Sache schließt. Sie ist es aber als These oder Arbeitsdefinition, und als solche erscheint sie in der berühmten Bestimmung von Lothar Hoffmann: „Fachsprache- - das ist die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständigung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten.“ (Hoffmann 1976: 170 / 1985: 53, im Orig. zur Gänze in Fettdruck, Hervorhebung hier K. A.) Mit dieser Definition wird Fachsprache als spezifisch linguistisches Untersuchungsobjekt konstituiert bzw. konstruiert. Die Definition ist nicht deskriptiv (die entsprechenden Untersuchungen sind noch nicht durchgeführt) und auch nicht i. e. S. normativ (ein einzelner Forscher hat nicht die Macht, so etwas durchzusetzen); sie ist heuristisch. Auf ihrer Grundlage lässt sich nämlich ein Forschungsprogramm skizzieren. Hinzuzudenken ist eine metakommunikative Aussage der folgenden Art: ‚Ich schlage vor, Fachsprachen unter folgender Perspektive zu untersuchen: Betrachten wir sie als die Gesamtheit-…‘ Die Aufgabe der Wissenschaftler, die diesen Vorschlag aufgreifen, besteht dann in der systematischen Beschreibung von Fachsprachen mit den Mitteln, die in der Linguistik entwickelt worden sind. Diese bietet einen Werkzeugschrank voller Instrumente, mit denen man den Gegenstand bearbeiten bzw. analysieren kann: Werkzeuge / Kategorien für die Ebene der Grapheme und Phoneme, der Morpheme und grammatischen Kategorien, der Lexeme und Wortformen, der Syntagmen, Phrasen und Sätze, der Texte, Sprechakte, rhetorischen Figuren, der Text-Bild-Beziehungen und was immer sonst an Analysegesichtspunkten zu denken ist. In diesem Sinne ist Fachsprachenlinguistik die Anwendung aller linguistischen Untersuchungsverfahren auf einen bestimmten Ausschnitt sprachlicher Äußerungen. Hoffmann (1985: 244) meint sogar, es gebe „kaum eine wichtige philologische oder linguistische Methode-[…], die nicht schon an Fachtexten erprobt worden wäre“. <?page no="30"?> 30 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? Dass fachliche Ausdrucksmittel nicht nur den Wortschatz betreffen, zeigt die Fachsprache der Linguistik selbst. Wesentlich sind zunächst nichtsprachliche Mittel. Eine bestimmte Schule hat von dorther sogar einen Spitznamen: Bäumchenlinguistik. Grundsätzlich nimmt Linguistik auf sprachliche Elemente unter verschiedenen Gesichtspunkten Bezug, hat also metasprachlichen Charakter. Um auf einfache Weise zu verdeutlichen, von welchem Aspekt jeweils die Rede ist, haben sich bestimmte typografische Konventionen etabliert: Zu den wichtigsten gehört die Kursivierung, die deutlich macht, dass ein Ausdruck Gegenstand der Betrachtung ist und nicht wie üblich objektsprachlichen Charakter hat, insofern er sich auf das mit dem Ausdruck bezeichnete Objekt bezieht: fünf ist ein Wort mit vier Buchstaben und bedeutet dasselbe wie englisch five, französisch cinq usw., nämlich ‚5‘. Weitere Beispiele erübrigen sich, da dieses Buch dieser Konvention ebenso folgt wie einem spezifischen Gebrauch von einfachen Anführungszeichen. In ihnen erscheint der Inhalt, meist in der Form einer Paraphrase oder Definition, z. B.: ‚die Zahl zwischen 4 und 6‘. Beim Zahlwort fünf ist der Wechsel in ein anderes allgemein bekanntes Zeichensystem, eben die Zahlen, möglich. Früher war es üblich (so auch im Grimm‘schen Wörterbuch) das lateinische Wort als Erklärung einzusetzen: quinque. Diese Konventionen sind so bekannt, dass ich ihnen bereits auf den ersten Seiten ohne weitere Erklärung gefolgt bin. Das ist in linguistischen Fachtexten üblich, auch wenn sie sich nicht an Fachexperten wenden; vielleicht sollte man sogar sagen: gerade dann. Denn es ist ja nicht gerade verlockend, erst solche Erklärungen lesen zu müssen, bevor man irgendetwas inhaltlich Interessantes erfährt. Es reicht, dass man durch diese typografischen Auffälligkeiten darauf aufmerksam wird, dass der Ausdruck irgendwie speziell verwendet wird. Außerdem werden diese beiden grundlegenden Zeichen zugleich noch in anderer Weise gebraucht, sind also polysem. Kursivierung z. B. zur Hervorhebung oder für (spezielle) Zitate (hier das Motto), einfache Anführungszeichen für Zitate im Zitat oder als Distanzierungsmarker (‚in der Wirklichkeit‘). In spezialisierteren Fachtexten (aller Fächer) sind metasprachliche Erläuterungen dagegen sehr üblich, ja notwendig, wenn man spezielle Konventionen einführt oder auswählt. Arbeiten aus der Gesprächsanalyse enthalten z. B. fast obligatorisch Erklärungen zum verwendeten Transkriptionssystem. Das entspricht dem Verzeichnis verwendeter Abkürzungen, die für hochspezialisierte Fachtexte als besonders ökonomische und komprimierte Darstellungen typisch sind. Wer die Abkürzungen kennt, gewinnt Zeit allein dadurch, dass er die z. T. sehr langen und umständlichen Vollformen gar nicht erst lesen muss, sondern auf einen Blick identifizieren kann, worum es geht. Für Fachfremde stellen die Abkürzungen dagegen eine extreme Verständnishürde dar, zumal das Nachschlagen im Abkürzungsverzeichnis sehr mühsam ist. In Kurztexten wie Auf- <?page no="31"?> 31 1.3. Deskriptive Linguistik Der spezifische Fachwortschatz wird systematisch und umfassend in den jeweiligen Fachdisziplinen er- und bearbeitet und auch in Fachwörterbüchern präsentiert. Die Sprachwissenschaft könnte dessen Kreation / Analyse / Beschreibung niemals (allein) bewältigen, weil ihr dazu die Sachkompetenz in den jeweiligen Fächern fehlt. Dafür hat sie eine spezifische Kompetenz für die systematische Analyse aller anderen Ebenen. Wenn es eine genuin linguistische Fachsprachenforschung geben soll, dann muss man unterstellen, propagieren-…, es gebe auch auf (allen) anderen Ebenen als dem Wortschatz Interessantes zu entdecken: Eine Disziplin schafft sich ihren Gegenstand. Dies ist nun nicht etwa als polemische oder gar zynische Zurückweisung des Anspruchs zu verstehen, es könne / solle eine genuin linguistische Fachsprachenforschung geben. Die Aussage ist vielmehr zunächst in einem denkbar neutralen Sinn gemeint, als schlichte Konsequenz einer konstruktivistischen Sicht: Da Weltausschnitte nicht naturgemäß irgendwelchen Fächern oder Disziplinen ‚gehören‘, konstituieren sich Fächer, Subdisziplinen, Schulen-… über eine spezifische Perspektive auf den Gegenstand, die andere (noch) nicht gewählt haben oder die sie aufgrund ihrer jeweiligen Fragestellungen, Methoden, Kategorien-… gar nicht bearbeiten könnten. Wenn die Fachsprachenlinguistik in ihrer deskriptiven Variante aktiv werden will, muss sie sich einen beobachtbaren Gegenstand herrichten, gewissermaßen Proben nehmen. Diese bestehen aus einer mehr oder weniger großen Menge von Texten und heißen Korpora. Da nie der Anspruch erhoben wurde, dass es im Bereich der Grammatik qualitative Besonderheiten in Fachtexten gibt, kann man gar nicht anders als quantitativ vorgehen. Erhoben werden also Unterschiede z. B. in der Wort- und Satzlänge, der Menge an Nebensätzen, Passivformen usw. usf. Solche Unterschiede lassen sich suchen zwischen sätzen erscheint ein solches im Allgemeinen gar nicht, allenfalls wird das Kürzel bei der ersten Verwendung aufgelöst, so dass man dauernd zurückblättern muss. Ganz besonders viele Abkürzungen sind in Nachschlagewerken aller Art und daher auch in Wörterbüchern üblich. Das ist nun besonders problematisch, wenn man damit nicht vertraut ist. Man will vielleicht ein einziges Wort nachschlagen und sollte im Prinzip zunächst einmal einen mehrseitigen Metatext rezipieren, in dem erklärt ist, wie man die Erläuterungen zu lesen hat. Die elektronische Form von Nachschlagewerken erweist sich hier als außerordentlich benutzerfreundlich, weil sie erstens nicht auf platzsparende Präsentation angewiesen ist und zweitens die Erläuterungen über einen Link einblenden kann. <?page no="32"?> 32 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? Gemein- und Fachsprache, verschiedenen Fachsprachen untereinander, verschiedenen Textsorten innerhalb einer Fachsprache etc. (dafür bildet man jeweils Subkorpora). Da allerdings die Menge der potenziell relevanten Texte unüberschaubar groß ist (und jeden Tag größer wird), steht man vor einer eigentlich nicht zu bewältigenden Aufgabe, „denn eines ist praktisch unmöglich, nämlich die Gesamtheit der fachsprachlichen Kommunikation auch nur für eine Sprache und ein Gebiet zu erfassen“ (Hoffmann 1985: 245). Für die konkrete Beschreibungsarbeit sind daher die folgenden Fragen besonders dringlich: ▶ Welche Fächer, welche Texte wählen wir aus? ▶ Wie viele müssen wir untersuchen, um den Anspruch erheben zu können, empirisch gesicherte Aussagen zu machen? ▶ Sollten wir tatsächlich immer alle Ebenen einbeziehen, oder versprechen manche ergiebigere Resultate als andere? ▶ Das Forschungsprogramm ist bereits mehrere Jahrzehnte alt, es sollte also bereits eine größere Menge von Ergebnissen vorliegen. Welche sind das? Diese letzte Frage ist besonders zentral, weil neue deskriptive Projekte auf Vorliegendes als Vergleichsgrundlage zurückgreifen können sollten. Denn bei allen Unsicherheiten ist Folgendes sicher: Das Ziel eines auf deskriptive Arbeiten gestützten Einblicks in die Spezifika verschiedener Fachsprachen (gegenüber der Gemeinsprache und im Vergleich zueinander) ist nur erreichbar auf der Grundlage einer sehr, sehr großen Menge von Einzelstudien (zu möglichst großen Korpora), die systematisch bestimmte außersprachliche Faktoren kontrollieren. So etwas ist nur denkbar im Rahmen eines transdisziplinären Großprojekts. Ein solches existiert aber nicht, genauer gesagt sind die Ressourcen deskriptiver Fachsprachenforschung sehr beschränkt. Bisher haben wir von (Sub-)Disziplinen und Forschungsansätzen nur als gedanklichen Konstrukten gesprochen. Um zu beurteilen, inwieweit es sie ‚wirklich gibt‘, ist die Frage besonders wichtig, ob spezifische Institutionen existieren und in welchem Umfang finanzielle Mittel dafür bereitstehen. Bei Fachsprachen sind in diesem Sinne am stärksten Bereiche, die sich aus der Perspektive der Angewandten Linguistik ergeben: Terminologie, Technische Redaktion, Fachübersetzung sowie Ausbildungsgänge für diese Aufgaben (vgl. dazu Göpferich 2006). <?page no="33"?> 33 1.4. Von der Innensicht zur Außensicht: Durchschnittsmenschen Was die deskriptive Fachsprachenforschung im Sinne des Programms von Hoffmann betrifft, so verfügen wir dagegen nur über eine zwar sehr große, längst nicht mehr überschaubare Menge von Spezialstudien. Sie beruhen allerdings überwiegend auf individueller Forschung (insbesondere Qualifikationsarbeiten) und können daher in der Regel nur mit relativ begrenzten Korpora arbeiten. Außerdem sind sie untereinander keineswegs leicht vergleichbar, behandeln nämlich nie alle möglichen (und damit immer die gleichen) Ebenen und können auch dann, z. B. bei der Syntax, kaum auf standardisierte Beschreibungsinstrumente rekurrieren, sondern finden sich der Kategorienvielfalt gegenüber, die für diesen Bereich (wie die meisten anderen der deskriptiven Linguistik) eben charakteristisch ist (s. o. zu grammatischen Grundbegriffen). Hinzu kommt, dass deskriptiv-quantitative Arbeiten zu einer statischen Sicht tendieren. Nirgends ist aber die Dynamik der Sprachentwicklung größer als in fachlich geprägten Handlungsfeldern. Beschreibungen eines Ist-Zustands erfordern einen sehr hohen Aufwand, sind aber notwendigerweise schon (vielleicht stark) veraltet, wenn sie abgeschlossen sind. So wird verständlich, dass die Fachsprachenforschung ein so „ungeordnetes Gebiet“ (Roelcke 2010: 7) ist und es auch zu bleiben droht. Der Maximalismus- - möglichst alle Fächer und Untergebiete, Textsorten, Phänomene-…--, der dazu dient, die Relevanz der Disziplin argumentativ zu stützen, verkehrt sich in ein Hemmnis: Der Gegenstandsbereich ist zu groß und zu diffus konzipiert, als dass er praktisch bearbeitet werden könnte. Abgesehen davon: Es ist ja recht vermessen, wenn Linguisten sich als Experten für den Sprachgebrauch der Experten aller Fächer präsentieren-… 1.4. Von der Innensicht zur Außensicht: Durchschnittsmenschen Das Problem der inneren Heterogenität von Fachsprache(n) ist so offensichtlich, dass bereits der Beginn ihrer linguistischen Erforschung durch Versuche gekennzeichnet ist, den großen Gegenstandsbereich weiter zu untergliedern und zu systematisieren (vgl. Kap. 4.). Dazu wurden diverse Modelle konstruiert, die das Fächerspektrum gliedern sollten- - das ist die sog. horizontale Gliederung. Viel wichtiger erschien es aber noch, bestimmte Schichten der Fachsprachen zu differenzieren: Hier spricht man traditionell von vertikaler Gliederung. Zunächst hielt man es für sinnvoll, Fachsprache(n) zu begrenzen auf die Sprache, die Experten untereinander verwenden (vgl. noch den Eintrag bei Glück und die Arbeitsdefinition von Hoffmann). Im Zentrum stand / steht <?page no="34"?> 34 1. Zur Einleitung: Wen interessieren Fachsprachen? damit die fachinterne gegenüber fachexterner Kommunikation. Das ist schon grundsätzlich nicht unproblematisch, wird aber umso unangemessener, je weiter die Spezialisierung fortschreitet: Als Experte kommt man nicht auf die Welt, man wird dazu in einem mehr oder weniger langen Prozess. Damit Fächer sich erhalten können, müssen die Experten also zunächst einmal ständig mit Leuten kommunizieren, die noch (viel) weniger Expertise haben. Je stärker sich ein Fach ausdifferenziert, desto kleiner werden die Gruppen von Experten, die über das Höchstmaß an Expertise verfügen, das zu einem gegebenen Zeitpunkt für einzelne Spezialgebiete gesellschaftlich zur Verfügung steht. Außerdem ist der Expertenstatus dauernd bedroht: Wer sich nicht ständig weiterbildet, fällt schnell in die Gruppe der Nicht-Spezialisten zurück. So kann es nicht ausbleiben, dass alle Menschen in Bezug auf fast alle Fächer Nicht-Experten sind. Zugleich können und müssen sie sich aber einen Teil des gesellschaftlich vorhandenen Fachwissens zu bestimmten Zwecken ausschnitthaft aneignen. Damit liegt es nahe, das maximalistische Ideal umzudeuten: Es ist nicht ratsam, den Sprachgebrauch in möglichst vielen Fächern, in möglichst vielen Verästelungen, auf möglichst allen Ebenen so differenziert wie möglich untersuchen zu wollen. Das ist weder praktikabel noch finanzierbar und außerdem von relativ geringer gesellschaftlicher Relevanz. Wenn wir beim Maximum (von irgendetwas) als Idealvorstellung bleiben wollen, so scheint mir an Fach(sprach)lichem das von besonderem Interesse zu sein, was für einen möglichst großen Teil der Sprachteilhaber (potenziell) relevant ist. Die folgende Darstellung nimmt daher grundsätzlich die Sicht von Nicht- Experten zum Ausgangspunkt. Fach(sprach)liches soll in erster Linie insoweit in den Blick kommen, als LeserInnen dieses Buches ohnehin damit konfrontiert sind. Deswegen werden außer der Alltagswelt die folgenden Aspekte privilegiert: Fach(sprach)liches, ▶ das im allgemeinbildenden Unterricht weitergegeben wird, also an alle Gesellschaftsmitglieder, die eine (weiterführende) Schule besuchen, ▶ das in Massenmedien einem breiten Publikum als (aktuell) relevant präsentiert wird, ▶ das für alle Mitglieder eines Gemeinwesens (auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene) relevant ist, insofern es politische und administrative Belange betrifft, <?page no="35"?> 35 1.4. Von der Innensicht zur Außensicht: Durchschnittsmenschen ▶ das sich im Rahmen der beruflichen Tätigkeit von Absolventen philologischer Studiengänge, also insbesondere für den mutter- oder fremdsprachlichen Unterricht, als nützlich erweist, ▶ das bei den immer wichtiger werdenden Tätigkeiten im Rahmen von Organisation und Verwaltung eine Rolle spielt, sowohl bei der Wissensproduktion (Wissenschaftsbetrieb), als auch der Wissensweitergabe (Ausbildung im Kontext staatlicher oder anderer Institutionen), der Wissensevaluation (Bildungsstandards, nationale und internationale Vergleichsstudien) und der (autodidaktischen) Wissensaneignung. <?page no="37"?> 37 1.4. Von der Innensicht zur Außensicht: Durchschnittsmenschen 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Wie die deutsche Gemeinsprache ein Kunstprodukt ist und nicht die Sprache eines politischen und kulturellen Mittelpunktes eines Hofes oder einer Hauptstadt-- so sind auch alle Einteilungsvorschläge und so genannten Definitionen zur Binnengliederung der [sic] Deutschen, allesamt an den Schreibtischen der Sprachwissenschaftler entstanden. Datengrundlage ist dabei die eigene Spracherfahrung, die Introspektion, ausnahmsweise sind es gezielte Beobachtung an Texten und ganz selten sind es empirische Großversuche, die sich dem „Datensalat“ der Sprachwirklichkeit aussetzen. Dort trifft man ein grenzenloses, nicht abgrenzbares Durcheinander an, einen großen Brei, in den man mit keinem Messer klare Schnitte einbringen oder mit terminologischen Förmchen Figuren ausstechen könnte. Sobald man ansetzt, fließt sofort alles wieder ineinander. So kommt es, dass jeder an seinem Schreibtisch den Brei etwas anders durchschneidet. Das ist nicht weiter schlimm, solange niemand behauptet, ihm sei es gelungen, klare Schnitte anzubringen und haltbare Figuren auszustechen, die[.] ein allgemein akzeptiertes terminologisches System ergeben. (Heinrich Löffler 2005: 25) Den Ausdruck Varietät verwendet man heute in der Regel als neutralen Oberbegriff, der die vortheoretische allgemeine Erfahrung aufgreifen soll, dass eine Sprache in verschiedenen Spielarten auftritt, die man als charakteristische Sprechweisen, typische Formen eines Sprachgebrauchs wahrnimmt und im Deutschen meist mit einem Kompositum mit dem Grundwort Sprache oder auch Deutsch bezeichnet (Amtsdeutsch, Behördensprache, Gesetzessprache, Jugendsprache, Kirchensprache, Neudeutsch usw.). Wir stehen damit vor dem grundsätzlichen Problem, das uns schon in 1.3. begegnet ist, dem Nebeneinander von alltagsweltlichen Kategorien und ihrer Übernahme in die (Fachsprachen-)Linguistik. Das Bewusstsein der Heterogenität von Einzelsprachen ist uralt und in den Vorformen der Angewandten Linguistik spätestens seit der Neuzeit auch reflektiert worden (vgl. Berruto 2004: 193, Sinner 2014: Kap. 2 und Nabrings 1981: 33 ff., 91). Sprachwissenschaftliche Versuche, in den dabei entstandenen ‚terminologischen Wirrwarr‘ (vgl. ebd.: 34) Ordnung zu bringen, fallen aber erst in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einen guten Einblick in den Diskussionsstand Anfang der 1970er Jahre bietet das erfolgreiche Bändchen Deutsch für Deutsche. Dialekte, Sprachbarrieren, Sondersprachen (1972) von <?page no="38"?> 38 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Hermann Bausinger, der verschiedene ‚Deutschs‘, „Sprachen innerhalb unserer Sprache“ (ebd.: 7) vorstellt. An anderer Stelle hält er fest: „Wer die heutigen sprachlichen Verhältnisse untersucht, gerät in ein Feld von Übergängen, Ausgriffen, Zwischenformen, Unsicherheiten. Die Frage stellt sich, wo in dieser Situation vernünftigerweise Beobachtung und Analyse anzusetzen haben.“ (Bausinger 1967: 309 f.) Er artikuliert also denselben Eindruck wie knapp 40 Jahre nach ihm Heinrich Löffler (vgl. das Motto). Ein entscheidender Schritt zur Systematisierung des Feldes bestand darin, die vielen Sonderformen wenigstens grob nach Variationsdimensionen zu ordnen. Dabei hatte ein Modellvorschlag von Eugenio Coseriu besonderen Einfluss (vgl. Nabrings 1981: 35 f., Dittmar 1997: 14 ff., 177 ff. und Sinner 2014: Kap. 3.6). Er operiert zunächst mit dem Begriff funktionelle Sprachen und unterscheidet dabei eine diatopische, diastratische und diaphasische Dimension. Nabrings und Dittmar setzen diese funktionellen Sprachen mit Varietäten gleich und versuchen, mit diesem Ordnungsraster einen Überblick über das Varietätenspektrum zu geben. Sie betonen jedoch, dass „die Trennung der verschiedenen Dimensionen nur heuristischen Wert haben kann und eine reinliche Scheidung verschiedener Dimensionen und sprachlicher Varietäten recht problematisch ist“ (Nabrings 1981: 89). Andere Übersichten zu Varietäten des Deutschen arbeiten ebenfalls mit Dimensionen, beziehen sich aber nicht auf Coserius Modell; zu nennen sind besonders Löffler (2016, 1 1985), Steger (1988) und Barbour / Stevenson (1998). Einen Einblick in den Diskussionsstand um die Jahrhundertwende sollten die HSK -Bände zu Fachsprachen (14) und zur Soziolinguistik (3, 2. Aufl.) gewähren. Die einschlägigen Artikel-- Die Fachsprache in der einzelsprachlichen Differenzierung (Becker / Hundt 1998) und Sprachvarietät- - Sprache (Gesamtsprache, historische Sprache) von Berruto (2004)- - vermitteln den Eindruck, dass die Einteilung in Anlehnung an Coseriu sich weitgehend durchgesetzt hat. Konsens scheint damit auch zu bestehen über die „fundamentalen extralinguistischen Dimensionen“, mit denen zu rechnen ist, nämlich „Zeit, Raum, soziale Schicht-[…] und soziokommunikative Situation“ (Berruto 2004: 193). Das führt zu folgendem Ordnungsraster: 1. diachron (historische Variation): wann? 2. diatopisch (geografische Variation): wo? <?page no="39"?> 39 2.1. Der alltagsweltliche Umgang mit sprachlichen Auffälligkeiten 3. diastratisch (soziale Variation): wer (mit / zu wem)? 4. diaphasisch (situative, situationale, funktional-kontextuelle Variation): in welchem Kontext? (vgl. Berruto 2004: 193) Die Verbindung der alltagsweltlichen Vorstellung von Sonderformen einer Sprache mit dem Klassifikationsansatz von Coseriu bleibt aber durchaus problematisch und hat im Rahmen der Untersuchung von Fachsprachen dazu geführt, dass deren Status so unklar geblieben ist. Im Prinzip stellen sich jedoch die Probleme für alle Varietäten gleich dar, insbesondere ist das schwierige Verhältnis zur sog. Gemeinsprache kein Sonderkennzeichen für Fachsprachen. Da die Frage nach der (spezifischen) Position von Fachsprachen im Rahmen der Gesamtsprache für die Fachsprachenlinguistik zentral ist, sollen die Zusammenhänge hier etwas ausführlicher dargestellt werden. Die alltagsweltliche Sichtweise ist besonders gut greifbar in der Rede von irgendwelchen x-Sprachen. Dieser liegt die Vorstellung zugrunde, üblicherweise benutzten die Leute einfach ‚normales‘ Deutsch, während irgendwelche speziellen Varietäten nur für besondere Gruppen oder unter besonderen Umständen zum Zuge kämen. Ganz im Gegensatz dazu unterstellt Coseriu: „Man spricht nie ‚Deutsch‘ schlechthin, sondern immer eine bestimmte Form des Deutschen“ (Coseriu 1976: 15). Die Frage, was man sich unter Fachsprachen oder irgendwelchen anderen Varietäten vorstellt, hängt also unmittelbar davon ab, in welchem Kontext man sich damit auseinandersetzt. Es scheint mir sinnvoll, drei Zusammenhänge zu unterscheiden: ▶ Varietäten als Bewusstseinsphänomene der Sprachteilhaber, ▶ systematische Gliederungen des Varietätenspektrums (dazu gehört die Modellvorstellung von Coseriu) und schließlich ▶ Ansätze der empirischen Beschreibung von Varietäten. 2.1. Der alltagsweltliche Umgang mit sprachlichen Auffälligkeiten Bei jedweder schriftlichen oder mündlichen Äußerung kann es dazu kommen, dass irgendwelche Dinge auffallen, weil sie von der Normalerwartung abweichen, sich aber irgendwie kategorisieren lassen: Der s-pitze S-tein, Plörre und spillerig sind norddeutsch, Sub-schtanz, Häusle und fretten süddeutsch, analgetisch, Borreliose, Onkologie fachsprachlich, bumsen, poppen, ficken salopp <?page no="40"?> 40 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum bzw. vulgär, Hochachtungsvoll und handgeschriebene Lebensläufe sind veraltet usw. Solche Zuordnungen sprachlicher Elemente zu außersprachlichen Faktoren vornehmen zu können, gehört zur Kompetenz der Sprecher. Da wir allerdings alle nur über begrenzte Sprachkenntnisse verfügen, werden wir auch immer wieder mit Ausdrücken konfrontiert, die wir nicht kennen oder nicht einordnen können. Ebenso verwenden wir mitunter selbst Ausdrücke, mit denen unser Gegenüber Probleme hat. Es kommt dann vielleicht zu Nachfragen, Erklärungen und sonstigen metakommunikativen Bearbeitungen. Dies endet möglicherweise damit, dass man in einem Wörterbuch nachschlägt. Da wir die Sichtweise gewöhnlicher Sprachteilhaber einnehmen wollen, ziehen wir ein Wörterbuch heran, das ein relativ breites Zielpublikum anspricht, nämlich „alle, die sich im Rahmen ihrer Aus- und Weiterbildung, aus beruflichen oder privaten Gründen in besonderem Maße für die deutsche Sprache interessieren“. So kennzeichnet das Duden Universalwörterbuch ( DUW ) im Vorwort den angesprochenen Benutzerkreis und verspricht eine „umfassende und kompakte Darstellung des allgemeinen Wortschatzes der deutschen Gegenwartssprache“. Im eigentlichen Wörterbuch wird das Konzept Universalwörterbuch folgendermaßen erläutert-- die Beschränkung auf den ‚allgemeinen Wortschatz‘ erweist sich als Vereinfachung, wie sie für Vorworte typisch ist: Universalwörterbuch: ‚umfassendes Wörterbuch, das neben dem allgemeinen Wortschatz einer Sprache auch den Wortschatz der wichtigsten Fachsprachen, Mundarten und Stilschichten usw. enthält‘ ( DUW 8 2015; Hervorhebungen K. A.) Was genau ausgewählt werden soll, ist aber selbstverständlich problematisch: „Das Deutsche Universalwörterbuch will den aktuellen Wortschatz des modernen Deutsch möglichst umfassend darstellen, wobei sich Verlag und Bearbeiter der Tatsache bewusst sind, dass Vollständigkeit bei geschätzten 500 000 Wörtern der Alltagssprache und einer nach oben unbegrenzten Zahl von fachsprachlichen Fügungen schlechterdings unmöglich ist.“ ( DUW 8 2015, Anlage und Aufbau der Artikel; Kursivierungen im Orig., Fettdruck K. A.) Besonders heikel erscheint der Umgang mit bestimmten Markierungen: „Es unterliegt meist dem individuellen Sprachgefühl, in welcher Qualität Wörter wie ‚Scheiße‘, ‚blöd‘, ‚Dreckspatz‘, ‚saukalt‘, ‚affengeil‘ oder ‚beölen‘ wahrgenommen werden. Was manchen Benutzern normalsprachlich-- weil dem eigenen vertrauten Lebens- und Sprachalltag entstammend-- erscheint, ist für andere schon ‚ugs.‘ (=-um- <?page no="41"?> 41 2.1. Der alltagsweltliche Umgang mit sprachlichen Auffälligkeiten gangssprachlich), ja gar ‚derb‘ oder sogar ‚vulg.‘ (=-vulgär). Ähnlich verhält es sich mit Bewertungen wie ‚geh.‘ (=-gehoben) oder ‚fachspr.‘ (=-fachsprachlich). Angaben zum Sprachstil, zur Sprachebene, sind immer wertend und damit oft subjektiv. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad auch für dieses Wörterbuch, obgleich es sich auf eine Fülle statistisch ausgewerteten Materials berufen kann und so mit empirisch abgesicherten Daten die Ebene der rein subjektiven Bewertung hinter sich lässt.“ (ebd.; Fettdruck K. A.) Es ist bemerkenswert, dass gerade bei der Zuordnung zu (stilistischen) Varietäten die ‚Subjektivität‘ hervorgehoben wird. Denn ein ganz individuelles Sprachgefühl haben wir in Bezug auf alle Eigenschaften sprachlicher Ausdrücke. Dass auch die denotativen und konnotativen Bedeutungsmerkmale, verschiedene Lesarten usw. nicht objektiven Gegebenheiten entsprechen, zeigt sich daran, dass auch hier verschiedene Wörterbücher nur annäherungsweise die gleichen ‚Informationen‘ liefern. Wir müssen also wieder auf die Frage zurückkommen, in welchem Sinn es ‚die‘ deutsche Sprache bzw. Sprachvarietäten ‚gibt‘ bzw. nicht ‚gibt‘ (vgl. 1.2.) und welche Kategorien alltagsweltlich relevant sind (vgl. 1.3.). ▶ Reale Existenz kommt auf jeden Fall Produkten des Sprachgebrauchs zu, also Äußerungen. Deren Gesamtheit ist allerdings nicht überschaubar. Man kann daraus nur Korpora zusammenstellen, deren jeweilige Anlage mehr oder weniger gut begründet ist, ‚objektiv‘ kann sie nicht sein. Der Duden legt ein solches eigenes Korpus zugrunde, das immerhin ziemlich groß ist, derzeit nämlich 3 Milliarden Textwörter umfasst. ▶ Für zweifelsfrei real halten wir ferner Sprachwissen als kognitive Größe, das man heutzutage meist Sprachkompetenz nennt. Sprachwissen ist erstens unweigerlich individuell, zweitens der direkten Beobachtung nicht zugänglich und drittens extrem instabil, insofern es sich mit jeder Spracherfahrung verändert- - meist nur minimal, in Unterrichtskontexten aber z. B. erheblich. Daher ist es undenkbar, dass das Sprachwissen von zwei Individuen genau übereinstimmt, es ist also immer, und nicht nur, wie es im DUW heißt, „oft“ ‚subjektiv‘. ▶ Elemente der außersprachlichen Wirklichkeit sind natürlich auch Wörterbücher. Allerdings sind es Kunstprodukte, Ergebnisse der Angewandten Linguistik (vgl. 1.1.), Versuche, einen bestimmten Realitätsausschnitt möglichst angemessen zu rekonstruieren bzw. abzubilden. Eine Abbildung ist jedoch nicht der Gegenstand selbst, sondern ein notwendigerweise perspektivisch gebrochenes Bild davon. <?page no="42"?> 42 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Wie ‚ist‘ nun der Gegenstand selbst, der in Wörterbüchern abgebildet werden soll, bzw. wie erscheint er Beobachtern, die relativ genau hinschauen? Folgen wir dem Motto dieses Kapitels, so handelt es sich bei der Sprachrealität um ein grenzenloses Durcheinander, einen großen Brei, der immer gleich wieder zusammenfließt, sobald man versucht, ihn zu zerschneiden. Denn Wörterbücher, jedenfalls solche, die den Anspruch erheben, den Wortschatz der Gegenwartssprache umfassend darzustellen, sollen etwas abbilden, das aus der Sicht jedes Sprachteilhabers-- ein wenig oder auch markant-- anders aussieht und das sich auch noch in ständiger Bewegung befindet. Die Betonung der Individualität des Sprachwissens und der ‚Subjektivität‘ von Zuordnungen sprachlicher Elemente zu bestimmten Varietäten vernachlässigt jedoch, dass es noch etwas gibt, dem wir unzweifelhafte Realität zuschreiben müssen, sie vernachlässigt Sprache als soziale Institution. Diese Realität ist allerdings auch am schwierigsten zu fassen. Unstrittig dürfte jedoch sein-- ein viertes Element: ▶ Auch wenn Wissen als kognitives Phänomen trivialerweise individuell ist, so stellen doch die Inhalte keineswegs private Erfindungen dar, sondern es handelt sich um die individuelle Verarbeitung kollektiver Konstrukte. Die Vorstellungen, die wir von Sprachen und Varietäten haben, die Einstellungen dazu, die Wertungen, die wir mit bestimmten Ausdrucksweisen verbinden, entsprechen alltagsweltlichen Konzepten, Schemata, mit denen wir der Welt begegnen und die wir durch Teilnahme an sozialen Praxen erworben haben. Vielfach haben sie den Status dessen, was man gewöhnlich Stereotype nennt. Sie mögen auch tatsächlich ein ‚falsches‘, unangemessenes Bild vermitteln und die Wirklichkeit verzerren; gleichwohl stellen sie höchst wirksame soziale Realitäten dar. Bei der Untersuchung sozialer Stereotype, die mit sprachlichen Ausdrucksformen verbunden sind, wurde schon sehr früh die Auffassung vertreten, man solle speziell von Soziolekten überhaupt nur sprechen, wenn sie auch „von den Sprechern als mit sozialen Gruppierungen zusammenhängend aufgefaßt werden“ (Hammarström 1967: 205; Fettdruck im Orig. gesperrt). Dies legen auch die Untersuchungen eines Altmeisters der Soziolinguistik, William Labov, nahe: „speech communities may be defined more precisely by agreement in subjective judgments rather than by agreement in speech behavior“ (Labov 1971: 209). <?page no="43"?> 43 2.1. Der alltagsweltliche Umgang mit sprachlichen Auffälligkeiten Stereotype, alltagsweltliche Konzepte dieser Art, lassen sich wiederum nicht direkt beobachten. Zugang dazu kann man auf unterschiedlichen Wegen suchen. Labov setzte experimentelle Studien ein. Diese geben zwar einen besonders guten Einblick in subjektive Werturteile. Allerdings lassen sich so immer nur Momentaufnahmen mit relativ begrenzten Sprechergruppen erzeugen. Den Experimenten am weitesten entgegengesetzt ist der Versuch, gemeinsprachliche Ausdrücke zum Ausgangspunkt zu nehmen, insofern sich in ihnen soziale Wertvorstellungen gewissermaßen sedimentieren. Denn da eine natürliche Sprache zugleich ihre eigene Metasprache ist, umfasst sie auch eine ganze Reihe von Ausdrücken, die auf Sprachliches referieren und in denen alltagsweltliche Konzepte darüber zum Ausdruck kommen. Dazu gehören Wörter für sprachliche Varietäten. Aufschluss bieten darüber hinaus spontane oder absichtlich provozierte (sog. elizitierte) metakommunikative Äußerungen bis hin zu sprachkritischen Diskursen. In manchen von ihnen bilden Varietäten ein zentrales Objekt. Zum direkten Gegenstand der Erhebung werden Einstellungen ferner in sozialwissenschaftlich orientierten Untersuchungen; ein wichtiges Instrument stellen dabei Befragungen dar (vgl. dazu Löffler 2016: 42 f. und 138 ff.). Im Folgenden wird das DUW als Quelle benutzt, die eine Annäherung an Konzepte im Bereich der Sprachvariation erlaubt. Von besonderem Vorteil ist es, dass das Werk, das in 1. Auflage 1983 erschien, alle paar Jahre aktualisiert wird. 13 Berücksichtigt werden im weiteren Unterschiede zwischen der 7. und der 8. Auflage (2011 bzw. 2015). Es wird sich zeigen, dass diese durchaus beachtlich sind. Als Detail ist zunächst zu vermerken, dass statt Abkürzungen (z. B. Adj., fachspr.) die Vollformen erscheinen (Adjektiv, fachsprachlich). In Wörterbüchern wie dem DUW erscheinen Ausdrücke für Varietäten dreifach: Einerseits wollen Wörterbücher die Ausdrücke erfassen, so wie sie gemeinsprachlich gebraucht werden. Sie beziehen ferner fachsprachliche Gebrauchsweisen derselben Ausdrücke als Gegenstand der Darstellung ein. Schließlich benutzen sie großenteils wiederum dieselben Ausdrücke als Elemente ihrer Beschreibungssprache, sowohl in Metatexten als auch bei der Markierung der Gebrauchsbedingungen. An dieser Gebrauchsweise setzen wir hier v. a. an. Die Software-Version erlaubt es, Listen von Ausdrücken (oft nur einzelnen Lesarten davon) zu extrahieren, die mit derselben Markierung 14 versehen sind. Für Varietäten sind relevant: 13 Vgl. dazu auch Adamzik (2010a: Kap. 14 und 15). 14 Der leichteren Lesbarkeit des Fließtextes wegen erscheinen diese hier in Kapitälchen. <?page no="44"?> 44 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum ▶ räumliche Zuordnung (z. B. österreichisch, gut 3.000 Treffer) ▶ zeitliche Zuordnung (als Optionen erscheinen mit insgesamt 4.346 Treffern nur: früher (z. B. Feldmarschall), Geschichte (z. B. Dolchstoßlegende), veraltend (z. B. Bankert) und veraltet (z. B. allwo); die Stadien der deutschen Sprachgeschichte findet man über das Suchfeld Etymologie) ▶ stilistische Bewertung (z. B. umgangssprachlich, fast 9.000 Treffer) ▶ Sachgebiete; Fachsprachen In diesem letzten Fenster kann man zwischen 27 Optionen wählen, nämlich: Amtssprache, Bergmannssprache, EDV, Fachsprache, Jugendsprache, Jägersprache, Kaufmannssprache, Kindersprache, Literaturwissenschaft, Medizin, Militär, Papierdeutsch, Philosophie, Politik, Psychologie, Pädagogik, Rechtssprache, Rhetorik, Schülersprache, Seemannssprache, Soldatensprache, Soziologie, Sprachwissenschaft, Stilkunde, Studentensprache, Werbesprache, Wirtschaft. Bei diesen Wahlmöglichkeiten im Feld ‚Sachgebiete; Fachsprachen‘ handelt es sich allerdings nur um eine bescheidene Auswahl aus den tatsächlich etwa 180 verwendeten Markierungen für Fach- und Sondersprachen, die im Metatext Anlage und Aufbau der Artikel aufgelistet sind. 15 Die weitaus meisten davon sind Ausdrücke für einen Sachbereich wie Chemie, Jagdwesen, Kartenspiel oder Kfz-Technik, 20 sind Komposita auf -sprache, die als Bestimmungswort meist eine Personenbezeichnung enthalten. Diese Ausdrücke sind fast alle für die elektronischen Suchoptionen übernommen (hier kursiviert) 16 und fallen unter den alten Oberbegriff Sondersprache. Dieser wurde viel benutzt, bevor sich Varietät durchsetzte. 17 Seine Erläuterung im DUW zeigt, dass es dabei eher um die diastratische Dimension geht: ‚sich besonders im Wortschatz von der Gemeinsprache unterscheidende, oft der Abgrenzung, Absonderung dienende Sprache einer sozialen Gruppe‘. 15 Zwischen den Listen der 7. und der 8. Auflage des DUW bestehen leichte Differenzen. Diese gehen nicht auf ‚neue Fachsprachen‘ zurück, sondern v. a. darauf, dass 2015 einige Markierungen für Fach-/ Sondersprachen aus der Oberkategorie Handwerk ausgegliedert worden sind, nämlich Bäckerei, Böttcherei, Kürschnerei, Schneiderei, Tischlerei, Weberei und Zimmerei. 16 Nicht übernommen sind: Drucker-, Flieger-, Gauner-, Imker-, Kirchen-, Verwaltungs- und Winzersprache. Der einzige Ausdruck, der auf -deutsch gebildet ist, Papierdeutsch (134 Treffer), erscheint nicht auf den Listen. 17 Vgl. z. B. Bausinger (1972); zur Übersicht über ältere Verwendungen von Sondersprache vgl. Nabrings (1981: Kap. 3.3.3.). <?page no="45"?> 45 2.1. Der alltagsweltliche Umgang mit sprachlichen Auffälligkeiten Die Auswahl für das Suchfeld ist offenbar nicht sehr systematisch und stark an (unterstellten) alltagsweltlichen Vorstellungen bzw. Interessen orientiert. Dabei bekommen historische Varietäten besonderes Gewicht. Sie werden auch berücksichtigt, wenn deren Sonderlexik quantitativ nicht weiter ins Gewicht fällt wie z. B. bei Bergmannssprache (63). Kinder- (54), Schüler- (46) und Studentensprache (ganze 4) stehen neben Jugendsprache, Kaufmanns- (283) und Soldatensprache (51) neben Wirtschaft bzw. Militär. Die Anzahl der Treffer hat sich bei diesen ‚Sondersprachen‘ gar nicht oder nur unwesentlich geändert. Wie sich das bei den anderen Sachgebieten / Fachsprachen verhält, zeigt die folgende Tabelle. 18 DUW 2011 DUW 2015 Amtssprache 439 446 EDV 822 947 Fachsprache 19 1223 1237 Jugendsprache 76 39 Literaturwissenschaft 196 195 Medizin 2825 2865 Militär 683 689 Philosophie 293 293 Politik 457 500 Psychologie 447 459 Rechtssprache 1200 1208 Soziologie 152 154 Sprachwissenschaft 1239 1240 Werbesprache 85 85 Wirtschaft 1432 1534 Summe 11 569 11 891 18 Grau unterlegt sind die Zeilen, bei denen es zu einer Verschiebung um mehr als 30 Einheiten gekommen ist. Kursiv gesetzt sind diejenigen Fächer, die zu dem von Kalverkämper (1990: 93) ermittelten Fächerkanon europäischer Lexikografen gehören; die Übereinstimmung ist nicht sehr groß. 19 Auch unter ‚stilistische Bewertung‘ ist ‚fachsprachlich‘ eine Option und erbringt 1.283 Treffer ( DUW 2015). <?page no="46"?> 46 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Man ist vielleicht etwas überrascht, dass die Ausbeute nicht größer ist. Das liegt natürlich an der sehr engen Auswahl, die Technik und Naturwissenschaften geradezu systematisch übergeht, obwohl diese Bereiche besonders ‚neuerungsaffin‘ sind und nicht gerade selten zur Markierung herangezogen werden. 20 Mit großem Abstand am stärksten vertreten ist der Sachbereich Medizin, hier sind Individuen (potenziell) persönlich besonders stark betroffen, kommen nämlich als Patienten mit entsprechendem Vokabular in Kontakt. Es folgen in der Rangskala 21 mit Wirtschaft und Recht Gebiete, die für Menschen als Staatsbürger besonders relevant sind, der erste Bereich mit einem Zuwachs von über 100 Einheiten. Beachtlich ist auch der Zuwachs der zum selben Großgebiet gehörenden Politik. 22 Die größte Zunahme ist bei EDV zu verzeichnen, dem einzig berücksichtigten Fach aus dem Großbereich Technik. Es bestimmt den Alltag in der digitalisierten Welt; die Liste nähert sich der 1000er-Marke und wird sie wahrscheinlich in der nächsten Auflage überschritten haben. Ganz abgeschlagen sind Werbe- und Jugendsprache, die in der Öffentlichkeit so präsent sind.Dass Werbesprache überhaupt Sachgebieten / Fachsprachen zugeschlagen wird, rechtfertigt sich immerhin damit, dass etwa die Hälfte der Ausdrücke tatsächlich solche aus der Fachsprache der Werbebranche sind. Dazu gehören Dachmarke, Direktwerbung, Headline, Imagekampagne, Relaunch, Teaser. Sie stehen neben solchen, die für Werbetexte typisch sind. Es erscheinen z. B. das unvermeidliche unkaputtbar, Erlebnis-, Schnupperals Wortbildungselemente, hautstraffend, porentief, Waschkraft. Es sind aber doch bemerkenswert wenige lexikalische Einheiten, die man einigermaßen sinnvoll als spezifisch oder wenigstens typisch für Werbesprache betrachten bzw. als solche in ein Universalwörterbuch aufnehmen kann. Bei 20 So auch Kalverkämper (1990: 93). Gewisse Anhaltspunkte erlaubt die Option Phrasensuche (im Volltext), die (für DUW 2015) z. B. zu folgenden Ergebnissen führt: Technik (2.408), Chemie (1.176), Physik (976), Mathematik (611). Sie enthält aber auch alle Lemmata mit dem entsprechenden Ausdruck. Diese Suchoption ist in der 7. und 8. Auflage technisch anders gestaltet, so dass sich die Ergebnisse nicht unmittelbar vergleichen lassen und ich dieser Spur nicht weiter nachgehe. 21 Den erstaunlich hohen Wert für den Bereich Sprachwissenschaft lasse ich außer Acht, weil er sich ja wahrscheinlich daraus erklärt, dass hier Linguisten am Werk waren. 22 In der Berichterstattung zum Tagesgeschehen begegnen regelmäßig auch Ausdrücke aus dem Bereich Militär. <?page no="47"?> 47 2.1. Der alltagsweltliche Umgang mit sprachlichen Auffälligkeiten den jugendsprachlichen Ausdrücken ist das wegen der vielen nur in Kleingruppen üblichen und höchst unbeständigen Elemente noch viel schwieriger. Die auch hier vorhandene fachbzw. sachspezifische Komponente, die sich v. a. aus besonderen Freizeitaktivitäten wie z. B. dem Skateboarding ergibt, 23 spielt im DUW keine Rolle. Mit einer gewissen Überspitzung könnte man sagen: Was im DUW als jugendsprachlich erscheint, taugt nicht mehr als Ausdrucksmittel authentischer Jugendsprache. Aufgenommen werden dort offenbar nur sehr verbreitete Ausdrücke, die daher auch Chancen haben, die Zuschreibung Jugendsprache zu verlieren. Es geht auf diese Markierungsveränderungen zurück, dass die Trefferliste massiv, nämlich um fast die Hälfte, geschrumpft ist. Cool gilt schon lange nicht mehr als jugendtypisch, es ist jetzt als salop p gebucht; uncool und ultracool haben zusätzlich - noch? - die Markierung ( b esonders ) J ugend sprache . In der Mehrheit der Fälle wird ein Übergang von J ugendsprache zu umgangs sprachlich angesetzt, so etwa bei den relevanten Lesarten von ätzend, Bock, crazy, Date oder null. Nun besteht bekanntlich kein Mangel an spezifischen Wörterbüchern der Jugendsprache (vgl. Neuland 2008: 12 ff., 84 f.). Sie sind sogar ein florierendes Genre auf dem Buchmarkt und tragen wesentlich dazu bei, „in einem Prozess des ‚Doing Youth‘ aus medialer Vermittlung, Stereotypisierung und Kommerzialisierung“ (ebd.: 19) Jugendsprache als mediales Konstrukt entstehen zu lassen. Dieses Konstrukt ist geeignet, sich vor Augen zu führen, wie man alltagsweltlich sonst mit Varietäten umgeht, wie sie im öffentlichen- - nicht fachlichen! -- Diskurs behandelt werden: Der Umgang ist v. a. extrem unsystematisch, d. h. man interessiert sich nicht für das gesamte Varietätenspektrum, sondern nur für wenige Varietäten, die dann allerdings gern zu x-Sprachen hypostasiert werden (vgl. 1.3.). Es muss irgendeinen für die Alltagspraxis relevanten Anlass geben, sich überhaupt mit der Variation auseinanderzusetzen, sie sich bewusst zu machen. Bei der Jugendsprache kommen gleich mehrere zusammen. Der älteste und zuverlässigste ist die stabile Sorge um den Sprachverfall: „Wann immer vom drohenden ‚Sprachverfall‘ oder gar vom ‚Verlust der Schriftkultur‘ die Rede ist, wurde und wird die Sprache der Jugendlichen als abschreckendes Beispiel genannt“ (Neuland 2008: 23 Vgl. Neuland (2008: 151 f.) und z. B. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Skateboarder-Jargon; <06. 11. 2017> <?page no="48"?> 48 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum 4 f.). An anderen alltagsweltlichen Kategorisierungen führt Neuland (ebd.: 17) Comic-Sprache (besonders in den 1980er Jahren) und SMS -Sprache an. Andere Ausdrücke, die in diesem Kontext eine Rolle spielen, sind Fäkal-, Vulgär- und Gossen-Sprache-- da der Sprachverfall in der Regel auch als Sittenverfall gesehen wird. Zu diesem Großbereich gehören eigentlich alle Markierungen, die sich als Substandard qualifizieren lassen. Dieser wird allerdings meistens mit einem adjektivischen Ausdruck bezeichnet: vulgär, derb, salopp bis hin zu familiär und umgangssprachlich, die am oberen Ende stehen, aber auch schon ‚Sprachverlotterung‘ vermuten lassen. Eine adjektivische Markierung lädt weniger zur Hypostasierung eines subsprachlichen Systems ein und lässt eher an punktuelle Auffälligkeiten im Sinne stilistischer Wahlen denken. Für grammatische Merkmale ist in diesem Bereich die Markierung gesprochensprachlich besonders relevant. Als ein in der jüngeren Zeit, nämlich mit einer „globale[n] ‚Juvenilisierung‘ der Gesellschaft“ hinzugekommenes Motiv für das Interesse an Jugendsprache macht Neuland (ebd.: 15) den Prestigefaktor ‚Jugendlichkeit‘ aus. Dazu passt am besten der Ausdruck Szene-Sprache, insofern Szenen in dieser Lesart spezielle Bereiche sind, denen man angehören oder in denen man sich wenigstens auskennen wollen kann, die mit Insiderwissen verbunden sind. Ein entsprechender Prestigefaktor wird auch Fachsprachen zuerkannt und dürfte bei allen Gruppensprachen wirksam sein. Den wichtigsten Faktor bei der Jugendsprache stellt m. E. jedoch der Unterhaltungswert dar, den (sprachliche) Exotica aufweisen. Ein solcher kommt auch den älteren Sondersprachen zu, die volkskundlich-folkloristisch von Interesse sind, zumal sie mitunter geheimsprachliche Züge tragen. Dasselbe Interesse ziehen aber auch die regionalen Varietäten des Deutschen auf sich. Dialekte haben bekanntlich (v. a. im Norden) in der Sprachrealität des Alltags keine besonders große Bedeutung mehr, im Sprachbewusstsein ist die regionale Vielfalt des Deutschen jedoch sehr präsent. 24 Sie wird speziell in Fernsehserien regelmäßig in Szene gesetzt. So entsteht ein weites Feld, das sich auch mit vergnüglichen Büchlein bestellen lässt, z. B. Deutsch-Sächsisch: Machense geene Fissemaddenzchn! ; Kauderwelsch, Sächsisch, das wahre Deutsch; Langenscheidt 24 Alltagsweltlich wird dabei, wie üblich, nicht besonders fein differenziert, d. h. man benutzt den Ausdruck Dialekt oder Mundart auch, wenn es um etwas geht, das wissenschaftlich als Regiolekt bezeichnet wird, weil es sehr viel weiträumiger verstanden wird (vgl. dazu Löffler 2016: 129 und weiter 2.2.). Vgl. zum Thema auch Eichinger et al. (2012). <?page no="49"?> 49 2.1. Der alltagsweltliche Umgang mit sprachlichen Auffälligkeiten Schwäbisch für Anfänger. Dialekte, insbesondere die Frage, welche davon man besonders gern oder ungern hat, bilden auch einen Schwerpunkt der Repräsentativbefragung Aktuelle Spracheinstellungen in Deutschland (Projektgruppe Spracheinstellungen 2011). Dass Menschen Sprachlichem unter wertendem Blickwinkel begegnen, wird vorausgesetzt, genauer erhoben und damit zugleich verstärkt. Dies alles lässt sich durchaus vergleichen mit der medialen Konstruktion von Jugendsprache. Einschlägige Publikation erheben-- ebenso wie Wörterbücher der Jugendsprache und im Übrigen auch die Bücher von Bastian Sick- - weniger den Anspruch, informativ zu sein oder die Verständigung zwischen Bevölkerungsgruppen zu verbessern, sondern sie wollen v. a. amüsant sein, Lustgewinn verschaffen. Dasselbe gilt für Sprachparodien, in denen Varietäten karikiert werden, indem man einen bekannten Text in sie übersetzt: Das maximale Volumen subterraner Agrarprodukte steht in reziproker Relation zur intellektuellen Kapazität des Produzenten oder: Die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln. 25 In solchen Parodien werden auch typische grammatische Merkmale realisiert-- es ist also nicht allein der Wortschatz, der den Sprechern als charakteristisch auffällt. Wie das Beispiel zeigt, betreffen solche Parodien auch fachsprachliche Varietäten. Unter diesen gibt es auch solche, die sich besonders gut für Scherz- Publikationen eignen mit Titeln wie Beamten-Deutsch. Eichborns boshafter Sprachführer durch das Kauderwelsch der Bürokratie; Raumübergreifendes Großgrün: Der kleine Übersetzungshelfer für Beamtendeutsch; Langenscheidt Unwörterbuch Behördisch. Neben Amtsbzw. Verwaltungssprache bildet die damit unmittelbar verbundene juristische Ausdrucksweise eine beliebte Zielscheibe des Spotts. Es handelt sich also um Varietäten, mit denen Sprachteilhaber unfreiwillig in Kontakt kommen, und zwar in der Regel in eher unangenehmen Lebenssituationen, in denen sie den Experten in gewissem Maße ausgeliefert sind. Für einzelne der vielen Sachfächer gilt das viel weniger: Mit den meisten Fachgebieten muss man sich (nach dem Schulbesuch) nicht beschäftigen, und wer das doch tut, den leitet eher persönliches Interesse und er kann auf viele gut aufbereitete, nämlich populärwissenschaftliche Präsentationen zurückgreifen. 25 www.janko.at/ Zitate/ Themen/ Gebildete%20Umschreibungen.htm <6. 11. 2017>. Man vgl. die Sammlung von Parodien zu Rotkäppchen (Ritz 2013); ergiebig ist auch die Suche nach Varianten der Weihnachtsgeschichte. <?page no="50"?> 50 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Bei der Behördensprache kann man die Trägergruppe wieder gut an einer Personenbezeichnung, Beamte, festmachen. Dies ist eine Gruppe, deren Angehörige ohnehin starker negativer Stereotypisierung unterliegen. Gegenüber Astrophysikern, Biologen, Frühgeschichtlern, Tiermedizinern usw. bestehen dagegen keine sozial etablierten Vorurteile. Deswegen fasst man sie, wenn es um negative Stereotypisierung geht, gleich alle zusammen als Leute, die Wissenschafts-Jargon, Fach-Kauderwelsch, Experten-Chinesisch oder Ähnliches benutzen. In jedem Fall ist der Hauptanlass für die Beschäftigung mit fachsprachlichen Varietäten die mangelnde Verständlichkeit. Wenn dies als Problem wahrgenommen wird, dann unterstellt man den Experten, dass sie sich absichtlich und unnötigerweise dieser Ausdrucksweise bedienen und sie als Herrschaftsinstrument benutzen. Die problematische Verbindung zu Gegenständen, die die Allgemeinheit betreffen, kommt zum Ausdruck in der Prägung Expertokratie. Die Dauerkritik an der Unverständlichkeit von Fach- und Wissenschaftssprache unterstellt doch wohl dies als (böse) Absicht: Die Experten weigern sich, Fachwissen in einer allgemeiner verständlichen Sprache auszudrücken. In Bezug auf andere Sprachen und Varietäten klänge eine solche Argumentation geradezu absurd: Wie kann man eine Sprache oder einen Dialekt deswegen kritisieren, weil sie für Leute, die sie nicht gelernt haben, unverständlich sind? Ein entsprechender Vorwurf lässt sich nur damit begründen, dass die Unverständlichkeit für andere zu den Zielen dieses Sprachgebrauchs gehört-- und auf unlauteren Motiven beruht. Geheimsprachen haben den Zweck, andere von der Kommunikation auszuschließen. Wenn man allerdings Fachsprachen als Kommunikationsmittel der Experten untereinander definiert, macht man die Unverständlichkeit für die Allgemeinheit geradezu zu einem Definiens dieser Varietät. Ich befürchte, dies lässt sich tatsächlich nur in dem Sinne auslegen, dass man ihr geheimsprachlichen Charakter zuerkennt. Argumentativ beruht dies auf der Dichotomie Experte vs. Laie: Du gehörst dazu oder eben nicht! In Wirklichkeit ist eine solche Dichotomie jedoch bei Fachsprachen ebenso wenig gegeben wie bei Nationalsprachen, man kann sie ja als Zweit-, Dritt-, Viertsprachen usw. lernen und kommt wie dort mehr oder weniger weit. Insgesamt spiegeln sich also im alltagsweltlichen Umgang mit sprachlichen Varietäten Stereotype, ohne die eine Gesellschaft sich nicht organisieren kann. Austragen lassen sich so auch gesellschaftliche Konflikte zwischen Gruppen, wobei Varietäten teilweise direkt als Projektionsfläche fungieren. Dass es sich <?page no="51"?> 51 2.1. Der alltagsweltliche Umgang mit sprachlichen Auffälligkeiten durchweg um Konstrukte handelt, versteht sich eigentlich von selbst, denn anders können wir uns der Welt gar nicht nähern (vgl. 1.2.). Natürlich stellen auch die wissenschaftlichen Konzepte Konstrukte dar. Wie voreingenommen der linguistische Blickwinkel auf Fachsprache sein kann, zeigt besonders der in 1.3. zitierte Wörterbuch-Eintrag aus Bußmann. Dass dem Prestige von Fachsprache ein negatives Image an der Seite steht, bleibt ebenso ausgeblendet wie der offensichtliche Tatbestand, dass Fachsprache keineswegs so präzis, exakt, ökonomisch oder gar ideologiefrei ist, wie man aus im Grunde eher naiver Sicht wünschen mag. 26 Zum Abschluss dieses Abschnitts sei nochmals das DUW zitiert, und zwar mit einem Ausschnitt aus dem zentralen Metatext, der gewissermaßen eine Grobgliederung des Varietätenspektrums präsentiert: „Das Deutsche Universalwörterbuch verzeichnet zusätzlich zum zentralen Wortschatz des Deutschen, der mit rund 70. 000 Wörtern zu veranschlagen ist, auch Wörter außerhalb des sprachlichen Kernbereiches, soweit es der begrenzte Raum eines einbändigen Wörterbuches zulässt. Es handelt sich dabei um Wörter aus Fachsprachen (abteufen), aus vom Standard abweichenden Sprachebenen (rotzen), aus unterschiedlichen Sprachregionen (Rundstück) und Wörter, die veraltet sind, also sprachhistorischen Wert besitzen (dünken).“ (Anlage und Aufbau der Artikel; Kursivierungen im Orig. fett, Fettdruck K. A.) Fachsprachen erscheinen (wohl wegen der großen Menge an Fachsprachen und -wörtern) an erster Stelle. Diesen sind, wie wir gesehen haben, auch die Sonder-/ Gruppensprachen zugeordnet. Sie entstehen oft aus Berufssprachen oder fallen mit diesen zusammen und bilden ansonsten quantitativ eine zu marginale Erscheinung, um sie als eigenständige Großgruppe zu behandeln. In der oben zitierten Bedeutungserläuterung von Universalwörterbuch erscheinen ebenfalls als die drei wichtigsten Gruppen markierter Wörter solche aus Fachsprachen, Mundarten und besonderen Stilschichten. Diesen stehen (als große Mehrheit) gegenüber ‚normale‘ Wörter, der Kernbereich, der allgemeine bzw. zentrale Wortschatz, also das, was nicht auffällig ist. Diese Sichtweise steht nun in deutlichem Kontrast zu den wissenschaftlichen Modellierungen, die anfangs schon genannt wurden und jetzt genauer be- 26 Es wäre allerdings abwegig, aus diesem Wörterbuchartikel darauf zu schließen, dass die entsprechenden Probleme in der Fachsprachenforschung überhaupt vernachlässigt würden. <?page no="52"?> 52 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum trachtet werden: Erstens wird nämlich dort versucht, sämtliche Sprachmittel Varietäten zuzuordnen, zweitens stehen dort andere Ebenen als die Lexik im Vordergrund und drittens erscheint als zentrale Varietät der Soziolekt- - die früheste Parallelbildung zu Dialekt. Eine wirklich passende Kategorie für Fachsprachen gibt es dagegen in diesen Systematisierungen nicht. 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Varietäten ist im Gegensatz zur alltagsweltlichen durch systematisches Vorgehen und das Bemühen um Wertneutralität geprägt. Zur Systematik gehört auch ein gewisser Vollständigkeitsanspruch. Phänomene sollen nicht als Einzelheiten betrachtet, sondern in geeignete Zusammenhänge gesetzt und theoretisch durchdrungen werden. In unserem Fall bedeutet das v. a. zweierlei: Einerseits wird die Berücksichtigung anderer als lexikalischer Faktoren notwendig. Der Wortschatz ist die Ebene, auf der es am meisten verschiedene Elemente gibt und die als offener Teil des Systems den stärksten Veränderungen unterliegt. Da kein einziger Sprachteilhaber über den Gesamtwortschatz verfügt, kommt es unweigerlich zu einer wenig systematischen Behandlung, die sich an Auffälligkeiten entzündet. Das Gegenteil gilt für das Lautsystem, den Systemteil mit den wenigsten Elementen, über den alle Sprachteilhaber verfügen. Variation in diesem Bereich ist ebenfalls sehr auffällig, aber auch deswegen weniger relevant, weil sie im Schriftlichen eine allenfalls untergeordnete Rolle spielt. Andererseits sollen Varietäten in einem kohärenten Gesamtmodell verortet werden, das zunächst zu entwerfen ist. Ein wichtiger Schritt dahin war die Einführung des Oberbegriffs Varietät, ein weiterer die relativ breite Akzeptanz von vier 27 Dimensionen. Damit ist jedoch nur ein theoretisches Modell entworfen, das weit mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet. Varietät gehört jedenfalls auch zu den schlecht definierten linguistischen Begriffen: „Obwohl es sich um einen der Kardinaltermini der Soziolinguistik handelt, ist es schwierig, eine eindeutige und allseits befriedigende Definition des Varietätsbegriffs zu geben.-[…] Die Hauptschwierigkeiten der strengen Definition von Varietät liegen 27 Manche rechnen mit einer fünften Dimension, die den Faktor schriftlich-mündlich betrifft und als diamedial oder diamesisch bezeichnet wird (vgl. 2.2.4.). <?page no="53"?> 53 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten darin (a) dass es nicht ganz klar ist, welche Menge und welche Typen sprachlicher Merkmale erforderlich sind, um von einer eigenständigen Varietät zu sprechen.-[…] (b) dass die sozialen und / oder situationsspezifischen Faktoren, die in signifikanter Weise mit einer gewissen Menge sprachlicher Merkmale kookkurrieren, sehr breit gespannt und mannigfaltig sind. Hinzu kommt die Tatsache,- […] dass erhebliche Probleme bestehen bezüglich der genauen Abgrenzung, Einordnung und Unterscheidung von Sprachvarietäten.“ (Berruto 2004: 189) Ein großer Teil der Unstimmigkeiten geht darauf zurück, dass man das Phänomen mit unterschiedlichen Grundvorstellungen und Ansprüchen angeht. Alle setzen an den vortheoretischen Kategorien an. Unterschiedlich wird jedoch die Frage beantwortet, wie weit man sich davon entfernen kann oder muss. Die einen geben sich damit zufrieden, eine gewisse Ordnung in alltagsweltliche Konzepte zu bringen, und wollen an diese anschließbar bleiben. Entsprechend der anderen Position müssen Alltagskonzepte durch die wissenschaftliche Bearbeitung des Phänomens überwunden werden. Sie kommt besonders gut in folgendem Zitat zum Ausdruck: „Die Bezeichnung Varietät wird häufig unspezifisch (vortheoretisch) verwendet, um die Differenzierung einer Einzelsprache in verschiedene Ausprägungen (Gruppensprache, Fachsprache etc.) zu erfassen.-[…] Dem steht eine Operationalisierung des Begriffs gegenüber, die Variablen, Varianten und Varietäten unterscheidet (vgl. von Polenz 1991 [= Polenz 1 I], 60 f.). Varietät bezeichnet eine Menge von Varianten, die in bezug auf Variablen fixiert sind-[…] Die Operationalisierung von Varietäten als Systemen über Variablen / Varianten-Mengen ist ein notwendiger Schritt über die naiv-vortheoretische Begriffsverwendung hinaus. Ohne eine genauere quantitative Festlegung dieser Mengen ist eine klare Abgrenzung etwa zu Stil nicht möglich“ (Becker / Hundt 1988: 119; Kursivierung im Orig.; Fettdruck K. A.). Machen wir uns zunächst das Grundkonzept und die zentralen Begriffe dieses letzten Ansatzes klar (vgl. Sinner 2014: Kap. 1.3). Es geht darum, Korrelationen (bzw. mit Berruto: Kookkurrenzen) zwischen außersprachlichen (die Dimensionen) und sprachlichen Faktoren festzustellen. Auf beiden Seiten rechnet man mit Variablen, die unterschiedliche Ausprägungen oder Varianten umfassen. Am einfachsten ist es, wenn bei einer Variablen nur zwei Varianten existieren. <?page no="54"?> 54 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum So enthalten Formulare ein Feld für die Variable Geschlecht und geben als Varianten weiblich und männlich vor. 28 Die Variable grammatisches Genus weist dagegen im Deutschen bekanntlich drei Varianten auf. Für die Variable Perfektbildung existieren die Hilfsverb-Varianten haben und sein. Bei manchen Verben korreliert die Auswahl mit dem außersprachlichen Faktor Region: Im Norden sagt man Ich habe …, im Süden: Ich bin gelegen, gesessen, gestanden. Bei diesem Beispiel ist die sprachliche Variable klar definierbar und die Menge der Varianten ist mit genau zwei minimal. Für die außersprachlichen Varianten gilt das schon viel weniger: Wo ist die Grenze zwischen Norden und Süden? Mit einer überschaubaren Menge von sprachlichen Varianten hat man es v. a. in den Bereichen Lautung und Morphologie / Morphosyntax zu tun. Im ersten Fall gilt ein Phonem als Variable und Allophone als Varianten: Wo artikuliert man König als Könich, Könik, Könisch? Morphologisch existieren Varianten z. B. bei der Pluralbildung: Bogen vs. Bögen, Pronomen vs. Pronomina, Atlasse vs. Atlanten usw. Im lexikalischen Bereich ist es dagegen eher die Ausnahme, dass man klare Variablen mit einer kleinen und gut begrenzten Menge von Varianten ansetzen kann: Der sechste Tag der Woche heißt Sonnabend oder Samstag. Nehmen wir die Dialekte hinzu, finden wir zwar noch mehr Bezeichnungen, deren Menge bleibt aber überschaubar. Es dürfte jedoch kaum möglich sein, eine vollständige Variantenliste für die Variable [Adjektiv mit der Bedeutung] ‚in hohem Maße gefallend, der Idealvorstellung entsprechend‘ zusammenzustellen. Dies ist die Bedeutungsbeschreibung des DUW für cool. Dazu eine Auswahl von Varianten aus dem Synonymenwörterbuch: ausgezeichnet, brillant, einmalig, erstklassig, fabelhaft, genial, grandios, großartig, hervorragend, sehr gut, sehr schön, vortrefflich, vorzüglich, prima, bombig, heiß, klasse, scharf, spitze, super, … Die Markierungspraxis des DUW zeigt außerdem, dass es sehr oft schwierig ist, die Ausdrücke (genau) einer außersprachlichen Variante zuzuordnen. Die Markierungen sind eben ‚subjektiv‘ und sprachliche Varianten korrelieren teilweise sowohl mit Stilschichten als auch mit Regionen, gruppentypischen Sprachgebrauchsmustern usw. 28 Dass sogar diese Dichotomie im Gender-Diskurs inzwischen heftig infrage gestellt wird, zeigt, wie sehr die außersprachlichen Variablen und Varianten diskursiven Konstrukten entsprechen. <?page no="55"?> 55 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten Deswegen ist es nur theoretisch sehr einfach, Varietät im Rahmen des Korrelationsansatzes zu definieren. Es handelt sich nämlich um eine Menge sprachlicher Varianten, die mit demselben außersprachlichen Faktor korrelieren. Was das auf der Ebene der Lexik konkret bedeutet, hat 2.1. gezeigt, wo aus dem DUW Wörter / Lesarten mit derselben Markierung herausgezogen wurden, so dass die sprachlichen Varianten als Listen vorliegen. Das Gleiche kann man im Prinzip für die anderen Ebenen machen. Das führt ebenfalls zu Listen charakteristischer sprachlicher Varianten. Solche findet man für die einzeln besprochenen Varietäten z. B. bei Löffler (2016: 86, 92, 97, 105, 108, 111). Die außersprachlichen Faktoren sind, wie Berruto schreibt, „sehr breit gespannt und mannigfaltig“. Wenn über die grundlegenden Dimensionen relativer Konsens herrscht, so gilt das ganz und gar nicht für die Variablen und Varianten. Es dürfte also auch weiterhin „erhebliche Probleme-[…] bezüglich der genauen Abgrenzung, Einordnung und Unterscheidung von Sprachvarietäten“ geben. Deswegen findet man auch selten etwas stärker ins Detail gehende Gesamtmodelle. Ein solches bieten Becker / Hundt (1998). Sie führen in der linken Spalte die Faktoren an, die „als außersprachliche Determinanten der sprachlichen Variation gelten können“ (ebd.: 124), und zwar in der Reihenfolge diatopisch, diastratisch, diasituativ und diachronisch: 125 8. Die Fachsprache in der einzelsprachlichen Differenzierung Die Gruppenzugehörigkeit als Bestimmungsgröße sprachlicher Variation ist das Kennzeichen der zweiten Dimension. Hiervon sind Ausdrucks- und Inhaltssysteme gleichermaßen betroffen (vgl. dagegen Steger 1988, der Raum und soziale Gruppe zu einer Dimension zusammenfaßt, die ausdrucksseitig gekennzeichnet ist). Die Dimension der ,kommunikativen Funktion‘ oder der funktionalzweckhaften Leistung (Steger 1988) bezieht sich auf den versprachlichten Weltausschnitt und die mit diesem verbundenen Kommunikationssituationen und -zwecke. Diese Dimension, oft auch als diasituative Dimension bezeichnet, wirkt sich in erster Linie auf die Differenzierung der inhaltlichen Systeme einer Sprache (Semantiken, konzeptuelle Seite sprachlicher Zeichen) aus. Fragen des geographischen Geltungsbereichs sowie der gruppenbildenden und -markierenden Funktion der betreffenden Varietät treten dagegen zurück. Die vierte Dimension ist die historische. Sie trägt dem Phänomen des Sprachwandels Rechnung und zielt als Bestimmungsgröße auf die verschiedenen historischen Sprachvarietäten (z. B. Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch, Neuhochdeutsch) ab. Ähnlich wie bei der diastratischen Dimension sind auch hier sowohl Ausdrucksals auch Inhaltssysteme der Sprache gleichermaßen betroffen. Die Beziehung zwischen außersprachlicher Dimension und konkreter sprachlicher Realisierung ist zweiseitig. Einerseits führen etwa Gruppeneffekte (diastratische Dimension) zur Setzung bestimmter Varianten in Variablen: z. B. Penne statt Schule in der Variationsdimension Sprachvariation Varietät Kommunikative Reichweite v. a. Ausdruckssysteme (Phono- Dialekte, nationale Varietälogie, Lexik, z. T. Morphologie) ten, Sprachinseln Soziale Gruppe Ausdrucks- und Inhaltssysteme Gruppensprachen: z. B. Jugendsprache Kommunikative Funktion v. a. Inhaltssysteme (getrennte Fachsprachen: Semantiken: Alltag, Technik, z. B. FS der Elektrotechnik Institutionen, Wissenschaften, Literatur, Religionen/ Ideologien) Historischer Zeitpunkt Ausdrucks- und Inhaltssysteme z. B. Althochdeutsch im geschichtlichen Wandel, Entstehen der kommunikativen Bezugsbereiche Abb. 8.1: Vier-Dimensionen-Modell und Sprachvarietäten (historischen) Schülersprache. Andererseits kann am sprachlichen Material wiederum die Markierung durch die vier Dimensionen abgelesen bzw. rekonstruiert werden. D. h., der Verwendungszusammenhang konkreter Texte sowie das Wissen um andere Varietäten sind die Grundlage für die Zuordnung der sprachlichen Variablen zu den gruppalen, geographischen, funktionalen oder historischen Bestimmungsgrößen. Jede sprachliche Varietät muß in Beziehung zu allen vier Dimensionen gesetzt werden. Selbstverständlich lassen sich nur prototypische Varietäten auf vorwiegend eine der vier Dimensionen beziehen, die konkrete Sprachpraxis ist komplexer (z. B. regional bedingte Dialektmerkmale in Fachsprachen). Varietäten sind somit im vierdimensionalen Raum verortet (als Erscheinungsformen der Sprache, vgl. 3.); d. h. die Bedeutung der jeweiligen Dimension für die entsprechende Varietät, die Nähe zu einem der vier Pole, entscheidet über die Spezifik der Variablenauswahl. So sind Dialekte primär über die kommunikative Reichweite bestimmt, weshalb hier Besonderheiten vor allem in den Ausdruckssystemen (vgl. die Laut-, Formen- und wortgeographischen Karten in Dialektatlanten) zu erwarten sind. Fachsprachen sind Varietäten, die spezifische kommunikative Funktionen und damit zusammenhängend spezifische semantische Systeme auszeichnen (vgl. Abb. 8.1). Daher sind hier Systemunterschiede insbesondere auf der konzeptuellen Ebene der Lexik (Terminologie, Semantik) zu erwarten; die Morphologie (z. B. im Zusammenhang mit Nomenklaturen, vgl. Jakob 1996) und die Bereitgestellt von | Vienna University Library Angemeldet Heruntergeladen am | 24.06.16 20: 12 Abb. 2.1 Vier-Dimensionen-Modell und Sprachvarietäten (Becker / Hundt 1998: 125) Die außersprachlichen Faktoren sind in der Geschichte der Linguistik sehr unterschiedlich intensiv untersucht worden. 29 Der breite Blickwinkel, der mög- 29 Vgl. dazu die knappe, aber sehr instruktive Übersicht von Steger (1988: Kap. 1). <?page no="56"?> 56 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum lichst alle im Rahmen eines Modells berücksichtigen will, entwickelte sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am ältesten ist die Untersuchung der diachronischen Dimension, die prägend für das 19. Jahrhundert war und immer auch die Verteilung der Varianten im Raum betraf, aber erst am Ende des 19. Jahrhunderts in die intensivere Untersuchung zeitgenössischer Dialekte mündete. Der relative Erfolg der neuen Konstrukte diastratisch und diaphasisch/ -situativ dürfte sich aus der Erwartung ergeben, man könne wegen der breiten Forschung zur diachronen und diatopischen Dimension schon auf einer soliden Basis aufbauen. Das ist aber nicht der Fall. Die ältere Forschung hatte nämlich gar nicht das im Blick, was wir heute als Varietäten begreifen. 2.2.1. Der Faktor Zeit Das ist offenkundig in Bezug auf die Diachronie. Deswegen muss es auch besonders erstaunen, wenn in Varietätengliederungen wie bei Becker / Hundt Sprachstadien als Varianten erscheinen. Die Sprachstadien- - Alt-, Mittel-, Frühneu- und Neuhochdeutsch- - bilden nicht Varietäten einer historischen Gesamtsprache, die irgendjemand in seinem Sprachgebrauch einsetzen könnte, sie funktionieren nicht miteinander, sondern lösen sich in der Zeit ab und umfassen jeweils etwa 300 Jahre. Eine Sprache als Diasystem ist aber ein Konstrukt für eine synchrone Periode. Deswegen hatte Coseriu die diachrone Dimension in seinem Vorschlag eines Diasystems funktioneller Sprachen auch gar nicht einbezogen (vgl. Nabrings 1981: 36 ff.). Auch in der Synchronie spielt der zeitliche Faktor allerdings eine Rolle, und zwar weil verschiedene Generationen gleichzeitig miteinander leben und kommunizieren. Auf diesen Faktor hat man sich vor dem Aufkommen der Varietätenlinguistik mit dem Ausdruck Alterssprachen bezogen. Das Alter ist ein Faktor, der in jeder empirischen Untersuchung mit demografischer Komponente (also nicht nur im Bereich der Sprachwissenschaft) kontrolliert wird. Dem liegt die- - meist bestätigte- - Hypothese zugrunde, dass verschiedene Altersgruppen sich nicht gleich verhalten, nicht dieselben Einstellungen haben usw. Dies hat zu einer Neuorientierung der Historiolinguistik geführt. Sie untersucht jetzt auch aktuell ablaufenden Sprachwandel, indem sie systematisch Altersgruppen miteinander vergleicht. 30 Von den dabei zutage tretenden Unterschieden haben Durchschnittssprecher allenfalls eine höchst vage intuitive 30 Besonders einflussreich waren die Studien aus der Schule von William Labov. <?page no="57"?> 57 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten Kenntnis, alltagsweltlich fällt nur die Jugendsprache hinreichend auf und wird hypostasiert zu einer Varietät. Dagegen gibt es keine geläufigen Konzepte wie Erwachsenen-, Rentner-, Greisen-, Seniorensprache oder dergleichen-- wohl aber Einschätzungen wie veraltet, altertümlich, Neudeutsch, Neologismus usw., wo es nicht um das Alter der Sprecher, sondern das der Sprachmittel geht. 31 Für diese Diachronie in der Synchronie sind nun grammatische Merkmale besonders wichtig. Als veraltet gelten z. B. bestimmte Formen starker Verben wie etwa büke, söge, geschnoben, schwämme/ schwömme. Dies führt dazu, dass viele Menschen-- je jünger sie sind, desto eher-- Formen nach dem Muster schwacher, d. h. regelmäßiger Verben bilden (backte, saugte, geschnaubt) und / oder den Konjunktiv II mit dem Hilfsverb würde bilden: würde schwimmen. Aus einem gewissen Ordnungsstreben heraus bilden sie die gleichen Formen auch dann, wenn die überlieferten sich nicht seltsam anhören oder undeutlich sind: würde ergeben statt ergäbe usw. Mit diesen Beispielen sind wir wieder mitten im Sprachverfallsdiskurs. Auch in diesem herrscht eine ziemlich selektive Wahrnehmung vor. So spielt darin etwa keine Rolle der Wegfall des Dativ-e bei Maskulina / Neutra wie Mann oder Kind. Es gilt einfach als fakultativ und klingt in vielen Fällen hoffnungslos veraltet: Sie gibt dem Manne / Kinde einen Kuss. 2.2.2. Der Faktor Raum Auch an die reiche Tradition der Dialektologie lässt sich nur teilweise anknüpfen, da Dialekten ein sehr spezieller Status zukommt. Erstens sind es Ausdruckssysteme, die normalerweise in der primären Sozialisation erworben werden, während andere Varietäten wie insbesondere Fachsprachen erst später wichtig werden. In einer funktional sehr wenig differenzierten Gesellschaft kommen für die meisten Sprachteilhaber aber gar keine weiteren Varietäten hinzu. In diesem Fall ist es unangemessen, überhaupt von Varietäten zu sprechen. Dialekte stehen vielmehr auf der Grenze zwischen innersprachlicher und zwischensprachlicher Heterogenität. Sie bilden eigene Systeme mit qualitativen Unterschieden schon auf den elementaren Ebenen der Phonologie und Morphologie. 31 Leider berücksichtigt das DUW nur den einen Pol der Dimension, kennzeichnet also keine Neulexeme usw. und vermerkt bei Neuaufnahmen von Lexemen auch nicht, wann sie aufgenommen oder zuerst im Korpus belegt sind. Vgl. dafür aber das Neologismenwörterbuch des IDS : www.owid.de/ wb/ neo/ start.html <6. 11. 2017> <?page no="58"?> 58 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Deswegen ist es auch so schwierig, zu entscheiden, ob ein Ausdruckssystem ‚nur‘ ein Dialekt ist oder ihm der Status einer Sprache zukommt. Konsens besteht aber darüber, dass man ein solches Urteil nicht allein auf der Grundlage sprachlicher Daten fällen kann. Die Einordnung entspricht vielmehr einem sozialen Konstrukt, das im Sprachbewusstsein verankert ist und mitunter auch in sprachpolitische Akte mündet, v. a. wenn etwas, das vordem als Dialekt galt, offiziell zur Amtssprache erhoben wird. Ebenso wie bei den Sprachstadien hat sich für die Dialekte eine Grobgliederung etabliert, nämlich in die dialektalen Großräume Ober-, Mittel- und Niederdeutsch. Ebenso wie bei den Sprachstadien ist aber unstrittig, dass es ‚in der Wirklichkeit‘ nur fließende Übergänge gibt. „Eine Dialektgrenze lässt sich nicht exakt definieren. Zwischen nachbarörtlichen Kleinstunterschieden und der Sprachgrenze als Außengrenze zu einer Fremdsprache hin liegen zahlreiche große und kleine Grenzen.“ (Löffler 2003: 118). Löffler hebt ferner hervor, dass „auch die subjektive Einschätzung der Sprecher selbst als Grenzkriterium beachtet werden“ muss (ebd.: 119; Hervorhebung K. A.). Nur stellt sich diese für verschiedene Sprechergruppen selbstverständlich verschieden dar: Während einheimische Dialektsprecher „Kleinstunterschiede“ zwischen Nachbarorten wahrnehmen, erkennen weit entfernt wohnende Nichtdialektsprecher vielleicht gerade einmal den landschaftlichen Großraum. Sie verstehen die dialektalen Äußerungen auch nicht unbedingt, wohl aber diatopische Varietäten, die der Standardsprache näher sind. Zu den wesentlichsten Entwicklungen der (langfristigen) deutschen Sprachgeschichte gehört die Entstehung solcher neuen landschaftlichen Ausdruckssysteme, die Dialekte überhaupt erst zu Varietäten werden lassen. Der regionale Faktor entfaltet sich in einen zweidimensionalen Raum. In der Horizontalen werden Dialekte auf der Landkarte verortet, in der Vertikalen stehen Ausdruckssysteme mit unterschiedlicher räumlicher Reichweite nebeneinander. Einigermaßen etabliert ist eine Dreiteilung in Dialekte mit minimaler, Regiolekte (regionale Umgangssprachen) mit mittlerer und eine Varietät mit der größten Reichweite. Deren Bezeichnung ist besonders umstritten. Es konkurrieren v. a. Hoch-, Gemein- und Standardsprache. 32 Allerdings liegen auf 32 Es ist bemerkenswert, dass Becker / Hundt keinen dieser Ausdrücke benutzen, sondern alle drei Beispiele (Dialekte, nationale Varietäten und Sprachinseln) auf Variation in der horizontalen Ebene verweisen. Nationale Variation setzt man aber nur bei Varietäten vom Typ Standardsprache an. <?page no="59"?> 59 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten dieser vertikalen Ebene ebenso wie auf der horizontalen ‚in der Wirklichkeit‘ nur fließende Übergänge vor (Abb. 2.2). Abb. 2.2: Kommunikative Reichweite von Hochsprache und Dialekten am Beispiel Österreichs (König et al. 2015: 132) Aus der Sicht der Dialektologie kann die Entwicklung der jüngeren Sprachgeschichte bedauerlich erscheinen. Kaum war sie etabliert, da sah sie sich schon bedroht durch das Verschwinden ihres Forschungsobjekts: Die echten Dialekte sterben aus! Es wird nämlich immer schwieriger Menschen zu finden, die nur einen Dialekt als Erstsprache erwerben (dies schon wegen der Mediennutzung im frühen Alter) oder die gar noch ‚reinen‘ Dialekt sprechen, nämlich aus ihrem Herkunftsort nie weggekommen sind und keine Kontakte zu Sprechern anderer Dialekte hatten. Stellen wir uns solche Sprecher als ideale Gewährspersonen vor, so geht es wiederum nicht um das Miteinanderfunktionieren von Varietäten in einem Diasystem, sondern um Sprechergruppen, die entweder den einen oder den anderen Dialekt benutzen und über kein gemeinsames Ausdruckssystem verfügen. Ebenso wie die Sprecher des Mittelhochdeutschen und des Neuhochdeutschen kommen sie schlicht nicht in Kontakt miteinander. Da es solche Gruppen im deutschen Sprachraum spätestens seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts allerdings tatsächlich (fast) nicht mehr gibt, ist es insgesamt wie bei der Historiolinguistik zur Neuorientierung der Dialektologie <?page no="60"?> 60 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum gekommen, in der überhaupt erst Dialekte als Varietäten untersucht werden (vgl. v. a. Schmidt / Herrgen 2011). Der Rückblick auf die Vorbilddimensionen Diachronie und Diatopie gibt eigentlich keinen Anlass zu der Vermutung oder Hoffnung, in den beiden neuen Dimensionen ließen sich Varietäten rekonstruieren, die dem Schreibtischideal entsprechen- - Mengen von klar korrelierten außersprachlichen und sprachlichen Varianten. 2.2.3. Der Faktor Gruppe Die Suche nach entsprechenden Korrelationen ist zudem statisch ausgerichtet und suggeriert, Sprecher würden je nach der außersprachlichen Konstellation bestimmte Varietäten auswählen oder daraus Elemente abrufen. Ausgeblendet werden die enorme Anpassungsfähigkeit der Sprecher und die Instabilität der Idiolekte. Beides ist nötig, damit wir in diesem komplexen Gefüge überhaupt erfolgreich agieren können. Dazu gehört auch, dass laufend neue Kleinstvarietäten entstehen, wenn sich nämlich eine Gruppe von Menschen neu als Abteilung, Bündnis, Clique, Equipe, Gremium, Kommission, Mannschaft, Partei, Reisegruppe, Schulklasse, Team, Verein, Zirkel-… konstituiert. Es findet in solchen Fällen immer eine auch sprachliche Anpassung statt, eine Sozialisation im Miniaturformat. Bei diesen Konstellationen sieht man allerdings auch besonders gut, wie wichtig Berrutos Frage danach ist, „welche Menge und welche Typen sprachlicher Merkmale erforderlich sind, um von einer eigenständigen Varietät zu sprechen.“ Dass sich in solchen Interaktionsgruppen auch ein besonderer Sprachgebrauch ausbildet, ist den Mitgliedern vielleicht nicht einmal bewusst und von außen schaut man ja selten hinein. Die besten Chancen, darauf aufmerksam zu werden, haben neu hinzustoßende Mitglieder, die sich diese Sprechweise erst aneignen müssen. Zudem ist sie meist nicht gerade derart ungewöhnlich, dass man sie gleich als Gruppensprache kategorisiert. Becker / Hundt wählen ‚Soziale Gruppe‘ als relevanten außersprachlichen Faktor, führen als Beispiel allerdings nur Jugendsprache an. Üblich ist Gruppensprache als Kernbegriff bei der Charakterisierung der diastratischen Dimension jedoch nicht. Dies sind vielmehr Soziolekt und soziale Schicht. Das ist insofern verständlich, als prototypische Gruppensprachen (wie Jugendsprache) sich durch ihre große Menge, Instabilität und Kleinräumigkeit auszeichnen. Wollen <?page no="61"?> 61 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten wir systematisch und mit Aussicht auf relative Vollständigkeit die Bedeutung der sozialen Dimension erfassen, müssen wir diese Variable so denken, dass die Gesamtheit der gleichzeitig lebenden Sprecher in eine überschaubare Menge von Gruppen (sie fungieren als außersprachliche Varianten) zerfällt. Inwieweit eignet sich dafür der Ausdruck Schicht? Er ist in die Linguistik v. a. eingegangen durch die Untersuchungen von Basil Bernstein, die in den 1970er Jahren unter dem Schlagwort Sprachbarrieren einen sehr großen Einfluss insbesondere in der (Sprach-)Didaktik hatten. An Varietäten differenziert er nur zwei Ausprägungen, den elaborierten und den restringierten Kode. Auf der außersprachlichen Seite korrelieren damit Mittelvs. Unterschicht. 33 Die Frage, in welche Gruppen man eine Gesellschaft sinnvollerweise aufteilt, ist Gegenstand der Soziologie (von der Bernstein auch herkommt). Da sich die Gesellschaftsstruktur im Laufe der Geschichte ändert, müssen für verschiedene Epochen unterschiedliche Modelle entwickelt werden: 34 „Die Frage, welche Gruppen(zugehörigkeiten) eine Rolle spielen, kann also selbstverständlich immer nur relativ zu einem Gesellschaftssystem beantwortet werden und variiert historisch und kulturell sehr stark.“ (Adamzik 2018: 151). Für frühere Epochen gelten als relevante abstrakte Kategorien im Sinne der Variable nicht Schichten, sondern Klassen und Stände. Zu den Varianten gehören Bauern, Arbeiter, Bürgertum, Intelligenz, Adel, Geistlichkeit, Handwerker usw. Das Schichtenmodell ist erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommen und für die Gegenwart nur noch eingeschränkt geeignet. Als besonders relevant gilt jetzt die Kategorie der sozialen Milieus, für die der Beruf erheblich an Bedeutung verloren hat (vgl. ebd.: 152 ff.). 35 33 Von einer Oberschicht, der ebenfalls der elaborierte Kode zugeordnet wird, ist zumindest in der deutschen Forschung kaum die Rede, eine Differenzierung liegt mit der Unterscheidung von oberer und unterer Mittelschicht vor. Dass diese Dreiteilung zumindest für den Schulerfolg höchst relevant ist und sich der Einfluss dieses Faktors zur Gegenwart hin sogar deutlich verstärkt, zeigt die Studie von Steinig et al. (2009) zu Texten von Viertklässlern aus den Jahren 1972 und 2002; vgl. auch Steinig/ Betzel (2014). 34 Vgl. für einen Überblick dazu Schäfers (2013: 180 ff.). 35 Besonders einflussreich sind die Sinus-Milieus ® . In diesen sind die drei Sozialschichten insoweit aufgehoben, als sie auf der vertikalen Achse erscheinen, während auf der horizontalen grundlegende Wertorientierungen angesetzt sind (Tradition, Modernisierung / Individualisierung und Neuorientierung). In dem so gebildeten Raum werden dann die Milieus platziert (vgl. dazu www.sinus-institut.de/ sinus-loesungen/ ; <6. 11. 2017>). <?page no="62"?> 62 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Zeit und Raum stellen wenigstens Dimensionen dar, die als solche stabil sind. Freilich sind von eigentlicher Bedeutung auch hier nicht die ‚objektiven‘ Daten (kalendarisch bzw. Längen- und Breitengrade), sondern interpretative Konstrukte wie Epochen, Altersgruppen, Siedlungsräume, Regionen usw. Bei der sozialen Dimension fehlt aber überhaupt eine solche orientierende Messlatte. Außerdem ist sie in sich überaus heterogen, d. h. wir haben eine große Menge potenzieller Subdimensionen: soziale Herkunft, Beruf, Bildung usw. Die genannten haben alle etwas mit sozialer Macht zu tun. Soziale Ungleichheit ist denn auch die abstrakte Variable, unter der Schäfers (2013) die Gruppierungen in den historischen Gesellschaftsformationen (Ständegesellschaft usw.) vorstellt. Menschen als Angehörige von Gruppen mit unterschiedlichem Zugang zur Macht zu denken, entspricht einer spezifisch soziologischen Sichtweise. In der Gemeinsprache haben sich keine Ausdrücke dafür etabliert. Die folgenden Komposita lassen sich zwar problemlos bilden, werden aber auch in der älteren Literatur nur selten verwendet und stehen samt und sonders nicht im DUW : Standessprache, Adelssprache, Bauernsprache, Bürgersprache, Klassensprache, Arbeitersprache, Schichtensprache. Menschen können noch unter vielen anderen Gesichtspunkten zu Gruppen zusammengefasst werden und sie gehören alle gleichzeitig vielen verschiedenen Gruppen an. Denn sie haben sehr viele Eigenschaften bzw. ihnen werden Eigenschaften zugeschrieben. Derzeit sind z. B. die Zuschreibungen ‚mit Migrationshintergrund‘, ‚alleinerziehend‘ und ‚Hartz- IV -Empfänger‘ sehr wichtig. Welche Eigenschaften in unserer heutigen Gesellschaft alltagsweltlich sonst besonders relevant sind, lässt sich am besten ablesen an den Variablen, die auf Formularen und in Fragebogen regelmäßig erhoben werden: Neben Geschlecht, Alter, Nationalität, Geburts- und Wohnort sind das häufig Religionszugehörigkeit, Familienstand, seltener unmittelbar der Beruf, stattdessen die Einkommensgruppe und der höchste Bildungsabschluss, in demoskopischen Umfragen ferner oft die politische Orientierung. Selbstverständlich gibt es eine Unzahl weiterer Eigenschaften, die in solchen Zusammenhängen wichtig sind und in (auch linguistische) Untersuchungen einbezogen werden (können). Sie sollten möglichst passgenau auf die jeweilige Fragestellung bzw. Hypothese zugeschnitten sein. Damit kommen wir auf die Frage zurück, was man unter Gruppe verstehen will. In sprachwissenschaftlichen Arbeiten ist grundlegend zu unterscheiden danach, ob man mit Merkmalsgruppen (Alter, Geschlecht, Wohnortgröße usw.) arbeitet oder sich für Interaktionsgruppen (Kommunikation in der Familie, im Krankenhaus etc.) interessiert. Parallel zur <?page no="63"?> 63 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten vertikalen Ebene (Reichweite) bei der diatopischen Dimension sollte man daher auch bei Gruppen Kollektivitätsgrade differenzieren. In diesem Fall ist unter Gruppe irgendeine Zusammenfassung von Menschen unter einem bestimmten Kriterium zu verstehen. Der Umfang variiert zwischen zwei Personen und der ganzen Menschheit. Sinnvoll ist es, sich dabei an Kategorien aus der Soziologie anzulehnen. Schulze schlägt „vereinfachend drei Niveaus des Kollektivitätsgrades“ vor, so dass wir zu derselben Grobeinteilung kommen wie in der diatopischen Dimension: „das Makro-Niveau der Gesamtgesellschaft, das Meso-Niveau von überregionalen sozialen Milieus und das Mikro-Niveau von lokal eingegrenzten Milieus, Nachbarschaften und Kleingruppen“ (Schulze 1992: 268; Hervorhebungen K. A.). 2.2.4. Der Chamäleon-Faktor Am problematischsten ist die letzte Dimension. Das zeigt sich schon daran, dass sie uneinheitlich benannt wird. Coseriu hatte als Terminus den Ausdruck diaphasisch eingeführt. Er ist zu griechisch phasis ‚Ausdruck‘ gebildet und damit nicht sehr sprechend. Dafür macht Coseriu (1988: 292) ganz deutlich, worauf er dabei abzielt, nämlich „auf die sog. ‚stilistischen‘ Unterschiede“. Sie sind uns sehr vertraut, weil sie besonders häufig als Wörterbuchmarkierung erscheinen (vgl. 2.1.). Stil ist allerdings eine Kategorie auf der sprachlichen, nicht auf einer außersprachlichen Ebene und reiht sich so nicht gut in das System ein. Bei der Erläuterung dieser Dimension schreibt Coseriu, es handle sich um „situationell bedingte Typen von Ausdrucksmodalitäten“ (Coseriu 1976: 14), er korreliert also unmittelbar Sprachstil und Situation. Daher hat Nabrings die Dimension in diasituativ umbenannt. Sie handelt in dem entsprechenden Kapitel außer Stilniveaus auch Fachsprachen ab, allerdings mit dem Hinweis, dass man sie ebensogut der diastratischen Dimension zuordnen kann und andere das auch tun (es passt v. a. für die Berufssprachen, die traditionell als Sondersprachen behandelt werden). Berruto behält den Ausdruck diaphasisch bei, fügt allerdings als Erklärung / Alternativen hinzu: situative, situationale, funktional-kontextuelle. Bei Becker / Hundt (1998: 124) rückt die Bestimmung ‚kommunikative Funktion‘ in den Vordergrund, diasituative Dimension erscheint nur noch in Klammern. Konstatieren lässt sich also ein Übergang von stilistisch über situativ zu funktional. <?page no="64"?> 64 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Das ist insofern erstaunlich, als man Stilschichten in der Regel mit dem Formalitätsgrad der Situation in Verbindung bringt, 36 nicht mit Funktionen. Geschieht dies, so erscheinen Fachsprachen als Prototyp von Funktiolekten. Damit wird die ursprünglich auf etwas ganz Anderes zielende Dimension uminterpretiert als für Fachsprachen besonders geeignete, wenn nicht gar auf diese spezialisierte Kategorie. Dem folgt auch Roelcke: „In der Regel werden Fachsprachen als funktionale Varietäten angesehen, bei deren Bestimmung regionale, soziale und historische Gesichtspunkte gegenüber der Funktion in bestimmten menschlichen Tätigkeitsbereichen in den Hintergrund rücken.“ (Roelcke 2010: 16) Wer so vorgeht, entfernt sich sehr stark von der lexikografischen Perspektive, die alltagsweltlichen Kategorisierungen besonders nahe steht. Im DUW bilden Stilniveaus und Fachsprachen zwei von drei unterschiedlichen Großklassen! Man entfernt sich aber auch von Gliederungen in anderen Subdisziplinen. Dazu gehören v. a. Arbeitsfelder, die die situative Dimension in den Vordergrund stellen. Dies gilt besonders für Untersuchungen zur gesprochenen Sprache, 37 von manchen als fünfte Dimension in Varietätenmodelle einbezogen. Mustert man deren Kategorienbzw. Variableninventare, so stellt man fest, dass sie Situation als eine in sich extrem stark subdifferenzierte Dimension rekonstruieren. Dabei finden sich die bislang behandelten Dimensionen allesamt wieder, um das Faktoren-Bündel Situation näher zu bestimmen! 38 Elementar sind Zeit, Ort, beteiligte Personen sowie deren Eigenschaften (soziale Herkunft, Alter, Geschlecht usw.) und ihre Beziehung zueinander, Medium und Öffentlichkeitsbzw. Formalitätsgrad. Die Funktion wurde in den frühen Untersuchungen zur gesprochenen Sprache fast gar nicht berücksichtigt, dies geschah erst mit ihrer Weiterentwicklung zur Gesprächsanalyse. Dort gilt sie als zur Situation querstehende Dimension. Die Textlinguistik folgt demselben Schema und grenzt auf jeden Fall Funktion, Thema / Inhalt und Situation als unterschiedliche außersprachlichen Dimensionen voneinander ab (vgl. Adamzik 2016a: Kap. 3 und zur Subdifferenzierung der situativen Dimension ebd.: Kap. 4 sowie die Abb., die hier als 5.1 erscheint). 36 So auch in der Registerkonzeption des britischen Kontextualismus (dazu Nabrings 1981: Kap. 4.2.). 37 Vgl. v. a. das Freiburger Modell von Redekonstellationstypen (dazu Nabrings 1981: 140 ff. und 206 ff.). 38 Vgl. schon das Kategorienraster von Schank / Schoenthal (1976). <?page no="65"?> 65 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten 2.2.5. Zwischenbilanz Der genauere Blick auf die vier ‚klassischen‘ Variationsdimensionen fällt sehr ernüchternd aus. Zunächst zeigt sich, dass das Modell eindeutig zu grob ist. Mindestens muss man innerhalb der einzelnen Dimensionen noch eine mehr oder weniger große Anzahl von Subdimensionen ansetzen. Da sich die Vierergliederung aber letzten Endes ohnehin als nicht besonders durchdacht erweist, gibt es keinen rationalen Grund, an ihr festzuhalten. Zu Demonstrationszwecken folgen wir dieser Einteilung jedoch noch ein wenig, benennen allerdings auch die diastratische Dimension aus den oben erläuterten Gründen um, und zwar in diasozial, schon damit wir auch hier verschiedene Subdimensionen (Berufsgruppe, Geschlecht etc.) ansetzen können. Wichtiger als die Zahl der Dimensionen ist das Problem der Abgrenzbarkeit der Varietäten und damit die Frage, inwiefern sie systemhafte Züge zeigen. Schon Berruto kommt hier zu einem sehr skeptischen Schluss: „Während ‚Varietät‘ eigentlich ‚Diskretheit‘ implizieren müsste, die Möglichkeit also, die Grenze zwischen der einen Varietät und der anderen zu bestimmen, sowohl innerhalb des Sprachrepertoires einer Sprachgemeinschaft auf Basis ihrer funktionalen und sozialen Distribution, als auch mit Bezug auf sie konstituierende Merkmale, scheint es den Tatsachen in Wirklichkeit oft angemessener zu sein, Varietäten als (konventionell bestimmte, unscharf abgegrenzte) Verdichtungen in einem Kontinuum zu verstehen.- […] Die Gesamtheit aller erforderlichen oben aufgezählten Eigenschaften, wäre wohl zu umfangreich und unhandlich, um die Existenz und Extension einer Varietät genau zu bestimmen, so dass man sich normalerweise mit einem Teil davon, also mit Varietäten in schwachem oder partiellem Sinn zufriedengibt. Die Soziolinguistik operiert lieber mit dem Begriff ‚sprachliche Varietät‘, in Verbindung mit extralinguistischen Faktoren, als mit dem Begriff ‚Sprache‘ im Sinne autonomer, globaler und monolithischer Systeme. Die einheitlichen Realisierungsformen, in denen eine Sprache zum Vorschein tritt, sind gerade die Varietäten, die mithin ein der empirischen Wirklichkeit näherstehendes Konstrukt darstellen.“ (Berruto 2004: 190; im Wesentlichen so auch in der 1. Aufl. 1987: 265; Hervorhebungen K. A.) Die Varietäten stehen der empirischen Wirklichkeit näher als die Gesamtsprache, die eben in sich heterogen ist, es bleiben aber selbstverständlich Konstrukte. Die wesentliche Frage ist nun, ob es sich bei den Dimensionen handelt um <?page no="66"?> 66 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum a) analytische Kategorien, die man zwar theoretisch gut gegeneinander abgrenzen kann, die aber ‚in der Wirklichkeit‘ immer zusammenwirken, oder b) um Kriterien der Klassifikation, gewissermaßen Sortierschubladen, in die man die verschiedenen Varietäten einordnen kann. Für die erste Variante spricht, dass es Korrelationen zwischen Variationsdimensionen gibt: Dialekte korrelieren mit der medialen Dimension (mündlich), sind diasituativ (nicht-formelle Situationen), diasozial (heute tendenziell niedrige Bildungsschicht und eher Ältere) und hinsichtlich des Gegenstandsbereichs (v. a. Alltagssphäre) charakterisierbar. 39 Wenn sich mehrfach die Frage gestellt hat, in welche Klasse Varietäten gehören- - die Jugendsprache in die diasoziale oder die auf den Faktor Zeit bezogene, Fachsprachen in diasoziale oder diasituative usw.-- spricht das ebenfalls stark gegen den klassifikatorischen Ansatz. Dieser rechnet ohnehin nur damit, dass ein bestimmter Faktor dominant sein kann (vgl. das letzte Zitat von Roelcke). Dem schließen sich sogar Becker / Hundt an, obwohl sie ein besonders systematisch durchdachtes und auf Klassifikation abstellendes Modell vorschlagen. Bei ihnen heißt es aber auch: „Selbstverständlich lassen sich nur prototypische Varietäten auf vorwiegend eine der vier Dimensionen beziehen, die konkrete Sprachpraxis ist komplexer (z. B. regional bedingte Dialektmerkmale in Fachsprachen). Varietäten sind somit im vierdimensionalen Raum verortet“ (Becker / Hundt 1998: 125; Hervorhebungen K. A.). Berruto kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass Varietäten sich nicht sauber klassifizieren lassen, sondern immer nur ‚Verdichtungen in einem Kontinuum‘ darstellen, genauer gesagt in mehreren Kontinua bzw. in mehreren Dimensionen. Dies entspricht einer Rückkehr zu Coserius ursprünglichem Konzept der funktionellen Sprache, insofern auch er immer alle Dimensionen gleichzeitig berücksichtigt sehen will. Bei einer funktionellen Sprache soll es sich nämlich handeln um eine „Sprachtechnik, die in diesem dreifachen Sinn voll bestimmt (also einheitlich und homogen) ist- - ein einziger Dialekt auf einem einzigen Niveau in einem einzigen Sprachstil“ (Coseriu 1988: 285). Das visualisiert er folgendermaßen (Abb. 2.3): 39 Diese groben Korrelationen gelten jedoch nicht einmal für den gesamten deutschen Sprachraum, speziell nicht für die Deutschschweiz, wo die Dialekte einen anderen Stellenwert haben und es kein Kontinuum zwischen Dialekt und Standard gibt. <?page no="67"?> 67 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten Abb. 2.3: Diasystem funktioneller Sprachen (Coseriu 1988: 283) Da Coseriu nur mit drei Dimensionen rechnet, bleibt das abstrakte Schema übersichtlich. Auch so kann man sich aber schon vorstellen, dass dieser Ansatz zu einer Unzahl verschiedener funktioneller Sprachen führt. Der kontraintuitiven Annahme, man könne am Homogenitätspostulat festhalten, begegnet er mit der folgenden These: „In ein und demselben Diskurs können natürlich mehrere funktionelle Sprachen vorkommen (z. B. in einem Erzähltext, wo eine Form des Sprechens den Autor und eine andere bzw. verschiedene andere seine Personen selbst charakterisieren); aber an jedem Punkt des Diskurses erscheint notwendigerweise und jeweils eine bestimmte funktionelle Sprache.“ (Coseriu 1988: 285; Hervorhebung im Orig.) Die Variabilität einer (funktionellen) Sprache wird also als Effekt von Sprachbzw. Varietäten-Kontakt rekonstruiert. Damit kann man an der Vorstellung von sauber abgegrenzten Systemen festhalten, die Strukturalisten so erstrebenswert erscheint. Für Löffler stellt sich die Sprachwirklichkeit dagegen als höchst unordentlich dar, was er auch in seiner Visualisierung zum Ausdruck bringt (Abb. 2.4). Die sich überschneidenden Striche deuten an, dass die verschiedenen Dimensionen bzw. die diesen prototypisch zugeordneten Varietäten in einer Äußerung zusammen wirksam sein können bzw. in der Regel sind. <?page no="68"?> 68 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Abb. 2.4: Sprachwirklichkeitsmodell (Löffler 2016: 79 40 ) Funktionelle Sprachen, Varietäten bzw. Lekte sind auf jeden Fall Abstraktionen und nicht direkt beobachtbar. Schematisieren wir jetzt, was sowohl Coserius als auch Löfflers Modell für die beobachtbaren Phänomene, nämlich Texte, bedeuten, so ergibt sich Abbildung 2.5: 40 Der Unterschied zu den bislang behandelten Gliederungen besteht v. a. darin, dass Löffler mehr (Sub-)Dimensionen berücksichtigt, v. a. Mediolekte (gesprochen-geschrieben), Genderlekte und Idiolekte. Die Ausdrücke für die übrigen Varietäten sind (weitgehend) identisch. Situolekte (Stile) und Funktiolekte sind getrennt. Dass der Ausdruck Funktiolekt erscheint, ergibt sich daraus, dass Löffler sich an die Funktionalstilistik anlehnt (vgl. dazu weiter 2.4.). <?page no="69"?> 69 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten                                 Text ohne Auffälligkeiten durch eine Varietät geprägter Text Text mit punktuellen Auffälligkeiten parodistischer Text (maximale Realisation der Auffälligkeiten ) ① ② ③ ④ Abb. 2.5: Markierte Elemente in Texten Die Kästchen symbolisieren die einzelnen ‚Stellen im Diskurs‘, die verschiedenen Formen in den Kästchen Varianten derselben Varietät. Ich unterstelle, dass es auch unauffällige Texte gibt:  . Das ist aber für das Prinzip unerheblich: Wer auch ‚normales‘ Deutsch für eine Varietät hält, interpretiere die leeren Kästchen als: ‚Varietät: Gemeinsprache‘. Texte können mehr oder weniger stark durch markierte Ausdrücke geprägt sein. In den meisten gibt es Auffälligkeiten an einzelnen Stellen, die aber auf verschiedene außersprachliche Dimensionen verweisen können-- oder auch auf Varianten derselben Dimension.  kann man verstehen als: Grundvarietät Gemeinsprache mit gelegentlichen Einsprengseln aus einem Dialekt, daneben einige regiolektale Varianten und ein Fachausdruck. Nur wenn sich Varianten mit derselben Markierung massieren, kennzeichnen wir den gesamten Text als durch die Varietät geprägt:  . Es ist erwartbar, dass darin vereinzelt auch anders markierte Ausdrücke erscheinen. Bei einer extremen Häufung von Varianten einer Varietät und dem Verzicht auf anders markierte Ausdrücke haben wir es in der Regel mit einer Parodie zu tun:  . Der Rückgang auf das Äußerungsniveau, also die Text-Ebene, bedeutet, dass man nur noch einzelne Sprachmittel zuordnen muss. Diese stehen dann in einem Kontext, so dass sich diverse Zuordnungsschwierigkeiten leichter auflösen lassen. Das ist aus dem Problemfeld Polysemie vertraut: So wie wir die Denotation eines Wortes gewöhnlich im Kontext erkennen können, ohne eine vollständige Übersicht darüber zu haben, wie viele Lesarten diesem in einem Wörterbuch zugeschrieben sind oder in welchen paradigmatischen Beziehungen das Wort zu allen möglichen anderen steht, kann man Zuordnungen zu <?page no="70"?> 70 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Varietäten vornehmen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was eine tentativ angesetzte Varietät insgesamt ausmacht. Um einen an anderer Stelle herangezogenen Vergleich zu wiederholen: Man braucht keine Kenntnisse in der zoologischen Systematik, um einen Elefanten zu identifizieren (vgl. Adamzik 2008: 167). Im Gegensatz zum idealen Sprecher hat der reale tatsächlich nur eine partielle und unvollkommene Kenntnis seiner Sprache. Das bedeutet zugleich: Wir brauchen für die Sprachpraxis keine Rekonstruktion des gesamten Varietätenspektrums, um uns im ‚Chaos‘ zurechtzufinden. Anders herum gesehen: Was immer wir da an „Varietäten als Systemen über Variablen / Varianten-Mengen“ (Becker / Hundt, s. o.) rekonstruieren, es ist jedenfalls nichts, was zu irgendjemandes Sprachwissen gehören würde. Daher kann es auch nicht geeignet sein, um zu modellieren, wie der Sprachgebrauch funktioniert. Wenn wir den tatsächlichen Sprachgebrauch als Gegenstand der Untersuchung ins Auge fassen, können wir nicht davon absehen, dass das individuelle Sprachwissen begrenzt, vage, aber auch sehr flexibel ist. Folgen wir dem Korrelations-Modell, so besteht das Untersuchungsziel in etwas anderem als der Rekonstruktion der Bedingungen des Sprachgebrauchs. Es geht darum, ‚objektive‘ Korrelationen zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Faktoren aufzudecken. Dass man danach sucht, leitet sich nicht induktiv aus Beobachtungen her, sondern entspringt theoretisch-methodischen Konzepten: Wir verfügen über Instrumente, die uns anderes und weit mehr sehen lassen, als man mit bloßem Auge erkennen kann! Das kommt der schon erwähnten Annahme gleich: Eine Disziplin schafft sich ihren Gegenstand (vgl. 1.3.). Gerade in der Linguistik ist offenkundig, wie sehr neue Subdisziplinen sich in Abhängigkeit von technischen Entwicklungen ausbilden. Für die Phonetik sind nicht nur leistungsfähige Tonträger, sondern auch Apparate für die Schallanalyse notwendig. Für die systematische Untersuchung nonverbaler Elemente, der Körpersprache, bedarf es einfach handhabbarer Geräte für Videoaufnahmen. Verfahren, die die Aktivität von Nervenzellen beobachtbar machen, sind unverzichtbar für die Neurolinguistik usw. An die Seite der viel geschmähten Introspektion als Methode konnten viele andere erst aufgrund technischer Neuerungen treten. Auf diesem Wege hat das Experiment, die charakteristische Methode der Naturwissenschaften, Eingang in die Linguistik gefunden. Damit geht einher die Betonung quantitativer Studien. Verändert haben sich dabei zugleich Wertmaßstäbe: Was man nicht messen, zählen und statistisch auswerten kann, gilt vielen als wissenschaftlich <?page no="71"?> 71 2.2. Ansätze zur Systematisierung von Varietäten nicht seriös; es entspreche einer „naiv-vortheoretischen“ Herangehensweise (vgl. das Zitat von Becker / Hundt am Anfang von 2.2.). Diese Logik gemahnt an jenen Betrunkenen, der seinen Schlüssel unter der Laterne suchte, nicht weil er ihn dort verloren hätte, sondern weil es da heller ist und man besser sehen kann. Es ist nämlich möglich, dass es sich bei den anvisierten Variablen / Varianten-Mengen um rein gedankliche Konstrukte vom Typ Einhorn, Ufo oder perpetuum mobile handelt-- faszinierende Objekte, von denen wir allerdings annehmen, dass ihnen ‚in der Wirklichkeit‘ nichts entspricht. Was es in der Wirklichkeit bestimmt gibt, das sind, um mit Berruto zu sprechen, Varietäten in einem schwachen Sinn, Verdichtungen in einem Kontinuum, stereotype Vorstellungen von Sprechweisen. Die Existenz dieser Stereotype in Zweifel zu ziehen, wäre nicht weniger abwegig, als die ‚objektive‘ Existenz von Maschinen oder Pflanzen infrage zu stellen. Es handelt sich um wirksame alltagsweltliche Konstrukte. Varietäten werden damit als kognitive Einheiten, als prototypische Kategorien rekonstruiert. Dafür bedarf es selbstverständlich einer anderen Definition: Varietäten sind unscharf begrenzte Mengen von sprachlichen Varianten, die mit außersprachlichen Faktoren assoziiert sind. Sie haben eine prototypische Struktur. Im Zentrum stehen Varianten, die traditionell als Schibboleths bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um Sprachvarianten, die konventionell als Erkennungsmerkmale von Sprechergruppen fungieren (z. B. Grüezi, Servus, Moin-Moin). Der Ausdruck geht auf eine kriegerische Auseinandersetzung zurück, von der im Alten Testament (Buch der Richter 12, 5-6) berichtet wird und die ein besonders krasses Beispiel für die soziale Relevanz von Sprachvariation bietet: Die Männer von Gilead besetzten die Jordanübergänge, die nach Efraïm führten. Wenn ein flüchtiger Efraïmit kam und hinüber wollte, fragten sie ihn: „Stammst du aus Efraïm? “ Und wenn er Nein sagte, forderten sie ihn auf: „Sag doch einmal Schibbolet! “ Sagte er dann: „Sibbolet“, weil er es anders nicht aussprechen konnte, packten sie ihn und schlugen ihn nieder. Auf diese Weise fielen damals an den Jordanfurten 42 000 Männer aus Efraïm. <?page no="72"?> 72 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum 2.3. Empirische Untersuchung sprachlicher Variation Dieser Abschnitt schließt direkt an 1.3. an, wo es um deskriptive Studien zu Fachsprachen ging. Andere Variationsdimensionen spielten dabei keine Rolle. Dass mit dem Faktor Fach auf jeden Fall Mengen spezifischer Lexeme, und zwar sogar sehr große, korrelieren, ist völlig unstrittig. Diese werden auch gesammelt und in Fachwörterbüchern, Thesauri, Terminologien usw. zur Verfügung gestellt, und zwar von den Spezialisten der jeweiligen Fächer. Als umstritten erwies sich dagegen die Frage, ob Fachsprachen auch auf anderen Ebenen als der Lexik Spezifika aufweisen, wobei zunächst die Syntax stark im Vordergrund stand. Die meisten Fachsprachenlinguisten scheinen anzunehmen, dass es solche Spezifika gibt, wenngleich sie auf der morphologischen und syntaktischen Ebene nur mit quantitativen Besonderheiten rechnen. Sie schließen sich also der Bestimmung von Hoffmann an, die in 1.3. als Arbeitsdefinition rekonstruiert wurde (Gesamtheit aller sprachlichen Mittel). Eine Arbeitsdefinition dient letztlich dem Zweck, eine Hypothese zu überprüfen. Sie steckt ein Forschungsprogramm ab, und ist damit prinzipiell falsifizierbar. Demselben Typ gehört auch die am Beginn von 2.2. präsentierte Definition von Varietät an. Sie ist deswegen so leicht zu formulieren, weil sie lediglich einer sehr abstrakten Frage entspricht, obwohl sie sich in eine Aussage kleidet: ‚Es gibt Mengen von sprachlichen Varianten, die (einigermaßen) eindeutig mit außersprachlichen Faktoren korrelieren.‘ Gibt es diese klaren Korrelationen wirklich? Darauf kann man nur eine abgesicherte Antwort geben, wenn man empirische Untersuchungen an geeigneten Korpora durchführt. In 1.3. ergab sich der Schluss, dass es zwar theoretisch möglich, aber praktisch undurchführbar ist, hinreichend große Korpora für Fachsprachen zusammenzustellen, um die Hypothese einer Überprüfung zuzuführen, die den Qualitätsstandards solcher Forschungsverfahren genügt. Dafür ist einerseits die Menge verschiedener Fachsprachen ausschlaggebend, von denen nicht klar ist, wie man sie gegeneinander abgrenzen kann, andererseits die Tatsache, dass sie auch in sich heterogen sind. Noch ungeklärt ist außerdem die Frage, welchen Faktor man für Fachsprachen auf der außersprachlichen Seite ansetzen bzw. wie man ihn operationalisieren soll. Angesichts dessen muss es geradezu verwegen anmuten, gleich sämtliche Varietäten für solche Untersuchungen vorsehen zu wollen. Berrutos Hinweis, eine entsprechende Materialgrundlage „wäre wohl zu umfangreich und unhandlich“ ist ein freundlicher Euphemismus. Verliert man aus den Augen, dass es sich bei <?page no="73"?> 73 2.3. Empirische Untersuchung sprachlicher Variation diesen ‚Definitionen‘ tatsächlich um Hypothesen bzw. Fragestellungen handelt, können sie geradezu den Charakter von Hochstapelei gewinnen, auf die man hereinfallen kann oder nicht: Überprüfbar wird die Hypothese nur, wenn man sie in eine Unzahl von Teilhypothesen zerlegt. Bestenfalls lassen sich einzelne Mosaiksteinchen fabrizieren. Ein Gesamtbild wird sich aber nicht vor dem Sankt-Nimmerleins-Tag ergeben können. Nach diesen vielen sehr pessimistisch klingenden Ausführungen ist es höchste Zeit für die gute Nachricht. Etwas überspitzt könnte man sie in die Aussage fassen: Was eine Varietät sein soll, darf jeder selbst bestimmen. Das scheint auf den ersten Blick ein Plädoyer für unbeschränkten Subjektivismus zu sein, das sich aus Resignation angesichts der ‚Undefinierbarkeit‘ der Grundbegriffe ergibt. So muss man es allerdings nur dann verstehen, wenn man an der Auffassung festhält, es sei die Aufgabe der Wissenschaft, ein objektives Bild der Wirklichkeit zu präsentieren, wenn man erwartet, dass Definitionen uns sagen wollen und sollen, was z. B. eine Varietät ‚in Wirklichkeit ist‘. Macht man sich dagegen frei von dieser ‚naiv-realistischen‘ Sicht (vgl. 1.2.), dann erscheint die Vielfalt an Definitionen und Untersuchungsansätzen nicht mehr als Problem, schon gar nicht als Ärgernis, sondern als ebenso akzeptabel, ja selbstverständlich, wie es die verschiedenen Perspektiven auf den Apfel sind. Wenn man sich mit einem Gegenstand näher auseinandersetzen und ihn genauer beschreiben will, dann kann man nicht sämtliche Perspektiven einnehmen, jedenfalls nicht gleichzeitig. Man kommt nicht umhin, gelegentlich Scheuklappen anzulegen, um sich durch andere Perspektiven nicht verwirren zu lassen. Problematisch wird es nur, wenn man eine solch beschränkte Sicht als Ei des Kolumbus präsentiert. So gesehen entspricht eine prononciert ‚realistische‘ Position einfach einer dogmatischen Haltung: So und nicht anders muss man den Gegenstand betrachten, meine Definition und das sich daraus herleitende Forschungsprogramm sind die richtigen! In der wissenschaftlichen Welt gibt es durchaus die Haltung des Dogmatismus, bis zu einem gewissen Grade ist sie sogar-- temporär-- notwendig, nämlich immer dann, wenn der Gestus des Hinterfragens suspendiert werden muss (vgl. 1.2.). Das ist gerade dann der Fall, wenn man eine Hypothese überprüfen will. Nehmen wir die Abbildungen 2.4 und 2.5 als Ausgangspunkt für die Konkretisierung eines solchen Unternehmens. 2.5 passt zu dem Forschungsprogramm, das Hoffmann vorgeschlagen hatte: Wir stellen nach bestimmten Kriterien ein Korpus von Texten zusammen, die wir unter bestimmten Aspekten auswerten. Die Texte existieren also schon, wir wählen daraus nur aus, müssen dann aller- <?page no="74"?> 74 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum dings auch noch verschiedene außersprachliche Bedingungen ermitteln, unter denen die Texte entstanden sind-- das ist bei Fachtexten keineswegs trivial. Die Abbildung 2.4 unterstellt, dass auf jeden Fall verschiedene außersprachliche Einflussfaktoren auf die Gestaltung eines Textes einwirken. Das lädt dazu ein, direkt bei den außersprachlichen Bedingungen anzusetzen. Notwendigerweise ist jede einzelne Äußerung entweder gesprochen oder geschrieben, stammt von einem Mann oder einer Frau eines bestimmten Alters, die eine bestimmte soziale Stellung und Rolle haben usw. Während die Systematisierung als Klassifikationsversuch an den ‚Verdichtungen‘, üblichen Vorstellungen spezieller Varietäten und überlieferten Gliederungsansätzen festhält und immer relativ abstrakt bleiben muss, kann man sich von solchen Vorgaben völlig befreien, wenn man die Rede von den Dimensionen der Variation ernst nimmt und diese als rein analytische Beschreibungsparameter auffasst. Man stellt sich dann einen mehrdimensionalen Variationsraum vor, in dem man im Prinzip beliebige Punkte als Analysegegenstand auswählen kann. Dann kreiert man auch den Beschreibungsgegenstand am besten überhaupt erst selbst-- eben dazu dienen systematische Erhebungen und Experimente (Abb. 2.6). Abb. 2.6: Ein mehrdimensionaler Variationsraum. Dass diese Darstellung mit nur drei Dimensionen arbeitet, hat rein technische Gründe. <?page no="75"?> 75 2.3. Empirische Untersuchung sprachlicher Variation Um dies an einem einfachen Beispiel zu demonstrieren (für wirklichkeitsnähere Beispiele vgl. Löffler 2016: 50 ff.): Wie sprechen oder schreiben ▶ 20-jährige-- im Vergleich zu 40- und 60-jährigen, ▶ Männer-- im Vergleich zu Frauen, ▶ in Frankfurt am Main-- im Vergleich zu Frankfurt an der Oder, ▶ wenn sie sich mit FreundInnen-- im Vergleich zu Familienangehörigen zu einem Treffen verabreden? Ausgewählt werden nur Nicht-Dialekt- SprecherInnen. Mit einer solchen Fragestellung sind zunächst verschiedene Aufgaben formuliert: Die Erhebung von Daten, die Auswahl von sprachlichen Merkmalen, die man untersuchen möchte u. a. m. Die Aussagekraft der Ergebnisse hängt u. a. davon ab, ob man eine repräsentative Stichprobe zusammenstellen kann. Vielleicht stellt sich heraus, dass sich die 60-jährigen überhaupt viel zu selten mit FreundInnen verabreden, als dass man genügend Material für den Vergleich zusammenbekäme, vielleicht weigern sich die Probanden, ihre Telefongespräche aufnehmen zu lassen oder Einblick in ihre SMS zu gewähren. Vielleicht sind diejenigen, die sich einverstanden erklären, gerade nicht repräsentativ, und womöglich verhalten sie sich anders als sonst, wenn sie wissen, dass ihr Verhalten wissenschaftlich untersucht wird-- das nennt man das Beobachterparadoxon. In der klassischen Formulierung von William Labov besagt es: „das Ziel der sprachwissenschaftlichen Erforschung der Gemeinschaft muß sein, herauszufinden, wie Menschen sprechen, wenn sie nicht systematisch beobachtet werden; wir können die notwendigen Daten jedoch nur durch systematische Beobachtung erhalten.“ (Labov 1970 / 1972: 147). Die im fiktiven Beispiel vorgenommene Operationalisierung der außersprachlichen Varianten dürfte bei manchen die Frage aufwerfen, wer das alles eigentlich so genau wissen will bzw. wozu eine solche Erhebung gut ist. In konkreten Forschungskontexten geht diese Frage der empirischen Erhebung natürlich voraus. Das fiktive Beispiel soll v. a. verdeutlichen, wie groß die Kluft ist zwischen einerseits den groben Kategorien, mit denen man sprachliche Merkmale außersprachlichen Faktoren zuordnet und diese zu Varietäten zusammenfasst, und andererseits der systematischen Untersuchung des tatsächlichen Sprachgebrauchs. Die Menge der möglichen Untersuchungsgegenstände ist unendlich, und es ist unvorstellbar, dass sich die tentativ angesetzten Varietäten auf der <?page no="76"?> 76 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Grundlage einer Vielzahl von Einzeluntersuchungen vom Typ unseres fiktiven Beispiels empirisch absichern oder auch widerlegen ließen. Beide Sichtweisen haben aber ihre Berechtigung, nur dienen sie unterschiedlichen Zwecken. In empirischen Untersuchungen geht es gerade darum, Hypothesen zu überprüfen. Eine Hypothese entspricht also der Antwort auf die Frage: Wozu? Grundsätzlich ist es recht leicht, die gesellschaftliche Relevanz empirischer Untersuchungen von Varietäten zu verdeutlichen. Bedenkt man nämlich, dass die Vorstellung von Varietäten als Prototypen zugestandenermaßen auch auf soziale Stereotype zielt, dass in Stereotypen gesellschaftliche Konflikte zum Ausdruck kommen und diese Konflikte in alltäglicher Metakommunikation wie z. B. Beschwerden über das Kauderwelsch der Bürokratie oder Sprachverfallsklagen auch ausgetragen werden, so ist es wohl mehr als legitim zu überprüfen, wie sehr die Stereotype einem Zerrbild der Wirklichkeit gleichkommen! In diesem Fall brauchen wir, wie angekündigt, Wirklichkeit nicht in Anführungszeichen zu setzen, der Gestus des Hinterfragens wird suspendiert. Denn selbstverständlich können wir uns problemlos darauf einigen, dass es reales Sprachverhalten tatsächlich gibt und dass man dieses systematisch beschreiben kann. Das fiktive Beispiel passt in den Sprachverfallsdiskurs, da das Alter als wesentliche Variable erscheint. Weiter gibt es das Vorurteil, dass Frauen sich stärker an Sprachnormen orientieren. Die beiden Frankfurts stehen für West vs. Ost, eine Variable, die man auf jeden Fall kontrollieren sollte, da die (älteren) Menschen in ganz unterschiedlichen Systemen sozialisiert wurden und immer wieder thematisiert wird, inwieweit die Mauer in den Köpfen fortbesteht. Mit der letzten Variablen wird kontrolliert, welche Bedeutung die diasoziale Dimension (Sprechereigenschaften) gegenüber der diasituativen (Adressat) hat. Es ist nicht zu erwarten, dass das Material bei den verschiedenen außersprachlichen Variantenbündeln unseres Beispiels wesentliche qualitative Besonderheiten auf der Ebene der sprachlichen Varianten zutage fördern würde: Die Probanden werden grob gesehen alle dieselben Sprachmittel verwenden, allerdings mit unterschiedlicher Häufigkeit. Dies macht einen großen Vorteil der quantitativen Methode deutlich. Mit ihr erzielt man nämlich immer klare Ergebnisse: Wenn man die Korrelationen ermittelt, ergeben sich unausweichlich irgendwelche Zahlenwerte. Die spezifischen Hypothesen werden (auf einem bestimmten Signifikanz-Niveau) bestätigt oder widerlegt-- beides wird als angemessenes Ergebnis akzeptiert. Möglich ist auch, dass sich neue Hypothesen ergeben, die man ggf. in einer Nachuntersuchung überprüfen kann. Arbeitet man mit dem Prototypen-Konzept von Varietäten, so kommt man umgekehrt <?page no="77"?> 77 2.3. Empirische Untersuchung sprachlicher Variation eigentlich nie zu klaren Resultaten, alles ist immer nur relativ. Dafür verliert man nicht so schnell vor lauter Details die Gesamtzusammenhänge aus dem Blick. Insgesamt empfiehlt sich, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen, d. h. verschiedene Perspektiven-- und damit auch Definitionen! -- als Normalität zu akzeptieren. In wissenschaftlichen Zusammenhängen geht es nicht darum, die ‚richtige‘ bzw. ‚angemessene‘ Definition zu finden-- das wäre das perpetuum mobile! Im Forschungskontext haben Definitionen den Charakter von Arbeitsinstrumenten. Die Zusammenstellung von Korpora entspricht einer Definition des Untersuchungsgegenstands. Die Bestimmung der Variablen und die Operationalisierung der Varianten haben ebenfalls definitorischen Charakter: Es geht um eine nicht gerade willkürliche, aber vom Bearbeiter vorgenommene Setzung für einen bestimmten Kontext und Zweck. Es kommt auch vor, dass ursprünglich vorgesehene Varianten bei der Auswertung neu definiert werden, weil sich z. B. die Gliederung in vier Varianten einer Variable (z. B. Altersgruppen für außersprachliche oder relativer Anteil von Satzarten für sprachliche Varianten) als weniger prägnant erweist als eine in drei oder fünf. Der Prototypen- und der Korrelations-Ansatz wurden bisher als in Konflikt stehend präsentiert. Das ist keineswegs notwendig. Eine gewisse Verwandtschaft ergibt sich schon daraus, dass beide mit Skalen operieren: Im einen unscharf mit mehr oder weniger nah am Prototyp, im anderen mit numerischen Werten (qualitative Unterschiede entsprechen den Werten 0 bzw. 100 %). Die eigentliche Prototypensemantik wurde überdies in der Psycholinguistik entwickelt und baut wie die heutige kognitive Linguistik insgesamt auf Experimenten auf. Theoretisch könnte man auch die ‚subjektiven‘ stilistischen Markierungen von Ausdrücken empirisch absichern, d. h. erheben, wie eine repräsentative Stichprobe der Sprachteilhaber die Varianten einschätzt. Praktisch ist das jedoch angesichts der Menge der Lexeme (vgl. 2.1.) und des Aufwands entsprechender Erhebungen nicht möglich. Wenn überhaupt, dann werden allenfalls relativ kleinen Probandengruppen kleine Mengen ausgewählter Items vorgelegt. Das führt dann zur Objektivierung subjektiver Urteile mit stichprobenhaftem Charakter. Es ändert allerdings nichts daran, dass das, was da genauer erforscht wird, immer noch subjektive Urteile sind, Sprachgefühl, Introspektion. Die als ungeeignet verworfene Intuition gewinnt nicht dadurch einen prinzipiell anderen Charakter, dass man sie massenweise erhebt. Ein Nachteil solcher Befragungen besteht überdies darin, dass man - schon der besseren Auswertbarkeit <?page no="78"?> 78 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Es fragt sich nun, ob wir eigentlich bedauern müssen, dass es aus rein praktischen Gründen nicht möglich ist, die Generalhypothese zu bestätigen oder zu widerlegen. Zur Erinnerung: Die Generalhypothese unterstellt, dass die Gesamtsprache in Varietäten zerfällt, die (quantitativ spezifizierbaren) Korrelationen zwischen außersprachlichen und sprachlichen Merkmalen entsprechen. Welchen Unterschied macht es eigentlich, ob man präzise quantitative Daten anführen kann oder wie das DUW mit vagen Einschätzungen operiert, die besagen, ein Ausdruck würde meist, häufig, selten als in bestimmter Weise markiert empfunden, oder wenn man eine Markierung als fakultativ in Klammern setzt? Selbst wenn wir empirisch gesicherte Daten zur Verfügung hätten, so wäre es für die Markierungspraxis in Wörterbüchern bzw. Nachschlagewerken zur Grammatik, also in praktisch relevanten Zusammenhängen, doch notwendig, die Befunde aus korpusbasierten quantitativen Untersuchungen in Kategorien(ausprägungen) zu übersetzen, die für durchschnittliche Sprachteilhaber einsichtig sind. Ihnen wäre jedenfalls nicht damit geholfen, wenn an die Stelle grober Bestimmungen Ergebnisse empirischer Untersuchungen mit präzisen Prozentzahlen träten-- so genau will es eben doch kaum jemand wissen. Diese Überlegung ist besonders relevant in Bezug auf die syntaktischen Eigenschaften fachlicher Texte. Lange bevor irgendjemand daran dachte, anhand von Korpora präzise Daten zu erheben, gab es nämlich schon Stereotype, die unterstellten, zu den typischen Eigenschaften fachlicher Texte gehöre eine komplexe Syntax, Nominalstil, häufiger Passivgebrauch, Funktionsverbgefüge usw. Diese Stereotype lassen sich leicht in sprachkritischen Beiträgen auffinden, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich dieselben Auffälligkeiten nennen bzw. bemängeln. Was gewinnen wir, wenn wir diesen intuitiven Eindruck durch quantitativ ausgerichtete Korpusanalysen weiter untermauern? Anders als bei Untersuchungen, die verbreitete Stereotype als wirklichkeitsverzerrend entlarven, bestätigen solche Untersuchungen in der Regel nur das, wegen - v. a. geschlossene Fragen stellt, bei denen man Kreuzchen machen kann oder aber einen Wert auf einer Skala auswählen soll. So können die Probanden gar nicht zum Ausdruck bringen, dass ihr intuitives Wissen viel reicher ist. Dabei spielen nicht zuletzt Anekdoten eine große Rolle: Für mich klingt es fast falsch, jedenfalls sehr unelegant. Ich weiß aber, dass andere es anders sehen. Meine Tochter z. B. … Das ist den Forschern natürlich auch selbst klar. Deswegen gehören zu den Erhebungsmethoden auch Interviews, bei denen sich dieses Problem nicht stellt. Das ist allerdings eine Methode, die man nur mit noch kleineren Probandengruppen durchführen kann. <?page no="79"?> 79 2.3. Empirische Untersuchung sprachlicher Variation was wir ohnehin schon wissen. Welchen Erkenntnisgewinn können wir damit erzielen? Die Antwort auf diese rhetorische Frage: Die Überprüfung von Hypothesen, an deren Gültigkeit sowieso niemand zweifelt, ist relativ unergiebig. Die Tatsache aber, dass empirische Untersuchungen nach dem Korrelations- Modell zuverlässig Daten generieren, die Ansprüchen an wissenschaftliches Arbeiten genügen, auch wenn sie keine relevanten neuen Erkenntnisse hervorbringen, macht diesen Ansatz quasi immun gegen den Gestus des Hinterfragens: Die Menge von möglichen Einzelhypothesen ist so unüberschaubar groß, die Verheißung, mit hinreichend vielen Detailuntersuchungen irgendwann doch noch zu einem überzeugenden Gesamtbild zu gelangen, so verlockend, dass man sich auf jeden Fall davor schützen kann, die Relevanz der eigenen Disziplin bzw. des spezifischen Untersuchungsansatzes, ernsthaft bedroht zu sehen: Eine Disziplin / Schule konstruiert sich ihren Gegenstand-- und schafft es günstigenfalls auch, gesellschaftlich oder wenigstens akademisch als nützlich anerkannt zu werden. Das in der Einleitung angesprochene Desinteresse an fachsprachenlinguistischen Untersuchungen könnte ein Indiz dafür sein, dass tatsächlich nur Letzteres gelungen ist. Diese Überlegungen führen zu einer veränderten Sicht auf die deskriptive (Fachsprachen-)Linguistik (vgl. 1.3.). Sie setzt auf Quantität, nicht nur bei den Korpora, sondern auch bei den sprachlichen Variablen: Nicht weniger als die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel soll Gegenstand der Untersuchung sein! Das kommt der ausdrücklichen Zurückweisung der Annahme gleich, empirische Untersuchungen dienten v. a. der Überprüfung spezieller Hypothesen, seien also so zielgerichtet wie möglich vorzunehmen, so dass sie sich notgedrungen auf einer mikroanalytischen Ebene ansiedeln. Es ist allerdings leicht erklärlich, dass man in der Fachsprachenlinguistik vorzieht, mit umfangreichem Beobachtungsmaterial zu arbeiten, das man induktiv sichtet, denn Fachsprache eignet sich kaum für (quasi-)experimentelle Studien. 41 Dieses Vorgehen wird auch begünstigt durch jüngere technische Fortschritte, die wieder eine neue Subdisziplin hervorgebracht haben. Inzwischen lassen sich nämlich nicht nur extrem große Korpora erstellen, sondern die Korpuslinguis- 41 Solche hat v. a. Sigurd Wichter (1994) durchgeführt (und weitere initiiert). Dabei geht es um den Vergleich von Experten- und Laienwortschätzen. Es wird im Detail gezeigt, wie man das mit einem Ausdruck verbundene Wissen konkret beschreiben und unterschiedliche Wissensbestände vergleichen kann. Deutlich wird dabei insbesondere, wie fragmentarisch Laien-Wissen sein kann-- ohne dass das die Verständigung mit Experten notwendig behindern müsste. Für eine Kurzübersicht dazu vgl. Wichter (1999). <?page no="80"?> 80 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum tik hat auch Methoden für automatisierte Auswertungen entwickelt. Dabei wird hypothesenfreie Forschung geradezu zum Prinzip erhoben. Diese Ausrichtung versteht Korpuslinguistik als Methodologie (vgl. Perkuhn et al. 2012: 21) und wird als korpusgeleitet (corpus-driven) bezeichnet. Die herkömmliche, hypothesengeleitete, Forschung gilt dagegen als ‚nur‘ korpusbasiert (corpus-based). Bei korpusgeleiteten Untersuchungen geht es um „strukturentdeckende Verfahren“ (ebd.), wobei rein statistisch ermittelte Korrelationen erst sekundär interpretiert werden. Perkuhn et al. folgen dabei Köhler, der das Prinzip folgendermaßen erläutert: „[Automatisierte] Klassifikations-, Korrelations-, Mustererkennungs- und andere induktiv-heuristische Verfahren dienen hauptsächlich dem Zweck, neue, zuvor nicht bekannte Phänomene und Zusammenhänge zu entdecken, zumal wenn, wie in der Korpuslinguistik, die Daten wegen ihrer schieren Masse mit dem Intellekt nicht einmal gesichtet werden könnten.“ (Köhler 2005: 4 f.; Hervorhebungen K. A.) Solche Untersuchungen stehen jedoch noch in den Anfängen und sind in die Fachsprachenlinguistik m. W. noch nicht eingegangen. Welche Resultate sich damit erzielen ließen, wissen wir also nicht. Sicher ist aber, dass ein solches Vorgehen wieder wegführt von Varietäten als Phänomenen des Sprachbewusstseins, denn es geht ja um die Entdeckung von Zusammenhängen, auf die man bei ‚normalem Nachdenken‘ nicht kommt. Stereotype Vorstellungen darüber gibt es also gewiss nicht. Damit sollen zum Schluss noch empirische Untersuchungen angesprochen werden, die sich auf anderes beziehen als Korpora fachlicher Primärtexte. Dabei lege ich folgende Thesen zugrunde: „Neben die produktorientierten empirischen Analysen, die Texte auf ihre objektiv feststellbaren Merkmale hin untersuchen, müssen verwenderzentrierte Fragestellungen treten. Dabei sind u. a. Urteile von Sprachteilhabern darüber einzuholen, für wie typisch, originell, gelungen usw. sie bestimmte Texte und Textmerkmale halten. Intuitive Urteile über Kulturdifferenzen oder auch Stereotypen [sic] sind nicht als möglichst auszuschaltender Störfaktor für wissenschaftliche Untersuchungen, sondern als produktives Moment für die Hypothesenbildung und -überprüfung zu betrachten.“ (Adamzik 2010b: 20; Spiegelstriche eliminiert; Hervorhebungen K. A.) Für die direkte Erhebung von Einstellungen kommen unter Fachsprachen v. a. die beiden Bereiche in Frage, die auch Gegenstand der sprachkritischen Unterhaltungsliteratur sind (vgl. 2.1.), nämlich Verwaltungs-/ Behörden-/ Amts- und <?page no="81"?> 81 2.3. Empirische Untersuchung sprachlicher Variation Rechtssprache (vgl. Eichhoff-Cyrus et al. 2009). Einfacher und ergiebiger ist es jedoch, bereits vorliegende Texte aus dem Metadiskurs beizuziehen. Da dieser von negativen Klischees durchzogen ist (vgl. Ehlich 1998 und Knoop 1998), bietet es sich auch wieder an, die Angemessenheit der mala-fide-Haltung (vgl. Adamzik 2010a: 253) zu überprüfen, der Unterstellung nämlich, dass Fachleute grundsätzlich gegen die Konversationsmaxime der Modalität verstoßen. 42 Tatsächlich „stehen Experten aller Art in dem unrühmlichen Ruf, vor der Aufgabe, ihr Spezialwissen in gemeinverständlicher Form weiterzugeben, in der Regel gänzlich zu versagen. Es gehört zum sozialen Heterostereotyp des Experten, dass er- - mit einem Wort von Karl Popper- - Einfaches kompliziert und Triviales schwierig auszudrücken weiß.“ (Adamzik 2004: 14) Diese Vorstellung gehört sogar zum Autostereotyp deutscher bzw. deutschsprachiger Wissenschaftler, die meinen, im Gegensatz zu anderen Ländern schade gute Lesbarkeit hier dem wissenschaftlichen Renommee. Dafür möge der Titel eines Aufsatzes von Teubert (1988) stehen: Der gelehrte Jargon - Ein deutsches Phänomen? (vgl. auch den Schluss von 3.2.1. zum PUSH -Memorandum). Inwieweit es tatsächlich eine entsprechende implizite Norm gibt, könnten etwa Untersuchungen von Rezensionen und Gutachten unter diesem Gesichtspunkt ergeben: Inwieweit wird dort der Sprachstil thematisiert und welche Gütekriterien spielen dabei eine Rolle? In jedem Fall ist die breite Literatur zur Textverständlichkeit eine Fundgrube sowohl für deskriptive als auch für bewertende Aussagen über (Fach-)Texte. Diese Perspektive ist charakteristisch für die Angewandte Linguistik und schlägt sich auch in anleitenden Publikationen nieder. Dabei ist einerseits an Modelle und Projekte zur Textoptimierung zu denken, besonders aber an Anleitungen zur Ausbildung der Schreibkompetenz (im fachlich-wissenschaftlichen Bereich). Sie sind Gegenstand der ebenfalls-- inzwischen auch im Deutschen- - extensiven Schreibforschung (vgl. für eine fundierte Übersicht über den Gesamtbereich Göpferich 2015). Diese ist wiederum durch technische Entwicklungen entschieden befördert, wenn nicht überhaupt erst möglich geworden. Texte mit dem Computer zu erstellen, der u. a. Instrumente zur anspruchsvollen Visualisierung enthält, 42 Vgl. zum Thema der Schwerverständlichkeit von Wissenschaftstexten ausführlich Niederhauser (1999) mit Aufarbeitung der Literatur bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. <?page no="82"?> 82 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum dabei Zugriff auf digitalisierte externe Quellen zu haben usw., das ist nicht nur etwas ganz anderes als Schreiben mit nur mechanischen Werkzeugen. Es bringt auch mit sich, dass die Aktivitäten aufgezeichnet werden können und damit systematischer Beobachtung zugänglich werden, so dass eine prozessorientierte Forschung möglich wird. Eine praktische Konsequenz besteht in der Förderung von Schreibzentren, die in Deutschland verstärkt seit 2011 erfolgt (vgl. Göpferich 2015: 174). Ganz anders ausgerichtet sind demgegenüber Anleitungen für wissenschaftliches Schreiben aus der Frühphase der Demokratisierung von Bildung, nämlich seit den 1960er Jahren, in denen es als Reaktion auf die sog. Bildungskatastrophe (Picht 1964) zu einer Bildungsexpansion kam (vgl. dazu weiter 3.1.). Diese hält bis heute an, wird jetzt aber durch den Diskurs um die Pisa-Studien und den sog. Bologna-Prozess bestimmt. Typisch für die älteren Werke ist der Titel von Ewald Standop: Die Form der wissenschaftlichen Arbeit, das älteste Werk dieser Art, das besonders großen Erfolg hatte ( 1 1959, 18 2008). Diese Werke propagieren nun keineswegs einen esoterischen Wissenschaftsstil, sondern begründen die einzelnen Normen besonders oft mit der „Verantwortung gegenüber dem Leser bzw. de[m] Respekt, den man ihm schuldet“ (Pieth / Adamzik 1997: 48), erklären zu „Leitvorstellungen Sachlichkeit, Verständlichkeit und Lesbarkeit“ (ebd.: 47) und behandeln die bekannten „syntaktischen Merkmale des Wissenschaftsstils (Nominalstil, Attributketten, Funktionsverbgefüge, Passiv)“ (ebd.) als Problem. Auch diese lange schreibdidaktische Tradition hat anscheinend an den Verhältnissen der Sprachpraxis nicht viel geändert. Eine typische Antwort von (fremdsprachigen! ) Studienanfängern auf die Frage, warum sie denn so komplizierte Sätze und so viele Passivformen verwenden, liefert eine Erklärung für das Phänomen: Ich dachte, sonst klinge es nicht wissenschaftlich genug. Hier wie auch beim Substandard zeigt sich: Prestige und Stigma bilden einen Januskopf. Einen angemessenen Stil für fachliche Texte zu finden, kommt tatsächlich einer Gratwanderung gleich: Einerseits muss und soll man zeigen, dass man die wissenschafts-/ fachspezifischen Konventionen beherrscht, andererseits weisen diese so viele dysfunktionale Elemente auf, dass eine andere Metanorm besagt, man solle sich davor hüten. Besonders krass kommt die darauf beruhende paradoxe Instruktion zum Ausdruck in der folgenden Aufforderung aus einem Anleitungstext: „Meiden Sie also Hinweise wie a. a. O., loc. cit. (‚loco citato‘), oder noch schlimmer ‚passim‘ (‚hier und dort‘) wie die Pest, ganz gleich wieviele Regale mit Beispielen <?page no="83"?> 83 2.4. Der Faktor Fach Sie dazu in Bibliotheken finden. Auch wenn Ihr Betreuer selbst noch dieser Unsitte anhängen sollte, folgen Sie ihm nicht. Üben Sie zivilen Ungehorsam, und denken Sie an Ihr Publikum“ (Krämer 1994: 131). Welches Publikum? Wer liest und beurteilt Arbeiten des akademischen Nachwuchses? Speziell für den Bereich der Rechts- und Verwaltungssprache lässt sich an empirischem Material mit Gewinn auch die Vielzahl an Metatexten mit verbindlichen Normen für die Textgestaltung heranziehen. Für wissenschaftliche Publikationen gibt es zwar auch solche Normen, und zwar in Gestalt von Style Sheets, diese sind jedoch verbindlich nur für einzelne Zeitschriften und Sammelbände, allenfalls für Reihen oder Verlage und betreffen in der Regel nur Formalia wie Zitatnachweise und Literaturangaben. Bei der Verwaltung handelt es sich dagegen um ein langfristig funktionierendes System, das stark miteinander vernetzte Texte mit rechtlicher Verbindlichkeit wie insbesondere Gesetze und Verordnungen produziert. Diese sollten einheitlichen Gestaltungsprinzipien folgen und dabei auch Grundsätze der Verständlichkeit berücksichtigen. Mit der sich verbreitenden Politikverdrossenheit bzw. dem ausgeprägten Misstrauen gegenüber Experten aller Art wird nämlich eine gelingende Bürger-Verwaltungs-Kommunikation zunehmend als zentrale staatliche Aufgabe begriffen, von der das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft abhängt. In der Schweiz ist diese Zielsetzung sogar in ein Sprachengesetz aufgenommen worden (vgl. Adamzik 2016b, Adamzik/ Alghisi 2017 und Alghisi in Vorb.). 2.4. Der Faktor Fach Der Abschnitt 2.2. hat gezeigt, dass es in den Systematisierungen des Varietätenspektrums, die mit vier Dimensionen rechnen, keinen rechten Platz für Fachsprachen gibt. „Daß Fachsprachen sehr einheitlich der funktional-situativen Dimension zugeordnet werden, läßt sich am besten damit begründen, daß die anderen Dimensionen als noch ungeeigneter erscheinen.“ (Adamzik 1998: 183) „Letzten Endes liegt es vom Blickwinkel der Fachsprachenforschung her am nächsten, die gängigen Variationsdimensionen um eine weitere zu bereichern; und da das, was eine Fachsprache am eindeutigsten charakterisiert (und was bei aller Variation innerhalb einer Fachsprache gleichbleibt), weder die Situation noch die Funktion <?page no="84"?> 84 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum noch die Gruppe ist, sondern das Fach, der Gegenstand, das Thema, über das kommuniziert wird, so müßte man als Variationsdimension Fachlichkeit / Thematik/ Inhalt ansetzen.“ (ebd.: 184) Vorgeschlagen wird also eine zusätzliche, speziell für Fachsprachen charakteristische Dimension, nämlich der Gegenstandsbezug. Aus der Sicht der eigentlichen Fachsprachenforschung (wenn man sie also nicht als kleine Unterabteilung der Varietätenforschung betrachtet bzw. betreibt) ist das allerdings nicht gerade originell, sondern eine schlichte Selbstverständlichkeit: „Charakteristisch für nahezu die gesamte Tradition der Beschäftigung mit Fachsprachen bis in die unmittelbare Gegenwart sind das Konzept der Gegenstandsbindung und das Eindeutigkeitspostulat“ (Gardt 1998: 32; Hervorhebungen im Orig.). Das gilt selbstverständlich auch für die älteren Referenzwerke: Für Hoffmann bildet „der Inhalt oder der Gegenstand“ den ersten Ausgangspunkt für die Bestimmung von Fachsprachen, es ist „das principium divisionis“ der „Einteilung der gesamten sprachlichen Kommunikation in eine bestimmte Anzahl von Kommunikationsbereichen mit ihren jeweiligen Subsprachen“ (Hoffmann 1985: 52). Kommunikationsbereiche sind für ihn also über Inhalte bzw. Gegenstände bestimmt. Dieselbe Voraussetzung macht Fluck: „Die-- allgemein anerkannte-- Aufgabe der Fachsprachen ist die Bereitstellung eines Zeichenvorrats zur Verständigung über bestimmte Gegenstands- und Sachbereiche, die möglichst präzise und ökonomisch erfolgen soll.“ (Fluck 1996: 13) Bei Roelcke wird diese Selbstverständlichkeit dagegen hinterfragt. Er legt seinen gesamten Ausführungen folgendes Modell zugrunde (Abb. 2.7): <?page no="85"?> 85 2.4. Der Faktor Fach Produzentenkontext Rezipientenkontext Produzentenkotext gemeinsamer Kotext Rezipientenkotext sprachliches System des Produzenten gemeinsames sprachliches System sprachliches System des Rezipienten Text Antwort Textproduzent Antwortrezipient Textrezipient Antwortproduzent Abb. 2.7 Kommunikationsmodell (Roelcke 2010: 13) Er bezeichnet es zwar als Modell fachsprachlicher Kommunikation, der Fachbezug kommt darin aber gar nicht explizit zum Ausdruck, und für andere Kommunikationsbereiche dürfte dieselbe Schematisierung gültig sein. Differenziert werden v. a. die drei Ansätze, die Roelckes gesamte Darstellung prägen (vgl. 1.), und zwar durch die verschieden getönten Felder: Der systemlinguistische Ansatz ist hell unterlegt, der pragmalinguistische mittel und der kognitionslinguistische dunkel. Überraschend ist, dass nur für das sprachliche System und den Kotext jeweils ein Überschneidungsbereich vorgesehen ist, nicht für den Kontext. Am bemerkenswertesten ist an diesem Schema jedoch, dass sich darin zwar drei Faktoren aus Bühlers grundlegendem Modell wiederfinden (Produzent / Sender, Rezipient / Empfänger, Text / Zeichen), nicht aber der Pol der außersprachlichen Gegenstände bzw. Sachverhalte. Das ist umso erstaunlicher, als Roelcke prinzipiell einer realistischen Sicht verpflichtet ist, nach der die Dinge vorgängig gegeben sind und nicht erst sprachlich als solche konstituiert werden (vgl. 1.2.). Seine Position erläutert er anlässlich der Kritik von Hoffmanns Definition, die hier nochmals reproduziert sei. „Fachsprache-- das ist die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständigung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten.“ (Hoffmann 1985: 53, im Orig. zur Gänze in Fettdruck, Hervorhebung hier K. A.) <?page no="86"?> 86 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Roelcke weist diese Definition als zirkulär zurück und plädiert mit folgenden Argumenten für eine handlungsbezogene Bestimmung: „Bei der näheren Betrachtung dieser Definition fällt ein zweifacher Zirkel auf-[…]: Zum einen wird Fach allein durch ‚fachlich‘ bestimmt, und zum anderen findet auch Sprache durch ‚Gesamtheit sprachlicher Mittel‘ eine kaum weiterführende und somit wenig brauchbare Erläuterung; allein der Bezug auf einen ‚Kommunikationsbereich‘ weist bereits auf eine kommunikationstheoretische bzw. pragmalinguistische Grundlegung des Fachsprachenkonzepts hin. Die Bestimmung dessen, was eigentlich unter Fach zu verstehen ist, fällt jedoch-[…] schwer- […]. Bei Fach handelt es sich ganz offensichtlich um einen Begriff, der im soziokulturellen Kontext der modernen Forschung zwar evident, nicht aber hinreichend definierbar ist. Wenn überhaupt, erweist sich hier eine handlungsbezogene Bestimmung als tragfähig, der zufolge ein Fach als ein mehr oder weniger spezialisierter menschlicher Tätigkeitsbereich aufzufassen ist. Zumindest sind dieser Bestimmung einige andere Ansätze insofern unterlegen, als sie sich hiervon ableiten lassen. Zu diesen Ansätzen gehören erstens die referentielle Bestimmung von Fach anhand des betreffenden Gegenstandsbereichs, der jedoch selbst allein erst aufgrund menschlichen Handelns konstituiert wird; zweitens die soziologische Bestimmung anhand einer Gruppe von wie auch immer tätigen Personen, die jedoch selbst wiederum erst im Hinblick auf einen gemeinsamen Tätigkeitsbereich von anderen Gruppen abgegrenzt werden kann; oder drittens die linguistische oder semiotische Bestimmung, die ein Fach an dem Gebrauch sprachlicher oder nichtsprachlicher Zeichen im Rahmen eines bestimmten menschlichen Tätigkeitsbereichs festmacht.“ (Roelcke 2010: 15; Kursivierung im Orig. fett; Fettdruck K. A.) Die Annahme, der eine Faktor ließe sich aus (einem) anderen ableiten, scheint mir eigentlich nur eine andere Formulierung dafür zu sein, dass sie in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen und miteinander korrelieren (vgl. 2.2.5.). Außerdem kann man die Ableitung auch anders herum durchführen: Ein Tätigkeitsbereich wird erst durch die Menschen mittels sprachlicher Zeichen konstituiert. Ich halte daher vorläufig an Hoffmanns Definition fest, die ja auch breite Anerkennung findet und leite daraus für Fach die Definition ab: Ein Fach ist ein Gegenstandsbereich, auf dessen (kommunikative) Bearbeitung sich in einer Gesellschaft bestimmte Menschen spezialisiert haben. <?page no="87"?> 87 2.4. Der Faktor Fach Für das genauere Verständnis von Fach ist damit insofern noch nichts gewonnen, als auf diese Weise lediglich alle Positionen, die in Bühlers Organonmodell vorgesehen sind, als fachliche spezifiziert werden; der Kommunikationsbereich kommt hinzu (Abb. 2.8). fachliche fachsprachliche fachlich versiert fachlich versiert FACHLICHER KOMMUNIKATIONSBEREICH Abb. 2.8: Fach im Organon-Modell von Bühler (1934 / 1965: 28; Ergänzungen K. A.) Ulrich Ammon bringt ein anderes Argument gegen die Vorstellung vor, der Gegenstandsbereich sei die geeignetste Dimension für die Fachsprachen. Es sei nämlich „klar, daß der Fachbezug für sich genommen kein hinreichendes Kriterium für Fachsprache darstellt. Man kann auch nicht-fachsprachlich über ein Fachgebiet sprechen“ (Ammon 1998: 221). Wenn man dieser Argumentation folgt, müsste man allerdings auch sagen, dass Raum kein hinreichendes Kriterium für Dialekte darstellt, weil man an einem bestimmten Ort auch in einer überregional gültigen Varietät kommunizieren kann. 2.2.2. hatte gezeigt, dass Dialekte überhaupt erst zu Varietäten werden, wenn sie mit überregionalen Ausdrucksmitteln in Beziehung gesetzt werden, mindestens ein Teil der Sprachteilhaber nämlich unter diesen Varietäten aus- <?page no="88"?> 88 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum wählen kann. Übertragen auf Fachsprachen heißt das: Nur weil man auch nicht-fachsprachlich über einen Gegenstand kommunizieren kann, können sich Fachsprachen überhaupt als Varietäten profilieren. Dies ist wiederum nur eine andere Formulierung für das, was als Grundfrage der Fachsprachenlinguistik gilt: Wie können wir Fachsprachen von der Gemeinsprache abgrenzen? Die Lehre, die sich aus Untersuchungen zum Faktor Raum ziehen lässt: Es gibt ‚in der Wirklichkeit‘ zwischen den verschiedenen Schichten auf der vertikalen Ebene nur fließende Übergänge (Abb. 2.2). 43 Eine besondere Schwierigkeit liegt darin, dass Gemeinsprache als Gegenpol sowohl zu Fachsprache als auch zu Dialekt und anderen regionalen Varietäten benutzt wird. Zu Zeiten Luthers hieß gerade die überregionale Sprachform das gemeine Deutsch, und im Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004) sind Varianten bzw. Lesarten, die in allen nationalen Standardvarietäten gebräuchlich sind, als gemeindeutsch markiert. Man kann sich allerdings fragen, ob dies nicht ein hausgemachtes Problem ist, das sich nur dann ergibt, wenn wir auch die Gemeinsprache als spezielle Varietät verstehen wollen. Folgt man dagegen dem Prototypenbzw. Schibboleth-Konzept von Varietät, dann ist es eigentlich selbstverständlich, dass Gemeinsprache das sein muss, was weder als fachlich noch als regional noch in irgendeiner anderen Dimension markiert ist, was nicht auffällt, weil es den verschiedenen Varietäten einer Sprache gemeinsam ist: die leeren Kästchen in Abbildung 2.5. Die oben angeführten Definitionen aus der Fachsprachforschung, die den Gegenstandsbezug ins Zentrum stellen, sind insofern typisch, als diesem Kriterium in der Regel immer gleich andere beigesellt werden, nämlich Eindeutigkeit, Präzision, Ökonomie, Effizienz usw. Hierin liegt das Bindeglied zur funktionalen Sichtweise, für die im Standardrepertoire der Variationsdimensionen auch eine spezielle Variable fehlt. Wir fügen also auch noch ausdrücklich eine diafunktionale Dimension hinzu und trennen sie damit ab von der diasituativen, die ja oft einfach in eine funktionale Kategorie umgedeutet wurde (vgl. 43 Daher plädiert Kalverkämper (vgl. bes. 1990) für die Aufhebung der Dichotomie und die Arbeit mit gleitenden Skalen. So sehr ihm darin zuzustimmen ist, so aussichtslos scheint mir der Vorschlag, die Konzepte Fach- und Gemeinsprache, Fachwort usw. abzuschaffen, und zwar weil es sich um sehr relevante soziale Konstrukte handelt, gegen die sich eine wissenschaftliche Sicht nicht durchsetzen kann, auch wenn sie besser begründet sein sollte (vgl. dazu weiter 2.4. und 4.). <?page no="89"?> 89 2.4. Der Faktor Fach 2.2.4.). Damit haben wir die passende Dimension für den Aspekt, der vielen gerade für Fachsprachen ausschlaggebend erscheint. Wie in jeder Dimension brauchen wir allerdings Gegenkategorien: Ohne Varianten keine Variable! Sollte es irgendwelche Varietäten geben, die man dadurch charakterisieren könnte, dass sie nicht effizient und ökonomisch sind? Das steht eigentlich in direktem Widerspruch zu einem der kanonischen Theoreme der Pragmalinguistik, nämlich den Konversationsmaximen von Paul Grice. Danach unterstellen wir, dass sich die Leute genau so ausdrücken, „wie es von dem akzeptierten Zweck-[…] gerade verlangt wird“ (Grice 1975 / 1979: 248); d. h. sie orientieren sich immer an den Maximen Ökonomie, Effizienz, Klarheit usw. Maximale Präzision und Explizitheit sind aber nur in besonderen Fällen effizient bzw. situativ angemessen. Das gleiche Problem war uns schon bei der diasozialen Dimension begegnet, die unmittelbar mit Gruppensprache assoziiert wird. Prototypische Gruppensprachen sind Antisprachen, sie sind maximal von der allen Gesellschaftsmitgliedern zugänglichen Ausdrucksweise entfernt, haben eine sehr beschränkte Reichweite und summieren sich zu einer nicht näher bestimmbaren Menge. Sie eignen sich daher nicht als typische Ausprägungen der diasozialen Dimension, bei der es darum geht, die Gesamtgesellschaft in eine überschaubare Menge von Gruppen aufzuteilen. Für Fachsprachen gilt Entsprechendes. Das, was man als Prototyp davon begreifen kann, hat geradezu exotischen Charakter: Um Formelsprache bereicherte Ausdruckssysteme, die von der Gemeinsprache maximal entfernt und nur hochspezialisierten Experten zugänglich sind. Für Experten sind sie ebenso effizient wie Gruppensprachen für die Mitglieder der Gruppen. In beiden Fällen ist ein breites gemeinsames Vorwissen vorauszusetzen. Auch Fachsprachen bilden eine gänzlich unüberschaubare Menge. Sie sind allerdings besser greifbar, weil bzw. insofern es sich um Kommunikation im öffentlichen Raum handelt. Damit haben wir schon eine sehr geeignete Gegenkategorie, nämlich den Privatraum; öffentlich vs. privat ist allerdings ein Begriffspaar, das bei der diasituativen Dimension zentral ist, stilistisch korreliert damit das Paar formeller vs. informeller Sprachgebrauch. Was wir für Fachsprachen brauchen, ist eine abstrakte Dimension / Variable, nach der sich sämtliche Äußerungen einer überschaubaren Menge von Funktionstypen zuordnen lassen, ein grobes Ordnungsraster für die gesellschaftliche Kommunikation. Ein solches Konzept hat die Funktionalstilistik vorgelegt, die seit langem mit der Kategorie Kommunikationsbereich arbeitet und im Vorwort des <?page no="90"?> 90 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum HSK -Bandes ( HSK 14: XXVIII ) als wichtige Wegbereiterin der Fachsprachenforschung genannt wird. Die Grundannahme ist, dass mit der situativen und funktionalen Dimension sprachliche Charakteristika korrelieren; diese werden als stilistische gefasst: „Stilistik ist die Lehre von der funktionsgerechten Verwendungsweise und Ausdrucksweise des sprachlichen Potentials in allen Kommunikationsbereichen, in allen Kommunikationsakten, in allen Sprech- und Schreibsituationen.“ (Riesel 1975: 36; Hervorhebungen im Orig. gesperrt) Dieser Ansatz hat eine lange Geschichte, es wurden verschiedene Subdifferenzierungen vorgeschlagen, die ebenso umstritten sind wie Varietätengliederungen (vgl. Adamzik 2016a: Kap. 4.2.). Das alles braucht uns hier aber nicht weiter zu interessieren. Es kommt nur darauf an, eine Grobgliederung vor Augen zu haben, damit man sich vorstellen kann, wozu Fachsprachen im Gegensatz stehen. Dazu bietet sich das Schema von Löffler (Abb. 2.9) an, der sich, wie bereits erwähnt (vgl. 2.2.5.), der Vierergliederung aus der Varietätenlinguistik nicht anschließt. Das Schema soll hier nicht im Einzelnen erläutert werden. Wichtig ist zunächst, dass an die Seite ‚spezialisierter menschlicher Tätigkeitsbereiche‘ die Kategorie Alltag tritt. Ferner sind auf derselben Ebene die Kommunikationsbereiche Literatur (Belletristik) und Medien (Presse) angeordnet. Besonders wichtig ist aber, dass Fachsprachen auf zwei Funktionalstile verteilt sind, nämlich B und C. Zu C gehören Rechts- und Verwaltungssprache, also der Varietätenkomplex, der besonders leicht Spott auf sich zieht (vgl. 2.1.). Eine Oberkategorie für sämtliche Fachsprachen gibt es in diesem Schema nicht. Das belegt zunächst, dass auch Kommunikationsbereiche Konstrukte sind. Roelcke scheint dies auszublenden; immerhin gesteht er zu, dass Fächer bzw. Gegenstandsbereiche „allein erst aufgrund menschlichen Handelns konstituiert“ werden (s. o.). Damit rückt er am weitesten von seiner grundsätzlich realistischen Position ab, die schon in 1.2. zitiert wurde: Die „idealistische Auffassung, nach welcher sich der Mensch die ihn umgebende Wirklichkeit durch sein sprachliches und epistemisches Handeln erst selbst erschafft, ist-[…] fachsprachenlinguistischen Konzeptionen in der Regel fremd.“ (Roelcke 2010: 19) Mit dieser Analyse stimmt Gardt in einem Beitrag vom Ende des 20. Jahrhunderts noch völlig überein: <?page no="91"?> 91 2.4. Der Faktor Fach Abb. 2.9 Funktionalstile (Löffler 2016: 98) „Eben dieses selbstverständliche Akzeptieren der Präexistenz der Dinge gegenüber der Sprache scheint die Sicht von Fachsprachen zu dominieren.“ (Gardt 1998: 34; Hervorhebungen K. A.) <?page no="92"?> 92 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Er sieht dies allerdings sehr kritisch und führt als Gegenbeispiel die Literaturwissenschaft an, für deren Begriffe man feststellen könne: „Der Gegenstand ist so, wie man ihn begrifflich konstituiert und sprachlich bezeichnet; eine ‚objektive‘, jenseits dieser Begriffsbildung und sprachlichen Bezeichnung gegebene Existenz des Gegenstandes gibt es nicht.“ (Gardt 1998: 54; Hervorhebungen K. A.) Mit unüberhörbarem Bedauern kommt er jedoch zu dem Schluss, es gebe „keine Anhaltspunkte dafür, daß die-[…] relativistischen Positionen in der Zukunft verstärkt in den Vordergrund treten werden.-[…-Die] Übernahme einer relativistischen Erkenntnis- und Sprachauffassung in den Umgang mit Fachsprachen [würde] nach Überzeugung vermutlich der meisten der hier engagierten Forscher und Praktiker die zentrale Funktion jeder Fachsprache gefährden: durch Sprache einen unmittelbaren Zugriff auf die Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit zu bekommen. Der Wunsch, daß eben dies der Fall sein möge, setzt aber die Annahme der Präexistenz der Gegenstände gegenüber den sprachlichen Bezeichnungen notwendig voraus-- zumindest dort, wo es gilt, einen praktischen Alltag mittels (Fach)Sprache zu bewältigen. Wer in diesem Alltag die fachlichen Gegenstände grundsätzlich und permanent auf ihr sprachliches Konstituiertsein hinterfragt, wird, so würde wohl die Befürchtung lauten, nicht mehr erfolgreich und effizient fachlich handeln können.“ (Gardt 1998: 56) Der knapp 20 Jahre später gemeinsam mit Felder verfasste Aufsatz, aus dem bereits in 1.2. zitiert wurde, legt jedoch nahe, dass diese Einschätzung zu pessimistisch war. Danach bilden nämlich Auffassungen, die Sprache als unhintergehbare Voraussetzung von Erkenntnis ansehen, „aktuell das vorherrschende Paradigma“ (Felder / Gardt 2015b: 4). Wichtig dafür ist sicher, dass die fragliche Position dabei nicht als idealistisch (Roelcke) oder relativistisch bezeichnet wird, sondern vorzugsweise als konstruktivistisch. Damit ordnet man sie ein in moderne theoretische Ansätze, die in Philosophie, Soziologie und (Lern-)Psychologie etabliert sind und nicht den Eindruck erwecken, man schließe an ‚überholte‘ oder wissenschaftlich nicht ganz ernst zu nehmende Konzepte wie das Whorf‘sche Relativitätsprinzip an. Es scheint mir bezeichnend, dass Gardt die Bewältigung des praktischen Alltags als Kontext identifiziert hatte, in dem die relativistische Position mit be- <?page no="93"?> 93 2.4. Der Faktor Fach sonderer Verve zurückgewiesen wird. Das kommt ganz der am Ende von 1.2. präsentierten These entgegen, man müsse sich nicht grundsätzlich für die eine oder andere Position, Realismus oder Relativismus bzw. Konstruktivismus, entscheiden, sondern beide als Gestus bzw. als kognitive Werkzeuge betrachten, die für unterschiedliche Handlungszusammenhänge geeignet sind. Klar ist aber auch, dass sie für bestimmte Gegenstände bzw. Fächer von unterschiedlicher Relevanz sind. Zwischen Gardt und Roelcke, die eigentlich unterschiedliche Positionen repräsentieren, besteht offenbar Konsens über folgende Voraussetzung: Gegenstände bilden nicht per se Fächer, sondern es werden um sie herum im Laufe der Zeit Fächer konstruiert. Was heißt das konkret? Denken wir uns einen menschheitsgeschichtlich möglichst umfassenden Zeitraum, so beschäftigen sich die Menschen zunächst mit Gegenständen, die sie vorfinden, sie benutzen sie, arbeiten mit und an ihnen usw. Sehr bald geschieht dies mit eigens dafür hergestellten Werkzeugen. Ein besonders großer Teil der weiteren Arbeit besteht dann in der Herstellung von Artefakten oder allgemeiner in der Erschaffung von Welt. Das können materielle Gegenstände sein-- den größten Teil der uns umgebenden konkreten Welt hat homo faber technisch erschaffen oder verändert. Es können aber auch geistige Gegenstände sein, Vorstellungskomplexe, Theorien und Modelle, die zunächst von homo religiosus stammen und auf die heute homo academicus spezialisiert ist. Ferner organisieren homo politicus, oecumenicus und sociologicus das Miteinanderleben und bringen soziale Welten mit Institutionen aller Art hervor, nicht zuletzt solchen, die für die meisten nicht mit Arbeit(steilung), sondern Freizeit, Genuss und Vergnügen verbunden sind (Museen, Theater, Sportstätten usw.), um auch homo aestheticus und ludens nicht zu vergessen. In Bezug auf viele Gegenstände / Fachgebiete kann also gar kein Zweifel daran bestehen, dass sie nicht präexistent sind, sondern vom Menschen erst hervorgebracht werden, Texte, aber auch Theorien und Institutionen notwendigerweise mit (auch) sprachlichen Mitteln. Als präexistent verbleiben eigentlich nur die Naturphänomene. Normalerweise bezweifelt zwar niemand, dass es z. B. das Universum tatsächlich gibt, ebenso klar ist aber, dass wir keinen direkten Zugang dazu haben und es sich auch der wissenschaftlichen Betrachtung im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich darstellt. An die Stelle der schönen Himmelssphären sind u. a. Nebel und schwarze Löcher getreten. Ganz offensichtlich ist unser Wissen über diese präexistenten Gegenstände unmittelbar abhängig von menschlichen Artefakten, nämlich den Instrumenten, mit denen wir die <?page no="94"?> 94 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Dinge beobachten (Fernrohr) oder uns ihnen nähern (Raumschiff). Das sollen immer bessere und immer neue werden, die uns auch erlauben, unser früheres ‚Wissen‘ als Irrtum zu erkennen. Angesichts dessen ist es doch erstaunlich, dass die ‚realistische Position‘ die Fachsprachenforschung derart dominiert (hat) und man nicht mindestens auf einer obersten Ebene danach unterscheidet, ob wir es mit- - nach allgemeiner und nicht speziell naiver Auffassung- - präexistenten Objekten zu tun haben oder erst von Menschen (sprachlich) geschaffenen Gegenständen. Verallgemeinert gesagt: Wir müssen Gegenstände nach ihrem Wirklichkeitsstatus differenzieren. Einen speziellen Status hat das, was man gemeinhin Spekulationen nennt; dieser Ausdruck unterstellt gerade, dass sie keiner vor- oder außersprachlichen Wirklichkeit entsprechen. Annähernd dasselbe, aber ohne die pejorative Komponente, bezeichnen Ausdrücke wie Modell, Theorie, Ansatz oder auch Paradigma. Dass sich davon abhängig der Gegenstand unterschiedlich darstellt, unterstreicht gerade Roelcke selbst, da er sich durchgängig auf unterschiedliche Fachsprachenkonzepte bezieht. Wie bereits erwähnt, entsprechen die gemeinten Ansätze auch Phasen der jüngeren Fachsprachenforschung (vgl. 1.); sie sind nach Roelcke zudem unterschiedlich zu bewerten. Besonders kritisch sieht er das systemlinguistische Inventarmodell. Das kognitionslinguistische Funktionsmodell gehe in manchem über das pragmalinguistische Kontextmodell hinaus, das ihm allerdings als Rahmen für die Integration interdisziplinärer Ansätze am geeignetsten erscheint (vgl. Roelcke 2010: 21). Es mag an der besonderen Perspektive der Fachsprachenlinguistik liegen, dass sie eine zugehörige außersprachliche Dimension ‚Fach‘ einfach als gegeben unterstellt und sich für dessen Definition nicht selbst zuständig zu fühlen scheint. Genau darin sehe ich jedenfalls das Motiv dafür, mit ‚Kommunikationsbereich‘ ein Definiens zu wählen, das der eigenen Expertise näher zu liegen scheint. Will man damit jedoch nicht bloß das Problem verschleiern, indem man das nach wie vor unklare ‚fachlich‘ einfach als Attribut einsetzt oder es durch ‚mehr oder weniger spezialisierter menschlicher Tätigkeitsbereich‘ ersetzt, bleibt die Aufgabe bestehen, sich darüber klar zu werden, was ‚Fach‘ denn eigentlich bedeutet. Festzustellen, dass Gegenstandsbereiche erst durch menschliches Handeln konstituiert werden, ist ein wichtiger Schritt. Darin liegt jedoch m. E. kein Grund für die Annahme, die Gegenstandsdimension sei ungeeignet, um Fachsprachen von anderen Varietäten zu unter- <?page no="95"?> 95 2.4. Der Faktor Fach scheiden. Mir scheint sogar das Gegenteil einleuchtender zu sein: In Fächern werden Gegenstände als solche einer bestimmten Kategorie aufgefasst und behandelt (Abb. 1.1), so z. B. ein Wort je nach linguistischer Subdisziplin als Folge von Phonemen oder Morphemen, als Lexem, Lemma, Semem, Hyperonym, Wortform, Funktionswort, Satzgliedkern, Type oder Token usw. Wenn sich Experten unterschiedlicher Fächer oder Subdisziplinen mit demselben Gegenstand beschäftigen, konstruieren sie also jeweils ihren eigenen Gegenstand. Sie stellen eigene Fragen, denken in für sie charakteristischen Schablonen, folgen eingefahrenen Handlungsschemata, benutzen besondere Methoden und tun dies alles unter einer ausgewählten Perspektive und im Rahmen eines (stillschweigend vorausgesetzten) gemeinsamen Hintergrundwissens (vgl. dazu weiter 5.2.). Innerhalb solcher Rahmen werden Begriffssysteme geprägt, die an die gewählte Perspektive und Methodik angepasst sind. Nur in diesen Rahmen lassen sich Termini überhaupt verstehen und insofern werden Gegenstände aller Art, präexistent oder nicht, erst sprachlich konstituiert. Die oben vorgeschlagene Definition von Fach sollte daher um diesen Aspekt noch ergänzt werden: Ein Fach ist ein Gegenstandsbereich, auf dessen (kommunikative) Bearbeitung unter einer bestimmten Perspektive sich in einer Gesellschaft bestimmte Menschen spezialisiert haben. Die Aufgliederung in verschiedene Fächer variiert historisch und kulturell sehr stark. Einen Einblick in die historische Entwicklung mit dem Schwerpunkt auf der Gegenwart gibt Kapitel 3., im 4. geht es um Fächeruntergliederungen. Im vorliegenden Abschnitt sind noch zwei Fragen zu klären: Welche grobe Untergliederung nehmen wir in der Gegenstandsdimension vor und wie kann man ‚Spezialisierung‘ operationalisieren? Die Arbeit mit der Kategorie Funktionalstil ist besonders in der ehemaligen DDR fast ganz aufgegeben worden (vgl. Löffler 2016: 95), der von dort kommende Ausdruck Kommunikationsbereich ist dagegen zu einer Art Grundbegriff geworden und liegt u. a. der Gliederung des HSK- Bandes 16 zur Text- und Gesprächslinguistik zugrunde. Die Herausgeber konstatieren im Vorwort: „Da eine adäquate Typologie von Kommunikationsbereichen in der Forschung bisher nicht vorliegt, ist eine Abgrenzung und Auflistung dieser Bereiche allerdings noch recht vorläufig und unsystematisch“ ( HSK 16: XX ; Hervorhebungen K. A.). <?page no="96"?> 96 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Damit erfüllt die gewählte Gliederung nicht den Zweck, um den es hier geht, nämlich eine grobe Orientierung zu ermöglichen, und sie ist auch nicht theoretisch fundiert, da die Konzeptualisierungen der Funktionalstilistik aufgegeben werden. Das wesentliche Resultat dieser Entscheidung besteht darin, dass der ursprünglich angesetzte Funktionalstil ‚öffentliche Rede‘ und damit eine der beiden fachsprachlichen Kategorien (C in Abb. 2.9) in eine Vielzahl von Kommunikationsbereichen aufgegliedert wird. A, B und E bleiben erhalten, während Belletristik (D) im HSK -Band nicht berücksichtigt wird (vgl. für eine genauere Gegenüberstellung Adamzik 2016a: Kap. 4.2.). Die Kategorie Kommunikationsbereich ist offenbar auf einer zu niedrigen Abstraktionsstufe angesiedelt, als dass man zu einer überschaubaren Menge von Subkategorien gelangen könnte wie bei den anderen Variationsdimensionen. Das führt uns zurück auf die Modellierung von Becker / Hundt (Abb. 2.1), die an einen Vorschlag von Hugo Steger (1988; 1989) anschließen. Steger, der übrigens ausdrücklich nicht mit dem Begriff Varietät arbeiten möchte, sondern Erscheinungs-/ Existenzform bevorzugt (vgl. 1988: 313), legt ein eigenes Modell mit drei Dimensionen vor: Die historische Dimension bleibt bestehen, räumliche und soziale Reichweite werden zu sozietärer Reichweite zusammengezogen, während Becker / Hundt sie wieder auseinanderdividieren. Stegers dritte Dimension ist die ‚funktional-zweckhafte Leistung der Sprache‘, bei Becker / Hundt schlicht ‚kommunikative Funktion‘ mit dem Prototyp Fachsprachen. Diesen setzen sie aber auch eine-- als vollständig zu betrachtende! -- Liste von Gegenkategorien an die Seite, sie unterscheiden nämlich: Alltag, Technik, Institutionen, Wissenschaften, Literatur sowie Religionen / Ideologien. Das führt zu einer Grobgliederung, die auf vergleichbar abstraktem Niveau angesiedelt ist wie die diachronische (auch im Sinne von Alterssprachen), diatopische und diasoziale Dimension. Das wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass drei der Kategorien zu einer Oberkategorie Fachsprache zusammengefasst werden können, wie eine zweite Abbildung zeigt (Abb. 2.10): <?page no="97"?> 97 2.4. Der Faktor Fach 127 8. Die Fachsprache in der einzelsprachlichen Differenzierung Fachsprachenrelevante kommunikative Bezugsbereiche Bezugsbereich Technik Institutionen Wissenschaften B B B Semantik techniksprachliches institutionensprachliches wissenschaftssprach- System System liches System B B B Varietätengruppe Techniksprache Institutionensprache Wissenschaftssprache B B B Varietäten Fachsprache der Fachsprache der Fachsprache der Elektrotechnik, Verwaltung, Mathematik, Chemie, Kfz-Technik, Rechtssprechung, Physik, Biologie, Handwerke, Wirtschaftsinstitutionen, Philosophie, Linguistik, des Bergbaus, … … … Abb. 8.2: Fachsprachen in den kommunikativen Bezugsbereichen über hinaus die Art der Normierung der Konzepte. Diese gelten in ihrer prototypischen Randunschärfe aufgrund konventioneller Normen. Es handelt sich hier nicht um gesetzte Normen (etwa durch Normierungsausschüsse wie bei manchen Fachsprachen), sondern um Übereinkünfte in der Sprachgemeinschaft, die sich eher mit Ansätzen wie bei Keller (1994, Phänomen der ,unsichtbaren Hand‘) erklären lassen (vgl. auch Steger 1980). Die kommunikativen Bezugsbereiche ,Technik‘ und ,Institutionen‘ umfassen jeweils eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Fachsprachen (vgl. Abb. 8.2). Beide sind stärker an die Lebenswelt des Alltags rückgebunden als der kommunikative Bezugsbereich der ,Wissenschaften‘. Die zunehmende Technisierung und institutionelle Durchdringung des Alltags (Banken, Behörden und andere Dienstleister mit Textsorten wie Kaufvertrag, Mietvertrag, Steuererklärung, verschiedene Formulare etc.) weisen auf diese enge Verflechtung hin. Der wesentliche Unterschied zwischen der institutionellen und der theoretisch-wissenschaftlichen Semantik besteht darin, daß bei jener Fragen der Verfahrenssicherheit und Praktikabilität im Vordergrund stehen, während diese eine maximale theoretisch-reflexive Durchdringung leisten soll. Nicht die Diskussion um Konzepte und deren Definitionen im Rahmen von Theorien, sondern die praktische Handhabbarkeit, die Verfahrensregelung ist für die institutionelle Semantik und die mit ihr verknüpften fachsprachlichen Varietäten zentral. Es liegt auf der Hand, daß oft aus dem Theoriebereich Begriffe für die Institutionen zur Verfügung gestellt werden. Aber ähnlich stark wie die Veränderung von institutioneller zu alltäglicher Semantik ist die vom Theoriebereich zu den Institutionen. Prototypische Institutionenfachsprachen sind vor allem die Verwaltungssprache, die Rechtssprache, die Wirtschaftssprache, die alle auch Pendants im Theoriebereich haben (vgl. Steger 1989). Dort ist die Anzahl der Einzelfachsprachen noch wesentlich größer. Für den Bereich der Technik sind die Fachsprachen der KFZ-Technik, der Elektrotechnik oder der Handwerke als prototypische Beispiele zu nennen. Die Spezifik der technischen Semantik ergibt sich aus den Objekten und den technischen Verfahren, die Gegenstand dieser Fachsprachen sind. Das Moment der theoretischen Reflexion ist hier sehr stark an die konkreten Technikobjekte rückgebunden, ebenso tritt der Aspekt der Verfahrensregelung zugunsten der Beschreibung des Gegenstandsbereichs zurück (vgl. auch Art. 10). 4.3. Horizontale und vertikale Gliederungen Die kommunikativen Bezugsbereiche können nur eine Grobgliederung für die Vielfalt der fachsprachlichen Varietäten vorgeben. Institutionen, Technik und Wissenschaften umfassen jeweils viele verschiedene Fachsprachen. Zu dieser Grobgliederung muß eine Feingliederung hinzukommen. Zur Definition der kommunikativen Bezugswelten diente die Dimension der kommunikativen Funktion. Sie sollte auch zur weiteren Gliederung der Fachsprachen verwendet werden. Hier bestehen Parallelen zu den meisten Fachsprachenmodellen. In der Regel wird der jeweilige Fach- Bereitgestellt von | Vienna University Library Angemeldet Heruntergeladen am | 24.06.16 20: 12 Abb. 2.10: Fachsprachen in den kommunikativen Bezugsbereichen (Becker / Hundt 1998: 127) Als Unterscheidungskriterium gelten spezifische Semantiksysteme. 44 Das wird von Felder (2016: 16) noch einmal „leicht modifiziert“: Er setzt die sozietäre Reichweite direkt mit Ausdruckssystem, die funktionale mit Inhaltssystem gleich und rechnet mit nur drei Ausprägungen von Inhaltssystemen: Alltags-, Vermittlungs- und Fachsemantik. Hinzu kommt bei ihm als vierte Dimension die Medialität (geschrieben, gesprochen, multimedial). Steger (1988: 297) hebt ausdrücklich hervor, dass sein Konzept nicht dem der Funktionalstilistik entspricht, sondern es um tiefer liegende Unterschiede geht. Dabei beruft er sich auf ein Konzept multipler Realitäten nach Alfred Schütz (1973). Weiter ausgebaut wurde dieses von Berger/ Luckmann in ihrem Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Es ist so etwas wie die Bibel des Sozialkonstruktivismus- - aber zugleich ein Plädoyer für die naivvortheoretische Sicht jedes normalen Menschen! Darauf bezieht man sich am besten mit dem Topos des gesunden Menschenverstands. Diesem ist der Gestus des Hinterfragens, der Zweifel an der objektiven Existenz der Dinge, 44 Becker / Hundt (1998) gliedern Stegers Ansatz wieder in die Varietätenforschung ein und behaupten, er arbeite mit vier Dimensionen. Sie übernehmen das Konzept Semantik(system), benutzen Alltagswelt/ -semantik jedoch eher im Sinne eines Kommunikationsbereichs: „Der Alltag mit seinen kommunikativen Anforderungen und mit seinen überlebensnotwendigen Grundbegriffen (Essen, Trinken, Wohnen, Schlafen etc.) ist der historisch älteste und stabilste Bezugsbereich“ (ebd.: 126). Becker (2001: Kap. 3), die eine sehr gründliche Auseinandersetzung mit diversen Varietätenkonzepten liefert, erläutert die im HSK-Artikel getroffenen Entscheidungen und stellt Stegers Modell ausführlich vor. <?page no="98"?> 98 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum zutiefst suspekt. Der Konstruktivismus ist für ihn geradezu eine Zumutung, die sich nur närrische Intellektuelle in ihren Elfenbeintürmen ausdenken können, Leute, die nicht im wirklichen Leben stehen und den Bezug dazu anscheinend vollkommen verloren haben. Das Kunststück, diesen Antagonismus aufzuheben, gelingt Berger / Luckmann, indem sie Eine Theorie der Wissenssoziologie (Untertitel) vorlegen, die Die Wirklichkeit der Alltagswelt (das ist der Titel des 1. Kapitels) ernst nimmt. Konstruiertheit und reale Existenz schließen sich ja nicht aus, im Gegenteil: Wenn wir etwas konstruiert haben, dann existiert es als Konstrukt und ist damit Teil der wirklichen Welt geworden. Ein soziales Konstrukt (Stereotyp, Institution) ist ebenso wirklich wie ein technisches (Maschine) oder ein intellektuelles (Theorie). Sekundär können wir den Sinn all dieser Dinge auch wieder hinterfragen, Revolutionen machen und eine neue Staatsform einführen, Behörden schließen oder zusammenlegen, Maschinen verschrotten und neue bauen, linguistische Theorien für obsolet erklären usw. Zu einer gegebenen Zeit und für eine gegebene Gemeinschaft gilt jedoch das Bestehende. Es hat reale Existenz innerhalb einer Bezugswelt. Mit dem Werk von Berger / Luckmann haben wir die Theorie, die wir für die funktionale Dimension gesucht haben, eine, die den Wirklichkeitsstatus von Gegenständen betrifft. Vor allem haben wir damit auf der außersprachlichen Seite auch eine Kategorie, die zu der Dichotomie Fachvs. Gemeinsprache passt, nämlich neben ‚spezialisierten Tätigkeitsbereichen‘ die Alltagswelt. Mit dem Gegensatzpaar ‚wissenschaftliche vs. alltagsweltliche Sicht‘ haben wir allerdings schon die ganze Zeit gearbeitet, insbesondere in 2.1., wo ein Wörterbuch als Rekonstruktion der gemeinsprachlichen bzw. alltagsweltlichen Sicht benutzt wurde. Dabei haben wir die Ausdrücke jedoch in vortheoretischem Sinne gebraucht, ohne irgendwie zu explizieren, was darunter zu verstehen ist. Wie in vielen anderen Fällen trägt eine solch vage Begriffsverwendung durchaus-- bis zu einem gewissen Grad. In vielen Fällen macht es keinen Unterschied, ob ein alltagssprachlicher Ausdruck als Terminus gebraucht wird (Fachsprache) oder ein Terminus wie Alltagswelt oder Konstrukt Teil der Gemeinsprache wird bzw. eine im Rahmen einer (soziologischen) Theorie entworfene Lesart davon beim Gebrauch z. B. in linguistischen Texten mindestens mitschwingt. 45 Die 45 Für Becker / Hundt gilt nicht mehr als das (vgl. auch die vorige Anmerkung). Becker (2001: Kap. 4.1) geht dagegen sehr ausführlich auf das Konzept ein. <?page no="99"?> 99 2.4. Der Faktor Fach verschiedenen Gebrauchsweisen sind großenteils kompatibel, der Überschneidungsbereich des gemeinsam Gemeinten / Verstandenen hinreichend groß. Das gilt jedoch nicht mehr, wenn wir uns in Grenzbereichen bewegen: Ist für Konstrukt wesentlich, dass dem Referenzobjekt reale Existenz gerade abgeht, es also nur ein Konstrukt ist, damit aber nicht wirklich ernst zu nehmen und aus wissenschaftlicher Sicht zu überwinden? Oder heißt es im Gegenteil, dass es sozial als Wirklichkeit konstituiert wurde? Das Anliegen von Berger / Luckmann besteht darin, für die zweite Variante zu argumentieren. Deswegen ist es so wichtig, ihr Konzept der Alltagswelt nicht mit dem Kommunikationsbereich Alltag oder einer (funktional)stilistischen Kategorie gleichzusetzen, schon gar nicht mit der, die als besonders niedrig bewertet wird. Alltagswelt nach Schütz und Berger / Luckmann ist im Gegenteil die erste, oberste und wichtigste aller Welten, die „Wirklichkeit par excellence“ (Berger / Luckmann 1980: 24). Sie präsentieren sie als jene Wirklichkeit, „die dem Verstand des gesellschaftlichen Normalverbrauchers zugänglich ist“ (ebd.: 21), den sie auch als Jedermann und Mann auf der Straße bezeichnen und selbst sprechen lassen, und zwar in der 1. Person Singular: „Verschiedene Objekte stellen sich in meinem Bewußtsein als Komponenten verschiedener Wirklichkeitsbereiche dar. Die Wirklichkeit des Mitmenschen, mit dem ich im Alltagsleben zu tun habe, erlebe ich anders als die der körperlosen Gestalten meiner Träume. Verschiedene Sorten von Objekten verlangen verschiedene Grade der Anspannung und Beachtung von meinem Bewußtsein. Es ist also in der Lage, sich von einer Art der Wirklichkeit zur anderen zu bewegen. Anders ausgedrückt: ich bin mir der Welt als einer Vielfalt von Wirklichkeiten bewußt. Wenn ich mich von einer zur anderen bewege, so wird mir der Übergang nach Art eines Schocks bewußt. Es ist die Umstellung meines Aufmerkens, als die dieser Schock zu verstehen ist. Das Erwachen aus einem Traum ist das beste Beispiel dafür.“ (Berger / Luckmann 1980: 24; Hervorhebungen K. A.) Wenn das richtig ist, dann ist es die Wissenschaft, die mit der groben Entgegensetzung ‚wissenschaftlich- = real / gültig vs. alltagsweltlich- = vortheoretisch- = naiv / nicht-gültig‘ die soziale Wirklichkeit verfehlt. Sie verkennt, dass wir den Objekten der verschiedenen Wirklichkeitsbereiche mit unterschiedlichen Einstellungen begegnen. Sie gehören zu Sinngebieten, die als in sich geschlossen zu betrachten sind: „alle Erfahrungen, die zu einem geschlossenen Sinngebiet gehören, weisen einen besonderen Erlebnisbzw. Erkenntnisstil auf “ (Schütz / Luckmann 2017: 54; Hervorhebungen K. A.). Der Gestus des Hinter- <?page no="100"?> 100 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum fragens ist der für die Wissenschaft typische. Dagegen wird der realistische Gestus „als normal und selbstverständlich von mir angesehen, das heißt, er bestimmt meine normale, ‚natürliche‘ Einstellung“ (Berger / Luckmann 1980: 24). „Die Wirklichkeit der Alltagswelt stellt sich mir ferner als eine intersubjektive Welt dar, die ich mit anderen teile. Ihre Intersubjektivität trennt die Alltagswelt scharf von anderen Wirklichkeiten, deren ich mir bewußt bin. Ich bin allein in der Welt meiner Träume. Aber ich weiß, daß die Alltagswelt für andere ebenso wirklich ist wie für mich.-[…] Die natürliche Einstellung ist die Einstellung des normalen Jedermannsbewußtseins, eben weil sie sich auf eine Welt bezieht, die für jedermann eine gemeinsame ist. Jedermannswissen ist das Wissen, welches ich mit anderen in der normalen, selbstverständlich gewissen Routine des Alltags gemein habe. Die Wirklichkeit der Alltagswelt wird als Wirklichkeit hingenommen.-[…] Obgleich ich in der Lage bin, ihre Wirklichkeit auch in Frage zu stellen, muß ich solche Zweifel doch abwehren, um in meiner Routinewelt existieren zu können. Diese Ausschaltung des Zweifels ist so zweifelsfrei, daß ich, wenn ich den Zweifel einmal brauche-- bei theoretischen oder religiösen Fragen zum Beispiel, eine echte Grenze überschreiten muß.“ (Berger / Luckmann 1980: 25 f.; Hervorhebungen K. A.) Religion, Kunst und Wissenschaft (Theorie, Philosophie) sind die wichtigsten Welten, die zur Alltagswelt in Gegensatz stehen und eigene „Sinnprovinzen“ (vgl. ebd.: 29) bilden. Die Kunst ist in der Welt des Spiels angesiedelt, wo wir fiktionale Welten kreieren. Als besonders gutes Beispiel für Spiele der Erwachsenen nennen Berger / Luckmann (ebd.: 28) das Theater, weil da der Übergang von der einen in die andere Welt durch den Vorhang (auf-- zu) besonders klar markiert wird. Neben intersubjektiven Welten gibt es die subjektiven Welten. Grundsätzlich subjektiv sind meine Wahrnehmungen, Gedanken, Erinnerungen und natürlich auch Träume. In die subjektiven Welten müssen aber auch die sozial konstruierten, intersubjektiven und gesellschaftlich verbindlichen integriert werden. Das geschieht in der Sozialisation. Der Gesellschaft als subjektiver Wirklichkeit widmen Berger / Luckmann einen eigenen Teil ihres Buches. Am wichtigsten ist für sie aber die „fundamentale Aufeinander-Bezogenheit dieser drei dialektischen Elemente“, Gesellschaft, Individuum und Produkt: „Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.-[…] nur in der Übernahme der gesell- <?page no="101"?> 101 2.4. Der Faktor Fach schaftlichen Welt durch eine neue Generation-- durch Internalisierung also, die sich als Sozialisation auswirkt- - [wird] die fundamentale gesellschaftliche Dialektik in ihrer Totalität sichtbar“ (Berger / Luckmann 1980: 65; Hervorhebungen im Orig.). An die bei Berger / Luckmann unterschiedenen Welten habe ich beim Versuch ihrer Visualisierung direkt angeschlossen (vgl. Adamzik 2016a: Abb. 4.1). Bei Steger bzw. Becker / Hundt fehlen demgegenüber die subjektiven Welten. Dafür werden zusätzlich Technik und Institutionen abgegrenzt. Abbildung 2.11 versucht, beide Schemata zusammenzuführen. Innerhalb der Superinstitution Staat gibt es sehr viele miteinander verzahnte Kommunikationsbereiche, die ihrerseits über die Wirtschaft auch mit der Technik verbunden sind. Dies alles ist zunächst als eine Art Blackbox zusammengefasst, die erst im nächsten Kapitel geöffnet werden soll. Standardwelten Alltagssphäre fik�onale Welten Welt des Spiels wissenscha�liche Welten religiöse und ideologische Welten subjek�ve Welten Technik Ins�tu�onen Recht Wirtscha� Poli�k Verwaltung … Abb. 2.11: Bezugswelten In diesem Schema sind die drei Typen von Fachsprachen nach Steger und Becker / Hundt in unterschiedlichen Welten angesiedelt: Im Prinzip stehen nur die wissenschaftlichen der Alltagswelt antagonistisch gegenüber, eben weil für sie der Gestus des Hinterfragens charakteristisch ist. Dieser ist jedoch nicht immer ‚in Betrieb‘. <?page no="102"?> 102 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Nach der oben zitierten Einschätzung von Gardt (1998) ist die Fachsprachenforschung (und sicher nicht nur sie) der realistischen Position verhaftet. Das lässt sich gut mit ihrem deskriptiven Charakter erklären, da man bei dieser Aktivität den Gestus des Hinterfragens suspendieren muss. Dass es viele Wissenschaftler gibt, die wirklich noch daran glauben, irgendwann zur Wahrheit vordringen zu können, halte ich für unwahrscheinlich. Zu sehr gehört zu den wissenschaftstheoretischen Elementaria, dass Wissenschaftler grundsätzlich nur hypothetische Welten entwerfen und sich die Falsifikation dieser Modelle geradezu zum Ziel setzen. Aber auch Wissenschaftler stellen nicht ständig alles infrage. Das hat Thomas S. Kuhn in den Begriff normale Wissenschaft gefasst, auf den wir in Kap. 5.2. zurückkommen. Das Infragestellen von bis dahin gültigen Axiomen kommt nach Kuhn einer wissenschaftlichen Revolution bzw. einem Paradigmenwechsel gleich. In den Geistes- und Sozialwissenschaften, nicht zuletzt der Linguistik, werden allerdings derart oft Paradigmenwechsel ausgerufen, ohne dass sich damit ältere Konzepte ‚aus der Welt schaffen‘ ließen, dass wir hier besser statt mit Paradigmen mit Schulen rechnen, die sich in möglicherweise langfristigen Stellungskriegen bzw. im dauerhaften Zustand des Kalten Kriegs befinden. Die beiden anderen Typen von Fächern, Technik und Institutionen, finden sich im Bereich der Alltagswelt im Sinne von Berger / Luckmann. Wie sich schon mehrfach gezeigt hat, kommt es außerordentlich leicht dazu, dass Alltagswelt mit dem völlig Vertrauten, tatsächlich tagtäglich Begegnenden verwechselt wird, mit der Routinewelt, dem Kommunikationsbereich des Alltags. Der Ausdruck Standardwelt soll dazu dienen, dieser Verwechslungsgefahr vorzubeugen. Standardwelten sind zu verstehen als gesellschaftliche Alltagswelten, von denen ich weiß, dass auch andere nicht an ihrer objektiven Realität zweifeln, es sind die Bezugswelten, deren Elemente gesellschaftlich als fraglos existierend betrachtet und behandelt werden. Diese Welt des für alle selbstverständlich Gewissen ist sehr groß. Deswegen kenne ich davon auch nur einen sehr kleinen Ausschnitt, noch weniger ist mir wirklich vertraut. Was das ist, hängt davon ab, wo ich lebe (um das Beispiel Schnee aus 1.2. aufzugreifen), welchem Beruf ich nachgehe, was ich üblicherweise in der Freizeit tue und zu welchen Gruppen ich sonst gehöre (vgl. dazu Adamzik 2018). Damit sind wir im Problembereich der gesellschaftlichen Distribution von Wissen. Berger / Luckmann (1980: 43) sprechen davon, dass ich als „Normalverbraucher“ „mit gewissen Normalrationen an Wissen ausgerüstet“ bin (Hervorhebungen K. A.). Dass dabei Technik und Verwaltung eine besondere Rolle spielen, wird durch die Beispiele deutlich, an denen sie zeigen, dass ich an ferner <?page no="103"?> 103 2.4. Der Faktor Fach liegenden Wissensvorräten nur sehr begrenztes Interesse habe, gerade so viel, wie ich zur Bewältigung meiner Alltagsanliegen brauche: „Da Zweckmäßigkeitsmotive die Alltagswelt leiten, steht Rezeptwissen, das sich auf Routineverrichtungen beschränkt, im gesellschaftlichen Wissensvorrat an hervorragender Stelle. Ich benütze zum Beispiel täglich das Telefon. Ich weiß, wie ich mit ihm umgehen muß. Ich weiß auch, was ich zu tun habe, wenn es nicht funktioniert.- […] So weiß ich, daß manche Leute Geheimnummern haben- […]. Diese ganze ‚Telefonkunde‘ ist Rezeptwissen, nur auf das gerichtet, was ich für praktische Zwecke heute und morgen wissen muß. Ich interessiere mich weder dafür, warum das Telefon funktioniert, noch für die gewaltige Anhäufung von naturwissenschaftlichem und technischem Wissen, welche das Zustandekommen von Telefonapparaten und -netzen überhaupt ermöglicht hat.-[…] Wenn ich zum Beispiel einen Paß brauche, weiß ich, daß ich ihn beantragen und dann eine Weile auf ihn warten muß.-[…] Mein Interesse am geheimnisvollen Wirken der Paßbehörden wird erst wach, wenn ich meinen Paß nicht bekomme. So wie ich einen Telefonsachverständigen ‚verständige‘, wenn mein Telefon nicht funktioniert, so wende ich mich [dann] an einen Sachverständigen für Paßbeschaffung- - einen Rechtsanwalt etwa“ (Berger / Luckmann 1980: 44; Hervorhebungen K. A.). Technik und Institutionen greifen relativ stark in die Alltagssphäre hinein. Aus der einen stammen die konkreten Gegenstände, mit denen ich dauernd umgehe. Sie kommen durch praktisches Handeln in die Welt und wir hatten schon mehrfach gesehen, dass es ganz besonders abwegig ist, ihre reale Existenz infrage zu stellen. Bei den anderen handelt es sich um soziale Konstrukte, die durch sprachliche, genauer gesagt: deklaratorische Akte hervorgebracht werden und eben deswegen in entsprechenden Bezugswelten unfraglich gültig sind. Das war der Ausgangspunkt der Sprechakttheorie: Wenn (unter geeigneten Umständen) ein Gesetz verabschiedet wurde und in Kraft getreten ist, dann gilt es-- Punkt. Den standardweltlichen Wissensvorrat können wir daher wieder als eine breite Skala modellieren, deren Schichten sich in unterschiedlicher Reichweite befinden. „Viele Sektoren der Standardwelt befinden sich- […] in nur potenzieller Reichweite“ (Adamzik 2016b: 229). „Die grundsätzliche Erwartung, daß ich beliebige Sektoren der Welt in meine Reichweite bringen kann, ist empirisch sowohl nach subjektiven Wahrscheinlichkeitsstufen als auch nach physischen, technischen usw. Vermögensgraden gegliedert“ (Schütz / Luckmann 2017: 73.f.; Hervorhebungen im Orig.). <?page no="104"?> 104 2. Fachsprachen im Varietätenspektrum Die subjektiven Wahrscheinlichkeitsstufen ergeben sich aus meinen Interessen, Vorhaben usw., die Vermögensgrade „sind natürlich in erster Linie abhängig vom historisch-sozialen Kontext, in dem ich lebe, und dem Status, den ich darin innehabe, inklusive des materiellen Vermögens, über das ich verfüge“(Adamzik 2016b: 229). Es verbleibt die Frage, was ‚fachlich‘ bedeutet bzw. wie sich die ‚Spezialisiertheit der Tätigkeitsbereiche‘ von Gegenstands-/ Wissensbereichen operationalisieren lässt. In gewissem Sinn ist das keineswegs so schwierig, wie im Allgemeinen unterstellt wird. Bei Fächern handelt es sich um soziale Konstrukte, und zwar um solche, die in unserer Bezugswelt innerhalb der Superinstitution Staat explizit institutionalisiert werden. Konkret heißt das, dass man zum Spezialisten bzw. Sachverständigen ausgebildet wird. Daher die immer betonte enge Bindung von Fachsprachen an Berufe. Die Beschränkung von Fächern auf gesellschaftlich anerkannte Sachgebiete ist so stark, dass die ‚Fachgebiete der Hobbies‘ (vgl. den in 1.3. zitierten Wörterbucheintrag aus dem Metzler Lexikon Sprache) tatsächlich allenfalls an der Peripherie der Kategorie Fach liegen: Astrologie kann man zwar professionell betreiben, eine staatlich anerkannte Ausbildung dafür gibt es aber nicht, weil in unserer Bezugswelt gilt, dass die entsprechenden Lehren nicht zur Standardwelt gehören. Hübsch ist auch das Beispiel von Berger / Luckmann (1980: 3): „Das ‚Wissen‘ eines Kriminellen ist anders als das eines Kriminologen“ - insbesondere betrachten wir es nicht als fachliches. Teilweise ist der Status von Wissensbereichen zu einem gegebenen Zeitpunkt umstritten, das gilt aktuell z. B. für verschiedene Formen der alternativen Medizin. Was es an Fächern gibt, lässt sich am besten in Metatexten greifen: Wenn etwas ein Fach ist, dann gibt es dafür staatlich organisierte oder anerkannte Ausbildungsgänge mit Curricula und Diplomen, Fachgesellschaften, Fachkongresse, universitäre Fachbereiche, Institute, Lehrstühle, Forschungseinrichtungen, Fachzeitschriften, Fachbibliografien und Fachwörterbücher sowie Handbücher und Lehrbücher für das Fach. Die Organisation dieses extrem komplexen Gefüges erfordert spezielle Institutionen: Es gibt eigene Ministerien dafür und eine ganze Bildungsbürokratie. Solche Setzungen gelten allerdings immer nur für bestimmte Bezugsgesellschaften, genau das macht ihre soziale Konstruiertheit aus. Nur wenn man Fach unabhängig von Bezugsgesellschaften und ahistorisch definieren möchte, wird es schwierig-- besser gesagt: unmöglich. <?page no="105"?> 105 3.1. Übersicht 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft In diesem Kapitel geht es um Fachsprachen und fachliche Handlungsbereiche in der historischen Entwicklung. Diese Frage kann man in zweierlei Hinsicht verstehen. Erstens entwickelt sich jede einzelne Fachsprache im Laufe der Zeit, teilweise sogar sehr schnell. Zweitens bilden die Fachsprachen untereinander, mit anderen Varietäten und der Gemeinsprache ein Gesamtgefüge, das sich ebenfalls historisch verändert. Dieser zweite Aspekt steht hier im Vordergrund. 3.1. Übersicht Als Ausgangspunkt sei das Schema von Roelcke gewählt, das die Entwicklung der Fachsprachen für die gesamte deutsche Sprachgeschichte im Überblick darstellt. mittelalterliche Fachsprachen (FS) (8. bis 14. Jahrhundert) frühneuzeitliche FS (14. bis 17. Jh.) neuzeitliche FS (18. bis 20. Jh.) Handwerk und Technik Geist und Wissenschaft Recht und Institution Abb. 3.1: Periodisierung der deutschen Fachsprachen (nach Roelcke 2010: 180) Die hell unterlegten Felder stehen für ein weitgehendes Fehlen deutschsprachiger Fachkommunikation, die mittel unterlegten für ein nur eingeschränktes Bestehen. Lediglich der erste Bereich, Handwerk und Technik (zu dem man auch landwirtschaftliche Produktion, Tierhaltung, Jagd und Fischerei rechnen darf), ist durchgängig dunkel gefärbt, d. h., dass hier über den gesamten Zeitraum fachliche Quellen auf Deutsch vorliegen oder man immerhin annehmen darf, dass es fachspezifische Ausdrucksmittel in deutscher Sprache gibt. Im wissenschaftlichen und institutionellen Bereich entwickeln sich deutsche Fachsprachen dagegen erst ab der frühen Neuzeit und sind nicht vor dem 18. Jahrhundert, teilweise sogar deutlich später, voll verfügbar. <?page no="106"?> 106 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft Das Schema zeigt, dass man die Verhältnisse in einer Einzelsprache sinnvollerweise einbettet in das Gefüge der Sprachen, die miteinander in Kontakt stehen. Denn besonders für die Fachkommunikation ist die Vorstellung abwegig, Gesellschaften und kommunikative Kollektive seien ‚normalerweise‘ monolingual. Im Mittelalter, das ja noch gar keine Nationalstaaten kennt, greift man bekanntlich für die-- ebenfalls schon bestehenden! -- Aufgaben in Wissenschaft und Verwaltung auf das Lateinische zurück, und die allmähliche Entwicklung der deutschen Varietäten wird von einer Bildungselite mehrsprachiger Individuen bzw. Gruppen getragen. Da die Römer den germanischen Stämmen aber auch technisch überlegen waren, ist ein großer Einfluss lateinischer Ausdrücke ebenfalls im elementaren Arbeitssektor, v. a. in Bauwesen, Landwirtschaft, Obst- und Gartenbau, zu verzeichnen. Für die Gegenwart, wohl etwa ab der Mitte des 20., besonders aber das 21. Jahrhundert, ist nach Roelcke im Bereich der Wissenschaft wiederum nur ein eingeschränktes Bestehen deutscher Fachsprachen anzunehmen. Damit verweist er auf die besondere Bedeutung, die in dieser Domäne heute das Englische hat. Dieses hat allerdings seit dem Ende des 2. Weltkriegs auch in internationalen Institutionen und in der Wirtschaft immer mehr an Boden gewonnen. Dabei handelt es sich um Domänen, die insofern entscheidender sind, als besonders von letzterer mehr Individuen betroffen sind. Ferner ist zweifellos auch der technische Sektor, insbesondere die digitale Technik, vom Englischen dominiert, und mindestens der Fachwortschatz ist ganz überwiegend entlehnt. Wie 2.1. gezeigt hat, sind es genau diese Domänen, in denen der Zuwachs an Fachwörtern besonders groß ist. Müsste man demnach für alle drei Großbereiche sowohl am Anfang als auch am Ende des Gesamtzeitraums ein nur eingeschränktes Bestehen deutscher Fachsprachen annehmen? Diese These führt Jürgen Trabant (2014) in seinem Buch Globalesisch oder was? Ein Plädoyer für Europas Sprachen aus. Er unterstellt, dass der Europarat zwar offiziell eine Mehrsprachigkeitspolitik vertritt, praktisch aber ganz auf Englisch als lingua franca setzt. „Die sprachliche Situation in Europa ist heute-[…] mindestens so revolutionär wie im 16. Jahrhundert, im Cinquecento, als neue politische und soziale Realitäten das mittelalterliche Sprachenregime und seine charakteristische diglossische Konstellation mit dem Lateinischen oben- - als Sprache der höheren Diskurse und Sprache der Distanz- - und den Volkssprachen unten- - als niedere Sprachen und Sprachen der Nähe- - ins Wanken brachten- […]. In einem Prozess, der vom 16. bis ins 20. Jahr- <?page no="107"?> 107 3.1. Übersicht hundert dauerte, übernahmen die Volkssprachen-- zumindest einige von ihnen-- die Funktionen des Lateinischen. Dieser historische Prozess führte zum spezifisch europäischen System voll funktionaler Sprachen-[…]. Nun erschüttern Globalisierung, Europäisierung und Migration dieses moderne Sprachregime der einzelnen europäischen Länder, wie sie auch das europäische Sprachensystem als Ganzes verändern. So zwingt die Globalisierung die europäischen Länder dazu, die Globalsprache Englisch in den höheren Diskursen zu verwenden (Wissenschaft, Technik, Ökonomie), welche die Volkssprachen dem Lateinischen abgenommen hatten-[…]. Die Europäisierung verstärkt diese Tendenz trotz der offiziellen Politik der Förderung und des Schutzes der Nationalsprachen durch die EU . Die offizielle Mehrsprachigkeits-Poesie Europas kontrastiert stark mit der English- Only-Praxis der europäischen Institutionen (schmerzhaft zum Beispiel im European Research Council)-[…] oder mit der dramatischen Anglisierung der Wissenschaften.“ (Trabant 2014: 114 f.; Kursivierungen im Orig.; Fettdruck K. A.) Dass die als letzte eroberte Domäne, die hochspezialisierte Wissenschaft, auch als erste wieder verloren geht, ist eigentlich nicht weiter verwunderlich. Wichtiger und auch weit problematischer ist, dass man teilweise auch in der universitären Ausbildung und der Verwaltung zum Englischen übergeht (vgl. dazu auch diverse Beiträge in Szurawitzki et al. 2015). Und ganz besonders bedrohlich wird es, wenn „junge Eliten-[…] ihre Kinder zunehmend in der prestigereichen ‚Hochsprache‘ Englisch [erziehen]“ (ebd.: 115). Wenn sich das ausbreiten würde, fänden wir uns allerdings nicht im Mittelalter wieder, sondern im 17. Jahrhundert, als die Elite Französisch sprach. Es besteht jedoch ein entscheidender Unterschied zu früheren Situationen. Damals gab es noch kein voll entwickeltes, für alle Zwecke brauchbares Deutsch. Heute verfügt es wie alle großen europäischen Sprachen über Ausdrucksmittel, um kommunikative Aufgaben in allen Domänen zu bewältigen. Es handelt sich, um einen Ausdruck von Kloss einzuführen, um Ausbausprachen. Kloss hat die relativ späte (ab 1800) Entwicklung von Kultursprachen wie Jiddisch, Afrikaans, Friesisch aus Dialekten behandelt und musste dem die Frage vorausschicken, aufgrund welcher Kriterien man in solchen Grenzfällen den Idiomen den Rang einer Sprache zuschreibt. Unter sprachsoziologischen Gesichtspunkten ist dafür entscheidend, in welchen Handlungszusammenhängen oder Domänen man diese Kommunikationsmittel verwenden kann, in welchem Ausmaß sie ausgebaut sind. Dabei erläutert er, warum <?page no="108"?> 108 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft „für den soziologischen Rang einer Sprache die Dichtung weniger wichtig ist als das Zweckschrifttum (oder Sachschrifttum), d. h. als die nicht-dichterische Prosa. Das erscheint zunächst befremdlich, denn in den meisten Fällen werden ja die größten schöpferischen Einzelleistungen in einer Sprache von den Dichtern vollbracht und nicht von Gelehrten, Technikern und Journalisten. Aber gerade die Dichter können sich eine für niemanden sonst verbindliche Sprache zum eigenen Gebrauch schaffen, ohne daß die breite Masse der Sprecher davon berührt wird. In einer literarisch völlig vernachlässigten Sprache kann fast über Nacht ein großer Dichter erstehen, der in ihr Werke von Weltruf schafft, wie dies [Frédéric] Mistral [1830-1914] in okzitanischer Sprache tat. Aber damit einer ein okzitanisches Werk zur Maschinenbaukunde oder zur Botanik schreiben (und veröffentlichen) könnte, müßte er eine feste Fachterminologie oder mindestens Ansätze dazu vorfinden und ferner eine Leserschaft, die derartige Werke in ihrer Muttersprache zu lesen gewohnt oder mindestens bereit ist. Daß der Nobelpreisträger Mistral auf Okzitanisch schrieb, bewies und bewirkte für den Reifegrad des Okzitanischen als moderne Kultursprache weniger als es die Schriften einiger Naturwissenschaftler oder Techniker täten.“ (Kloss 1952: 29; Hervorhebungen K. A.) Neben den Sprachmitteln, die erst entwickelt werden müssen, kommt es nach Kloss also gesellschaftlich auch darauf an, eine Leserschaft für Fachliteratur heranzubilden. Wenn es eine solche gibt, dann erscheinen die für einen breiteren Bevölkerungskreis interessanten Werke auch in Übersetzung. Beides greift ineinander: Indem man übersetzt, schafft man die sprachlichen Mittel, die zum Ausdruck des Neuen notwendig sind. Genau auf diesem Wege, Fremdes zum Vorbild nehmend und es sich einverleibend, ist das Deutsche zu dem geworden, was es heute ist: Eine Sprache, in der sich alles ausdrücken lässt und die hinreichend flexibel ist, um für neue Ausdrucksbedürfnisse neue Mittel ausbilden zu können. Dass dies immer mit Entlehnungen aller Art einhergeht, versteht sich von selbst. Die einzig wirkliche Gefahr, die dem Deutschen (und anderen Ausbausprachen) droht, ist daher der Verzicht auf ihren Gebrauch in bestimmten Domänen. Sprachen können ja durchaus verkümmern und auch zugrunde gehen. Sprachsterben ist bekanntlich sogar ein sehr realer Tatbestand. Betroffen sind davon derzeit v. a. kleine und noch nicht ausgebaute Sprachen. Mit jeder Sprache geht eine Kultur unter. Für den Rückzug von Sprachen aus Domänen gilt Ähnliches: Nicht nur verlieren Sprachen, wenn sie sekundär in (bestimmten) Wissenschaften nicht mehr verwendet werden, es verlieren auch die Wissenschaften, wenn sie zu Monokulturen verkommen, in denen nur noch der Mainstream der ‚Spitzenforschung‘ zählt. Dieser wird notwendigerweise von Eliten getragen. <?page no="109"?> 109 3.1. Übersicht Wenn man heutzutage einen Dialekt zu einer Kultursprache ausbauen will, beruht das eigentlich nie auf kommunikativen Notwendigkeiten. Denn die Sprecher, die sich um so etwas bemühen, sind sowieso alle mehrsprachig und haben Zugang zu mindestens einer der großen modernen Kultursprachen. Die Absicht besteht also vielmehr darin, den Gebrauchswert und das Prestige der betreffenden Sprache zu steigern. Kloss erklärt: Bevor jemand einen hochspezialisierten Fachtext in einer solchen im Entstehen befindlichen Ausbausprache schreiben und darauf hoffen kann, dafür auch Leser zu finden, muss eine Fachterminologie aufgebaut werden. Das geschieht in Texten, die für ein breiteres Publikum bestimmt sind. Dabei ist zunächst an Medientexte zu denken - deswegen spielen Journalisten eine so große Rolle. In den Massenmedien findet man allerdings nur Texte mit eher niedrigem Spezialisierungsgrad. Spezialisierter sind schon Sachbücher für ein begrenzteres Publikum, das sich für ein Thema oder Fach besonders interessiert. Gehört der Ausbau der Sprache zu den politischen Zielen des Landes, dann sollte sie auf jeden Fall auch im schulischen Fachunterricht verwendet werden, also ist für Lehrmaterialien in der betreffenden Sprache zu sorgen. Heutzutage haben auch Privatpersonen eine einzigartige Gelegenheit, an der Schaffung und Verbreitung von Fachvokabular kleiner Sprachen mitzuwirken: Wikipedia. Im Januar 2011 gab es in Okzitanisch ca. 23.000 Einträge, heute sind es fast 90.000. Damit kommen wir zum wichtigsten Unterschied zwischen den Verhältnissen im 20. Jahrhundert gegenüber früheren. Er betrifft die Frage, welche und wie viele Mitglieder der Gesellschaft Zugang zu den Ausdrucksmitteln und den Texten haben, in denen es um fachliche Inhalte geht. Während die längste Zeit wissenschaftliche Inhalte einer (sehr kleinen) Elite vorbehalten waren, kommt es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur sog. Bildungsexpansion (vgl. Cortina et al. 2008: 76 ff.). Diese führt dazu, dass ein immer größerer Teil der Bevölkerung bereits in allgemeinbildenden Schulen mit (überwiegend theoretischen) Fachinhalten konfrontiert wird, so dass es immer weniger sinnvoll wird, Fachwissen in erster Linie mit beruflichem Expertentum zu assoziieren. So erklärt sich auch der sprachtheoretisch gesehen etwas geheimnisvolle ‚Einfluss der Fachsprache auf die Gemeinsprache‘. Die Gemeinsprache erweitert sich, indem alle Mitglieder der Gesellschaft mit immer größeren „Normalrationen an Wissen“ (Berger / Luckmann 1980: 43; vgl. 2.4.) gefüttert werden. Das Wissen demokratisiert sich, und zwar sehr spät. Dazu bedurfte es nicht nur des Ausbaus der Sprache, der allgemeinen Alphabetisierung und Schulpflicht, sondern auch der Öffnung höherer Bildungsanstalten für breite Bevölkerungs- <?page no="110"?> 110 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft gruppen. Das ist erst für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristisch: Im Laufe der letzten Jahrzehnte „verlor das Gymnasium den Charakter einer Elitebildungsanstalt“ (Cortina et al. 2008: 120), „die Hauptschule [ist] die Verliererin dieser Entwicklung“ (ebd.: 85). Zur Bildungsexpansion gehört also, dass immer mehr Menschen höhere Bildungsabschlüsse erzielen (Abb. 3.2). Grafik Schüler/ -innen im 8. Schuljahr nach Schularten 2.3.34 (1952-2015) 1952 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2012 2013 2014 2015 78 74 72 66 56 47 41 38 34 25 24 24 17 15 14 14 12 7 10 7 8 9 9 11 12 7 9 11 15 21 24 28 29 29 27 26 27 26 24 24 22 21 3 4 5 7 10 10 10 10 14 14 15 17 15 16 17 19 23 26 27 28 30 31 31 33 38 38 38 38 38 Volks-/ Hauptschule Realschule Gymnasium Anmerkung: Aufgrund von Rundungen kann die Summe aller Prozentangaben eines Jahres von 100 abweichen. 1) Ohne Förderschule. Ab 1995 einschließlich ostdeutsche Länder. 2) Ab 1975 separat in der amtlichen Statistik aufgeführt. 3) Integrierte Klassen für Haupt- und Realschüler/ -innen, die nach der Wiedervereinigung zunächst in den ostdeutschen Ländern entstanden. Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 11 Reihe 1; Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, Berechnungen Daten-Portal des BMBF: Weiterführende Daten: www.datenportal.bmbf.de/ 2.3.34 Letzte Aktualisierung: 10/ 2016 Dieses Werk ist lizenziert unter einer Datenlizenz Deutschland Namensnennung 2.0. (https: / / www.govdata.de/ dl-de/ by-2-0) Integrierte Gesamtschule, Freie Waldorfschule 2 Schularten mit mehreren Bildungsgängen 3 Jahr in % 1 Abb. 3.2: Besuch von Schularten 1952-2014 <?page no="111"?> 111 3.1. Übersicht In der Fachsprachenforschung blieb die elitäre Einstellung lange vorherrschend, die Auffassung nämlich, dass das Fachwissen den Experten gewissermaßen gehört. Das macht folgende Passage aus der ersten Auflage von Hoffmanns Werk deutlich, die, wenn ich richtig sehe, in der zweiten entfallen ist: „Echte Fachsprache ist immer an den Fachmann gebunden, weil sie volle Klarheit über Begriffe und Aussagen verlangt. Vom Nicht-Fachmann gebraucht, verliert die Fachsprache ihre unmittelbare Bindung an das fachliche Denken.“ (Hoffmann 1976: 31) Diese Auffassung passt zu der groben Gegenüberstellung Fachsprache vs. Gemeinsprache und der Dichotomie Experte vs. Laie. Nun ist aber die Leserschaft für das „Sachschrifttum“ (Kloss) angewachsen. Nicht nur muss man in der Schule diverse Fächer studieren, es gibt auch immer mehr interessierte Laien, die ihre Neugier durch populärwissenschaftliche Texte in Büchern, Pressetexten, Fernsehsendungen usw. befriedigt sehen. Es ist die Zeit der Wohlstandsgesellschaft. Dies ist auch die zentrale Bezugsgesellschaft im Werk von Berger / Luckmann, die nach Wichter (1999: 83) im Bereich Fachsprachen „etwas Beschauliches und Beruhigendes“ an sich hat: unbestrittene Vertikalität. Wie angekündigt, machen wir uns jetzt an die Öffnung der Blackbox aus Abbildung 2.11. In ihr befindet sich bis in die 1990er Jahre nämlich etwas anderes als im Zeitalter der ‚Postdemokratie‘ (Crouch 2008), in der als einziges demokratisches Element das Abhalten von Wahlen verblieben ist und Politik (wieder) eine Angelegenheit von Eliten zu werden droht. In der Wohlstandsgesellschaft dringt die Technik in Form von elektrischen Haushaltsgeräten, Fernsehern, Telefonen, Autos usw. in die Welt der Normalmenschen ein und macht sie in einem Ausmaß bequem, dass ein Teil der ältesten lebenden Generation es für eigentlich unvorstellbar (vielleicht auch unanständig) hält, von früheren Generationen zu schweigen. Obrigkeitsstaat und Diktatur sind verabschiedet, wir leben in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung zwischen Parlament, Gerichten und der Regierung bzw. Verwaltung. Der Normalmensch bestimmt über Wahlen das politische Geschehen mit. Er delegiert also alles, was über die für ihn überschaubare Alltagssphäre hinausgeht, an Experten und verlässt sich darauf, sich bei Bedarf an diese wenden zu können. Eine Art heiler Welt: „Der Laie weiß weniger, und das, was er weiß, hält den Expertenmaßstäben nicht vollständig stand. Wenn beide Seiten, der Laie und der Experte, in dieser Wertung übereinstimmen, liegt, vertikalitätstheoretisch gesehen, ein unproblematisches Verhältnis vor. Im Kontext der unproblematischen Verhältnisse gilt etwa, daß der Rat und Hilfe suchende Laie dankbar sein wird, wenn er dem Experten (dem Arzt, dem KFZ -Me- <?page no="112"?> 112 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft chaniker, dem Notar usw.) sein Problem erläutern kann, und er wird in der Regel dann konzedieren und erwarten, daß der Experte in seinem, des Laien, Dienst, aber aus eigener fachlicher Verantwortung heraus von seiner Kunst Gebrauch macht und sich auch in Fragen der Terminologie als höhere Instanz ansieht. Die Termini des Experten werden vom Laien so als fachlich zweckdienlich anerkannt, und die eigenen, u. U. mit den Termini signifikantgleichen Wörter werden als Approximationen, als einfachere, gröbere und ggfs. partiell falsche Pendants, kurz: als Reduktionen gesehen.“ (Wichter 1994: 27 f.; Hervorhebungen im Orig.) Das Beschaulich-Beruhigende ergibt sich auch daraus, dass die Rollen im Prinzip vertauschbar sind: Der Arzt braucht den KFZ -Mechaniker, der Notar den Klempner usw. Jeder ist für etwas Experte, nur jeweils für etwas Anderes. Außerdem können die Kinder des Klempners, sogar die Töchter, jetzt Ärztin, Notarin oder Philosophieprofessorin werden. In der globalisierten Welt haben sich die Verhältnisse stark verändert und die grobe Gleichsetzung von Fachmit Berufssprachen gerät ins Wanken. Dazu ist es nützlich, sich die Bedeutung von Arbeitsteilung und Beruf in früheren Gesellschaftsformen vor Augen zu führen: In Agrargesellschaften ist die gesellschaftliche Arbeitsteilung noch relativ wenig ausgeprägt, denn der größte Teil der Bevölkerung lebt in Großfamilien, die sich überwiegend selbst versorgen, Beruf und Alltagsleben sind dabei kaum zu trennen. Für die Ständegesellschaft ist es sicher besonders gerechtfertigt, Fachsprachen der diastratischen Dimension zuzuordnen, denn hier hat nur eine kleine Elite Zugang zum wissenschaftlichen Wissen und auch die Ausbildung zu handwerklichen Berufen ist sozial streng reglementiert (Zünfte). Die Vorstellung, Fachsprachen seien Varietäten einer Einzelsprache, die von bestimmten Gruppen, nämlich beruflich spezialisierten Experten, getragen werden, passt am besten auf hochentwickelte Industriegesellschaften. Das Erlernen und die Ausübung eines Berufs bis zum Ruhestand gehören in dieser Phase zur Normalbiografie (wenigstens der Männer). Den Alltag kann die hier charakteristische Kleinfamilie nicht ohne die verschiedensten industriell produzierten Güter bewältigen. Das bringt sie als Verbraucher in Kontakt zur technischen Expertensprache. Beruf, Alltag und die erst hier allgemeinere Bedeutung erlangende Sphäre der Freizeit sind deutlich getrennt. Seit den 1960er Jahren gewinnt der sog. tertiäre Sektor auf dem Arbeitsmarkt gegenüber Urproduktion (Primärsektor) und Industrie (Sekundärsektor) zunehmend an Bedeutung, und man spricht von Dienstleistungsgesellschaften. <?page no="113"?> 113 3.1. Übersicht 13 Arbeitsmarkt 13.1 Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung 13.1.3 Erwerbsbeteiligung und überwiegender Lebensunterhalt 2014 Weitere Informationen zu Arbeitslosengeld und sonstigen Sozialleistungen siehe Kapitel „Soziales“ Insgesamt Davon mit überwiegendem Lebensunterhalt durch Erwerbs-/ Berufstätigkeit Arbeitslosengeld I, II und sonstige Sozialleistungen | 1 Rente und Vermögen Angehörige 1 000 % 1 000 % 1 000 % 1 000 % 1 000 % Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . 80 896 100 35 802 44,3 5 923 7,3 18 735 23,2 20 437 25,3 Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 651 100 19 885 50,2 2 918 7,4 8 776 22,1 8 073 20,4 Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 245 100 15 916 38,6 3 006 7,3 9 959 24,1 12 364 30,0 Erwerbspersonen . . . . . . . . . . . . . 42 032 100 35 775 85,1 2 633 6,3 1 103 2,6 2 521 6,0 Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 534 100 19 873 88,2 1 395 6,2 620 2,8 645 2,9 Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 498 100 15 902 81,6 1 238 6,3 482 2,5 1 876 9,6 davon: Erwerbstätige . . . . . . . . . . . . . . 39 942 100 35 753 89,5 1 086 2,7 1 030 2,6 2 073 5,2 Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 344 100 19 862 93,1 451 2,1 580 2,7 452 2,1 Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 597 100 15 891 85,4 635 3,4 450 2,4 1 621 8,7 Erwerbslose . . . . . . . . . . . . . . . 2 090 100 X X 1 547 74,0 73 3,5 448 21,4 Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 189 100 X X 944 79,4 41 3,4 193 16,2 Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . 901 100 X X 603 66,9 32 3,5 255 28,3 nachrichtlich: Neue Länder einschl. Berlin . . . 8 269 100 7 019 84,9 885 10,7 199 2,4 165 2,0 Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 367 100 3 735 85,5 460 10,5 110 2,5 62 1,4 Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 902 100 3 284 84,2 426 10,9 90 2,3 103 2,6 Nichterwerbspersonen . . . . . . . . . 38 865 100 X X 3 291 8,5 17 632 45,4 17 915 46,1 Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 118 100 X X 1 523 8,9 8 155 47,6 7 427 43,4 Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 747 100 X X 1 768 8,1 9 477 43,6 10 488 48,2 nachrichtlich: Neue Länder einschl. Berlin . . . 7 656 100 X X 841 11,0 4 213 55,0 2 599 33,9 Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 442 100 X X 397 11,5 1 788 51,9 1 255 36,4 Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 214 100 X X 443 10,5 2 425 57,6 1 344 31,9 Ergebnisse des Mikrozensus. 1 Sonstige Sozialleistungen sind u. a. Sozialgeld, Sozialhilfe, Elterngeld/ Erziehungsgeld, Pflegeversicherung, BAföG. 40 60 80 100 120 140 1991 95 2000 05 10 2014 Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen 1991 = 100 2015 - 01 - 0194 Land- und Forstwirtschaft, Fischerei Dienstleistungsbereich Produzierendes Gewerbe Ergebnisse der Erwerbstätigenrechnung. - Jahresdurchschnitte. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2015 348 Abb. 3.3: Entwicklung der Wirtschaftsbereiche seit 1991 (Statistisches Jahrbuch 2015: 348) Die relative Verteilung stellt sich für die Jahre 1960 und 2015 folgendermaßen dar (Abb. 3.4): Abb. 3.4: Anteil der Wirtschaftsbereiche 1960 und 2015 (Nach www.destatis.de/ DE/ Zahlen- Fakten/ Indikatoren/ LangeReihen/ Arbeitsmarkt/ lrerw013.html; <6.11.2017>.) In diesen Zusammenhang gehört ursprünglich die Rede von der Informations- oder Wissensgesellschaft. Es handelt sich also um einen Begriff, der zunächst einen Typ von Volkswirtschaften kennzeichnen sollte und nicht etwa-- wie z. B. Spaß- oder Freizeitgesellschaft-- auf einen bestimmten Lebensstil abheben oder die große Masse verfügbarer Informationen und deren leichte Zugänglichkeit durch die digitale Technik fokussieren würde. Für Berufe, in denen das Wissen eine besondere Rolle spielt, hat man vorgeschlagen, einen neuen Wirtschaftssektor anzusetzen, nämlich einen Quartärsektor der „Wissenswirtschaft“, in der „Informations-“ oder „Wissensarbeiter“ tätig sind. Dieser wachse beständig an oder habe den Dienstleistungssektor bereits übertroffen, so dass mit einem epochalen Bruch, dem Übergang von der Dienstleistungszur Wissensgesell- <?page no="114"?> 114 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft schaft, zu rechnen sei. Wie die Abbildungen 3.3 und 3.4 zeigen, erscheint in der offiziellen Wirtschaftsstatistik allerdings kein Quartärsektor. 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft Wissensgesellschaft ist ein Gegenstand, anhand dessen sich das in 2.4. Ausgeführte beispielhaft erläutern lässt. Dabei wird sich auch zeigen, dass die Frage nach dem Wirklichkeitsstatus eines Elements keineswegs müßiger Glasperlenspielerei gleichkommt. Wissensgesellschaft betrifft den gesellschaftlichen Zustand, in dem wir gegenwärtig leben. Er ist zutiefst geprägt vom Ende der unproblematischen Verhältnisse, von der bestrittenen Vertikalität. „In problematischen Verhältnissen-[…] wird der Expertenstatus wechselseitig postuliert bzw. bestritten, und im Zusammenhang hiermit kann es sich ergeben, daß auch eine wechselseitige Terminusbestreitung bzw. Reduktionszurückweisung stattfindet.“ (Wichter 1994: 28; Hervorhebungen im Orig.) 3.2.1. Zur Krise der gesellschaftlichen Kommunikation Um dafür gleich ein konkretes Beispiel zu geben, sei ein Interview aus dem Spiegel (29 / 2010) 46 herangezogen, das „die Affäre um den Uno-Weltklimarat und gehackte E-Mails britischer Klimaforscher“ betrifft. Interviewt wurde Richard Horton, Herausgeber der medizinischen Fachzeitschrift Lancet, der auch Mitglied einer Kommission war, die diese Episode aus der Klimaforschung untersucht hat, nämlich „dem Verdacht wissenschaftlichen Fehlverhaltens von Klimatologen der East Anglia Universität im englischen Norwich nachgegangen ist-[…] Horton: Wir konnten weder Betrug noch Fälschung feststellen [Aber: ] Die Universität hat sich absichtlich quergelegt, als Kritiker um die Herausgabe wissenschaftlicher Daten baten. Ein schwerwiegender Fehler, weil die Wissenschaftler sich so dem Verdacht ausgesetzt haben, etwas zu verbergen.-[…] Die Forscher gruben ein großes Loch und versteckten sich darin, in der Hoffnung, das werde alles vorbeigehen. Mit einer solchen Wagenburg-Mentalität darf man im 21. Jahrhundert nicht mehr forschen. Nichts ist mehr, wie es mal war. Im Internet hat sich eine kritische Öffentlichkeit gebildet, die Rechenschaft von der Wissenschaft fordert. SPIEGEL : In den klimakritischen Blogs tummeln sich aber 46 www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-71892522.html; <6. 11. 2017>. <?page no="115"?> 115 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft auch Verschwörungstheoretiker. Wie will man solche von konstruktiven Kritikern trennen? Horton: Das ist schwer, weil die Bloggosphäre anarchisch organisiert ist. Wir brauchen deshalb einen offenen Raum, wo sich kritische Öffentlichkeit und Forscher treffen. Ich habe eine nationale Institution vorgeschlagen, unabhängig von Wissenschaftsverbänden und Regierungen, wo kontroverse Forschungsthemen diskutiert werden können.-[…] Bei jedem neuen kontroversen Thema werden wir eine solche Auseinandersetzung zwischen Wissenschaftlern und Laienforschern erleben. Die letzten sechs Monate haben für die Klimaforschung einen massiven Vertrauensverlust in der Bevölkerung bewirkt. Das können wir uns nicht noch einmal erlauben.“ (Kursivierungen im Orig. fett; Fettdruck K. A.) Welche kontroversen Themen es in diesem Jahrhundert sonst schon gab, lässt sich gut ablesen an den Aktionen Wort / Unwort des Jahres, denn diese zielen überwiegend auf brisante Themen. Die gesellschaftlich brisanteste Entwicklung besteht im von Horton erwähnten massiven Vertrauensverlust in der Bevölkerung, der allerdings nicht nur die Wissenschaftler, sondern auch andere Eliten betrifft und untrennbar mit dem Primat der Ökonomie verbunden ist. Ausgewählt wurde in der folgenden Zusammenstellung (Abb. 3.5) immer nur ein Wort, nicht unbedingt das an erster Stelle stehende, um eine breitere Themenstreuung zu erzielen und zentrale Ausdrücke des gesamten Diskurses einzubeziehen. Wörter des Jahres Unwörter des Jahres 2016 postfaktisch Volksverräter 2015 Schummel- WM Gutmensch 2014 schwarze Null Lügenpresse 2013 Protz-Bischof Sozialtourismus 2012 Bildungsabwendungsprämie Lebensleistungsrente 2011 Stresstest Marktkonforme Demokratie 2010 Wutbürger Alternativlos 2009 Abwrackprämie betriebsratsverseucht 2008 Finanzkrise notleidende Banken 2007 arm durch Arbeit Herdprämie 2006 Prekariat Neiddebatte 2005 Heuschrecken Entlassungsproduktivität <?page no="116"?> 116 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft Wörter des Jahres Unwörter des Jahres 2004 Hartz IV Humankapital 2003 Agenda 2010 Angebotsoptimierung 2002 Teuro Ich- AG 2001 Riester-Rente Gewinnwarnung 2000 basta überkapazitäre Mitarbeiter Abb. 3.5: Wörter und Unwörter aus den Jahren 2000 bis 2016 Der Diskurs betrifft die Umgestaltung der Gesellschaft in eine Marktkonforme Demokratie (2011), in der eine schwarze Null (2014) wichtiger ist als gesellschaftspolitische Aufgaben. Finanzinvestoren fallen als Heuschrecken (2005) über das Land herein und lassen Wutbürger (2010) zurück, die der Entlassungsproduktivität (2005) zum Opfer gefallen oder arm durch Arbeit (2007) geworden sind und dafür notleidende Banken (2008) retten müssen. Die wichtigsten ‚offiziellen‘ Ausdrücke sind Agenda 2010 (2003), Hartz IV (2004) und Finanzkrise (2008). Basta (2000) und alternativlos (2010) entsprechen einander als typische Haltungen des Bundeskanzlers Gerhard Schröder bzw. der Bundeskanzlerin Angela Merkel, insofern sie ihre Sicht auf die Welt als einzig denkbare präsentieren. Die englische Entsprechung, der Slogan There is no alternative, war übrigens in der abgekürzten Form TINA ein Spitzname für Margaret Thatcher, von 1979 bis 1990 britische Premierministerin. Die Aussage sollte ihre - nach Ansicht der Kritiker zu einseitig auf den Markt ausgerichtete - Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik legitimieren. Die Globalisierungskritiker machten dann daraus einen Negativ-Slogan neoliberaler Politik, dem sie TATA entgegenstellten: There are thousands of alternatives. Wie beim Beispiel der Klimaaffäre befinden wir uns hier im optimistischeren Diskursstrang, bei der kritischen Öffentlichkeit, der Bürger- oder Zivilgesellschaft, die sich die Neuen Medien ebenso zunutze macht wie Terroristen und andere militante Gegner unserer Gesellschaftsordnung, Verschwörungstheoretiker oder Stammtischbrüder, die schon immer viel besser wussten, was zu tun sei, als Politiker. Wir kommen damit zur zweiten Ausgabe der Blackbox aus Abbildung 2.11. In diesem Fall bleibt es bei einer Blackbox, weil ich, das Jedermanns-Ich, zwar <?page no="117"?> 117 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft weiß, was sich (u. a.) darin befindet, aber nicht mehr verstehe, nach welchen Mechanismen das Ganze funktioniert. Zu den wichtigsten Ingredienzien gehören Großkonzerne im Bereich Technologie, der ebenfalls längst technologisierten Lebensmittelbranche, der Pharmazie, Medizin, der Medien usw., ferner Banken, parlamentarische und administrative Einheiten sowie andere bürokratische Institutionen, die auf den verschiedensten Ebenen agieren: lokal, regional, national und international. Ich bin nicht in der Lage, mir in allen oder auch nur vielen Sachfragen selbst ein kompetentes Urteil zu bilden, ich weiß aber, dass die Politiker das auch nicht können. Ich durchschaue nicht, welche Entscheidungsgremien jeweils beteiligt, welche prioritär sind, welche Regeln im Einzelnen gelten, schon gar nicht, ob sie auch eingehalten oder durch Lobbyarbeit, Korruption, Streben nach Macht(erhalt) usw. ausgehebelt werden. Diesem Jedermanns-Ich stehen jedoch nicht mehr Experten gegenüber, die es erklären könnten. Besser gesagt: Es gibt niemanden mehr, dem man unterstellen könnte, dass er es kann-- denn in Wirklichkeit wussten ja die besonders hoch spezialisierten Experten schon immer, dass ihre Welten hypothetische sind und nicht ‚die Wirklichkeit abbilden‘. Diesen Tatbestand haben sowohl Laien ausgeblendet als auch Experten, die vorrangig in praktischen Arbeitszusammenhängen tätig sind (wo der Gestus des Hinterfragens ausgeschaltet oder sogar ganz vergessen werden kann). Für Alltagsprobleme in einer noch relativ überschaubaren Welt war dieses Vorgehen akzeptabel und hinreichend effizient. Für den postindustriellen, postdemokratischen, postfaktischen oder wie immer man den gegenwärtigen Gesellschaftstyp beschreiben will, gilt genau das nicht mehr. Die von uns selbst geschaffene Welt ist in einem Maße komplex geworden, dass sie für niemanden mehr durchschaubar ist. Hier tritt besonders deutlich die „Dialektik von Spezialisierung und Integration“ zutage, die Hoffmann schon lange vor der eigentlichen ‚digitalen Revolution‘ beschrieb: „Während es noch vor nicht allzu langer Zeit keiner Erörterung zu bedürfen schien, wo die Grenzen zwischen Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Medizin, Philosophie, Soziologie usw. liegen, herrscht darüber heute durchaus keine Sicherheit mehr.- […] Auf der Tagesordnung steht die Wissenschaftsintegration, die interdisziplinäre Kooperation oder zumindest die Übernahme von Methoden aus einer Wissenschaft in die andere. Ähnlich liegen die Dinge in der Produktion. Da, wo es vor kurzem noch viele Produktionszweige gab, die nichts miteinander zu tun hatten-[…], herrscht jetzt eine enge Zusammenarbeit und Abhängigkeit voneinander. Denken <?page no="118"?> 118 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft wir nur-[…] an die Ausstattung von Industrieanlagen mit der Steuerungs- und Regeltechnik und das Eindringen der Elektronik in alle möglichen anderen Gebiete. Die Dialektik dieses Prozesses besteht darin, daß ohne diese Integration eine weitere Spezialisierung, d. h. die Lösung ganz spezieller Aufgaben, nicht mehr möglich ist.“ (Hoffmann 1985: 54) Dass Experten tagtäglich selbst erfahren, wie begrenzt ihre Expertise ist und wie sehr sie auf andere angewiesen sind, ist auch für sie eine durchaus neue Situation. Zu den besonders Betroffenen gehören EDV -Spezialisten, da sich deren Welt extrem schnell ändert. Die entsprechende Technik wird überall genutzt, auch in dem Kommunikationsbereich, der von jeher als schwer durchschaubar gilt, nämlich der Verwaltung. Nicht zufällig sprechen Berger / Luckmann vom „geheimnisvollen Wirken der Paßbehörden“ (vgl. 2.4.). Diese sind Teil eines Handlungsbereichs, der sehr stark reguliert und standardisiert ist, und zwar um Rechtssicherheit zu gewährleisten. Einfachere Lösungen sind auch für die Verwaltungsangestellten natürlich leicht vorstellbar, sie liegen ja sozusagen auf der Hand. Als Verwaltungsangestellte müssen sie aber ‚den Dienstweg einhalten‘, d. h. den festgelegten Verfahrensvorschriften folgen und die darin festgelegten Begriffe sowie die spezialisierten Formulare benutzen, denn in pragmatischen Ad-hoc-Lösungen steckt immer die Gefahr der Willkür. Das führt dann auch zu einer großen Trägheit des ganzen Apparats. Dem steht entgegen, dass Entscheidungen schnell fallen sollen. Insgesamt befinden wir uns hier in einem Bereich, in dem ständig Entscheidungen zu treffen sind, selbst wenn klar ist, dass die verfügbaren Kenntnisse nicht ausreichen, um mit hoher Sicherheit zu bestimmen, welches die beste Entscheidung ist. Es geht um die Kommunikationsbereiche, die in der Funktionalstilistik der öffentlichen Rede (C in Abb. 2.9) zugeordnet sind: Politik, Rechtsprechung und Verwaltung, inklusive der (Selbst-)Verwaltung von Forschungs- und Bildungsinstitutionen. Werden hier radikale Umstrukturierungen vorgenommen wie z. B. bei der Einführung des achtjährigen Gymnasiums (G8) oder der Bologna-Reform, die auch noch auf verschiedenen Ebenen (Bundesländer, nationaler und internationaler Kontext) zu koordinieren sind, so löst das eine Lawine von politischen und administrativen Verfahren aus, unter der nicht selten die eigentlichen Ziele begraben werden. Damit sind die Problemstellen vorprogrammiert: Wann immer etwas nicht so (schnell und effizient) funktioniert, wie wir es erwarten und einfordern zu können meinen, lassen sich die Experten problemlos in Buhmänner verwandeln, <?page no="119"?> 119 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft die ihren Aufgaben nicht gerecht werden, denen man nicht nur beschränkte Kompetenzen, sondern auch gleich Böswilligkeit (ersatzweise: Dummheit oder Verrücktheit) unterstellen kann. So wenigstens lässt sich die ja sehr beschränkte Schwarz-Weiß-Malerei der alltagsweltlichen Gewissheiten retten. An dieser Stelle hat es keinen Sinn mehr, mit einer für alle intersubjektiv verbindlichen Alltagswelt zu rechnen. Der gesellschaftliche Konsens, der natürlich ohnehin einer ausgeprägten Idealisierung entspricht, ist endgültig zerfallen (vgl. dazu weiter 5.3.1.). Die Frage ist nun, wie gesellschaftliche Gruppen darauf reagieren. Diese Reaktionen haben kommunikativen Charakter. Das heißt nichts anderes, als dass das ganze Problemfeld sich im Zentrum sprachwissenschaftlicher Fragestellungen, speziell solcher der Fachsprachenlinguistik befindet. Es geht um Formen und Facetten gesellschaftlicher Kommunikation. Dieses Problemfeld ist m. W. in der (Fachsprachen-)Linguistik noch nicht genauer angegangen worden, so dass hier nur ein tentativer Vorschlag unterbreitet werden kann, der sich am Konzept der Konversationsmaximen ausrichtet. Die bestrittene Vertikalität entspricht der (wechselseitigen) Unterstellung, dass sich die Kommunikationspartner nicht am Kooperationsprinzip orientieren. Die älteste Version besteht in dem Vorwurf, Experten verstießen gegen die Maxime der Modalität, sie würden sich (absichtlich) unverständlich ausdrücken. Dieses Problem schrumpft zu einem eher kleinen. Denn dies ist die Schraube, an der sich am einfachsten drehen lässt, und das geschieht auch: Textoptimierung überall (vgl. 2.3.), benutzerfreundliche Oberflächen, barrierefreie Dokumente, Hotlines mit Qualitätskontrolle der Gespräche zur Schulung der Mitarbeiter usw. Der kundenfreundliche Service hat auch bei den Behörden Einzug gehalten: Der Bürger ist zum Kunden der Verwaltung mutiert, das ist der Weg von der Bürokratie zum New Public Management, die Annäherung des staatlichen Handelns an das von Wirtschaftsunternehmen (vgl. Adamzik 2016b: 230 ff.). Auch die Bildungsinstitutionen präsentieren sich als effiziente Unternehmen oder sollen mindestens möglichst schnell dazu werden. Selbst wenn im Bereich der rezipientenfreundlichen Textgestaltung schon sehr deutliche Verbesserungen erzielt worden sind, darf man nicht unbedingt erwarten, dass dies den Stereotypen den Garaus macht. Sie sind uns gewissermaßen lieb geworden und es macht Spaß, sie immer wieder zu zelebrieren (vgl. 2.1.). Ferner steigen die Ansprüche mindestens ebenso schnell wie neue (technische) Möglichkeiten und gewiss sehr viel schneller als die finanziellen Ressourcen (vgl. Adamzik 2016b: 243 ff.). Außerdem kann man es mit der Ver- <?page no="120"?> 120 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft einfachung von Texten auch übertreiben. Das ist jedenfalls eine weit verbreitete Meinung von Fachvertretern z. B. zu Lehrbüchern für das BA -Studium, die möglichst kurz und knapp schnell einsetzbares Rezeptwissen anbieten. Die Komplexität der Zusammenhänge wird wieder ausgeblendet. Mit diesen Mitteln lassen sich keine echten Experten ausbilden, die in der Lage wären, auch den Gestus des Hinterfragens einzunehmen. Diese Vereinfachungsstrategien stellen aber ohnehin kein Allheilmittel dar, denn der Vertrauensverlust geht viel tiefer, betrifft nämlich die Regeln, nach denen die Demokratie funktionieren soll. Dass übermäßige Textvereinfachung den Vertrauensverlust geradezu befördern kann, zeigen z. B. Wahlprogramme in Leichter Sprache. Sie sind eigentlich für Menschen mit geistiger Behinderung gedacht, beanspruchen aber, auch allen anderen das Verständnis zu erleichtern. Viele Adressaten dürften sich jedoch dabei einfach nicht ernst genommen fühlen. So dumm, dass sie nicht wüssten, dass es so einfach gar nicht sein kann, sind sie denn doch nicht. Man versteht eigentlich auch nichts besser- - denn die Vereinfachungsstrategien operieren auf einem sehr oberflächlichen Niveau: „Gerade im Kommunikationsbereich Politik haben etliche Texte in Leichter Sprache eher eine ‚Aushängeschildfunktion‘, als dass sie das Ziel erkennen lassen, den Lesern komplexe Inhalte so zu vermitteln, dass sie selbstbestimmt handeln können“ (Bock 2015: 122; vgl. für einen umfassenden Überblick zum Problemfeld jetzt auch Bock et al. 2017). Versuchen wir eine kleine Typologie der Reaktionsmuster auf den Vertrauensverlust. Selbstverständlich handelt es sich um Idealtypen und es ist sehr gut denkbar, dass ein Individuum an einem Tag eher eines, an anderen andere für die angemessensten hält. Als eine Reaktionsmöglichkeit auf den Verdacht, das Gegenüber halte sich nicht an das Kooperationsprinzip, kann man mit bzw. gegen Grice vorsehen: „Man haut nicht einfach ab oder fängt mit etwas anderem an“ (Grice 1975 / 1979: 252; Durchstreichung K. A.). Das ist die Reaktion der Desinteressierten: Das ist alles so kompliziert, dass ich mich nicht damit befassen will, ich gehe nicht mehr zu Wahlen, meine Stimme ändert sowieso nichts, sie machen doch sowieso, was sie wollen. Ich will auch keinen Computer, kein Internet, kein Smartphone, ich bin jahrzehntelang ohne das ausgekommen und will einfach in Frieden gelassen werden in der kleinen mir vertrauten Welt. <?page no="121"?> 121 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft Einer anderen Reaktion liegt dieselbe mala-fide-Haltung zugrunde, sie mündet jedoch in die offene Auseinandersetzung. Ich möchte sie als die der Krieger bezeichnen, zumal diese tatsächlich auch zu militanten Mitteln greifen. Wenn ich davon ausgehe, dass es Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens gibt, die für alle gültig sind, ich jedoch feststellen muss, dass sich die Mächtigen nicht daran halten, dann kann ich darin nichts anderes erkennen als einen Skandal. Dagegen werde ich mich mit allen Mitteln zur Wehr setzen! Die Industrie produziert elektronische Geräte, in die eine maximale Betriebsdauer einprogrammiert ist, nur damit ich alle paar Monate ein neues Gerät kaufen muss. Eine Schande! Angeblich lässt sich nichts mehr reparieren bzw. es ‚lohnt sich nicht‘. Welch eine Vergeudung der knappen Ressourcen unseres Planeten, und da reden sie dauernd von Nachhaltigkeit. Das Gerede von den Politikern kann ich schon gar nicht mehr hören. Die Übertragung dieser Argumentation auf andere kontroverse Themen fällt sicher niemandem schwer, Anregungen dazu finden sich in Abbildung 3.5. Die Krieger unterstellen, dass die Mächtige(re)n grundsätzlich Gegner sind, die es sehr wohl besser wissen und könnten. Es müssen also unlautere Motive dahinterstecken-- und schon sind wir bei den Verschwörungstheorien. Während die ersten Beispiele aus der ‚Krieger-Rede‘ auf einen ökologischlinken Hintergrund schließen lassen, zeigt das letzte, dass die Einteilung der politischen Lager zwischen rechts und links auch nicht mehr trägt. Dieser Reaktionstyp ist gerade deswegen so brisant, weil im Lager der Wutbürger recht unterschiedliche ideologische Orientierungen zusammenfinden. Das Schlimme ist, dass es echte Skandale ja wirklich zuhauf gibt. Politiker, Manager, Wissenschaftler sind auch nur Menschen, und es gibt tatsächlich skrupellose Egoisten und Lügner-- das ist wohl eine Allerweltsweisheit, über die sich doch noch allgemeiner Konsens herstellen lässt. Wir müssen also auch den Typ der Egoisten ansetzen, die die ihnen jeweils zur Verfügung stehende Macht hemmungslos ausnutzen. Dieser Typus ist uns allerdings aus der Menschheitsgeschichte schon bestens bekannt, ihm stehen heute nur noch viele zusätzliche Fäden zu Gebote, an denen er ziehen kann. Da das Bekenntnis zu dieser Haltung einer offenen Aufkündigung des Kooperationsprinzips gleichkommt, muss sie verschleiert werden. Deswegen halte ich es nicht für sinnvoll, auch dieses Ich selbst sprechen zu lassen. <?page no="122"?> 122 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft Nun sind nicht nur die Mächtigen, die Experten, die Eliten auch nur Menschen. Für die Machtlosen, Laien und Underdogs gilt dasselbe. Sie unterliegen einer Selbsttäuschung, wenn sie sich selbst nur ehrenwerte Motive zuschreiben, die doch jeder vernünftige Mensch (an)erkennen müsse. Man hat nicht schon deswegen Recht, weil man arm und einflusslos ist. Wer dem Gegenüber Unlauterkeit zuschreibt, behandelt die Grundlagen fruchtbarer Kooperation als zerrüttet. Mit dieser Unterstellung trägt er aber zur weiteren Zerrüttung bei. Bevor wir zur letzten, der einzig Hoffnung erhaltenden Figur kommen, den Gutwilligen, soll noch der Typ des Zynikers vorgestellt werden. Er kommt besonders häufig bei Intellektuellen vor, d. h. denen, für die es noch am ehesten möglich ist, Zusammenhänge zu durchschauen und sie sich zugleich vom Leibe zu halten. Der Zyniker betrachtet das Ganze sozusagen aus einer abgehobenen Position und ist es besonders gewohnt, seine Emotionen zu kontrollieren oder ganz auszublenden: Ja, kennen wir doch alles schon, die gar nicht neue Unübersichtlichkeit usw. Geld regiert die Welt, wie eh und je. Wie kann man noch so naiv sein, sich darüber aufzuregen? Eine neue Exzellenzinitiative? Sicher doch, und natürlich wieder mal ein Wettbewerb, bei dem niemand verliert, das beweist doch, dass es echten Fortschritt gibt, früher hielt man so etwas mal für ein Ding der Unmöglichkeit. Das Durchschauen und Analysieren-Können, Sich-von-nichts-mehr-Überraschen-Lassen erlaubt dem Zyniker in seiner elitären Position zu verbleiben, ohne für irgendetwas verantwortlich zu sein, auch nicht dafür, den Naivlingen auf die Sprünge zu helfen. Mehr kann man nicht dafür tun, den generalisierten Vertrauensverlust der Normalmenschen zu verstärken. Es verbleiben also die Gutwilligen, die davon ausgehen, dass man an wechselseitig unterstellter Kooperationsbereitschaft festhalten muss. Dass dies in der Regel aus purer Naivität geschieht, wie es auch das Schmähwort Gutmensch (Unwort des Jahres 2015) postuliert, scheint mir keineswegs zwingend. In diesem Typologisierungsversuch geht es aber ohnehin nur um Reaktionen auf die Erfahrung oder den Verdacht, dass die Konversationsmaximen nicht eingehalten werden; die elementare Naivität haben wir also schon hinter uns. Wer einen einseitigen Vertrauensvorschuss gibt, geht natürlich schon das Risiko ein, über den Tisch gezogen zu werden, und wird daher auch mehr oder weniger regelmäßig enttäuscht. In diesem Fall wird man bestimmten Menschen forthin aus dem Weg gehen oder in die Krieger-Rolle wechseln. Das Festhalten <?page no="123"?> 123 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft an der Vorstellung, Kooperationsbereitschaft könne sich herstellen lassen, ist als regulative Idee zu verstehen. Anders haben wir gar keine Chance. Daher bleibt es rational, grundsätzlich Kooperativität zu unterstellen-- dies zu zeigen war ja auch das Anliegen von Grice. Die Gutwilligen sind sich einig in der Analyse: Die gesellschaftliche Kommunikation ist schwer gestört und es ist alles andere als einfach, einen Ausweg zu finden. Sie sind sich auch einig darüber, dass dies nur möglich ist, wenn die Kontrahenten sich an einen Tisch setzen und versuchen, wieder in einen konstruktiven Dialog einzutreten. Diesem Problemfeld haben das Forum Technik und Gesellschaft (Aachen) und das Kulturwissenschaftliche Institut aus Essen 1995 ein Kolloquium gewidmet. Die Beiträge sind in dem Band Aufstand der Laien. Expertentum und Demokratie in der technisierten Welt (Kerner 1996) zugänglich. Darin plädiert der Physiker Schmidt-Tiedemann dafür, hermeneutische Brücken zu bauen und beschreibt Erfahrungen aus Experten-Bürger- Dialogen: 47 „Die Motivation zu einem erfolgreichen Diskurs ist am Anfang meist gegeben, schlägt aber später oft in Resignation um. Die Partner halten es dann für aussichtslos, festgefahrene Positionen der Gegenseite durch Argumente aufzubrechen. Demotivierend können auch Vorurteile sein, mit denen die Partner in die Diskussion hineingehen. Es ist kontraproduktiv, Bürger immer noch für grundsätzlich unwissend, uninteressiert und unmündig zu halten. Unwissenheit über technisch-wirtschaftlichökologische Zusammenhänge, Uninteressiertheit, dieses Wissen zu erwerben, und Unmündigkeit als mangelnde Bereitschaft, Einschränkungen und Verzichte hinzunehmen, sind Etiketten aus der Mottenkiste, die sich viele aufgeklärte Mitbürger nicht mehr ankleben lassen. Der Industrie frühkapitalistisches Profitstreben und ökologische Bedenkenlosigkeit zu unterstellen, hemmt den gemeinsamen Fortschritt ebenso wie ein Rundumschlag gegen die Experten, der ihnen generell Qualifikation und Integrität abspricht.“ (Schmidt-Tiedemann 1996: 39 f.; Kursivierung im Orig., Fettdruck K. A.) So unverzichtbar der Dialog ist und so sehr man sich seit langem darum bemüht, so mühselig ist er auch: 47 Vgl. dazu auch die Initiative Bürgerdialoge des BMBF, die in Bürgerreporte münden: www. bmbf.de/ de/ buergerdialog-des-bundesministerium-fuer-bildung-und-forschung-224. html <6. 11. 2017> <?page no="124"?> 124 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft „Die Organisation von Experten / Bürger-Dialogen kann auf eine Vielfalt bereits ausprobierter Formen zurückgreifen. Das reicht von öffentlichen Hearings über Enquete- Kommissionen bis zur Bürgerbefragung zu lokalpolitischen Entscheidungen. Parteien, Verbände, Unternehmen, Akademien und Hochschulen organisieren zahllose Symposien zu Fragen der bürgerlichen Technik-Akzeptanz. Allerdings gehen viele solche Veranstaltungen aus wie das Hornberger Schießen. Bürger und Experten sind gleichermaßen frustriert von ihrer Wirkungslosigkeit.“ (ebd.: 38; Hervorhebungen K. A.) Entscheidend ist nicht nur der Dialog zwischen Experten und Bürgern, sondern auch der zwischen den Disziplinen. Schmidt-Tiedemanns Beitrag überzeugt nicht zuletzt dadurch, dass er Technik und Philosophie zusammenbringt. Die gegenwärtig kaum zu überschätzende Bedeutung der Verständigung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft veranlasste den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft im Mai 1999 ein Symposium zu veranstalten, bei dem das sog. PUSH -Memorandum vorgestellt wurde. Es wurde von allen großen Wissenschaftsorganisationen Deutschlands unterzeichnet. Das Kürzel greift eine britische Initiative von 1985 auf-- Public Unterstanding of Science ( PUS ) und fügt Humanities hinzu. Das grundlegende Ziel besteht darin, „in der Bevölkerung Verständnis für Wissenschaft zu fördern und zwar nicht zur bloßen Akzeptanzbeschaffung, sondern mit dem Ziel eines kritischen Dialoges zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ ( PUSH 2000: 4). Diese Charakterisierung zeigt, dass die Wissenschaftsorganisationen sich des Problems sehr bewusst sind, das Wichter als bestrittene Vertikalität bezeichnet. PR -Strategien und Imagekampagnen können ja durchaus selbst als Manipulationsversuche ausgelegt werden. Mit Dialog wird ein Hochwertwort als ‚Markenzeichen‘ gewählt. Es lässt sich allerdings sehr verschieden auslegen und reicht nicht aus, Misstrauen aus dem Weg zu räumen, da es- - in gewissem Ausmaß kontrafaktisch- - Vertrauen in die Wissenschaft voraussetzt. Das Memorandum greift auch das Klischee auf, Deutschsprachige täten sich mit der Vermittlung von Wissenschaft besonders schwer (vgl. 2.3.): „Wegen ihres hohen Spezialisierungsgrades haben die Wissenschaften in ihren Teilgebieten jeweils eigene Sprachen entwickelt, die in der Regel für Nichtwissenschaftler nicht nur die wissenschaftlichen Inhalte undurchschaubar, sondern auch die Methoden und Verfahren schwer zugänglich machen. Damit ist das Problem der Experten-/ Laienkommunikation angesprochen, die-- soweit sie sich auf eine breite Öffentlichkeit als Adressatin bezieht-- in Deutschland weniger entwickelt ist als in anderen Ländern. „ ( PUSH 2000: 58) <?page no="125"?> 125 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft Drastischer drückt das der Generalsekretär des Stifterverbandes in seiner Begrüßungsrede aus: „Wissenschaft als Belehrung und Unterhaltung zugleich.- […] Die gesuchte Kombination ist in Deutschland selten, wo der Elfenbeinturm zur Metapher für die Universität und der Sprachpanzer zum Gleichnis für die Sprache in der Wissenschaft geworden ist.“ (ebd.: 4) Zu den wesentlichen Zielen des Memorandums gehörte daher ein Bewusstseins- und Wertewandel, entsprechend dem Popularisierung den Wissenschaftlern auch Prestige einbringen muss, denn: „Solange bei den Spezialisten auf den Lehrstühlen Bemühungen um eine integrierende, interdisziplinäre Sicht scheinbar wohlwollend, aber in Wahrheit bösartig als ‚gutgemeint‘ disqualifiziert und abgewertet werden, solange wird die alte Bringschuld nicht nur bestehen bleiben, sondern sie wird weiterwachsen.“ (ebd.: 47) Daher hält das Memorandum ausdrücklich fest: ▶ „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden aufgefordert, ihre Arbeit öffentlich auch in einer für den Nicht-Spezialisten verständlichen Form darzustellen. Die Unterzeichner setzen sich nachhaltig dafür ein, dass wissenschaftsfördernde Einrichtungen ihre Förderkriterien zukünftig dahingehend weiterentwickeln, dass der Dialog mit der Öffentlichkeit den ihm angemessenen hohen Stellenwert erhält. ▶ Dieses Prinzip soll auch innerhalb der öffentlich finanzierten Hochschulen und Forschungseinrichtungen gelten. Die Würdigung von Leistungen im Dialog mit der Öffentlichkeit soll im Rahmen der internen und externen Begutachtung bzw. Evaluation zusätzlich zur Würdigung der wissenschaftlichen Leistung erfolgen. Geeignete Formen der Anerkennung sollen entwickelt werden.“ (ebd.: 60) In der Präambel wird-- trotz einer gewissen Distanzierung-- ein Zusammenhang zum Ausdruck Wissensgesellschaft hergestellt: „In diesem Zusammenhang wird die viel zitierte ‚Wissensgesellschaft‘ konkret. Je abhängiger unsere Gesellschaft vom ‚Kapital‘ des Wissens wird, desto dringlicher stellt sich die Frage nach der öffentlichen Teilhabe im Sinne des demokratischen Prozesses. Mangelndes Verständnis für Wissenschaft, aber auch enttäuschte Erwartungen und <?page no="126"?> 126 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft Wunderhoffnungen können elementare Folgeprobleme auslösen, die von einer Verweigerungshaltung bis zur Hinwendung zur Pseudo-Wissenschaft reichen.“ (ebd.: 59) Das Titelstichwort dieses Kapitels kommt nur an einer einzigen weiteren Stelle der Akten des Symposiums vor, und zwar im Grußwort eines Politikers. Gehört das Konzept Wissensgesellschaft eigentlich eher in die Welt der Wissenschaft oder in die der Politik? 3.2.2. Informationen zu Wissens- und Informationsgesellschaft aus der Linguistik Wir verhalten uns jetzt wie aufgeklärte Bürger, die ihre Informationslücken auch ad hoc schließen können und dazu nicht immer erst Ausbildungen absolvieren müssen. Die Experten braucht man allerdings schon. Diese haben ihre Gedanken jedoch publik gemacht, das (unsichere) Wissen ist zugänglich. Man muss es ‚nur‘ zu finden wissen. Die von Horton erwähnten Laienforscher beweisen immerhin, dass es möglich ist, von seinem eigenen Verstand Gebrauch zu machen. Wir setzen wie in Kapitel 2. zunächst bei elementaren Quellen für Fachsprache an, nämlich an den Einträgen zu den Ausdrücken im DUW . Dort sind beide dem Fachgebiet Soziologie zugeordnet. Die Erläuterungen sind allerdings wenig aufschlussreich, besonders beim ersten Ausdruck fragt man sich, inwiefern darin eine spezifisch soziologische Sicht zum Ausdruck kommen soll-- so oder ähnlich würde man den Ausdruck sicherlich auch aus alltagsweltlicher Sicht erläutern bzw. verstehen: Informationsgesellschaft, die (Soziologie): ‚Gesellschaft, die durch die Fülle der Informationsmöglichkeiten mithilfe der modernen Medien geprägt ist.‘ Wissensgesellschaft, die (Soziologie): ‚Gesellschaft, in welcher [durch kognitive und emotionale Verarbeitung von Informationen] 48 erworbenes Wissen als grundlegendes Kapital gilt und die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse wesentlich prägt‘: unsere 48 Die eckigen Klammern stehen im Original. Sie zeigen normalerweise ein fakultatives Merkmal an, z. B. für Text: ‚[schriftlich fixierte] im Wortlaut festgelegte, inhaltlich zusammenhängende Folge von Aussagen‘. Wie die Klammern bzw. das, was darin steht, hier zu deuten sind, vermag ich nicht zu erklären. <?page no="127"?> 127 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft Wissensgesellschaft baut auf Bildung auf, zu der alle Schichten gleichermaßen Zugang haben sollten 49 . Die Wörterbücher des IDS ( OWID ) weisen Wissensgesellschaft als Neologismus der 1990er Jahre aus und erläutern den Ausdruck folgendermaßen ‚die Gesellschaft, in der das Wissen als entscheidender Wettbewerbs- und Produktionsfaktor gilt‘. Unter ‚Weitere Informationen‘ erfährt man, dass Wissensgesellschaft im Duden-- Wörterbuch der New Economy (2001) erläutert ist. Wie in 3.1. behauptet, gehört der Ausdruck Wissensgesellschaft also tatsächlich eher in den Sachbereich Ökonomie. In den Korpora des IDS (DeReKo) 50 ist er mit insgesamt 6.234 Treffern seit 1993 belegt. Der erste Beleg stammt aus einer Rezension des Buchs: Die postkapitalistische Gesellschaft im Wirtschaftsteil von ZEIT -Online. Sie enthält die Oberzeile: Wirtschaftsbuch: Die Vision des Management-Gurus Peter Drucker. „Getreu dem Druckerschen Motto ‚eine Idee, ein Buch‘ zieht sich diese Leitidee-- zunehmende Dominanz des Wissens in allen Lebensbereichen-- als roter Faden durch das ganze Buch“ (U. Steger 1993). Im Klappentext dieses Werks (Drucker 1993) ist vermerkt, dass es sich um den 20. Titel dieses Autors handelt, der im Econ-Verlag erschienen ist. Econ (kurz für Economy) ist spezialisiert auf populärwissenschaftliche Sachbücher. Der Ausdruck Wissensgesellschaft wird in dem Buch prominent verwendet (Kapitelüberschriften), aber nicht als Terminus eingeführt oder definiert-- das entspräche nicht dem Charakter der Publikation. Das Neologismenwörterbuch erwähnt weiter, dass Wissensgesellschaft im Lexikon der Unwörter gebucht ist. „Dieses Lexikon dokumentiert kritikwürdige Wörter und Formulierungen, die bei der exemplarischen Wahl einiger weniger aktueller Jahres-Unwörter seit 1991 nicht zum Zuge kommen konnten.“ (Schlosser 2000: 7) „Gut gemeint, aber letztlich auf einer Begriffsverwirrung beruhend, war 1998 der Appell unseres höchsten Staatsrepräsentanten, dass wir uns im 21. Jahrhundert zu einer Wissensgesellschaft transformieren müssten. Zwar werden die immer effektiveren Datenverarbeitungssysteme schon seit einiger Zeit als ‚Wissenstechnologien‘ verkauft, ‚Wissen‘ als kreative Aneignung von Informationen indes findet umso weniger statt, je mehr wir selbst lebensnotwendige Informationen elektronischen Speichern an- 49 In diesem Modalverb steckt der ganze Problemkomplex. Ob das beabsichtigt ist und ein normaler Benutzer es bemerkt? 50 Alle Abfragen wurden im August 2016 durchgeführt und beziehen sich auf alle öffentlichen Korpora des Archivs W (W-öffentlich). <?page no="128"?> 128 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft vertrauen. Kommt das nicht dem Ratschlag nahe, das Denken lieber den Pferden zu überlassen, weil sie die größeren Köpfe haben? “ (ebd.: 58; Hervorhebung im Orig.) Informationsgesellschaft ist zwar kein Neologismus der 1990er Jahre, aber doch ein noch verhältnismäßig junges Wort, das in DeReKo erstmals 1977 belegt ist. Es gehört ebenfalls in den Bereich Ökonomie, wie sich der Liste typischer Kookkurrenzpartner, der Wörter, die häufig gemeinsam mit dem Ausdruck vorkommen, entnehmen lässt: global, Übergang, Wandel, Industrie, Industriegesellschaft, Wissen, Urheberrecht, Zeitalter, Herausforderung, Weltgipfel, Aufbruch, vernetzen, vernetzt, Innovation, Weg, Technologie, Vision, Schutzrecht, Datenautobahn, Globalisierung, Wissensgesellschaft, postindustriell 51 DeReKo enthält insgesamt 9.166 Belege für Informationsgesellschaft. Bis 1990 erscheint der Ausdruck fast nur (54 von 55 Texten) in der Wochenzeitung Die Zeit, einer Art Zentralorgan des Bildungsbürgertums. Beim ersten Beleg handelt es sich gleich um einen kritischen Text, einen Offenen Brief an den Bundespräsidenten (damals Walter Scheel) mit dem Titel Schutz dem Bürger-- Widerstand den Verwaltern. Auf dem Weg in die computergesteuerte Gesellschaft. 52 Er stammt von dem Redakteur und Schriftsteller Gerd E. Hoffmann. Dieser „vertritt das PEN -Zentrum Bundesrepublik in Fragen des Einsatzes von Computern. Unter seiner Mitverantwortung fand im November 1974 die erste wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft in Westeuropa zu diesem Thema statt. Sein Buch ‚Computer, Macht und Menschenwürde‘ gilt als die wichtigste einschlägige Veröffentlichung.“ (Informationen der Redaktion über den Autor) „Wir, das heißt die industrialisierten Gesellschaften gleich welcher Wirtschaftsordnung, haben uns bereits auf den Weg in die ‚Informationsgesellschaft‘ begeben. Diese Informationsgesellschaft wird maßgeblich geprägt von jener Erfindung, die wir undifferenziert Computer nennen.- […] Uns darf-[…] nicht gleichgültig sein, daß sich diese ungewöhnlich schnelle Entwicklung über die Köpfe der Mehrzahl aller Bürger hinweg vollzieht, ihnen das Mitreden aus Unkenntnis über die gigantischen Möglichkeiten der Computer und über 51 Nach http: / / corpora.ids-mannheim.de/ ccdb/ ; <6. 11. 2017> 52 www.zeit.de/ 1977/ 17/ schutz-dem-buerger-widerstand-den-verwaltern; <6. 11. 2017>. Dem Artikel ist ein Motto von Georg Büchner vorangestellt. Der Titel ist eine Anspielung auf dessen illegal gedruckte Schrift Der Hessische Landbote (1834), die den Aufruf enthält: Friede den Hütten! Krieg den Pallästen! <?page no="129"?> 129 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft die von ihm ausgehenden vielfältigen Wirkungen unmöglich gemacht wird. Uns darf auch nicht gleichgültig sein, daß im vielgerühmten Wissenschaftszeitalter hilfreiche Untersuchungen zu den Folgen der Informationstechnologie bisher kaum vorliegen, ja, die meisten Fachbereiche sich noch gar nicht der zur Lösung anstehenden komplexen Problematik bewußt sind. Es darf außerdem nicht gleichgültig sein, daß ähnliche Unkenntnis und ähnlich mangelndes Problembewußtsein auch bei der Mehrzahl unserer gewählten Politiker anzutreffen ist. Denn sie werden jetzt und künftig eine Vielzahl bildungspolitischer, kulturpolitischer, arbeitspolitischer, sozialpolitischer und im weiten Sinne gesellschaftspolitischer Weichenstellungen vornehmen müssen, die ihrerseits darüber entscheiden, ob demokratische Willensbildung künftig überhaupt noch möglich, ob eine ‚Demokratie der Informierten‘ noch zu verwirklichen ist; oder ob wir eines nicht sehr fernen Tages in einer informationstechnologisch begründeten Oligarchie aufwachen, Herrschaft von wenigen den Bürger zum Untertan macht.“ (Hervorhebungen K. A.) Auch für die weiteren Belege dieser ersten Phase sind problematisierende Aussagen typisch. Beide Ausdrücke-- bzw. die entsprechenden Referenten-- sind also von Anfang an umstritten, aber das liegt nicht an ihrer Fachsprachlichkeit. Sie haben von der Form her nichts irgendwie Fremdartiges an sich, lassen sich unter Rückgriff auf alltagsweltliche Erfahrungen relativ leicht interpretieren und sind offenbar tatsächlich eher im öffentlichen Diskurs geprägt worden oder haben zumindest von hier aus ihre Karriere gemacht. Wieso werden sie im DUW der Soziologie zugewiesen? Das entspringt dem Prinzip, dass für bestimmte Sachbereiche bestimmte Disziplinen als (in erster Linie) ‚zuständig‘ gelten. Für alle x-Gesellschaften ist das die Soziologie, die u. a. gesellschaftliche Formationen, Typen von Gesellschaften zum Gegenstand hat. So wie die Linguistik im Prinzip für alle x-Sprachen zuständig ist. Relevant ist nicht so sehr, woher die Ausdrücke kommen, wer sie geprägt hat, zumal das nicht unbedingt auf der Hand liegt, sondern teilweise einiger Recherchen bedarf. Tatsächlich von Soziologen geprägt wurden die Konzepte Risikogesellschaft (Beck 1986) und Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992). Im DUW ist nur der erste der Soziologie zugewiesen, der zweite ist nicht markiert. Der Ausdruck, der tatsächlich am Anfang des Diskurses um die Wissensgesellschaft steht, ist Wissensarbeiter. Er stammt ebenfalls vom ‚Erfinder‘ der Wissensgesellschaft Peter Drucker. Im DUW erscheint der Ausdruck nicht, in DeReKo liegt er mit insgesamt 376 Treffern (seit 1993) weit hinter den beiden anderen zurück. Eine Enzyklopädie zur Wirtschaftsinformatik belehrt uns darüber, <?page no="130"?> 130 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft dass es verschiedene Definitionen von Wissensarbeiter gibt, diese aber auf jeden Fall einen bedeutenden Anteil an der arbeitenden Bevölkerung ausmachten. Wissensarbeiter „Wissensarbeiter sind diejenigen Arbeiter, die nicht für ihre körperliche Arbeit und manuellen Fähigkeiten entlohnt werden, sondern für die Anwendung ihres erworbenen Wissens. Wissensarbeiter (engl. ‚Knowledge Worker‘) ist ein Begriff, der 1959 von Peter Drucker in seinem Buch ‚The Landmarks of Tomorrow‘ in die Literatur eingeführt wurde und bezeichnet in seiner ursprünglichen Bedeutung diejenigen Arbeiter, die nicht für ihre körperliche Arbeit und manuellen Fähigkeiten bezahlt werden, sondern für die Anwendung ihres erworbenen Wissens-[…]. Die von verschiedenen Forschern im Laufe der Zeit weiter elaborierten Definitionen von ‚Wissensarbeitern‘-[…] sind ebenso mannigfaltig wie Angaben über den Anteil der Wissensarbeiter an der gesamten werktätigen Bevölkerung. Dennoch besteht schon seit den ersten Publikationen zu Wissesensarbeitern [sic] Einstimmigkeit darüber, dass Wissensarbeiter einen bedeutenden Anteil der heutigen Informations- und Wissensgesellsschaft [sic] ausmachen.-[…]“ (Fischbach 2008) Diese Deutung hat sich aber noch nicht ‚offiziell‘ durchgesetzt, d. h. in der Welt der Praktiker, die Statistiken zu den Wirtschaftsdaten anfertigen (Abb. 3.3 und 3.4), ‚gibt es diesen Wirtschaftssektor nicht‘. 3.2.3. Informations- und Wissensgesellschaft aus Sicht der Soziologie Für Soziologen ist es typisch, dass sie den Gestus des Hinterfragens einnehmen. Dies tut Hans-Dieter Kübler in seiner Übersicht über die Diskussion der Ausdrücke Informations- und Wissensgesellschaft. Er kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis: „Versucht man auch nur ein vorsichtiges und kursorisches Fazit über die-[…] Argumentation und Theoriebildung der Wissenssoziologie, lässt sich substantiell kaum etwas Gemeinsames und Verbindliches festhalten“ (Kübler 2009: 115). „Wissen [bleibt] nach wie vor ein analytisch intransparentes, diffuses Phänomen, das eher beschworen, mystifiziert wird, als es hinreichend erforscht ist. Nicht nur in populären, sondern auch in wissenschaftlichen Untersuchungen setzt man es oft genug als selbstverständliche, vermeintlich faktische Kategorie heraus oder definiert es-[…] oberflächlich bis tautologisch, spezifiziert und typologisiert es sogleich lieber, <?page no="131"?> 131 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft als dass man sich seiner prinzipiell humanen, vom Subjekt nicht trennbaren Qualität analytisch versichert.“ (ebd.: 118; Hervorhebungen K. A.) Er selbst hält es für „derzeit einigermaßen gerechtfertigt,-[…] die Begriffe ‚Informations-‘ und ‚Wissensgesellschaft‘ eher noch als Mythen zu verstehen-[…-d. h.] weithin irrational oder gar transzendent geschöpfte Gedankengebäude/ Konstrukte oder Vorstellungswelten zur Legitimation unerklärlicher Zusammenhänge, die man glauben möchte, ohne sie durchschauen zu können“ (Kübler 2009: 8; Hervorhebungen K. A.). Nichts könnte dem Anspruch einer modernen Gesellschaft, zumal einer demokratischen, in der politische Entscheidungen zu legitimieren sind, mehr zuwiderlaufen als die Diagnose, dass sie von ‚weithin irrationalem‘ Handeln geprägt ist und den nicht wirklich verstandenen und beherrschbaren Problemen mit Mythen begegnet. Zugleich trifft diese zugespitzte Beurteilung wahrscheinlich recht gut das vage Gefühl, dass in einer Gesellschaft etwas nicht stimmen kann, in der Rationalität und Wissenschaftlichkeit so hoch gehalten werden, man aber allzu oft mit Ereignissen und Entscheidungen konfrontiert ist, die dem gesunden Menschenverstand eklatant zuwiderlaufen (vgl. 3.2.1.). Kübler steht mit seiner Einschätzung nicht allein. Die Annahme eines Epochenbruchs ist höchst umstritten, und die Rede von der Wissensgesellschaft wird von anderen als Fehldiagnose (Bittlingmayer / Tuncer 2010) oder auch self-fulfilling prophecy (Schützeichel 2010) apostrophiert. Bittlingmayer sieht in ihr eine „wirkmächtige Ideologie“, die eine neoliberale Weltsicht zementiere (Bittlingmayer 2005: 329). Innerhalb der Soziologie geht es also gerade um die Frage, welcher Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft zukommt. Ähnlich wie man geradezu beliebig viele x-Sprache-Komposita bilden kann, von denen allerdings die wenigsten aus der Linguistik stammen, gehören auch x-Gesellschaft-Komposita zu einem höchst produktiven Muster. Zuständig für die so kreierten Entitäten scheint die Soziologie (s. 3.2.2.). Den Sachbereich bzw. das Bestimmungswort Wissen kann man dagegen gewiss keiner spezifischen Disziplin zuordnen; eher lässt sich schon fragen, ob es überhaupt eine Disziplin gibt, die dafür gewiss nicht in irgendeiner Weise zuständig wäre: „Wissen begegnet uns in vielfältigen Formen: als lebensweltliches Routinewissen bei alltäglichen Verrichtungen, als theoretisches Wissen verschiedener Wissenschaften, als so genanntes Allgemeinwissen, das in Quizshows in bare Münze umgesetzt wird. Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch andere gesellschaftliche Teilsysteme-- etwa <?page no="132"?> 132 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft Wirtschaft, Politik und Kunst-- sind mit der Erzeugung, Speicherung und Nutzung von Wissen beschäftigt. In Organisationen entsteht unter anderem technisches und bürokratisches Wissen, die ‚lernende Organisation‘ wird zum Erfordernis erhoben, um global konkurrenzfähig zu bleiben. Das Potential des ‚Web 2.0‘ wird wahlweise überhöht (als egalisierender Wissensmultiplikator) oder abqualifiziert (als Verdummungsmedium). Weiterhin erleben wir mit, wie bestimmtes Wissen als ‚wissenswert‘ bezeichnet und über einen Bildungskanon gestritten wird. Neben dem Spezialwissen, das uns die Berufswelt abfordert, ist Wissen zu jeder Sekunde des intersubjektiv geteilten Alltags wichtig: Menschen verarbeiten tagtäglich die Eindrücke ihrer Umwelt im Medium Sinn, die eigenen Handlungen und die Deutung der Handlungen unserer Mitmenschen beruhen auf Annahmen, die Teil eines gesellschaftlichen Wissensvorrates sind (Berger / Luckmann 2004 [= 1980]). Kurz: Wissen ist ubiquitär auf Makro-, Meso-, Mikroebene. Es ist nahezu trivial zu sagen, Wissen sei bedeutend für soziale Strukturen-- es liegt auf der Hand. Leben wir in einer Wissensgesellschaft? Angesichts der Vielfalt kollektiven und individuellen Wissens, die sich uns in diesem kurz umherschweifenden vorwissenschaftlichen Blick auf die Gegenwart bietet, spricht einiges dafür. Dagegen spricht, dass Wissen anscheinend schon immer ein elementarer Bestandteil der conditio humana gewesen ist, bedeutsam für das Denken und Handeln der Menschen zu allen möglichen Zeiten und an allen möglichen Orten.“ (Kajetzke / Engelhardt 2010: 7 f.; Kursivierungen im Orig.; Fettdruck K. A.) Mit diesem Panorama leiten Kajetzke / Engelhardt das von ihnen herausgegebene Handbuch Wissensgesellschaft (2010) ein, das eine Orientierung in der Vielfalt der Forschungszweige gewähren soll, die sich mit diesem Objekt befassen. Dazu gehören auch kritische Stellungnahmen, die eben das Objekt als Mythos bzw. Konstrukt zu entlarven suchen. Viele Autoren weisen etwa darauf hin, dass konkrete Erscheinungen, die zur Rechtfertigung angeführt werden (wie insbesondere die zunehmende Technisierung) schon viel früher eingesetzt haben und es sich um kontinuierliche Prozesse handelt. Auch könne man schon bei Karl Marx nachlesen, dass das gesellschaftliche Wissen zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist. Bittlingmayer und Tuncer kommen in ihrem Aufsatz Wissensgesellschaft-- Eine folgenschwere Fehldiagnose? (2010) daher in Bezug auf die Wissensgesellschaftsdiagnose zu dem bündigen Schluss: „Klar ist, dass ein Globalurteil über dieses augenblicklich populärste zeitdiagnostische Label im Sinne einer Existenzialaussage-[…] weder sinnvoll noch möglich ist. Zu vielfältig sind die Bezugsdisziplinen und die theoretischen Hintergrundmodelle, als <?page no="133"?> 133 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft dass sich eine allgemeine Aussage darüber, ob es ‚die Wissensgesellschaft‘ gibt (oder ob sie ihre Schatten voraus wirft) vernünftig treffen lässt.“ (Bittlingmayer / Tuncer 2010: 347; Hervorhebungen K. A.) Also müsste man die Frage eigentlich der weiteren Theoriedebatte in der Soziologie überlassen und sich außerdem der Einsicht öffnen, darüber könne man ohnehin „nicht aus zeitgenössischer, sondern nur aus retrospektiver Sicht entscheiden“ (Kübler 2009: 8). Dies hieße allerdings, die Frage, was Wissen ist und ob es angemessen ist, mit einer neuen Gesellschaftsformation namens Wissens-, Informationsgesellschaft o. Ä. zu rechnen, als eine rein akademische zu behandeln. Dazu äußern sich verschiedene Autoren des Handbuchs Wissensgesellschaft- - mit übrigens bemerkenswerten Formulierungen. „Aber wie das ‚Wissen‘ selbst, so wanderte im Laufe der letzten Jahrzehnte auch der Terminus der ‚Wissensgesellschaft‘ aus der Wissenschaft aus und wurde zu einem öffentlichen Leitbegriff. Aus einem wissenschaftlichen Konzept wurde eine weithin benutzte Selbstbeschreibungsformel, die viele [Menschen aus] Funktionsbereichen wie der Politik, der Bildung und der Ökonomie übernahmen. Die Formel der ‚Wissensgesellschaft‘ wird selbst zu einem Akteur in diesem Geschehen- […]“ (Schützeichel 2010: 326; Hervorhebungen K. A.) „[…] sozialwissenschaftliche Konzepte [haben] die Angewohnheit zur Verselbstständigung-- es ist nicht kontrollierbar, ob sie als terminus technicus im Wissenschaftssystem verbleiben oder in die Gesellschaft diffundieren, um dort als Deutungsmuster verwendet und womöglich sogar verändert [! ] zu werden.“ (Kajetzke / Engelhardt 2010: 10; Hervorhebungen K. A.) Bemerkenswert ist zunächst, dass wissenschaftliche Konzepte als quasi selbsttätige Wesen erscheinen, zu deren (schlechten) Angewohnheiten es gehört herumzuwandern. Ernsthafter gesprochen: Es kommt hier die schon in 3.1. erwähnte Auffassung zum Ausdruck, vom Nicht-Fachmann gebraucht hätten Termini keinen Bezug zum fachlichen Denken, so dass Nicht-Experten sie am besten gar nicht erst in den Mund nehmen sollten. Ja, es klingt gar die Vorstellung an, es wäre besser, wenn sie (und gar noch das Wissen selbst) im viel beschworenen Elfenbeinturm der Wissenschaft verblieben und die Wissenschaftler die Kontrolle über sie behielten. Dazu passt, dass Wissensgesellschaft in beiden Fällen als Terminus (technicus) vorgestellt wird. Darunter versteht man eigentlich einen (relativ) präzise definierten Ausdruck, der im Rahmen <?page no="134"?> 134 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft professioneller fachlicher Arbeit ausdrücklich geprägt und in ein terminologisches System eingeordnet wird (Abb. 5.14). Nun zeigt schon die innerwissenschaftliche Diskussion, dass es den Ausdrücken Informations- und Wissensgesellschaft gerade an Klarheit mangelt. Aus 3.2.2. lässt sich ferner entnehmen, dass ihre Verwendung im öffentlichen Diskurs, in den Medien, viel entscheidender ist als die innerwissenschaftliche-- zumal die Ausdrücke gar nicht aus der Soziologie stammen. Wir haben es also gewiss nicht mit Termini in irgendeinem strengen Sinne zu tun. Daher dürfte die Charakterisierung als Terminus eher dazu dienen, einem Anspruch der Wissenschaftler Ausdruck zu verschaffen: Eigentlich ‚gehört‘ dieses Wort ihnen, sie haben ein Anrecht darauf, ihre Kreation bei sich zu behalten. Sie scheinen wenigstens irritiert darüber zu sein, dass es nicht im Bezugssystem der Wissenschaftler verbleibt, sondern auch andere Sprachteilhaber es verwenden. Dies ist eine Vorstellung, die mit der Autonomie der Wissenschaften rechnet. Falls diese überhaupt je angemessen gewesen sein sollte, in der Gegenwart ist sie es gewiss nicht. Wenn nämlich irgendetwas an der Idee richtig sein sollte, wir befänden uns an der Schwelle eines neuen Zeitalters, dann muss die Gesellschaft, speziell die Politik darauf reagieren. Es wäre geradezu fahrlässig, dies nicht zu tun. In Bezug auf so relevante Sachgebiete wie die Selbstorganisation der Gesellschaft ist die Vorstellung, darüber sollten sich nur Experten austauschen, geradezu absurd. Sprachliche Ausdrücke, fachliche und nicht-fachliche, sind tatsächlich ‚frei verfügbares Gut‘. Sie gewinnen und verändern ihre Bedeutung durch den Gebrauch, den die Sprachteilhaber davon machen. Für unseren Kontext ist nun besonders relevant, dass die Frage, wer einen Ausdruck wie benutzt, nicht nur seine Semantik betrifft, sondern auch die Pragmatik: Wozu wird der Ausdruck verwendet? Für die Wissenschaft unterstellen nicht nur die zitierten Autoren, der (dominante) Verwendungszweck ihrer Sprache bestehe in der Beschreibung, Erklärung, Interpretation der Welt. Wenn nun Fachbegriffe in die Gesellschaft, insbesondere in den politischen Bereich, ‚diffundieren‘, dann bedeutet das vor allem, dass sich der (dominante) Verwendungszweck von Sprache radikal ändert: Die Welt soll nicht beschrieben, sondern gestaltet werden. Als öffentlicher Leitbegriff haben Ausdrücke wie Wissensgesellschaft einen fundamental appellativen Charakter. „Der Diskurs der Wissensgesellschaft übt einen gravierenden Einfluss auf nahezu alle wichtigen Politikfelder von modernen Gesellschaften aus. Diese werden dazu <?page no="135"?> 135 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft aufgefordert, sich den Herausforderungen der Wissensgesellschaft zu stellen und adäquate Handlungsstrategien in der Bildungs-, Forschungs-, Integrations- und nicht zuletzt in der Einwanderungspolitik zu entwickeln. Um beispielsweise dem [sic] kontinuierlich steigenden Wissensbedarf der modernen wissensintensiven Ökonomie zu bedienen, beteiligt sich Deutschland seit einigen Jahren aktiv an dem internationalen ‚Kampf um die besten Köpfe‘- […]. Diese Beteiligung beeinflusste unmittelbar die deutsche Migrationspolitik und hat zu einer richtungswiesenden [sic] Änderung geführt. Unter Rückgriff auf unterschiedlichste Strategien wie z. B. ‚human capital approach‘, ‚labour market needs approach‘, ‚business incentives approach‘ sowie ‚academic-gate approach‘- […] ist Deutschland bestrebt, hochqualifizierte soziale Wissensträger für die territorial ansässigen Wissensökonomien, Forschungseinrichtungen und Universitäten zu gewinnen.“ (Bittlingmayer / Tuncer 2010: 354 f.; Hervorhebungen K. A.) Wenn man von den Herausforderungen der Wissensgesellschaft spricht, dann behauptet man nicht, dass es diesen Gesellschaftstyp gäbe, man stellt nicht einmal die Frage danach, ob das der Fall ist oder nicht-- es ist eben keine akademische Frage. Vielmehr präsupponiert man dies als Tatbestand, d. h. man unterstellt, dass es einer adäquaten Situationsdeutung entspricht, die Wissensgesellschaft als existierendes bzw. herannahendes Phänomen zu behandeln; man verhält sich so, als ob das angemessen sei, legt diese Deutung den Handlungen zugrunde. In diesem Sinne kann man sagen, die Wissensgesellschaft sei auf jeden Fall eine soziale Realität, die das Handeln bestimmter Akteure leitet. Genau diese Argumentation bringen die Herausgeberinnen des Handbuchs Wissensgesellschaft vor, und zwar um ihr Unternehmen als auch wissenschaftlich legitimes zu rechtfertigen. Auch sie handeln offenbar unter der Voraussetzung, Wissenschaft habe zu beschreiben und nicht zu werten. Deswegen möchten sie sich selbst ideologisch lieber nicht festlegen. Das gelingt ihnen dadurch, dass sie für sich die Beobachterperspektive reklamieren, also als Soziologinnen eine Metaperspektive einnehmen: Selbst wenn es sich bei der Wissensgesellschaft um einen Mythos, eine Fiktion, eine Fehldiagnose oder jedenfalls um ein Etwas handeln sollte, das wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen ist, darf man sich mit ihr als sozialer Realität beschäftigen. „Als skeptische Soziologinnen nehmen wir eine für unsere Disziplin typische Denkbewegung vor: Wir hinterfragen zunächst die Frage selbst [die Frage nämlich, ob wir in einer Wissensgesellschaft leben]. <?page no="136"?> 136 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft Wirklich ist die Wissensgesellschaft für uns insofern, als dass sie als theoretischbegriffliches Konstrukt existiert und in verschiedene Bereiche der Gesellschaft als Deutungsmuster Eingang gefunden hat, wo sie erkennbare Auswirkungen zeigt. Auch gibt es wirkliche Akteure, die ihre Welt als eine Wissensgesellschaft erleben und beschreiben; dies gilt für wissenschaftliche wie für nichtwissenschaftliche Akteure gleichermaßen.-[…] In den Beiträgen soll es weder darum gehen, theoretischen und empirischen Apologeten dieser Zeitdiagnose affirmativ das Wort zu reden, noch darum, per se eine ablehnend-widerständige Haltung einzunehmen. Dass die Wissensgesellschaft als Konzept erfolgreich ist und Eingang in politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und massenmediale Diskurse findet, ist soziologisch untersuchenswert- - und die Frage, warum dies der Fall ist, ist ebenso für Forschende aus dem Bereich der Pädagogik, den Kulturwissenschaften, der Politikwissenschaft, der Philosophie sowie für andere Interessierte und Neugierige relevant und spannend.“ (Kajetzke / Engelhardt, 2010: 8 / 11; Hervorhebungen K. A.) Für die nicht-wissenschaftlichen Akteure aus Politik und Ökonomie geht es dagegen von vornherein nicht um die wissenschaftliche Haltbarkeit des Konstrukts. Sie benutzen es, um ihre Deutungen, Pläne und Entscheidungen zu legitimieren. Diese Interpretationen, Beschlüsse und Handlungen stellen jene ‚erkennbaren Auswirkungen‘ dar, von denen Kajetzke und Engelhardt sprechen. Diese Akteure beschreiben die Welt nicht, sondern verändern sie. Das lässt sich sehr gut an der sog. Lissabon-Strategie nachvollziehen, die der Europäische Rat 2000 verabschiedet hat. „1. Die Europäische Union ist mit einem Quantensprung konfrontiert, der aus der Globalisierung und den Herausforderungen einer neuen wissensbasierten Wirtschaft resultiert. Diese Veränderungen wirken sich auf jeden Aspekt des Alltagslebens der Menschen aus und erfordern eine tiefgreifende Umgestaltung der europäischen Wirtschaft.-[…] 2.-[…] Deshalb muß die Union ein klares strategisches Ziel setzen und sich auf ein ambitioniertes Programm für den Aufbau von Wissensinfrastrukturen, die Förderung von Innovation und Wirtschaftsreform und die Modernisierung der Sozialschutz- und Bildungssysteme einigen.-[…] (Europäischer Rat 2000; Hervorhebungen K. A.) 5. Die Union hat sich heute ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt: das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen- - einem Wirtschaftsraum, der <?page no="137"?> 137 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.“ (Europäischer Rat 2000; Hervorhebungen im Orig.) In dem Dokument ist zunächst noch vom „Übergang zu einer digitalen, wissensbasierten Wirtschaft“ die Rede, sie ist also noch nicht (ganz) da. Die Strategie besteht nun gerade darin, die Vorstellung einer solchen Gesellschaft durch geeignete Maßnahmen zur Realität zu machen. Daher formuliert der Europäische Rat Aufforderungen- - an die Kommission, den Rat und die Mitgliedstaaten. U. a. „werden der Rat und die Kommission ersucht, einen umfassenden „‚eEurope‘-Aktionsplan zu erstellen, der dem Europäischen Rat im Juni dieses Jahres vorzulegen ist“. In diesem geht es darum, die materiellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Voraussetzungen für eine durchgreifende Digitalisierung der Mitgliedstaaten zu schaffen sowie geeignete „Investitionen in Menschen und Fertigkeiten“ einzuleiten. Die Realität wird gemacht, und einige Jahre später kann man dann vielleicht schon mit einem größeren ‚Wahrheits‘anspruch feststellen: „Die Wissensgesellschaft ist eine dauerhafte Erscheinung“ ( BMBF 2010: 15). Es bleibt natürlich dabei, dass es sich um eine als unfraglich behandelte Annahme handelt, die in erster Linie der Legitimation politischer Entscheidungen und Handlungen dient. Nun sind allerdings unhinterfragte Annahmen kein Spezifikum für politisches Handeln, sondern für Handeln schlechthin. Handeln erfolgt immer in Deutungsrahmen, denen allerlei Voraussetzungen, Konzepte, Kategorien, Methoden und auch Wertvorstellungen zugrunde liegen. Diese lassen sich zwar prinzipiell hinterfragen, für eine gegebene Zielsetzung werden sie aber einfach als gültig unterstellt. Das betrifft auch wissenschaftliches Handeln (vgl. 1.2.) sowie den Umgang mit Wissenschaft, u. a. die Frage, ob verschiedene Fächer einen unterschiedlichen (gesellschaftlichen) Wert haben. Sie wurde schon von Immanuel Kant unter dem Titel Der Streit der Fakultäten (1798) behandelt. Relevant ist die Frage nach dem Wert von Fächern unter praktischen Gesichtspunkten, speziell für die Bildungs- und Wissenschaftspolitik und das Streitobjekt Wissensgesellschaft. Für die betroffenen Wissenschafts- und Berufszweige wirken sich die Antworten nämlich unmittelbar aus: Welche von ihnen sind besonders geeignet, den „Bedarf der Wissensgesellschaft“ zu befriedigen? Welche dürfen daher mit staatlicher Förderung rechnen? Der öffentliche Leitbegriff Wissensgesellschaft setzt wirtschaftliches Wachstum und technische Innovation als zentrale Werte. <?page no="138"?> 138 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft Man kann nicht nur den Wert dieser Werte infrage stellen, sondern auch die argumentative Herleitung. Das geschieht besonders bei Bittlingmayer (2005), dem es v. a. darum geht aufzudecken, dass es sich um eine „naturalisierende“ Konzeption gesellschaftlicher Prozesse handelt. Die durch die Lissabon-Strategie angeschobene Digitalisierung Europas ist dafür ein besonders bezeichnendes Beispiel. Im politischen Diskurs wird die Technikentwicklung als ursächlich für den Weg in die Wissensgesellschaft inszeniert und scheint dem Einfluss der Politik entzogen. Sie ist aber (auch) das Ergebnis politischer Entscheidungen. „Die Technikentwicklung ist-- gerade im High Tech-Bereich-- alles andere als zufällig, sondern Resultat strategischer Entscheidungen einer Vielzahl einbezogener Akteure (Wissenschaftler, Unternehmen, politische Akteure, Hochschulen und Forschungszentren). Technologische Entwicklung fällt nicht vom Himmel-[…], sondern [ist] unter anderem abhängig von Forschungsmittelvergabe, politischen Opportunitäten, Marktpotenzialen und öffentlichkeitsrelevanten Diskursen-[…]. Die technologische Entwicklung ist also nicht einfach da, sondern sie wird geplant hergestellt. […] Sobald- […] die sozialen Konstitutionsbedingungen technologischer Entwicklung ausgeblendet werden, wird sie als außersoziale Größe verhandelt und auf diese Weise naturalisiert.“ (Bittlingmayer / Tuncer 2010: 347; Hervorhebungen K. A.) Das Gleiche gilt für die Wirtschaftsentwicklung. Das Jahr 2010 liegt hinter uns, die in der Lissabon-Strategie für dieses Datum formulierten Ziele konnten nicht erreicht werden. Inzwischen gibt es ein neues Strategiepapier, Europa 2020, in dem der damalige Präsident der Europäischen Kommission die internationale Finanzkrise für die nicht gelungene Umsetzung verantwortlich macht. „Wie die weltweiten Folgen der Finanzkrise gezeigt haben, verändert sich die wirtschaftliche Wirklichkeit schneller als die politische. Wir können nicht umhin anzuerkennen, dass die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung auch nach einer entschlosseneren und kohärenteren Antwort der Politik verlangt. In den vergangenen zwei Jahren haben Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Die angehäuften Schulden werden noch viele Jahre auf uns lasten. Die Krise hat auch neue Bedrohungen des sozialen Zusammenhalts mit sich gebracht und die fundamentalen Herausforderungen, denen sich die europäische Wirtschaft gegenübersieht, schonungslos offengelegt. Die Weltwirtschaft wartet nicht auf uns. Sie schreitet voran. Unsere Zukunft hängt davon ab, wie Europa reagiert.“ (Europäische Kommission 2010, Vorwort von José Manuel Barroso) <?page no="139"?> 139 3.2. Der Wirklichkeitsstatus der Wissensgesellschaft Die Krise ist zweifellos eine Realität und kein Mythos, der Umgang damit allerdings von derselben naturalisierenden Konzeption geprägt. Auch sie wird behandelt wie ein Tsunami, eine Naturerscheinung, für die niemand verantwortlich ist. Es muss geradezu willkommen sein, dass es sich bei der Finanzkrise um eine internationale Erscheinung handelt, die sich der Kontrolle von Einzelstaaten, aber auch eines Staatenverbundes wie der EU zu entziehen scheint. „Gesellschaftliche Zustände werden- […] so konzeptionalisiert, dass sie mit dem Handeln sozialer Akteure nicht verbunden zu werden brauchen. Hierfür stehen die Chiffren ‚Globalisierung‘ oder eben ‚Wissensgesellschaft‘. Wissensgesellschaften und die technologische Entwicklung werden [nach dieser Auffassung] nicht gemacht, sie sind einfach da.“ (Bittlingmayer / Tuncer 2010: 351 Hervorhebungen im Orig.) Auch die Weltwirtschaft scheint nach Barroso wie ein unbeherrschbares Wesen von selbst voranzuschreiten, als gäbe es keine Welthandelsorganisation ( WTO ), in der die EU und ihre Mitgliedstaaten ein besonderes Gewicht haben. Staatliche und internationale Organe wirken wie Getriebene, die auf Entwicklungen immer nur re-agieren können. Sie erleben dies sogar selbst als einen Kontrollverlust. Es drängt sich auf, sie als Zauberlehrlinge zu betrachten, die den Besen losgeschickt haben, ihn jetzt aber nicht mehr zum Stehen bringen können. „Von entscheidender Bedeutung ist zunächst ein enges Verhältnis zwischen der Konzeptionalisierung eines autonomen Modernisierungsprozesses einerseits und einem implizit oder explizit behaupteten Kontrollverlust politischer Akteure. Dieser unterstellte Kontrollverlust dient vorderhand zur Rechtfertigung von Deregulierungspolitiken, wie sie sich im Zuge der neoliberalen Wende seit Thatcher, Reagan und Kohl vollzogen haben-[…].-[…] durch politische Entscheidungen wie beispielsweise durch die Maastrichter-Rahmenverträge [werden] spezifische Strukturvorgaben gesetzt-[…], deren Umsetzungszwang auf nationalstaatlicher Ebene Handlungszwänge [man erinnere sich an TINA ] schafft, die als Kontrollverluste wahrgenommen und beschrieben werden.- […] Auf der Grundlage unmittelbarer politischer Entscheidungen entziehen die Akteure des politischen Feldes sich selbst Handlungsmacht und Handlungsräume, die kurze Zeit später als Kontroll- und Steuerungsverlust des politischen Systems wahrgenommen und auch so thematisiert werden. Interessant ist hierbei auch, dass-[…] diese Entwicklung nur in eine Richtung denkbar ist. Eine Umkehrung im Sinne einer Wiederherstellung politischer Kontrolle durch gemeinsame politische Entscheidungen scheint konzeptionell unmöglich.“ (Bittlingmayer 2005: 74; Hervorhebungen K. A.) <?page no="140"?> 140 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft Während das Handeln der politischen Akteure geradezu akribisch analysiert wird, ist eine reflexive Wendung nicht zu erkennen. Hinterfragen lässt sich aber auch das Handeln der Soziologie. Sofern sie dem Beschreibungs- und Autonomiepostulat folgt, entzieht sie sich ebenso selbst Handlungsräume, wie das die Politiker tun. Während (manche) Politiker bestreiten, Verantwortung zu tragen, behaupten (manche) Wissenschaftler, in einem wertfreien Raum handeln zu können. Der Wert der Wertfreiheit verbietet, sich ideologisch festzulegen. Damit würde man sich in gewisser Weise die Hände schmutzig machen und in Gefahr geraten, von Politik oder Wirtschaft instrumentalisiert zu werden. Inszeniert sich eine solche Wissenschaft damit nicht selbst als gesellschaftlich irrelevant? Kein Wunder, wenn sie dann ebenfalls einen Kontrollverlust erleidet bzw. dies anscheinend so empfindet: Die Leute benutzen die Ausdrücke einfach, wie es ihnen gefällt! Besonders pikant ist in diesem Fall, dass die Soziologie einer Selbsttäuschung erliegt: Wissensgesellschaft ist kein von ihr kreierter Terminus, es ist überhaupt kein Terminus (vgl. dazu weiter 5.4.2.), sondern wie Informationsgesellschaft ein brisanter Ausdruck aus dem öffentlichen Diskurs, in dem die Gesellschaft sich selbst reflektiert. Die hellsichtige Stellungnahme eines Schriftstellers aus dem Jahr 1977 und die fast durchweg kritische Reflexion der Ausdrücke (vgl. 3.2.2.) belegen das sehr klar. Man könnte also geradezu sagen, Informations- und Wissensgesellschaft seien erst sekundär in die Soziologie ‚eingewandert‘. Diese hat sich dieser Konstrukte jedenfalls erst relativ spät angenommen, reklamiert jetzt jedoch die Deutungshoheit. Einem vergleichbaren Muster folgt auch die Linguistik, wenn sie sagt: Wir wollen nur beschreiben, auf keinen Fall werten, schon gar nicht den sprachnormativen Ansprüchen der Herrschenden das Wort reden. Das macht sie für Normalmenschen uninteressant. Diese bemerken seit eh und je den Sprachverfall und bewerten unentwegt den Sprachgebrauch, sprachliche Varianten und das, was die Linguistik jetzt Varietäten nennt. Denn die Bewertung von Sprechweisen ist ein wichtiges Instrument gesellschaftlicher Selbstorganisation; das gilt auch in subkulturellen Milieus und Sektoren, in denen Gegen-Eliten herrschen. Ebenso wie Sprache für die Erkenntnis unhintergehbar ist, ist sie es auch für die Differenzierung sozialer Gruppen. Beide Sachbereiche, die eigene Gesellschaft wie die Sprache, sind von derart großer gesellschaftlicher Relevanz, dass man sie nicht den Berufsexperten überlässt oder darauf wartet, was diese allenfalls dazu zu sagen haben. Dies umso weniger, als beide Expertengruppen ein besonders schlechtes Image haben. <?page no="141"?> 141 3.3. Wege zum Wissen Die Soziologen stehen, seit der Jargon der Kritischen Theorie vorübergehend den öffentlichen Diskurs beherrscht hat, in dem Ruf, sich ganz speziell kompliziert auszudrücken, über die Köpfe der Normalmenschen hinweg. Auch die Linguistik wird in der Öffentlichkeit wenig geschätzt, insofern sie die alltagsweltliche Sicht auf Sprache, v. a. die Sorge um Sprachverfall und das Bedürfnis nach normativen Aussagen, nicht ernst (genug) nimmt und Sprachpflege für ein unwissenschaftliches Unternehmen hält. In beiden Fällen können die ‚Laien‘ dem Anspruch der Wissenschaftler entgegenhalten: Wenn schon jemandem ein Sachbereich ‚gehört‘, dann den Bürgern die Gesellschaft wie die Sprache den Sprechern. 3.3. Wege zum Wissen Kernelement der Wissensgesellschaft ist das Konzept des Lebenslangen Lernens. Der Bundespräsident Roman Herzog hat den entsprechenden Appell 1997 direkt an die Bürger gerichtet. Dies geschah in der als Ruck-Rede bekannt gewordenen Ansprache, die in der öffentlichen Diskussion um die Wissensgesellschaft eine wichtige Rolle gespielt hat: „Was ist los mit unserem Land? Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression-- das sind die Stichworte der Krise. Sie bilden einen allgegenwärtigen Dreiklang, aber einen Dreiklang in Moll.-[…] Scheinsachverständige mit Doktortitel äußern sich zu beliebigen Themen, Hauptsache, es wird kräftig schwarzgemalt und Angst gemacht. Wissenschaftliche und politische Scheingefechte werden so lange geführt, bis der Bürger restlos verwirrt ist; ohnehin wird die Qualität der Argumente dabei oft durch verbale Härte, durch Kampfbegriffe und ‚Schlagabtausche‘ ersetzt. Und das in einer Zeit, in der die Menschen durch die großen Umbrüche ohnehin verunsichert sind; in einer Zeit, in der der Verlust von eigenem Erfahrungswissen durch äußere Orientierung ersetzt werden müßte.- […] Ich vermisse bei unseren Eliten in Politik, Wirtschaft, Medien und gesellschaftlichen Gruppen die Fähigkeit und den Willen, das als richtig Erkannte auch durchzustehen.-[…] Die einfache Wahrheit ist heute doch: Niemand darf sich darauf einrichten, in seinem Leben nur einen Beruf zu haben. Ich rufe auf zu mehr Flexibilität! In der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts werden wir alle lebenslang lernen, neue Techniken und Fertigkeiten erwerben und uns an den Gedanken gewöhnen müssen, später einmal in zwei, drei oder sogar vier verschiedenen Berufen zu arbeiten.- […] Bildung muß das Megathema unserer <?page no="142"?> 142 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft Gesellschaft werden. Wir brauchen einen neuen Aufbruch in der Bildungspolitik, um in der kommenden Wissensgesellschaft bestehen zu können.-[…] Durch Deutschland muß ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen“ (www.bundespraesident.de/ SharedDocs/ Reden/ DE/ Roman-Herzog/ Reden/ 1997/ 04/ 19970426_Rede.html; <8. 11. 2017>; Hervorhebungen K. A.) Es ist diese Rede, die Schlosser dazu veranlasst hat, Wissensgesellschaft zum Unwort zu erklären (vgl. 3.2.2.). Das Befremdliche dieses Ausdrucks ergibt sich daraus, dass jede Gesellschaft auf Wissen beruht, einerseits solchem, das alle teilen, andererseits dem Spezialwissen, über das jeweils nur ein Teil der Gesellschaftsmitglieder verfügt. Auch das Schlagwort vom Lebenslangen Lernen ist merkwürdig, weil tautologisch, denn: „Leben ist permanentes Lernen“ (Bolder / Hendrich 2000: 12; Hervorhebung im Orig.). Die neue Prägung erweckt v. a. unschöne Assoziationen, die allerdings insofern recht passend sind, als neu die „Zwänge und entsprechende Zumutungen für das Individuum“ sind (Faulstich 2008: 648). Es ist „permanent Umstellungsanforderungen aufgrund ökonomisch geforderter und individuell nicht steuerbarer Anpassungsnotwendigkeiten“ ausgesetzt (ebd.). „Anpassungsnotwendigkeiten“ ergeben sich aber nicht nur im beruflichen Bereich, wo es darum geht, wie Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten können, sondern auch im gesellschaftlichen Miteinander, wo die Menschen als Bürger agieren: Die Demokratie befindet sich in einer Krise (vgl. 3.2.1.). Auch die Alltagswelt ist außerordentlich stark von technischen Neuerungen und der Digitalisierung geprägt, sowohl was den elementaren und privaten Sektor angeht als auch im sich ausweitenden Komplex der Freizeit. Überall müssen die ‚Normalrationen an Wissen‘ (vgl. 2.4.) erhöht werden. Das gesamtgesellschaftlich verfügbare Wissen ist aber so immens und unüberschaubar, dass jedes Ich davon nur einen sehr kleinen Teil in seine Reichweite bringen kann. Zu den Kenntnissen, die ich mir unbewusst und unwillkürlich aneigne oder zu denen ich kommen muss oder will, kann ich auf unterschiedlichen Wegen gelangen. Vorangestellt sei eine grobe Übersicht dazu. <?page no="143"?> 143 3.3. Wege zum Wissen Erfahrung aus Handlungszusammenhängen ▶ Alltag ▶ Beruf ▶ gesellschaftliche Aktivitäten ▶ Freizeitaktivitäten in Interessegebieten formalisierte Ausbildung ▶ vorschulische Bildungsangebote ▶ allgemeinbildende Schulen ▶ spezialisierte Ausbildungsgänge ▷ Berufsausbildung ▷ tertiärer Bereich (Hochschulen) ▷ Weiterbildungsprogramme informelle Weiterbildung und autodidaktisches Lernen ▶ Sachbücher, Enzyklopädien, strukturierte Selbstlernprogramme, Massenmedien, Vorträge-… Grob gesehen entsprechen die drei Bereiche bzw. Aneignungskontexte auch der historischen Entwicklung: Am Beginn stehen Gesellschaften mit gering ausgeprägter Arbeitsteilung, in denen man sich alles notwendige Wissen im Alltag und im direkten Kontakt mit Leuten aneignet, die mehr wissen und können. Es folgen Phasen immer ausgeprägterer beruflicher Spezialisierung, für die formalisierte Ausbildungsgänge geschaffen werden. Inzwischen ist die Spezialisierung so weit getrieben und das für bestimmte Aktivitäten notwendige Wissen ändert sich derart schnell, dass die hergebrachte berufliche Ausbildung nicht mehr hinreichend effizient ist. Daher gewinnen Weiterbildungsprogramme bzw. das ‚lebenslange Lernen‘ ein besonderes Gewicht. Der dritte Aneignungskontext, informelle Bildung, ist historisch insofern relativ spät anzusetzen, als er Alphabetisierung, Massenmedien und hinreichend freie Zeit voraussetzt. Die heute herrschende Standardsicht auf Expertentum und Fachsprachen fokussiert den mittleren Bereich, die institutionalisierte und staatlich kontrollierte Ausbildung. Das zeigt sich besonders darin, dass sie Fachsprachen mit Berufssprachen quasi identifiziert (vgl. die Lexikoneinträge in 1.3.). Freizeitdomänen gelten gar nicht als Fächer (vgl. 2.4.). Damit verbunden sind gewisse Wertsetzungen: Wissen muss zertifiziert sein, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Berufe, die die längste Ausbildung mit den höchsten Abschlüssen, <?page no="144"?> 144 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft verlangen, stehen an der Spitze der Hierarchie. Dadurch wird der Wissenschaft ein besonders hoher Wert zugeschrieben. Diese Sichtweise vernachlässigt die seit dem dritten Viertel des 20. Jahrhunderts erfolgte Bildungsexpansion, durch die immer mehr Menschen in der Schule mit Fachinhalten konfrontiert werden, so dass man bei allen eine ‚Normalration‘ davon voraussetzt. Noch nie war der Durchschnittsmensch so gut ausgebildet wie heute. Bildungsferne Schichten, die bis weit ins 20. Jahrhundert die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, werden daher heute als problematische Randgruppe gesehen. Auch war es noch nie so einfach wie heute, sich außerhalb formalisierter Ausbildungen Zugang zu Wissen zu verschaffen. Dieser dritte Bereich, die informelle und selbstgesteuerte Wissensaneignung, ist mittlerweile in das schulische Curriculum integriert, er hat sich aber ganz unabhängig davon entfaltet und wird das auch weiter tun. Das heißt, dass der Staat die Wissensaneignung nicht mehr kontrollieren kann, der Weg geht nicht mehr nur von oben nach unten, sondern anarchisch in alle Richtungen (vgl. das Interview mit Horton aus 3.2.1.). Diese Wege nutzen auch bildungsferne Schichten, nur setzen sie ganz andere Werte und bestimmen in ihrer Weise, was sie für wissens-wert halten. Auch der erste Weg ist heute noch relevant- - und wird es bleiben. Denn zunächst konstituiert sich jede Gesellschaft über geteiltes Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Dabei spielen zu jedem Zeitpunkt die primären Sozialisationsinstanzen, also in der Regel die Familienverbände, die erste Rolle. Das Kind wächst in die Gesellschaft hinein, es muss zunächst fast alles lernen und ist zu Beginn auf die Versorgung durch andere und lange auf Hilfe angewiesen. Es muss lernen zu essen, zu laufen und sich anderweitig fortzubewegen, seinen Tagesablauf zu organisieren, zweckmäßig mit Gegenständen zu hantieren, es muss nicht zuletzt sprechen lernen und auch, wie man sich angemessen ausdrückt und gegenüber anderen benimmt. Das, was man als allen gemeinsames Alltagswissen betrachten kann, hängt selbstverständlich unmittelbar vom historisch-gesellschaftlichen Kontext ab: Gehörte es früher z. B. zum Alltagswissen, zu welcher Jahreszeit welche Gemüse- und Fruchtsorten geerntet werden, so besteht die korrespondierende Selbstverständlichkeit heute eher darin zu wissen, in welchen Geschäften man was (besonders günstig) einkaufen kann. Kannte man früher Fußwege in der näheren Umgebung, so muss man heute wissen, welche öffentlichen Verkehrs- <?page no="145"?> 145 3.3. Wege zum Wissen mittel es gibt, wie man einen Fahrplan liest und den Automaten für die Fahrkarten bedient. Dies berührt auch die Frage, wie sich das Wissen auf die Generationen verteilt. Während der Umgang mit Smartphones, MP 3-Spielern und Rechnerwolken (Cloud Computing) heute für die Jüngeren zum Alltag gehört, sind viele Ältere mit dem Spezialwissen und den besonderen Fertigkeiten, die man dafür benötigt (z. B. schon bei der Eingabe von Text für SMS ), überfordert. Damit ist der vertikale Weg ‚von oben nach unten‘ im Sinne einer Weitergabe ‚von Generation zu Generation‘ auf den Kopf gestellt: Wenn es überhaupt zur Wissensweitergabe kommt, geht sie eher von unten nach oben. Auch von anderer Seite wird die traditionelle Form der Wissensvermittlung infrage gestellt: Die Existenz von eigens ausgebildeten Experten für alles und jedes geht einher mit der Abwertung des Alltagswissens, das das Handeln früherer Generationen leitete. Das betrifft gerade die elementare Alltagssphäre wie Ernährung, Hygiene, Kindererziehung. Für all dies gibt es heute massenweise Ratgebertexte. Was über Generationen als selbstverständlich galt, die Großmutter-Rezepte für Gerichte, das Einwecken usw., die Hausmittel für Krankheiten, die gewohnte Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern- - alles falsch! Es kommt zur sog. Verwissenschaftlichung der Gesellschaft bzw. dem ‚Einfluss der Fachsprachen auf die Gemeinsprache‘. Diese geht notwendigerweise mit einer Verunsicherung der Laien einher, das Routinewissen der Alltagswelt wird sozusagen grundsätzlich außer Kraft gesetzt. Dies verunsichert nicht nur im Detail, sondern entzieht der ‚natürlichen Einstellung‘ die Grundlage. Damit werden die Prioritäten aus der Alltagswelt des ‚Jedermannbewusstseins‘ (vgl. 2.4.) umgekehrt, die ‚natürliche Einstellung‘, die sich auf praktische Zwecke richtet, wird gewissermaßen zur sekundären, nachrangigen, von der ‚wissenschaftlichen Norm‘ abweichenden. Wie lebt es sich nun mit den ‚wissenschaftlich fundierten‘ Rezepten? Was als besonderer Vorzug der Wissenschaft gilt, der ständige Fortschritt, führt im Alltag fast notwendig zu Misstrauen: Es gibt viel Ratgeberliteratur, die allerdings dauernd neue Trends ausruft. Mitunter wird das Alltagswissen darin sogar wieder aufgewertet und geraten, z. B. bei der Kindererziehung doch besser seiner Intuition zu folgen und v. a. den Versprechungen von Leuten nicht gutgläubig zu folgen, die in erster Linie ‚wissenschaftlich zertifizierte‘ Waren verkaufen wollen. Da man im Internet inzwischen leicht Zugang zu allen möglichen Quellen hat, stößt man unausweichlich auf differente Expertenmeinungen. Das Einzige, was gewiss scheint: Sie wissen es selbst nicht. Anscheinend kann <?page no="146"?> 146 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft man alles und das Gegenteil wissenschaftlich belegen! Schauen wir einmal, was normale Leute im Forum dazu sagen. Das entspricht der Rückkehr zum ersten Weg, dem horizontalen Austausch zwischen Nicht-Experten. Ähnliches ergibt sich in Situationen, in denen man doch Experten braucht. Aber auch Ärzte und Anwälte machen Fehler, wollen v. a. Geld verdienen, haben nur wenig Zeit und hören gar nicht richtig zu. In besonders schwierigen und heiklen Situationen schließt man sich da doch besser zu Selbsthilfegruppen von Betroffenen zusammen, die ähnliche Erfahrungen haben, gewiss nicht eigennützig handeln und wirklich verstehen, wovon man redet. Hier kommt es also wieder zu einer horizontalen Wissensweitergabe (im direkten Kontakt). Das alles ändert natürlich nichts daran, dass Expertenwissen heute wichtiger ist denn je und auch die Wissensweitergabe von oben nach unten vielfach problemlos funktioniert-- die verschiedenen Wege existieren nebeneinander! Vor allem existiert die Wissensaneignung bzw. das ständige Dazulernen neben der Variante, dass man die Erledigung von Aufgaben an Experten delegiert. Wenn ich zuschaue, wie ein Experte etwas herstellt oder repariert, lerne ich im günstigsten Fall genug, um es beim nächsten Mal selbst zu machen. Hier handelt es sich wieder um die Wissensaneignung vom Typ 1, die in konkrete Handlungszusammenhänge eingebettet ist, sei es nun im privaten, beruflichen oder gesellschaftlichen Kontext. In früheren Gesellschaftsformen bestimmte dieser Typ auch die Aneignung von Wissen, das für die Berufsausübung nötig war. Wenn nicht überhaupt der Beruf ‚vererbt‘ wurde, also die Kinder durch Mitarbeit bei den Eltern lernten, so erwarb man die Kenntnisse doch in einer rein praktischen Ausbildung, indem man zu jemandem in die Lehre ging, der den Beruf ausübt. Das Besondere an diesem im persönlichen Kontakt weitergegebenen Wissen besteht darin, dass es engstens in Handlungszusammenhänge eingebunden ist, das Sprachliche sich noch kaum in geschriebenen Texten verselbständigt hat und auch nur einen kleinen Bestandteil der relevanten Kompetenzen ausmacht. Natürlich muss man auch wissen, wie die Dinge und Werkzeuge, mit denen man umgeht, heißen, v. a. geht es aber darum zu wissen, wie man etwas macht. Das wird nicht in erster Linie erklärt, sondern praktisch vor- und nachgemacht oder auch durch Zusammenarbeit gemeinsam entdeckt. Das gilt auch noch für schon sehr spezialisierte Berufe der Neuzeit: „Die meisten Verfahrens- und Gerätebegriffe erforderten für die Praktiker eigentlich keine Verbalisierung, da die Kunst vorwiegend durch Beobachtung und Nachahmung <?page no="147"?> 147 3.3. Wege zum Wissen erlernt wurde, so daß Verfasser von Kunst-Beschreibungen des 16. und 17. Jh. darüber zu klagen hatten, daß viele alterfahrene Handwerker nicht in der Lage waren, ihre Arbeit und ihre Maschinen zu erklären.“ (Polenz II : 374 f., Hervorhebungen im Orig.) Die Verfasser von Kunst-Beschreibungen haben als Schriftkundige einen höheren gesellschaftlichen Status als die Handwerker. Diese sind jedoch die eigentlichen Experten in ihrem Fach. Auch hier erfolgt die Wissensweitergabe also ‚von unten nach oben‘. Das Paradebeispiel dafür, dass man etwas kann, aber nicht erklären kann, wie man es macht und es allein durch Erklärungen auch schlecht lernen kann, ist die Sprache selbst: Sprachen lernt man am besten, indem man sie mit denen, die sie schon können, praktiziert. Dazu muss man allerdings erst einmal Zugang zur Gruppe gewinnen. Das ist z. B. bei der Jugendsprache (und anderen Gruppensprachen) keineswegs einfach. Auch die gelehrten Anthropologen, Ethnologen und Linguisten, die ‚primitive‘ Kulturen und Sprachen beschreiben wollen, sind darauf angewiesen, Zugang zur Expertise zu finden, die sich ‚unten‘ befindet. Dass die Wissenschaftler die Praxis-Experten eher als Objekte (Versuchspersonen, Probanden) oder Instrumente (Gewährspersonen) der wissenschaftlichen Unternehmung konzeptualisieren, ergibt sich aus der vorgängigen Wertehierarchie und verdient durchaus, hinterfragt zu werden (vgl. dazu auch 2.3.). Mit der Bevorzugung formalisierter ‚höherer‘ Bildung, die im Wesentlichen über schriftliche Texte erfolgt, ist die Wertschätzung des bloßen Handlungswissens gesunken und zugleich Expertentum eng an Fach- und Wissenschaftssprache gekoppelt worden. Allmählich setzt sich allerdings doch wieder die Einsicht durch, dass Wissen nicht allein oder nicht einmal in erster Linie darin besteht, was man sagen kann, sog. deklaratives Wissen, sondern was man tun kann, sog. prozedurales Wissen, dass man es nicht nur im Kopf, sondern wie etwa die Hand-Werker oder SMS -Schreiber auch in den Händen haben muss. <?page no="148"?> 148 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft Neuere Ansätze im pädagogischen und speziell sprachdidaktischen Bereich werten deklaratives Wissen sogar stark ab und propagieren Formen des selbstentdeckenden Lernens, bei dem die Lerner z. B. grammatische Regeln selbst aus Äußerungen ableiten sollen. Auch in den Sachfächern zeigt sich die entsprechende Umorientierung, und zwar v. a. in Projektarbeit. Im Sachfachunterricht soll man Fachkenntnisse erwerben und damit notwendigerweise Fachsprachliches. Die Fachwörter selbst repräsentieren aber nur die Spitze des Eisbergs. Wenn man nicht weiß, wie man mit ihnen umgeht, wie man zu ihnen gekommen ist und wozu man solche Differenzierungen macht, weiß man fast nichts. Der Nachteil der direkten Weitergabe von Wissen von Person zu Person in praktischen Arbeitszusammenhängen besteht u. a. darin, dass dies nicht zu einer Akkumulation und Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Gesamtwissens führen kann. Dies erklärt die Höherbewertung schriftlich niedergelegten Wissens, das extern gespeichert, ver-buch-t ist, über große zeitliche und räumliche Distanzen hinweg überliefert werden kann und das sich weiter ausbauen lässt. Die Weitergabe und Weiterentwicklung von Wissen, das nicht mehr alle Mitglieder der Gesellschaft in der primären Sozialisation erwerben, setzt daher zunächst die Kulturtechnik des Schreibens voraus. Verbesserte Möglichkeiten der Vervielfältigung und Verbreitung, Buchdruck, Massenpresse, elektronische Medien und Internet, bilden die Meilensteine der weiteren Entwicklung. Auf welchem Wege eignet man sich nun die dafür erforderlichen Fähigkeiten an, wer gibt sie an wen weiter? Wie erwirbt man Medienkompetenz? „Allgemein lässt sich sagen, dass bei der Einführung neuer Medien immer die Entwicklung von der Expertenzur Massennutzung erkennbar ist.“ (Böhn / Seidler 2008: 195). Während sich dieser Prozess allerdings für die Schrift, im Mittelalter Expertenfertigkeit nur einer kleinen Gruppe v. a. von Klerikern, über Jahrhunderte hingezogen hat und die Vermittlung dieser Kulturtechnik noch heute als erste Aufgabe der Schule betrachtet wird, bedurfte es für die Ver-Alltäglichung des Internets nicht einmal zweier Jahrzehnte. Entwickelt wurde das Internet um 1990, und schon 1999 warb der Onlineanbieter AOL in einem Spot mit Boris Becker. Er war seinerzeit deutscher Tennisstar und präsentierte sich in dem Spot als technisch eher weniger begabt. Diese Werbekampagne löste eine deutlich erhöhte Nachfrage im privaten Sektor aus. Heute ist das Internet omnipräsent. Genauere Daten dazu, wie Medien von Jugendlichen genutzt werden, findet man in den sog. JIM -Studien: <?page no="149"?> 149 3.3. Wege zum Wissen „Seit 1998 wird mit der JIM -Studie im jährlichen Turnus eine Basisstudie zum Umgang von 12bis 19-Jährigen mit Medien und Information durchgeführt. Neben einer aktuellen Standortbestimmung sollen die Daten zur Erarbeitung von Strategien und Ansatzpunkte für neue Konzepte in den Bereichen Bildung, Kultur und Arbeit dienen [sic].“ (www.mpfs.de/ index.php? id=276&L=vAIFGQFF; <8. 11. 2017>) Von den Ergebnissen der letzten Studie sei hier nur eines abgedruckt, das zeigt, wozu das Internet genutzt wird: Kommunikation (gemeint ist der Privatbereich) steht immer an erster Stelle, Informationssuche fast immer an letzter. Nur für die Mädchen ist diese wichtiger als Spiele, und mit höherem Alter bekommt diese Funktion größeres Gewicht. Haupt-/ Realschüler (die eher bildungsfernen Gruppen) und Gymnasiasten verhalten sich fast gleich. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest / JIM-Studie 2015 Seite 31 10.2 Online-Aktivitäten Welche inhaltlichen Präferenzen Jugendliche im Netz verfolgen, lässt sich in einem ersten Schritt anhand der Nutzungsintensität verschiedener Genres beschreiben. So wurden die Jugendlichen gebeten, einzuschätzen, wie hoch der Anteil ihrer Online-Nutzung ist, der auf die Bereiche Kommunikation (z. B. Communities, Chat, Mail), Spielen, Informationssuche und Unterhaltung (z. B. Fotos, Musik, Bewegtbild) entfällt. Wie in den Jahren zuvor macht der Bereich Kommunikation (40 %) den größten Teil aus, ein Viertel der Online-Nutzung dient der Unterhaltung, ein Fünftel wird für Spiele aufgewendet und 14 Prozent dienen der Suche nach Informationen. Bestand hat ebenfalls der Befund, dass Mädchen etwa die Hälfte, Jungen aber nur ein Drittel ihrer Online-Nutzungszeit der Kommunikation widmen. Auch bestätigt sich erneut, dass bei Jungen der Anteil für Online-Spiele dreimal so hoch ausfällt wie bei Mädchen. Das Spielen im Netz verliert bei den Ab-16-Jährigen etwas an Bedeutung, dafür steigt der Anteil der Informationssuche leicht an. Im Vergleich zum Vorjahr fällt das Kuchenstück für Kommunikation etwas kleiner (-4 PP), das für Spiele (+2 PP), Informationssuche und Unterhaltung (je +1 PP) etwas größer aus. Die ohne Antwortvorgabe gestellte Frage „Und was nutzt Du im Internet am liebsten? “ (hier waren bis zu drei Nennungen möglich) beantworten 61 Prozent der Internetnutzer mit YouTube, mit weitem Abstand folgen Facebook (36 %) und der Messengerdienst WhatsApp (29 %) - auch wenn es sich hier streng genommen um gar kein originäres Internetangebot handelt. Etwa gleich häufig werden Google (14 %) und Instagram (13 %) genannt, deutlich weniger vertreten sind Dienste und Plattformen wie Amazon, Wikipedia, Twitter (je 3 %) oder Skype, Tumblr und Spotify (je 2 %). Bei den Jungen zählt YouTube Inhaltliche Verteilung der Internetnutzung 2015 40 47 34 39 37 41 40 40 40 20 10 27 24 24 17 17 21 19 14 15 13 12 12 15 17 13 15 26 27 25 25 27 26 26 26 26 0 25 50 75 100 Gesamt Mädchen Jungen 12-13 Jahre 14-15 Jahre 16-17 Jahre 18-19 Jahre Haupt-/ Realschule Gymnasium Kommunikation Spiele Informationssuche Unterhaltung (z.B. Musik, Videos, Bilder) Quelle: JIM 2015, Angaben in Prozent Basis: Internet-Nutzer, n=1.166 Abb. 3.6: Internetnutzung von Jugendlichen ( JIM -Studie 2015: 31) Angesichts der Schnelligkeit der Entwicklung digitaler Medien bei gleichzeitiger Langsamkeit von Modernisierungen im Schulwesen war es ganz und gar undenkbar, dass sich diese Fertigkeiten über den Weg der formalisierten Ausbildung verbreiten. In der Anfangsphase war denn auch eines der Hauptthemen, dass die Lehrer sich mit Computern überhaupt nicht auskennen oder ihnen <?page no="150"?> 150 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft die Schüler darin jedenfalls weit überlegen sind. Heute gehört der Umgang mit den Neuen Medien zum Alltag der Lehrer und hat auch breiten Eingang in Lehrpläne und Lehrmittel gefunden. Dennoch kann man nicht sagen, dass der alltägliche Umgang mit den Neuen Medien jetzt Gegenstand der schulischen Ausbildung wäre und überwiegend dem Lernen schulrelevanter Inhalte diente. Unterhaltung und Spiele machen in der Regel die Hälfte aus (Abb. 3.6). Die Gewöhnung daran setzt mit allerlei Spielzeug schon im Vorschulalter ein und läuft dann parallel zur schulischen Ausbildung weiter. Die Tatsache, dass die Neuen Medien gerade in der Freizeit eine so große Rolle spielen und der Umgang mit ihnen, jedenfalls bei den Jüngeren, zum als selbstverständlich unterstellten Alltagswissen gehört, lässt die entsprechenden Kenntnisse und Fertigkeiten als wenig fachliche erscheinen. Da die Apparate und Programme auch immer benutzerfreundlicher geworden sind, bedarf es tatsächlich keines besonderen technischen Verständnisses- - jedenfalls wenn alles erst einmal richtig installiert ist und keine Funktionsstörungen auftreten. Für die Lösung beider Probleme brauchen die meisten allerdings die Hilfe eines oder gar mehrerer Spezialisten. Charakteristisch ist dabei für den privaten Gebrauch, dass man (schon aus Kostengründen) nicht einen Berufsprofi konsultiert, sondern auf den informellen Weg zurückgreift und jemanden fragt, der sich damit auskennt. Dieser muss keineswegs unbedingt eine formelle Ausbildung durchlaufen haben. Mit dem Computer und verschiedenen Programmen umzugehen, lernt man überwiegend durch die Praxis, unter-- eher punktuellem-- Rückgriff auf Anleitungen bzw. Onlinehilfen oder eben direkten Nachfragen bei Könnern. Auch hier wächst also die Bedeutung des Expertenwissens, das die Nutzer im Umgang mit ‚ihren‘ Apparaten, Aufgaben und Problemen, d. h. aus der praktischen Erfahrung, gewinnen. Für den Austausch solcher ‚Laien‘-Expertise gibt es natürlich auch Internetforen. Unter diesen Bedingungen stellt Expertise „lediglich noch eine Bedingung für Arbeitshandeln [oder auch Alltags-, Freizeit- und gesellschaftspolitisches Handeln], aber kein Unterscheidungsmerkmal von Professionen mehr dar“ (Pfadenhauer / Kunz 2010: 243). Eine „Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten des Amateurs“ (ebd., Hervorhebungen K. A.) ist gerade für die Hackerszene charakteristisch. Anderes gilt für die Nutzung von Computer und Internet im beruflichen Kontext. Seit 2000 erhebt das Bundesministerium für Bildung und Forschung in der Statistik über Weiterbildungsveranstaltungen Computer, EDV , Internet als gesonderte Kategorie. Dieser Bereich erreichte dann auch gleich ebenso hohe <?page no="151"?> 151 3.3. Wege zum Wissen Werte wie die sonst am meisten besuchten Sprachkurse (vgl. Faulstich 2008: 667). In dem Bericht über das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland (Cortina et al. 2008) bezeichnet Faulstich die Erwachsenenbildung als „‚Spätentwickler‘ im Bildungswesen“, der allerdings „nicht selten eine Pionierfunktion für die Entwicklungen im allgemeinbildenden Schulwesen“ zukomme. Er konkretisiert dies gerade an der „Einführung der Informationstechniken“ (ebd.: 679). Als Spätentwickler kann man Weiterbildung allerdings nur dann ansehen, wenn man die institutionalisierten und formalisierten Ausbildungen in den Fokus rückt (wie es der zitierte Bericht natürlich tut). Beschränkt man sich auf diesen Weg, so wird man gerade früheren Phasen der Gesellschaftsstruktur nicht gerecht. Allgemeine Alphabetisierung und regelmäßiger Schulbesuch setzen sich erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch, und die Elementarschule diente überdies in vordemokratischer Zeit v. a. als „Einrichtung zum Zwecke herrschaftskonformer Glaubenserziehung“ (Herrlitz et al. 2009: 104), also mehr der Verhinderung von Wissenserwerb in allen Bevölkerungsgruppen als seiner allgemeinen Ausbreitung. Die „Schüler sollten vornehmlich zu Disziplin, Ordnung und Gehorsam erzogen werden“ (Polenz III : 52). Dass Wissen unabhängig von Institutionen und teilweise gegen kirchliche oder staatliche Autoritäten, also eher von unten und auch auf informellem Wege, weitergegeben wird, zieht sich durch die gesamte Bildungs- und Mediengeschichte seit dem Spätmittelalter. Eine erste Expansion der Schriftlichkeit, den Beginn des ‚Papier-, Schreib- und Druckzeitalters‘, setzt v. Polenz um 1400, also noch vor der Erfindung Gutenbergs (um 1450) an. Damals ergaben sich besonders in den Städten neue Bedürfnisse der Schreib- und Lesepraxis. Da aber die städtischen und unter kirchlicher Aufsicht stehenden Schulen für die praktischen „Lese- und Schreibbedürfnisse für Rechtsleben, Verwaltung, kaufmännische Buchführung und Handwerk“ nicht geeignet waren, „entstanden im 14. und 15. Jh. immer mehr kleinere, gemischte, private Arten von Schulen“ (Polenz I: 125). Aber auch die nicht-alphabetisierten Erwachsenen nahmen an der Expansion der Schriftlichkeit teil. Dafür sind zwei Faktoren bedeutsam, nämlich einerseits die Verbindung von Bild und Schrift, andererseits die Praxis des Vorlesens. Diese Semioralität, bei der die Menschen Inhalte über verschiedene Medien wahrnehmen und sich darüber austauschen, sich zugleich aber in der gemeinsamen Praxis die Schrift mehr oder weniger rudimentär aneignen, leitet die Entstehung einer frühbürgerlichen Öffentlichkeit ein. Sie ist auch noch cha- <?page no="152"?> 152 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft rakteristisch für die zahlreichen Flugschriften der Reformationszeit und der Bauernkriege. Auch in der „zweite[n] Phase der Auswirkungen von Gutenbergs Erfindung“ (Polenz II : 16), dem um 1600 einsetzenden Pressewesen, ist kollektive Rezeption und Semioralität-- „mehr lesenhören als lesen“ (ebd.: 18; Kursivierung im Orig.) anfangs noch die Regel. „Durch das anschließende Reden im vertraulichen Kreis-- bei Hofe zu Mahlzeiten, in Schulen, in Pfarrhäusern, in Zunfthäusern, Kaffeehäusern, Wirtshäusern, Werkstätten, Wachtstuben, beim Barbier, auf Marktplätzen, an Straßenecken- […] ging kollektive Zeitungslektüre in dilettantisches Politisieren über, das mitunter in Schlägereien über Meinungen und Gesinnungen ausartete und als Staatsgespräche, Kannengießerey oder Neue-Zeitungs-Sucht verspottet wurde. So entstand eine populäre Vorform der privaten bürgerlichen Öffe ntlichke it der Aufklärungszeit“ (Polenz II : 21 mit Berufung auf Welke 1981; Hervorhebungen im Orig.). Zeitungslektüre war aber nicht nur für die Politisierung der Bevölkerung entscheidend, sondern stellte auch „eine Art säkularisierte Erwachsenenbildung und eine reiche Quelle neuer Fachwörter, Lehnwörter und Fremdwörter“ (Polenz II : 20) dar. Schließlich ist die weitere Ausbildung der Schriftlichkeit auch im beruflichen Kontext wichtig. Es entwickelt sich, auch auf dem Land, „infolge der Verrechtlichung, Kommerzialisierung und Monetarisierung agrarischer und gewerblicher Lebensweise auch eine pra xis ori e nti e rte Bildung und Schriftlichkeit-[…]. Neben den oft ärmlichen, auf Leseunterricht beschränkten kirchlichen Schulen (Katechismusschulen, Küsterschulen) gab es auch Neb ens chulen und andere ‚wilde‘ Bildungseinrichtungen für post-elementaren Unterricht in solchen geschäftsnützlichen Schreibfähigkeiten. Sie wurden oft gegen obrigkeitlichen Widerstand von besitzenden Bauern und Gewerbetreibenden eingerichtet und kontrolliert.“ (Polenz II : 28; Hervorhebungen im Orig.; außer Fettdruck K. A.) Einen weiteren Entwicklungsschub setzt man mit der Leserevolution um 1770 an, in deren Gefolge volksaufklärerische Vereine, Lesegesellschaften, Leihbüchereien und popularisierende Schriften entstanden, die „die Vereinheitlichung und Systematisierung des technischen Fachwortschatzes für das 19. Jh.“ vorbereiten (ebd.: 39). Beide Tendenzen setzen sich im 19. Jahrhundert fort: Der Kampf um Pressefreiheit bzw. gegen die Zensur, das zentrale Instrument der Unterdrückung bürgerlicher Öffentlichkeit, bestimmen fast das ganze Jahrhundert. Illegal ver- <?page no="153"?> 153 3.3. Wege zum Wissen breitete Flugschriften haben im Vormärz eine ähnliche Bedeutung wie zur Zeit der Reformation und der Bauernkriege (vgl. Polenz III : 86). Um den vom Wissen Ausgeschlossenen Zugang dazu zu verschaffen, werden Arbeiterbildungsvereine gegründet-- noch bevor Parteien entstehen, die die Interessen der Unterprivilegierten vertreten. Den Zugang zum Wissen musste man sich also gegen die Herrschenden hart erkämpfen. Frau natürlich noch mehr, selbst wenn sie aus privilegierten Schichten stammte: Das humanistische Gymnasium war die längste Zeit den Knaben vorbehalten, und erst im frühen 20. Jahrhundert wurden Frauen zum Universitätsstudium zugelassen (für die Entwicklung der Universitäten vgl. die knappe, aber sehr instruktive Übersicht von Fisch 2015). Die staatlich geförderte Bildung breiter Bevölkerungsgruppen, bei der es zunächst um Alphabetisierung geht, richtet sich dagegen nur auf das wirtschaftlich Erforderliche: „Der entscheidende Entwicklungsschub erfolgte nämlich nicht erst als Folge der Hochindustrialisierung um die Mitte des 19. Jh., sondern als ihre wesentliche Voraussetzung- […]. Dies wird begründet mit dem Rückgang der alten multimedialen Geselligkeit und Vorlesekommunikation und einer neuen Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Schriftlichkeit für Anforderungen der industriegesellschaftlichen Sozialdisziplinierung: Weniger für volle Kompetenz in der Textproduktion, mehr zur Einübung in Stillsitzen, Konzentration, planendes systematisches Denken, Gedächtnis, Pünktlichkeit, Zeiteinteilung, soziale Unterordnung, Gemeinsamkeit und Pflichterfüllung sollten alle Staatsbürger lesen und etwas schreiben können“ (Polenz III : 52; Hervorhebungen K. A.). Auch die Bildungsexpansion der 1960 / 70er Jahre war zunächst veranlasst durch Sorge um die Wirtschaftsentwicklung. Im Hintergrund steht der sog. Sputnikschock (1957), der die Sowjetunion als technologisch überlegen erscheinen ließ-- wir befinden uns im Kalten Krieg! In der Bundesrepublik nähren sich die Bildungsreformen aus zwei Argumentationssträngen: Georg Picht prägte den Ausdruck Bildungskatastrophe (1964). Diese ergebe sich v. a. aus der geringen Quote von Abiturienten und den relativ niedrigen Ausgaben für die Bildung. Das drohe zu einem gravierenden Nachteil für die Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliches Wachstum zu werden. Die nur schlecht ausgebildeten Bevölkerungsgruppen erscheinen hier also nicht zuletzt als ungenutztes Potential für das Wirtschaftswachstum. Ralf Dahrendorf fasste die Benachteiligungsfaktoren in der Figur der katholischen Arbeitertochter vom Land zusammen und stellte <?page no="154"?> 154 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft in seiner Schrift Bildung ist Bürgerrecht (1965) die Chancenungleichheit aus soziologischer Perspektive als Bedrohung auch für die Demokratie dar. Knapp 50 Jahre später steht wiederum die Anpassung der Bildungssysteme an die wirtschaftlichen Erfordernisse auf der Agenda. In dem Papier der Europäischen Kommission EUROPA 2020. Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum heißt es: „Die Mitgliedstaaten-[…] sind aufgefordert, - dafür zu sorgen, dass es eine ausreichende Zahl von Hochschulabsolventen in den Bereichen Naturwissenschaften, Mathematik und Ingenieurwesen gibt und die Schullehrpläne auf Kreativität, Innovation und Unternehmergeist auszurichten; - sicherzustellen, dass auf allen Ebenen (Vorschule bis Universität) wirkungsvoll in Bildung investiert wird; - die Ergebnisse der Bildungseinrichtungen zu verbessern und zu diesem Zweck ein integriertes Konzept zu entwickeln, in dem jede einzelne Stufe (Vor-, Grund-, Sekundar-, Berufs- und Hochschule) berücksichtigt wird, Schlüsselkompetenzen festgelegt werden und mit dem der Schulabbruch eingedämmt wird; - die Offenheit und Bedeutung der Bildungssysteme durch die Einführung nationaler Qualifikationsrahmen und besser auf den Bedarf der Arbeitsmärkte zugeschnittene Bildungsergebnisse zu fördern, und die Berufseinstiegschancen junger Menschen durch integrierte Maßnahmen, zu denen u. a. Orientierung, Beratung und Praktika zählen, zu verbessern.“ (Europäische Kommission 2010: 14; Hervorhebungen K. A.) Dieser kurze Rückblick auf die Bildungsgeschichte zeigt, dass die gegenwärtigen Verhältnisse und auch Diskurspositionen weniger neuartig sind, als man zunächst denken könnte. Soweit sich der Staat für die Bildung der Bevölkerung zuständig fühlte, stand immer der volkswirtschaftliche (teilweise auch nationalistische) Nutzen der zugeteilten ‚Wissensrationen‘ im Vordergrund. Aber auch das Gegenmodell, Bildung als Zweck an sich, wird spätestens seit der Aufklärung kontinuierlich verfolgt. Es ist nur ein kurzer historischer Moment, in dem dieses Projekt zugleich zur Leitlinie der Regierungspolitik wird. In der Bundesrepublik lässt sich dieser Moment recht gut auf die Zeit der sozial-liberalen Koalition (1969-1982) eingrenzen. Deren Ende ist jedoch schon viel stärker geprägt durch andere Themen ( RAF -Terror, Rüstungswettkampf, Energiepolitik) und das Erstarken ökologischer Bewegungen, das 1980 zur Gründung der Partei Die Grünen führt. <?page no="155"?> 155 3.3. Wege zum Wissen Ein Schlüsselereignis für die sich ausbreitende Skepsis gegenüber der Beherrschbarkeit neuer Technologien ist der Reaktorunfall von Tschernobyl (1986). Im selben Jahr erschien das Buch Risikogesellschaft von Ulrich Beck, das einen für soziologische Abhandlungen ungewöhnlichen Erfolg hatte. Es bringt der deutschen Öffentlichkeit Probleme nahe, die (seit etwa den 1960er Jahren) im Forschungsgebiet Technikfolgenabschätzung behandelt werden. Dabei geht es sowohl um die Umweltbelastungen, die technische Innovationen mit sich bringen, als auch um die sozialen Risiken, insbesondere Arbeitslosigkeit und die ungleiche Verteilung materiellen und sozialen Kapitals. Sowohl die Studentenbewegung mit der Außerparlamentarischen Opposition als auch die Alternativen Parteien kann man als eine Art ‚unerwünschte Nebenwirkung‘ der zunächst wirtschaftlich motivierten Bildungsexpansion auffassen. Sie werden von gut ausgebildeten Menschen getragen, die sich nun allerdings ihre eigenen Gedanken machen und nicht mehr kontrollieren lassen. Bestritten wird nicht nur die Vertikalität im Sinne der Frage, wer-- gemessen an denselben Beurteilungskriterien-- das bessere, das ‚richtigere‘ Wissen in Bezug auf einen konkreten Sachverhalt hat. Infrage gestellt werden v. a. die grundlegenden (und teilweise nur präsupponierten) Werte: In der Wissensgesellschaft sind die zentralen Werte wirtschaftliches Wachstum und technische Innovation (vgl. 3.2.3.). Wieso sollten diese unhinterfragbaren Werten entsprechen? Wieso sollte europäischer Egoismus - „das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen“ (Europäischer Rat 2000) - besser sein als nationaler oder individueller Egoismus? Wieso sollte sich jedes Individuum kontinuierlich um arbeitsmarktkonforme Weiterbildung bemühen, wenn selbst die am besten ausgebildeten jungen Leute keine Arbeitsstelle finden? Wieso werden gesellschaftlich besonders wichtige Aufgaben etwa im Pflege- und Sozialbereich als Niedriglohnsektor definiert? usw. Fragen wie diese sind typisch für Menschen und Gruppierungen, die politisch interessiert und engagiert sind, die damit auf gleicher Augenhöhe mit dem politischen Establishment agieren. Unterschiedliche Wertsetzungen in diesen Fragen waren auch charakteristisch für verschiedene Parteien. Sie sind es z. T. heute noch, die Politikverdrossenheit rührt aber nicht zuletzt daher, dass sich parteipolitische Positionen einander stark annähern und sich die ehemaligen Systemkritiker beim „Marsch durch die Institutionen“ in die Machtstrukturen eingefügt haben, statt sie zu verwandeln. Wenn die EU jetzt schon die Schul- <?page no="156"?> 156 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft lehrpläne auf Unternehmergeist ausrichten will-- statt etwa auf Gerechtigkeit, Humanismus, Demokratie, Respekt, Toleranz--, ist das ein deutliches Zeichen. Dieser Ökonomismus ist ideologisch sicher nicht unbedenklicher als das Einschwören auf Nationalismus, Militarismus oder Rassismus. „Menschen sollen zu einem unternehmerischen Selbst werden, das sich selbst und andere als Unternehmen betrachtet-[…]. Dieses Selbst zeichnet sich dadurch aus, dass es sein Handeln, Fühlen, Denken und Wollen an ökonomischen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen ausrichtet- […]. Sein Begehren richtet sich aber nicht nur auf den ökonomischen Erfolg. Vielmehr muss sich dieses Selbst beständig anpreisen und in der Lage sein, sich entsprechend zu präsentieren. Und dies gilt nicht nur für das Erwerbsleben, sondern im Zuge einer Verallgemeinerung des Marktes und seiner ökonomischen Kalküle auch für das Privat- und Gefühlsleben“ (Bührmann 2010: 340). Denkt man an die Formen der Selbstdarstellung, die in den sozialen Medien üblich geworden sind, scheint diese Diagnose durchaus zuzutreffen. Dass es sich dabei allerdings um eine mehr oder weniger direkte Folge bzw. einen ‚Erfolg‘ der EU -Strategien handelt, ist eine schon weniger überzeugende Annahme. (Wirtschafts-)Wachstum und Wettbewerb zum Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaft zu machen, entspricht einer Werthaltung, genauer gesagt einer Umwertung hergebrachter moralischer Werte. Statt Bescheidenheit Selbstanpreisung, statt Solidarität und Nächstenliebe Wettbewerb und Egoismus, statt Erziehung zur Mündigkeit und Kritikfähigkeit „auf den Bedarf der Arbeitsmärkte zugeschnittene Bildungsergebnisse“. Ein solches Konzept kann nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Die Europäische Kommission (2010: 8) nimmt dies wahr als „Widerstände[.] in einigen Teilen unserer Gesellschaft gegen Innovation“. Diesen will sie auf folgende Weise begegnen: „Durch die Einrichtung eines ständigen Dialogs auf verschiedenen Regierungsebenen werden die Prioritäten der Union den Bürgern nähergebracht und die Eigenverantwortung gestärkt, die zur Verwirklichung der Strategie Europa 2020 notwendig ist.-[…] Der Erfolg der neuen Strategie hängt-[…] maßgeblich von der Fähigkeit der EU -Organe, der Mitgliedstaaten und der Regionen ab, zu erklären, warum Reformen notwendig und unabdingbar sind, um unseren Lebensstandard beizubehalten und unsere Sozialmodelle zu sichern, wo Europa und die Mitgliedstaaten im Jahr 2020 stehen wollen und welcher Beitrag von den Bürgern, Unternehmen und ihren Vertretern erwartet wird. Der Kommission ist bewusst, dass nationale Gegebenheiten <?page no="157"?> 157 3.3. Wege zum Wissen und Traditionen zu berücksichtigen sind und schlägt daher einen gemeinsamen ‚Werkzeugkasten‘ für Kommunikationszwecke vor.“ (Europäische Kommission 2010: 32 f.; Hervorhebungen K. A.) Das in diesem Strategiepapier verwendete ‚Kommunikationswerkzeug‘ besteht offenbar wesentlich in dem Versuch, die Probleme durch manipulativen Sprachgebrauch zu lösen: Für die schönen Ziele (Lebensstandard beibehalten und Sozialmodelle sichern) sollen Instrumente namens Reformen geeignet sein, die gerade im Abbau sozialer Sicherung und der Senkung des Lebensstandards bestehen- - für viele Bürger eine längst erfahrene Realität. Die Stärkung der Eigenverantwortung besteht konkret darin, das zu akzeptieren, was die EU - Organe von den Bürgern erwarten, ihnen abverlangen, nämlich selbst dafür zu sorgen, dass sie im Wettbewerb erfolgreich sind, und sich Misserfolge selbst zuzuschreiben. Dazu soll es einen ständigen Dialog geben, der aber keiner sein kann, weil das Ergebnis von vornherein feststeht. Zu erklären, warum etwas unabdingbar ist, entspricht einer einsinnigen ‚Wissensweitergabe‘, die in diesem Fall eindeutig ‚von oben nach unten‘ erfolgt. In diesen Kontext gehört auch die Formel vom lebenslangen Lernen. Sie eignet sich besonders gut, Widerspruch im Keim zu ersticken, weil sie referentiell so vage ist. Sie kann sowohl eine Selbstverständlichkeit bezeichnen, nämlich die Unausweichlichkeit des permanenten Hinzulernens, als auch unbestreitbar positive Konzepte der Erwachsenenbildung, etwa von Bildungsurlaub. Ins Negative schlägt sie v. a. da um, wo sie als normative Forderung zur Teilnahme an (staatlich verordneten) Umschulungs- oder Weiterbildungsprogrammen erfahren wird. Bolder / Hendrich (2000) sind dem in einem Forschungsprojekt mit dem Titel Weiterbildungsabstinenz genauer nachgegangen. Es nimmt die „Perspektive einer subjektorientierten Bildungsforschung“ (ebd.: 22) ein und stützt sich auf problemzentrierte Interviews. Hier wird also ein Dialog aufgenommen, um zu ergründen, wie sich denn der im Sinne der EU -Strategie ‚irrationale‘ Widerstand gegen Bildung erklärt. Wesentliches Ergebnis des Projekts ist, dass die Entscheidung gegen institutionalisierte Weiterbildungsprogramme auf einer sehr rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung beruht. Man könnte auch sagen: Darauf, dass es sich für viele ganz praktisch als Mythos entpuppt hat, ständige Zusatzqualifizierungen sicherten (Chancen auf) einen Arbeitsplatz. Die Generalhypothese des Projekts hat sich bestätigt: „Es ist von Ablehnung der Teilnahme an und in beschäftigungsnaher Weiterbildung auszugehen, solange deren Sinn nicht einzusehen ist, weil die monetären und psy- <?page no="158"?> 158 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft cho-sozialen Kosten in keinem akzeptablen Verhältnis zu ihrem erfahrenen oder erwartbaren Nutzen stehen und Weiterbildung als fremdbestimmt erlebt wird.“ (Bolder / Hendrich 2000: 35) Zu den psychisch besonders belastenden Zumutungen gehört es, dass die staatlichen ‚Qualifizierungsoffensiven‘ faktisch einer Dequalifizierung (vgl. ebd.: 260) entsprechen, einer Abwertung bereits erzielter Qualifikationen und Kompetenzen, besonders des Erfahrungswissens. Der Beruf, früher wesentliches Element der Identitätsbildung, ist keiner mehr, wenn man sich, wie Herzog es formuliert, darauf einstellen soll, in drei, vier, letztlich unabsehbar vielen zu arbeiten. „Lebenslanges Lernen heißt aus dieser Sichtweise lebenslanges Bemühen um den individuellen Marktwert.-[…] Lebenslanges Lernen ist, mit aller Doppeldeutigkeit, lebenslängliches Lernen, ist die lebenslange Angst um Kompetenz; da es die ständige Erfahrung vermittelt, nichts bzw. immer zu wenig zu können und zu wissen. Diese infantilisierende Erfahrung macht das Subjekt auf dem Markt noch unsicherer, da sein ganzes Bestreben darauf gerichtet sein muß, dort wenigstens kurzfristig als vollwertige Arbeitskraft anerkannt zu werden.- […] Im Extrem: Die Qualifikation hat keinen Marktwert mehr, das Subjekt läuft ihm daher ununterbrochen nach.“ (Geißler 1986: 79 f.; zitiert nach Bolder / Hendrich 2000: 19; Hervorhebungen K. A.) Angst ist ebenso wie Wut eine irrationale Reaktion. Beides ist allerdings umso verständlicher, als die hegemoniale Sicht mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt wird: Wer sich ihr nicht unterwirft, läuft Gefahr, Sozialleistungen entzogen zu bekommen. Weniger verständlich ist das ebenso ‚irrationale‘ Verhalten der EU - Organe und nationalen Regierungen. Die ‚Strategie‘ entspricht einer Quadratur des Kreises: „Entwicklung einer auf Wissen und Innovation gestützten Wirtschaft“ bei gleichzeitiger „Förderung einer ressourcenschonenden, umweltfreundlicheren und wettbewerbsfähigeren Wirtschaft“ sowie der „Förderung einer Wirtschaft mit hoher Beschäftigung und wirtschaftlichem, sozialem und territorialem Zusammenhalt“ (Europäische Kommission 2010: 12)-- das ist der generalisierte Wettbewerb, bei dem niemand verliert, eine Welt, in der es keine gesellschaftlichen Antagonismen gibt, also schlicht etwas, was ‚in der Wirklichkeit‘ gar nicht existieren kann. Je näher man dem Ziel kommt, dass die Bevölkerungsmehrheit eine gute Schulausbildung erfahren hat, desto weniger darf man erwarten, dass sie sich Sand in die Augen streuen lässt. Denn zu einer solchen Ausbildung gehört es, <?page no="159"?> 159 3.3. Wege zum Wissen Zusammenhänge durchschauen, Argumentationen beurteilen und selbst überzeugende Argumentationen vorbringen zu können. Die Eliten (sollten) wissen, dass sie nicht imstande sind, ihre Deutung als akzeptable, als sinnvoll empfundene Interpretation durchzusetzen-- das ist eine Zumutung auch für den Verstand. Sie erfahren dies durch den fortlaufenden Vertrauensverlust der Bürger: Widerstand, Wut oder ‚bestenfalls‘ Desinteresse. Um dem abzuhelfen, muss man schon andere Kommunikationswerkzeuge einsetzen, etwa in Experten-Bürger-Dialoge eintreten, bei denen sich das Gegenüber auch ernst genommen fühlen kann (vgl. 3.2.1.). Einer durchaus rationalen Reaktion von Seiten der Unterprivilegierten entspricht es, die hegemoniale Deutung zu bestreiten und einer Welt, in der sie nur die Verlierer-Rolle einnehmen können, andere entgegenzusetzen. Auch für die ‚bildungsfernen Schichten‘ spielt Fachwissen und Expertentum eine Rolle. Schon für das frühe 20. Jahrhundert konstatiert v. Polenz das Aufkommen von Freizeit-Fachsprachen „für nichtberufliche, gesamtgesellschaftlich scheinbar irrelevante spezielle Beschäftigungen“. Diese entstehen „als Folge der Industrialisierung und Verstädterung, vor allem der Entfremdung zwischen beruflichem Arbeitsleben und privater Sphäre und der Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz. Anstelle der wegfallenden alten kollektiven Spezialtätigkeiten in Haus, Hof, Feld und Wald in festen Nachbarschafts- und Gemeindebeziehungen suchten sich sozial Entwurzelte, sofern ihnen dafür Zeit blieb, neue, in Gruppen kommunikable Ersatzbeschäftigungen, z. T. in Vereinen. So konnte das durch wortlose, reaktive Unterordnung im industriellen Arbeitsprozeß unterentwickelte Selbstwertgefühl mit einer privaten Art expertenhafter Selbstbestätigung kompensiert werden. In den Mittelschichten kam das Bedürfnis hinzu, sich nach dem Vorbild alter oberschichtlicher ‚Freizeit‘-Beschäftigungen (Reiten, Jagen, Fechten, Kunst, Literatur, Musik usw.) eigene prestigebildende Kompetenzen anzugewöhnen. Bei Spezialbeschäftigungen ist spezieller Wortschatz unerläßlich. Beim sozial solidarisierenden Reden mit anderen über das Spezialgebiet kommt aber eine gruppensprachliche Funktion hinzu, die dem Signalisieren von Gruppenzugehörigkeit bzw. -nichtzugehörigkeit dient. Insofern hat das teils fachsprachliche, teils jargonhafte Reden über ein Fußballspiel oder die Erfolge eines bestimmten Vereins, mit dem man sich im ‚wir‘-Gefühl identifiziert, einen ähnlichen soziopragmatischen Status wie beispielsweise das Reden über Philatelie oder über das letzte lokale Kammerkonzert.“ (Polenz III : 500; Hervorhebungen K. A.). <?page no="160"?> 160 3. Historisches: Von der Agrarzur Wissensgesellschaft Im späten 20. und erst recht im 21. Jahrhundert wird diese Expertise in Sport, Mode, Unterhaltungsindustrie usw. noch wichtiger und entwickelt sich selbst zu einem bedeutenden kommerziellen Branchenkomplex. Gerade die sog. Modernisierungsverlierer, die sozial Abgehängten, die im Konkurrenzkampf der Wissensgesellschaft tatsächlich keine Chance haben (und sich den gegenteiligen Mythos auch nicht einreden lassen), können sich hier die Hoffnung machen, als Top-Model oder Superstar in einer Art Parallelwelt Prominentenstatus zu erlangen und vielleicht sogar viel Geld zu verdienen-- oder in einer Quizshow zu gewinnen. Die große Beliebtheit dieses Genres, in dem es um Wissen geht, das garantiert nicht arbeitsmarktrelevant ist, offenbart, welchen Wert normale Menschen dem zumessen. In traditionelleren Milieus behalten Gruppierungen, die auf lokaler Ebene operieren, z. B. Kleingärtner-, Schützen-, Sportvereine usw., ihre Funktion, Raum für die Expertise der kleinen Leute zu gewähren. Sozial und politisch brisant wird es v. a. dann, wenn marginalisierte oder sich selbst marginalisierende Gruppen eigene Herrschaftsstrukturen aufbauen, seien es nun sektenhafte, kriminelle oder terroristische Gruppierungen. Hier bildet sich wieder eine Expertise im unteren Bereich der Standardhierarchie aus, zu der die staatlichen Organe schwer Zugang bekommen. Deswegen versuchen sie V-Leute, Vertrauens- oder Verbindungspersonen, einzuschleusen. Als relevantes Expertenwissen müssen diese sich auch Fachwörter bzw. Jargonausdrücke aneignen, viel wichtiger ist es aber, die Organisations- und Kommunikationsstrukturen sowie wichtige Ereignisse und Personen zu kennen. Für ‚normales Fachwissen‘ gilt im Prinzip dasselbe: Fachwörter sind nur die Spitze des Eisbergs. Fachliches Handeln entspricht einer eingespielten Lebensform, die sehr viel gemeinsames Vorwissen (und zwar keineswegs nur theoretisches) voraussetzt. Dies führt uns zurück auf die Routinewelt des Alltags. Auf den ersten Blick scheint es, dass dieser Bereich gerade nichts mit Fachwissen oder Expertenkompetenzen zu tun hat. 53 Die Unterscheidung von Alltags- und Expertenwissen ist aber gar nicht so einfach wie gedacht: U. a. gilt das Alltagswissen immer nur für das eigene Lebensumfeld. Schon wenn man in eine fremde Stadt kommt, funktioniert z. B. die routinierte Benutzung von Verkehrsmitteln nicht mehr unmittelbar: Welche Verkehrsmittel und Linien gibt es? Wie kommt man an die Fahrkarten-- am Kiosk, im Verkehrsmittel, an Automaten? Welche Tarifzone gilt, muss man für den Hund bezahlen? 53 Vgl. besonders vehement gegen diese Sichtweise Kalverkämper (1990). <?page no="161"?> 161 3.3. Wege zum Wissen Für all diese Fragen gibt es natürlich auch Erklärungen in schriftlichen Texten, Beförderungsbedingungen, Tarifbestimmungen und Fahrpläne sowie Auszüge daraus, die man in der Nähe von Haltestellen erwarten darf. Das sind allerdings Textsorten, die mit ihren verdichteten Text-Bild-Botschaften für Nicht-Eingeweihte doch oft recht kryptischen Charakter haben. Man muss sich auf jeden Fall zunächst einmal hineindenken - und dann ist der Zug vielleicht schon abgefahren. Hier haben wir zugleich ein gutes Beispiel dafür, wie sehr sich die Benutzerfreundlichkeit öffentlicher Texte verbessert hat. Man kann inzwischen ‚mit den Maschinen kommunizieren‘ und z. B. eingeben: Ich möchte von x nach y und zum Zeitpunkt t ankommen. Falls ich irgendwelche Fragen nicht verstehe, kann ich auf ein �i -Symbol für weitere Erläuterungen klicken. Man kann auch versuchen, das nötige Wissen auf informellem Weg einzuholen, d. h. jemanden zu fragen, der sich auskennt. Dieser Ausweg ist allerdings erschwert oder gar ganz versperrt, wenn man sich in einem anderen Land mit fremder Sprache aufhält; wechselt man gar den Kulturkreis und trifft auf ein anderes Schriftsystem, findet man sich in der Situation eines sprachlosen Analphabeten wieder, dessen eigenkulturelles Alltagswissen überhaupt nicht mehr trägt. Auch die eingangs genannten vom Kind zu erlernenden elementaren Fähigkeiten und Kenntnisse sind kulturell geprägt. So ist jeder gewissermaßen Spezialist für ‚seine‘ Kultur, von den typischen Speisen, Mahlzeiten und Festen, allgemein geläufigen Sprichwörtern und Liedern über staatliche Institutionen und deren Repräsentanten, Geschäfte und übliche Öffnungszeiten, Angebote des öffentlichen Dienstes, Verkehrsregeln usw. bis hin zu aktuellen Trends in der Mode, derzeitiger Prominenz in Sport, Showgeschäft etc. Wenn wir auch geneigt sind, das Expertentum in der eigenen Kultur als solches gar nicht wahrzunehmen, sondern es schlicht für selbstverständlich zu halten, so müssen wir doch zur Kenntnis nehmen, dass es für Migranten extrem exotisch sein kann und sich weit besser in gemeinsamem Alltagshandeln als über institutionalisierte Integrationskurse weitergeben lässt. Außerdem gelten in multikulturellen Gesellschaften sekundär angeeignete Kenntnisse und Vertrautheit mit Sprache und Kultur von Minderheiten und Subkulturen als gefragtes Expertenwissen. <?page no="163"?> 163 4.1. Vorbemerkungen zum Problemfeld 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? 4.1. Vorbemerkungen zum Problemfeld Es ist eine übliche Praxis, bei der Erklärung von Ausdrücken an etymologische Angaben anzuschließen. In der Fachsprachenforschung geschieht dies allerdings kaum. Hartwig Kalverkämper (u. a. 1990; 1998a: 3 ff.) hat jedoch die Nützlichkeit dieses Vorgehens nachdrücklich unterstrichen und demonstriert. Hier sei nur das Wesentlichste rekapituliert: Fach geht ursprünglich zurück auf Konzepte wie ‚festmachen, einzäunen, zusammenbinden, -fügen, -flechten‘- - also etwas herstellen, was abgrenzt, z. B. eine geflochtene Fischwehr in Flüssen, einen Zaun, eine Mauer (Fach-Werk). Die Ausgangsbedeutung weist also auf die Tätigkeit des Ab-teil-ens, Abgrenzens hin. Die heute wohl üblichste, im DUW als erste angeführte Lesart ist ‚abgeteilter Raum eines Behältnisses‘, etwa eines Schrankes oder einer Tasche. Dieses Ab-teilen dient dazu, Ordnung herzustellen bzw. diese zu ermöglichen, indem es erlaubt, eine Vielzahl von Dingen nach einer gewissen Systematik abzulegen und daher auch leicht wieder aufzufinden. Im (übertragenen) Sinne von ‚Spezialgebiet in Handwerk, Kunst und schließlich auch Wissenschaft‘ wird Fach erst seit dem 18. Jahrhundert gebraucht. Fachsprache und Fachwort kommen entsprechend den Angaben im DWDS erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit einiger Häufigkeit vor. Für die Erklärung des Gegenstands Fach-Sprache ist diese Rückbesinnung auf die Etymologie insofern erhellend, als sie die Vorstellung konkretisiert, dass Fächer zu bestimmten Zwecken gemacht werden und es sich keineswegs um präexistente Größen handelt. Das späte Aufkommen der hier interessierenden Lesart zeigt darüber hinaus, dass Fächerabgrenzungen sekundäre Konstrukte sind. Sie reflektieren die Arbeitsteilung und die soziale Gliederung einer Gesellschaft, versuchen diese zu kategorisieren. Das wird v. a. nötig, wenn die Anzahl der Fächer so groß ist, dass es schwierig wird, den Überblick zu behalten. Dies erklärt, wieso in der Diskussion der Frage, wie viele Fächer ‚es gibt‘, eine so große Bedeutung zugemessen wird. Wie 1.3., 1.4. und 2.4. gezeigt haben, wird diese Frage v. a. als Problem wahrgenommen, so dass weitgehender Konsens allein darüber besteht, die Bestimmung von ‚Fach‘ und die Fächerabgrenzung sei schwierig. Im Metzler-Lexikon hieß es, die Klassifizierung von Fachsprachen sei außerordentlich kompli- <?page no="164"?> 164 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? ziert und könne unterschiedlich fein durchgeführt werden, weshalb Angaben über ihre Gesamtzahl divergierten. Bei Kalverkämper liest sich das konkreter, er führt einige Zusammenstellungen an, in denen die Zahl zwischen 6 und 88 Großbereichen / Disziplinen und 300 und 7.000 Fächern variiert (1998a: 11). Er kommt dann zu dem Schluss: „Es ist vor dem Hintergrund der arbeitsteiligen Gesellschaft (Dynamik der Spezialisierungen)-[…] bei der Modellierung der Welt in Fächern kaum sinnvoll-- und für die Fachsprachenforschung auch nicht grundlegend--, die Zahl von Fächern genau zu kennen oder sich darüber zu streiten. Was aber gerade deshalb als eine methodologisch unverzichtbare Notwendigkeit verlangt werden muß, ist (a) in den Untersuchungen die jeweilige linguistische Selbstortung zu dem ‚Fach(gebiet)‘ und der ‚Fachsprache‘ zu leisten-[…]; sonst gerät man nämlich-[…] (b) in die Gefahr, nicht die bis möglicherweise ins absurd Minimale reichende Reduktion im Fach(gebiet) (und der dazu dann als ‚zugehörig‘ angesehenen Fachsprache) zu erkennen (wie-- bislang noch fiktiv-- die ‚Fachsprache des Fabrikarbeiters an der elektronisch gesteuerten Buntmetallsäge‘ oder die ‚Fachsprache des Kunststoff weiterverarbeitenden Kunstgewerbes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts‘)“ (Kalverkämper 1998a: 11; Hervorhebungen und Absatzbildung K. A.). Unter ‚linguistischer Selbstortung‘ dürfte zu verstehen sein, dass man das eigene Verständnis von ‚Fach‘ und das Verhältnis von Fach und Fachsprache expliziert. Wenn es ‚für die Fachsprachenforschung nicht grundlegend‘, besser gesagt: unmöglich ist, eine allgemein gültige Zahl von Fächern festzulegen, so muss sie doch bei allen konkreten Untersuchungen irgendwelche Fächer auswählen, sich dabei an irgendeiner Fächersystematik orientieren oder selbst eine solche vorlegen. All dies hängt u. a. davon ab, unter welcher Perspektive sie das Objekt bearbeiten will. Kalverkämper betont sehr stark, dass bereits die Bestimmung von Fach eine perspektivische ist, weil Fächer nicht vorgegebenen Wirklichkeitsbereichen entsprechen, sondern zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt und in Bezug auf den jeweils erreichten Stand von Arbeitsteilung und Diskussion in konkreten Gesellschaften zu bestimmten Zwecken gesetzte Einheiten sind. „Eine Systematik der Fächer (i) als den konventionalisierten Handlungsausschnitten aus der Welt- […] (ii) bildet somit letztlich zu ihrem Zeitpunkt und in ihrem soziokulturellen Geltungsbereich (iii) die Welt aus der Sicht und der Interessenlage <?page no="165"?> 165 4.1. Vorbemerkungen zum Problemfeld der dergestalt (zu-)ordnenden Menschen ab.“ (Kalverkämper 1998a: 9; Hervorhebungen K. A.) Über diese Auffassung besteht aber kein Konsens. Schon der Ausdruck die Zahl der Fächer impliziert, dass es eine definite Zahl von Fächern gibt bzw. geben müsste. Diese Erwartung entspricht der in 1.2. und 2.4. besprochenen ‚realistischen‘ Position, die in der Fachsprachenlinguistik besonders verbreitet sein soll. Im Prinzip stehen wir bei Fachsprachen vor denselben Fragen wie bei den Versuchen, Varietäten allgemein zu systematisieren (vgl. 2.2.): Was wollen wir unter einer Varietät verstehen? Wie lassen sie sich gegeneinander abgrenzen, wie viele sind zu unterscheiden, welche und wie viele Besonderheiten müssen sie aufweisen, um als eigenständige Varietät gelten zu können? In 2.2. haben wir zwei Ansätze gegenübergestellt: das Korrelationsmodell und das Schibboleth-Modell. Beides finden wir bei den Fachsprachen wieder. Entsprechend dem ersten Modell untersucht man nach einem bestimmten Kriterium ausgewählte Fachtexte auf allen sprachlichen Ebenen und ermittelt (statistisch signifikante) quantitative Unterschiede zwischen Sub- und (nichtfachlichen) Vergleichskorpora. Entsprechend dem zweiten betrachtet man Varietäten als unscharf begrenzte Mengen von sprachlichen Varianten mit prototypischer Struktur und konzentriert sich auf die auffallenden Merkmale. Das ist auch, besser gesagt: besonders bei den Fachsprachen die Lexik. Dem entspricht also die Auffassung, Fachsprachen ließen sich doch im Wesentlichen über den Fachwortschatz bestimmen. Diese Auffassung vertreten sehr nachdrücklich Schmidt / Herrgen, für die „Differenzen, denen ausschließlich Gebrauchspräferenzen-[…] zugrunde liegen“, gar keinen Varietätenstatus haben. Dementsprechend betrachten sie insbesondere Fach- und Wissenschaftssprachen als nur sektorale Varietäten, die in erster Linie lexikalisch basiert sind und für die die Kompetenzerweiterung nicht an eine bestimmte Erwerbsphase gebunden ist, sondern lebenslang andauert. Vollvarietäten müssen dagegen „je eigenständige prosodisch-phonologische und morpho-syntaktische Strukturen“ aufweisen (Schmidt / Herrgen 2011: 51; vgl. auch Schmidt 2005: 69 f.). Es gibt bei Fachsprachen aber auch bedeutende Differenzen zu anderen Varietäten. Dazu gehört die Tatsache, dass die Frage, wie man die Gesamtheit der Fächer systematisiert, kulturgeschichtlich sehr früh bearbeitet wird-- zur Erinnerung: In Bezug auf die Gesamtheit der Varietäten setzen solche Bemühungen erst im 20. Jahrhundert ein. Ferner gibt es in unserem Kulturkreis eine sehr lange Tradition der Unterscheidung von Fächern: artes liberales gegenüber <?page no="166"?> 166 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? mechanicae (vgl. 4.3.). Das wiederum impliziert zumindest tendenziell, dass der Unterscheidung von Fächern ‚objektive‘ Gegebenheiten in der außersprachlichen Wirklichkeit zugrunde liegen und daher eine universale Klassifikation möglich sein muss. Schließlich haben Fächer und die Ausbildung darin eine außerordentlich große gesellschaftliche Relevanz. Das äußert sich u. a. darin, dass es eine Vielzahl von wissenschaftlichen Metatexten dazu gibt. Ein Untertyp davon sind Fachwörterbücher, in denen die wichtigsten Spezifika, eben die Fachwörter, bereits gesammelt sind. Anders als bei den übrigen Varietäten kann man also bereits auf umfangreiche Vorarbeiten aus Sicht der Experten der jeweiligen Fächer aufbauen. An der Frage, ob man das überhaupt will, scheiden sich aber offenbar die Geister. Festzuhalten ist zunächst, dass vorliegende Fächersystematisierungen in der Fachsprachenlinguistik eine erstaunlich geringe Rolle spielen. Dies hängt nicht zuletzt mit interessegebundener Fachkonstitution zusammen: Wie in Kapitel 1. erläutert, betrachtet Roelcke (2010: 7) die Tatsache, dass die Beschäftigung mit Fachsprachen „die längste Zeit allein in den einzelnen Fachbereichen selbst erfolgte“, als Hemmnis für die Entwicklung einer eigenständigen Fachsprachenlinguistik. Für ihn würde eine Orientierung an disziplinären Systematisierungen dazu führen, „dass eine entsprechende Gliederung von Fachsprachen in eine allzu starke Abhängigkeit von wissenschaftsbzw. fachgeschichtlichen Erwägungen zu geraten droht. Vor diesem Hintergrund erscheinen allein solche fachsprachlichen Gliederungen sinnvoll, die eine bestehende Fächergliederung nicht einfach übernehmen, sondern vielmehr erst zum Ausgangspunkt einer Suche nach innersprachlichen Merkmalen machen- […]. Auf dem Wege einer solchen an innersprachlichen Merkmalen orientierten Einteilung ist dann rückblickend sogar eine fachsprachenlinguistisch begründete Gliederung von Fächern und Fachbereichen selbst denkbar.“ (Roelcke 2010: 30 f.; Hervorhebungen K. A.) Diese Argumentation ist deswegen überraschend, weil sie dem ansonsten von Roelcke so stark propagierten kommunikativen Ansatz der Fachsprachenforschung widerspricht und in Bezug auf die Frage der horizontalen Gliederung doch wieder der Konzentration auf die innersprachlichen Merkmale das Wort redet. Innersprachliche Merkmale lassen sich aber am besten mit dem eigentlich abgelehnten ‚systemlinguistischen Inventarmodell‘ erfassen. Weniger gut rekonstruierbar ist Kalverkämpers Position in dieser Frage. Er stimmt aber mit Roelcke insofern überein, als er die Orientierung an dis- <?page no="167"?> 167 4.1. Vorbemerkungen zum Problemfeld ziplinären Systematisierungen für verfehlt hält. Dies wird damit begründet, dass man nicht einfach unterstellen dürfe, es gäbe „etwa ebensoviele Fachsprachen wie Fachbereiche“ (Fluck 1996: 16), „weil hier die sprachliche Einteilung ihr bestimmendes Maß nimmt an außersprachlichen Taxonomien“. Dies entspreche der „voreiligen bzw. wie selbstverständlichen Annahme einer Eins-zu-eins- Relation (d. h. ein [wie auch immer bestimmtes und begrenztes] Fach hier, und dann ‚seine‘ Fach‚sprache‘ dort)“ (Kalverkämper 1998a: 11; Zusatz in eckigen Klammern im Orig.). Wie das oben in ausführlicherem Zusammenhang präsentierte Zitat zeigt, befürchtet Kalverkämper, dass dies zu einer ‚möglicherweise ins absurd Minimale reichenden Reduktion im Fach(gebiet)‘ führen würde. Seine Beispiele sind aber m. E. nicht geeignet, diese These zu stützen. Denn die hypothetisch angesetzte ‚Fachsprache des Fabrikarbeiters an der elektronisch gesteuerten Buntmetallsäge‘ orientiert sich nicht an einer disziplinär vorgegebenen Fachcharakterisierung. Dieser ‚Fachsprache‘ entspricht kein von irgendjemandem unterstelltes Fach, nicht einmal ein Beruf; zugrunde liegt vielmehr eine Tätigkeitsbeschreibung. Würde man bei der fachlichen Subklassifizierung auf ein derart spezifisches Niveau zurückgehen, so reichten dafür 7.000 Fächer bei weitem nicht aus; diese Zahl müsste man verzehn-, wenn nicht gar verhundertfachen. Wir kommen damit auf die Frage zurück, was denn eine genuin linguistische Fachsprachenforschung ausmachen könnte (vgl. 1.). Betont wird von ihren Verfechtern, dass dabei Sprache bzw.-- etwa in der dezidiert pragmalinguistischen Version von Roelcke-- Kommunikation im Vordergrund zu stehen habe. Für die Frage, wie Fach und Sprache zusammenhängen und welche Untersuchungsansätze das mit sich bringt, lassen sich allerdings mindestens die drei folgenden Unterperspektiven bzw. Fragen rekonstruieren: ▶ Welche sprachlichen Mittel nutzen Menschen, die sich in einer Gesellschaft auf die Bearbeitung eines bestimmten Weltausschnitts spezialisiert haben, um sich darüber miteinander zu verständigen? Dies stimmt überein mit dem Forschungsprogramm von Hoffmann (vgl. 1.3. und 2.3.) und dürfte der verbreitetsten Vorstellung dessen entsprechen, was Fachsprachenlinguistik ausmacht. Hier geht es um die Sprachmittel bei der Kommunikation im Fach. <?page no="168"?> 168 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? Diese varietätenlinguistische Perspektive ist grundsätzlich auf außersprachlich definierte Variablen, die Fächer, angewiesen: Korpora müssen nach Fächern vorsortiert werden; dabei orientiert man sich in der Regel an den von den Fachexperten selbst benutzten Fächergliederungen bzw. -zuordnungen. Es kann in diesen Zusammenhängen aber auch zu den von Kalverkämper als absurd minimal bezeichneten Konstellationen kommen, wenn man nämlich nach feinen Unterschieden sucht bzw. entsprechenden Hypothesen nachgeht (vgl. 2.3.). Sie sind also eher für linguistische Fragestellungen als für fachdisziplinäre charakteristisch, denn für die ersteren muss man ein möglichst gut kontrolliertes Korpus zusammenstellen. Absurd wirken diese extrem präzis konkretisierten Untersuchungsobjekte überdies nur, wenn man darauf verzichtet, dahinter stehende Hypothesen zu (re)konstruieren: Es ist es ja durchaus erwartbar, dass die Einführung elektronischer Steuerung bei Buntmetall- und sonstigen Sägen (oder auch anderen Apparaten) einen Einfluss auf die Kommunikation bei der Arbeit damit hat, u. a. auf die Anleitungen dazu. Denn Einstellungen müssen (und können) nicht mehr manuell vorgenommen werden, entsprechende Hinweise entfallen also. Eine weitergehende Hypothese könnte sein, dass syntaktische Muster sich ändern: Maschinen, denen eigentlich die semantische Rolle Instrument zukommt, treten gehäuft in Positionen auf, die prototypisch vom Agens besetzt werden: Die Maschine regelt selbständig …/ fordert Sie auf …/ meldet im Bedarfsfall … usw. ▶ Welche Ausdrücke gibt es in einer (historischen) Sprache, um sich auf den Weltausschnitt ‚Fächer‘ zu beziehen? Hier geht es um die Sprachmittel bei der Kommunikation über Fächer. Diese Frage ist eine der für Kalverkämper zentralen: Ein Fach wird sprachlich konstituiert, indem man einen Ausdruck dafür einführt bzw. benutzt. Der Sprachvergleich ergibt zunächst, dass dem deutschen Ausdruck Fach in anderen europäischen Sprachen kein ähnlich abstraktes und geläufiges Wort an der Seite steht (vgl. 1.3.) und es im Deutschen besonders viele Signale (Wortbildungsmorpheme) gibt, die auf (unterschiedliche Arten von) Fachlichkeit schließen lassen (vgl. Kalverkämper 1992: 42 ff.). Kalverkämper führt als ein Beispiel französisch journalisme an, dem im Deutschen gegenüberstehen: Zeitungswesen, Zeitungswissenschaft, Journalismus, Journalistik. Hinzufügen wird man auch noch Publizistik, ein Ausdruck, bei dem in Wikipedia (September 2016) nur eine anderssprachige Seite erscheint, nämlich Litauisch. <?page no="169"?> 169 4.1. Vorbemerkungen zum Problemfeld Dahlberg (1974b) hat 6.800 Fächer-Benennungen gesammelt und auf ihre formale Bildung hin untersucht. An „Wortbildungen, die für das Deutsche eigentümlich sind“ (ebd.: 423), nennt sie solche auf -lehre, -kunde und -wesen. Diese sowie Bildungen auf -wissenschaft und -technik sind teilweise synonym; daher „sollte man versuchen zu reduzieren, also entweder zu streichen oder auf Vorzugsbenennungen zu verweisen. Dies darf, da ja Fachsprache betroffen ist, nur in Zusammenarbeit mit den Experten der Fachbereiche geschehen“ (ebd.: 426). ▶ Wie werden Fächer innerhalb einer Gesellschaft als sozial verbindliche Konstrukte, als soziale Wirklichkeiten, geschaffen? Dies führt zurück auf die am Ende von 2.4. behandelte These, dies geschehe durch spezifische sprachliche Akte, nämlich deklaratorische, die Fächer innerhalb von Institutionen als Fächer setzen. Dazu gehören insbesondere die Fächerkategorisierungen, die in der Bildungsadministration eingeführt oder (weiter)verwendet werden, also z. B. bei der (Um-)Organisation universitärer Fakultäten / Fachbereiche oder der Einführung / Abschaffung von Lehrstühlen mit thematischer Spezifizierung. Auch durch Texte, die das Bestehen des Fachs voraussetzen (Fachwörterbücher, Bibliografien, Handbücher usw.), wird es als solches (mit)konstituiert. Diese letzte Fragestellung passt am besten zu der in 2.4. besprochenen abstrakten Definition von Fach, die auch auf besonders breite Zustimmung zu stoßen scheint. Fach ist danach ein ‚Gegenstandsbereich, auf dessen Bearbeitung unter einer bestimmten Perspektive sich in einer bestimmten Gesellschaft Menschen spezialisiert haben‘. Bei Kalverkämper heißt es dazu: „Die Fachlichkeit als eine außersprachliche Qualität von ‚Fach‘-[…] kann keine absolute Zuordnungsgröße sein-[…], weil ja das Fach als solches den gesellschaftlichen Erfordernissen und institutionellen, wissenschaftlichen und berufssystematischen Bedürfnissen gleichsam angepaßt wird bzw. werden kann-[…], also sich letztlich als eine relationale Zuordnungs-, Einteilungs- oder Ausschnittsgröße ‚der Welt‘ offenbart. Sein Charakteristikum, die Fachlichkeits-Qualität, ist aber ihrerseits ebenfalls nicht natura vorhanden, also durchaus nicht dem außersprachlichen Gegenstand, Sachverhalt oder Handlungszusammenhang gleichsam anhaftend oder mitgegeben oder inhärent; vielmehr wird dies nur erstellt, geschaffen, die Fachlichkeit wird konstituiert, und zwar durch ‚Kommunizieren darüber‘“(Kalverkämper 1998b: 31; Kursivierung im Orig., Fettdruck K. A.). <?page no="170"?> 170 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? Versuchen wir, das etwas konkreter zu fassen: Es gibt Gesellschaften, in denen es zum Alltagswissen gehört, was ein Fischwehr ist, wie man es herstellt und damit umgeht, und in denen auch alle wissen, wie man eine Wand zustande bringt bzw. eine Hütte baut. Hier wird v. a. praktisch gehandelt, dabei vielleicht auch kommuniziert, aber gewiss nicht sprachlich-kommunikativ ein Fach hervorgebracht. Das entsprechende Wissen und die Fertigkeiten gehören in diesem Fall gemäß der abstrakten Definition von Fach nicht zu fachlichem Wissen und das ‚Fach‘ wird auch nicht als solches benannt. Selbst wenn die Arbeitsteilung soweit fortgeschritten ist, dass es für entsprechende Tätigkeiten beruflich spezialisierte Personen gibt, ist das fachliche Wissen nicht an diese Personengruppe gebunden: Auch heute gibt es Menschen, die Fische fangen, ohne beruflich darauf spezialisiert zu sein, und auch solche, die als Heimwerker ihre Wohnstätten selbst (um)bauen. Dieselben Kenntnisse und Kommunikationsmittel können also in einer Gesellschaft als fachliche gelten, in einer anderen nicht. Wenn etwas als Fach gilt, stellt sich weiter die Frage, wer zu dem entsprechenden Wissen Zugang hat, in welchen Ausbildungsgängen es vermittelt wird (vgl. 3.3.). Das sind empirische Fragen, die sich nur in Bezug auf einen „soziokulturellen Geltungsbereich“ (Kalverkämper, s. o.) beantworten lassen; deswegen ist jeder Streit über ‚die‘ Anzahl von Fächern so sinnlos. Man muss vielmehr die Kommunikation über Fächer untersuchen. Elementar sind dabei die entsprechenden Wortfelder gemäß der zweiten Perspektive. Das dort angeführte Beispiel journalisme zeigt allerdings auch die Problematik einer rein wortorientierten Untersuchung: Es fragt sich ja, worin sich die deutschen Quasi-Synonyme genau unterscheiden (sollen), speziell, ob es jemanden gibt, der sie alle gleichzeitig in präziser Abgrenzung gegeneinander verwendet. Selbst wenn das der Fall sein sollte, muss man doch zur Verständigung über (Sub-)Disziplinen und konkurrierende Systematisierungen (auch über Sprach- und Ländergrenzen) hinweg eine an den jeweils gemeinten Sachen orientierte Meta-Klassifikation erstellen, also verschiedene Gliederungen einander gegenüberstellen und den eigenen Sprachgebrauch darauf abbilden. Dabei geht es dann auch um Systematisierungen entsprechend der dritten Perspektive: Welche Systematisierungen sind wo gültig? <?page no="171"?> 171 4.2. Fächerklassifikationen aus historischer und theoretischer Perspektive 4.2. Fächerklassifikationen aus historischer und theoretischer Perspektive Wie bereits erwähnt, setzt das Nachdenken über das gesellschaftlich vorhandene Wissen und seine Einteilung kulturgeschichtlich sehr früh ein. Die Aufarbeitung dieser Reflexion, also eine Meta-Meta-Perspektive spielt aber in der Fachsprachenforschung fast keine Rolle. Ein Standardwerk dazu ist die Dissertation von Ingetraut Dahlberg: Grundlagen universaler Wissensordnung (1974a). Sie wurde 2010 nachgedruckt und steht auch als E-Book zur Verfügung. Diese Grundlagenstudie findet sich in den Überblickswerken zur Fachsprache kaum zitiert. Kalverkämper erwähnt sie zwar lobend, geht aber auf ihr eigentliches Anliegen nicht ein; was er über das Buch mitteilt, lässt fast an ein Kuriosum denken: „In ihrem zu diesem Thema ausgezeichneten Buch skizziert Dahlberg (1974, Kap. 2)-[…-diverse 54 ] Klassifikationen (von Fächern bzw. Sachgebieten); ein Anhang (293-324) bietet eine Auswahl von 27 Klassifikationssystemen von 1250 v. Chr. bis heute in die siebziger Jahre“ (Kalverkämper 1998a: 10). Die Fragestellung dieses Werks richtet sich auf Probleme und Möglichkeiten eines universalen Klassifikationssystems des Wissens, so der Untertitel der Arbeit. Die historische Übersicht in Kapitel 2 will nicht zuletzt die Universalität universaler Systeme hervorheben: „Es sollte dabei einerseits gezeigt werden, daß nicht nur je schon universale Systeme intendiert und verwendet wurden, sondern daß diese in ihren jeweiligen Anwendungsbereichen auch Geltung besaßen und akzeptiert wurden [= als soziale Realitäten existierten].-[…] Es ging vor allem darum, zu zeigen, daß der Aufbau universaler Klassifikationssysteme (oder vielleicht besser: universaler Ordnungen der Zusammenhänge begrifflichen Wissens) in mehreren Anwendungsbereichen immer schon als Menschheits-Aufgabe angesehen wurde und darum auch heute noch gelten sollte“ (Dahlberg 1974a: 98 f.). Damit argumentiert Dahlberg gegen die im Raum stehende und oft genug explizit formulierte Auffassung, es könne gar keine universale Klassifikation geben, weil Klassifikationen eben immer aus einer bestimmten Perspektive 54 Die hier angeführten Kategorien sind ausgelassen, da sie am Ende dieses Abschnitts in übersichtlicherer Form präsentiert werden. Die vierte Kategorie, ausgerechnet die linguistisch fundierte, fehlt übrigens in Kalverkämpers Wiedergabe. <?page no="172"?> 172 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? erfolgen und jeweils nur für bestimmte Zwecke sinnvoll sind. Die Sinnlosigkeit eines universalen Unterfangens wurde auch damit begründet, dass es „den universalen Benutzer nicht gäbe“ (ebd.: 274). Dahlberg identifiziert dagegen als durchaus existierende universale Benutzer „die Bibliothekare der Universalbibliotheken, die Herausgeber von Universalbibliographien aller Dokumentarten udgl.“ (ebd.). Diese müssen irgendwelche Ordnungssysteme zugrunde legen. Das dritte Kapitel ist dem Vergleich der sechs am häufigsten verwendeten Systeme gewidmet, die aus diesem Anwendungsbereich stammen und aus der Praxis erwachsen sind. Das älteste davon ist die 1876 konzipierte Dewey Decimal Classification ( DDC ), deren Dezimalnotation als ‚revolutionär‘ empfunden wurde, weil sie beliebig erweiterungsfähig ist (vgl. ebd.: 119) und sich besonders für die „Computerisierbarkeit“ (ebd.: 198) eignet. Die Zahlennotation trug wesentlich zur weiten Verbreitung des Systems besonders im englischen Sprachraum bei. Entsprechendes gilt für die Universelle Dezimalklassifikation ( UDC ), die auf der DDC aufbaut und ab 1897 in Belgien im Institut International de Bibliographie entwickelt wurde; sie ist in der nicht-englischsprachigen Welt stärker vertreten. Da es in diesem Praxisfeld darum geht, existierende Dokumente zu sortieren und zu verschlagworten, spiegeln alle diese Systeme den zur Zeit ihrer Entstehung vorhandenen Wissensstand wider und müssen kontinuierlich revidiert werden. Diese Revisionen erfolgten jedoch ohne klare Prinzipien, so dass die Systeme zunehmend undurchsichtiger und schwerer handhabbar geworden sind. Den Klassifikationen fehlt die theoretische Fundierung. Dahlberg beschließt daher das dritte Kapitel mit einer Zusammenstellung der Mängel der Systeme (Kap. 3.6) und Postulaten für den Aufbau eines flexiblen Systems, mit dem man die entsprechenden Probleme vermeiden kann. Grundüberlegung ist dabei, dass für diesen Zweck nicht „Thema-Klassifikationen“, sondern nur „Begriffsklassifikationen“ infrage kommen, wie Eugen Wüster, der Vater der Terminologielehre (vgl. 1.1.), bemerkt (vgl. ebd.: 191). Beide hängen allerdings engstens zusammen. Das findet sich näher ausgeführt in dem zweiten Artikel aus HSK 14, in dem Dahlbergs Buch Erwähnung findet: Terminologie und Dokumentation-- T & D. Die Autoren unterscheiden mehrere Lesarten von Dokumentation; die in unserem Zusammenhang einschlägige ist die folgende: <?page no="173"?> 173 4.2. Fächerklassifikationen aus historischer und theoretischer Perspektive „Dokumentation umfaßt im engeren Sinne das Erwerben, Ordnen, Speichern / Lagern, Abrufen und Verteilen von Dokumenten sowie die Tätigkeiten des Dokumentierens und Archivierens von Informationen, Fakten oder Dokumenten aller Art.“ (Galinski / Budin 1999: 2219) „Bereits ab wenigen Laufmetern Umfang oder relativ kleinen Datenbeständen gewinnen die Begriffe ‚Ordnung‘ und ‚Organisation‘ eine grundlegende Bedeutung in jeder Dokumentation.-[…] Für die inhaltliche Einteilung wurden im Laufe der Zeit die sog. Dokumentationssprachen entwickelt.“ (ebd.: 2220; Kursivierung im Orig.; Fettdruck K. A.) „Dokumentationssprachen sind sog. Themensysteme und können als solche als Makrostruktur des Wissens angesehen werden. Terminologien dagegen entsprechen Begriffssystemen, die als die Mikrostruktur des Wissens angesehen werden können.“ (ebd.: 2221; Hervorhebungen K. A.) Die Makrostrukturen kommen nach einem Top-Down-Verfahren zustande: Wenn ich die ganze Welt, alles, was es überhaupt gibt oder was denkbar ist, einteilen will, mit welchen Großklassen arbeite ich dann? Diesen Großklassen entsprechen die ersten drei Ziffern des Dezimalsystems. Da inzwischen auch die Deutsche Nationalbibliothek zur Arbeit mit der DDC übergegangen ist, seien die Aufteilungen auf oberster Stufe und für den Bereich Linguistik hier wiedergegeben <?page no="174"?> 174 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? Die zehn Hauptklassen der DCC 000 Informatik, Informationswissenschaft, allgemeine Werke 100 Philosophie und Psychologie 200 Religion 300 Sozialwissenschaften 400 Sprache 500 Naturwissenschaften und Mathematik 600 Technik, Medizin und angewandte Wissenschaften 700 Künste und Unterhaltung 800 Literatur 900 Geschichte und Geografie Zweite Übersicht Dritte Übersicht 410 410 Linguistik 411 Schriftsysteme 412 Etymologie 413 Wörterbücher 414 Phonologie, Phonetik 415 Grammatik 416 [Unbesetzt] 417 Dialektologie, historische Linguistik 418 Standardsprache; Angewandte Linguistik 419 Gebärdensprache Erste Übersicht Zweite Übersicht Abb. 4.1: Dewey Dezimalklassifikation (Auszug) ( www.ddc-deutsch.de/ Subsites/ ddcdeutsch/ DE/ DDCprodukte/ DDCuebersichten/ DDCuebersichten_node.html; <6. 11. 2017>) Die ersten drei Ziffern waren in DDC und UDC ursprünglich identisch (die anderen Systeme arbeiten mit Buchstaben oder Buchstaben-Zahlen-Kombinationen). In der UDC wurden später jedoch Sprache und Literatur unter 800 zusammengelegt, 400 ist derzeit unbesetzt. In der DDC stehen auf der zweiten Ebene neben 400 Sprache und 410 Linguistik unter den Kennziffern 420-480 Sprachen bzw. Sprachgruppen, und zwar nur indoeuropäische; 490 ist betitelt Andere Sprachen. Auf der dritten Ebene ergeben sich selbstverständlich 1000 Hauptklassen, von denen jedoch manche unbesetzt sind (z. B. 416). In den restlichen drei Kapiteln ihres Buches erörtert Dahlberg theoretische Grundlagen für den Aufbau eines universalen Klassifikationssystems. Sie berücksichtigt dabei alle möglichen Aspekte und bezieht insbesondere auch linguistische Kriterien ein, und zwar nicht nur Bezeichnungen für Fächer (Dahlberg 1974a: Kap. 4.2.1; vgl. auch Dahlberg 1974b), sondern z. B. auch „Syntagmatische Relationen“ im Sinne von Prädikatsergänzungen (Dahlberg 1974a: Kap. 5.3.4). Die Kernidee ist, ohne hierarchische Konzepte zu arbeiten, da die <?page no="175"?> 175 4.2. Fächerklassifikationen aus historischer und theoretischer Perspektive begriffliche Wirklichkeit polyhierarchisch ist (vgl. ebd.: 192). Ferner ist keine vorgegebene Makrostruktur für Fächer vorgesehen, sondern möglichst abstrakte ontische „Fundamentalkategorien“. Sie gehen fast alle unmittelbar auf Aristoteles zurück (vgl. Dahlberg 2014: 42) 55 und führen durch Kombinatorik zu komplexen Begriffen und Begriffskomplexen. Dies entspricht einer Entwicklung hin zu semantischen Netzen. Das Beispiel der Hauptklasse 400 zeigt sehr gut das Problem: Die Untergliederungen 411-419 müssen nämlich auch bei 421-491 alle wiederkehren, da bei jeder Sprache die verschiedenen Sprachebenen und Subdisziplinen zu berücksichtigen sind. Sprachvergleichende Werke müssen an den verschiedensten Systemstellen eingeordnet werden. Es versteht sich, dass es viel einfacher und ökonomischer ist, mit kombinierbaren Ausdrücken zu arbeiten, also dem Prinzip zu folgen: Grammatik & Tempus & Spanisch & Englisch. Das Buch ist sehr geeignet, genauer zu verstehen, warum (universale) Klassifikationen so schwierig sind. Tatsächlich handelt es sich um eine Wissenschaft für sich. Diese Wissenschaft ist nicht sehr bekannt, was vielleicht auch daran liegt, dass die Bezeichnung dafür, Informationswissenschaft, nicht besonders prägnant ist und es sich um ein fundamental interdisziplinäres Gebiet handelt. Die Kriterien für institutionelle Etablierung sind jedoch klar erfüllt: Fachgesellschaften, Studiengänge, Fachzeitschriften und regelmäßige Symposien. 55 Es handelt sich um die folgenden Kategorien: Eigenschaften (Quantität, Qualität, Relation), Aktivitäten (Handlung, Prozess, Zustand) und Dimensionen (Ort, Zeit, Lage). Lediglich die aristotelische Kategorie Substanz wird umbenannt in Entitäten und weiter unterteilt, nämlich in Prinzipien, immaterielle und materielle Objekte. <?page no="176"?> 176 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? In diesem Bereich ist die 1927 geborene Ingetraut Dahlberg bis zu ihrem Tod im Jahr 2017 (auch weltweit) eine der wichtigsten Personen. Sie hat ihre Arbeit bei der 1941 gegründeten und 1948 reaktivierten Deutschen Gesellschaft für Dokumentation (DGD) begonnen, die heute Deutsche Gesellschaft für Information und Wissen ( DGI ) heißt (http: / / dgi-info.de/ ). 1974 gründete sie selbst die Zeitschrift International Classification ( IC ), heute unter dem Titel Knowledge Organization herausgegeben von der International Society for Knowledge Organization ( ISKO ), die Dahlberg 1989 mitbegründet hat. 56 Diese internationale Gesellschaft umfasst diverse nationale Sektionen (für die deutsche s. isko-de.org/ ). Außer der Zeitschrift gibt die ISKO auch Schriftenreihen heraus und organisiert Konferenzen. 2014 veröffentlichte Dahlberg in der Reihe Textbooks for Knowledge Organization ein aktuelles (recht persönlich gehaltenes) Übersichtswerk: Wissensorganisation: Entwicklung, Aufgabe, Anwendung, Zukunft. - Über die Studiengänge orientiert der Hochschulverband Informationswissenschaften (www. informationswissenschaft.org/ ). In der deutschen Wikipedia ist der Themenbereich ausführlich behandelt. Das von Dahlberg auf der Grundlage ihrer theoretischen Voruntersuchungen entwickelte Klassifikationssystem heißt Information Coding Classification ( ICC ) und umfasst ca. 6.500 Wissensgebiete. Derzeit wird an seiner Verwendung im Rahmen automatisierter Klassifikationen gearbeitet. Bisher ging es um die Möglichkeit universaler Klassifikationen. Die wenigsten Leser dieses Buches dürften allerdings ‚universale Benutzer‘ sein, für die eine solche Klassifikation notwendig ist. Es bleibt also das Problem, dass universale Klassifikationen im Gegensatz zu Spezialklassifikationen stehen, die für eingeschränkte Anwendungsbereiche erstellt werden. Dieser Konflikt lässt sich ebenso aufheben wie der zwischen Korrelations- und Schibboleth-Ansatz (vgl. 2.3.): Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen. Dies bezeichnet Dahlberg (1974a: 275) als die „Zwei-Systeme-Theorie der Klassifikation“, bei der 56 Diese Gründung geht übrigens auf gravierende Konflikte innerhalb der seit 1977 bestehenden Gesellschaft für Klassifikation (www.gfkl.org/ welcome/ ) zurück, in der eine „Arbeitsgruppe für mathematische (also formale) Klassifikation“ (Dahlberg 2014: 33) im Laufe der Zeit die Oberhand gewann bzw. die Gesellschaft „von Klassifikationsstatistikern unterwandert worden war“ (ebd.: 7; Vorwort ), so dass sich die begriffsorientierte Ausrichtung neu in der ISKO organisierte. Robert Fugmann, der das Vorwort beigesteuert hat, bescheinigt den Klassifikationsstatistikern eine „fast krankhafte Abneigung gegen die klassisch-philosophischen Prinzipien, die auf diesem Gebiet herrschen“ (ebd.). <?page no="177"?> 177 4.3. Fächergliederungen aus fachsprachenlinguistischer Perspektive sich ein (polyhierarchisches! ) Universalsystem nur „im Hintergrund“ befindet und der Benutzer (bzw. das Dokumentationssystem) „nur diejenigen Klassen aktiviert, die tatsächlich in einer Anwendungssituation benötigt werden“ (ebd.: 276). „Der Benutzer kann sich aus den ‚abgerufenen‘ Begriffen ein eigenes System für seine speziellen Bedürfnisse entwickeln und seinen Begriffen sogar eigene, vielleicht kürzere Notationen geben. Er muß dann lediglich beim Austausch mit anderen oder in Publikationen die ‚Universalnotationen‘ verwenden.“ (Dahlberg 1974a: 276) Vorzustellen bleiben nun noch die (anderen) Anwendungsfelder, mit denen Dahlberg in ihrem historischen Überblick rechnet. Diese ordnet sie folgendermaßen an: A Klassifikationen zur Wissensdarstellung 1. Philosophische Klassifikationen 2. Pädagogisch-didaktische Klassifikationen B Klassifikationen zur Wissensverwendung 3. Enzyklopädische Klassifikationen 4. Wörterklassifikationen und linguistische Thesauri [≈ onomasiologische Wörterbücher] C Klassifikationen zur Wissensvermittlung [= Gegenstand des 3. Kap. von Dahlberg] 5. Bibliothekarisch-bibliographische Klassifikationen 6. Dokumentarisch-informemologische Klassifikationen D Klassifikationen zur Wissensorganisation 7. Wissenschafts-, wirtschafts- und verwaltungspolitisch-orientierte Klassifikationen 8. Informationssystemorientierte Klassifikationen Abb. 4.2: Verwendungsgebiete von Klassifikationssystemen (nach Dahlberg 1974: 30; Dahlberg arbeitet zwar im Text mit den vier Großbuchstaben, sie sind aber bei ihr nicht in die Übersicht integriert) Von diesen sind für nicht-spezialisierte Menschen am relevantesten diejenigen, die (die Verwaltung von) Ausbildung (Schule, Hochschule und Beruf) und Forschung betreffen, also 2. und 7. Sie bilden den Gegenstand von Abschnitt 4.4. 4.3. Fächergliederungen aus fachsprachenlinguistischer Perspektive Wie schon erwähnt, bezieht man sich in der Fachsprachenlinguistik kaum explizit auf vorliegende Fächersystematiken, die Gegenstand von 4.2. waren. Die horizontale Gliederung spielt-- im Gegensatz zur vertikalen-- überhaupt nur <?page no="178"?> 178 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? eine geringe Rolle. 57 Für empirische Untersuchungen wählt man in der Regel wenige Fächer aus und orientiert sich bei der Korpuszusammenstellung an den Selbstkennzeichnungen (Texte aus Zeitschrift für- …/ Handbuch der- … usw.). Nur Lothar Hoffmann hat tatsächlich die Gesamtheit der Fächer zumindest prinzipiell im Blick (Abb. 4.3). Von der Abstraktionsebene her liegen die bei ihm beispielhaft angeführten Fächer etwa auf der zweiten Gliederungsstufe der DDC (das entspricht der Größenordnung 100 Fächer). Die bei ihm genannten haben auch überwiegend eine Entsprechung im System der DDC . Die künstlerische Prosa fungiert in Hoffmanns Gliederung als Kontrastfolie, sie entspricht einem ganz anderen Typ von Subsprache. Künstl. Prosa Literaturwissensch. Pädagogik Philosophie Ökologie der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft Landwirtschaftswissensch. Tierproduktion u. Veterinärmedizin Bauwesen Maschinenbau Elektrotechnik Medizin Chemie Physik Mathematik ... ... ... ... ... ... Abb. 4.3: Horizontale Fächergliederung (Hoffmann 1985: 58) Die Punkte in der Skala sollen andeuten, dass zwischen den untersuchten Gebieten noch andere liegen, eine „fertige und vollständige Gliederung der Fachsprachen“ hält Hoffmann ohnehin nicht für möglich. Er ist der Auffassung, man solle (mindestens) auf dieser Abstraktionsebene arbeiten und nicht zu große und undifferenzierte Mengen bilden: „Bei den Fachsprachen wäre eine Zusammenfassung zu bestimmten Komplexen denkbar: Naturwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften, Technische Wissenschaften, Materielle Produktion usw. Aber die Stärke fachsprachlicher Untersuchun- 57 Fluck (1996: 16 f.) widmet ihr z. B. gerade einmal eine knappe Seite, während die vertikale Schichtung auf sechseinhalb Seiten abgehandelt wird (ebd.: 17-23; zusätzlich 194-196). Möhn / Pelka (1984: 34 ff.) beziehen sich auf die Berufsklassifizierung der Bundesanstalt für Arbeit und die DDC, halten es aber für fraglich, ob dies zu einer sinnvollen Ordnung für linguistische Zwecke führt. <?page no="179"?> 179 4.3. Fächergliederungen aus fachsprachenlinguistischer Perspektive gen liegt nicht in der Vereinigung der Subsprachen zu Gruppen, sondern in ihrer immer weiter fortschreitenden Differenzierung, die der zunehmenden Spezialisierung der menschlichen Tätigkeiten direkt entspricht.“ (Hoffmann 1985: 63) Die Frage, welche Abstraktionsebene sich eignet, hängt selbstverständlich von den jeweiligen Zwecken der Gliederung ab. Um eine Übersicht zu gewinnen, eignen sich eher Gliederungen im einstelligen Bereich. Hoffmann zielt dagegen auf mikrostrukturelle Textanalysen. Seine empirischen Untersuchungen zu Stichproben ausgewählter Fächer gründen insbesondere auf der Auswertung des Ausmaßes übereinstimmenden Wortschatzes und erlauben so, den Abstand zwischen einzelnen Fächern zu ermitteln. Das führt etwa zu folgenden Ergebnissen (vgl. Hoffmann 1985: 60 f.): FS Physik - FS Philosophie 46,0 % FS Medizin 46,5 % FS Chemie 54,2 % FS Mathematik 55,5 % Künstlerische Prosa 26,4 % FS Philosophie - FS Physik 39,7 % FS Medizin 40,1 % FS Chemie 40,8 % Künstlerische Prosa 37,5 % Hoffmann verfolgt nicht zuletzt fremdsprachendidaktische Interessen wie die Zusammenstellung von fachspezifischen Grundwortschätzen. Wie schon in 1.3. und 2.3. hervorgehoben, kann dieses Verfahren im Prinzip zu einer linguistisch begründeten Fächergliederung führen. Es ist aber außerordentlich aufwendig, angesichts der schieren Menge von Fächern und Dokumenten sowie der Dynamik fachlicher Entwicklungen praktisch nur ansatzweise durchführbar und in der Forschungspraxis auch nicht in größerem Umfang weiterverfolgt worden. Wie Hoffmann selbst schon relativ früh konstatiert (vgl. 3.2.1.), verschwimmen die Fächergrenzen zunehmend und interdisziplinäre Projekte gewinnen immer mehr Gewicht. Diese Dynamik hat sich im 21. Jahrhundert mit der durchgreifenden Digitalisierung noch einmal erheblich beschleunigt (man denke etwa an Digital Humanities). Außerdem haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten die Produktions- und Distributionsbedingungen (auch) für Fachtexte stark verändert. Auch wenn bestimmte Komponenten der Fachkommunikation stabil bleiben, sind doch konkrete Forschungsergebnisse, die in den 1960er bis 1980er Jahren gewonnen wurden, eher als historische Vergleichsdaten verwertbar, sie entsprechen nicht mehr dem aktuellen Stand des (fachlichen) Textuniversums. <?page no="180"?> 180 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? Die spezifisch linguistischen Fachsprachgliederungen stammen nun eben aus jener Zeit und sind sogar besonders stark durch die damaligen Forschungsinteressen geprägt. Die sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelnde Fachsprachenforschung widmet sich zunächst v. a. den Techniksprachen, die als jüngstes und besonders dynamisches Phänomen das größte Interesse auf sich ziehen. 58 Vor diesem Hintergrund wurden die Wissenschaftssprachen in das Gesamtfeld Fachsprachen gewissermaßen sekundär ‚eingemeindet‘, es kam also zu dem sehr breiten Konzept von Fach, das für die deutsche Sicht typisch ist. In anderen Konzeptionen stellt man Wissenschaftssprachen auf der einen Fachsprachen auf der anderen Seite gegenüber. 59 Dass dies die historisch relevante Gliederung ist, ergibt sich aus der Tatsache, dass die älteren Ausprägungen beider Gruppen praktisch und sprachlich kaum etwas miteinander zu tun haben: Die älteren Fachsprachen erwachsen aus praktischen Arbeitszusammenhängen und sind regional und mündlich geprägt. Die älteren Wissenschaftssprachen kommen dagegen insofern von der Theorie her, als sie eine formalisierte Ausbildung, Lateinkenntnisse und Schriftlichkeit, schließlich eine universitäre Ausbildung voraussetzen; es handelt sich um den für die gesellschaftliche Elite relevanten und ursprünglich nur dieser zugänglichen Wissensbestand. Hierin münden die sieben freien Künste (artes liberales), die deswegen so heißen, weil sie die Bildung eines freien Mannes ausmachen, der nicht darauf angewiesen ist, sich den Lebensunterhalt durch Ausübung einer beruflichen Tätigkeit, basierend auf den artes mechanicae (grob gesehen: handwerklichen Berufen), zu verdienen. Im mittelalterlichen Kanon umfassten die sieben freien Künste ein sog. Trivium (Dreiweg, von daher der Ausdruck trivial) mit sprachlich orientierten Fächern und ein Quadrivium (Vierweg), das Zahlenkünste betrifft. Trivium Quadrivium Grammatik Rhetorik Dialektik / Logik Arithmetik Geometrie Astronomie Musik Abb. 4.4: Die sieben freien Künste 58 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Internationalismus Technolekt (vgl. 1.3.) und das französische Syntagma langue scientifique et technique. 59 In der Reihe Studienbibliographien Sprachwissenschaft sind z. B. die beiden Bereiche in getrennten Heften bearbeitet (Kretzenbacher 1992 und Fluck 1998). Vgl. dazu auch Löffler (2016: 103). <?page no="181"?> 181 4.3. Fächergliederungen aus fachsprachenlinguistischer Perspektive Diese Fächer bildeten eine Art Propädeutikum, das Voraussetzung für universitäre Studien in den Fakultäten Theologie, Medizin und Jura war und selbst von der sog. Artistenzur Philosophischen Fakultät wurde. Die Unterscheidung zwischen den freien und den auf eine berufliche Tätigkeit zielenden praktischen Künsten lebt im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs durchaus weiter, und zwar in der Entgegensetzung von (Allgemein-) Bildung und beruflicher Aus- und Weiterbildung. In den Kontroversen um die Wissensgesellschaft ist sie sogar zentral (vgl. 3.2.), denn hier steht ja die Formel Bildung als Bürgerrecht der vom Lebenslangen Lernen gegenüber, das auf die kontinuierliche Anpassung an den Bedarf des Arbeitsmarktes zielt. In der (frühen) Fachsprachenlinguistik findet also mit der Zusammenschau von Wissenschaft und nicht-wissenschaftlichen Fächern einerseits eine Ausweitung des Untersuchungsobjekts statt, dessen Teile zuvor eher in getrennten Disziplinen untersucht wurden. Andererseits kommt es zu einer perspektivischen Verengung, da Fachwissen im Sinne professioneller Kompetenz im Fokus steht. Dies geschieht nun gerade zu einer Zeit und in einer Gesellschaft, in der auch die arbeitenden Menschen relativ viel Freizeit haben, in denen sich ferner die Bildung demokratisiert und Wissenschaft und Technik zunehmend in die Alltagswelt eindringen (vgl. 3.3.). Die Identifizierung von Fachlichkeit mit beruflicher Expertise wird diesen Entwicklungen nicht gerecht- - ebenso wenig allerdings dem älteren Konzept von Bildung und Wissenschaft. Deren hervorragendste Vertreter waren bekanntlich Universalgelehrte, und nicht etwa fachlich oder gar beruflich spezialisierte Personen. Auch heute noch rechnet man mit fachlich mehr oder weniger breit gebildeten Personen; wer nicht über den Tellerrand seiner Spezialdisziplin zu schauen vermag, gilt als Fachidiot. Aufgenommen und sogar verschärft wird von den älteren Vorstellungen allerdings die elitäre Sicht auf Wissenschaft und die soziale Höherwertung des über Schrifttexte und formalisierte Ausbildung vermittelten Wissens: Ganz oben steht die-- genauer gesagt: jetzt jeweils eine bestimmte-- Wissenschaft, die als Ausgangspunkt erscheint, von dem her eine nach unten gerichtete Wissensweitergabe zu erfolgen scheint. Dies entspricht den diversen Modellen vertikaler Schichtung, die in dieser Zeit entstanden sind. Roelcke stellt zwei dieser Modelle in einer Übersicht vergleichend gegenüber (Abb. 4.5): <?page no="182"?> 182 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? Bezeichnung nach Ischreyt Bezeichnung nach Hoffmann semiotische und sprachliche Merkmale kommunikative Merkmale Theoriesprache (Wissenschaftssprache) Sprache der theoretischen Grundlagenwissenschaften künstliche Symbole für Elemente und Relationen Wissenschaftler ↔ Wissenschaftler Sprache der experimentellen Wissenschaften künstliche Symbole für Elemente; natürliche Sprache für Relationen (Syntax) Wissenschaftler (Techniker) ↔ Wissenschaftler (Techniker) ↔ wissenschaftlichtechnische Hilfskräfte Fachliche Umgangssprache Sprache der angewandten Wissenschaften und der Technik natürliche Sprache mit einem sehr hohen Anteil an Fachterminologie und einer streng determinierten Syntax Wissenschaftler (Techniker) ↔ wissenschaftliche und technische Leiter der materiellen Produktion Sprache der materiellen Produktion natürliche Sprache mit einem hohen Anteil an Fachterminologie und einer relativ ungebundenen Syntax wissenschaftliche und technische Leiter der materiellen Produktion ↔ Meister ↔ Facharbeiter (Angestellte) Werkstattsprache (Verteilersprache) Sprache der Konsumtion natürliche Sprache mit einigen Fachtermini und ungebundener Syntax Vertreter der materiellen Produktion ↔ Vertreter des Handels ↔ Konsumenten ↔ Konsumenten Abb. 4.5: Vertikale Schichtung nach Ischreyt (1965; Spalte 1) und Hoffmann (1985; Spalten 2-4) (nach Roelcke 2010: 36) Es ist unmittelbar ersichtlich, dass sich solche Modelle besonders gut (oder vielleicht eher: allein) für Techniksprachen eignen. Denn nur diese umfassen die ganze Breite dessen, was ein (gegenstandskonstituiertes) Fach ausmachen kann, da hier Handwerk und Wissenschaft sozusagen zusammengewachsen sind: „die neueren Techniksprachen [haben] ihre Wurzeln in den nationalen Handwerkersprachen- […], die als Frühformen technischer Fachsprachen verstanden werden müssen und die sich erst später den wissenschaftlichen Fachsprachen und der Internationalisierung öffnen.“ ( HSK 14: XXVII ) Entsprechend dieser Darstellung verläuft der Weg umgekehrt: Die Handwerkersprachen öffnen sich mit der Zeit der Wissenschaft. Dies trägt auch der Tatsache Rechnung, dass nicht alle Handwerke einen wissenschaftlichen ‚Überbau‘ haben. Das Gemeinsame von Handwerk und modernen Techniksprachen, <?page no="183"?> 183 4.3. Fächergliederungen aus fachsprachenlinguistischer Perspektive nämlich in die Produktion materieller Güter zu münden, unterscheidet sie gerade von anderen Wissenschaften und Berufszweigen. Die Differenzierung einer horizontalen von einer vertikalen Gliederung ist grundsätzlich außerordentlich problematisch. Dies zeigt am besten das Schema, das Roelcke als weithin akzeptierte horizontale (! ) Grobklassifikation präsentiert; dabei ist die Abbildung 4.5 sozusagen um 90 Grad nach links gedreht (Abb. 4.6): Wissenschaftssprache Techniksprache Institutionensprache Wirtschaftssprache Konsumtionssprache Fachsprachen Theoriesprache Praxissprache Sprache der Naturwiss. Sprache der Geisteswiss. Sprache der Produktion Sprache der Fertigung Sprache des Dienstleistungssektors [...] Abb. 4.6: Horizontale Gliederung von Fachsprachen in Wissenschafts-, Technik- und Institutionensprache (mittel unterlegt) sowie stark vereinfachte Zuordnung einiger ausgewählter Ergänzungen (hell unterlegt) (Roelcke 2010: 31) In einer neueren Publikation unterzieht Roelcke (2014: 154) die hergebrachten Gliederungen einer Kritik und schlägt eine Typologie vor, „bei der Kriterien aus einem übergeordneten Modell abgeleitet und der Einteilung von Fachsprachen und Fachtexten vorgegeben werden“. Roelcke unterscheidet eine solche Typologie als theoretisch anspruchsvolleren Ansatz von Klassifikationen, die v. a. der praktischen Sortierung von Mengen dienen. Diese sind empirisch fundiert, gehen nämlich von vorfindlichen Kategorien aus; das sind z. B. (Bezeichnungen für) Fächer und Berufe (vgl. 4.4.) oder Mengen von Fachtexten (vgl. 4.2.). Er betrachtet die beiden Arten der Gliederung, also Typologie und Klassifikation, als einander ergänzend. Für die Typologie arbeitet Roelcke mit drei Dimensionen (so auch Roelcke 2010: 30): Neben der horizontalen und vertikalen ist eine dritte für „Verwen- <?page no="184"?> 184 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? dungsarten“ vorgesehen, womit Textsorten gemeint sind. 60 Was die vertikale Gliederung angeht, so kritisiert auch Roelcke ihre Herkunft aus Techniksprachen, die sich nur schwer auf andere Fächer übertragen lässt. Er hält es daher für „angebracht, eine Vielfalt an vertikalen Gliederungen in einzelnen Fächern und Fachbereichen anzunehmen, die sich jeweils in unterschiedlichen Ebenen sowie zahlreichen Misch- und Sonderformen zeigt“ (Roelcke 2014: 162). Um zu einer für alle Fächer gültigen Einteilung kommen zu können, greift er ausschließlich auf den Gegensatz Experte vs. Laie zurück und unterscheidet dabei fünf Konstellationen: ▶ Experten ein und desselben Fachs (unter sich) ▶ Laien in einem Sachbereich (unter sich) ▶ Experten verschiedener Ebenen oder Bereiche eines Faches ▶ Experte eines Fachs und Laie ▶ Experte eines Fachs und Experte eines anderen Fachs Da der Gegensatz Experte vs. Laie alles andere als scharf ist und zunehmend verwischt (vgl. 3.3.), außerdem viele Texte mehrfachadressiert sind, könnte man darin eher einen Rückschritt sehen, der neueren Entwicklungen (Verwissenschaftlichung der Gesellschaft, Einfluss der Fachsprache auf die Gemeinsprache, Bildungsexpansion) gerade nicht gerecht wird. In Bezug auf die horizontale Dimension ist Roelcke dagegen deutlich bemüht, aktuellen Tendenzen Rechnung zu tragen. Dabei steht für ihn im Vordergrund die „Entstehung der Neuen Medien und der damit verbundenen Menge an verfügbarer und zu verarbeitender Information“ (ebd.: 158 f.), die in den traditionellen horizontalen Gliederungen (gemäß Abb. 4.6) keinen Platz fänden. Er schlägt daher vor, sich für die horizontale Dimension an den Wirtschaftsbereichen/ -sektoren zu orientieren. Den Quartärsektor (Verarbeitung von Informationen), der für die Wissensgesellschaft charakteristisch sein soll (vgl. 3.1.), behandelt er dabei als etablierte Größe, obwohl es sich um ein höchst umstrittenes Konzept handelt, das in den offiziellen Dokumenten zu 60 Auf die genauere Erläuterung der bei den Textsorten verwendeten Kriterien (1. informativ vs. appellativ mit unterschiedlichem Verbindlichkeitsgrad, 2. konzeptionell mündlich vs. konzeptionell schriftlich und 3. fachlich innovativ vs. didaktisch aufbereitend) wird hier verzichtet. Insgesamt unterscheidet er auf dieser Grundlage acht Typen, deren Bezeichnungen intuitiv wenig eingängig sind, z. B. aktualisierend-regulierende Texte mit schriftlichem Charakter oder konfirmierend-sanktionierende Texte mit mündlichem Charakter. <?page no="185"?> 185 4.3. Fächergliederungen aus fachsprachenlinguistischer Perspektive Wirtschaftsdaten nicht benutzt wird (vgl. 4.4.). Zu diesem Sektor rechnet er „Kommunikationstechnologie, Beratungswesen, Bildung und Erziehung usw.“ (ebd.: 159), die man gewöhnlich dem Dienstleistungssektor zurechnet. Die eher traditionellen Gliederungen ordnet er den Wirtschaftssektoren folgendermaßen zu (Abb. 4.7): - 159 - Fachsprache 3-4 / 2014 Zur Gliederung von Fachsprache und Fachkommunikation Articles / Aufsätze verarbeitender Information (Gottmann 1961) kann hier ein zusätzlicher Wirtschaftssektor angesetzt werden (vgl. Schäfers 2002, Danielli et al. 2002): • quartärer Sektor (Verarbeitung von Informationen): Kommunikationstechnologie, Beratungswesen, Bildung und Erziehung usw. Selbst wenn dieser - aus wirtschaftswissenschaftlichen Erwägungen heraus angesetzte - quartäre Sektor quer zu den ersten drei Sektoren stehen sollte, da (elektronische) Informationsverarbeitung für diese Sektoren jeweils von erheblicher und weiter zunehmender Bedeutung erscheint, erweist er sich aus linguistischer bzw. semiotischer Sicht von großem Interesse. Unter Umständen sind es sogar entsprechende medien- und kommunikationswissenschaftliche Befunde, die den Ansatz dieses Sektors letztlich zu begründen helfen und somit aus typologischer (nicht klassifizierender) Sicht für eine horizontale Fächerwie Fachsprachengliederung nach wirtschaftlichen Sektoren sprechen. - Weitere Ansätze beziehen sich auf eine Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung und eine Abnahme an Lebensarbeitszeit, die institutionelle Bedeutung öffentlicher Haushalte oder zunehmende Probleme der Entsorgung von Abfall (einschließlich atomarer Endlagerung) und setzen jeweils einen entsprechenden quintären Sektor an. Da der Ansatz eines solchen Sektors indessen noch umstritten ist, wird er im Folgenden nicht berücksichtigt. Mit der Unterscheidung von vier Sektoren einer Volkswirtschaft werden sämtliche spezialisierten Tätigkeitsbereiche erfasst. Daher bildet sie eine gute Grundlage für eine horizontale Typologie (deutscher) Fachsprachen, die das Kriterium der Vollständigkeit erfüllt (vgl. Tabelle 2). So umfasst der Primärbzw. Agrarsektor die Handwerkssprachen und partiell Sprachen der Technik. Dem sekundären oder industriellen Sektor sind dann die Sprachen der Technik und eines Teils der angewandten Wissenschaften zuzuordnen, dem tertiären oder Dienstleistungssektor die Sprachen in Institutionen sowie die Sprachen der theoretischen Wissenschaften und partiell der Neuen Medien. Dem quartären bzw. Informationssektor schließlich entsprechen Sprachen der angewandten Wissenschaften, der Technik, der Institutionen und der Neuen Medien. - Damit werden etwa Angewandte Wissenschaften oder Institutionen jeweils nicht einem, sondern mehreren Sektoren zugewiesen (dies gilt insbesondere hinsichtlich des später ergänzten Informationssektors). Dies stellt keine Schwäche des Modells dar, sondern eine Veranschaulichung der alternativen Gliederung. Tab. 2: Sprache und Kommunikation nach Wirtschaftssektoren (Beispiele) Wirtschaftssektoren Agrarsektor (Urproduktion) Industrieller Sektor Dienstleistungssektor Informationssektor Fachsprachen Angewandte Wissenschaft Theoretische Wissenschaft Angewandte Wissenschaft (Technik) Technik Technik Institutionen Institutionen Handwerk (Neue Medien) Neue Medien Über die systematische Berücksichtigung von traditionellen Handwerkssprachen und der aktuellen Sprache der Neuen Medien hinaus (neben der bekannten Trias der Sprachen aus Wissenschaft, Technik und Institutionen) erlaubt diese Gliederung im Weiteren Differenzie- Abb. 4.7: Sprache und Kommunikation nach Wirtschaftssektoren (Beispiele) (Roelcke 2014: 159) Mir scheint, dass dieser Vorschlag v. a. eines deutlich macht: Für die Fachsprachenlinguistik kann es nur von Nachteil sein, im Bemühen darum, ein eigenständiges Fach zu werden, auf die Auseinandersetzung mit ‚außersprachlichen Taxonomien‘ (vgl. 4.1.) zu verzichten. Auf den ersten Blick geht Roelcke von diesem Eigenständigkeits-Prinzip sogar ab. Denn die Kategorien für die horizontale Dimension scheinen direkt aus den Wirtschaftswissenschaften importiert. Bei den Wirtschaftssektoren handelt es sich allerdings nur um die allergröbste Gliederung, die hier zudem sehr eigenwillig ausgelegt wird: Das Handwerk gehört nicht zur Urproduktion, sondern in den Sekundärsektor der (Rohstoffe verarbeitenden) Produktion. Der Agrarsektor ist mit keinem passenden Beispiel belegt, inzwischen aber nicht nur von der Technik (inklusive moderner Informationstechnik) geprägt. Es gibt längst auch Agrarwissenschaften und eine Agrarpolitik; landwirtschaftliche Betriebe stellen Institutionen dar, die einer Vielzahl rechtlicher Regelungen unterliegen und in denen Verwaltungsaufgaben ein enormes Gewicht gewonnen haben. Kurz gesagt: Wenn man wirtschaftliche Kategorien zur Grundlage macht, kommt man am schnellsten an die Grenzen der Fächerabgrenzung und gerät in einen Wust von Interdependenzen. Dass es aus linguistischer Sicht möglich sein sollte, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen und eine neue Fächersystematik zu etablieren, ist denn wohl doch eine Illusion. <?page no="186"?> 186 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? Einen Einblick in die Vielfalt der Fächer und fachsprachenlinguistische Untersuchungen (zum Deutschen) gewinnt man durch die Übersicht über den Inhalt der Kapitel XIV - XVII aus dem HSK -Band (Abb. 4.8). Dem liegen keine typologischen Ambitionen zugrunde und es konnte nur eine kleine Auswahl berücksichtigt werden. Dies zeigt sich schon an der Gesamtzahl der behandelten Fachsprachen-- nicht nur im Vergleich zu den Werten, die in 4.2. und 4.4. zur Sprache kommen, sondern auch schon zu den 180 Markierungen aus dem DUW (vgl. 2.1.): FS der Urproduktion und des Handwerks technische FS und FS angewandter Wiss. (19./ 20. Jh.) wissenschaftliche FS (19./ 20. Jh.) Institutionensprachen (19./ 20. Jh.) Handwerk (Übersicht) Reepschläger (niederdt.) Fischereiwesen (niederdt.) Schifferei (niederdt.) Müllerei (niederdt.) Fischer (Rhein-Mosel) Maurer (Pfalz) Holzverarbeitende Berufe (Hessen) Imker (Südhessen) Winzer (Rhein-Mosel) Bergbau Buchdrucker Jäger Käserei, Molkerei, Viehzucht ( CH ) Fischerei ( CH ) 15 Gießereitechnik Kraftfahrzeugtechnik Elektrotechnik Informatik Verfahrenstechnik Wärme- / Feuerungstechnik Fördertechnik Textilwesen Eisenbahnwesen Seefahrt Telekommunikation 11 Mathematik Physik Chemie Biologie Pharmazie Medizin Juristische Wiss. institutionelle und wiss. Wirtschafts- FS Theologie Erziehungswiss. Philosophie Musikwiss. Sprachwiss. Literaturwiss. Ökologie 15 Politische FS Juristische FS Verwaltung 3 Abb. 4.8: Ausgewählte Fachsprachen des Deutschen nach HSK 14 Die Trennung von Fach- und Wissenschaftssprachen scheint hier wieder auf. Sie kommen nicht nur aus sprachlich unterschiedlichen Traditionen, sondern lassen sich auf einer sehr abstrakten Ebene auch immer noch als sprachlich different rekonstruieren. Praxis und Theorie unterscheiden sich ja insofern, als sie sich zentral auf verschiedene Gegenstände bzw. Entitäten 61 richten, nämlich materielle (Konkreta) vs. immaterielle (Abstrakta). Im Praxisfeld spielt die Beschreibung eine große Rolle (z. B. in der Technischen Dokumentation), bei der Theorie die 61 Vgl. die Anmerkung 56 (4.2.) zu Dahlbergs Fundamentalkategorien. <?page no="187"?> 187 4.3. Fächergliederungen aus fachsprachenlinguistischer Perspektive Argumentation. Zu einer trennscharfen Gegenüberstellung führt das natürlich nicht, weil auch über präexistente Gegenstände und Artefakte Theorien gebildet werden und auch im Rahmen industrieller Produktion argumentiert werden muss (z. B. über die Eignung von Begriffen, Verfahren und Abläufen). In dem Schema hat man nur bei der Wissenschaftssparte (dritte Spalte) den Eindruck, das Gesamtfeld sei einigermaßen vollständig abgedeckt. Das erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass die altvertrauten Fakultäten erhalten geblieben sind (durch Fettdruck markiert) und es sich bei den oben platzierten aufdrängt, sie zur Großgruppe (Fakultät / Fachbereich) Naturwissenschaften zusammenzufassen. Diesen könnte man Ingenieurwissenschaften gegenüberstellen, um die in der zweiten Spalte genannten Fächer übergreifend zusammenzufassen; für Ingenieurwissenschaften stellen allerdings Mathematik, Physik und Chemie eine wesentliche Grundlage dar. Dass Medizin, geradezu der Prototyp einer angewandten Wissenschaft, in der dritten Spalte erscheint, ergibt sich ebenfalls aus der fakultären Tradition. Bedauern kann man, dass die Fachsprachen der Künste ausgespart bleiben, nämlich nur die auf Musik und Literatur bezogenen Wissenschaften in der dritten Spalte vorkommen. Eine Sonderstellung nehmen die Institutionensprachen ein (vierte Spalte). Jura und die institutionelle und wissenschaftliche Wirtschaftsfachsprache erscheinen allerdings auch schon in der dritten Spalte-- dass dort Politikwissenschaft oder auch der Oberbegriff Sozialwissenschaften wie auch Soziologie fehlen, lässt sich nur mit dem Auswahlprinzip begründen, hat jedenfalls keinen systematischen Grund. Wir kommen damit auf die Diskussion in 2.4. zurück, wo es darum ging, Fach- und Wissenschaftssprachen von anderen Varietäten abzugrenzen. In der vierten Spalte findet sich das, was die Funktionalstilistik öffentliche Rede nennt (Abb. 2.9). Ferner kam der Vorschlag von Steger (1988) zur Sprache, den Becker / Hundt (1998) aufgenommen haben (Abb. 2.1). Innerhalb der Fachsprachen unterscheiden sie mit ihm Wissenschafts-, Technik- und Institutionensprache (Abb. 2.10). Roelcke (2010: 30) hält diese Dreiteilung für die „wohl bekannteste und dabei auch innerhalb der meisten fachsprachenlinguistischen Ansätze anerkannte“. Er zitiert in diesem Zusammenhang aber nur Steger (1988), ohne sich genauer mit dessen Ansatz auseinanderzusetzen. So auch in dem neueren Aufsatz, in dem Roelcke (2014: 156) diese Dreiteilung als „sicher nicht befriedigend“ bezeichnet, da sie unvollständig und zu grob sei. Als Fortschritt betrachtet er das Hinzunehmen von Wirtschaft und Konsum im Sinne der Abbildung 4.6. <?page no="188"?> 188 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? Gemäß Stegers Modell gehört der Konsum jedoch in einen ganz anderen Bereich, nämlich die Alltagswelt. Wirtschaftsunternehmen stellen selbst Institutionen dar. Da sie mit irgendetwas Handel treiben müssen, verbinden sie sich notwendigerweise mit einem gegenstandskonstituierten Sachbereich. Entsprechendes gilt für Politik und Rechtswesen: Es geht immer um die Regelung irgendwelcher Sachbereiche, sofern es nicht ganz allgemein um die Prinzipien solcher Regelungen geht. Dies wird in den drei Artikeln zu Institutionensprachen auch immer hervorgehoben, der behandelte Gegenstand auf öffentliche Institutionen beschränkt, und zwar unter Absehung von konkreten Politik- und Verwaltungsfeldern. Auch politische Ideologien-- für diese setzt Steger wiederum eine eigene Sinnprovinz / Welt an-- müssen analytisch von den Sachfeldern getrennt werden. Was ist nun das (sprachlich) Besondere an (öffentlichen) Institutionen? Es besteht zunächst darin, dass in ihnen überhaupt fast nur sprachlich gehandelt wird, v. a. aber darin, dass dadurch verbindliche soziale Tatsachen geschaffen werden: Recht wird gesetzt (Parlament / Legislative), gesprochen (Gerichte / Judikative) und umgesetzt (Verwaltung / Exekutive). Die zweite Besonderheit besteht darin, dass bei diesen ‚Fächern‘ die elitäre Sicht-- Experten vs. Laien-- ganz besonders abwegig ist. In einer Demokratie ist das Volk der Souverän, das Handeln erfolgt also letztlich in seinem Namen (in Gerichtsurteilen explizit in der Formel Im Namen des Volkes ausgedrückt). Daraus ergeben sich auch besondere Ansprüche an die Verständlichkeit von Rechts- und Verwaltungstexten. Dass diese „mit der empirisch beschreibbaren institutionellen Realität des Gesetzesgebrauchs nicht völlig in Deckung zu bringen“ sind (Busse 1999: 1383), d. h. dass die Schwerverständlichkeit gerade von Gesetzes- und Verwaltungssprache einem Topos entspricht, steht auf einem anderen Blatt. Es ändert nichts am grundlegenden Anspruch bzw. Auftrag und erklärt, warum gerade Rechts- und Behördensprache so massiver Kritik und vehementem Spott ausgesetzt sind (vgl. 2.1.). Es ist nicht hinnehmbar, diese Fachsprachen als Kommunikationsmittel zu betrachten, die für die Verständigung von Berufsexperten untereinander gedacht sind. 4.4. Systematisierungen in praktischer Absicht In diesem Abschnitt soll konkret veranschaulicht werden, was es heißt, dass die Fächergliederung „institutionellen, wissenschaftlichen und berufssystematischen Bedürfnissen“ (Kalverkämper 1998b: 31; s. 4.1.) anzupassen ist. Die vorrangige Bezugswelt ist Deutschland im Jahr 2016. <?page no="189"?> 189 4.4. Systematisierungen in praktischer Absicht Fachliches Handeln umfasst heutzutage sehr wesentlich die langfristige Planung zukünftiger Aktivitäten (inkl. der Konstituierung neuer Fächer und Fächerverbindungen). Das geschieht in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem diverse Institutionen als Akteure beteiligt sind. Dazu gehörte in der BRD von 1970 bis 2007 die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung ( BLK ), die nach der Föderalismusreform für den Wissenschaftsbereich durch die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz ( GWK ) ersetzt wurde. Für die Wissenschaft sind ferner nationale und internationale Forschungsförderungsorganisationen entscheidend wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft ( DFG ), die Mitglied des Internationalen Wissenschaftsrats ist. In den Zuständigkeitsbereich der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (kurz: Kultusministerkonferenz, KMK ) fallen neben dem Hochschulwesen der Bereich der schulischen und beruflichen Bildung. Bei der Grobklassifikation von Fächern besteht daher kaum die Gefahr, in „Abhängigkeit von wissenschaftsbzw. fachgeschichtlichen Erwägungen“ (Roelcke 2010: 30; s. 4.1.) aus Einzeldisziplinen zu geraten, es sind die Kategorien aus dem institutionellen Rahmen des Bildungswesens (Cortina et al. 2008: Titel von Kap. 3), die das Handeln in den Sachfächern (mit-)bestimmen. Und auch diese sind nicht stabil, sondern werden an (erwünschte) Entwicklungen angepasst. Gerade das zeigt die geänderte Zuständigkeitsverteilung der Institutionen nach der Föderalismusreform, die praktisch auch die Frage tangiert: Soll die Schul-, v. a. aber die Hochschulausbildung im Zusammenhang mit der Forschung gesehen (und organisiert) werden oder aber die Forschung von der Ausbildung (tendenziell) abgekoppelt und etwa an Eliteuniversitäten konzentriert werden? Um überhaupt fachlich handeln zu können und sich darauf vorzubereiten (Ausbildung), muss man sich in einer hochdifferenzierten Gesellschaft wie der unseren also in den institutionell geregelten Fächergliederungskontext begeben. Für die Wissenschaft (und daher auch für alle, die dieses Buch überhaupt lesen) ist hier die relevanteste die Systematik der DFG . 62 Sie unterscheidet verschiedene Hierarchiestufen, nämlich Wissenschaftsbereiche, Fachgebiete, Fachkollegien (bis 2004 Fachausschüsse) und Fächer und sei hier auszugsweise präsentiert: 62 Nach www.dfg.de/ download/ pdf/ dfg_im_profil/ gremien/ fachkollegien/ amtsperiode_2016_2019/ fachsystematik_2016-2019_de_grafik.pdf <6. 11. 2017> <?page no="190"?> 190 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? Wissenschaftsbereich + % bewilligter Mittel (2015) Fachgebiete (in Klammern die Anzahl der Kollegien) Fachkollegien (Auswahl) Fächer (Auswahl) Gesamtzahl der Fächer 1 Geistes- und Sozialwiss. 16.7 % 11 Geisteswissenschaften (8) 101 Alte Kulturen 104 Sprachwissenschaften 105 Literaturwissenschaft 107 Theologie 10101 Klass. Philologie 10402 Einzelsprachwissenschaften 10502 Neuere dt. Literatur 10701 Evangelische Theologie 12 Sozial- und Verhaltenswiss. (5) 110 Psychologie 112 Wirtschaftswissenschaften 113 Rechtswissenschaften Entwicklungspsych. u. Pädagog. Psych. Statistik und Ökonometrie Kriminologie 52 2 Lebenswiss. 38.5 % 21 Biologie (4) 201 Grundlagen der Biologie u. Med. 203 Zoologie Anatomie Genetik, Zell- und Entwicklungsbiologie 22 Medizin (2) 205 Medizin 206 Neurowissenschaft Pharmazie Molekulare Neurologie 23 Agrar-, Forstwiss., Tiermed. (1) 207 Agrar-, Forstwiss., Tiermedizin Pflanzenbau Agrarökonomie u. -soziologie Diagnostik und Therapie am lebenden Tier 81 3 Naturwiss. 23.3 % 31 Chemie (6) 301 Molekülchemie 306 Polymerforschung Anorganische … Experimentelle u. theoret. Polymerforschung 32 Physik (5) 309 Teilchen, Kerne und Felder 311 Astrophysik u. Astronomie Kernu. Elementarteilchenphysik … Astrophysik u. Astronomie 33 Mathematik (1) 312 Mathematik Mathematik Geowiss. (6) 315 Geophysik und Geodäsie 318 Wasserforschung Physik des Erdkörpers … Hydrogeologie, Hydrologie, Limnologie … 28 <?page no="191"?> 191 4.4. Systematisierungen in praktischer Absicht Wissenschaftsbereich + % bewilligter Mittel (2015) Fachgebiete (in Klammern die Anzahl der Kollegien) Fachkollegien (Auswahl) Fächer (Auswahl) Gesamtzahl der Fächer 4 Ingenieurwiss. 21.5 % 41 Maschinenbau u. Produktionstechnik (2) 401 Produktionstechnik Uru. Umformtechnik Kunststofftechnik 42 Wärmeu. Verfahrenstechnik (2) 403 Verfahrenstechnik, techn. Chemie Bioverfahrenstechnik Strömungsmechanik 43 Materialwiss. u. Werkstofftechnik (2) 405 Werkstofftechnik Keramische und metallische Sinterwerkstoffe 44 Informatik, System- und Elektrotechnik (3) 409 Informatik Softwaretechnologie 45 Bauwesen u. Architektur (1) 410 Bauwesen u. Architektur Geotechnik, Wasserbau 51 Anzahl 14 48 212 Abb. 4.9: Fächersystematik der DFG (Auszug) Für diese Systematik ist zunächst die Verwendung von Kennziffern auf allen Ebenen charakteristisch (bei den Fächern hier nur für die Geisteswissenschaften ausgeführt), die die eindeutige Zuordnung von Projekten gewährleistet. Es handelt sich dabei um eine verwaltungstechnische Notwendigkeit, die natürlich nicht sehr viel über die sachliche Angemessenheit aussagt, so dass bei Anträgen auf Förderung auch Mehrfachzuordnungen zugelassen sind. Die Struktur der Fachkollegien und Fächer wird alle vier Jahre (anlässlich der Wahl der Mitglieder) überprüft und ggf. neu festgesetzt und sie ist mit insgesamt 212 Fächern ja noch recht grob. Sie spiegelt nicht mehr die im HSK -Band noch sehr deutliche alte Fakultätsgliederung und entspricht auch nicht der noch immer sehr gängigen Grobeinteilung in Geistes- und Naturwissenschaften. Mit der Medizin ist neben den auf die Urproduktion zurückweisenden Agrarwissenschaften usw. die Biologie zu Lebenswissenschaften (oft auch als Biowissenschaften bezeichnet) vereint, also von den Naturwissenschaften abgetrennt. Da die DFG für die „Wissenschaft in allen ihren Zweigen“ (Satzung) zuständig ist, muss sie die Systematik gewissermaßen von oben vornehmen, das Gesamtfeld gliedern. Von unten dagegen operieren Forschungsorganisationen, <?page no="192"?> 192 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? in denen eine Anzahl von Instituten zusammengefasst ist und bei denen man die enger zusammengehörigen zu Sektionen gruppiert. Welche Gruppen das sind, hängt natürlich wesentlich von der Ausrichtung der Organisation ab. Jeweils etwa 80 Institute (aus Geistes- und Naturwissenschaft) umfassen die Max-Planck-Gesellschaft und die Leibniz-Gemeinschaft. Im Vergleich stellen sich die Gliederungen folgendermaßen dar: DFG Max-Planck-Gesellschaft Leibniz-Gemeinschaft Geistes- und Sozialwissenschaften Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaftliche Sektion Geisteswissenschaften und Bildungsforschung Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Raumwiss. Lebenswissenschaften Biologisch-Medizinische Sektion Lebenswissenschaften Umweltwissenschaften Naturwissenschaften Chemisch-Physikalisch-Technische Sektion Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften Ingenieurwissenschaften Abb. 4.10: Wissenschaftssystematiken im Vergleich In etwa dieselbe Größenordnung weist die Fraunhofer-Gesellschaft auf, „die führende Organisation für angewandte Forschung in Europa“. 63 Die Helmholtz- Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren ist gemessen am Budget die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands, sie umfasst aber ‚nur‘ 17 Forschungszentren (Großforschung, die es in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht gibt). Beide Einrichtungen gliedern ihre Forschungsaktivitäten in sechs Großbereiche: Fraunhofer-Gesellschaft Helmholtz-Gemeinschaft ▶ Gesundheit und Umwelt ▶ Schutz und Sicherheit ▶ Mobilität und Transport ▶ Produktion und Dienstleistung ▶ Kommunikation und Wissen ▶ Energie und Rohstoffe ▶ Energie ▶ Erde und Umwelt ▶ Gesundheit ▶ Schlüsseltechnologien ▶ Materie ▶ Luftfahrt, Raumfahrt und Verkehr Abb. 4.11: Die Forschungsbereiche der Fraunhofer-Gesellschaft und der Helmholtz-Gemeinschaft 63 Nach www.fraunhofer.de/ de/ forschung/ forschungsfelder.html; <6. 11. 2017> <?page no="193"?> 193 4.4. Systematisierungen in praktischer Absicht Um in die Forschung einsteigen zu können, muss man zunächst ein Studium absolvieren, also einen Studienbereich und eine Hochschule auswählen. Die deutsche Hochschulrektorenkonferenz ( HRK ) verzeichnet in einem sog. Hochschulkompass 16 Studienbereiche mit insgesamt nicht weniger als 22.694 Studiengängen in 399 Hochschulen. 64 Dazu gehören neben Universitäten u. a. technische, pädagogische, Wirtschafts- und Handelshochschulen sowie Kunstakademien. Mit Abstand am meisten Studiengänge entfallen auf Lehramt (4.294); über 2.000 haben Ingenieurwissenschaften (3.471), Wirtschafts- und Rechtswissenschaften (2.841), Mathematik, Naturwissenschaften (2.774), Sprach- und Kulturwissenschaften (2.712) sowie Gesellschafts- und Sozialwissenschaften (2.011). Es handelt sich also um geradezu schwindelerregende Zahlen. Wahrscheinlich gibt es nur wenige Hochschulen, die genau das gleiche Fächerspektrum anbieten. Je mehr sich die Hochschulen als Konkurrenzunternehmen begreifen und sich um sog. Alleinstellungsmerkmale bemühen, desto unterschiedlicher werden sie sogar. „Die Binnendifferenzierung zwischen den Universitäten wird deutlich größer. Dies nicht nur, weil Wissenschaftsrat und HRK seit über einem Jahrzehnt die Profilbildung der Universitäten anmahnen, sondern vor allem, weil Sparmaßnahmen der Länder und länderübergreifende Evaluierungen überall zu Forderungen nach Profilstraffungen und mehr regionaler fächer- und studiengangbezogener Arbeitsteilung führen. Paradoxerweise wird damit die Leitidee der Einheit der Wissenschaften und somit der Volluniversität mit einer breiten Repräsentation von Fächern gerade zu einem Zeitpunkt aufgegeben, zu dem unter den Stichworten ‚Wissensgesellschaft‘ und ‚Interdisziplinarität‘ die Fragmentierung zwischen den Geistes-, Sozial-, Natur- und Technikwissenschaften sowie der Medizin als zunehmend überholt gilt“ (Cortina et al. 2008: 616). Wir lösen uns jetzt von der Vogelperspektive der institutionellen Forschungs- und Bildungsorganisationen mit den notwendigerweise immer nur sehr groben Fächereinteilungen und begeben uns auf die Ebene eines einzelnen Fachs. Auch hierfür gibt es Systematiken mit Kennziffern. Als Beispiel sei die Mathematics Subject Classification ( MSC ) angeführt, und zwar weil einzig die Mathematik in der DFG -Systematik als nur ein Fach (und zugleich Fachgebiet und Fachkolleg) behandelt wird. Diese Klassifikation wird von der American Mathe- 64 www.hochschulkompass.de/ home.html; <6. 11. 2017> <?page no="194"?> 194 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? matical Society und dem Zentralblatt MATH (www.zbmath.org/ ) herausgegeben und dient dazu, Literaturdatenbanken zu erschließen. Die letzte Überarbeitung ( MSC 2010) umfasst 47 Seiten, eine Neuausgabe ( MSC 2020) ist in Arbeit. Auf der ersten Ebene gibt es 97 Kategorien, von denen allerdings nur 63 besetzt sind (Abb. 4.12). Ein kleiner Ausschnitt aus der Kategorie 14 zeigt das Prinzip: Die Zahlen hinter den Pfeilen geben die Anzahl der Dokumente an, die sich unter dieser Kategorie finden; Querverweise stehen in eckigen Klammern (Abb. 4.13). 00- General 01 History and biography 03 Mathema�cal logic and founda�ons 05 Combinatorics 06 Order, la�ces, ordered algebraic structures 08 General algebraic systems 11 Number theory 12 Field theory and polynomials 13 Commuta�ve algebra 14 Algebraic geometry 15 Linear and mul�linear algebra; matrix theory 16 Associa�ve rings and algebras 17 Nonassocia�ve rings and algebras 18 Category theory; homological algebra 19 K -theory 20 Group theory and generaliza�ons 22 Topological groups, Lie groups 26 Real func�ons 28 Measure and integra�on 30 Func�ons of a complex variable Abb. 4.12: Klassifika�on zur Mathema�k: Hauptkategorien (Ausschni�; ohne Verweise) Abb. 4.12: Klassifikation zur Mathematik: Hauptkategorien (Ausschnitt) <?page no="195"?> 195 4.4. Systematisierungen in praktischer Absicht Abb. 4.13 Auszug aus der Sachklassifikation für Mathematik in der Kategorie 14 (www. zbmath.org/ classification/ ? q=cc: 14; <6. 11. 2017>) Eine solche Systematik (sie gehört in die Kategorie ‚dokumentarisch‘ bei Dahlberg) stellt die feinstmögliche Klassifikation von Themen eines Faches dar, lässt also am besten erkennen, wie weit die fachliche Spezialisierung getrieben werden kann. Sie entspricht als ganze natürlich nicht mehr einer Untergliederung des Fachs in Subdisziplinen und gewährleistet (abgesehen von der obersten Ebene) auch keinen Überblick. Darauf sind andere Textsorten spezialisiert, die in Systematiken auch immer an erster Stelle genannt werden (im Beispiel unter den Ziffern 00-02): Nachschlagewerke wie Handbücher, Wörterbücher, Bibliografien, einführende Darstellungen und Übersichten über den Forschungsstand (jeweils für ein mehr oder weniger großes Teilgebiet oder für das Gesamtfach). Das Ziel des Grundstudiums besteht darin, einen ersten Einblick zumindest in die zentralen Teilgebiete des Faches, also in seine Struktur, zu gewinnen. Dies verdeutlicht wiederum, dass ein Fach nicht durch seinen Gegenstand konstituiert wird, sondern durch den systematischen Umgang mit einem Gegenstandsbereich, der nicht zuletzt in der Abgrenzung von Untersuchungsaspekten, <?page no="196"?> 196 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? Fragestellungen und damit Subdisziplinen besteht. Auch dies lässt es schwer verständlich erscheinen, dass die Fachsprachenforschung die horizontale Gliederung so stiefmütterlich behandelt. Eine mit zwei Seiten und fünf Hauptpunkten noch sehr zugängliche Übersicht über die Linguistik bietet Kürschner (2007) in seinem Studienbegleiter für Germanisten (Abb. 4.14). Der Vergleich zur Gliederung der DDC (Abb. 4.1) zeigt, wie notwendig Spezialklassifikationen aus der Innensicht der Fachleute sind (vgl. ausführlicher zu den linguistischen Subdisziplinen Adamzik 2016a: Kap. 9). 1 Sprachwissenschaft: Allgemeines, Hilfsmittel 1.1 Gesamtdarstelllungen, Handbücher, Atlanten, Reader 1.2 Einführungen, Lehrbücher, Arbeitsbücher, Studienbücher, interaktive Kurse 1.3 Terminologische Lexika 1.4 Bibliografien Abgeschlossene Bibliografien - Laufende Bibliografien - Sonstige Verzeichnisse 1.5 Zeitschriften 1.6 Populärwissenschaftliche Literatur 1.7 Studium, Ausbildung, Beruf, Organisationen 1.8 Arbeitstechniken 1.9 Elektronische Ressourcen 2 Linguistische Untersuchungs- und Beschreibungsebenen 2.1 Grammatik allgemein 2.2 Phonetik, Phonologie 2.3 Graphemik, Schrift 2.4 Morphologie 2.5 Wortbildung 2.6 Wortarten, grammatische Kategorien 2.7 Syntax 2.8 Semantik 2.9 Lexikologie/ Wortforschung 2.10 Lexikografie, Wörterbücher 2.10.1 Allgemeinwörterbücher der deutschen Sprache 2.10.2 Spezialwörterbücher der deutschen Sprache (in Auswahl) 2.10.3 Wörterbücher des Deutschen mit historischen Bezügen 2.11 Stilistik 2.12 Textlinguistik 2.13 Pragmatik 2.14 Gesprochene vs. geschriebene Sprache, Gesprächsanalyse/ Diskursforschung, Sprechwissenschaft 2.15 Orthographie 3 Die deutsche Sprache 3.1 Deutsche Gegenwartssprache allgemein 3.1.1 Allgemeines 3.1.2 Sprachnormen, Sprachkritik, Sprachpflege, Sprachlenkung 3.1.3 Einzelaspekte - Varietäten des Deutschen Fachsprachen - Geschlecht und Sprache - Jugendsprache - Medien und Sprache - Politik und Sprache - Recht und Sprache - Sprache im Nationalsozialismus - Sprache im DDR-Sozialismus - Werbesprache - Wissenschaftssprache 3.2 Historische Sprachwissenschaft - Geschichte des Deutschen 3.2.1 Allgemeines 3.2.2 Geschichte des Deutschen Gesamtdarstellungen - historische Phonologie - historische Handschriftenkunde - historische Morphologie - historische Syntax - historische Semantik - historische Lexikologie, Wortgeschichte/ Etymologie 3.2.3 Vorgeschichte - Indogermanisch, Germanisch 3.2.4 Althochdeutsch 3.2.5 Althochdeutsch - Mittelhochdeutsch 3.2.6 Mittelhochdeutsch 3.2.7 Frühneuhochdeutsch 3.2.8 Neuhochdeutsch 3.3 Dialektologie - räumliche Gliederung des Deutschen 3.4 Namenkunde - Namen im Deutschen 4 Linguistische Teildisziplinen und angrenzende Wissenschaften 4.1 Soziolinguistik 4.2 Psycholinguistik 4.3 Neurolinguistik, Sprachtherapie 4.4 Kognitive Linguistik, generative Grammatik 4.5 Spracherwerbsforschung 4.6 Sprachdidaktik, Sprachlehr- und -lernforschung, Deutsch als Fremdsprache Sprachdidaktik Deutsch - Sprachlehr- und -lernforschung Fremdsprachendidaktik - Deutsch als Fremdsprache 4.7 Linguistik und Poetik 4.8 Rhetorik 4.9 Sprachenvielfalt Sprachen der Welt - Europas Sprachenwelt - vergleichende Sprachwissenschaft - Sprachkontakte, Sprachkontraste, Sprachtypologie - Mehrsprachigkeit - Sprachentstehung 4.10 Übersetzung 4.11 Angewandte Linguistik 4.12 Computerlinguistik 4.13 Sprachtheorie 4.14 Sprachphilosophie 4.15 Semiotik 4.16 Kommunikationsforschung 5 Geschichte der Sprachwissenschaft 5.1 Gesamtdarstellungen, Epochenüberblicke 5.2 Linguistische Klassiker der Moderne 5.3 Wissenschaftlerdokumentationen Abb. 4.14: Subklassifikation der Linguistik (Kürschner 2007: 122 f.) Zugang zur Fachsystematik bieten auch die Klassifikationen von Fachbibliotheken. Verschiedene Bibliotheken zum selben Fach dürften in der Feingliederung eher noch unterschiedlicher sein als die Studienangebote der Hochschulen. Das liegt daran, dass sie unterschiedlich groß und alt sind und Texte als materielle Objekte behandeln müssen. Es ist also nicht möglich, ein Buch gleichzeitig in verschiedenen Regalen zu platzieren, wie es bei der nur virtuellen Zuordnung in Systematiken und Bibliografien üblich und natürlich sinnvoll ist (vgl. die Verweise in der MSC ). Für Bibliotheken sind daher auch die Veränderungen von Fächersystematiken am problematischsten, da die im Rahmen eines gegebenen <?page no="197"?> 197 4.4. Systematisierungen in praktischer Absicht Forschungsstandes vorgenommene Klassifikation sich nach mehr oder weniger langer Zeit als nicht mehr adäquat erweisen kann, so dass man eigentlich viele oder sogar alle Bücher periodisch umsignieren und neu auf die Regale verteilen müsste. Differenzen und Veränderungen in der Fächerstruktur sind aber nicht auf die schon sehr spezialisierten Hochschulstudien und die Forschung beschränkt, sondern sogar besonders charakteristisch auch auf der Ebene der schulischen Ausbildung mit der Unterscheidung von Unterrichtsfächern. Die wichtigsten Textsorten stellen in diesem Zusammenhang Lehrpläne und Stundentafeln dar, die Fächer auch nach ihrer Bedeutung gewichten. Sehr eindrücklich wird der historische Wandel, wenn man in der Geschichte etwas zurückgeht. In der preußischen Volksschule verteilten sich die Wochenstundenzahlen pro Fach im Jahr 1872 z. B. folgendermaßen. 65 Religion 36 Deutsch 80 Rechnen und Raumlehre 34 Zeichnen 6 Realien 24 Singen 12 Turnen (Jungen) 12 Handarbeit (Mädchen) 12 Abb. 4.15: Preußische Volksschule Wochenstundenzahlen pro Fach (1872) Eine Übersicht über die gegenwärtig an deutschen Schulen unterrichteten Fächer ist nicht möglich, da diese variieren, und zwar ▶ je nach Schulstufe, ▶ je nach Schulart, ▶ von Bundesland zu Bundesland, ▶ entsprechend den Wahlmöglichkeiten (Pflichtfach, Wahlpflichtfach, Wahlfach). 65 Nach Herrlitz et al. (2009: 105). Ich habe alle Stunden vom 1. bis zum 8. Schuljahr zusammengenommen. <?page no="198"?> 198 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? Eine besondere Bedeutung haben auf jeden Fall die Fächer Deutsch und Fremdsprachen, die sich in die bisherige Systematik nicht recht einfügen, weil sprachliche Kompetenzen überhaupt die Grundvoraussetzung auch für fachliches Handeln darstellen. Einen Sonderstatus nimmt auch die Mathematik ein, die normalerweise ebenfalls Hauptfach ist. Für diese drei Fächer wurden auch die ersten nationalen Bildungsstandards formuliert (2004). Auf Schulniveau werden nun die übrigen Fächer teilweise zu Gruppen zusammengefasst. Für die Grundschule ist das ohnehin üblich, aber auch in der Sekundarstufe gilt die Aufteilung des Unterrichts auf Einzelfächer zunehmend als hinderlich. Im Vorwort zum Lehrerband eines Lehrwerks für den Deutschunterricht (Sekundarstufe II ) wird das folgendermaßen reflektiert: „Die Anknüpfung an die Lebenswelt der Schüler / innen und an gesellschaftliche Schlüsselprobleme verlangt, dass innerhalb der Unterrichtseinheiten Brücken zwischen Lernstoff und Lebenswirklichkeit geschlagen werden- […]. Der Lebensweltbezug verlangt zweitens, dass das Integrationsprinzip an manchen Stellen auch die Fachgrenzen überschreitet. Dies gilt vor allem dann, wenn Unterricht handlungsorientiert (bis hin zum Projekt) angelegt werden soll und der zu erarbeitende oder zu erforschende Bereich nicht nur Sprache und Literatur, sondern ein Gegenstandsfeld wie Medien umfasst. Hier schließt das fachimmanente Integrationsprinzip nahtlos an das fachübergreifende bzw. fächerverbindende Prinzip an. Das ist gerade im Deutschunterricht auch insofern gerechtfertigt, als in den Sachfächern ja häufig sprachlich und an Texten gearbeitet wird. Deswegen wird man Aufgabenstellungen finden, die auf Gegenstände, Textbeispiele oder Arbeitsergebnisse anderer Fächer zurückgreifen. Mit der Berücksichtigung der sprachlichen Dimension in den Sachfächern versucht Texte, Themen und Strukturen einen Beitrag zur Überwindung der Aufsplitterung des schulischen Lernens im künstlichen System der ‚Fächer‘ zu leisten“ (Biermann / Schurf 2009: 7; Hervorhebungen im Orig.). Im Bildungsplan von Baden-Württemberg für die Realschule gibt es z. B. die Fächerverbünde Naturwissenschaftliches Arbeiten und Erdkunde-- Wirtschaftskunde-- Gemeinschaftskunde. Außerdem sind themenorientierte Projekte ( TOP e) wie z. B. Wirtschaften, Verwalten und Recht vorgesehen. Wie unterschiedlich man die Fächerbereiche Geographie, Geschichte und Sozialkunde (das umfasst Politik und Gemeinschaftskunde mit einem meist geringeren Stundendeputat <?page no="199"?> 199 4.4. Systematisierungen in praktischer Absicht als die beiden anderen Fächer) gliedern kann, zeigt eine ländervergleichende Übersicht: 66 Erdkunde Erdkunde Geschichtlich-soziale Weltkunde ( GSW ) Geschichte Politik / Geschichte Sozialkunde gültig z. B. in • Hessen, Sachsen (alle Schularten) • Hamburg, Mecklenburg- Vorpommern (Gymn.) • Bayern, Bremen (Realschule, Gymn.) • Rheinland-Pfalz (alle außer Gesamtschule) • Baden-Württemberg (Hauptschule) • Hamburg (Haupt-, Realschule) • Berlin (alle Schularten) • Hamburg (Gesamtschule) • Bayern (Hauptschule) • Rheinland-Pfalz (Gesamtschule) Abb. 4.16: Unterschiedliche Gliederungen der Fächer Geschichte, Erdkunde, Sozialkunde Unterschiedliche Gliederungen können vielfach problemlos koexistieren, es gibt aber auch Handlungskontexte, in denen die verschiedenen Gliederungen zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Dazu gehört die Wirtschaftsstatistik, in der es auch um Vergleiche auf internationalem Niveau geht. Die in Kapitel 3.1. präsentierte Gliederung in drei Wirtschaftssektoren ist, wie schon gesagt, extrem grob; daneben existieren sehr differenzierte Systeme, die zunächst auf nationaler Ebene festgelegt wurden. Zu Vergleichszwecken müssen diese dann aufeinander abgebildet bzw. integriert werden. Wie kompliziert sich die Verhältnisse dabei darstellen, macht die folgende Übersicht des Statistischen Bundesamts deutlich (Abb. 4.17). 66 Daten nach Angaben des Georg-Eckert-Instituts für Internationale Schulbuchforschung: www.gei.de/ fileadmin/ bilder/ pdf/ Publikationen/ GEI-Publikationen/ stundentafeln_2001.pdf, <22. 1. 2011>. <?page no="200"?> 200 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? 8 Statistisches Bundesamt, WZ 2008 In der Vergangenheit haben internationale Organisationen und einzelne Staaten Klassifikationen meist unabhängig voneinander - dem jeweiligen Verwendungszweck entsprechend - entwickelt. Die zunehmende internationale Verflechtung der Volkswirtschaften hat aber den Bedarf an vergleichbaren, aktuellen Wirtschaftsdaten deutlich erhöht. Als Folge ist Ende der 80er / Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts - hauptsächlich unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen - ein System von Wirtschaftsklassifikationen entstanden, das diesem Harmonisierungsbedarf Rechnung trägt. Hierbei mussten zum Teil nationale Sichtweisen hinter dem Interesse an einer besseren Vergleichbarkeit der Daten zurücktreten. Dieses System lässt sich wie folgt darstellen: Internationales System von Wirtschaftsklassifikationen W ELT EU D EUTSCHLAND Wirtschaftszweigklassifikationen ISIC NACE WZ Produktion CPC CPA Güterklassifikationen PRODCOM -Liste GP Außenhandel HS KN SITC ISIC = International Standard Industrial Classification NACE = Statistische Systematik der Wirtschaftszweige in der Europäischen Gemeinschaft WZ = Klassifikation der Wirtschaftszweige CPC = Central Product Classification Für Waren CPA = Statistische Güterklassifikation in Verbindung mit den Wirtschaftszweigen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft CPC = Central Product Classification GP = Systematisches Güterverzeichnis für Produktionsstatistiken HS = Harmonisiertes System zur Bezeichnung und Codierung der Waren ISIC = International Standard Industrial Classification KN = Kombinierte Nomenklatur NACE = Statistische Systematik der Wirtschaftszweige in der Europäischen Gemeinschaft PRODCOM = Products of the Community SITC = Standard International Trade Classification WZ = Klassifikation der Wirtschaftszweige Abb. 4.17: Zusammenführung nationaler zu internationalen Gliederungen der Wirtschaftszweige (www.destatis.de/ DE/ Publikationen/ Verzeichnis/ KlassifikationWZ08.html, S. 8; <6. 11. 2017>) <?page no="201"?> 201 4.4. Systematisierungen in praktischer Absicht Diese Veröffentlichung zur Klassifikation der Wirtschaftszweige legt das System WZ (Abb. 4.18) mit den Grobunterteilungen (A-U) zugrunde. Das ist relativ übersichtlich, auf hierarchisch tieferer Ebene sind die einzelnen Kategorien dagegen relativ fein differenziert (das gesamte Werk umfasst 828 Seiten). Zu zwei der für eine ‚Wissensgesellschaft‘ wohl besonders einschlägigen Bereiche sei daher ein Auszug aus den Unterkategorien beigefügt (Abb. 4.19). A Land- und Forstwirtschaft, Fischerei B Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden C Verarbeitendes Gewerbe D Energieversorgung E Wasserversorgung; Abwasser- und Abfallentsorgung und Beseitigung von Umweltverschmutzungen F Baugewerbe G Handel; Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen H Verkehr und Lagerei I Gastgewerbe J Information und Kommunikation (WZ Code 2008: 58-63; ISIC Rev. 4: 5811- 6399) K Erbringung von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen L Grundstücks- und Wohnungswesen M Erbringung von freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen N Erbringung von sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen O Öffentliche Verwaltung, Verteidigung; Sozialversicherung P Erziehung und Unterricht (WZ Code 2008: 85; ISIC Rev. 4: 8510-8550) Q Gesundheits- und Sozialwesen R Kunst, Unterhaltung und Erholung S Erbringung von sonstigen Dienstleistungen T Private Haushalte mit Hauspersonal; Herstellung von Waren und Erbringung von Dienstleistungen durch Private Haushalte für den Eigenbedarf ohne ausgeprägten Schwerpunkt U Exterritoriale Organisationen und Körperschaften Abb. 4.18: Kategorisierung der Wirtschaftszweige nach WZ <?page no="202"?> 202 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? WZ Code J Information und Kommunikation 58 Verlagswesen … 58.2 … Verlegen von Software 59 … Herstellung, Verleih und Vertrieb von Filmen und Fernsehprogrammen; Kinos; Tonstudios und Verlegen von Musik 60 … Rundfunkveranstalter 61 … Telekommunikation 62 Erbringung von Dienstleistungen der Informationstechnologie 62.01 Programmierungstätigkeiten 62.01.1 Entwicklung und Programmierung von Internetpräsentationen 62.02 Erbringung von Beratungsleistungen auf dem Gebiet der Informationstechnologie 62.03 Betrieb von Datenverarbeitungseinrichtungen für Dritte 62.09 Erbringung von sonstigen Dienstleistungen der Informationstechnologie 63 Informationsdienstleistungen 63.1 … Datenverarbeitung, Hosting und damit verbundene Tätigkeiten; Webportale WZ Code P Erziehung und Unterricht 85 Erziehung und Unterricht 85.1 … Kindergärten und Vorschulen 85.2 Grundschulen 85.3 … Weiterführende Schulen 85.4 … Tertiärer und post-sekundärer, nicht tertiärer Unterricht 85.5 … Sonstiger Unterricht 85.6 Erbringung von Dienstleistungen für den Unterricht Abb. 4.19: Subkategorisierung der Wirtschaftszweige ( WZ ) in den Bereichen J und P (Auszug) Während es aus der Sicht der Bildungsplanung um die Frage geht, wie einzelne Sachfächer allenfalls zu Fächerverbünden zusammengefasst werden könnten, ist aus der Perspektive der Wirtschaftsstatistik nur relevant, in welcher Art von Bildungseinrichtung die Personen tätig sind. Im Bereich Erziehung und Unter- <?page no="203"?> 203 4.5. Fazit richt stellen die bestehenden und am Alter orientierten Bildungseinrichtungen zumindest bis zur Kennziffer WZ 85.3 / 4 auch eine einigermaßen stabile Vorgabe dar. Die Kategorien im Bereich Information und Kommunikation muss man dagegen kontinuierlich schon den technischen Entwicklungen anpassen. 4.5. Fazit Ausgehend von der Feststellung, dass Fächerabgrenzungen sekundäre Konstrukte sind, wurden in 4.2. und 4.4. Gliederungen aus zwei Handlungszusammenhängen vorgestellt, einerseits aus der Dokumentalistik- - in Bibliotheken und Bibliografien müssen Dokumente nach einem bestimmten System geordnet werden-- andererseits solche aus der Bildungs-, Forschungs- und Wirtschaftsadministration-- innerhalb der Verwaltung müssen u. a. bestimmte Zuständigkeiten festgelegt werden. Solche Gliederungen sind also kein Selbstzweck, sondern in praktische Handlungszusammenhänge eingebettet. Sie werden in diesen offiziell in Geltung gesetzt. Sprechakttheoretisch betrachtet, handelt es sich also nicht um Repräsentativa, um Ergebnisse des theoretischen Nachdenkens darüber, wie man die Fächervielfalt gliedern könnte, sondern um definitorische Festsetzungen (Deklarationen). Sie sind auf bestimmte historischsoziale Verhältnisse zugeschnitten und haben arbiträren Charakter, insofern mit ihnen nicht der Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Unabänderlichkeit verbunden ist. Das zeigt sich einerseits an den konkurrierenden Systemen, andererseits daran, dass sie tatsächlich ziemlich häufig geändert werden. Sie haben also nur einen eingeschränkten „soziokulturellen Geltungsbereich“ (Kalverkämper 1998a: 9; s. o.). Notwendig sind aber auch eher theoretische und sehr abstrakte Grobeinteilungen sowie Verfahren, verschiedene Gliederungen aufeinander abzubilden bzw. ineinander zu übersetzen. Trotz aller Kontingenz sind daher Meta-Systematisierungen möglich und auch entwickelt worden, die universalen Anspruch haben. Diesen versuchen sie allerdings gerade dadurch zu sichern, dass sie für weitere Entwicklungen offen bleiben. In der Fachsprachenlinguistik spielen solche Systeme wie auch die Reflexionen aus der Informationswissenschaft nahezu keine Rolle. Es scheint sogar die Vorstellung zu geben, es sei auf jeden Fall anzustreben, zu einer bestimmten (Grob-)Gliederung zu kommen, am besten auf linguistischer Grundlage. Die konkrete Bearbeitung des Problemfeldes verbleibt allerdings auf einem vergleichsweise elementaren Niveau, und es wird weder erkennbar, wie eine <?page no="204"?> 204 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? der Komplexität des Phänomenbereichs angemessene linguistisch fundierte Systematisierung aussehen noch welche Instanz- - für wen? - - eine solche in Geltung setzen könnte. Damit kommen wir auf die in 4.1. aufgeworfenen allgemeinen Fragen zurück. Kalverkämper hatte gefordert, es sei grundsätzlich eine „linguistische Selbstortung“ zu den Konzepten Fach und Fachsprache zu fordern. Eine solche ist in allgemeinen Arbeiten zu Fachsprachen m. E. selten erkennbar, und es fallen Widersprüche ins Auge: Einerseits scheint ein handlungsbezogener Ansatz weithin akzeptiert zu sein, die Annahme nämlich, Fächer seien durch menschliches, und zwar kommunikatives Handeln hervorgebrachte Größen-- oder anders gesagt: es handle sich um diskursive Konstrukte. Andererseits interessiert sich die allgemeine Fachsprachenlinguistik wenig für die tatsächlich als soziale Realitäten existierenden Fächergliederungen, sie möchte lieber einen eigenständigen Weg gehen und eine theoretisch fundierte Typologie erarbeiten. Dabei betont sie besonders ihren wissenschaftlichen Anspruch und schreibt fachsprachlichem Handeln Qualitäten wie Eindeutigkeit, Präzision, Exaktheit usw. zu. Die Ideale werden anscheinend für bare Münze genommen bzw. ausgegeben, obwohl die Fachsprachenlinguistik selbst ein hervorragendes Gegenbeispiel abgibt. Das führt dann zu der Klage, dass wir ‚noch immer‘ über keine verbindliche Definition von Fach und keine etablierte Fächergliederung verfügen. Wer solches Unbehagen zum Ausdruck bringt, setzt voraus, theoretisch fundierte allgemein gültige Definitionen und Systematisierungen seien sinnvoll und möglich. Das ist aber mehr als zweifelhaft: Wie Dahlberg eindrücklich gezeigt hat, gibt es keinen Mangel an wissenschaftlichen Theorien, Modellen und ausgedehnter Forschung zur Fächersystematisierung. Dabei ist man aber noch zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen- - man kann nämlich prinzipiell gar nicht dahin gelangen. Denn Wissenschaft zeichnet sich eben dadurch aus, grundsätzlich nichts für unhinterfragbar zu halten, auch nicht, oder besser gesagt: schon gar nicht das, was von politischen Instanzen als gültig deklariert wird-- aber natürlich jederzeit auch wieder außer Kraft gesetzt werden kann und tatsächlich ständig verändert wird. Es rächt sich gewissermaßen die allzu große Ausweitung des eigenen Objektbereichs unter der gleichzeitigen Voraussetzung, dieser könne mit einem einheitlichen Modell erfasst werden. Gemeint ist v. a. die Zusammenführung von Fach- und Wissenschaftssprachen. Wissenschaft stellt aber eine eigene „Sinnprovinz“ (vgl. 2.4.) dar, in der außergewöhnliche Handlungsvoraussetzungen gelten, die gerade besagen, dass grundsätzlich nichts eindeutig und unbe- <?page no="205"?> 205 4.5. Fazit zweifelbar ist. Ihr Charakteristikum sind nicht exakte Definitionen, sondern der Sprachhandlungstyp Argumentation. Wissenschaftliche Diskurse sind konstitutiv konfliktär, man streitet nicht nur über die ‚richtigen‘ Positionen, sondern schon über die ‚richtigen‘ Fragen und damit u. a. über Fächergliederungen, (Sub-)Disziplinen und angemessene Forschungsmethoden. Ähnliches gilt freilich auch für gesellschaftliche Diskurse. Es handelt sich um über längere Zeiträume hinweg ablaufende Kommunikationsprozesse, in denen die Beteiligten sich diversen Parteien, Lagern usw. zuordnen, einander also als Opponenten gegenüberstehen, die unterschiedliche Auffassungen vertreten, verschiedenen Werten anhängen, jeweils eigene Erfahrungen gemacht haben, widerstreitende Ziele verfolgen usw. Diskurse sind also agonal. Wenn nun normsetzende Institutionen beteiligt sind, die die Macht haben, in solchen Konflikten Entscheidungen zu fällen, gewinnt die eine oder andere Partei (für eine gewisse Zeit) die Oberhand. In den seltensten Fällen geht dies aber mit einer Einigung einher, die die Konfliktparteien wirklich versöhnt und den hegemonialen Diskurs vor Kritik bewahrt. Es bleibt also bei grundsätzlich konfliktären Positionen, die fortlaufend weiter bearbeitet werden: Wissenschaften und menschliche Gemeinschaften sind Dauerbaustellen, solange sie existieren. Zugleich geht das Leben weiter und fordert verbindliche Festlegungen für das Alltagshandeln, auch für die alltägliche Arbeit auf den Baustellen. So stellt sich ein und dasselbe Konstrukt, je nach Perspektive, als intersubjektiv unfraglich gültige Wirklichkeit dar oder als bloßes Provisorium bzw. als Wirklichkeit, die auch ganz anders sein könnte. Der Gestus des Hinterfragens kann, ja muss in bestimmten Kontexten ein- oder ausgeschaltet werden. Hinzu kommen die inhaltlich differenten Perspektiven. Diejenigen, die in diesem Kapitel zur Sprache gekommen sind, seien zum Abschluss zusammengestellt (Abb. 4.20). Es gilt dasselbe wie für Abbildung 1.1: Diese Perspektiven schließen einander nicht aus, sondern konstituieren, zumindest teilweise, verschiedene Fächer, die sich demselben Gegenstand widmen, nämlich Fächern. Was die Fachsprachenlinguistik angeht, so kann und müsste sie eigentlich einerseits (als Wissenschaft mit deskriptivem Anspruch) all diese Perspektiven auch selbst zu ihrem Gegenstandsbereich zählen und andererseits (im Sinne der „Selbstortung“) jeweils verdeutlichen, welche Perspektiven sie in einem konkreten Arbeitsprojekt einnimmt. Eine allgemeine Fachsprachenlinguistik, die die verschiedenen Perspektiven gegeneinander ausspielt oder eine als verbindlich setzt, ist dagegen nicht denkbar, denn niemand hat die Macht, eine solche Entscheidung durchzusetzen. <?page no="206"?> 206 4. Fächerabgrenzungen: Was ist ein Fach, was ist ein Fach? Fächer Dimension sprachlicher Variation Ausbildungsgänge Komplexe von Wissensbeständen (berufliche) Handlungsbereiche Dokumentationssprachen … soziale Konstrukte theoretische Konstrukte Abb. 4.20: Perspektiven auf Fächer <?page no="207"?> 207 5.1. Vorüberlegungen 5. Fächer als diskursive Konstrukte 5.1. Vorüberlegungen Von den in 4.1. genannten Fragestellungen nach dem Verhältnis von Fach und Sprache kam im vorigen Kapitel v. a. die des Sprechens über Fächer im Sinne ihrer Gliederung in den Blick. Auch die erste Perspektive, die als Kommunikation im Fach charakterisiert wurde, erschien relativ stark mit der von Fächergliederungen verwandt, denn sie wird ja meist als Frage danach interpretiert, ob bzw. inwieweit Fächern auch jeweils eigene Fachsprachen zugeordnet werden können, sie sich also (auch) sprachlich gegeneinander abgrenzen lassen. Die dritte Perspektive, nämlich die Frage, wie Fächer (sprachlich) geschaffen werden, wurde in Kapitel 4.4. nur im Sinne von Fächern als sozial verbindlichen Konstrukten behandelt. Eine solche Sichtweise kommt einer extensionalen Definition gleich, also einer Aufzählung aller Einheiten, die zu der Kategorie gehören. Wegen der enormen Menge an Fächern konnte dies nur durch den Verweis auf diverse Listen realisiert werden bzw. im Sinne einer exemplarischen Definition für Kinder: Fächer haben mit Wissen zu tun, Wissen ist immer Wissen von oder über etwas. Fächer betreffen also unterschiedliche ‚Etwasse‘, in der Schule sind dafür z. B. verschiedene Unterrichtsfächer eingerichtet, die du ja kennst. Es scheint geradezu unausweichlich zu sein, beim Reden über Fach immer gleich eine klassifikatorische Perspektive einzunehmen. Das erklärt sich daraus, dass Wissen Strukturiertheit voraussetzt, Kategorien, die in bestimmten Beziehungen zueinander stehen. Offen bleibt bei der Klassifizierung von Fächern allerdings die Frage nach dem eigentlichen Wesen von Fach und Wissenschaft, weniger metaphysisch gesprochen: Was macht die Kategorie Fach bzw. Wissenschaft aus, zu welchen Kategorien stehen sie im Gegensatz? Dazu gehört auch die Frage, ob diese beiden Ausdrücke, Fach und Wissenschaft, (quasi-)synonym sind, ob sie in irgendeiner Gegensatz-Relation zueinander stehen oder aber Fach der Oberbegriff ist, Wissenschaft eine Unterkategorie davon. Wir müssen also abstrakter ansetzen, wieder auf die Meta-Ebene zurückkehren, die in 2.4. im Vordergrund stand. Dabei geht es nicht darum, was einzelne Fächer voneinander unterscheidet, sondern im Gegenteil darum, was sie gemeinsam haben, was fachliches Handeln ausmacht und was Menschen kennzeichnet, die sich in einem Fach (oder auch in mehreren) auskennen. <?page no="208"?> 208 5. Fächer als diskursive Konstrukte In 2.4. wurden Gegenkategorien zu Wissenschaft und Unterkategorien von Fach (Technik, Institutionen) unter Rückgriff auf das Konzept der Lebenswelten von Schütz und Berger / Luckmann vorgestellt. Wir kommen jetzt zur Welt der Wissenschaft und der Frage, was hier unter diskursiver Konstruktion zu verstehen ist. Das entspricht einer Konkretisierung der These aus 2.4., Gegenstands- und Tätigkeitsbereiche würden durch sprachliches Handeln erst hervorgebracht, der sich auch Roelcke anschließt, obwohl er eigentlich eine realistische Position vertritt (vgl. auch 1.2.). Gardt hatte gegen die damit zusammenhängende Annahme der Präexistenz der Dinge die Verhältnisse in der Literaturwissenschaft angeführt. Dieses Argument ist insofern nur halb überzeugend, als niemand bezweifelt, dass literarische Werke und Texte überhaupt erst vom Menschen hervorgebracht werden. Das führt uns dann wieder zu der grundlegenden Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften, die mit präexistenten Dingen zu tun haben, und Human- und Sozialwissenschaften, für die das nicht gilt. Voll überzeugend kann das Argument erst werden, wenn man auch für die ersteren sinnvoll die diskursive Konstruktion von Gegenständen und Sachverhalten postulieren kann. Diesem Problemfeld ist das Kapitel 5.2. gewidmet, das zwei wichtige wissenschaftshistorische und -theoretische Bücher von Vertretern exakter Wissenschaften behandelt. In 5.3. geht es um eine textlinguistische Sicht auf Fachsprachen, in 5.4. um fachsprachliche Lexik. Zuvor sollen aber noch zwei Fäden aus der bisherigen Darstellung wieder aufgenommen werden. Der eine betrifft die Frage, inwiefern Fächer überhaupt (gut) voneinander abgrenzbar sind, der andere rekapituliert und kommentiert die Qualitätsmerkmale, die Fachsprachen traditionell zugesprochen werden. Fächer sind einerseits in sich heterogen, andererseits müssen für viele Projekte Experten verschiedener Fächer kooperieren, sie müssen also mehrere Fachsprachen mehr oder weniger gut beherrschen. Daher können Fachtexte gewissermaßen mehrsprachig sein, nicht nur im üblichen Sinne der Kombination verschiedener Einzelsprachen. Die Mischung von Elementen verschiedener Einzelsprachen ist natürlich auch typisch für Fachkommunikation, denn Kooperation und Austausch erfolgen vielfach über Ländergrenzen hinweg, speziell Forschung ist von jeher ein internationales Projekt. Abgesehen von fremdsprachigen Zitaten wird dies besonders sinnfällig, wenn einem Text in Sprache A Abstracts oder Zusammenfassungen in Sprache B (und weiteren) beigegeben werden. Aber auch in Texten, die sich an ein breiteres und als einsprachig <?page no="209"?> 209 5.1. Vorüberlegungen Am offenkundigsten ist die Mehr-Fach-Sprachlichkeit natürlich bei eigentlich interdisziplinären Projekten. Es gibt aber auch sozusagen genuin interdisziplinäre Fächer (z. B. Umwelt- oder Medienwissenschaften) bzw. Subdisziplinen: In der Linguistik ist es etwa üblich, Sozio-, Psycho-, Neurolinguistik usw. als Bindestrichdisziplinen zu kennzeichnen. Außerdem sind Fächer mehr oder weniger eng miteinander verwandt, manche stellen Grundlagenfächer für andere dar (z. B. die Mathematik für Natur- und Ingenieurwissenschaften, die Semiotik für Sprach- und Kunstwissenschaften). Gemeinsam haben die unterschiedlichsten Fächer ferner eine Allgemeine Wissenschaftssprache (vgl. Hoffmann 1985: 126 ff.). 67 Rückverwiesen sei an dieser Stelle auf Hoffmanns in 3.2.1. zitierte Formel der „Dialektik von Spezialisierung und Integration“ sowie den Bericht über das Bildungswesen (Cortina et al. 2008: 616), in dem die „Fragmentierung zwischen den Geistes-, Sozial-, Natur- und Technikwissenschaften sowie der Medizin als zunehmend überholt“ bezeichnet wird (vgl. 4.4.). Jochen Rehbein schätzt dies in seinem Artikel über Austauschprozesse zwischen unterschiedlichen fachlichen Kommunikationsbereichen ebenso ein und betont überdies andere fächerübergreifende Zusammenhänge, aber auch Kontroversen. Dies weist zurück auf Wissenschaft als fundamental agonalen Diskurs: „Ein fächerübergreifend derartige Kommunikationszusammenhänge stiftendes Konzept ist das der Theorie, genauer, die mit der Theorie verknüpfte Methode: So kapseln sich heute weniger geistes- und naturwissenschaftliche Fächer gegeneinander ab, als vielmehr positivistische und verstehende Wissenschaften (von Wright 1972 [1971]); so bilden sich auch innerhalb der Fächer Schulen oder ganze Paradigmen, die Begriffe theoretisch kontrovers verwenden, deren Theorien aber oftmals wechselseitig in Überzeugungssystemen erstarren (Rehbein 1994) und so einem interfachlichen 67 Ehlich (1993; 1999) hat hierfür den Ausdruck Alltägliche Wissenschaftssprache geprägt; vgl. auch das Lehrbuch von Graefen / Moll (2011). konzeptualisiertes Publikum wenden, ist es sehr üblich, dass Elemente aus anderen Sprachen vorkommen. So werden Fachwörter u. a. unter Rückgriff auf ihre Etymologie erläutert, was oft auf das Lateinische oder Griechische führt. In vielen Fachwörterbüchern erscheinen mehr oder weniger systematisch Entsprechungen zu den Lemmata in anderen Sprachen (vgl. 1.3.). Auf die große Bedeutung von Fachsprachen für Übersetzer wurde schon in 1. hingewiesen. Für sie stellen speziell mehrsprachige terminologische Datenbanken ein wichtiges Hilfsmittel dar. <?page no="210"?> 210 5. Fächer als diskursive Konstrukte Austausch widerstreben. Sogar der formale Aufbau wissenschaftlicher Artikel variiert je nach Schule (vgl. Weinrich 1995). Auch läßt sich scientific community in mehrere Wissenschaftskulturen zerlegen, etwa in eine Sach- und eine Sprachkultur“ (Rehbein 1998: 691; Kursivierungen im Orig., Fettdruck K. A.). In der Fachsprachenlinguistik bleiben insbesondere diese internen Kontroversen ganz im Hintergrund; sie tendiert bislang zu einer homogenisierenden und zugleich idealisierenden Sicht auf Fachsprachen. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Fachsprachen zugeschriebenen Merkmalen Präzision, Explizitheit, Ökonomie usw. und der Annahme, besonders wesentlich seien normierte Termini. In 2.4. wurde schon hervorgehoben, dass maximale Explizitheit und Präzision nur in besonderen Fällen effizient und situativ angemessen sind und daher keinem immer und überall gültigen Ideal entsprechen können. Dieses Argument ist auch für Roelcke besonders wichtig. Er macht speziell an der Exaktheit die drei von ihm unterschiedenen Fachsprachenkonzeptionen fest (vgl. 1.). Im ‚systemlinguistischen Inventarmodell‘ werde der Fachwortschatz als eine existierende Menge von explizit und präzise definierten Begriffen präsentiert, Exaktheit werde also direkt den lexikalischen Einheiten zugeschrieben ohne Rücksicht auf ihren Gebrauch in Texten. „Im Rahmen eines pragmalinguistischen Kontextmodells ist Exaktheit demgegenüber nicht oder zumindest nicht ausschließlich eine Eigenschaft von Einheiten des Fachwortschatzsystems, sondern vielmehr eine solche des Wortgebrauchs im Fachtext. Dabei wird die Konzeption der relativen [für eine Erläuterung dieses Attributs vgl. weiter im Text] Exaktheit durch Definition nicht in Frage gestellt; sie wird jedoch durch eine solche, welche die Exaktheit eines Fachwortes an dessen konkretem Ko- und Kontext misst, ergänzt.-[…] Die Eigenschaft der Exaktheit wird insbesondere von Seiten der traditionellen Fachsprachenforschung, die einem systemlinguistischen Inventarmodell verpflichtet ist, zu einem fachsprachlichen Ideal erhoben, das keine Ausnahme in Form von Vagheit zulässt.- […] Unter Berücksichtigung von Untersuchungen zu einzelnen technischen oder wissenschaftlichen Fachsprachen erfährt dieses Exaktheitspostulat eine weitere [zusätzlich zur Relativität] Einschränkung: Eine kontextuelle Exaktheit von Fachwörtern, die deren systematische Exaktheit durch Definition tatsächlich jeweils modifiziert oder differenziert [d. h.: jemand sagt explizit: ich verwende den Begriff hier im Sinne von-…/ folgendermaßen: -…], ist hier derart verbreitet, dass sie eher als Normaldenn als Sonderfall angesehen werden muss. Definitorische Vagheit bei kontextueller Exaktheit ist somit nicht als Unzulänglichkeit oder Ausnahme von <?page no="211"?> 211 5.1. Vorüberlegungen Fachwörtern, sondern vielmehr als deren Charakteristikum zu werten.“ (Roelcke 2010: 69 f.; Hervorhebung im Orig.) Exaktheit ist nach Roelcke „trotz der bisweilen durchaus auch anders lautenden Ansprüche“ (ebd.: 69) grundsätzlich nur eine relative Größe. Damit meint er, dass es dabei nicht um die Korrespondenz zwischen Sache und sprachlichem Ausdruck geht, sondern die Ausdrücke relativ zu anderen aus demselben begrifflichen System zu sehen sind, dass sie durch die „Einbindung in das betreffende definitorische Wortschatzsystem“ (ebd.) geprägt sind. Die oben wiederholte Definition von Fach sagt z. B. nichts darüber aus, in welchem Verhältnis Fach und Wissenschaft stehen. In 1.3. kam zur Sprache, dass Fachwort, Terminus, Begriff, Benennung und Begriffsbenennung (das könnte man geradezu für einen Pleonasmus halten) teilweise unpräzise und wie Synonyme gebraucht werden, in der Terminologielehre dagegen klar gegeneinander abgegrenzt sind. Das klassische Beispiel für die Schaffung eines terminologischen Systems stellt die biologische Taxonomie dar, zu der Carl von Linné (1707-1778) wesentliche Grundlagen legte, indem er das Prinzip zweiteiliger Namen einführte, die sog. binäre Nomenklatur. Die Benennung wird dabei von der Beschreibung getrennt und der erste Namensteil bezeichnet die Gattung, der zweite die Art (z. B. homo sapiens). Die höheren Ränge (Familie, Ordnung, Klasse, Stamm, Reich) gehen nicht in die Benennung ein. Von den Grundlagen Linnés ausgehend wurden dann diverse Regel- und Kodierungssysteme geschaffen und kontinuierlich verändert. Dabei ging es zunächst um die Frage, ob es ein einheitliches System für Botanik und Zoologie geben solle (heute getrennt). Ein anderer Streit entzündete sich an der Frage, ob die Namen lateinisch sein müssen (zeitweise folgten die Amerikaner einem eigenen Code in englischer Sprache). Nach dem bisher Zitierten ist für Roelcke Exaktheit kontextuell gegeben. Das ist allerdings keineswegs immer der Fall. Dies zeigen am besten die durchaus nicht seltenen expliziten Kommentare aus Fachtexten, ein bestimmter Ausdruck würde (vorläufig) bewusst in vagem Sinne benutzt (vgl. z. B. 2.4. zur Kategorie Alltagswelt). Anders als der eben zitierte Abschnitt erwarten lässt, kommt bei Roelcke aber auch „bewusst gestaltete semantische Vagheit“ (ebd.: 70) in den Blick. Dass er diese erst an dritter Stelle erwähnt, erklärt sich daraus, dass er meint, für ihre Erläuterung auf das ‚kognitionslinguistische Funktionsmodell‘ zurückgreifen zu müssen. <?page no="212"?> 212 5. Fächer als diskursive Konstrukte Während unterschiedliche Schulen bei Roelcke im Allgemeinen keine große Rolle spielen, er der internen Heterogenität von Fächern also nicht viel Aufmerksamkeit schenkt, bilden bei der Darstellung des Fachs Fachsprachenlinguistik die drei unterschiedlichen Konzeptionen für ihn ein zentrales Element. Gerade bei ihnen scheint es mir aber ganz unangemessen, sie als miteinander konkurrierend (oder auch in der Fachsprachenlinguistik einander tatsächlich historisch ablösend) zu betrachten. Sie konzentrieren sich nur jeweils auf einen der vielfältigen Aspekte, die bei einer umfassenden Betrachtung von Fachsprachen allesamt zu berücksichtigen sind. Diese Position vertreten auch Hoffmann / Kalverkämper (1998) in dem HSK -Artikel 33: Forschungsdesiderate und aktuelle Entwicklungstendenzen in der Fachsprachenforschung. Die alte Debatte darüber, ob Fachwörter oder Fachtexte das wesentliche(re) Untersuchungsobjekt der Fachsprachenlinguistik darstellen (sollen), erweist sich aus dieser Sicht als fehlleitend: Fachtexte zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen Fachwörter vorkommen. Fachwörter existieren aber-- wie alle anderen Wörter und Sprache überhaupt- - als wahrnehmbare Realität nur in Texten. Man kann sie natürlich auch in Listen sammeln, was besonders nützlich ist, wenn man dazuschreibt, was sie bedeuten. So entstehen Fachwörterbücher. Aber auch bei diesen handelt es sich ja um eine Textsorte, und zwar eine, die für fachsprachliches Handeln besonders wesentlich ist. Fachwörterbücher sind allerdings ein relativ spätes Phänomen, nämlich metasprachliche Produkte, die eine Menge von Fachtexten voraussetzen, aus diesen den Fachwortschatz zu abstrahieren versuchen. Insofern stellt die Formel Vom Fachwort zum Fachtext (Hoffmann 1988) die genetische Entwicklung geradezu auf den Kopf. Dass sie so gängig ist und nicht anstößig wirkt, erklärt sich nur daraus, dass die Fachsprachenlinguistik selbst auf einer sehr langen Tradition aufbaut und erst aufkam, als schon längst Systembeschreibungen in Gestalt v. a. von Fachwörterbüchern existierten. Versuchen wir, uns die Entwicklung von Fachsprachen in einer Art Trickfilm aus drei Bildern vor Augen zu führen: Ausgangselement von Fachsprachen sind notwendigerweise immer Texte von Menschen, die einen bestimmten Sachbereich thematisieren und diesen genauer zu beschreiben und eventuell zu erklären versuchen, als es bis dahin (also in der Alltagssprache) üblich ist (1). Damit daraus ein Fach entsteht, müssen sich mehrere Menschen mit demselben Sachbereich genauer befassen und miteinander austauschen (2). Sie reden / schreiben dann nicht nur über den Gegenstand, sondern auch darüber, was andere Menschen schon über diesen Gegenstand gesagt oder geschrieben <?page no="213"?> 213 5.1. Vorüberlegungen haben (3). Daher ist ein konstitutives Merkmal von Fachsprachen die Metakommunikation. Metakommunikation betrifft allerdings nicht nur die Intertextualität, d. h. den Bezug auf frühere Texte, sondern auch den Sprachgebrauch selbst, charakteristisch sind nämlich auch metasprachliche Elemente i. e. S.: Fachausdrücke werden in Texten explizit geprägt und günstigenfalls präzise definiert. Dies bildet auch ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zur Gemein-/ Alltagssprache: Dort spielt sich der Sprachgebrauch normalerweise ein, ohne dass irgendjemand absichtlich versuchen würde, ihn zu ändern, oder überhaupt weiter darüber nachzudenken: Man benutzt die Sprache und macht sie nicht zum Gegenstand des Handelns. Für fachliche Kontexte ist es dagegen charakteristisch, dass sprachliche Mittel sehr reflektiert verwendet und neue Ausdrücke geschaffen werden, und zwar sogar in großer Menge. Ab einem bestimmten Zeitpunkt ergibt sich dann der Bedarf, eine gewisse Ordnung zu schaffen, das neu entstandene Sprachmaterial zu sichten, sekundär zu bearbeiten und eventuell sogar terminologische Normierungen vorzunehmen. Das ist aber keineswegs ein notwendiger End- oder Zielpunkt. Ob Fachausdrücke präzise definiert oder gar normiert sind, ist eine empirische Frage, keine des linguistischen Untersuchungsansatzes. Sie lässt sich auch nicht generell, also für Fachsprachen überhaupt, beantworten, sondern hängt stark vom einzelnen Fach und seinem Entwicklungsstand ab. In der frühen Fachsprachenforschung standen Techniksprachen im Vordergrund; für diese ist ‚systematische Exaktheit‘ charakteristisch. Präzise und normierte Termini lassen sich nämlich am besten für Objekte prägen, die der Mensch selbst hervorgebracht hat. Das gilt v. a. für technische Gegenstände, insofern sie schon nach einem standardisierten Verfahren (industrielle Produktion) entstehen. Hier ist es naheliegend (wenngleich keineswegs selbstverständlich), auch die Ausdrücke, mit denen man sich auf diese Objekte und ihre Teile bezieht, zu standardisieren. Da im technischen Bereich Wirtschaftsunternehmen miteinander konkurrieren, kommt es jedoch geradezu gewollt zu Vielfachbenennungen für nahezu identische Objekte (vgl. 1.1. zu firmenspezifischen kontrollierten Sprachen). Das ist auch aus dem Alltag bekannt, da ja Bestandteile ‚derselben‘ Apparate wie etwa Staubsaugerbeutel, Farbpatronen für Drucker oder Batterien für elektrische Geräte nur in bestimmte Typen (einer Marke) passen. Exakt bezeichnet werden diese Objekte gewöhnlich mit einer Seriennummer. <?page no="214"?> 214 5. Fächer als diskursive Konstrukte Wesentliches allgemeines Merkmal von Fachwortschätzen ist, dass sie umfangreicher sind als notwendig. Denn es ist sehr viel einfacher, neue Bezeichnungen zu erfinden (das kann jedes Individuum), als die- - sozusagen natürliche- - Bezeichnungsvielfalt zu beschneiden (das betrifft den Sprachgebrauch einer Gruppe). Normierte Termini stellen kein Gegenbeispiel, sondern selbst den besten Beleg dafür dar, denn Normierung setzt Heterogenität voraus. Gewöhnlich geht es darum, unter koexistierenden Varianten eine auszuwählen, z. B. unter Quasi-Synonymen einen Ausdruck mindestens als Vorzugsbenennung zu bestimmen. Dazu muss eine Normierungsinstanz tätig werden (vgl. 1.1.). Das können Terminologie-Ausschüsse, Firmen, Ämter oder auch Fachgesellschaften sein. Sowohl für jemanden, der sich neu in ein Fachgebiet einarbeiten will, als auch für sprachwissenschaftliche Belange gehören daher zu den ersten und wichtigsten Informationen einerseits solche über entsprechende Normierungsinstanzen, andererseits solche über relevante Nachschlagewerke, Datenbanken usw. Selbst wenn eine Normsetzung stattgefunden hat, sind die meisten Menschen aber nicht dazu verpflichtet, ihr auch zu folgen, weder die Öffentlichkeit (vgl. auch 3.2.2. zu Wissens- und Informationsgesellschaft) noch Fachleute des Gebiets als Wissenschaftler. Denn diese dürfen ja alles infrage stellen und auch eigene terminologische Systeme prägen. Es entstehen also nicht nur ständig neue Fachwörter und neue Gebrauchsweisen bestehender Fachausdrücke, sondern es wird über diese auch debattiert, sie werden interpretiert, miteinander verglichen, als ungeeignet zurückgewiesen, durch andere ersetzt usw. Jede Normierung setzt einem solchen Prozess ein Ende- - allerdings nur ein vorläufiges, denn verbindliche Normen kann, ja muss man explizit in und außer Kraft setzen und an weitere Entwicklungen anpassen (vgl. die Ausführungen zur mathematischen Klassifikation in 4.4.). Außerdem haben Normen immer nur eine bestimmte Reichweite. Sie gelten nicht immer und überall, sondern nur in bestimmten Kontexten und für bestimmte Gruppen. In der Regel bedarf es nicht nur einer Instanz, die die Normen festsetzt (und ggf. ändert), sondern auch einer Kontrollinstanz, die überwacht, dass die Normen dort, wo sie gelten, auch eingehalten werden. Dies ist beileibe nicht einfach und wird in der technischen Dokumentation, wo enorme Mengen an Begriffen und Texten anfallen, inzwischen durch automatisierte Verfahren gestützt. Ansonsten gibt es für Fachtexte keine mit einer gewissen Macht ausgestatteten Kontrollinstanzen und daher ist der Gebrauch <?page no="215"?> 215 5.1. Vorüberlegungen fachsprachlicher Elemente (speziell im wissenschaftlichen Bereich) tatsächlich auch ziemlich anarchisch (vgl. 5.4.). Die Normierung von Fachtermini suspendiert den Gestus des Infragestellens und damit zugleich weitere Forschung in Bezug auf das normativ Fixierte. Jedenfalls für all die, die mit dem gesetzten Kategorien- und Methodeninventar das betreiben, was Thomas S. Kuhn (1922-1996) normale Wissenschaft nennt. Kuhns Begriffe Paradigma, Paradigmenwechsel, wissenschaftliche Revolution und normale Wissenschaft, lassen sich am besten dem disziplinären Komplex Wissenschaftsgeschichte, -theorie und -soziologie zuordnen. Sie sind keineswegs präzise definiert oder gar normiert und gerade deswegen ähnlich erfolgreich wie Informations- und Wissensgesellschaft. Besonderen Erfolg darf man einem wissenschaftlichen Begriff zusprechen, wenn er in ein allgemeinsprachliches Wörterbuch eingeht. Von den vier genannten gilt das nur für Paradigmenwechsel, 68 das im DUW folgendermaßen erläutert wird: ‚Wechsel von einer wissenschaftlichen Grundauffassung zu einer anderen‘. Das DUW weist den Ausdruck der ‚Disziplin‘ W issenschaft zu, die in der in 2.1. behandelten Liste nicht erscheint. Präzisere, aber nicht allgemein bekannte und wohl deswegen im DUW nicht benutzte Ausdrücke für das Gemeinte sind Wissenschaftswissenschaft, Metawissenschaft, Epistemologie oder die englische Bezeichnung Science studies. Die Erläuterung zu Paradigmenwechsel aus dem DUW ist recht vage und wird damit dem Tatbestand gerecht, dass dieser Ausdruck inzwischen allenthalben etwa im Sinne von ‚grundlegende Veränderung‘ Verwendung findet, ohne dass man sich genauer oder überhaupt auf die Kuhn‘sche Theorie bezöge. OWID liefert sogar einen Beleg aus dem Fußballsport: „Beckhams Transfer ist für die MLS [Major League Soccer, nordamerikanische Fußballprofiliga], die bislang auf einen kontinuierlichen Aufbau ohne finanzielle Abenteuer setzte, zudem ein gefährlicher Paradigmenwechsel. Zur Erinnerung: Nach dem Weggang von Beckenbauer und Pelé wurde die damalige US -Profiliga 1984 aufgelöst.“ (Mannheimer Morgen, 13. 07. 2007) 68 Das Wort Paradigma ist im DUW selbstverständlich verzeichnet, aber nicht in der Lesart, die in Paradigmenwechsel gemeint ist. <?page no="216"?> 216 5. Fächer als diskursive Konstrukte Ein sehr erweiterter bzw. unpräziser Gebrauch findet sich aber auch in (fachsprachen-)linguistischer Literatur, z. B. in dem oben zitierten Absatz von Rehbein, wo von Schulen oder ganzen Paradigmen die Rede ist, Paradigma also als eine Art Steigerung von Schule erscheint. Quasi synonym zu Paradigmenwechsel benutzt man heute oft Wende bzw. turn (vgl. Adamzik 2016a: 354 ff.). Bei all diesen Ausdrücken handelt es sich um abstrakte Begriffe, denen mehr oder weniger ausgearbeitete Theorien und Modelle zugrunde liegen können (wie bei Paradigma) oder nicht (wie z. B. bei Wissensgesellschaft). Terminologische Normierungen sind für solche ‚Gegenstände‘ gänzlich untypisch, wenn sie überhaupt möglich sind. Das betrifft besonders Begriffssysteme aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Denn hier gibt es nicht so etwas wie einen Praxistest der Art: Geräte funktionieren oder funktionieren nicht, Experimente bestätigen die Voraussagen oder nicht usw. Die (terminologische) Kreativität ist jedoch auch in den Humanwissenschaften sehr ausgeprägt, zumal man sich theoretische Konzepte und originelle Begriffe im Prinzip relativ leicht ausdenken kann. In einer Gesellschaft, die Innovation als einen besonders hohen Wert behandelt, kommt es daher auch leicht zu Fehlentwicklungen, nämlich einer Vielzahl von konkurrierenden Modellen, deren Gesamtheit nicht einmal Experten überblicken und im Auge behalten können. Erinnert sei nochmals an das Problem mit der grammatischen Terminologie, das Sternefeld / Richter (2012: 246) dazu veranlasst hat, von einer „Degeneration“ der Grammatiktheorie zu sprechen (vgl. 1.2. und Adamzik 2016a: 369 f.). So etwas steht natürlich in direktem Gegensatz zu der Behauptung vom präzisen und ökonomischen Sprachgebrauch in Fächern, die ähnlich wie die Rede von der Wissensgesellschaft eher einem Mythos entspricht. Zentral ist dabei die idealisierende und elitäre Sicht auf die Experten, insofern sie als Leute erscheinen, die wissen, wie es ‚wirklich‘ ist, oder die zumindest alles wissen, was man von einem Gegenstand zu einer gegebenen Zeit überhaupt wissen kann. Solche Übermenschen gibt es aber nicht, am allerwenigsten in einem Umfeld, wo niemand mehr mit dem Lesen der sich exponentiell vermehrenden Fachliteratur nachkommt. Reale Experten wissen v. a., dass ihr Wissen begrenzt und unvollkommen ist, und solche, die sich in der Forschung betätigen, befassen sich per definitionem mit Fragen, deren Beantwortung (wenn sie denn möglich ist) aussteht. <?page no="217"?> 217 5.2. Denkkollektive und Paradigmenwechsel Bemerkenswert ist, dass gerade Präzision, Exaktheit oder gar Objektivität als Eigenschaften fachsprachlichen Handelns in den Vordergrund gestellt werden. Argumentation als zentrales Merkmal tritt dahinter zurück. Angesichts der idealisierten Sicht auf die Experten ist das insofern verständlich, als es bei Argumentationen ja immer ein Für und Wider gibt, also etwas Umstrittenes. Dieses zu betonen, wäre aber der Idealvorstellung von Expertentum durchaus abträglich. Dass ausgerechnet die Fachsprachenlinguistik selbst den Topos der Exaktheit tradiert, ist besonders verblüffend, da es in ihr zugleich einem Topos entspricht, weder Fach noch Fachsprache, Gemeinsprache, Varietät … ließen sich überhaupt definieren. Das wird üblicherweise auch von Wort, Satz und Text gesagt. Es ist schwer zu erkennen, wie sich diese unterschiedlichen Topoi miteinander vereinbaren lassen. Soll man daraus schließen, dass die ‚allgemeinen Merkmale‘ von Fachsprachen doch eher aus Techniksprachen als Prototyp abgeleitet sind und nicht für alle Fächer (gleichermaßen) gelten, speziell weniger für geistes- und sozialwissenschaftliche? Wäre es doch angemessener, die Sprache der Naturwissenschaften, die ja auch als exakte bezeichnet werden, grundsätzlich von der der Humanwissenschaften zu unterscheiden? Kann es eine allgemeine Fachsprachenlinguistik geben, die die Welt der einen Disziplinengruppe so gut versteht und beschreiben kann wie die andere? Diese Fragen führen geradewegs zur Metaperspektive. Im Folgenden geht es um zwei Werke, die aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers bzw. Mediziners geschrieben sind. 5.2. Denkkollektive und Paradigmenwechsel Auf das Buch von Kuhn Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen passt besonders gut der lateinische Spruch: Habent sua fata libelli-- Bücher haben ihr eigenes Schicksal. Es handelt sich nach der Charakterisierung des Autors um einen Essay, dessen Gedanken sich in den 50er Jahren entwickelten, in denen der von der theoretischen Physik herkommende Kuhn sich der Wissenschaftsgeschichte und -theorie zuwandte. Für die dort herrschende Lehre stellte das 1962 zuerst veröffentlichte Werk eine Provokation dar. Es löste eine Vielzahl von z. T. sehr kritischen Stellungnahmen aus, die sich nicht zuletzt an der Unschärfe des Paradigmenbegriffs entzündeten. Jemand hat sich die Mühe gemacht sie zu zählen und kam zu dem Schluss, dass Paradigma „auf wenigstens zwei- <?page no="218"?> 218 5. Fächer als diskursive Konstrukte undzwanzig verschiedene Arten gebraucht wird“ (Kuhn 1976: 193). Es wurde aber auch der Vorwurf erhoben, Kuhn „machte aus der Wissenschaft ein subjektives und irrationales Unternehmen“ (ebd.: 187). Diese Bemerkungen Kuhns stammen aus dem mehr als 30-seitigen Postskriptum (1969), in dem er zu den Einwänden Stellung nimmt (abgedruckt in der zweiten Auflage). Wie schon in 5.1. dargestellt, erschöpft sich die Hauptwirkung von Kuhns Buch in der Verbreitung des Ausdrucks Paradigmenwechsel. Eine auch nur etwas eingehendere Auseinandersetzung mit seinem Gedankengut erfolgt nur innerhalb des engeren Kreises der Wissenschaftstheorie und -geschichte bzw. der Metawissenschaft, in der Linguistik jedenfalls nicht (mehr). Die Metawissenschaft erlebte allerdings durch sein Werk einen neuen Aufschwung. Da dies hier nicht genauer dargestellt werden kann, sei für einen neueren Rückblick auf diese Debatten auf Devlin / Bokulich (2015) verwiesen. Sowohl im Vorwort als auch im Postskriptum thematisiert Kuhn den Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften, da ihn Reaktionen aus Bereichen verwirrten, die er gar nicht gemeint hatte, nämlich u. a. aus den Geisteswissenschaften. Dass diese nicht nach dem Schema der Naturwissenschaften funktionieren, nämlich gar keine Paradigmen ausbilden, sondern sich durch das Nebeneinander und den abrupten Wechsel verschiedenster Auffassungen charakterisieren, war für ihn ein Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Seltsamerweise fühlten sich jedoch Angehörige dieser Disziplinen und anderer Tätigkeitsbereiche von ihm mit etwas beschenkt, was er von ihnen erst übernommen hatte. Aus dem Postskriptum: „Manche freuten sich weniger deshalb an ihm [dem Buch], weil es die [Natur-] Wissenschaft beleuchtet, sondern weil sie seine Hauptthesen auch auf vielen anderen Gebieten für anwendbar halten.-[…] In dem Maße, wie das Buch die wissenschaftliche Entwicklung als eine Folge traditionsgebundener Perioden darstellt, zwischen denen nicht-kumulative Umbrüche liegen, sind seine Thesen zweifellos weithin anwendbar. Kein Wunder, denn sie sind aus anderen Bereichen zusammengetragen. Die Geschichtsschreibung der Literatur, Musik, bildenden Kunst, Politik und vieler anderer menschlicher Tätigkeiten beschreibt ihren Gegenstand seit langem auf diese Weise. Periodisierung durch revolutionäre Umbrüche von Stil, Geschmack und institutioneller Struktur gehören zu ihren Standardwerkzeugen. Wenn ich hinsichtlich solcher Vorstellungen originell war, dann hauptsächlich durch ihre Anwendung auf die Naturwissenschaften, auf Gebiete also, von denen man allgemein dachte, sie entwickelten sich anders.“ (Kuhn 1976: 219 f.; Hervorhebungen K. A.) <?page no="219"?> 219 5.2. Denkkollektive und Paradigmenwechsel Im Vorwort beschreibt Kuhn frühe Erfahrungen mit Sozialwissenschaftlern: „Die Endstufe der Entwicklung dieser Monographie begann mit der Einladung, das Jahr 1958 / 59 am ‚Center for Advanced Studies in the Behavioral Sciences‘ zu verbringen.-[…-Das] Jahr in einer Gemeinschaft, die sich überwiegend aus Sozialwissenschaftlern zusammensetzte, konfrontierte mich mit unerwarteten Fragen über die Unterschiede zwischen solchen Gemeinschaften und jenen der Naturwissenschaftler, in denen ich ausgebildet worden war. Insbesondere war ich überrascht von der Zahl und dem Ausmaß der offenen Meinungsverschiedenheiten unter den Sozialwissenschaftlern über das Wesen der sinnvollen wissenschaftlichen Probleme und richtigen Methoden.-[…-Demgegenüber] stellen sich aus irgendwelchen Gründen in der Praxis der Astronomie, Physik, Chemie oder Biologie normalerweise nicht die Kontroversen über Grundlagen ein, die heute unter Psychologen oder Soziologen verbreitet zu sein scheinen. Der Versuch, die Ursachen jener Differenz zu enthüllen, führte mich dazu, die Rolle dessen in der wissenschaftlichen Forschung zu erkennen, was ich seitdem ‚Paradigmata‘ nenne. Darunter verstehe ich allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern.“ (Kuhn 1976: 9 f.; Hervorhebungen K. A.) Zu den Verdiensten von Kuhns Werk gehört, im Vorwort ein Buch des polnisch-jüdischen Mediziners Ludwik Fleck (1896-1961) zu erwähnen, der viele seiner Gedanken bereits vorweggenommen habe. Dieses Buch, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, ist 1935 erschienen, hatte aber kaum Wirkung und geriet in Vergessenheit. Kuhns Hinweis führte zu einer Neuauflage (Fleck 1980) und einer Übersetzung ins Englische. Das Buch gilt heute als Klassiker der Wissenschaftsgeschichte und -soziologie, und ist schließlich aus dem Schatten der Theorie Kuhns getreten, sodass es zu einer Wiederentdeckung des Gesamtwerks von Fleck (vgl. 2011) kam. Beide Bücher arbeiten mit reichem historischem Beispielmaterial, das auch erst die daraus verallgemeinerten Gedanken zur Wissenschaftsentwicklung verständlich macht, allerdings für medizinisch und naturwissenschaftlich nicht Vorgebildete wohl in Teilen unverständlich bleiben muss. Das zentrale Beispiel Flecks betrifft die Syphilis und die sog. Wassermann-Reaktion (nach August Paul von Wassermann, 1866-1925), ein Verfahren zum Nachweis dieser Krankheit. Kuhns Beispielpalette ist insgesamt reicher, er konzentriert sich aber auch auf Fälle, die allgemein weniger bekannt sind (z. B. die Entdeckung <?page no="220"?> 220 5. Fächer als diskursive Konstrukte bzw. Erfindung des Sauerstoffs), und nicht etwa auf ‚große Revolutionen‘ wie die Kopernikanische. Kuhns Blickwinkel ist insofern enger, als er sich auf ‚reife Wissenschaften‘ konzentriert, die eben durch Paradigmen geprägt sind. Zwei der vielen Lesarten dieses Ausdrucks sind für ihn besonders wesentlich, die erste bezeichnet er im Postskriptum als soziologische, „für die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden“ (Kuhn 1976: 186). Es handelt sich um „Paradigmata als Konstellationen von Gruppenpositionen“ (ebd. 193). Bei den zweiten dagegen geht es um „Paradigmata als gemeinsame Beispiele“ (ebd.: 199). Fleck differenziert von vornherein zwischen sozialen Gemeinschaften, die er Denkkollektive nennt, und Denkstilen 69 für einen Komplex aus Inhalten, Methoden, Arbeitsweisen usw. Während Fleck annimmt, dass jedwede Art von Erkenntnis (also auch die des Alltags) durch Denkstile geprägt ist, bezieht Kuhn sich mit den Paradigmen nur auf eine bestimmte Art davon. Beiden geht es jedoch wesentlich darum, die Vorstellung von der besonderen Präzision, Rationalität bzw. ‚Objektivität‘ naturwissenschaftlicher Forschung als Irrglauben zu erweisen. Dies ist ihnen wohl nicht zuletzt möglich, weil sie sich nicht nur in ihrer Disziplinengruppe auskennen, sondern auch psychologische, soziologische und philosophische Arbeiten heranziehen. Diesen liegt naturgemäß die Annahme näher, dass Erkenntnis durch Tradition, Kultur, Sprache usw. geprägt ist, so dass sich dort auch verwandte Überlegungen finden. Fleck hält dazu allerdings fest: „Nun begehen alle diese soziologisch und humanistisch gebildeten Denker-- so fördernd ihre Gedanken sind-- einen charakteristischen Fehler: sie haben allzugroßen Respekt, eine Art religiöser Hochachtung vor naturwissenschaftlichen Tatsachen.“ (Fleck 1980: 65) „Diese erznaive Ansicht, die eine wissenschaftliche Erkenntnistheorie aufzubauen hindert, erinnert sehr an die Lehre eines französischen Sprachenforschers des 18. Jahrhunderts, der behauptete, pain, sitos, Brot, panis seien willkürliche, verschiedene Bezeichnungen desselben Dinges, aber es bestünde zwischen der französischen Sprache und den anderen der Unterschied, daß das, was französisch pain heiße, auch wirklich pain sei. Einen entgegengesetzten, ebenfalls sehr charakteristischen Fehler begehen die philosophierenden Naturforscher. Sie wissen, daß es keine ‚einzig und allein objektiven 69 Mit besonderer Rücksicht auf diesen Begriff ist Fleck auch in der Sprachwissenschaft rezipiert worden (vgl. dazu Fix 2014 und die dort behandelte Literatur sowie jetzt Andersen et al. (2018)). <?page no="221"?> 221 5.2. Denkkollektive und Paradigmenwechsel Merkmale und Verhältnisse‘ gebe, sondern nur Relationen in bezug auf ein mehr oder weniger willkürliches Bezugssystem. Aber sie begehen ihrerseits den Fehler, allzugroßen Respekt vor Logik, eine Art religiöser Hochachtung vor logischem Schließen zu haben.“ (ebd.: 69) Für beide Autoren bildet die Gestaltpsychologie einen wesentlichen Bezugspunkt: Unter dem Einfluss eines bestimmten Denkstils / Paradigmas benennt man nicht einfach gleich Wahrgenommenes verschieden, sondern man sieht völlig Verschiedenes. Das führt uns zurück auf das sprachliche Relativitätsprinzip (vgl. 1.2.). Schon die Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess und nicht eine Art mechanischer Umsetzung eines sinnlichen Reizes. Das stimmt ganz und gar mit der Schematheorie der modernen Kognitionsforschung überein: Die Wahrnehmung wird sowohl durch Sinneseindrücke gesteuert (und damit durch das physisch tatsächlich Vorhandene) als auch durch Vorwissen und -erwartungen. Bekannte und einfache Beispiele dafür sind Kippbilder, bei denen man, je nachdem, was man als Figur und was als Hintergrund nimmt, z. B. eine Vase sieht oder zwei einander zugewandte Köpfe. Zwischen diesen Wahrnehmungsweisen kann man hin- und herschalten. Unter dem Einfluss eines Denkstils / Paradigmas kommt es dagegen dahin, dass man nicht mehr in der Lage ist, zu früheren Sichtweisen zurückzukehren. Die Parallelisierung von Kippbildern zu Paradigmen, kann daher nach Kuhn durchaus irreführend sein, da der „Wissenschaftler nicht wie die gestaltpsychologische Versuchsperson die Freiheit [hat], zwischen verschiedenen Sehweisen hin und her zu wechseln“ (Kuhn 1976: 98). Unter diesen Umständen sei vorgeschlagen, eine andere Analogie heranzuziehen, die im Übrigen nicht gerade fernliegt: Man stelle sich also die Aneignung eines Paradigmas vor wie das Erlernen einer Schrift: Kennt man das Schriftsystem nicht, so sieht man zwar die Buchstaben, aber man erkennt nichts, weil man nicht weiß, worauf es ankommt. Hat man die Schrift gelernt, ist es dagegen unmöglich, sich wieder in den Zustand zu versetzen, in dem man nur sinnlose Formen sah. Buchstaben können zudem sehr variabel realisiert werden, besonders wenn man Handschriften einbezieht. Aber auch Formen, die einander objektiv gar nicht ähnlich sind, identifiziert man als dieselben Einheiten, wenn man das gelernt hat; und man kann gar nicht mehr anders, als die ‚richtigen‘ Figuren zu sehen bzw. zu suchen. Anders gesagt: Man muss schon wissen, worum es sich handelt oder handeln könnte, man muss es kennen, um es wieder zu er-kennen, um es tatsächlich zu sehen. <?page no="222"?> 222 5. Fächer als diskursive Konstrukte Bei der Entstehung bzw. Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache handelt es sich gewissermaßen darum, eine neue Schrift zu (er)finden. Fleck (1980: Kap. 4.2.) beschreibt diesen Prozess sehr ausführlich. Eine Hauptthese ist, dass es reine, voraussetzungsfreie Beobachtungen der Natur, pure empirische Tatsachen- - also genau das, von dem Geisteswissenschaftler glauben, Naturwissenschaftler hätten es ihnen voraus-- überhaupt nicht gibt. Vielmehr verlaufe die Entwicklung charakteristischerweise folgendermaßen: Wird man mit etwas Neuem konfrontiert, so sieht man zunächst nur ein Chaos (so wie wahrscheinlich viele Laien auf einem Röntgenbild fast gar nichts erkennen). Es folgt dann „das langsame und mühsame Herausarbeiten und Bewußtwerden ‚was man eigentlich sieht‘“ (ebd.: 117), die Ausbildung von Gestalten-- in diesem Zusammenhang v. a.: Begriffen-- und Denkstilen im Sinne komplexer Systeme von Begriffen, Beobachtungsverfahren usw.: „Wir wollen also das voraussetzungslose Beobachten- - psychologisch ein Unding, logisch ein Spielzeug- - beiseite lassen. Positiv untersuchungswürdig erscheint das Beobachten in zwei Typen, mit einer Skala der Übergänge: 1. als das unklare anfängliche Schauen und 2. als das entwickelte unmittelbare Gestaltsehen.- […] Folglich sind praktisch überhaupt keine Protokollsätze aufstellbar, die sich auf unmittelbare Beobachtung beziehen würden und aus denen durch logisches Schließen die Ergebnisse folgten. Dergleichen ist nur während nachträglicher Legitimierung eines Wissens möglich, nicht aber während der eigentlichen Erkenntnisarbeit.“ (Fleck 1980: 117 f., Hervorhebungen im Orig.) Die eigentliche Erkenntnisarbeit, also das, was zwischen Chaos und ausgebildetem Denkstil stattfindet, besteht im zielgerichteteren Weiterbeobachten, v. a. im Experimentieren. Dies läuft nun keineswegs so interesse- und emotionsfrei ab, wie man naturwissenschaftliches Arbeiten gern imaginiert (vgl. auch ebd.: 67). Man sucht nach Gestalten, Zusammenhängen, um etwas zu durchdringen, zu verstehen. Das Ziel ist, dass sich ein Sinn erschließt, eine Schrift lesbar wird: „Die erste stilverworrene Beobachtung gleicht einem Gefühlschaos: Staunen, Suchen nach Ähnlichkeiten, Probieren, Zurückziehen; Hoffnung und Enttäuschung. Gefühl, Wille und Verstand arbeiten als unteilbare Einheit. Der Forscher tastet: alles weicht zurück, nirgends ein fester Halt. Alles wird als artefizielle [sic], willensmäßige eigene Wirkung empfunden: jede Formulierung zerfließt in der nächsten Probe.“ (Fleck 1980: 124) <?page no="223"?> 223 5.2. Denkkollektive und Paradigmenwechsel Das Experimentieren mit dem noch nicht klar Erkannten muss erst entwickelt, von jedem Einzelnen erlernt werden und zieht sich häufig über eine längere Zeit hin, erfordert also die Beteiligung eines größeren Kollektivs. Aus diesem Grund ist es auch oft unmöglich, den genauen Zeitpunkt einer Erfindung / Entdeckung zu bestimmen. Kuhn (1976: 66 ff.) erläutert dies am Beispiel des Sauerstoffs, Fleck (1980: Kap. 3) an der Wassermann-Reaktion. An dieser ist besonders bemerkenswert, dass sich Wassermanns Voraussetzung als falsch (vgl. ebd.: 98) und die ursprüngliche Interpretation der experimentellen Befunde als „vollkommen irrig“ (ebd.: 97) erwiesen. Beim Versuch der Reproduktion der Experimente ergaben sich sehr widersprüchliche Ergebnisse, dieselben Daten wurden unterschiedlich interpretiert und das konkrete Vorgehen beim Experiment im Laufe der Zeit in vielerlei Hinsicht variiert; das „Endresultat der Forschung war-[…] wesentlich von der Absicht verschieden“ (ebd.: 101). „Folgender Sachverhalt, der als Paradigma sehr vieler Entdeckungen gelten kann, steht also fest: Aus falschen Voraussetzungen und unreproduzierbaren ersten Versuchen ist nach vielen Irrungen und Umwegen eine wichtige Entdeckung entstanden.“ (Fleck 1980: 101; Hervorhebungen im Orig. kursiv) „Denn Wassermann und seinen Mitarbeitern erging es wie Kolumbus: sie suchten Indien und waren überzeugt, sich auf dem Wege dorthin zu befinden-- sie fanden aber Amerika. Noch mehr: ihre Fahrt war nicht konsequentes Segeln in beabsichtigter Richtung, sondern eine Irrfahrt mit beständigem Richtungswechsel; und was sie erlangten, war nicht ihr Ziel: ein Antigen- oder Amboceptornachweis, sondern ein Erfüllen des alten Kollektivwunsches: der Nachweis des Syphilisblutes.“ (ebd.: 91; vgl. auch ebd.: 111 ff. und weiter unten im Text). Zwei Dinge sind für beide Autoren besonders wichtig, nämlich einerseits die Bedeutung praktischen Handelns und der konkreten Anwendung von abstrakten Begriffen, andererseits die sekundäre Blindheit, die erlernte Wahrnehmungs- und Denkschemata erzeugen. Das erste führt uns auf einen charakteristischen Fehler, den man mit Fleck nicht zuletzt der Fachsprachenlinguistik nachsagen darf: Sie hat allzu großen Respekt, eine Art religiöser Hochachtung vor präzise definierten Begriffen. Kuhn erläutert dies u. a. an einem Kardinalterminus der Chemie, dem Begriff des chemischen Elements. Die Urheberschaft wird im Allgemeinen Robert Boyle (1627-1692) zugeschrieben, für Kuhn (1976: 153) „ein weiteres Beispiel für das Schema geschichtlicher Fehler, durch das Fachleute wie Laien über das Wesen des wissenschaftlichen Unternehmens in die Irre geführt werden“: <?page no="224"?> 224 5. Fächer als diskursive Konstrukte „Boyle hielt seine ‚Definition‘ eines Elements durchaus zu Recht für nicht mehr als die Umschreibung eines traditionellen chemischen Begriffs; er gab sie nur, um nachzuweisen, daß so etwas wie ein chemisches Element nicht existiert; geschichtlich gesehen ist die Lehrbuchversion von Boyles Beitrag falsch.-[…] Wie ‚Zeit‘, ‚Energie‘, ‚Kraft‘ oder ‚Partikel‘ gehört der Begriff des Elements zu jenen Bestandteilen eines Lehrbuchs, die oft überhaupt nicht erfunden oder entdeckt werden. Besonders Boyles Definition kann zumindest bis zu Aristoteles zurück-[…] verfolgt werden.“ (Kuhn 1976: 153) Fleck (1980: 35 f.), der neben anderen ebenfalls das Beispiel der chemischen Elemente erwähnt, spricht in solchen Fällen von Urideen (Präideen), kollektiven Vorstellungen, die teilweise aus grauer Vorzeit stammen, aber auch wissenschaftliche Forschung noch (mit)bestimmen. Im Falle der Syphilis entstand „aus einem chaotischen Gedankenbrei“, in dem die mittelalterliche Astrologie und Theologie eine große Rolle spielten, nach und nach „ein sich festigendes Dogma vom syphilitischen Blute“: „Wie kaum in einem zweiten Falle, wurde das ganze, der Zeit zur Verfügung stehende Arsenal der Forschung benützt, bis das Ziel erreicht wurde und sich die Blutidee in der Wassermann-Reaktion und in späteren, vereinfachteren Reaktionen wissenschaftlich verkörperte. Darüber hinaus lebt die Uridee im Volke weiter, das noch immer vom unreinen Blut der Syphiliskranken spricht. Von diesem Standpunkte gesehen, ist die Wassermann-Reaktion in ihrer Beziehung zu Syphilis der neuzeitige, wissenschaftliche Ausdruck einer Jahrhunderte alten Präidee, die mithalf, den Syphilisbegriff aufzubauen.“ (Fleck 1980: 35) Noch für die Syphilisforschung des frühen 20. Jahrhunderts ist also die alte Kollektividee entscheidend, dass es sich um die (v. a. moralisch zu beurteilende) ‚Lustseuche‘ schlechthin handle. In sie wurden weit mehr Gelder und Anstrengungen investiert als etwa in die Tuberkuloseforschung, „die seit Jahrhunderten viel mehr Schaden stiftet“, aber „leider nicht die ‚verfluchte entehrende Krankheit‘ ist, vielmehr oft als die ‚romantische‘ angesehen wird“ (ebd.: 102). Viele ‚Urideen‘ artikulieren sich schon besonders früh und sind ins kollektive Bewusstsein und damit auch in Gemeinsprachen eingegangen. Während aber die Wissenschaften dies bei der Konstruktion ihrer eigenen Geschichte ausblenden und sich mit der Ernennung neuzeitlicher ‚Erfinder‘ von vorwissenschaftlicher Betrachtung absetzen, betont Fleck, dass es sich bei menschlicher Erkenntnis um ein unendliches Kontinuum handelt, bei dem „es ebenso kein Ende, wie keinen nachweisbaren Anfang dieser Arbeit gibt, die immer nur in Fortsetzungen besteht“ (ebd.: 125). Zugleich kommt es auch zu immer neuen <?page no="225"?> 225 5.2. Denkkollektive und Paradigmenwechsel Umarbeitungen, und in verschiedenen-- nicht unbedingt sehr weit auseinanderliegenden- - Phasen benutzen die Menschen dieselben Wörter, sehen aber ganz verschiedene ‚Tatsachen‘. So betont auch Kuhn im Anschluss an die eben zitierte Passage: „Und doch bedeutet das nicht, daß die Wissenschaft den modernen Begriff des Elements seit dem Altertum besessen hätte. Verbaldefinitionen wie die Boyles haben wenig wissenschaftlichen Gehalt, wenn sie für sich allein betrachtet werden. Sie sind keine vollständigen logischen Angaben der Bedeutung (falls es solche überhaupt gibt), sondern eher pädagogische Hilfsmittel.“ (Kuhn 1976: 153; Hervorhebungen K. A.) Es ist daher unangebracht, verschiedene Paradigmen gerade an Definitionen festmachen zu wollen: „Im Gegenteil, der Prozeß des Erlernens einer Theorie hängt von Studium [sic] der Anwendungen ab, einschließlich des Lösens von Übungsaufgaben mit Papier und Bleistift und mit Geräten im Labor. Wenn beispielsweise der Student der Newtonschen Dynamik jemals die Bedeutung von Begriffen wie ‚Kraft‘, ‚Masse‘, ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ erfaßt, so tut er dies weniger dank der unvollständigen, wenn auch manchmal hilfreichen Definitionen in seinem Lehrbuch, als vielmehr durch Beobachtung und Teilnahme an der Anwendung dieser Begriffe bei Problemlösungen. Dieser Prozeß des Lernens durch ‚Fingerübungen‘ oder praktische Arbeit hält während der gesamten Periode der Einführung in den akademischen Beruf an.-[…] Obwohl viele Wissenschaftler leicht und gut über die einzelnen Hypothesen sprechen, die einem konkreten Teil der laufenden Forschung zugrundeliegen, sind sie doch nur wenig besser als Laien, wenn es um die Charakterisierung der feststehenden Grundlagen ihres Gebiets, seiner legitimen Probleme und Methoden geht.“ (Kuhn 1976: 61; Hervorhebungen K. A.) Fleck (1980: bes. 126) benutzt in diesem Zusammenhang den Ausdruck Erfahrenheit, der das geübte praktische Ausführen von Experimenten einschließt. Dieses ist umso notwendiger, als man nur dadurch die Gewohnheit ausbildet, Handlungen zu vollziehen, die schließlich zu Routinen werden oder sich geradezu automatisieren. Dabei entwickelt sich auch ein Gefühl dafür, wie es richtig ist, man muss darüber gar nicht mehr nachdenken, die Lösung stellt sich durch Erfahrungswissen ein, das man auch als ‚erworbene Intuition‘ bezeichnet hat (vgl. Hennig / Niemann 2013b: 625). Da die Geisteswissenschaften (auch die Fachsprachenforschung) relativ stark theorieorientiert sind und schon Anfänger mit miteinander konkurrieren- <?page no="226"?> 226 5. Fächer als diskursive Konstrukte den Theorien konfrontieren, dürfte sich bei vielen LeserInnen dieses Buches ein Déjà-vu-Erlebnis einstellen: Die Definitionen und Theorie-Erklärungen scheinen zunächst einigermaßen klar. Jedenfalls kann man dazu unmittelbar keine Fragen oder gar Einwände formulieren. Nur hat man nicht die geringste Vorstellung davon, was man mit diesen abstrakten Theorien und Definitionen anfangen, wie man sie anwenden soll. Erst der Versuch, sie praktisch einzusetzen, führt unausweichlich auf Fragen und Probleme. Dafür bieten aber die theoretischen Erörterungen keine Hilfe, zumal es praktisch nicht vorstellbar ist, konkrete Analysen nicht nur nach einem, sondern gleich mehreren Modellen hinreichend intensiv einzuüben. Zurück bleibt also nicht selten der Eindruck gänzlicher Verwirrtheit. Eine Art Endpunkt einer erfolgreichen wissenschaftlichen Sozialisation ist erreicht, wenn es zu der schon oben erwähnten Blindheit kommt: Man sieht gar nicht mehr Dinge, die nicht vorgesehen sind. Die Wahrnehmung passt sich an die Theorie an. Kuhn (1976: 75 f.) erwähnt in diesem Zusammenhang ein psychologisches Experiment: Probanden sollten Spielkarten identifizieren. Unter die gewöhnlichen waren aber ‚unmögliche‘ gemischt, z. B. eine rote Pik Vier. Die Probanden sahen bei kurzer Darbietungsdauer zunächst in der Regel über diese Abweichungen hinweg und korrigierten ihre Wahrnehmung entsprechend dem Vorwissen: Ohne Zögern wurde die rote Pik Vier als schwarze gesehen oder als Herz Vier identifiziert usw. Bei längerer Darbietungszeit begannen die Probanden bei den ‚falschen Karten‘ zu zögern und wurden sich der Anomalien bewusst. Den meisten gelang es schließlich, sich auf die ungewöhnliche Wirklichkeit einzustellen und alles richtig zu identifizieren, manche blieben aber völlig verwirrt und trauten ihren Wahrnehmungen oder ihrer Kenntnis der Kategorien nicht mehr. Dieses Experiment ist eigentlich wenig spektakulär, entsprechende Erfahrungen sind etwa in das Organon-Modell Bühlers (Abb. 2.8) eingegangen. Er stellt das Zeichen als Kreis und Dreieck dar, die sich nur teilweise überschneiden. Der Kreis symbolisiert das konkrete wahrnehmbare Phänomen (Schall oder grafische Form), das Dreieck die an Schemata angepasste Wahrnehmung. Daraus leitet Bühler zwei Prinzipien ab, nämlich das der apperzeptiven Ergänzung (man nimmt mehr wahr, als zu hören ist, ergänzt also z. B. einen gar nicht artikulierten Laut) und das der abstraktiven Relevanz (man nimmt Elemente oder Eigenschaften nicht wahr, die nicht zur vertrauten Gestalt passen, übersieht z. B. Druckfehler usw.). <?page no="227"?> 227 5.2. Denkkollektive und Paradigmenwechsel Selbstverständlich passieren solche Dinge auch bei der wissenschaftlichen Arbeit. Gewichtiger ist allerdings, dass für Denkstil bzw. Paradigma solche gezielte Blindheit geradezu konstitutiv ist: Man übt sich darin ein, nur das zu sehen, was zur Theorie passt, anderes wird unterdrückt, geleugnet oder irgendwie weginterpretiert, nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf (vgl. dazu ausführlicher und mit Beispielen Fleck 1980: 40 ff.). Das Ausblenden bzw. Übersehen des Unerwünschten betrifft auch die Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte. Dabei handelt es sich nicht gerade oder jedenfalls nicht unbedingt um plumpe Geschichtsfälschungen. Wenn nämlich erst einmal ein Begriff gefunden, ein Konzept geklärt, eine Schrift entziffert ist, kann man sich nicht mehr in den ursprünglichen Zustand des Chaos zurückversetzen, gewissermaßen wieder Analphabet werden. Die Zick- Zack-Irrfahrt stellt sich daher im Rückblick als geradlinige Entwicklung dar, man sieht tatsächlich nur Stationen zu dem, was schließlich als gültige Tatsache hervorgebracht wurde bzw. entstanden ist: Ein Forschungsergebnis, beruhend auf systematischen Beobachtungen und Experimenten, Aufstellung, Prüfung und Korrektur von Hypothesen, ganz so, wie Forschung ablaufen soll, gemäß einem Ideal, das man immerhin anstreben kann. Schließlich gelangt man zu dem Eindruck, dass man natürlich schon immer nach Amerika gesucht habe. Nachdem klar ist, dass es diesen Kontinent gibt, kann man sich nicht mehr vorstellen, einmal in einer Welt ohne diese Größe gelebt zu haben, man versteht sich selbst nicht mehr. Dies begründet einen verbreiteten „Mythus über Beobachtung und Experiment“: „Das erkennende Subjekt figuriert als eine Art Eroberer vom Typus Julius Cäsars, der nach der Formel veni-vidi-vici seine Schlachten gewinnt. Man will etwas wissen, man macht die Beobachtung oder das Experiment-- und schon weiß man es. Selbst Forscher, die manche Kämpfe gewannen, glauben dieses naive Märchen, wenn sie retrospektiv ihre eigenen Arbeiten betrachten.“ (Fleck 1980: 111) <?page no="228"?> 228 5. Fächer als diskursive Konstrukte Diese Rationalisierung und Idealisierung des Erkenntnisprozesses ist ausdrückliches Ziel der Ausbildung, selbst in den Geisteswissenschaften. Auch dort lernt man nämlich, dass es etwa in einer Abschlussarbeit nicht darum geht, die Geschichte der eigenen Entdeckungsreise zu erzählen. Alles Subjektive, Zufällige, die Irrtümer, Irrwege und Fehlschläge, falschen Fährten usw. sollen ausgeblendet werden. Der Weg zur eigenen Erkenntnis ist so darzustellen, als folge er genau dem vorgesehenen Schema wissenschaftlicher Forschung. Erwartet wird eine Fiktionalisierung des Erkenntnisprozesses, die dem etablierten Denkstil gerecht wird. Wenn es schon (noch) nicht wirklich wissenschaftlich ist, soll es sich zumindest so anhören. Führt man sich Beispiele wie das von Kuhn erwähnte zu Boyle vor Augen, ist es zwar schon kaum zu fassen, wie man Klassiker der Disziplin derart missverstehen können soll. Dies begreift sich allerdings leichter, wenn man erfährt, dass fast niemand diese Klassiker überhaupt liest. Dies führt uns auf die spezifische Ausbildung in naturwissenschaftlichen Disziplinen. In diesen Wissenschaftszweigen geht es nämlich darum, die Neulinge in die gerade geltende Sicht- und Arbeitsweise einzuführen, und zwar im Rahmen einer sehr engen und rigiden Ausbildung (vgl. Kuhn 1976: 177). Darin spielen Lehrbücher eine herausragende Rolle: „Auf diesen Fachgebieten verläßt sich der Studierende hauptsächlich auf Lehrbücher, bis er, im dritten oder vierten Jahr seines Fortgeschrittenenstudiums, mit eigenen Forschungen beginnt. Viele naturwissenschaftliche Lehrpläne verlangen noch nicht einmal von Fortgeschrittenen, daß sie in Werken lesen, die nicht ausdrücklich für Studenten geschrieben sind. Die wenigen, die zusätzliche Lektüre von Forschungsberichten und Monographien vorsehen, beschränken diese Studien auf die am weitesten fortgeschrittenen Semester und auf Material, das mehr oder weniger dort fortfährt, wo die verfügbaren Lehrbücher aufhören. Bis auf das allerletzte Stadium der Ausbildung eines Naturwissenschaftlers treten Lehrbücher systematisch an die Stelle kreativer wissenschaftlicher Werke, die jene erst ermöglicht haben.-[…] Warum auch sollte der Student der Physik beispielsweise die Werke von Newton, Faraday, Einstein oder Schrödinger lesen, wenn alles, was er über diese Arbeiten wissen muß, in weit kürzerer, genauerer und systematischerer Form in einer Anzahl moderner Lehrbücher rekapituliert wird? “ (Kuhn 1976: 177) Fleck (vgl. 1980: 66, 137) spricht geradezu davon, dass Novizen auf eine bestimmte Sichtweise dressiert werden und eine Art Einführungsweihe stattfinde, <?page no="229"?> 229 5.2. Denkkollektive und Paradigmenwechsel nach der jede andere Betrachtung unsinnig erscheint, da das, was sich aus einem bestimmten Denkstil ergibt, für evident gehalten wird und in eine Tatsache umgedeutet wird, an der sich vernünftig gar nicht zweifeln lässt. „Dem naiv vom eigenen Denkstil befangenen Forscher stellen sich fremde Denkstile wie freie Phantasiegebilde vor-[…]. Der eigene Denkstil erscheint ihm dagegen als das Zwingende“ (ebd.: 185 f.): „Die Einweihung in einen Denkstil, also auch die Einführung in eine Wissenschaft sind erkenntnistheoretisch jenen Einweihungen analog, die wir aus der Ethnologie und Kulturgeschichte kennen. Sie wirken nicht nur formell: der heilige Geist senkt sich auf den Neuling herab und bis jetzt Unsichtbares wird ihm sichtbar. Dies ist die Wirkung der Aneignung eines Denkstiles.“ (Fleck 1980: 137) Wenn Leute miteinander zu tun bekommen, die verschiedenen Denkstilen folgen, kann es also äußerstenfalls vorkommen, dass sie sich gegenseitig für Verrückte oder Fantasten halten, so wie uns die mittelalterlichen Dokumente überhaupt nicht als Wissenschaft erscheinen wollen. Die damaligen Gelehrten können sich zu unseren Auffassungen nicht mehr äußern, Fleck und Kuhn gehen aber davon aus, dass sie unsere Vorstellungen für ebenso verrückt, irrational halten würden wie wir die ihren (und natürlich zusätzlich für gottlos), dass es jedenfalls undenkbar ist, dass sie sich zu unserer Sicht bekehren könnten. Dies ist allerdings nur ein Extremfall, der vorkommt, wenn Gruppen miteinander in Kontakt treten, die sehr verschiedenen Denkstilen folgen (vgl. z. B. die Vorstellung von der Farbenblindheit der Primitiven aus 1.2.). Er erklärt das in diesem Zusammenhang übliche Schlagwort von der Inkommensurabilität verschiedener Paradigmen. Zur gleichen Zeit lebende Forscher in der globalisierten Welt bemerken dagegen vielleicht gar nicht unmittelbar, dass sie verschiedenen Denkstilen folgen, sie benutzen dieselbe oder eine sehr ähnliche Schrift, ein großer Teil ihres Spielkartensatzes ist identisch. Sie können aneinander vorbeireden, ohne es zu ahnen. Irgendwann bemerkt man vielleicht eine Anomalie (beim anderen): Jemand zückt plötzlich einen Joker, der im eigenen Spiel nicht existiert, manche Buchstaben sind komisch, weder b noch d noch p noch q, sondern Þ, ɓ, ȹ und ȸ. Aber darüber kann man ebenso hinwegschauen, es für einen Irrtum halten, wie man übersieht, dass die Beobachtungsdaten gar nicht genau das zeigen, was man sieht. Wenn die Initiation stattgefunden hat, der Novize zum Forscher geworden ist, kann er das betreiben, was Kuhn normale Wissenschaft nennt: Das Paradigma gibt eine Reihe von Rätseln auf, und zwar solche, die auch eine Lösung haben, <?page no="230"?> 230 5. Fächer als diskursive Konstrukte nämlich mit den bekannten Kategorien und Methoden bearbeitbar sind, so dass „an deren Lösung nur Mangel an Scharfsinn hindern könnte“ (Kuhn 1976: 51). Diese normale Wissenschaft schränkt damit aber auch den Gegenstand ihrer Forschung extrem stark ein, ist also im höchsten Maße spezialisiert. Das garantiert zugleich, dass sie erfolgreich ist und unleugbar ständig Fortschritte macht, denn diese werden nur an den Kriterien des betreffenden Paradigmas gemessen: „Normale Wissenschaft, die Tätigkeit des Rätsellösens-[…] ist ein höchst kumulatives Unternehmen, höchst erfolgreich bezüglich ihres Zieles, der stetigen Ausweitung des Umfangs und der Exaktheit wissenschaftlicher Kenntnisse. In allen diesen Belangen paßt sie äußerst genau in das übliche Bild von der wissenschaftlichen Arbeit.“ (Kuhn 1976: 65) Damit verbunden sind allerdings zwei weniger schmeichelhafte Eigenschaften: Erstens will normale Wissenschaft gar nicht zu wirklich neuen Erkenntnissen kommen, sie will keine neuen Schriften oder Kartenspiele (er)finden, sondern möglichst gut mit den bekannten umgehen: „Die normale Wissenschaft strebt nicht nach neuen Tatsachen und Theorien und findet auch keine, wenn sie erfolgreich ist“ (ebd.: 65), sie sucht nur nach neuen Beispielen / Phänomenen / Anwendungsfällen, die ins Paradigma passen. Zweitens stellt sie sich nach Kuhn nicht die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz: „Es ist kein Kriterium der Güte eines solchen Rätsels, daß seine Lösung in sich interessant oder wichtig ist. Im Gegenteil, die wirklich drängenden Probleme, zum Beispiel ein Heilmittel für Krebs oder das Konzept für einen dauerhaften Frieden, sind oft überhaupt keine Rätsel, weitgehend deshalb, weil sie vielleicht keine Lösung haben.“ (Kuhn 1976: 51) Aus dieser Sicht könnte man den unterstellten Mangel an Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften daran festmachen, dass diese sich überwiegend mit Fragen beschäftigen, auf die es gar keine (eindeutigen) Antworten gibt, es sich also gerade nicht um Rätsel im Sinne Kuhns handelt. Kuhn geht so weit zu sagen, dass es bei normaler Wissenschaft zu einer „beispiellosen Absonderung reifer wissenschaftlicher Gemeinschaften von den Forderungen der Laienwelt und des alltäglichen Lebens“ kommt (ebd.: 175). „Diese Absonderung war natürlich niemals vollständig-- wir verstehen sie hier relativ. Trotzdem gibt es keine anderen Berufsgemeinschaften, in welchen die kreative Arbeit <?page no="231"?> 231 5.2. Denkkollektive und Paradigmenwechsel eines einzelnen so ausschließlich an andere Mitglieder der Gruppe gerichtet ist und von diesen bewertet wird. Der esoterischste Dichter oder der abstrakteste Theologe ist weit mehr als der Wissenschaftler um die Anerkennung seiner Arbeit durch den Laien besorgt, mag ihn auch Anerkennung allgemein weniger berühren.-[…] Noch wichtiger ist, daß die Absonderung der wissenschaftlichen Gemeinschaft von der Gesellschaft es dem einzelnen Wissenschaftler erlaubt, seine Aufmerksamkeit auf Probleme zu konzentrieren, von denen er begründet annehmen darf, daß er sie lösen kann. Im Gegensatz zum Ingenieur, zu vielen Ärzten und den meisten Theologen braucht der Wissenschaftler nicht Probleme zu wählen, weil sie dringend einer Lösung bedürfen, ohne Rücksicht auf die für die Lösung zur Verfügung stehenden Hilfsmittel. Auch in dieser Hinsicht erweist sich der Gegensatz zwischen den Naturwissenschaftlern und vielen Sozialwissenschaftlern als instruktiv. Die letzteren neigen oft dazu (was die ersteren fast niemals tun), die Wahl eines Forschungsproblems-- zum Beispiel die Auswirkungen der Rassendiskriminierung oder die Ursachen der Konjunkturzyklen-- hauptsächlich mit dem Argument der sozialen Bedeutung einer erzielten Lösung zu rechtfertigen.“ (Kuhn 1976: 175 f.; Hervorhebungen K. A.) In diesem Punkt gehen die Auffassungen von Fleck und Kuhn deutlich auseinander. Das zeigt sich schon daran, welche Bedeutung Fleck den sozialen Voraussetzungen für die intensive Erforschung der Syphilis beimisst. Die unterschiedlichen Positionen erklären sich sicherlich nicht nur daraus, dass Fleck Mediziner, Kuhn Physiker ist und dass sich die Forschung in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts von der aus den 50 / 60er Jahren zweifellos unterscheidet- - und sich im 21. Jahrhundert nochmals ganz anders darstellt. Kuhns Perspektive ist eindeutig beschränkter, denn das, was er über die normale Wissenschaft sagt, trifft auf jeden Fall nur auf sehr kleine Forschungskollektive zu, die tatsächlich ca. 100 Personen, eher deutlich weniger, umfassen sollen (vgl. ebd.: 189). Bei der Identifizierung dieser sehr kleinen Forschungskollektive spielen Lehrbücher keine Rolle mehr: „Zu diesem Zweck muss man auf Indikatoren zurückgreifen wie den Besuch von Fachkonferenzen, die Verteilung von Rohmanuskripten oder Fahnenabzügen vor der Publikation und vor allem auf formelle und informelle Kommunikationsnetze einschließlich derjenigen, die sich aus dem Briefwechsel und aus gegenseitigem Zitieren ergeben.“ (Kuhn 1976: 189) So stellt sich die Entwicklung in den Naturwissenschaften nach Kuhn einigermaßen schematisch dar und kann sicher keine allgemeine Gültigkeit be- <?page no="232"?> 232 5. Fächer als diskursive Konstrukte anspruchen: Nach der Einigung auf ein Paradigma (das erst die reife Wissenschaft ausmacht) führen Rätsel, die sich dauerhaft einer Lösung widersetzen, und Anomalien- - für die die Anhänger des Paradigmas weitgehend blind geworden sind, die aber Jüngere nicht ignorieren können-- zu einer Krise und lösen schließlich eine wissenschaftliche Revolution in Gestalt eines neuen Paradigmas aus. Kuhn gesteht im Übrigen selbst zu, dass solche Revolutionen gar nicht unbedingt sichtbar sind, weil sich der Paradigmenwechsel oft erst dadurch durchsetzt, dass die Vertreter des älteren Paradigmas aussterben. Fleck ist demgegenüber viel radikaler, weil er von blindmachenden Denkstilen nicht nur bei irgendwelchen (reifen) Wissenschaften ausgeht und überhaupt den Gegensatz zwischen Alltag, sich entwickelnder und ‚echter‘ Wissenschaft relativiert, wie schon das oben angeführte Zitat zeigt, nach dem die menschliche Erkenntnis keinen Anfang und kein Ende, sondern immer nur Fortsetzungen kennt. Seine Anschauung ist somit eher evolutionär. Das impliziert, dass für ihn Fortschritt im Sinne der Bewegung auf ein höherwertiges Ziel hin, also eine teleologisches Sichtweise (und sei es nur im Sinne der Einlösung der ‚Versprechen‘ eines Paradigmas), eine viel geringere Bedeutung hat, während Kuhn (1976: 171 ff.) ‚echte‘ Wissenschaft geradezu am Fortschritt im Rahmen eines Paradigmas festmacht. Auch die Vorstellung der Trägergruppe unterscheidet sich fundamental: Fleck hat einen denkbar weiten Begriff von Denkkollektiv, u. a. erwähnt er das „Mode-Denkkollektiv“ (143) und hält für alle Gemeinschaften des Denkens gemeinsame Strukturmerkmale fest: „Um jedes Denkgebilde, sei es ein Glaubensdogma, eine wissenschaftliche Idee, ein künstlerischer Gedanke, bildet sich ein kleiner esoterischer und ein größerer exoterischer Kreis der Denkkollektivteilnehmer. Ein Denkkollektiv besteht aus vielen solchen sich überkreuzenden Kreisen, ein Individuum gehört mehreren exoterischen Kreisen und wenigen, eventuell keinem esoterischen an. Es gibt eine stufenweise Hierarchie des Eingeweihtseins und viele Fäden, die sowohl die einzelnen Stufen als auch die verschiedenen Kreise verbinden. Der exoterische Kreis hat keine unmittelbare Beziehung zu jenem Denkgebilde, sondern nur durch die Vermittlung des esoterischen. Die Beziehung der Mehrzahl der Denkkollektivteilnehmer zu den Gebilden des Denkstiles beruht also auf Vertrauen zu den Eingeweihten. Doch auch diese Eingeweihten sind keineswegs unabhängig: sie sind mehr oder weniger-- bewußt oder unbewußt- - von der ‚öffentlichen Meinung‘, d. h. der Meinung des exoterischen Kreises abhängig. Auf diese Weise entsteht im allgemeinen die innere Geschlossenheit des Denkstiles und dessen Beharrungstendenz.“ (Fleck 1980: 138 f.; Hervorhebungen K. A.) <?page no="233"?> 233 5.2. Denkkollektive und Paradigmenwechsel Der „sogenannte gesunde Menschenverstand, das ist die Personifikation des Alltag-Denkkollektivs“. Er wird „zu einem universellen Spender für viele spezielle Denkkollektive“ (ebd.: 143; Hervorhebung K. A.). „Ein besonderes interkollektives Verkehrsgut bildet das Wort als solches: da allen Worten eine mehr oder weniger ausgeprägte denkstilgemäße Färbung anhaftet, die sich bei der interkollektiven Wanderung ändert, kreisen sie interkollektiv immer mit einer gewissen Änderung ihrer Bedeutung. Man vergleiche die Bedeutung der Worte ‚Kraft‘ oder ‚Energie‘ oder ‚Versuch‘ für einen Physiker und für einen Philologen oder Sportsmann.“ (Fleck 1980: 143; Hervorhebungen K. A.) Vergleichbares gilt aber auch für die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis. Das erläutert Fleck an der Wassermann-Reaktion. Nachdem er verschiedene Beiträge rekapituliert hat, fasst er zusammen: „Das sind die ‚Namhaften‘. Wer aber kann die sicherlich vielen Anregungen von seiten anderer aufzählen, denen technische Griffe, Modifikationen und Kombinationen zu verdanken waren? -[…] Fertigkeiten, Erfahrungstatsachen, Ideen-- ‚falsche‘ und ‚richtige‘-- gingen von Hand zu Hand, von Kopf zu Kopf und änderten sicherlich ihren Inhalt, sowohl während des Aufenthaltes in jedem Individuum, als auch während des Weges von Person zu Person, da vollkommenes Verstehen des tradierten Wissens so schwer ist. Schließlich entstand ein Wissensgebäude, das eigentlich von Niemandem geahnt und beabsichtigt wurde, ja eigentlich gegen das Ahnen und die Absicht der Einzelnen.“ (Fleck 1980: 91; Hervorhebungen K. A.) Wer dem sprachwissenschaftlichen Denkkollektiv angehört, erkennt leicht, dass Fleck die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien so beschreibt, wie wir gewohnt sind, Sprachwandel zu verstehen, nämlich als ein Phänomen der unsichtbaren Hand, der 3. Art, kein Artefakt (natürlich schon gar keine Naturerscheinung), sondern etwas durch kollektives Handeln Entstandenes, gemeinsam Hervorgebrachtes. So kommt Fleck zu dem Schluss: „Das Erkennen stellt die am stärksten sozialbedingte Tätigkeit des Menschen vor und die Erkenntnis ist das soziale Gebilde katexochen. Schon in dem Aufbau der Sprache liegt eine zwingende Philosophie der Gemeinschaft, schon im einzelnen Worte sind verwickelte Theorien gegeben. Wessen Philosophien, wessen Theorien sind das? Gedanken kreisen vom Individuum zum Individuum, jedesmal etwas umgeformt, denn andere Individuen knüpfen andere Assoziationen an sie an. Streng genommen versteht der Empfänger den Gedanken nie vollkommen in dieser Weise, wie ihn <?page no="234"?> 234 5. Fächer als diskursive Konstrukte der Sender verstanden haben wollte. Nach einer Reihe solcher Wanderungen ist praktisch nichts mehr vom ursprünglichen Inhalte vorhanden. Wessen Gedanke ist es, der weiter kreist? Ein Kollektivgedanke eben, einer, der keinem Individuum angehört.“ (Fleck 1980: 58; Hervorhebungen K. A.) Ein Beispiel für solche Gedankenwanderungen wurde in diesem Buch schon präsentiert. Genau das lässt sich nämlich im Detail nachvollziehen anhand von Coserius Modell der Variationsdimensionen, speziell der diaphasischen Dimension, des Chamäleon-Faktors (vgl. 2.2.4). 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Zu den derzeit etablierten Gedankengebilden der Fachsprachenlinguistik gehört das Bekenntnis zu einem pragmalinguistischen Ansatz. Dies wird auch regelmäßig als Paradigmenwechsel bzw. als kommunikativ-funktionale Wende-- weg von der Systemlinguistik-- rekonstruiert. Die konkrete Umsetzung besteht meist darin, dass man nach den kommunikativen Funktionen von Fachsprache fragt und unter diesem Blickwinkel verschiedene Fachtextsorten gegeneinander abzugrenzen sucht. Richtet sich das Interesse allein auf einzelne Texte oder Textsorten, so ist ein pragmatisch-kommunikativer Ansatz tatsächlich nur insoweit realisierbar, als damit ein Textprodukt als Mittel der Kommunikation in den Blick kommt, Produzent und Rezipient als Interaktanten. Diese ordnet man dann weiter den Großgruppen Experten oder Laien zu, jeweils bezogen auf einen ‚fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich‘ bzw. einen ‚mehr oder weniger spezialisierten menschlichen Tätigkeitsbereich‘ (vgl. 2.4.). Texte und Gespräche stehen jedoch nie allein, sondern sind eingebettet in übergreifende Zusammenhänge und Zwecke. Für wissenschaftliche Texte gilt das in besonders hohem Ausmaß: Sie sind nur verständlich vor dem Hintergrund des disziplinären Diskurses und tragen zu diesem großenteils nur kleinste Mosaiksteinchen bei. Die soziale Konstruktion von Fächern kommt der Kreation von Bezugswelten gleich, innerhalb derer sich die Beteiligten situieren. Daher ist die Ebene von Einzeltexten zu niedrig, denn bei fachbezogenem (und insgesamt gesellschaftlichem) Handeln geht es wesentlich um längerfristige Kommunikation in und zwischen Gruppen, und nicht um die Kommunikation zwischen einem Autor und seinem Leser. Ein einzelner Text ist nur ein Mikroelement in einem kommunikativen Netzwerk. Die Gruppen konstituieren sich teilweise über bestimmte Publikationsorgane, Gesellschaften usw. als Gruppen. Dies geschieht aber auch über Einzeltexte, die alle Mitglieder <?page no="235"?> 235 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht der Gruppe gelesen haben müssen oder von denen sie wenigstens (über Sekundärtexte wie die von Kuhn hervorgehobenen Lehrbücher) wissen müssen. Das eben macht das gemeinsame Vorwissen aus, ohne das man spezialisierte Fachtexte nicht verstehen kann. Textsorten haben demgegenüber kaum eine solche gruppenkonstituierende Funktion (vgl. Adamzik 2018). Diese größeren Zusammenhänge, die Einbettung in den sozialen und situativen Kontext, wird in den klassifikatorischen Ansätzen vernachlässigt. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass bei der Einordnung der Fachsprachen in das Varietätenspektrum die situative Dimension sozusagen verlorengegangen ist, da diese in eine funktionale umgedeutet wurde, die für Fachsprachen besonders gut passen soll (vgl. 2.2.5.). Dass allerdings auch die soziale Dimension bei Fachsprachen sehr wichtig ist, steht außer Frage, zumal ja immer wieder erwogen wurde, sie überhaupt der diastratischen Dimension zuzuordnen. Beide Optionen stammen aus Versuchen der Gliederung des Varietätenspektrums und stehen im Widerspruch zur eigentlichen Fachsprachenforschung, in der es die meisten-- in diesem Fall in Übereinstimmung mit dem Alltagsdenken-- für evident halten, das Wichtigste bei Fachsprachen sei der Gegenstandsbezug. Die damit verbundene Problematik lässt sich auflösen, wenn man Sprachfunktionen und Varietäten nicht als Sortierschubladen verwendet (was im Übrigen weder dem Ansatz Bühlers noch dem Coserius gerecht wird), sondern den Gedanken der Interdependenz der verschiedenen Faktoren ernst nimmt. Dabei ist insbesondere mit der Möglichkeit zu rechnen, dass in einem Text sprachliche Elemente verschiedener Varietäten kombiniert sind (Abb. 2.5). Daher halte ich einen textlinguistischen Rahmen für geeignet, die verschiedenen Perspektiven miteinander zu verbinden. In diesem müssen auch die Relationen zwischen Texten und Textsorten modelliert werden, um Flecks Rede von der Wanderung der Gedanken präziser fassen zu können. Dem ist das Kapitel 5.3.3. gewidmet. Ferner brauchen wir ein Instrumentarium, um differenzierter über die Denkkollektive und die Art, wie sie sich konstituieren, sprechen zu können. Diesem Thema gelten 5.3.1. und 5.3.2. Zugrunde liegt ein Modell, das für Texte aller Art-- also auch fachsprachliche-- entworfen wurde. Es erhebt nicht den Anspruch, der Weisheit letzter Schluss zu sein, sondern ist eher pragmatisch gemeint. Derzeit konkurrieren nämlich Ansätze, die mit drei, vier, fünf, sechs oder sieben Textualitätsmerkmalen bzw. Beschreibungsdimensionen arbeiten. Diese lassen sich m. E. relativ gut aufeinander abbilden bzw. ineinander übersetzen (vgl. Adamzik 2016a: Kap. 3.). Am verbreitetsten scheint mir die Arbeit mit vier Grunddimensionen, die in das folgende Schema (Abb. 5.1) eingegangen sind. <?page no="236"?> 236 5. Fächer als diskursive Konstrukte Thema/ Inhalt Funktion andere Bestandteile des Zeichenkomplexes Textprodukt (interne Merkmale) Sprachliche Gestalt Zeichen Zeichen Zeichen Abb. 5.1: Dimensionen der Textbeschreibung (Adamzik 2016a: 112) Wenngleich die traditionelle Unterscheidung von textinternen und textexternen Merkmalen durchaus problematisch ist, wird sie hier aufgenommen. Der Fachtext, das Produkt, steht im Zentrum, zusammen mit nicht-sprachlichen Elementen (andere Bestandteile des Zeichenkomplexes), die in Fachtexten häufig eine große Rolle spielen. Jede einzelne dieser Dimensionen umfasst eine mehr oder weniger große Menge von Subdimensionen. Besonders zahlreich sind diese einerseits in der Dimension Sprachliche Gestalt (da hier ja sämtliche Kategorien aus der deskriptiven Linguistik infrage kommen: die Gesamtheit der sprachlichen Mittel), andererseits in der Dimension Situativer Kontext, die schon in 2.2.4. als Faktoren-Bündel rekonstruiert wurde. 5.3.1. Zur situativen Dimension fachlicher Texte: offizielle und inoffizielle Wirklichkeiten Als Basiskategorien im Bereich der situativen Dimension gelten Teilnehmer, Ort, Zeit und Medien. Auf den ersten Blick handelt es sich dabei um objektive Größen der außersprachlichen Wirklichkeit. Sofern es überhaupt möglich bzw. sinnvoll ist, mit objektiven Daten zu rechnen (Zahl, Alter, Geschlecht der Beteiligten, kalendarische Zeit usw.), so sind diese doch nicht eigentlich relevant. Dies sind vielmehr diskursiv etablierte Kategorien wie allgemein Epochen, Kulturräume usw. (vgl. 2.2.3. und Adamzik 2016a: Kap. 4., bes. 4.4.2.). Im wissenschaftlichen Bereich handelt es sich um Kategorien, bei denen Zeit, Ort, Vertreter und inhaltliche Schwerpunkte (das betrifft die Dimension: Thema / Inhalt) oft nicht gut auseinandergehalten werden können: Die Linguistik des 20. Jahr- <?page no="237"?> 237 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht hunderts ist z. B. durch strukturalistische Ansätze geprägt, ein Denkstil, der die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts abgelöst hat. Innerhalb dieses größeren Denkkollektivs unterscheidet man noch diverse Untergruppen wie die Prager und Kopenhagener Schule, den amerikanischen (taxonomischen) Strukturalismus, den britischen Kontextualismus usw., die jeweils mit bestimmten Namen, charakteristischen Grundvorstellungen und speziellen terminologischen Systemen verbunden sind. Das vorangehende Kapitel hat gezeigt, wie sehr diese Welten konstruiert sind und auch immer wieder re-konstruiert werden. Im Folgenden möchte ich drei Schichten unterscheiden: a) die offiziellen oder institutionellen Wirklichkeiten, um die es in Kapitel 4.4. ging, b) die halboffiziellen, nicht institutionell in Kraft gesetzten Wirklichkeiten-- dabei handelt es sich um kleinere Denkkollektive wie Schulen, Fraktionen, Seilschaften und derartige Gruppierungen, c) die inoffiziellen Wirklichkeiten, die es eigentlich nicht geben dürfte- - dies sind skandalträchtige Sachverhalte, die offiziell geleugnet werden (müssen). Diese drei Bereiche lassen sich selbstverständlich nicht scharf gegeneinander abgrenzen, immerhin kann man für sie unterschiedliche textpragmatische Charakteristika benennen: In der Schicht a) treten Institutionen und ihre Vertreter als Akteure auf (vgl. auch den Schluss von 2.4.). Sie organisieren sich selbst (mittels Satzungen, Statuten usw.) und führen ihre Aktivitäten nach relativ festgelegten Verfahren durch (Gremienbildung, Sitzungen, Beschlüsse usw.). Es handelt sich sozusagen um eine bürokratische Wirklichkeit, die die organisatorischen Voraussetzungen für fachliches Handeln bereitstellt. Prototypisch für die Welt der Verwaltung sind Sprechakte vom Typ der Deklaration. Auch die formalisierte Ausbildung mündet in Deklarationen, bescheinigt nämlich Individuen die offizielle Zugehörigkeit zu Kollektiven, und zwar durch Zeugnisse, Diplome usw. Ebenso müssen Stipendien, Preise, Forschungsaufenthalte, Praktika, Anstellungen-… offiziell zertifiziert werden; sie stellen zentrale Elemente der Vita von Personen dar, die zu einem Fachkollektiv gehören. In der Schicht b) geht es dagegen einerseits um Kollektive, die sich über Inhalte konstituieren, über gemeinsames Wissen, das man aus der Fachliteratur gewonnen hat (wie eben solches über die Schulen des Strukturalismus), andererseits um teilweise nur sehr kleine Interaktionsgruppen, deren Mit- <?page no="238"?> 238 5. Fächer als diskursive Konstrukte glieder auch informell miteinander kommunizieren. Man erinnere sich an den Abschnitt von Kuhn, in dem er feststellt, dass es sich hier um Gruppen jenseits der Lehrbücher handelt, bis hin zum esoterischen Kreis. Es sind Insider i. e. S. Diese haben auch Zugang zu dem, was sich hinter den Kulissen abspielt. Damit sind Sachverhalte gemeint, die nicht in offiziellen Dokumenten erscheinen und über die man auch (fast) nichts in Büchern oder Aufsätzen lesen kann. Das entsprechende Wissen erwirbt man normalerweise als Teilnehmer von Interaktionsgruppen. Explizit thematisiert wird es allenfalls punktuell als Plaudern aus dem Nähkästchen, oft anspielungsweise, wenn nicht gar hinter vorgehaltener Hand. Teilweise handelt es sich um offene Geheimnisse: Wie kam es zur Einstellung / Entlassung der Person x, der Einrichtung / Schließung eines Instituts? Warum wurde ein Forschungsprojekt / ein Manuskript angenommen / abgelehnt? usw. Wenn die Relevanz solch inoffizieller Vorgänge nach außen-- z. B. gegenüber anderen Teilgruppen und insbesondere der Öffentlichkeit- - geleugnet wird, befinden wir uns bereits im Übergangsbereich zur Schicht c). Einen Prototyp für diese stellen Fälschungen und Plagiate dar. In dieser Schicht kommt Whistleblowern eine wichtige Kommunikantenrolle zu, übrigens ein Ausdruck, der in OWID als Neologismus der Nullerjahre (also der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts) geführt wird. Was weiß / glaubt der exoterische Kreis (der Laien) von diesen drei Wirklichkeitsschichten? Vertraut ist ihm gar keine, nicht einmal die explizit institutionalisierte, deren objektive Existenz ebenso offensichtlich und eindeutig feststellbar ist wie ihr konstruktiver Charakter. Das liegt zunächst daran, dass diese Wirklichkeit extrem komplex ist, so dass Außenstehende nur eine vage Vorstellung davon haben, dass es so etwas gibt, aber keine näheren Details kennen. Allein die Zahl der erlernbaren Berufe und studierbaren Fächer (vgl. 4.4.) muss aber auch allen Experten (irgendwelcher Fächer) die Hoffnung nehmen, im Laufe ihres Lebens Einblick in mehr als einen winzigen Ausschnitt aus der Gesamtheit gewinnen zu können. Ferner haben Außenstehende keine Vorstellung davon, wie diese Institutionen, Fachgesellschaften, Forschungsinstitute etc. funktionieren, welche Bedeutung sie eigentlich für das fachliche Handeln haben. Grob gesprochen, wissen Laien von der Schicht a) zwar nicht viel, aber immerhin wissen und akzeptieren sie, dass sie existiert, während sie von der Schicht b) (fast) gar nichts wissen (wollen). Das erklärt sich daraus, dass der Alltagsverstand in ganz besonderem Ausmaß einer realistischen Sicht auf Fächer verpflichtet ist. Für ihn sind die Inhalte zentral, und er unterstellt, dass <?page no="239"?> 239 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht die Experten wissen, wie es sich damit verhält. Wie sie dazu kommen, braucht ihn nicht zu interessieren (vgl. auch das Beispiel mit dem Telefon aus 2.4.). Aus dieser Sicht dürfte es die Schicht b) im Sinne von verschiedenen Schulen / Ausrichtungen / Perspektiven eigentlich nicht geben: Wenn etwas wissenschaftlich erwiesen ist, sollte man es darstellen können, wie es eben ‚ist‘. Damit wird das Fachwissen sozusagen auf lehrbuchfähige Inhalte reduziert und höchstens mit kumulativer Forschung gerechnet. Deswegen muss es Laien nicht nur verunsichern, sondern geradezu empören, wenn Experten unterschiedlicher Meinung sind (vgl. 3.3.)-- in der Wissenschaft soll es doch nicht um Meinungen gehen! So erklärt sich auch, dass Geistes- und Sozialwissenschaften ein geringeres Prestige haben, denn diese machen ja gar keinen Hehl daraus, dass sie sogar über grundlegende Fragen streiten (vgl. das Zitat aus dem Vorwort von Kuhn). Studierende dieser Fächer oder allgemeiner: Menschen, die sich auf dem Weg zum esoterischen Kreis befinden, aber noch nicht weit gekommen sind, akzeptieren dagegen die Existenz und Notwendigkeit der Schicht b). Wer nicht die entsprechende Relativitätstoleranz aufbringt, wählt gleich andere Fächer oder aber Ausrichtungen des Fachs mit Tendenz zu rigider oder gar dogmatischer Ausbildung. Selbst die Gutwilligsten reagieren aber leicht irritiert, wenn man sie bei der Einführung in ein Fach gleich mit einer ganzen Palette konkurrierender Forschungsansätze konfrontiert und damit geradezu die Entgegnung provoziert: Nun sagen Sie doch, was das Richtige ist-- Was muss ich lernen? So verständlich diese Frage ist, v. a. wenn man bedenkt, dass BA -Studien gar nicht die Zeit lassen, sich in ein oder gar mehrere Fächer einzuarbeiten, so muss man sie doch als unangemessen abwehren. Hat man damit Erfolg, kommt es sozusagen zu rituellen Bekenntnissen zur Relativität. Niemand sagt mehr: Es ist so-… oder gar: Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass,-…, sondern: x ist der Auffassung, dass,-…, aber man kann es natürlich auch anders sehen. Solch ein vollständiger Relativismus ist nicht gerade geeignet, Vertrauen in das Unternehmen Wissenschaft zu befördern, da er den Eindruck völliger Beliebigkeit erweckt (anything goes; man erinnere sich an den Vorwurf der Subjektivität und Irrationalität gegen Kuhn)-- so war es auch wieder nicht gemeint. Aber wie dann? Kommen wir vor der Beantwortung dieser Frage noch zur Schicht c). Diese oder besser gesagt: ein kleiner Ausschnitt davon ist dem exoterischen Kreis, speziell Menschen, die sich nicht auf dem Weg in das Fach befinden, durchaus vertraut, und zwar aus den Medien. Diese fungieren in demokratischen Gesellschaften halb-offiziell als sog. vierte Gewalt, sie sollen das gesellschaftliche Geschehen kritisch beobachten und auch kontrollieren. Das heißt nicht zuletzt, <?page no="240"?> 240 5. Fächer als diskursive Konstrukte Verstöße gegen geltende Normen aufzudecken, Sachverhalte, die es nicht geben dürfte. Praktisch verführt dies zu skandalisierender Berichterstattung; die kritische Presse nimmt sozusagen regulär eine mala-fide-Haltung ein. Hinzugetreten sind inzwischen Gruppierungen aus der sog. Zivilgesellschaft, die ihre Anliegen freilich großenteils auch über die Medien verbreiten. In 3.2.1. kam schon eine Affäre um die Klimaforschung zur Sprache. Der mit deren Aufklärung befasste Horton hatte als Neuerung „eine nationale Institution vorgeschlagen, unabhängig von Wissenschaftsverbänden und Regierungen“. Das bedeutet nichts anderes, als dass er die offiziell bereits bestehenden Institutionen, inklusive der Wissenschaftlerorganisationen für nicht hinreichend akzeptiert hält. Skandalisierung betrifft neben dem wirtschaftlichen insbesondere den politischen Bereich, zumal in einer Mediengesellschaft, in der die politischen Akteure unter Dauerbeobachtung stehen, da sie ja zugleich, und zwar wesentlich in den Medien, um die Wählergunst werben müssen. Weist man Politikern ein Plagiat nach, kann sie das die Karriere kosten. Die meisten Plagiatsaffären werden gemacht, nämlich von den Plagiatsjägern. Diese kontrollieren natürlich nur Arbeiten, bei denen es sich lohnt, weil sich aus ihnen ein Skandal konstruieren lässt. Würde man Dissertationen von Leuten, die nicht prominent geworden sind, mit der gleichen Akribie und den überzogenen Ansprüchen prüfen, müsste aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens der Hälfte von ihnen ebenfalls der Titel entzogen werden. Zwar ‚gibt es‘ sehr wohl ‚echte Plagiate‘ - als Kriterium dafür gilt im Allgemeinen die Intentionalität, die bewusste Absicht zu täuschen. Genug davon werden auch - in der Schicht a)! - aufgedeckt (besonders seit es dafür Computerprogramme gibt). Das ist aber für den exoterischen Kreis kaum von Interesse. Zu beachten ist besonders, dass diese Affären in der Regel nur Dissertationen betreffen, also Texte, die die Grundlage für die Verleihung des Doktortitels sind. Es ist gar nicht auszudenken, was sich ergäbe, wenn man auch andere Texte dieser Kontrolle unterzöge. Das meiste von dem, was Studierende lesen, würde den Plagiatstest nicht bestehen, am wenigsten die Lehrbücher. Die Idee des Plagiats setzt voraus, dass es Texte gibt, die die ureigene Schöpfung des Verfassers sind, in denen jedenfalls präzise belegt ist, welche Gedanken schon anderswo zum Ausdruck gekommen sind. Vergleicht man das mit Flecks Vorstellung, dass Wörter und Gedanken nicht Individuen gehören, sondern kollektive Phänomene sind, dass das vollkommene Verstehen eines Textes <?page no="241"?> 241 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht extrem schwierig ist, der Empfänger eigentlich nie genau das versteht, was der Sender gemeint hatte, dieser allerdings teilweise selbst nicht genau weiß, was er eigentlich meint oder einmal gemeint hat-…-- folgt man dieser Konzeption auch nur ansatzweise, dann kommt man zu dem Schluss, dass niemand so handeln kann, dass andere daraus nicht Fälschungen, Plagiate oder mindestens Fehler konstruieren können. Tatsächlich sind Fehler geradezu unausweichlich, und dahinter stecken sehr viel häufiger als Täuschungsabsichten Irrtümer, Missverständnisse bzw. die partielle Blindheit und Amnesie, die für Denkkollektive so charakteristisch sind. Das generelle Wissen um den Interaktionstyp Gemauschel oder Hinterzimmerkommunikation ist eine wesentliche Grundlage für die Konstellation der bestrittenen Vertikalität (vgl. 3.2.), das Misstrauen gegenüber Eliten, die in exklusiven Zirkeln agieren, aber darauf pochen, sich strikt an die Verfahrensregeln zu halten. Damit kann man kritische Einwände schon gut abwehren. Denn diese Verfahren sind zwar in einer Unmenge metakommunikativer Texte der Schicht a), die auch öffentlich zugänglich sind, explizit festgelegt. Sie sind für Außenstehende aber doch meist schwer nachvollziehbar, weil es um komplexe kommunikative Routinen geht, die man sich kaum ohne aktive Teilnahme daran aneignen kann. Unter der Bedingung eines massiven Vertrauensverlustes macht man sich diese Mühe aber ohnehin gar nicht mehr, sondern unterstellt von vornherein, dass die Verfahren z. B. bei Wahlen (nicht nur zu politischen Organen, sondern z. B. auch in Gremien) zu einem Ritual erstarrt sind und die Elite, besonders die politische Klasse oder gar Kaste, das Establishment, der Öffentlichkeit demokratisches Handeln und Transparenz nur vorgaukelt oder diese Illusion verkaufen will, während die eigentlichen Entscheidungen hinter verschlossenen Türen fallen. In 3.2.1. wurde die Krise der gesellschaftlichen Kommunikation unter Rückgriff auf die Konversationsmaximen erläutert. Vor dem Hintergrund des eben Ausgeführten lässt sich Folgendes ergänzen: Leute, die das Vertrauen in die Eliten gänzlich verloren haben, nehmen die Schicht b) gar nicht als existent wahr. Schicht a) existiert für sie zwar, wird aber als irrelevant gesetzt, als bloße Fassade. Die einzig ‚wirkliche Wirklichkeit‘ ist die der Schicht c), in der alle lügen. Die Welt wird also als eine konstruiert, in der keine Konversationsmaximen gelten, für niemanden. Unter diesen Voraussetzungen ist es gar nicht so erstaunlich, dass die völlig Desillusionierten ausgerechnet Menschen Vertrauen entgegenbringen oder sie jedenfalls wählen, bei denen gar kein Zweifel daran bestehen kann, dass sie lügen und mit unlauteren Mitteln arbeiten. Das tun ja <?page no="242"?> 242 5. Fächer als diskursive Konstrukte sowieso alle-- Hauptsache, es geht gegen das alte Establishment! Dafür gibt es inzwischen ein Schlagwort: postfaktisch, das die Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 gekürt hat. Aus der Pressemitteilung: „Die Jahreswortwahl richtet das Augenmerk auf einen tiefgreifenden politischen Wandel. Das Kunstwort postfaktisch verweist darauf, dass es heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen ‚die da oben‘ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der ‚gefühlten Wahrheit‘ führt zum Erfolg. Viel zitiert wurde eine Erläuterung aus dem Munde der Bundeskanzlerin: ‚Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen.‘ In diesem Sinne ist das Wort, wie Matthias Heine in der Welt (17. 11. 2016) schrieb, ‚sogar schon in der Witzkultur angekommen. Neulich sagte einer meiner Bekannten über einen Freund, dass dieser sich postfaktisch kleide- - er ignoriere die Wahrheiten seines Körpers.‘ Postfaktische Politik war beispielsweise der Wahlkampf gegen den Verbleib Großbritanniens in der EU . Mit zum Teil gezielten Fehlinformationen schürten die Befürworter des Austritts den Unmut in der Bevölkerung, die tatsächlich am 23. Juni 2016 mehrheitlich für den Brexit stimmte. Ein Ergebnis postfaktischer Politik war auch der Triumph von Donald Trump, der mit Diskriminierungen und wahrheitswidrigen Behauptungen wie der Aussage, Barack Obama habe die Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘ gegründet, in den USA zum Präsidenten gewählt wurde. Die Wortbildung postfaktisch könnte auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, da sie, vom Lateinischen wörtlich übersetzt, ‚nach-faktisch‘ oder ‚nach, hinter den Fakten‘ bedeutet. Eher erwarten könnte man bei der angegebenen Bedeutung des Wortes eine Bildung wie kontrafaktisch (‚den Fakten widersprechend, entgegengesetzt‘) oder auch, in griechisch-lateinischer Sprachmischung, antifaktisch. Zugrunde liegt aber, ähnlich wie bei Postmoderne oder Poststrukturalismus, die Vorstellung einer neuen Epoche. Bereits im Jahr 2004 erschien das Buch The Post-Truth Era (‚Das Zeitalter nach der Wahrheit‘) von Ralph Keyes, und so versteht sich die Rede vom postfaktischen Zeitalter.-[…] Gewissermaßen zum Fakt geworden war das ‚Gefühl‘, postfaktisch könne Wort des Jahres werden, übrigens schon im November 2016: Die Redaktion des Oxford English Dictionary wählte die englische Entsprechung post truth zu ihrem Jahreswort.“ (http: / / gfds.de/ wort-des-jahres-2016/ #postfaktisch; Fettdruck K. A. <06. 11. 2017>) <?page no="243"?> 243 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Postfaktisch ist aktuell eine zentrale Vokabel aus dem Lager derer, die von sich glauben oder wenigstens behaupten, allein ihrem Verstand zu folgen. Es richtet sich gegen die von ihren Gefühlen gesteuerten Dummköpfe, die den Lügen der Populisten aufsitzen. In deren Sprachgebrauch lautet die Parallelvokabel Lügenpresse (Unwort des Jahres 2014). Beide Ausdrücke beziehen sich auf denselben Komplex, präsentieren ihn aber aus unterschiedlichen Lagern. Gemeinsam ist ihnen allerdings, die gegnerische Gruppe als homogen zu behandeln. Zum Establishment, zu ‚denen da oben‘ gehören nicht nur Regierungen, politischadministrative Institutionen wie die EU mit all ihren Unterorganen, sondern eben auch die etablierte Presse. Dabei werden alle Organe in einen Topf geworfen, auch diejenigen, die das Handeln von Politikern und Institutionen selbst kritisch verfolgen. Auf der anderen Seite besteht aber unglücklicherweise dieselbe Tendenz zur Unterdifferenzierung: So sehr diese diversen Subkollektive auch untereinander zerstritten sind, der gemeinsame Feind, das postfaktische Lager, scheint sie im Moment zusammenzuschweißen: Wenigstens darin ist man sich anscheinend einig, dass es die Populisten sind, die die Wirklichkeit entstellen. In der Pressemitteilung werden jedenfalls als Beispiele ausschließlich Brexit und Trump genannt und als Topos erscheint nur ‚Gefühl vs. Fakten‘. Die kritische Öffentlichkeit, die Laienforscher, die Globalisierungskritiker, all jene, die seit langem das Handeln des Establishments keineswegs aus einem Bauchgefühl heraus kritisieren, drohen darüber vergessen zu werden. Erhellender als die deutsche Pressemitteilung ist die Erläuterung der Oxford Dictionaries: „The concept of post-truth has been in existence for the past decade, but Oxford Dictionaries has seen a spike in frequency this year in the context of the EU referendum in the United Kingdom and the presidential election in the United States. It has also become associated with a particular noun, in the phrase post-truth politics.-[…] Post-truth has gone from being a peripheral term to being a mainstay in political commentary, now often being used by major publications without the need for clarification or definition in their headlines. [Beispiele aus The Economist und The Independent-…] The term has moved from being relatively new to being widely understood in the course of a year-- demonstrating its impact on the national and international consciousness. […] <?page no="244"?> 244 5. Fächer als diskursive Konstrukte A brief history of post-truth The compound word post-truth exemplifies an expansion in the meaning of the prefix postthat has become increasingly prominent in recent years. Rather than simply referring to the time after a specified situation or event- - as in post-war or post-match-- the prefix in post-truth has a meaning more like ‚belonging to a time in which the specified concept has become unimportant or irrelevant‘. This nuance seems to have originated in the mid-20th century, in formations such as post-national (1945) and post-racial (1971). Post-truth seems to have been first used in this meaning in a 1992 essay by the late Serbian-American playwright Steve Tesich in The Nation magazine. Reflecting on the Iran-Contra scandal and the Persian Gulf War, Tesich lamented that ‚we, as a free people, have freely decided that we want to live in some post-truth world‘. There is evidence of the phrase ‚post-truth‘ being used before Tesich‘s article, but apparently with the transparent meaning ‚after the truth was known‘, and not with the new implication that truth itself has become irrelevant. A book, The Post-truth Era, by Ralph Keyes appeared in 2004, and in 2005 American comedian Stephen Colbert popularized an informal word relating to the same concept: truthiness, defined by Oxford Dictionaries as ‚the quality of seeming or being felt to be true, even if not necessarily true‘. Post-truth extends that notion from an isolated quality of particular assertions to a general characteristic of our age.“ (https: / / en.oxforddictionaries.com/ word-of-the-year/ word-of-the-year-2016; Fettdruck außer Zwischentitel KA ; <06. 11. 2017>) Die ganz auf die Populisten zugespitzte Erläuterung aus dem deutschen Kommentar befördert eine gefährliche Homogenisierung der verschiedenen Gruppen, es besteht eine zu große Nähe zu den Etiketten aus der Mottenkiste (vgl. das Zitat von Schmidt-Tiedemann aus 3.2.1.). Denn auch die Argumente der rationalen Kritiker gegen EU -Dekrete rekonstruieren die Herrschenden als unvernünftige Widerstände gegen Innovation. Bei näherem Hinsehen erweist sich aber sogar die Weiterbildungsabstinenz als Ergebnis eines rationalen Kalküls. Um einen Satz aus 3.3. zu wiederholen: Die Eliten (sollten) wissen, dass sie nicht imstande sind, ihre Deutung als akzeptable, als sinnvoll empfundene Interpretation durchzusetzen-- das ist eine Zumutung auch für den Verstand. Ein kleines Zugeständnis in diesem Sinne ist inzwischen auch schon zu einer Formel erstarrt: Man müsse die berechtigten Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen. Das klingt sehr paternalistisch und passt durchaus zu der Vorstellung von einem ‚Dialog‘, in dem man den Bürgern einfach noch genauer <?page no="245"?> 245 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht erklären muss, warum es keine Alternative zur Quadratur des Kreises gibt-- es sei denn das Perpetuum mobile. Einen Spezialfall des Versuchs, dieses Unternehmen zu realisieren, stellen die Hochschulreformen dar. Gegen diese erheben verständlicherweise besonders viele höchst gebildete Menschen Kritik, weil es sich um die Welt handelt, in der sie sich auskennen, die Welt der Wissenschaft: „Immer mehr Studenten in immer kürzerer Zeit zu konstanten Kosten bei gleichzeitiger Intensivierung der Forschungs- oder jedenfalls Forschungsantragstätigkeit des Lehrpersonals“ (Kaube 2009: 9), bei enormer Belastung durch die administrative Umsetzung der Reform selbst und massiv gestiegenen Aufgaben in der Selbstverwaltung, insbesondere durch systematische Evaluation aller Tätigkeiten und Produkte-- da kann nur der Wunsch Vater des Gedankens gewesen sein: „Was niemand kann, Exzellenz für viele, das können wir. Natürlich können wir es nicht, aber wir können es behaupten.“ (ebd.: 8) Es wäre verheerend, wenn man solche Kritik (vgl. dazu auch Ehlich 2015: Kap. 3 und ausführlich Münch 2007, 2009, 2011) in irgendeine Nähe zu populistischen Lügen oder Verschwörungstheorien bringen würde. Roman Herzog (vgl. 3.3.) war sich dieser Gefahr wohl nicht bewusst, als er Scheinsachverständige mit Doktortitel als Krisenverursacher ausmachte, vor denen man die verwirrten Bürger schützen müsse. Diese Kritik entzündet sich nicht an Skandalen oder irgendwelchen Sachverhalten, deren Wirklichkeitsstatus erst Untersuchungsausschüsse oder Gerichte klären müssen. 70 Diese Kritik ist vielmehr unausweichlich, wenn man sich mit den Reformvorhaben und Zielvorstellungen genauer auseinandersetzt. Mindestens ein Teil der Universitätsangehörigen konnte sich dem nicht entziehen. Sehr regelmäßig wird in ihren Stellungnahmen nicht nur die Argumentation, sondern auch die Sprache der Dokumente kommentiert und teilweise in den Bereich der fiktionalen Welt verwiesen. Man erinnere sich an Trabants Rede von der Mehrsprachigkeits-Poesie Europas (vgl. 3.1.) oder an die Charakterisierung der Wissensgesellschaft als Mythos (vgl. 3.2.3.). Einschätzungen aus verschiedenen Disziplinen versammelt das von Kaube (2009) herausgegebene Bändchen Die Illusion der Exzellenz. Lebenslügen der Wissenschaftspolitik, in dem besonders Kieserling die Sprache thematisiert: 70 Angesichts solcher Sachverhalte kommt es allerdings einer Zumutung an den psychischen Haushalt gleich, während einiger Monate oder Jahre in abwartender Neutralität zu verharren und sich aller Emotionen und Vor-Urteile zu enthalten. <?page no="246"?> 246 5. Fächer als diskursive Konstrukte Bei den Hochschulreformen „überließ man sich Anregungen der Lyrikwerkstatt zu Gütersloh, dem ‚Zentrum für Hochschulentwicklung‘. Dort wiederum hatte man sich-[…] auf die Erzeugung einer in hohem Maße autonomen Literatur spezialisiert, die jede Ähnlichkeit mit den Realitäten des universitären Alltags zu vermeiden wusste. Schon unter ihren Anhängern galten die entsprechenden Texte als hermetisch, und gerade bei den großen Gesängen über Workload und Creditpoints hat man mit Recht gefragt, ob die spröde Schönheit dieser opaken Gebilde sich nicht womöglich nur sehr großen und sehr professionell besetzten Bürokratien erschließt. Als diese Lyrik dann gleichsam über Nacht in den Rang des geltenden Rechts aufgestiegen war, anzuwenden auf Universitäten, erwies sich die Wahrheit dieser Vermutung. Das bürokratische Laienspiel der akademischen Selbstverwaltung zeigte sich jedenfalls überfordert. Um die entsprechenden Zwangsvorstellungen umzusetzen, wurde die Arbeitskraft gutbezahlter Wissenschaftler monatelang stillgelegt. Als einzig greifbares Ergebnis zeichnet sich heute ab, dass niemand mehr, die arglosen Studenten nicht und die angewiderten Professoren erst recht nicht, die Studienordnungen versteht. Außerdem ist der Reformbewegung das Kunststück gelungen, ausgerechnet durch die flächendeckende Institutionalisierung einer bürokratischen Einheitssprache dafür zu sorgen, dass die verschiedenen Universitäten zu untereinander unverständlichen Gebilden werden, zwischen denen es studentische Mobilität kaum noch geben kann. Schon innerhalb einzelner Länder, vom sagenhaften Europa gar nicht zu reden, zeichnet sich heute ein Zustand ab, in dem die Hochschulverwaltungen das Desperanto ihrer eigenen Zertifikate nicht länger verstehen.“ (Kieserling 2009: 27 f.; Kursivierungen im Orig., Fettdruck K. A.) Zugleich wendet sich Kieserling gegen die Idealisierung der Vergangenheit, die unterstellt, erst mit dem Bologna-Prozess sei das Humboldt‘sche Konzept der Einheit von Forschung und Lehre aufgegeben worden. Tatsächlich ist es an Massenuniversitäten nicht umsetzbar; mit solchen leben wir aber schon seit Jahrzehnten, entsprechend auch mit einer Krise der Hochschullehre. Wenn nun offiziell verordnet wird, mit dem BA eine Ausbildung anzubieten, die in drei Jahren gleichzeitig für einen Beruf qualifiziert und potenziellen Nachwuchs auf wissenschaftliche Arbeit vorbereitet, haben wir es mit einem Projekt zu tun, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, das weder der einen noch der anderen Zielsetzung gerecht werden kann. Mit diesen Ausführungen nähern wir uns endlich einer Antwort auf die Frage, was denn nun- - zwischen Dogmatismus und Beliebigkeit, zwischen zu Fakten hypostasierten Ideologemen und Gefühlen- - als wissenschaftlich <?page no="247"?> 247 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht valabel zu betrachten ist, d. h. worauf sich eigentlich die Überzeugungen derer gründen, die nicht der Auffassung sind, letzten Endes löse sich alles in vollständigem Relativismus auf. Die Kritik an den Hochschulreformen ist aus verschiedenen Gründen besonders instruktiv: Erstens haben die Kritiker eine intime Kenntnis der Praxis, sie wissen, wovon sie reden. Zweitens sind sie sehr geübt in der Analyse von Argumentationen. Drittens kommen sie aus dem exoterischen Kreis-- den esoterischen bildet nämlich in diesem Fall die Bildungsbürokratie. Das ist eine günstige Konstellation, die zeigt, dass es auch von Vorteil sein kann, (noch) zum exoterischen Kreis irgendwelcher Denkkollektive zu gehören-- man kann aus der Not eine Tugend machen. Dem inneren Kreis Fernerstehende sind noch nicht blind geworden, nicht einmal so an den spezifischen Sprachgebrauch der Experten gewöhnt, dass sie schon die vielen Möglichkeiten vergessen hätten, sich anders auszudrücken. Das setzt sie in Stand, die Denkgebilde und -komplexe auf ihre innere Stimmigkeit zu prüfen, also genau das zu tun, was eigentlich den Kern wissenschaftlichen Denkens ausmacht, nämlich den Gestus des Prüfens und des Hinterfragens einzunehmen. Diese Menschen werden leichter aufmerksam auf Widersprüche und Ungereimtheiten. Ferner neigen sie selbstverständlich dazu, die Weltkonstrukte, die sie sich neu aneignen wollen oder sollen, mit alltagsweltlichen Vorstellungen, ggf. mit Spezialwissen aus anderen Fächern und ferner mit eigenem Erfahrungswissen zu konfrontieren. Das entspricht dem Ideal des Denkstils der Geisteswissenschaften: Bediene dich deines eigenen Verstandes und prüfe sorgfältig, was gesagt wird, wohlwollend, aber kritisch. Das Wohlwollen ist wichtig, weil man sich auf fremde Gedanken oder gar Denkstile einlassen muss, um das Fremde und Ungewohnte nicht vorschnell als verrückt oder irrational abzuqualifizieren. Außerdem könnte es ja auch sein, dass man selbst auf einem Auge blind ist. Zu versuchen, dem Ideal nahezukommen, ist anstrengend und kostet viel Zeit, billiger ist aber Wissenschaftlichkeit nicht zu haben. Prüft man aus dieser Sicht einige ‚Denkgebilde‘ aus der Linguistik, so stößt als erste Befremdlichkeit auf, dass die Laiensicht so leicht als vorwissenschaftlich abqualifiziert wird. So etwas kann nur unter der Bedingung unbestrittener Vertikalität Erfolg haben, mit der wir nicht (mehr) rechnen können und die Wissenschaftler, die etwas auf sich halten, sich auch nicht (zurück) wünschen sollten. Dogmenähnlich müssen v. a. Auffassungen erscheinen, die der Alltagserfahrung eklatant widersprechen. Dazu gehört die Vorstellung, dass Sprache und (Fach-)Texte der Kommunikation dienen und es sich dabei um eine höchst rationale Tätigkeit handelt, bei der der Sender eine bestimmte <?page no="248"?> 248 5. Fächer als diskursive Konstrukte Intention verfolgt, wobei er alles dafür tut, sie dem Empfänger anzuzeigen, so dass dieser ihn normalerweise auch richtig versteht. Als zwingend wird daraus abgeleitet, dass beide über denselben ‚Code‘ verfügen müssen, ansonsten könnten sie sich ja nicht verstehen. Für das ‚Alltag-Denkkollektiv‘ dürfte dagegen als Tatsache evident sein, dass sich die Leute sehr oft gerade nicht verstehen, sondern aneinander vorbeireden und dass sie sich auch keineswegs immer alle Mühe geben, verstanden zu werden, kurz: dass häufig gegen die Konversationsmaximen verstoßen wird. Dieses Stereotyp betrifft in besonderem Ausmaß Experten aller Art (vgl. 2.1.). Wenn nun die Fachsprachenlinguistik selbst Experten als eine Art Übermenschen vorstellt und wissenschaftliches Handeln als Rationalität schlechthin, befördert sie nur die naive Laiensicht. Stattdessen sollte sie als erste der Vorstellung von Wissenschaftlern als Menschen entgegentreten, die allein wissen, wie man sich richtig ausdrückt, oder gar, wie es ‚in Wirklichkeit‘ ist. Wissenschaftler sind Suchende, Debattierende, Zweifelnde, deren Alltag durch das Unsichere, Vorläufige, vielleicht später zu Korrigierende geprägt ist und die genauso wenig frei von Emotionen, Irrtümern, interessegeleiteter Sicht auf die Welt und wirklichkeitsentstellenden Erinnerungen sind wie alle anderen Menschen auch. Besonders wichtig ist eine realistische Präsentation von Wissenschaft gegenüber Studierenden. Denn diese machen durchaus Erfahrungen mit der Wirklichkeit c), d. h. Praktiken, die den offiziell propagierten Normen und Werten nicht entsprechen. Vielen Studierenden wird erst während oder gar am Ende des Studiums klar, dass sich arrivierte Wissenschaftler vielfach selbst nicht so verhalten, wie man es von Studierenden verlangt. Dabei muss man nicht gleich an Fälschungen oder Plagiate denken, schon schlampiges und sinnentstellendes Zitieren oder der Verweis auf Texte, die der Autor gar nicht gelesen hat, dürften im echten Wissenschaftsbetrieb eigentlich nicht vorkommen, sind aber durchaus an der Tagesordnung (vgl. dazu z. B. Osterloh / Frey und Schollwöck in Kaube 2009). Solche Erfahrungen führen bei Studierenden meist zu einer schmerzhaften Desillusionierung. Nicht nur moralische Grundsätze, sondern auch die Klugheit gebieten es, Novizen Einblick in die wirkliche, die sehr vielschichtige Welt des Wissenschaftsbetriebs zu gewähren. Dazu gehört es zuallererst, dem Mythos ein Ende zu setzen, dort spiele Persönliches oder gar Subjektives keine Rolle. <?page no="249"?> 249 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht 5.3.2. Übersicht über relevante situative Faktoren Bei der Rezeption von Fachtexten geht es nicht nur darum, den Inhalt zu verstehen, vielmehr muss man sie in den disziplinären Diskurs einordnen können, d. h. wissen, welchen diskursiven Status Texte, Personen, Begriffe, Propositionen und Modelle haben. Dafür muss man eigentlich bereits sehr viele Texte gelesen, eben ein relativ großes Vorwissen haben. Insider ziehen solches Hintergrundwissen unwillkürlich heran oder beschaffen es sich bei Bedarf. Für diejenigen, die noch am Anfang stehen, sind entsprechende Einschätzungen dagegen selbstverständlich extrem schwierig. Man kann Novizen aber wenigstens dadurch weiterhelfen, dass man erläutert, um welche Art von Informationen es sich handelt und wie man diese findet. Regelmäßig thematisiert wird nur der Faktor Textsorte, der allerdings eher selten (allein) besonders großen Aufschluss über den diskursiven Status eines Textes gibt. Zudem sind Studierenden viele einschlägige Textsortenbezeichnungen gar nicht bekannt (vgl. Adamzik 2007), was umso mehr belegt, dass ihnen Schemawissen zu Fachliteratur fehlt. Um zunächst eine grobe Vorstellung davon zu geben, was es ausmacht, zu einer Wissenschaftlergemeinschaft zu gehören, seien zentrale Elemente überblicksartig zusammengefasst: Wissenschaftlergemeinschaft (Scientific community) ▶ konstituiert sich im Wesentlichen über Texte und ▶ ‚handelt aus‘ ▷ was Gegenstand ihrer Disziplin sein soll (inklusive Neubegründung von Fächern), ▷ welche Fragen an den Gegenstand gestellt werden sollen ( → Subdisziplinen), ▷ welche Methoden angewendet werden können, ▷ was (bis auf Weiteres) als gültig angenommen und an den Nachwuchs übermittelt werden soll (inklusive unterschiedlicher Standpunkte / Schulen), ▷ welche Begriffe verwendet werden (Fachvokabular, Terminologie) und welche Nachschlagewerke zu konsultieren sind, ▷ welche Texte als Meilensteine der Disziplin gelten ( → Klassiker der Wissenschaftsgeschichte), ▷ welche Publikationsorgane für die Disziplin zentral sind, ▷ welche Textsorten zulässig sind und wie sie zu gestalten sind ▷ … <?page no="250"?> 250 5. Fächer als diskursive Konstrukte Dieses allgemeine Schema stellt sich je nach Kollektivitätsgrad (vgl. 2.2.3.) konkret unterschiedlich dar. Die Menge der in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich tätigen Menschen, um die Formel aus Hoffmanns Definition aufzunehmen, ist ja sehr groß und in sich heterogen, wie Rehbein (vgl. 5.1.) hervorhebt: Im Wissenschaftssektor ist gerade die Auseinandersetzung zwischen Gruppen wesentlich, die ‚denselben‘ Gegenstand mit unterschiedlichen Methoden oder theoretischen Ausrichtungen bearbeiten, zwischen Schulen oder Wissenschaftskulturen also. Häufig findet eine Auseinandersetzung allerdings gar nicht statt-- die Schulen ignorieren einander oder existieren nebeneinander in ihren erstarrten Überzeugungssystemen, wie Rehbein es formuliert. In anderen Handlungszusammenhängen, z. B. wenn man (eher von außen) einen Überblick über die Menschen geben will, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich tätig sind, ist das aber nicht möglich bzw. sinnvoll und das Fehlen von Kommunikation zwischen diesen Gruppen kann dann thematisiert und problematisiert werden. Für ein Beispiel sei an das ‚Schisma‘ in der Informationswissenschaft erinnert (vgl. 4.2., Anm. 58), wo sich die philosophisch orientierten Begriffstheoretiker sekundär wieder von den später hinzugekommenen Klassifikationsstatistikern abgesetzt und in einer eigenen Gesellschaft organisiert haben. Normen für wissenschaftliches Arbeiten Was man tut und sagt, ▶ muss sich in den Diskurs der Wissenschaftlergemeinschaft einfügen, d. h. ▷ man muss wissen, was über den Gegenstandsbereich derzeit als ‚gültiges‘ Wissen zählt, was umstritten ist und welche offenen Fragen es gibt, ▷ die relevante Literatur in seine Arbeit einbeziehen und nach den Regeln der Wissenschaftlergemeinschaft darauf Bezug nehmen, ▷ … ▶ muss intersubjektiv nachvollziehbar sein, d. h. man muss sagen ▷ was man herausfinden will: Fragestellung, ▷ mit welchem Material man gearbeitet hat, ▷ welche Methoden man benutzt hat, ▷ an welchen Theorien und Vorgängerstudien man sich orientiert hat und welchen man kritisch gegenübersteht ▷ welches terminologische System man benutzt (inklusive eigener Festlegungen) ▷ … <?page no="251"?> 251 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Eine einzelne fachlich spezialisierte Person arbeitet ferner beruflich normalerweise in einem konkreten Interaktionskontext, ist also Mitglied sog. communities of practice. Selbst wenn in jedem Chemielabor vergleichbare Aufgaben anfallen sollten, so ist doch jedes einzelne Laborteam eine eingespielte Gruppe für sich, die auch eine Gruppensprache als Kleinstvarietät (vgl. 2.2.3.) entwickeln kann und sich auch sonst aufeinander einspielen muss. Davon gibt Fleck (1980: 96) eine eindrückliche Demonstration im Rahmen der Behandlung der Wassermann-Reaktion. Der Versuch, sie zu reproduzieren, gestaltete sich so schwierig, d. h. die jeweiligen Ergebnisse waren so unterschiedlich, weil es sehr auf jedes Detail ankam, die exakte Dosierung, Länge der Einwirkungszeit, Genauigkeit des Ablesens der Ergebnisse usw. „Dies zeigte sich eklatant bei den Wassermann-Kongressen, die der Völkerbund veranstaltete, wo die besten Serologen aus verschiedenen Ländern gleichzeitig, aber unabhängig von einander, dieselben Blutproben untersuchten. Es ergab sich […], daß die Ergebnisse weder untereinander noch mit den klinischen Krankheitsbildern vollkommen übereinstimmten.“ (ebd.: 72) Die Gesamtheit der fachlich spezialisierten Personen bildet daher nur eine virtuelle Gemeinschaft; die Individuen gehören daneben noch anderen Gruppen an, u. a. sehr viel kleineren Interaktionsgruppen, die über bestimmte Inhalte teilweise sogar ausdrücklich nicht mit anderen kommunizieren dürfen. Das gilt z. B. für Wirtschaftsunternehmen, in denen firmeninterne Kommunikationsprozesse ablaufen, die nicht nach außen gelangen sollten. Teilweise geschieht dies aber doch und mündet mitunter in die Aufdeckung von Skandalen, die dann auch die breite Öffentlichkeit beschäftigen. Dies führt uns wieder zurück auf die Verzahnung aller Fächer mit Politik, Wirtschaft und (öffentlicher) Verwaltung. Eine relativ große Gruppe bilden alle, die ein Grundstudium in einem Fach absolviert oder sich auf anderem Wege das entsprechende Wissen angeeignet haben. Dabei legt man traditionell ein relativ breites Verständnis von Fach zugrunde, also z. B. so etwas wie Linguistik (des Deutschen) oder Mathematik. Im Grundstudium sollte man wenigstens eine grobe Vorstellung von den verschiedenen Subdisziplinen dieses Fachs gewinnen (Abb. 4.12 und 4.14). Von keinem dieser Gebiete kann man in dieser Phase mehr als Elementares lernen. Dies wird im Prinzip in Lehrbüchern, Einführungen und Handbüchern vermittelt. Sehr klein sind dagegen die Gruppen, die Kuhn besonders im Auge hat, die sich nämlich z. B. auf eine Variante eines Analyseverfahrens irgendeines Teilgebiets einer der Subdisziplinen eines Fachs spezialisiert haben. Hier <?page no="252"?> 252 5. Fächer als diskursive Konstrukte spielen die elementaren Kenntnisse (das Lehrbuchwissen) insofern keine Rolle mehr, als diese, sofern sie für das Gebiet relevant sind, als bekannt vorausgesetzt werden. Dies ist die Domäne der hochspezialisierten Literatur- - in vielen Disziplinen (den Geistes- und Sozialwissenschaften aber nicht) handelt es sich hier um Zeitschriftenaufsätze-- und der informellen Kommunikation. Dazwischen liegen Kollektive verschiedener Größe, insbesondere solche, die in einzelnen Subdisziplinen spezialisiert sind und eine größere Menge von Ansätzen in diesem Bereich zumindest kennen. Dass es sich bei Fachwelten um diskursive Konstrukte handelt, schlägt sich darin nieder, dass sie sich über Texte konstituieren und, um einen Begriff aus der Konversationsanalyse aufzunehmen, in diesen erst aushandeln, welchen Status sie Texten, Personen, Modellen, Propositionen und Begriffen zuschreiben. Diese Wissenselemente sind miteinander assoziativ vernetzt: Beispielsweise assoziieren wahrscheinlich auch die meisten Menschen des exoterischen Kreises mit Relativitätstheorie den Namen Einstein (samt dem bekanntesten Bild) - und umgekehrt; sie können die Entstehung dieser Theorie vielleicht grob zeitlich einordnen, viel mehr aber wohl auch nicht. Selbst von denen, die die berühmte (sehr einfache) Formel kennen, werden wahrscheinlich nur wenige sie erklären können. Kuhn belehrt uns darüber, dass nicht einmal Physiker die Werke von Einstein gelesen haben müssen. Die Aushandlung bzw. Konstruktion der Fachwelt geschieht nämlich über die weitere „Wanderung der Gedanken“ (Fleck), deren Gehalt sich dabei auch ins Gegenteil verkehren kann (vgl. das Beispiel von Robert Boyle in 5.2.). Ein solches (wenn auch vielleicht nicht ganz so krasses) Beispiel bietet auch die Linguistik mit Ferdinand de Saussure (1857-1913). Der exoterische Kreis verbindet mit diesem Namen gar nichts. Es wäre erfreulich, wenn nach einem Studium neben Synchronie und Diachronie die Begriffe langage, langue und parole sowie signifié und signifiant bekannt wären oder wenigstens wiedererkannt würden. Denn diese gelten als Grundbegriffe der modernen Linguistik, d. h. sie wurden im Diskurs dazu gemacht, wenngleich die Definitionen, der Sinn dieser Unterscheidungen usw. durchaus umstritten sind. Vielleicht erinnern sich manche sogar an den Titel des Buches, in dem diese Ausdrücke eingeführt und behandelt werden: Cours de linguistique générale (1916). Dieses Werk hat Saussure aber gar nicht veröffentlicht und auch nicht zur Veröffentlichung vorbereitet, sondern es geht auf Mitschriften von Hörern dieser Vorlesung zurück. Die <?page no="253"?> 253 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Festschriften sind ein besonders gutes Beispiel, um die Bedeutung persönlicher Beziehungen in der Wissenschaft zu demonstrieren. Sie spiegeln diese aber nicht unbedingt gut wider und sind sowieso eine etwas marginale Textsorte. Es handelt sich um einen Sondertyp des Sammelbands, der sich aber nicht gut verkaufen lässt, weil das die Beiträge zusammenhaltende Element eben eine Person ist und nicht ein Thema. Seit es völlig üblich ist, aus Sammelbänden nur einzelne Beiträge zu kopieren, ist es nicht mehr nötig, den Band zu besitzen, und die Gesamtheit der Aufsätze ist oft für fast niemanden außer der geehrten Person interessant. Hinzu kommt ein Weiteres: Zur selben Zeit, als sich die Technik so rasant entwickelte, also etwa während der letzten 50 Jahre, ist auch die Menge der Menschen, die in einem Fach arbeiten, enorm gestiegen, so dass es inzwischen viel zu viele potenzielle Festschriftempfänger gibt. Das sind alle Personen, die ein gewisses Alter erreicht haben (in der Regel mindestens 60 und dann bei jedem weiteren runden Geburtstag) und die ein gewisses Renommee haben. Was das genau bedeutet, ist allerdings schwer zu sagen, denn häufig fühlen sich Schüler, aber auch Freunde und Kollegen-- so bezeichnen sich meist die Bandherausgeber-- ganz einfach verpflichtet, eine Festschrift auf den Weg zu Saussure-Forschung ist nun zu der Auffassung gelangt, dass der Inhalt des Buchs die (sich noch entwickelnden) Gedanken des Genfer Gelehrten nur sehr unvollkommen wiedergibt oder sie sogar entstellt (vgl. auch 5.5.). Auch wer nicht zum esoterischen Kreis der Saussure-Forscher, aber zum Denkkollektiv deutscher Sprachwissenschaftler gehört, könnte / sollte (? ) dann noch wissen, dass er mehr darüber erfahren kann, wenn er einschlägige Schriften von Ludwig Jäger liest, dieser also ein wichtiger Autor auf dem Gebiet ist. Einer seiner Texte (Jäger 2011) ist ein nur halbwissenschaftlicher, nämlich fiktionaler, der Ein panchronisches Gespräch zwischen Sybille Krämer und Ferdinand de Saussure inszeniert, in dem dieser sich dagegen verwahrt, Autor des Cours zu sein. Jägers Text stammt aus der Festschrift zum 60. Geburtstag von Sybille Krämer, Professorin für theoretische Philosophie (mit ausgeprägt interdisziplinärer Ausrichtung) an der FU Berlin. Anders als in diesem Fall enthalten Festschriften im Allgemeinen ‚normale‘ wissenschaftliche Texte. Zum Hintergrundwissen über diese Textsorte gehört es aber, dass die Qualität der Beiträge sehr stark variiert, weil sie aus persönlicher Verbundenheit mit der gefeierten Person entstehen, möglichst etwas mit deren Interessengebieten zu tun haben sollten und zu einem fixen Termin fertig sein müssen, während die Beiträger vielleicht gerade hauptsächlich mit ganz anderen Projekten befasst sind, die zu diesem Anlass nicht gut passen. <?page no="254"?> 254 5. Fächer als diskursive Konstrukte bringen. Das verringert die Absatzchancen für jede einzelne dieser Publikationen noch stärker, so dass es schwierig wird, einen Verlag dafür zu finden. Unter diesen Bedingungen haben sich zwei Neuerungen ausgebildet. Die erste ist technischer Natur: Die Festschrift wird im Netz veröffentlicht, so auch bei Sybille Krämer. Damit entfallen die Probleme mit der verlegerischen Betreuung und Finanzierung. Die zweite versucht, die Inhalte an die Nachfrage anzupassen: Man plant thematisch homogene(re) Bände, veranstaltet eventuell auch (zunächst) ein thematisches Kolloquium zu einem der Arbeitsgebiete der betreffenden Person. Das kann allerdings auch zu Mogelpackungen führen, nämlich als thematische Sammelbände getarnten Festschriften. Die technischen Neuerungen haben auch zu einem Funktionswandel der Textsorte geführt. Früher war nämlich ein regelmäßiger Bestandteil von Festschriften das Schriftenverzeichnis, eine Zusammenstellung der Publikationen der Geehrten, eventuell auch ein Verzeichnis der bei ihnen entstandenen Dissertationen, die Aufschluss über ihr Wirken gaben. Diese Listen zusammenzustellen, war eine durchaus aufwendige Arbeit, die meist Assistenten oder Hilfskräfte leisteten. Seitdem (fast) jeder Wissenschaftler eine eigene Homepage hat, auf der sich in der Regel auch das Publikationsverzeichnis und ein Lebenslauf finden, haben sich diese Bestandteile erübrigt. Inzwischen findet man also relativ leicht Zugang zu Informationen über Wissenschaftler. Die Gestaltung dieser Selbstdarstellungen variiert sehr stark und gibt durchaus Aufschluss über persönliche Eigenschaften, die manche explizit einbringen (z. B. über ihre Hobbys oder Haustiere), während andere dem unpersönlichen Stil verbunden bleiben. Ferner ist auch der wissenschaftliche Bereich inzwischen durch die derzeit herrschenden Werte geprägt, so dass Selbstanpreisung üblich wird, um in der Konkurrenz zu bestehen (vgl. 3.3.). Für den Nachwuchs gibt es längst Kurse, in denen man lernen soll, wie man sich gut verkauft. Hier gilt das Motto: Wer seinen Lebenslauf nicht schönt, ist selbst schuld, denn das machen ja alle, und alle erwarten, dass man es macht. Diese Art von Wirklichkeitsverzerrung ist übrigens Gegenstand des Buches von Ralph Keyes, das im Zusammenhang mit dem postfaktischen Zeitalter genannt wurde (5.3.1.). Er bezieht sich also gar nicht (allein) auf den politischen Sektor, was die Diagnose, wir lebten in einer neuen Ära, in der die Wahrheit nicht mehr so wichtig ist, umso beunruhigender macht. Jedenfalls wenn man nicht bedenkt, dass solche Strategien nur erfolgreich sind, wenn nicht alle ihnen folgen. Ansonsten kommt es zu einer Inflation der Großartigkeiten, viel Schaum, den man bei der Lektüre erst einmal wieder wegbläst. <?page no="255"?> 255 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Selbstdarstellungen sind auch insofern kein geeignetes Mittel, über eine Person Aufschluss zu gewinnen, als es eben die Kollektive und nicht die betroffenen Personen sind, die den diskursiven Status zuschreiben und darüber entscheiden, welche Personen einen Namen haben. In der Wirklichkeitsschicht a) ergibt sich dieser im Wesentlichen aus den Qualifikationen (und ggf. Ehrungen), Berufsstationen (und ggf. Funktionsrollen im Wissenschaftsbetrieb und im öffentlichen Diskurs) sowie der Publikationsliste. Falls jemand einen schlechten Ruf hat, ist das meist Element der Schicht c): Es wird nicht offen ausgesprochen, dass jemand ein Schaumschläger ist, dass er seit Jahren nichts Wesentliches mehr veröffentlicht hat oder aber die Publikationsliste nur deswegen so lang ist, weil er immer dasselbe schreibt oder die Ergebnisse seiner Mitarbeiter unter seinem Namen veröffentlicht, dass er ein selbstverliebter Narziss ist, der bei der kleinsten Kritik aggressiv wird, dass er besonders gern andere Leute niedermacht usw. usf. Solches Wissen ist natürlich höchst relevant, wird aber nur in informeller Kommunikation, besonders beim Klatsch, weitergegeben. Das kennen wir ja auch aus dem privaten Bereich, und man nennt es gewöhnlich nicht Lüge, sondern Höflichkeit, wenn solche Dinge nicht offen und deutlich ausgesprochen werden. In bestimmten offiziellen Zusammenhängen sind negative Urteile sogar verboten. So kommt es auch dazu, dass in Evaluationen gut tatsächlich ‚unzureichend, schlecht‘ bedeuten kann, wenn nämlich im positiven Bereich nur sehr gut oder exzellent liegen (vgl. dazu auch die Codes in Arbeitszeugnissen). Von besonderem Interesse ist für unseren Zusammenhang die Wirklichkeitsschicht b). Es handelt sich um Dinge, die man wissen und sagen darf, die aber keiner offiziell in Kraft gesetzten Wirklichkeit entsprechen. Wenn man Kuhn Glauben schenken darf, ist diese Schicht allerdings für verschiedene Wissenschaften unterschiedlich relevant, eher weniger für solche, die Paradigmen ausgebildet haben. Umso wichtiger ist sie in den Disziplinen, in denen man sich nicht darüber einig ist, was derzeit gültige Wissensbestände sind, die in Lehrbüchern niedergelegt sind, sondern in denen verschiedene Ansätze konkurrieren. Wie ‚verleihen‘ Mitglieder solcher Denkkollektive Namen und wie kann man, wenn man (noch) nicht Mitglied ist, erkennen, wer die Namhaften (vgl. Fleck) welcher Denkkollektive sind? Am einfachsten ist es mit den echten Berühmtheiten, die auch in kleineren Universalenzyklopädien stehen und in Lehrbüchern / Einführungen im Text <?page no="256"?> 256 5. Fächer als diskursive Konstrukte erwähnt werden (vielleicht sogar mit Bild), aber nicht unbedingt im Literaturverzeichnis erscheinen, weil sie eben häufig gar nicht gelesen werden. Bei allen anderen sind es tatsächlich die Literaturverzeichnisse, die am besten die Rekonstruktion von Denkkollektiven ermöglichen. Denn die Wanderung der Gedanken besteht eben darin, dass spätere an frühere Texte anknüpfen, sie zitieren und (durchaus auch kritisch) kommentieren. Wer keinen Namen hat, wird gar nicht erst erwähnt, worin zum Ausdruck kommt, dass er - nach Ansicht des Verfassers - nichts Wesentliches zu einer Frage beigetragen hat. Verschiedene Schulen und im Wettstreit liegende Denkkollektive erkennt man besonders gut am unterschiedlichen Umgang mit bestimmten Beiträgen und Personen: Was die einen für besonders wichtig halten und immer wieder zitieren, wird von den anderen totgeschwiegen oder allenfalls mit polemischen Nebenbemerkungen bedacht. Literaturverzeichnisse sind also ein sehr geeignetes Instrument, um über die Diskurslandschaft Aufschluss zu gewinnen. Früher war dagegen die Empfehlung an Studierende üblich, für Recherchen zu bestimmten Themen periodische Bibliografien zu benutzen, und es wurde sogar die Parole ausgegeben, man müsse daraus zunächst alle einschlägigen Titel zusammenstellen. Seit sogar schon für (fast) jedes Spezialthema die Literatur völlig unüberschaubar geworden ist, muss man mit periodischen Bibliografien anders umgehen, zumal hier tatsächlich das Ideal zugrunde liegt, möglichst vollständig zu sein, so dass der diskursive Status gerade keine Rolle spielt. Insbesondere Novizen sollten ihre Recherchen gewiss nicht mit periodischen Bibliografien beginnen. Hilfreicher sind für sie Studienbibliografien, die (im Deutschen) hauptsächlich Sekundärliteratur vom Typ Einführungen / Lehrbücher, Handbücher und Spezialbibliografien zu größeren Themengebieten / Subdisziplinen verzeichnen (vgl. Abb. 4.14 und zur Textsorte weiter Adamzik 2001a: Kap. III ). Man sollte also tatsächlich mit Literatur anfangen, die für Studierende / Novizen gedacht ist (vgl. die Nummern 14.00-14.02 aus Abb. 4.13). Für manche Subdisziplinen gibt es sehr viele solcher wissensaufbereitenden Texte, in der Linguistik z. B. für die Gebiete Wortbildung, Syntax und Textlinguistik. Man kann schon diese Sekundärtexte unmöglich alle gründlich durcharbeiten, sollte aber auch nicht irgendeinen (schon gar nicht den kürzesten) auswählen, denn in ihnen wird die Fachwelt jeweils durchaus unterschiedlich konstruiert. Es besteht also die Gefahr, in den Denkstil eines der Subkollektive hineingezogen zu werden und <?page no="257"?> 257 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht sich gerade nicht die Freiheit zu erhalten, verschiedene Ausrichtungen mit dem eigenen Verstand kritisch zu prüfen. Wie kann man das bewerkstelligen, wenn einem noch kein Name oder Begriff ‚etwas sagt‘, sich keine Assoziationen einstellen, also noch (fast) keine Wissensbestände vorhanden sind? Die Situation ist der nicht unähnlich, in der Naturwissenschaftler vor neuen experimentellen Befunden stehen. Sie sehen zunächst Chaos, also eigentlich nichts, keine Gestalten. In dieser Situation werden sie nun nicht Tage oder gar Wochen damit verbringen, eine einzelne Probe immer wieder ganz genau anzuschauen. Vielmehr vergleichen sie Proben aus unterschiedlichen Experimenten miteinander, um festzustellen, ob diese auffällige Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen. Sie suchen zunächst nach besonders charakteristischen Gestalten, gewissermaßen den ersten klar identifizierbaren Buchstaben. Angewendet auf die Geisteswissenschaften geht es darum, viele Texte ‚von weitem‘ anzuschauen, d. h. sie diagonal zu lesen, um wiederkehrende Elemente, v. a. Namen, Begriffe (mit Definitionen), Schemata, Beispiele und Literaturangaben zu identifizieren. Manche davon finden sich in (fast) allen Texten wieder, das sind die einheitlich als namhaft geltenden Personen, die zentralen Begriffe / Schemata / Beispiele und Forschungsbeiträge. Andere verteilen sich in charakteristischer Weise auf Teilproben: In der einen Gruppe kehren sie regelmäßig wieder, in der anderen fehlen sie (fast) vollständig. Das verweist auf kleinere Denkkollektive wie z. B. Schulen, die sich gegenseitig ignorieren (können). Wissensaufbereitende Texte sollten solche Kollektive und Subkollektive explizit benennen, d. h. das Ergebnis entsprechender Analysen schon präsentieren, eine grobe Landkarte der Diskurswelt präsentieren. Genau deswegen besteht aber auch die Gefahr, dass sie Novizen zunächst verwirren, weil sie konkurrierende Bilder präsentieren, während man doch eigentlich nur wissen will, wie es ‚ist‘. Da sich die Konstellationen relativ schnell ändern (können), ist es bei wissensaufbereitenden Texten von größter Bedeutung, die jeweils neueste Version zu Rate zu ziehen. Hier spielt also das Erscheinungsdatum, der Faktor Zeit, eine herausragende Rolle. Für Klassiker und Forschungsliteratur gilt das dagegen ganz und gar nicht. Hier können Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte alte Texte dauerhaft relevant sein. Beim Faktor Ort sind zwei Aspekte relevant. Der erste entspricht der Wirklichkeitsschicht a), hier geht es um den Wirkungsort einer Person, und zwar v. a. die Institution, bei der jemand beschäftigt ist. Dieser erscheint heutzutage in Aufsätzen schon beim Autornamen oder am Schluss des Beitrags, bei Bü- <?page no="258"?> 258 5. Fächer als diskursive Konstrukte chern teilweise auf dem Klappentext. Sammelbände enthalten oft eine Liste der Beiträger, evtl. auch mit weiteren Informationen, z. B. zu den Hauptarbeitsgebieten. Der andere Aspekt betrifft den Erscheinungsort der Texte. Damit ist nicht der geografische Ort gemeint, an dem der Verlag seinen Sitz hat, sondern wiederum diskursive Konstrukte: Verlage, Reihen und bestimmte Sammelwerke haben selbst ein bestimmtes Renommee, das Insider assoziieren, wenn sie eine Literaturangabe sehen (vgl. ausführlicher Adamzik 2007). Ganz besonders wichtig ist dieses Kriterium bei Zeitschriften. Denn für die Disziplinen mit dem höchsten Ansehen, diejenigen, die Paradigmen ausbilden und in denen Nobelpreise verliehen werden, stellen Aufsätze in sog. referierten Zeitschriften die wichtigste Publikationsform dar. Referiert bedeutet, dass die zur Veröffentlichung eingereichten Beiträge einem Peer-Review-Verfahren unterworfen werden, das ist eine Begutachtung durch namhafte oder jedenfalls als kompetent betrachtete Kollegen. Das soll der Qualitätssicherung dienen, und man versucht, ‚subjektive Faktoren‘ auszuschließen. Dazu wird ein Verfahren namens Doppelblind-Gutachten (double-blind review) eingesetzt: Der eingereichte Beitrag ist anonymisiert, die Gutachter sehen also nicht den Namen des Autors, und der Autor erfährt nicht, wer seinen Beitrag begutachtet hat. Wenn in Literaturverzeichnissen statt des Erscheinungsjahres eingereicht bzw. submitted erscheint, bedeutet das, dass sich der Beitrag noch in diesem Begutachtungsverfahren befindet. Wie man sich angesichts des Vorangegangenen leicht vorstellen kann, hat dieses Verfahren seine Grenzen: Besonders wenn es sich um sehr kleine, hochspezialisierte Denkkollektive handelt, gibt es gar nicht viele Personen, die als Gutachter infrage kommen, und die Insider erkennen, aus welcher Ecke / welchem Denkkollektiv oder sogar von welchem Individuum ein Beitrag stammt, auch wenn der Name nicht sichtbar ist. Auch sonst (ver)führt das Verfahren zu strategischem Verhalten, das im Widerspruch zu den Idealen wissenschaftlicher Arbeit steht. So hält der Physiker Schollwöck (2009: 80) fest: „Das Aufspalten wissenschaftlicher Arbeit in mehrere ‚kleinste publizierbare Einheiten‘ zum Aufbessern der Publikationsstatistik ist […] schon seit vielen Jahren gängige Praxis.“ Dies gilt wenigstens für Disziplinen, in denen (auch sehr) kurze Beiträge in referierten Zeitschriften den größten Prestigewert haben (vgl. auch 5.5.). Im Allgemeinen ist festzustellen, dass der Erscheinungsort (fast) nie ein sicheres Merkmal für die Einschätzung des diskursiven Status oder auch der Qualität einer Publikation darstellt; zumindest gibt es keine Verlage, Zeitschriften oder <?page no="259"?> 259 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Reihen, bei denen man wirklich blind darauf vertrauen könnte, nur zuverlässige Informationen zu bekommen. Dieses Problem hat sich mit dem enormen Anwachsen von Fachliteratur erheblich verschärft und wird natürlich durch Evaluationspraktiken, die auf Zahlen setzen, noch weiter vergrößert. Ganz und gar ungeeignet ist es, das Verbreitungs-Medium als Kriterium dafür heranzuziehen, ob man einen Beitrag rezipiert oder nicht. Leider ist dieses Verfahren aber derzeit besonders üblich, und zwar v. a. bei Novizen: Was nicht frei im Internet zugänglich ist, wird gar nicht erst in die engere Wahl gezogen, zumal wenn man keine Routine darin hat, Aufsätze aus Sammelbänden von solchen aus Zeitschriften zu unterscheiden und die jeweilige Zugänglichkeit in Bibliotheken zu ermitteln. So kann es durchaus dazu kommen, dass im Diskurs völlig unbedeutende Beiträge irgendwelcher Amateure oder Outsider als Grundlage für Seminararbeiten fungieren. Daraus kann man Novizen nicht einmal einen Vorwurf machen, solange man an der Fiktion festhält, Namen bzw. allgemeiner: diskursive Konstrukte spielten in der Wissenschaft keine Rolle. Das Gegenteil ist der Fall. 5.3.3. Relationen zwischen Texten und Textsorten Wenn man dem (kommunikativen) Handeln in fachlichen Kontexten auf die Spur kommen will, ist es deswegen nicht geraten, mit Konzepten zu arbeiten, die sowohl Fächer als auch Textsorten möglichst klar gegeneinander abzugrenzen suchen. Zwischen den Ausprägungen beider Kategorien bestehen fließende Übergänge und die Bedeutung von kleineren Denkkollektiven, Personen und Einzeltexten wird in unangemessener Weise herabgestuft. Man blendet so theoriebzw. methodenbedingt Beziehungen und Vernetzungen aus, die für das (längerfristige) praktische Handeln und damit aus der Perspektive der Akteure gerade besonders wichtig sind. Aus pragmatischer Sicht stellt sich die Frage: Welche Menschen, Texte oder auch Textsorten gehören handlungspraktisch gesehen zusammen und müssen in ihrem Zusammenspiel betrachtet werden? Eine theoriegeleitete, möglichst saubere Abgrenzung praktisch miteinander verbundener kommunikativer Aufgaben und Texte und die Zusammenfassung ‚derselben‘ Textsorten aus verschiedenen Fächern in einer Kategorie entspricht dagegen der Sicht eines außenstehenden Beobachters, dem es gar nicht um die Perspektive der (fachlich) Handelnden geht. Das Ideal einer linguistisch fundierten Typologie- - die nach einem einheitlichen Kriterium erfolgende exhaustive und eindeutige Zuordnung jeder <?page no="260"?> 260 5. Fächer als diskursive Konstrukte Textsorte zu einer überschaubaren Menge von Typen- - kommt einem rein linguistischen Konstrukt gleich, das den pragmatischen Kontext, in dem Texte stehen, geradezu vorsätzlich ausblendet. In Bezug auf (Gebrauchs-)Textsorten allgemein wird diese Diskussion seit Jahrzehnten geführt-- mit dem Ergebnis, dass heute nur noch wenige das Projekt einer Universaltypologie verfolgen. 71 Angesichts dessen ist es alles andere als verwunderlich, wenn die Ergebnisse entsprechender Bemühungen aus der Fachsprachenlinguistik weder in den diversen Fächern noch in der Öffentlichkeit oder bei linguistischen Novizen auf großes Interesse stoßen (vgl. Kap. 1.)- - ein solcher Ansatz geht an den pragmatischen Realitäten vorbei. Anders gesagt und um die Ausführungen aus 4.2. aufzunehmen: Außer entsprechend ambitionierten Linguisten gibt es keine universalen Benutzer von Fachtexttypologien. Große Bedeutung haben dagegen einerseits Grobunterscheidungen (mit niedrigem Beschreibungs- oder gar Erklärungsanspruch), andererseits Text(sorten)beschreibungen für eingeschränkte Kontexte (vgl. dazu weiter 5.3.4.). Die bekannteste Grobsortierung schriftlicher Fachtextsorten (des Englischen) stammt von Rosemarie Gläser (1990). Auf der obersten Ebene geht es ihr durchaus um größere Handlungskomplexe; sie greift nämlich die Unterscheidung von fachinterner und fachexterner Kommunikation auf (Abb. 5.2). 72 71 Vgl. als Überblick Adamzik (2008). Als wesentliches und unauflösbares Problem solcher Typologien wird dort angeführt, dass eine überschaubare Menge von Typen notwendigerweise zu sehr großen und heterogenen Mengen von Einheiten führt. Dies gilt selbst für die insgesamt immerhin 109 Unterklassen umfassende Typologie von Rolf (1993). 72 Von der interfachlichen sagt sie: „Die interfachliche Kommunikation kann in diesem Modell jedoch nicht repräsentiert werden, sondern ergibt sich zumeist aus der Thematik des konkreten Textexemplars einer Fachtextsorte“ (Gläser 1990: 47; Kursivierung im Orig. gesperrt). <?page no="261"?> 261 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Abb. 5.2: Typologie schriftlicher Fachtextsorten (Gläser 1990: 50 f.) <?page no="262"?> 262 5. Fächer als diskursive Konstrukte Didaktisierende Textsorten erscheinen in beiden Komplexen, so dass der fachinterne die traditionellen Aufgaben von Universitätsdozenten, Forschung und Lehre, umfasst, daneben aber auch Organisatorisches und Gruppenkonstituierendes (interpersonale / kontaktive Textsorten), ferner direktive Textsorten (die ich allerdings wenigstens teilweise eher als deklaratorische einstufen würde). Hier haben wir es insgesamt also mit Handeln im Beruf zu tun, inklusive der wissenschaftlichen und beruflichen Ausbildung. Bei den fachexternen geht es dagegen eher um Allgemeinbildung (Schule, Populärwissenschaft) und Alltagshandeln, nämlich Kontexte, in denen Laien notgedrungen mit Fachtexten umgehen müssen, um irgendwelche Ziele zu erreichen. Ausdrücklich berücksichtigt wird auch, dass Textsorten verschiedener Gruppen miteinander zusammenhängen: Gläser rechnet nämlich neben sog. Primärtextsorten mit Prä- und Quasi-Textsorten (letztere sind nicht ausformuliert und haben daher für Gläser einen unklaren Textualitätsstatus), ferner abgeleiteten bzw. Post-Textsorten. Geht man von einzelnen Textsorten aus, so kommt deren Vernetztheit tatsächlich als erstes im Sinne syntagmatischer Intertextualität in den Blick, also als eine Kette mehr oder weniger systematisch aufeinander folgender Textsorten. Anders als bei der aus der Literaturwissenschaft vertrauten Unterscheidung von Primär- und Sekundärliteratur ähneln bei Fachtexten die Primärtexte allerdings den abgeleiteten sehr stark, sie sind nämlich ebenfalls grundsätzlich und explizit auf Vorgängertexte bezogen. So muss z. B. in wissenschaftlichen Texten die Forschungsliteratur eingearbeitet, aufbereitet, zusammengefasst werden usw. Teilweise sind die Verfahren, nach denen bestimmte Textsorten auf der Grundlage anderer hervorgebracht werden, höchst komplex und außerdem explizit festgelegt. Dies hat Josef Klein zunächst am Gesetzgebungsverfahren demonstriert und dann auch auf andere Textsorten angewendet (vgl. Klein 1991, 2000b und dazu Adamzik 2002b). Eine große Rolle spielen die Bezüge zwischen Textsorten auch in dem Modell von Göpferich (Abb. 5.3): Sie grenzt mit einem dicken Balken, der für Selektion / Komprimierung steht, in der Horizontalen wissenszusammenstellende Texte ab und in der Vertikalen Sekundärtextsorten (Gruppe V.). Außerdem sind auf der Ebene IV . systematisch Doppelpfeile eingesetzt. Göpferich beschränkt ihre Typologie auf den Bereich Naturwissenschaft / Technik; abgesehen von den juristisch-normativen Texten ist sie aber grob gesehen auch für andere Bereiche plausibel. <?page no="263"?> 263 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Abb. 5.3: Fachtexttypologie (Göpferich 1995: 124) <?page no="264"?> 264 5. Fächer als diskursive Konstrukte Hierarchisch organisierte Gesamtübersichten wie die von Gläser und Göpferich stehen grundsätzlich vor dem Problem, dass sie weder die vielfältigen Beziehungen zwischen Textsorten noch gegenstands- oder aufgabenspezifische Relationen erfassen können. Ihr Zweck kann nur darin bestehen, eine grobe Übersicht zu gewährleisten. Jede tiefergehende Arbeit setzt dagegen die Auswahl einer bestimmten Fragestellung voraus. Texte und Textsorten sind sehr komplexe Entitäten, d. h. sie haben sehr viele Eigenschaften bzw. man kann sie unter unterschiedlichen Aspekten betrachten und dementsprechend auch zu Klassen zusammenfassen. Göpferichs Modell zeichnet sich dadurch aus, dass sie sehr explizit die Typologisierungskriterien nennt. Auf den oberen Ebenen sind das: I. Funktion, II . Theorie vs. Praxis, III . Art der Informationspräsentation. Beim III . Typ kommen sehr unterschiedliche Subkriterien zum Einsatz, z. B. betreffen publizistisch aufbereitet, mnemotechnisch organisiert, Interesse weckend und satzfragmentarisch Eigenschaften, die sich nicht auf denselben Aspekt beziehen und einander jedenfalls nicht ausschließen- - es wäre ja wirklich bedauerlich, wenn Lehrbücher nicht auch Interesse wecken könnten. Auch die Kriterien I.- III . schließen einander nicht aus; sie betreffen verschiedene Texteigenschaften und liegen quer zueinander. Anders gesagt: Es handelt sich um unterschiedliche Beschreibungsdimensionen. Eine vollständige Beschreibung (die keineswegs immer möglich oder nötig ist) erfordert die Spezifizierung in allen Dimensionen, allerdings nebenbzw. nacheinander und nicht gleichzeitig in einer einzigen Typologie. In der Textlinguistik bezeichnet man dieses (auch sonst allgemein übliche) Verfahren als Mehr-Ebenen-Klassifikation, die dem Ansatz zugrunde liegt, der in Abbildung 5.1 visualisiert ist. Zu den Kommunikationsbereichen kann man z. B. Schule, Massenmedien, Politik usw. rechnen (vgl. die Übersicht in Adamzik 2016a: Tab. 4.1), d. h. es handelt sich immer noch um sehr große Bereiche, die in sich weiter zu differenzieren sind, und zwar unter Hinzuziehung anderer (Sub-)Dimensionen: Sowohl bei Schule als auch Massenmedien wird man als erstes eine Untergliederung nach Thema, d. h. Fächern bzw. Ressorts, vornehmen bzw. einzelne davon zur genaueren Untersuchung auswählen. Der in der Fachsprachenlinguistik stark betonte Gegensatz zwischen Experte und Laie gehört dagegen in die Dimension Produzent und Rezipient. Wiederum quer dazu liegt die Dimension Funktion. Der Versuch, Kommunikationsbereiche unmittelbar „als situativ und sozial definierte ‚Ensembles‘ von Textsorten“ ( HSK 16: XX ) zu beschreiben, überspringt eine allzu große Kluft und vernachlässigt intermediäre Ebenen, die für <?page no="265"?> 265 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht die Handlungspraxis besonders wichtig sind und bei denen es gerade darum geht, verschiedenartige Beziehungen zwischen Textsorten zu explizieren. Eine Umfokussierung in diesem Sinne ist charakteristisch für die jüngere Textlinguistik: „Die veränderte Haltung zur Bedeutung der Beziehungen zwischen Texten stellt die wohl wichtigste Neuerung in der textlinguistischen Diskussion des letzten Jahrzehnts dar-[…]. Während in der Frühzeit der Textlinguistik die Vorstellung zentral war, dass der Text die (neue) oberste Einheit linguistischer Beschreibung darstellt und der Nachweis seiner Abgeschlossenheit als besonders wichtig galt, ist es inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden, auch die Relationen zwischen Texten zu berücksichtigen.“ (Adamzik 2016a: 322) Ein Problem bei allen Klassifikationen von Texten und Textsorten besteht darin, dass beide Begriffe-- selbstverständlich! -- in der Literatur sehr unterschiedlich verwendet werden. Man streitet also darüber, wo die Grenzen eines Textes sind, wie viele und welche Merkmale genau Texte gemeinsam haben müssen, um als Textsorte zusammengefasst werden zu können, usw. Auch die Bezeichnungen für einzelne Textsorten werden sehr uneinheitlich verwendet. 73 Dies kann hier nicht ausführlicher dargestellt werden (vgl. dazu Adamzik 2016a: Kap. 2. und 8.1.). Hier wird mit einem gänzlich unspezifischen, also sehr weiten Begriff von Textsorte gearbeitet, der alles umfasst, was je irgendjemand als Textsorte bezeichnet hat; das DUW führt als Beispiele für Textsorten etwa Gespräch, Erzählung und Werbespruch an. Im Weiteren werden die Relationen zwischen Textsorten näher erläutert (vgl. dazu auch ebd.: Kap. 8.2.). Textsorten i. e. S. stellen so etwas wie konventionalisierte komplexe Sprachgebrauchsmuster dar und sind insofern mit Lexemen vergleichbar, als sie aus dem Gedächtnis abgerufen werden können. So wie man einzelne Lexeme kaum sinnvoll beschreiben kann, ohne die Beziehungen zu anderen zu berücksichtigen, bilden auch Textsorten ein komplexes Gefüge von Einheiten. Systematisierungen auf der lexikalischen Ebene sollen im Folgenden auf die Textebene übertragen werden. Bei den Lexemen unterscheidet man sehr verschiedenartige Beziehungen: Neben den syntagmatischen (Kollokationen) werden sie insbesondere gruppiert nach Wortarten (Substantiv, Verb usw.), 73 Vgl. die Liste von Textsortenbezeichnungen im akademischen Bereich mit Erläuterungen aus DUW und dem Synonymwörterbuch des Dudens: www.unige.ch/ lettres/ alman/ index.php/ download_file/ view/ 591/ 393/ ; <6. 11. 2017>. <?page no="266"?> 266 5. Fächer als diskursive Konstrukte Wortfeldern (z. B. Farbwörter), Wortfamilien (mit gleichem Stamm, z. B. Farbe, färben, farbig), Wortbildungstypen (Simplizia, Ableitungen usw.), Varietätenspezifik und Stilebenen (vgl. Kap. 2.1.), Herkunft (Erbwort, Lehnwort) und Sachbereichen (so in onomasiologischen Wörterbüchern). Dabei sind Einteilungen unterschiedlichen Feinheitsgrades möglich und je nach Kontext sinnvoll. So gehören die Wörter eines Wortfeldes (jedenfalls nach herkömmlicher Definition) alle derselben Wortart an. Wie weit man aber die inhaltlichen Grenzen zieht, ist nicht festgelegt. Daher gibt es innerhalb von Wortfeldern wiederum enger begrenzte Gruppen, bei Personenbezeichnungen z. B. Berufs-, Herkunfts-, Verwandtschaftsbezeichnungen usw. Für bestimmte Zwecke ist es sinnvoll, mehrere Kriterien zu kombinieren, z. B. Personenbezeichnungen nach Wortbildungstypen zu untergliedern. Es ist aber nie der Versuch unternommen worden, eine Typologie von Wortsorten vorzulegen, die alle relevanten Eigenschaften berücksichtigt und in der sich jedes Lexem an einer bestimmten Stelle verorten lässt. Das wäre schon für den Grundwortschatz undenkbar; abgesehen davon ist auch unklar, welchem Zweck das dienen sollte. Auf der Textebene verhält es sich ähnlich. Angesichts dessen ist es bemerkenswert, dass Sigurd Wichter (2005, 2011, 2015) eine Reihentheorie entwickelt hat, die es erlaubt, alle Relationen zwischen Texten in einem einheitlichen Format zu erfassen. Ihm geht es allerdings nicht darum, Textsorten zu typologisieren, sondern die Vernetzung von Texten und Gesprächen in ihrem zeitlichen Ablauf zu modellieren, also eine Art Syntax für die textuelle Ebene zu entwerfen. Die Frage richtet sich dabei nicht mehr darauf, wie Sätze zu Texten, sondern wie Texte zu übergeordneten Kommunikationseinheiten verkettet werden. Wichter fasst Gespräche und Texte (samt ihrer Rezeption) als relativ abgeschlossene Einheiten unter den Oberbegriff Kommunikat. „Die Abgeschlossenheit der Kommunikate-[…] ist deshalb nur relativ, weil sie ihrerseits Elemente einer höheren Kommunikationseinheit sind. Die Konzipierung und Durchführung von Gesprächen und Textkommunikaten unterliegt nämlich in aller Regel übergreifenden Zwecksetzungen der Kommunikationspartner bzw. der kommunikativ handelnden Akteure, also solchen Zwecksetzungen, die über das einzelne Kommunikat hinausgehen. Eine Kommunikationseinheit, die diesen übergreifenden Zwecksetzungen entspricht-[…] und auf diese Weise eine Folge von Kommunikaten und ggf. Teilkommunikaten umfasst-[…], nennen wir eine Reihe.“ (Wichter 2005: 199; Hervorhebungen im Orig.) <?page no="267"?> 267 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Kommunikate sind die grundlegende Einheit, Reihen bezeichnet Wichter auch als Superkommunikate. Einbezogen sind in den Beschreibungsapparat auch Teileinheiten von Kommunikaten, die Wichter auch Subkommunikate nennt. Die niedrigste Ebene der Reihentheorie sind Sprechakte. Gesellschaftliche Diskurse werden als (sehr komplexe) Reihen rekonstruiert. 74 Die Arbeiten von Wichter sind sehr materialreich und von dem Bemühen um eine systematische und saubere Analyse (mit Ansätzen zur Formalisierung) geprägt, die alle möglichen Konstellationen umfasst. Sie münden in eine Typologie von Reihen. Ihre Lektüre ist nicht zuletzt wegen vieler neuer Termini sehr anspruchsvoll. Wir begnügen uns daher hier mit einer einfacheren Übersicht, in der die verschiedenen Relationen separat behandelt werden. 75 Außerdem geht es auch um virtuelle Relationen, nicht zuletzt paradigmatische, die nur z. T. in einem Handlungszusammenhang auch tatsächlich alle produziert bzw. konsultiert werden. Auf der schon angesprochenen syntagmatischen Ebene stellt man Textsorten zusammen, die in einen übergeordneten Handlungszusammenhang gehören und damit Bestandteil einer Textsortenkette sind. Das entspricht bei Wichter einfachen Reihen. Er behandelt unter vielen anderen z. B. Textsorten, die bei der Schadensregulierung nach einem Autounfall oder der Durchführung einer Vorlesung anfallen. Das entspricht dem Typ A in der folgenden Abbildung, in der auch die Relationen, die im Folgenden noch besprochen werden, im Überblick zusammengestellt sind. 74 Vgl. Wichter (2005: 4.2.6) zum Computer-, Rechtschreibreform- und Migrationsdiskurs. 75 Da in diesem Abschnitt viele Ausdrücke für komplexere Handlungszusammenhänge und Textsorten vorkommen, sind diese durch Kapitälchen bzw. Unterstreichung markiert, um die Lektüre zu erleichtern.- - Die verschiedenen Relationen schließen einander nicht aus, daher ist es nicht als Fehler zu bewerten, wenn manche Ausdrücke in mehreren Abschnitten erscheinen. <?page no="268"?> 268 5. Fächer als diskursive Konstrukte Abb. 5.4: Relationen zwischen Text(sort)en Auf der paradigmatischen Ebene (B) lassen sich Textsorten zusammenfassen, die in etwa denselben Zweck erfüllen, von denen man also die eine oder andere wählen könnte. Bei Wortfeldern wird zwar an einer Textstelle normalerweise nur eine Einheit gewählt, die Textkohärenz kommt aber u. a. darin zum Ausdruck, dass ein Text im Sinne eines roten Fadens mehrere Lexeme aus demselben Wortfeld aufweist. Begeben wir uns auf die Ebene eines größeren fachlichen Handlungskontextes, so ist es ebenfalls sinnvoll, nicht nur mehrere Texte derselben Textsorte, sondern auch solche aus demselben Textsortenfeld zu rezipieren. Wer sich in ein Gebiet einarbeiten will, muss sich zunächst einen Überblick über den Forschungsstand verschaffen; dafür empfehlen sich die Textsorten Einführung, Lehrbuch, Handbuch und ferner die Kapitel zum Forschungsstand aus Monografien, insbesondere Qualifikationsarbeiten wie Promotions- oder Habilitationsschriften. Wer sich dagegen nur punktuell über einen Fachbegriff informieren will, kann bei geringem Informationsbedarf in einem Universalwörterbuch oder Fremdwörterbuch nachschlagen (wo sich allerdings nur ein Teil des fachsprachlichen Wortschatzes findet). Universalenzyklopädien liefern ausführliche(re) Sachinformationen. Diese <?page no="269"?> 269 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Textsorten wenden sich bevorzugt an ein fachexternes Publikum. Wenn diese die gesuchten Ausdrücke nicht enthalten oder man fachspezifischere Informationen braucht, kann man in Fachwörterbüchern oder Glossaren (in der Regel als Teiltext von Büchern realisiert) nachschlagen. Am geeignetsten sind aber die Teiltexte Definition samt Erläuterungen und Beispielen aus (wissensaufbereitenden) Büchern oder Artikeln bzw. Aufsätzen aus Fachenzyklopädien (vgl. dazu weiter 5.4.). Zu den besonders umstrittenen Fragen bei der Textsortendefinition gehört es, ob auch nur formal (gemeint ist insbesondere: nicht auch funktional) ähnliche Einheiten wie Buch unter diesen Begriff fallen sollen oder nicht. Viele lehnen eine solche ‚Ausweitung‘ des Begriffs ab und bezeichnen nur situativ (meist medial) bestimmte Einheiten dann meist als Kommunikationsformen oder- -arten. Zwei von den im DUW genannten Beispielen würden sie aus diesem Grund nicht als Textsortenbezeichnung akzeptieren, nämlich Gespräch und Erzählung. Das dritte Beispiel würden viele aus einem anderen Grund ablehnen, Werbesprüche treten nämlich in der Regel nur als Teiltext von Werbeanzeigen oder--spots auf. Da hier ein sehr weiter Textsortenbegriff gilt, folgen wir dieser Differenzierung nur insoweit, als für Kommunikationsarten im erläuterten Sinn ein besonderer Relationstyp angesetzt wird (C), der sich mit Wortarten parallelisieren lässt. Ebenso wie man nur mit relativ wenigen Wortarten rechnet (jedenfalls im Vergleich zu Wortfeldern oder -familien), ist die Anzahl der Kommunikationsarten überschaubar. Als grundlegend gilt im Allgemeinen die Unterscheidung zwischen schriftlich und mündlich. Diese lässt sich aber nicht sauber durchführen, da das eine in das andere umgesetzt werden kann und beide Arten außerdem häufig zusammen vorkommen (vgl. Adamzik 2016a: Kap. 2.5.2.). Will man die Ergebnisse fachlicher Arbeit einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen, so wird man Schrifttexte wählen, speziell Monografien 76 oder Aufsätze, die in Zeitschriften oder Sammelbänden erscheinen. Sie um- 76 Der Ausdruck Monografie (im DUW erläutert als ‚größere wissenschaftliche Einzeldarstellung‘) gehört zu denen, die besonders uneinheitlich verwendet werden (vgl. Adamzik 2007: 3.3.). Hier wird er im Sinne einer publikationstechnischen Kategorie behandelt, nämlich als selbständige Veröffentlichung. Sie kann durchaus von mehreren Autoren stammen und umfasst allein wegen ihrer Länge normalerweise mehr (Teil-)Themen als Aufsätze. Spezifisch ist, dass sie nicht als Teiltext einer Zeitschriftennummer oder eines Sammelbands erscheint (so etwas fasst man unter der Kategorie unselbständig zusammen). <?page no="270"?> 270 5. Fächer als diskursive Konstrukte fassen teilweise selbst wiederum verschiedene Kommunikationsarten, neben Fließtext Tabellen, Grafiken, Abbildungen aller Art, Formeln und Listen. Nicht unbedingt auf das Visuelle beschränkt ist man bei Hypertexten. Aufsätze in Sammelbänden entsprechen oft einem Nachtext (syntagmatische Relation! ) zu Vorträgen auf Tagungen, also einer mündlichen Textart. Diese werden heute allerdings sehr oft durch animierte Präsentationen (vom Typ Powerpoint) unterstützt, die selbst eine multimediale Form sind, aber nur ein Bestandteil der (wegen der Körpersprache) per se multimedialen Kommunikationsart öffentlicher Vortrag. Integrieren kann man auch Ausschnitte aus Filmen oder Audioaufzeichnungen. Im Internet findet man aber auch viele in PDF umgesetzte Präsentationen, bei denen man also nur eine Text-Bild-Kombination vor sich hat und zudem nicht immer klar ist, aus welchem größeren Handlungszusammenhang das Kommunikat stammt. Den Vorträgen, die zusätzlich auch gern durch sog. Handouts unterstützt werden, folgt in der Regel eine Diskussion. Noch wichtiger finden allerdings viele Teilnehmer Gespräche am Rande von Tagungen. Solche können leider mit Vortragenden nicht stattfinden, wenn diese nur per Video zugeschaltet sind. In diesem Fall könnte man auf Briefe, E-Mails, Telefongespräche oder diverse andere Kommunikationsarten zurückgreifen, die per Internet möglich sind. Zu jeder Tagung gehören Plakate und diverse Schilder, sei es zur Orientierung im Raum, sei es zur Personenidentifikation: Namensschilder. Mit den im Vorangehenden präsentierten Kommunikationsarten ist deren Gesamtheit zweifellos nicht erschöpfend erfasst, ihre Menge ist aber längst nicht so unüberschaubar wie die bei anderen Relationen. Das gilt besonders für die Parallelkategorie zu Wortfamilien, also Textfamilien (D). Allgemein gefasst gehören zu einer Textfamilie alle Texte, die über denselben Gegenstand handeln und identische Propositionen und Argumentationen, großenteils auch dieselben Beispiele enthalten. Wie Wortfamilien zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie mindestens ein Element gemeinsam haben. Im engeren Sinn müssen Elemente einer Wortfamilie das zentrale (lexikalische) Morphem gemeinsam haben. Das sind also insbesondere Ableitungen zu einem Simplex. Weniger klar ist schon, wie man mit Komposita umgeht. 77 77 Wie umfangreich Wortfamilien sind, wenn man Komposita einbezieht, zeigt besonders gut die Komponente Wortbildung von www.canoo.net/ . Wegen der Darstellungsweise dieses Informationssystems ist die Menge der z. B. unter Farbe erscheinenden Ausdrücke im wahrsten Sinne des Wortes unüberschaubar, allein zu farbig wird auf 72 weitere Ausdrücke verwiesen, die unter diesem Lexem abzurufen sind. <?page no="271"?> 271 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Für Mengen von Wörtern, die nur ein übereinstimmendes Wortbildungselement aufweisen (z. B. zer- oder -heit), hat man spezielle Fachbegriffe eingeführt, die sich natürlich auch auf die Textebene übertragen ließen. Da es hier aber nicht um eine Multiplizierung von Fachausdrücken geht, die ohnehin wenig Chancen haben, von der Fachwelt übernommen zu werden, lege ich einen weiten Begriff von Textfamilie zugrunde, der an ausgewählten Beispielen aus dem Kontext Fachsprache exemplifiziert werden soll. Wie schon bei den Textsortenfeldern erläutert, bilden Definitionen einen wesentlichen Bestandteil fachlicher Texte. Das liegt eben daran, dass Begriffe nicht ein für alle Mal explizit definiert sind, sondern in vielen Fällen in jedem einzelnen Text (oder sogar Teiltext) verdeutlicht werden muss, wie ein Ausdruck verwendet wird. Diese Kontextabhängigkeit von Definitionen hat Roelcke (2010: Kap. 3.2) eindringlich hervorgehoben (vgl. dazu auch Adamzik 2016a: Kap. 2.1.). Dass man nicht auf anderswo verbindlich gesetzte Definitionen zurückgreifen kann, bringt es mit sich, dass Fachtexte, die inhaltlich enger zusammengehören, nicht nur in einer Reihe von themenbedingten Lexemen übereinstimmen, sondern auch wiederkehrend die gleiche Definition enthalten (meist aus einem als schulbildend behandelten Text). Es ist natürlich auch möglich, dass vorliegende Definitionen, Klassifikationen usw. problematisiert werden. Das ist genau dann der Fall, wenn es sich um offene Forschungsfragen, konkurrierende Analyseansätze u. Ä. handelt. Neben den Definitionen kehren selbstverständlich auch andere Bestandteile aus Werken wieder, die als Meilensteine in der Disziplinentwicklung bzw. als Klassiker gelten, etwa in Form von geradezu obligatorischen Zitaten. Dabei kann es sich auch um bestimmte Formeln oder grafische Modelle handeln (z. B. das berühmte Zeichen-Ei von de Saussure, vgl. dazu 5.5.). Auch die Abbildung 4.3 sowie die Definition von Hoffmann findet man in sehr vielen Texten zum Thema Fachsprache wieder. Man hat sich in ein Fachgebiet eingelesen, wenn man diese Kernelemente in einem Text unmittelbar wiedererkennt-- und deswegen auch in vielen Fällen über diese Passagen schnell hinweglesen kann, weil man das alles schon aus anderen Texten kennt. Aufmerksam braucht man in diesem Fall nur darauf zu sein, ob eventuell nicht-erwartbare oder neue Elemente erscheinen. So etwas zu erkennen, ist aber nur für Personen relativ einfach, die schon sehr viel von der relevanten Literatur gelesen haben, denn Abweichungen vom Üblichen zeigen sich oft nur in Anspielungen oder ungewöhnlichen Formulierungen. <?page no="272"?> 272 5. Fächer als diskursive Konstrukte Ein besonders wichtiges Kernelement von Textfamilien sind Namen sowie Literaturangaben, die im Fließtext oder in Anmerkungen platziert werden (in bestimmten Disziplinen in Form vollständiger oder gekürzter bibliografischer Angaben, in anderen in Gestalt von Nummern, u. a. in der Linguistik nach dem Autor-Jahr-System). Die Literaturverzeichnisse fachlicher Texte bilden eine Art Ahnentafel des Autors und werden nur von Novizen bei der Lektüre nicht konsultiert (mitunter sogar nicht einmal mitkopiert). Wie man bei der Rezeption wissenschaftlicher Texte mit der zitierten Literatur umgeht, unterscheidet fachlich versierte Leser wahrscheinlich besonders gut von solchen mit geringem Vorwissen: Letztere suchen in Fachtexten Informationen über Gegenstände oder Gegenstandsbereiche; für sie sind also die Inhalte zentral und damit auch die Annahme, dass die Experten wissen, wie es sich mit diesen Gegenständen verhält. Wer das jeweils wann wo und wie herausgefunden bzw. postuliert hat, ist ohne Belang. Fachlich versierte Leser wissen dagegen schon vieles von dem, was Laien erst lernen wollen. Sie suchen daher in Texten etwas anderes und achten auf anderes. Das sind nun gerade Informationen darüber, welche Texte der Autor zitiert und wie er sich dazu positioniert, kurz: wie er sich in den Fachdiskurs einordnet. In Texten, die für ein spezialisierteres Publikum gedacht sind (den fortschrittsorientiert-aktualisierenden Texten nach Göpferich), werden nun-- aus den oben angesprochenen Gründen der Ökonomie- - die Elementaria der Disziplin oder Schule gerade nicht immer wieder neu explizit ausgeführt. Bestimmte Begriffe oder Formulierungen sind für Eingeweihte hinreichend, um zu erkennen, welcher Gruppe der Autor angehört oder auf welche Gruppe(n) er sich bezieht. Insider haben das nötige Vorwissen, um Implizites bzw. nur Mitgemeintes zu entschlüsseln. Für die Gruppe der Eingeweihten funktioniert dieses Verfahren bestens. Diese Gruppe ist aber in der Regel sehr klein, weil allein hochspezialisierte Personen nicht nur die Basisliteratur, sondern auch (fast) alle relevanten Texte der zu einem Spezialgebiet gehörenden Forschungsliteratur gelesen haben, also ein wirklich weitgehend übereinstimmendes Vorwissen haben. Das betrifft natürlich immer nur einen sehr eng umgrenzten Inhaltskomplex, zu dem es eine auflistbare Menge von spezialisierten Texten gibt, die ein Individuum auch tatsächlich innerhalb einiger Monate lesen kann. Auszuschließen ist wohl, dass es auch nur zwei Experten eines Faches gibt, die genau dieselben Texte gelesen- - und diese auch noch in übereinstimmender Weise verstanden-- hätten. Neuansätze im wissenschaftlichen Diskurs kommen vielmehr oft gerade dadurch zustande, dass jemand Spezialkenntnisse auch zu <?page no="273"?> 273 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht einem oder mehreren anderen Spezialgebieten oder gar zu anderen Fächern hat und diese auf das vorliegende Problem anwendet. Daraus, dass jeweils nur eine kleine Gruppe weitgehend übereinstimmendes Vorwissen hat, ergibt sich gerade die Pflicht zum Nachweis aller relevanten Quellen in wissenschaftlichen Texten. Das soll nämlich sicherstellen, dass hier kein Geheimwissen verhandelt wird, zu dem Neulinge oder Außenstehende nur schwer Zugang finden können. Im Prinzip müssen wissenschaftliche Texte für jeden zugänglich und nachvollziehbar sein. Das erfordert ‚nur‘, dass man die Anstrengung auf sich nimmt, sich das vorausgesetzte Wissen anzueignen, d. h. sehr viele Texte zu lesen. Praktisch ist es aber nicht in jedem-- wohl besser gesagt: in keinem- - Einzeltext möglich, wirklich alle relevanten Vortexte anzuführen, denn deren Menge ist in der Regel viel zu groß. Vollständige Explizitheit ist also nur im gesamten Textnetz gewährleistet. Das macht es auch so schwierig, einen Text zu verfassen, der gegenüber Plagiatsvorwürfen wirklich ‚wasserdicht‘ ist (vgl. 5.3.2.). Aus der Gesamtheit relevanter Texte auswählen muss der Verfasser besonders dann, wenn sein eigener Text starken Umfangsbeschränkungen unterliegt. Bei wissenschaftlichen Aufsätzen ist das im Allgemeinen der Fall. Umgekehrt enthalten Monografien häufig außerordentlich umfangreiche Literaturverzeichnisse und nicht selten Anmerkungen von einer halben Seite oder mehr, in denen die verschiedenen Positionen zu einer Frage zusammengefasst sind-- samt den Verweisen auf die Texte (wünschenswert: die genauen Textstellen! ), wo sich das nachlesen bzw. -prüfen lässt. Nachzuprüfen ist dabei weniger, ob der Autor richtig zitiert hat-- das sollte vorausgesetzt werden können. Vielmehr geht es darum zu überprüfen, wie der Autor den zitierten Text verstanden, interpretiert und in die Gesamtdiskussion eingebettet hat. Besonders charakteristisch ist eine solche Aufbereitung des Diskussionsstands für Qualifikationsschriften, da eine ihrer Funktionen darin besteht, nachzuweisen, dass man die relevanten Vortexte kennt und verarbeitet hat. Neben den hochspezialisierten (Kurz-)Texten gibt es noch andere Kontexte, in denen man der Nachweispflicht nicht nachkommt, allerdings aus dem entgegengesetzten Grund. Gemeint sind Vermittlungstexte aus dem außeruniversitären Kontext, nämlich Schulbücher und popularisierende Texte. Das Vorwissen des Zielpublikums ist in diesem Fall besonders gering und die Autoren setzen voraus, dass dieses auch gar nicht (so genau) wissen will, wer nun einen Begriff geprägt oder ein Modell entworfen hat, welchen Ansätzen es entgegengestellt wird usw. Bei Berühmtheiten fällt allenfalls der Name. Teil- <?page no="274"?> 274 5. Fächer als diskursive Konstrukte weise fehlen aber auch jegliche Spuren der Originalarbeit, die Inhalte scheinen zum fachlichen Allgemeingut oder überhaupt zum Allgemeinwissen zu gehören (vgl. dazu weiter 5.5.). Dürfen auch Studierende irgendetwas als (für Fachleute) allgemein bekannt voraussetzen oder müssen sie die mehr oder weniger zufällig herangezogenen Vermittlungstexte zitieren? Das kann zu Formeln führen wie Nach [Vermittlungstext] sind Konjunktionen nicht flektierbar, eine Aussage, die erkennen lässt, dass der Autor das allgemein Gültige, d. h. von allen Akzeptierte (noch) nicht von einer speziellen Forschungsposition unterscheiden kann. So lange man noch nicht in ein Fach eingearbeitet ist, bleibt es aber extrem schwierig zu erkennen, welche Aussagen auf jeden Fall mit einer Quelle nachgewiesen werden müssen und für welche ein solcher Nachweis geradezu verboten ist. Pragmatisch läge es am nächsten, auf Unterlagen zurückzugreifen, die in Vorlesungen oder Seminaren benutzt werden. Das entspricht aber gerade nicht dem Erwünschten, denn wissenschaftliche Texte sollen situationsentbunden sein und nur aus allgemein zugänglichen Quellen zitieren. 78 Soll man also bei jedem Fachbegriff auf Erläuterungen aus Fachwörterbüchern zurückgreifen? Es besteht die Gefahr, dass man in diesem Fall mit der ersten Seminararbeit nie zu Ende kommt, jedenfalls dann nicht, wenn man Begriffe verwenden muss, zu denen mehrere oder sogar viele Definitionen existieren und die in der Forschung selbst umstritten sind. Unklar ist ferner, was als Quelle zugelassen ist. Dies zeigt z. B. die noch immer aktuelle Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen man in einer Seminararbeit (nicht) aus Wikipedia zitieren darf, obwohl über manche Inhalte überhaupt nur dort ausführliche und sachlich für ein breiteres Publikum gut aufbereitete Informationen zu finden sind. Das betrifft nicht zuletzt die digitale Technik und dafür spezifische Kommunikationsformen. Ende 2016 findet man dort etwa einen Eintrag zu Internetphänomenen mit dem für Wikipedia typischen Hinweis darauf, dass Belege fehlen, man an der Verbesserung des Eintrags mitarbeiten und insbesondere den Begriff Meme klären möge. 78 In wissenschaftlichen Texten kommt gelegentlich der Hinweis vor, etwas gehe auf eine „persönliche Mitteilung“ zurück. Das betrifft dann aber Inhalte, die der zitierte Autor (noch) nicht publiziert hat und setzt die persönliche Bekanntschaft unter Spezialisten voraus. Solche Elemente kommen zur gewöhnlichen Zitierpraxis immer nur hinzu. <?page no="275"?> 275 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Abb. 5.5. Internetphänomen (Wikipedia; 22. 12. 2016) Aber auch traditionellere Inhalte können in Wikipedia ebenso gut oder sogar besser aufbereitet sein als in Lehrbüchern. Abzuschätzen, ob dies der Fall ist oder nicht, setzt viel Vorwissen voraus, genauer gesagt den (impliziten) Vergleich mit anderen (disziplinären) Vermittlungstexten. Während sich die Spezifik einzelner Fächer gegenüber anderen am besten am Fachwortschatz festmachen lässt, erschließt sich die Spezifik fachlich versierten Handelns weit eher über das Spezialwissen über Texte, Textsorten und andere Gruppierungen von Texten. Zu diesem Wissen gehört auch solches, das Relationen der räumlichen und / oder zeitlichen Nähe betrifft. Hier geht es also um Textsorten, die (üblicherweise) nebeneinander stehen, auch wenn sie funktional und thematisch nichts miteinander zu tun haben. Das charakterisiert sog. Textsammlungen (E aus Abb. 5.4), z. B. Nummern von Zeitungen oder Zeitschriften. Neben Fachzeitschriften, die wiederkehrend bestimmte Rubriken aufweisen, sind hierzu auch Verlage und Publikationsreihen als ‚Orte‘ zu rechnen; bei den audiovisuellen Medien (relevant besonders für die Popularisierung) gibt es spezialisierte Sendereihen mit festen Sendeplätzen. Hier kann man von Textserien sprechen. Will man nun alle in diesem Abschnitt behandelten Relationen integriert darstellen und der Tatsache gerecht werden, dass eigentlich alles mit allem zusammenhängt, kommt man nicht umhin, ein multipel vernetztes Modell zu wählen (Abb. 5.6). Wie in einer früheren Publikation (Adamzik 2001a: 35 ff.) wähle ich als zentrale Größen Einheiten, die in der Literatur u. a. als Handlungsbereiche, Handlungsfelder, Interaktionsrahmen bezeichnet werden. Anders als seinerzeit betrachte ich diese Handlungsbereiche jedoch nicht mehr als mehr oder weniger frei flottierende, die ad hoc, d. h. in bestimmten Handlungszusammenhängen in Beziehung treten. Ferner setze ich den Handlungsbereich Organisation, den ich früher für eher peripher gehalten habe, jetzt als zentral. Damit soll nicht zuletzt den Veränderungen Rechnung getragen werden, die das 21. Jahrhundert kennzeichnen. Besonders entscheidend ist, dass die Fächer nicht mehr allein oder in erster Linie einer Art internen Logik <?page no="276"?> 276 5. Fächer als diskursive Konstrukte folgen (können), sondern in erheblichem Ausmaß von wirtschaftlichen, politischen und administrativen Vorgaben bestimmt sind. Aufgaben, die zum Handlungsbereich Verwaltung gehören, insbesondere Selbstdarstellung, Einwerbung von Forschungsgeldern und Evaluationen, beanspruchen heute in allen Fakultäten einen nicht unbeträchtlichen Teil der verfügbaren Zeit- und Kraftressourcen-- zuungunsten der Aufgaben, die viele noch immer für die eigentlichen halten: Forschung und Lehre. Forschung und Entwicklung Dokumentation Tradierung und Vermittlung Lehre Aus- und Weiterbildung Anwendung Organisation und Reflexion Austausch und Publikation Abb. 5.6: Zentrale Handlungsfelder und Relationen zwischen ihnen Die in dieselbe zentrale Figur wie Organisation eingetragene Reflexion umfasst die von jeher wichtigen Debatten über Bedingungen, Ziele, Aufgaben und Methoden fachlichen, insbesondere wissenschaftlichen Handelns, also auch Erkenntnissowie Wissenschaftstheorie und -ethik. In Bildungs- und Wissenschaftspolitik wie -administration sollten solche Selbstreflexionen selbstverständlich eine entscheidende Rolle spielen. Vertreter verschiedener Fächer kommen hier mit Akteuren aus dem Politik- und Verwaltungsbereich zusammen und sollten sich in einem gemeinsamen Diskurs über die wissenschafts- und bildungspolitischen Leitlinien verständigen. Dies gelingt in Bezug auf die verordneten Neuerungen der Gegenwart-- insbesondere den Bologna- Prozess und die Hochschulreformen-- allerdings nur schlecht. Das zeigt sich am eindrücklichsten daran, dass selbst die ‚Gewinner‘ der Reformen, also etwa <?page no="277"?> 277 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht Exzellenz-Universitäten und -cluster mit den Entwicklungen nicht zufrieden sind, diese nämlich als viel zu stark außengesteuert empfinden und an Kriterien gemessen, die nicht der wissenschaftsinternen Logik entsprechen (vgl. 5.3.1.). Was die Komponenten angeht, stimmt die Abbildung 5.6 weitgehend mit den Modellen von Gläser und Göpferich (Abb. 5.2 bzw. 5.3) überein, die sich ihrerseits auf traditionell angesetzte Aufgabenfelder beziehen. Der wesentliche Unterschied besteht allein darin, dass hier kein klassifikatorischer Ansatz verfolgt wird, sondern die Beziehungen zwischen den verschiedenen Bereichen im Vordergrund stehen. 5.3.4. Ausgewählte Handlungsfelder und Aufgaben Die Abbildung 5.6 operiert auf einer sehr abstrakten Ebene. Besonders im Feld Anwendung sind so unterschiedliche Dinge anzusiedeln wie technische Produktion, medizinische Versorgung oder Sprachunterricht. Deswegen konnten die Versuche, ein Modell vertikaler Schichten von Fachsprache zu konstruieren, das auf viele oder gar alle Fächer und Kommunikationsbereiche passt, nicht zu einem befriedigenden Ergebnis führen. Es ist durchaus folgerichtig, dass sich daraufhin der Interessenfokus verschob und man heutzutage eher überschaubare Teilbereiche in den Blick nimmt und dabei einzelne Textsorten in übergreifende Handlungszusammenhänge stellt, aber auch- - im Sinne einer Abkehr von klassifikatorischen Ansätzen-- die Vielfalt von Aufgaben aufzeigt, die in den grob unterschiedenen Kommunikationsbereichen und Handlungsfeldern anfällt (vgl. für eine Sammlung solcher Ansätze Habscheid 2011). Die weiteren Ausführungen zu zwei Kommunikationsbereichen haben selbstverständlich nur exemplarischen Charakter. Was die Domäne Universität angeht, so hat Wichter nicht nur, wie schon oben erwähnt, die Vorlesung als Reihe beschrieben, sondern auch versucht, eine Übersicht über den gesamten Sektor zu geben. Dies geschieht natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die Liste kann hier unkommentiert wiedergegeben werden: ▶ Lehrveranstaltungen (Vorlesung, Hauptseminar, Proseminar, sonstige Lehrveranstaltungen) ▶ Prüfungsverfahren auf allen Ebenen ▶ Durchführung und Absolvierung eines Studiengangs ▶ Entwurf und Etablierung eines Studiengangs <?page no="278"?> 278 5. Fächer als diskursive Konstrukte ▶ Erstellung eines Lehrveranstaltungskommentars und dessen Rezeption ▶ Erarbeitung eines wissenschaftlichen Textes sowie dessen Publikation und Rezeption ▶ Herausgabe eines Sammelbandes ▶ Herausgabe einer Buchreihe oder einer Zeitschrift ▶ Durchführung einer Tagung ▶ Durchführung eines Projekts ▶ Leitung einer Einheit bzw. Beteiligung an der Leitung ▶ Bereitstellung und Gewährleistung der Ressourcen für Lehre, Forschung und Verwaltung ▶ Gründung einer Universität oder Statusmodifikation ▶ Aktivitäten einer übergreifenden Wissenschaftsorganisation ▶ PR der verschiedenen Einheiten ▶ Kooperation und Konkurrenz auf nationalem wissenschaftlichem Feld ▶ Evaluationen ▶ übergreifende Wissenschaftspublizistik ▶ Betrieb eines Wissenschaftsministeriums ▶ Beteiligung der Legislative ▶ Beteiligung der Judikative ▶ Verhandlungen über die Bund-Länder-Kompetenzen im Bereich Wissenschaft ▶ private Wissenschaftsakteure und Verhältnis zu staatlichen bzw. staatlich geförderten Wissenschaftsakteuren ▶ gesellschaftliche Entscheidungen zur Position des Sektors Wissenschaft ▶ Kooperation und Konkurrenz auf internationalem wissenschaftlichem Feld (vgl. Wichter 2005: 303 f.) Für eine dieser Aktivitäten, nämlich die schon in 5.3.3. herangezogenen Texte im Rahmen der Durchführung einer Tagung, hat Christa Pieth ein Schema entworfen, das nicht weniger als 38 Textsorten umfasst (Abb. 5.7). Dabei werden sowohl verschiedene Phasen (in der Vertikalen) als auch verschiedene Rollen der Beteiligten unterschieden. Die eigentliche Tagung, in der die Teilnehmer als Kollektiv angesetzt sind, steht mit den verschiedenen Bestandteilen (Plenum, Sektionen usw.) im Zentrum (dick umrandeter Kasten). An Nachtexten sind besonders Tagungsakten relevant, in denen die Vorträge, evtl. nur eine Auswahl und möglicherweise erweiterte Fassungen davon, gesammelt publiziert werden, <?page no="279"?> 279 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht was dann wieder Rezensionen nach sich ziehen kann. Zeitlich früher erscheinen Tagungsberichte als spezifischer Aufsatztyp in Zeitschriften, in denen die Tagung und die Vorträge vorgestellt und ggf. bewertet werden. Prinzipiell sind eine Tagung und die in ihr relevanten Textsorten zumindest potenziell vernetzt mit der gesamten Forschungsliteratur (der nach rechts hin offene Kasten), denn es handelt sich um einen Ausschnitt aus der Gesamtkommunikation der Wissenschaftlergemeinschaft. Als zweites Beispiel soll der Sprachgebrauch in der Politik herangezogen werden. Wie schon oben erwähnt, hat Josef Klein bei ihrer textlinguistischen Analyse eine Vorreiterrolle gespielt. Politik ist ein Bereich, der sich besonders wenig dazu eignet, klar von anderen abgegrenzt zu werden. Er ist auch nicht gerade der Prototyp für fachsprachliches Handeln, sondern vielmehr ein Prototyp für Vernetztheit (vgl. auch den Schluss von 4.3.). In diesem vielschichtigen Kommunikationsbereich unterscheidet Klein (1991) drei grundlegende Interaktionsrahmen: 1. Gesetzgebung mit Parlament und Regierung als primär beteiligten Institutionen. Die zentrale Textsorte ist hier das Gesetz bzw. der Gesetzentwurf, zugleich die zentrale Textsorte aus dem Rechtswesen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Bereichen betrifft den Status des Gesetzestextes: „Erstens, der Text, um den es geht, ist während des Verfahrens kein ‚fertiger Text‘, sondern ein Produkt im Status tatsächlicher oder zumindest potentieller Transformation. Zweitens, dieser Text ist direktes oder indirektes Bezugsobjekt (fast) aller Handlungen, die zum Verfahren gehören. Diese Handlungen haben überwiegend selbst Textcharakter bzw. resultieren in Texten.“ (Klein 1991: 252) Ist das Gesetz einmal in Kraft, befinden wir uns in einem anderen Handlungsfeld, nämlich dem der Verwaltung oder der Rechtsprechung, die Klein aus seinen Überlegungen zur Sprache in der Politik ausklammert. Auch hier wird ständig auf die Gesetzestexte verwiesen, allerdings in anderer Weise, sie werden nämlich jetzt als gültige behandelt: Der Verweis darauf dient dazu, konkrete Entscheidungen als legitime auszuweisen. 2. Politische Willensbildung innerhalb von Parteien. Hier nennt Klein als zentrale Textsorte das Parteiprogramm. Parteiprogramme werden allerdings nur selten grundsätzlich erneuert. Die Willensbildung, die dazwischen stattfindet und bei der es u. a. um Wahlprogramme und die Aufstellung von Kandidaten geht, findet offiziell v. a. auf Parteitagen statt, die <?page no="280"?> 280 5. Fächer als diskursive Konstrukte Abb. 5.7: Textsorten im Rahmen wissenschaftlicher Tagungen (Adamzik 2001a: 46 f.) <?page no="281"?> 281 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht ähnlich kompliziert ablaufen wie wissenschaftliche Tagungen. Hier wie auch sonst gibt es aber auch inoffizielle Formen, z. B. Hinterzimmergespräche, in denen Dinge ausgekungelt werden, oder gezielte Indiskretionen, die an die Presse gehen. 3. Politische Werbung von Parteien. Diesem Interaktionsrahmen ordnet Klein den Wahlslogan als prototypische Textsorte zu. Er bildet ein stabiles Element in der ziemlich ‚amorphen‘ Menge von Texten, die in einer Wahlkampagne produziert werden (vgl. Klein 1991: 266). Damit repräsentieren Kampagnentexte ein gutes Beispiel für das, was hier als Textfamilie gefasst wird. Für die Gesetzgebung, aber auch die Erarbeitung von Parteiprogrammen und Parteitage ist dagegen die syntagmatische Relation des Verfahrens relevant, bei der „das zeitliche Nacheinander der Schritte und der konstituierten Texte eine entscheidende Rolle“ spielt (ebd.: 260). Während die politische Willensbildung und Werbung besonders stark durch persuasive Ideologiesprache gekennzeichnet sind, kann man in diesen verfahrensbestimmten Handlungsfeldern auch am ehesten von einer politikspezifischen Fachsprache sprechen. Traditionell fasst man dies als Institutionssprache bzw. -vokabular. Dieckmann unterscheidet dabei sekundär zwischen Organisationssprache (Bundesrat, Fraktion, Verfassungsschutz usw.) und Verfahrenssprache (Legislaturperiode, 3. Lesung, Tagesordnung usw.) (vgl. Dieckmann 1975: 50 f. und Girnth 2015: Kap. 4.1). Bei diesen Institutionen, Rollen und Verfahren handelt es sich um Größen, die in Metatexten explizit reguliert sind und damit auch am ehesten gewisse Wertvorstellungen fach(sprach)lichen Handelns erfüllen. 79 Entsprechendes gilt für die Verwaltung, die Exekutive, die man ohnehin nur schwer von der Politik abgrenzen kann (vgl. 3.2.1. und 4.3.). Von dieser spezifischen Politik- und Verwaltungssprache, die also ganz zum Großbereich Organisation (und Reflexion) gehört, unterscheidet man Fachsprachen des verwalteten Sachgebiets, die sich aus der Anwendung der 79 Dass dies nicht durchgängig der Fall ist, sondern Institutionsvokabular auch durch Ideologievokabular geprägt sein kann, verdeutlicht Dieckmann (1975: 48) an Beispielen aus dem Nationalsozialismus: Sippenamt, Erbgesundheitsgericht usw. Aber auch Ausdrücke wie Bundesministerium der Verteidigung sind natürlich ideologisch geprägt. Aufschlussreich ist ferner die 2004 erfolgte (Um-)Benennung der gemeinsprachlich als Arbeitsamt bezeichneten Institution in Arbeitsagentur und Jobcenter (entsprechend dem Hartz- IV - Gesetz). <?page no="282"?> 282 5. Fächer als diskursive Konstrukte Verfahren durch (institutionelle) Akteure auf irgendwelche konkreten Politikfelder ergeben. Nach Dieckmann sind diese „nicht zu verwechseln mit der Sprache in den entsprechenden Ministerialbürokratien; denn das Wirtschaftsministerium umgreift verschiedenartige Wortbereiche, und andererseits spielt die Sprache der Wirtschaftspolitik auch im Parlament, in Kabinettssitzungen, in den entsprechenden Gesetzen und in den Parteien eine Rolle, ist also weiter verbreitet. Allerdings ist die Annahme berechtigt, daß die meisten Veränderungen im Vokabular der Wirtschaftspolitik in den staatlichen Wirtschaftsbehörden ihren Ursprung haben. Dort vor allem verbinden sich die Fachsprache des Sachgebietes, in diesem Fall die Fachsprache der Wirtschaft, die als solche außerhalb des politischen Bereichs steht, mit der Institutionssprache zu politikeigenen Neubildungen und Zusammensetzungen, die wir mit dem Begriff der Fachsprache des verwalteten Sachgebietes bezeichnen, um sie von der Fachsprache der Wirtschaft abzugrenzen. Sie ist die Sondersprache der politischen Experten des jeweiligen Sachgebietes. Wo sie den institutionsinternen Raum verläßt und der Öffentlichkeit vorgestellt wird, zeigt auch sie ideologische Einmischungen (Volksaktie, soziale Marktwirtschaft), in der Regel hat sie jedoch alle Merkmale einer echten Fachsprache: Sachlichkeit, Rationalität, Eindeutigkeit, Ökonomie und Variationsarmut.“ (Dieckmann 1975: 51 f.; Fettdruck K. A.) Diese Ausführungen sind ganz an der Vorstellung orientiert, man könne die verschiedenen Bereiche einigermaßen klar gegeneinander abgrenzen und Fachsprachen zeichneten sich grundsätzlich durch diverse Qualitätsmerkmale aus. Denken wir an die in 3.2.1. angeführten (Un-)Wörter des Jahres zurück, die großenteils aus dem Wirtschaftssektor stammen, und die Kritik am ‚Mythos Wissensgesellschaft‘, so spricht allerdings wenig dafür, dass es tatsächlich eine Fachsprache der Wirtschaft ‚als solche‘ gibt, die außerhalb des politischen Bereichs steht. Mindestens ebenso problematisch ist es, die Medien als eigenen Kommunikationsbereich zu behandeln. Das schlägt sich denn auch darin nieder, dass verschiedene Systematisierungen zur Sprache in der Politik hier unterschiedlich verfahren. Klein behandelt sehr ausführlich diverse Strategien von Politikern, über die Massenmedien ihre Botschaften auch dann zu platzieren, wenn es sich nicht um eigentliche politische Berichterstattung oder Interviews, Talkshows usw. handelt; er setzt hierfür keinen eigenen Interaktionsrahmen an. Girnth (2002: 38), der Klein weitgehend folgt, nimmt zunächst im Anschluss an Strauß‘ (1984 / 85) vielfältigere Typologie „öffentlich-politische Meinungsbildung“ als eigenes Handlungsfeld hinzu. In der Neuauflage (Girnth 2 2015: 44 f.) verzichtet er jedoch auf die schematische Gegenüberstellung der vier Handlungsfelder und legt sich also <?page no="283"?> 283 5.3. Fachsprachen aus textlinguistischer Sicht auf eine genaue Anzahl nicht mehr fest. Reisigl (2011: 459) fügt den genannten vier Handlungsfeldern noch vier weitere hinzu, nämlich zunächst „zwischenparteiliche Meinungs-, Einstellungs- und Willensbildung“ sowie „zwischenstaatliche bzw. internationale Beziehungsgestaltung“. Ferner bezieht er die „politische Exekutive / Vollziehung und Administration“ als zum Großbereich Politik gehörendes Handlungsfeld ein. Am interessantesten ist aber seine achte Kategorie, nämlich „politische Kontrolle und politischer Protest“. Damit kommen auch die Bürger als politische Akteure in den Blick, und zwar nicht nur als Rezipienten der (werbenden) Texte von Politikern. Ebenso verfährt Holger Kuße, der politische Bewegungen von den primären Institutionen der Politik und den Medien abgrenzt. Zu letzteren zählt er allerdings auch die Sozialen Medien, die gerade nicht einer spezifischen Akteursinstanz zugeordnet werden können (Abb. 5.8). Nach beiden Autoren, Reisigl und Kuße, scheint zumindest das prototypische Verhalten der Bürger im Protest zu bestehen. Politiker und Bürger werden also auch in der sprachwissenschaftlichen Rekonstruktion tendenziell als Gegner konzeptualisiert, mindestens als Gruppen, die nicht natürlicherweise, v. a. nicht gleichberechtigt, miteinander kooperieren. Das kommt auch gut in der Formel von den Menschen draußen im Lande zum Ausdruck, die Politiker benutzen, anscheinend ohne sich der Brisanz dieser Ausdrucksweise bewusst zu sein. Sie passt zu den Vorurteilen „aus der Mottenkiste“ (Schmidt-Tiedemann 1996: 40; vgl. 3.2.1.), nach denen Durchschnittsmenschen unwissend, uninteressiert und unmündig sind, nicht zur Vorstellung einer Zivilgesellschaft, in der aufgeklärte Bürger mit Experten einen Dialog auf Augenhöhe führen können. Mit der Betonung der Kluft zwischen Experten und Laien, die die Fachsprachenlinguistik noch immer prägt, stellt sie sich nicht in die aufklärerische Tradition und trägt wenig dazu bei, dem Niedergang der Demokratie entgegenzuwirken. Die Einbeziehung von Bürgerbewegungen aus den neueren Ansätzen zeigt immerhin das Fenster, das weiter aufzustoßen ist: Es wäre wünschenswert, dass die Politolinguistik sich künftig stärker auch Texten zuwendet, in denen Sachfragen im Vordergrund stehen, möglichst nicht nur zu besonders brisanten Themen. Denn darüber, dass politisches Handeln in hohem Ausmaß durch Machtinteressen und diverse Machenschaften geprägt ist, braucht man niemanden mehr aufzuklären. Um der Schwarz-Weiß-Malerei vorzubeugen, wäre es aber nützlich, sich genauer vor Augen zu führen, wie komplex nahezu jede einzelne Sachfrage ist. <?page no="284"?> 284 5. Fächer als diskursive Konstrukte Abb. 5.8: Kommunikationsbereiche des politischen Diskurses (Kuße 2012: 138) <?page no="285"?> 285 5.4. Fachwörter aus Fachtexten 5.4. Fachwörter aus Fachtexten 5.4.1. Grundlegendes Fachausdrücke sind zweifellos die zentrale Komponente von Fach- und Wissenschaftssprachen, die sie am stärksten von der Gemeinsprache unterscheidet. Folgende Aspekte sind dabei von spezieller Bedeutung: Besonders beeindruckend ist zunächst der quantitative Unterschied: Wie schon in 1. und 2.1. erwähnt, übersteigt die Menge von Fachausdrücken den Umfang des Allgemeinwortschatzes um ein Vielfaches. Sie ist nach oben hin offen ( DUW ) und liegt jedenfalls im zweistelligen Millionenbereich. Von dieser riesigen Menge ist allerdings für den Durchschnittsmenschen nur ein winziger Bruchteil relevant. Dasselbe gilt aber auch für Experten, denn sie sind ja nur in einem Bereich, allenfalls in wenigen hochspezialisiert. Mit der großen Menge hängt unmittelbar ein qualitativer Unterschied zusammen: Fachausdrücke sind Produkte intentionalen Handelns, sie werden für spezialisierte Ausdrucksbedürfnisse geschaffen, sind Gegenstand der Reflexion und auch gezielter Veränderung, anders gesagt: Für Fachausdrücke sind metakommunikative Aktivitäten konstitutiv. Eine dieser Aktivitäten ist die Definition, also die explizite Festlegung der Bedeutung, eine andere die Sammlung von Ausdrücken einzelner Fächer, also ihre Zusammenstellung in Datenbanken, Katalogen und Nachschlagewerken verschiedenster Art. Bei der Konzentration auf die Fachlexik müssen wir die bisherige Perspektive gewissermaßen umdrehen: Sind wir bislang von oben nach unten vorgegangen- - Fächerlandschaft → Einzelfächer → Handlungsbereiche und Aufgabentypen → Textsorten → sprachliche Mittel--, so kehrt sich die Blickrichtung jetzt um: Von unten, nämlich einzelnen Ausdrücken, nach oben, d. h. von Einzelbegriffen zu relevanten Wissensbeständen aus dem diskursiven Kontext. Stellt man die Definition in den Vordergrund der Betrachtung, so nimmt man eine semasiologische Blickrichtung ein, die danach fragt, was ein bestimmter Ausdruck bedeutet. Fachausdrücke sind jedoch v. a. Bestandteile begrifflicher Systeme, auf deren Elemente in den Einzeldefinitionen wechselseitig zurückgegriffen wird. Einzelne Fachausdrücke lassen sich daher richtig nur verstehen, wenn man (einen gewissen) Einblick in das Gesamtsystem hat. Dies entspricht einer onomasiologischen Blickrichtung: vom Sachfeld zu den Wörtern. Dabei gerät grundsätzlich eine größere Menge von Ausdrücken aus demselben Sachbereich ins Blickfeld. Fachlexik entspricht eben nicht einer ‚Ansammlung‘ (vgl. <?page no="286"?> 286 5. Fächer als diskursive Konstrukte das Zitat aus Fluck in 1.3.) von Fachausdrücken, auch keiner ungeordneten Liste (die alphabetische Anordnung ist praktisch, hat aber nichts mit sachlicher Ordnung zu tun), sondern Teilsystemen einander gegenseitig erklärender Einheiten. Wir knüpfen damit wieder an Dahlbergs Übersicht über Verwendungsgebiete von Klassifikationssystemen an (Abb. 4.2). Während in 4.4. ihre Gruppen 2. und 7. zur Sprache kamen, geht es jetzt um die Gruppe B (Klassifikationen zur Wissensverwendung), die sie unterteilt in 3. Enzyklopädische Klassifikationen und 4. Wörterklassifikationen und linguistische Thesauri. Erinnert sei daran, dass Dokumentationssprachen (Themensysteme) als Makrostruktur des Wissens, Terminologien (Begriffssysteme) dagegen als Mikrostruktur des Wissens zu betrachten sind (vgl. Galinski / Budin 1999: 2221 und Kap. 4.2.). Es geht also um die Organisation von Wissensbeständen. Diese Wissensbestände erschöpfen sich nun nicht in der Einordnung eines Ausdrucks in ein Begriffssystem, sondern betreffen wesentlich damit assoziierte Elemente des Weltbzw. Sach- oder Fachwissens. Idealtypisch lassen sich wissensaufbereitende Werke danach unterscheiden, ob sie eine thematische oder eine terminologische Zugangsweise zugrunde legen. Thematisch organisiert sind Fach-Enzyklopädien oder Handbücher, terminologisch dagegen alphabetisch geordnete (Fach-)Wörterbücher. Da beide Sichtweisen / Fragestellungen komplementär zueinander sind, enthalten beide Typen Bestandteile, die den Mangel ausgleichen, den die jeweilige Wahl mit sich bringt: Handbücher umfassen ein alphabetisches Register der Termini, Wörterbücher ein dichtes System von Querverweisen. Es gibt allerdings zahlreiche Zwischenformen, so dass wir es wiederum eher mit einer Skala als einer Dichotomie zu tun haben (vgl. dazu ausführlicher Adamzik 2001a: Kap. V.). Es sei zunächst versucht, die wichtigsten Bestandteile des Schemawissens zu Fachwörtern im Überblick darzustellen: 80 80 Bei Roelcke (2010: Kap. 3.2) erscheinen diese Elemente im Zusammenhang der Präsentation verschiedener Arten der Definition (vgl. dazu auch Adamzik 2016a: Kap. 2.1.). Er meint, dass den mit Wörtern verbundenen Assoziationen erst im Rahmen neuerer kognitionslinguistischer Semantiktheorien Rechnung getragen werde. Die genannten Schemaelemente gehören allerdings zu den üblichen Erläuterungen in Fachwörterbüchern (vgl. dazu Kolde 2001) und insbesondere Enzyklopädien, und zwar gerade weil eine Definition allein allenfalls einen bestimmten Typ von Ausdrücken hinreichend verständlich werden lässt (vgl. auch Kolde 1999). <?page no="287"?> 287 5.4. Fachwörter aus Fachtexten Fachwort ▶ Disziplin / Subdisziplin / Gegenstandsbereich ▶ Begriffsnetz: Ober-, Unter-, Nebenbegriffe; Lesarten; ggf. prototypische Beispiele, Abbildungen, Schemata, Formeln u. Ä.; alternative Ausdrücke bzw. Begriffssysteme ▶ Urheber und / oder relevante Quellentexte ▶ Entstehungs- und Verwendungszeit ▶ anderssprachige Äquivalente ▶ diskursiver Status ▷ definiert / erläutert in / von … ▷ verwendet / propagiert in / von … ▷ problematisiert in / von … ▷ Häufigkeit / Geläufigkeit ▷ … Solche Wissensbestände eignet man sich an, indem man sich (gemeinsam mit anderen) mit einem bestimmten Gegenstandsbereich beschäftigt. Insofern ist der Sachbezug jeweils unmittelbar mitgegeben, bei Face-to-Face-Kommunikation wird oft auch direkt mit den Sachen hantiert. Auch Fleck und Kuhn (vgl. 5.2.) haben hervorgehoben, wie wichtig der praktische Umgang mit den Sachen gegenüber Verbaldefinitionen ist (vgl. dazu ausführlich v. Hahn 1983: Kap. 4.1). Eine Form der Auseinandersetzung mit einer Sache besteht auch in der Lektüre von Texten, in denen die Fachwörter nicht nur (wenn überhaupt) definiert sind, sondern in denen sie zur Darstellung irgendwelcher Sachverhalte benutzt werden. Je nachdem, um welche Dinge es geht, enthalten die Texte auch Abbildungen oder Modelle der Sachen. Ferner sind Texte (mindestens die traditionellen) materielle Gegenstände, die man in die Hand nehmen kann, so dass auch Assoziationen entstehen, die über einige Merkmale (z. B. das Alter des Textes, seine Länge, seinen Erscheinungsort) ‚Auskunft geben‘. Im Prinzip gilt genau dasselbe für gemeinsprachliche Wörter: Auch diese sind dazu da, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, sie werden in Handlungszusammenhängen erworben, sind in Teilsystemen organisiert, haben also Ober-, Unter-, Nebenbegriffe, die bestimmte Wirklichkeitsausschnitte in sprachspezifischer Weise gliedern (vgl. 1.2.). Das alles lernen v. a. ‚Experten einer Sprache‘, d. h. hier Muttersprachler, nicht über Verbaldefinitionen oder <?page no="288"?> 288 5. Fächer als diskursive Konstrukte aus Wörterbüchern, sondern durch Teilhabe an der Sprachverwendung einer Gemeinschaft. Wörterbücher und sonstige Erläuterungen zum Sprachgebrauch sind dagegen grundsätzlich sekundäre metasprachliche Artefakte. Wenn man diese Versuche der Rekonstruktion des Sprachgebrauchs zum Ausgangspunkt der Beschreibung wählt, zäumt man das Pferd beim Schwanz auf. Damit kommen wir auf die These aus 5.1. zurück, wonach die Formel Vom (Fach-)Wort zum (Fach-)Text die Entwicklung von (Fach-)Sprachen auf den Kopf stellt. Die Formel bietet zugleich ein schönes Beispiel für die partielle Blindheit bzw. die Sehstörungen, die als Folge von Denkstilen auftreten: Die Begeisterung für Paradigmenwechsel oder Wenden ist so groß (vgl. Adamzik 2016a: Kap. 9.2.), dass auch Verlagerungen von Forschungsschwerpunkten und sogar gewisse Moden als Paradigmenwechsel wahrgenommen werden. Dies betrifft sogar Fälle der Rückbesinnung auf eigentlich Triviales, das in einem bestimmten Forschungsansatz (absichtlich) ausgeklammert wurde, um andere Aspekte zu isolieren und intensiver untersuchen zu können. Zu diesen Banalitäten gehören in unserem Fall folgende Vorstellungen: Sprachverwendung ist eine Form menschlichen Handelns; Fachsprache ist in fachliche Handlungskontexte eingebunden; (Fach-)Sprache hat etwas mit Kognition zu tun. Sprachdeskriptive Werke sind sekundäre Konstrukte, sie sind zwar durchaus nützlich, stellen aber doch nur ein notwendigerweise unvollkommenes Modell der Sprachrealität dar, einer Realität, die sich zudem in ständigem Wandel befindet. Es ist, als würde man eine Landkarte oder das Satellitenbild eines Flusses für die eigentliche Wirklichkeit halten. Nur unter solchen Voraussetzungen kann man einen bedeutenden Fortschritt darin sehen, nicht (mehr) nur die Fachwörter isoliert oder in kleinen Begriffssystemen zu betrachten und die Verbaldefinitionen für das Wesentliche zu halten, sondern ihre Verwendung in Texten und Handlungszusammenhängen zu untersuchen. Man über-sieht dabei, dass sie überhaupt erst aus Fachtexten kommen und selbstverständlich dazu dienen, sich denkerisch bzw. kognitiv mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Für die Mitglieder der jeweiligen (esoterischen) Denk- und Praxiskollektive (inklusive der Fachlexikografen) ist dies dagegen trivial, da sie ja wissen, wie sie zu ihren Wissensbeständen gekommen sind, was alles dazugehört und dass das Aufsagen-Können von Verbaldefinitionen wenig Aufschluss über fachliche Kompetenz gibt. Sehr bezeichnend scheint mir, dass die ältere Fachsprachenforschung tatsächlich nicht zu solcher Blindheit tendierte. Für die Aufbereitung des Diskussionsstands zu Beginn der 1980er Jahre sei besonders die Darstellung von v. Hahn (1983) empfohlen. <?page no="289"?> 289 5.4. Fachwörter aus Fachtexten Eine weitere Gemeinsamkeit von Gemeinsprache und Fachsprachen besteht darin, dass es sich um Hypostasierungen handelt, gedachte Gesamtheiten, über die kein einzelner Sprachteilhaber vollständig verfügt. Erst recht gibt es niemanden, für den die Gesamtheit aller Fachwortschätze irgendeine Bedeutung hätte. Es existiert auch kein Nachschlagewerk für diese Gesamtheit. Die umfassendsten Nachschlagewerke sind einerseits Universalwörterbücher, andererseits Universalenzyklopädien. Inwieweit darin Fachausdrücke berücksichtigt sind, hängt wesentlich vom Umfang des Gesamtwerks ab. Aber keines kann so groß sein, dass es die Gesamtheit aller Fachausdrücke aller Fächer abdecken und diese auch noch laufend aktualisieren könnte. In diesem Fall ist das Argument relevant, dass es dafür auch keinen Benutzerkreis gäbe (vgl. 4.2.). Damit relativiert sich die ja durchaus beängstigende Menge von Fachwörtern. Praktisch relevant ist davon immer nur ein sehr kleiner Ausschnitt, den man in Fachwörterbüchern aufsuchen kann. Deren Lemmabestand liegt in der Regel im ein-, maximal im zweistelligen Tausenderbereich. Wie in gemeinsprachlichen Wörterbüchern sind aber auch in solchen, die den Wortschatz eines Fachs aufbereiten, keineswegs alle Ausdrücke verzeichnet, die in einschlägigen Texten tatsächlich vorkommen. Schon gar nicht können alle Lesarten der gebuchten Wörter erläutert werden. Fachwörter und begriffliche Differenzierungen werden im Rahmen der Auseinandersetzung mit einem Sachbereich, d. h. in Einzeltexten, erprobt, teilweise wieder verworfen, schließlich eventuell der Diskursgemeinschaft vorgeschlagen, indem sie in einem Text benutzt oder auch propagiert werden. Ob andere diesen Sprachgebrauch übernehmen oder nicht, ob sie die Ausdrücke aufgreifen, aber in völlig veränderter Bedeutung verwenden (vgl. die Beispiele Paradigmenwechsel und Wissensgesellschaft), dies liegt nicht in der Hand des ‚Erfinders‘. Die Einführung neuer Ausdrücke geschieht also zunächst immer auf der Ebene der Parole, im Einzeltext. Wenn jemand neue Begriffe einführt, dann definiert er sie im Text (mehr oder weniger präzise). Dies gilt jedenfalls dann, wenn es sich um erkennbar esoterische Ausdrücke handelt und nicht um Prägungen, die man auch allein mit gemeinsprachlicher Kompetenz irgendwie interpretieren kann (z. B. Denkstil, Textsorte, Angststörung, Anfangsverdacht, Partikel usw.). Falls man schon bestehende Ausdrücke aufgreift, kann man deklarieren: Ich benutze den Ausdruck x als Neben-, Ober-, Unterbegriff, synonym zu y-… Andere nehmen vielleicht andere Festlegungen vor. Als Ausgangslage finden wir also im Allgemeinen heterogenen Sprachgebrauch vor-- genau das, was für Sprachverwendung überhaupt gilt: Variation. <?page no="290"?> 290 5. Fächer als diskursive Konstrukte Selbst wenn lexikografische Arbeit nicht eine eigentlich normierende, sondern eine deskriptive Absicht verfolgt, ist mit der Präsentation einer Sammlung aber immer ein gewisser Standardisierungseffekt verbunden. Ausdrücke werden nämlich nur aufgenommen, wenn sie ein Mindestmaß an allgemeiner Verbreitung erreicht haben. Es ist also immer zunächst die Sprachbzw. Diskursgemeinschaft, die darüber ‚entscheidet‘, ob ein einmal benutzter Ausdruck auch weiterverwendet wird und damit in das System eingeht. (Fach-)Sprachliche Systeme sind Abstraktionen, die nur als gedankliche Konstrukte existieren. (Fach-)Wörterbücher sind dagegen Artefakte, die diese Konstrukte mehr oder weniger angemessen modellieren und (fast) rein metasprachlichen Charakter haben. In ‚normalen‘ Sach- und Fachtexten ist dagegen die Darstellungsfunktion (bzw. die referenzielle Funktion) zentral, die metasprachlichen Erläuterungen haben Hilfscharakter. Löst man die Definitionen aus diesem Zusammenhang heraus, dann verlieren die Ausdrücke den Bezug zu den Sachen, zu deren (kognitiver) Bearbeitung sie überhaupt geschaffen wurden. Die Entgegensetzung von Gemein- und Fachsprachen ist so gesehen grundsätzlich verfehlt. Denn Fachsprachen haben die Gemeinsprache zur Grundlage und diese fungiert als ihre Metasprache. Sie erwachsen aus der Gemeinsprache, oder besser (um auf 1.3. zurückzukommen): Es handelt sich um (mehr oder weniger hoch) gezüchtete Sorten von Sprache. Diese Zuchtprodukte werden dann teilweise auch wieder in Texte für den exoterischen Kreis eingespeist. Manchmal (z. B. bei Wissens- und Informationsgesellschaft) wissen nicht einmal die Experten, wo die Ausdrücke ihren Ursprung haben (vgl. 3.2.3.). Für fachliche Texte sind bewusster Sprachgebrauch und metasprachliche Äußerungen zwar sehr charakteristisch, es ist aber keineswegs so, dass man Entsprechendes auch tatsächlich in jedem Einzeltext fände. Das Gros der Texte (jedenfalls derer, mit denen auch Menschen konfrontiert werden, die nicht zu einem esoterischen Kreis hochspezialisierter Personen gehören) ist überwiegend in Gemeinsprache abgefasst und enthält nur eine mehr oder weniger große Menge von Wörtern, die dort nicht üblich sind. Ob diese im Text oder eventuell einem Paratext (z. B. in einem Glossar oder in Marginalien) definiert sind und wie präzise das dann geschieht, lässt sich nicht für Fachsprachen insgesamt und auch nicht für einzelne Fächer oder Textsorten entscheiden, sondern muss für jeden Einzeltext geprüft werden. In Fachtexten stehen spezialisierte Termini neben Ausdrücken, die keineswegs irgendwie esoterisch klingen, aber in einer spezifischen Bedeutung ver- <?page no="291"?> 291 5.4. Fachwörter aus Fachtexten wendet werden, die nur Experten (er)kennen. Das bedeutet v. a., dass sie das begriffliche System (oder Teile davon) assoziieren, also etwa wissen, dass Begriff und Benennung (in der Terminologielehre) nicht etwa dasselbe bedeuten, sondern im Gegensatz zueinander stehen, und dass im Hintergrund eine ‚realistische‘ Sprachauffassung steht, die Begriffe nämlich als sprachunabhängige bzw. übereinzelsprachliche gelten. Es ist ein charakteristisches Merkmal wissensaufbereitender Texte, dass sie diesen varianten Sprachgebrauch thematisieren. Ein prototypisches Beispiel dafür stellt die Eingangspassage des Artikels Lernstile / Lernertypen aus dem Handbuch Fremdsprachenunterricht dar, die vom Fehlen terminologischer Einheitlichkeit und Präzision ausgeht: „1. Konzeptuelle Klärungen Der Begriff Lernstil wird in der Fachliteratur inkonsistent und häufig auch unscharf verwendet. So wird nicht selten entweder gar nicht oder nur unzureichend zwischen Lernstilen und kognitiven Stilen (oder auch Denkstilen) differenziert. Wird differenziert, dann ist für nicht wenige Autoren Lernstil der Unterbegriff zu kognitiver Stil, für andere Autoren dagegen der Oberbegriff. Weiterhin sprechen manche Autoren anstelle von Lernstilen und / oder kognitiven Stilen auch von Lernerstilen. Die Termini Lernstil und kognitiver Stil stehen zudem im engen begrifflichen Zusammenhang zu Persönlichkeitsattributen wie Extraversion und Introversion, die von einigen Autoren ebenfalls unter der Kategorie Lernstil bzw. kognitiver Stil abgehandelt werden (Art. 73). Zudem existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Klassifikationssysteme (Grotjahn 1998; Mißler 1999, 160 ff.). Anhand von Lernstilen lassen sich verschiedene Lernertypen unterscheiden. Manche Autoren sprechen hier auch von Lerntypen. Noch andere verwenden den Begriff Lerntyp sowohl im Sinne von Lernertyp als auch im Sinne von Lernstil. Im Folgenden wird der Begriff Lernstil als Oberbegriff zu kognitiver Stil verwendet. In dieser weiten Bedeutung bezeichnet der Terminus Lernstil intraindividuell relativ stabile, zumeist situations- und aufgabenunspezifische Präferenzen (Dispositionen, Gewohnheiten) von Lernern sowohl bei der Verarbeitung von Informationen als auch bei der sozialen Interaktion. Der Terminus bezieht sich damit nicht nur auf in engerem Sinne kognitive, sondern auch auf motivationale und affektive Aspekte menschlichen Verhaltens und Handelns. Lernstile sind als Konstrukte nicht direkt beobachtbar, sondern können lediglich anhand von Indikatoren, wie z. B. bestimmten beobachtbaren Verhaltensweisen, erschlossen werden. Zudem sind sie dem Lerner zumeist nicht bewusst. <?page no="292"?> 292 5. Fächer als diskursive Konstrukte Mit dem Begriff Lernstrategie sollen dagegen eher spezifische, zumeist situations- und aufgabenabhängige mentale Lernhandlungen, wie z. B. der gezielte Aufbau einer visuellen Vorstellung beim Vokabellernen, bezeichnet werden (Art. 69). Lernstrategien sind in der Regel bewusst oder bewusstseinsfähig; ihre Wahl ist u. a. durch die jeweiligen Lernstile bestimmt (Schmeck 1988; Oxford 1990; Grotjahn 1998; Mißler 1999).“ (Grotjahn 2003: 326; Hervorhebungen im Orig.) Die Uneinheitlichkeit der Verwendung von Ausdrücken aus dem Bereich Lern(er)stile betrifft den gesamten Diskurs, in Einzeltexten kann Präzision vorliegen, das ist aber, wie in dem Artikel hervorgehoben, nicht immer der Fall. Er thematisiert nicht nur die verschiedenen Gebrauchsweisen relevanter Begriffe, sondern führt auch vertiefende Literatur an. Man darf erwarten, dass man dort Genaueres über die Subkollektive erfährt, die so oder so sprechen. Anscheinend gibt es in diesem Fall niemanden, der irgendeine dieser Gebrauchsweisen geprägt oder in einer Weise propagiert hätte, dass man dessen Namen damit assoziiert (wie man z. B. den Namen de Saussure mit der Dichotomie langue-parole assoziiert). Andernfalls würden die entsprechenden Namen in Grotjahns Übersicht erscheinen. Das Beispiel mag Menschen aus dem exoterischen Kreis schockieren, weil anscheinend ein völlig chaotischer Sprachgebrauch zu konstatieren ist. Es ist für Experten (diverser Fächer) aber nicht besonders ungewöhnlich oder überraschend, sondern entspricht den Verhältnissen in vielen Bereichen, nicht zuletzt der Linguistik, inklusive der Fachsprachenlinguistik. Wenn man die zentralen Inhaltswörter (Lernstil, -strategie, -typ usw.) und die Literaturhinweise durch Leerzeichen ersetzt, kann man das, was übrigbleibt, geradezu als Formulierungsvorlage für die Darstellung terminologischer Debatten in irgendeinem Wissensbereich benutzen. Die Verständigung innerhalb des größeren Kollektivs wird, anders als häufig unterstellt, durch die Uneinheitlichkeit bzw. Vagheit der Gebrauchsweisen nicht behindert. W. v. Hahn geht so weit zu sagen, dass man die Argumentation auch umkehren könne: „Die Diskussion über den Situationsbezug von Fachsprachen (z. B. schon früh in den Schriften von Möhn [aus den 1960er und 70er Jahren]) einerseits und die Vagheit natürlicher Sprachen andererseits (neuerlich Wolski 1980 und Pinkal 1980 / 81) hat dazu geführt, daß man die einfache Zuordnung ‚Gemeinsprache-= vage, Fachspra- <?page no="293"?> 293 5.4. Fachwörter aus Fachtexten che-= präzis‘ zumindest infrage gestellt hat-[…]. Wenn man daneben noch wissenschaftstheoretische Überlegungen über Idealisierung und Generalisierung anstellt und die sprachphilosophische Literatur zu Idealsprachen in der Nachfolge Carnaps berücksichtigt, könnte man versucht sein, die Exaktheitsargumente der Fachsprachenliteratur geradezu auf den Kopf zu stellen: Nicht die einfachen Probleme der direkten Lebenspraxis sind es, die nur einer vagen und unvollkommenen Sprache bedürfen im Gegensatz zu der präzisen Sprache der Fächer für die hochkomplizierten technisch-wissenschaftlichen Sachverhalte. Gerade umgekehrt können wir mit den hochkomplexen Sachverhalten der Lebenswirklichkeit- […] nur mit vagen Ausdrücken umgehen, während wir uns durch den Aspektcharakter und die Vereinfachungstendenzen jeder Wissenschaft eine ärmere Fachsprache (speziell genormte Terminologie) leisten können.“ (v. Hahn 1983: 98; Hervorhebungen K. A.) Der Autor nimmt ferner an, dass Mehrdeutigkeiten nur unter bestimmten Kontextbedingungen wirklich gravierend sind (vgl. ebd.: 104; vgl. in diesem Sinne auch Fraas 1998). Sollten Missverständnisse tatsächlich auftreten oder voraussehbar sein, so gewährleistet gerade die Metakommunikation die Verständigung: Man sagt, welche Begrifflichkeit man selbst benutzt, wie es auch Grotjahn tut. Dazu gehört auch der ausdrückliche Hinweis, ein Terminus werde vage, unscharf oder in sehr weitem Sinne verwendet. Denn (größere) Präzision steht ja allenfalls am Ende der Reflexion und ist ein kollektives Projekt. Neu vorgeschlagene Begriffe und Begriffssysteme muss man zunächst erproben. Deswegen kann man teilweise tatsächlich nur aus dem Kontext ableiten, welchem Sprachgebrauch ein Autor folgt. Das geht dann in interpretierende (vgl. die 22 Lesarten von Paradigma; 5.2.), Stellung nehmende (vgl. die Kommentare aus der Soziologie zu Wissensgesellschaft; 3.2.3.) und schließlich u. U. in wissensaufbereitende Texte wie den vorliegenden ein und bildet die Grundlage dafür, ein mentales Konzept der diskursiven Landschaft aufbauen zu können. Bei den Lernstilen, aber auch den nicht-esoterischen Grundbegriffen der Linguistik besteht nicht die geringste Aussicht, dass es je zu einer standardisierten Terminologie kommt. Das erklärt sich ganz einfach daraus, dass es in diesen Bereichen- - wie in sehr vielen anderen! - - keine Instanz gibt, die die Macht hätte, einen bestimmten Sprachgebrauch für die gesamte Diskursgemeinschaft verbindlich durchzusetzen. Außerdem ist der Personenkreis, der über solche alltagsnahen Gegenstände spricht, sehr groß, und je größer der Kreis ist, desto aussichtsloser sind Versuche der Standardisierung. <?page no="294"?> 294 5. Fächer als diskursive Konstrukte Die Existenz von Normierungs-/ Standardisierungsinstanzen ist die Ausnahme. Auch diese können zudem erst auf der Grundlage varianten Sprachgebrauchs tätig werden und sich darum bemühen, sekundär Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Wie bereits in 5.1. erläutert, führt das zu vereinheitlichtem Sprachgebrauch nur in den Fällen, wo die Entscheidungen einer Normierungsinstanz auch allgemein akzeptiert werden. Da für viele Bereiche solche akzeptierten Normierungsinstanzen nicht existieren, können Nachschlagewerke in diesen Fällen nur deskriptiv mehr oder weniger adäquat sein, eine im eigentlichen Sinne normierende Funktion haben sie nicht. Anders liegen die Verhältnisse nur, wenn eine neu geschaffene Sache zugleich offiziell benannt wird, d. h. wenn ein institutioneller Taufakt vorliegt. Das ist aber nicht beschränkt auf fachliche Kontexte und betrifft auch in diesen institutionelle Realitäten. So hat z. B. jeder Staat einen Namen, eine Währung, bestimmte Ausbildungseinrichtungen usw., die nun einmal heißen, wie sie heißen; die Frage, ob der Name der Sache gerecht wird, ist sinnlos. Das macht die Besonderheit von Namen (im Sinne von Eigennamen, nomina propria) oder namenartigen Ausdrücken gegenüber Gattungsbezeichnungen (nomina appellativa) aus: Namen haben keine Bedeutung, sondern nur eine Bezeichnungsfunktion. Es handelt sich also um Sprachmittel, die tatsächlich wie Etiketten funktionieren, so dass hier allein eine ‚radikal-realistische Sicht‘ adäquat ist (vgl. 1.2.). So gibt es z. B. in Deutschland und der Schweiz keine Volksschule mehr, wohl aber in Österreich, und die polytechnische Oberschule ( POS ) ist mit der DDR untergegangen. Sogar in solchen Fällen kann es allerdings zu Debatten kommen, die den Unterschied zwischen Eigennamen und Gattungsbezeichnungen außer Kraft zu setzen suchen. Dabei wird Sprachliches (wie auch sonst sehr oft) als Argument in Streitigkeiten über sachliche Positionen funktionalisiert. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist die lange Weigerung staatlicher Stellen der Bundesrepublik, der DDR ihren Namen zu lassen - mit dem Argument, sie sei doch gar nicht demokratisch. Er wurde in Anführungszeichen gesetzt oder mit dem Zusatz sog. versehen. Das bestätigt allerdings nur, dass divergierender Sprachgebrauch dem Leben in verschiedenen Welten korrespondieren kann: Für die BRD (und die mit ihr verbündeten Staaten) existierte die DDR gewissermaßen gar nicht, sie war als Staat nicht anerkannt. Namen und namenähnliche Elemente spielen eine besonders große Rolle im Überschneidungsbereich von Technik und Wirtschaft, wo sie als Firmen-, <?page no="295"?> 295 5.4. Fachwörter aus Fachtexten Marken- und Produktnamen vorkommen, deren Verwendung rechtlich geregelt ist, v. a. bei den eingetragenen (registered), aber auch den noch nicht eingetragenen Warenzeichen, die an den Zusätzen ® bzw. TM (trade mark) zu erkennen sind. Die Markenbildung spielt aber auch in der Forschung inzwischen eine sehr große Rolle, weil nicht mehr nur Institute, sondern auch einzelne Projekte ein eigenes Logo kreieren und sich einen meist akronymischen Namen geben. Er ist mehr oder weniger gut aussprechbar und sinnfällig, z. B. Bi LL für „Bilinguales Lehren und Lernen in der Didaktik des Englischen“, FAIR für „Facility for Antiproton and Ion Research“ (Teilchenbeschleuniger) oder GeoBib für „Georeferenzierte Online-Bibliographie früher Holocaust- und Lagerliteratur“. Das Charakteristische dieser Akronyme-- die sich auch in allen anderen Bereichen extremer Beliebtheit erfreuen-- ist, dass bei diesen in allererster Linie das Weltwissen (und zwar solches der Wirklichkeitsschicht a) gemäß 5.3.1.) relevant ist und Sprachwissen kaum eine Rolle spielt. Insofern gehören sie nicht zum Kernbereich von Fachsprachen. Das Gleiche gilt für Personennamen, sofern sie nicht gerade Grundlage für Sachbezeichnungen geworden sind wie die physikalischen Einheiten Ohm und Joule oder die Röntgenstrahlen, viele Namen chemischer Elemente (vgl. 5.5.), die Wassermann-Reaktion oder die Sapir-Whorf-Hypothese. Was Fachsprachen ausmacht, ist allerdings auch umstritten, und eben dies wird charakteristischerweise in wissensaufbereitenden Texten explizit thematisiert. So auch im Artikel zu Fachsprache aus Glück (vgl. 1.3.). Dieser stellt zwei Positionen als konkurrierend vor, nämlich a) die sprachlichen Spezifika und b) die Gesamtheit der sprachlichen Mittel, die in einem Fachgebiet verwendet werden. Wenn man sich für die Lösung b) entscheidet (charakteristisch für die Position Hoffmanns), dann umfasst Fachsprache notwendigerweise auch viele gemeinsprachliche Elemente, insbesondere die hochfrequenten. Man muss also verschiedene Arten von Fachausdrücken unterscheiden. 5.4.2. Arten von Fachausdrücken Ein erstes Kriterium für die Differenzierung von Fachausdrücken ist, ob sie fachsprachenspezifisch sind oder nicht. Diese Frage hat Roelcke in differenzierterer Weise zu beantworten versucht, indem er ein Schema entwirft, das mit vier Kategorien rechnet (Abb. 5.9). Er geht zunächst wieder von dem Gegensatz zwischen der systemlinguistischen Betrachtung und dem pragmalinguistischen Kontextmodell aus und stellt dementsprechend Fachsprachwörter auf der einen <?page no="296"?> 296 5. Fächer als diskursive Konstrukte Seite Fachtextwörtern auf der anderen gegenüber. Die Mengen dieser Einheiten nennt er Fachsprachwortschatz bzw. Fachtextwortschatz. Beide Sichtweisen hält er allerdings für kombinierbar und präsentiert folgende Definition: „Ein Fachwort ist-[…] die kleinste bedeutungstragende und zugleich frei verwendbare sprachliche Einheit eines fachlichen Sprachsystems, die innerhalb der Kommunikation eines bestimmten menschlichen Tätigkeitsbereichs im Rahmen geäußerter Texte gebraucht wird.“ (Roelcke 2010: 56; Hervorhebungen K. A.) fachbezogener Fachtextwortschatz im engeren Sinne intrafachlicher Fachsprachwortschatz interfachlicher Fachsprachwortschatz extrafachlicher Fachsprachwortschatz nichtfachlicher Fachsprachwortschatz gesamter Fachtextwortschatz fachbezogener Fachtextwortschatz im weiteren Sinne fächerbezogener Fachtextwortschatz Abb. 5.9: Gliederung von Fachsprach- und Fachtextwortschatz nach fachlicher Zugehörigkeit der betreffenden Fachsprach- und Fachtextwörter (Roelcke 2010: 56) Die vier Gruppen des Fachsprachwortschatzes (heller Hintergrund) hält er für solche, „die intensional gleichberechtigt nebeneinander stehen und sich dabei extensional nicht überschneiden“ (ebd.: 57), während die Gruppen des Fachtextwortschatzes „intensional und extensional ineinander verschachtelt sind“ (ebd.). Das sei folgendermaßen reformuliert: Die hellen Kästchen muss man sich als disjunkte Listen von Ausdrücken vorstellen, d. h.: Alle vorkommenden Ausdrücke sind berücksichtigt und jeder erscheint nur auf genau einer der Listen. Die Kästen mit den verschiedenen Graustufen müssten der Analyse eines Korpus entsprechen: Zunächst zählt das gesamte Wortmaterial als Fachtextwortschatz, anschließend werden sukzessive die Wörter ausgeschlossen, die auf den entsprechenden Listen der weißen Kästchen stehen. Gemeint ist mit intrafachlich der Wortschatz, der für ein Fach exklusiv ist, mit interfachlich der, der in mehreren Fächern vorkommt, mit extrafachlich der, der ‚eigentlich‘ in <?page no="297"?> 297 5.4. Fachwörter aus Fachtexten ein anderes Fach gehört, aber trotzdem verwendet wird, und mit nichtfachlich schließlich der, der überall vorkommt. Nun wird mit der Annahme, dass sich die Listen der weißen Kästchen nicht überschneiden, der systemlinguistische Ansatz geradezu auf die Spitze getrieben. Nicht nur liegt ein rein klassifikatorisches Vorgehen zugrunde, das mit scharfen Grenzen zwischen den Mengen rechnet, es muss auch eine striktest synchrone Analyse mitgedacht werden: Sobald ein esoterischer Ausdruck aus irgendwelchen Gründen in massenmedialen Texten erscheint, hat er seinen Status ja schon verändert. Der Tatsache, dass der Sprachgebrauch normalerweise heterogen ist, Sprachen sich überhaupt ständig verändern und dies für ‚fachsprachliche Systeme‘ in ganz besonders starkem Ausmaß gilt, wird diese Modellvorstellung also nicht gerecht. Sie bestätigt m. E. die These von Kuhn (1976: 153; vgl. 5.2.), nach der Verbaldefinitionen wenig wissenschaftlichen Gehalt haben. Die relevante Frage ist ja, welcher Ausdruck in welche Liste gehört und wer darüber aufgrund welcher Kriterien entscheidet. Sofern eine empirische Füllung von Roelckes Definition überhaupt vorstellbar ist, erfordert sie im Prinzip eine Analyse sämtlicher (! ) Texte einer Sprache. Wir gelangen damit wieder zu dem bereits in 1.3. angesprochenen Problem, dass so etwas zwar theoretisch denkbar, praktisch aber nicht durchführbar und auch für niemanden von Relevanz ist (vgl. auch 2.3.). Im Folgenden sollen stattdessen praktikable Möglichkeiten der Untergliederung von lexikalischem Material behandelt werden, auf das man im Umgang mit (Fach-)Texten und (potenziellen) Fachausdrücken stößt. Als empirische Grundlage fungieren einerseits Texte, andererseits diverse Wörter-Sammlungen, also Produkte metasprachlicher Arbeit, u. a. Universal- und Fachwörterbücher, sowie Enzyklopädien. Im Vordergrund steht nicht die Frage, zu welchem Fach Ausdrücke gehören, da Fächer sich gar nicht eindeutig und ein für alle Mal gegeneinander abgrenzen lassen (vgl. Kap. 4.) und Durchschnittsmenschen (d. h. solche exoterischer Kreise) meist nur punktuell und nur mit einem sehr kleinen Ausschnitt aus Fachwortschätzen konfrontiert werden. Hinzu kommt, dass viele Ausdrücke sowohl in gemeinsprachlichen als auch in fachspezifischen Lesarten verwendet werden. Bei diesen handelt es sich sogar um die problematischsten, da sie die Gefahr in sich bergen, dass man irrtümlich glaubt, sie zu verstehen, es also zu unbemerkten Missverständnissen kommt. Deswegen hat es auch durchaus einen gewissen Vorteil, Fachwörter gleich als solche erkennbar zu machen, also auch eine esoterische Form zu wählen. Dem steht natürlich gegenüber der Nachteil, dass Laien dadurch abgeschreckt werden, weil sie dann <?page no="298"?> 298 5. Fächer als diskursive Konstrukte den Eindruck gewinnen, gar nichts zu verstehen. Die gewöhnliche Empfehlung lautet daher, Fachwörter in auch an Laien adressierten Texten (in beschränktem Umfang) einzusetzen, sie aber im Text zu erklären. In jedem Fall scheint es sinnvoll, Ausdrücke unter dem Kriterium zu beurteilen, inwieweit sie als Fachwörter identifizierbar sind. Ansetzen können wir dabei zunächst immer nur bei der Form, von der wir noch gar nicht wissen, welche Bedeutung damit verbunden ist, ob es sich überhaupt um einen Fachausdruck handelt bzw. ob das Zeichen in fachlicher Bedeutung verwendet wird. Dazu sei eine Grobeinteilung (Abb. 5.10) vorgeschlagen, die allerdings eher als Skala zu denken ist (daher der Doppelpfeil). Erkennbarkeit von Fachwörtern Form auffällig / unbekannt Form unauffällig / bekannt Gebrauch (auf den 1. Blick) unauffällig alle Teile bekannt Gebrauch auffällig einzelne Teile bekannt gänzlich unbekannt Abb. 5.10: Erkennbarkeit von Fachausdrücken Der größte Teil der immensen ‚Gesamtmenge‘ von Fachausdrücken, also insbesondere relativ neuer, dürfte im rechten Bereich liegen, d. h. schon von der Formseite her allenfalls in einzelnen Teilen bekannt sein. 81 Gerade das macht ja auch das Unbehagen an Fachsprachlichem aus, wenn Laien damit in (auch) für sie gemeinten Texten konfrontiert werden-- man sieht sofort, dass man nichts versteht. Allerdings sind in der genannten Kommunikationssituation die unauffälligen Wörter, wie bereits ausgeführt, ebenfalls problematisch, weil sie (wie z. B. auch Terminus) in der Mehrzahl der Fälle nicht terminologisch gebraucht 81 Den Fall, dass alle Teile bekannt sind, aber Fachlichkeit trotzdem erkennbar ist, repräsentieren v. a. sehr lange Ausdrücke, im Deutschen Komposita (z. B. Anhängerbremskraftregler, Beispiel nach v. Hahn 1983: 86), allgemein mehrwortige Ausdrücke, die dann charakteristischerweise wieder gekürzt werden. <?page no="299"?> 299 5.4. Fachwörter aus Fachtexten werden und nicht sicher ist, ob oder inwieweit der Ausdruck in fachlichem Sinn zu verstehen ist. Ob jemand eine Form kennt bzw. sie ihm auffällt, ist natürlich eine völlig subjektive Frage. Um zu einer intersubjektiven Operationalisierung zu kommen, zieht man zunächst am besten Nachschlagewerke heran. Es gibt verschiedene Arten von Zusammenstellungen fachlicher Ausdrücke und auch (nicht einheitlich verwendete) Bezeichnungen dafür, u. a. Thesaurus, Nomenklatur, Glossar, terminologische Datenbank, aber auch Wörterbuch, Lexikon. Neben Texten, in denen Fachausdrücke explizit (erstmals) eingeführt und definiert werden, und / oder solchen, die nicht explizit definierte, aber fachwortverdächtige Ausdrücke enthalten, greifen wir also auf Sammlungen zurück, deren wesentliche Funktion darin besteht, den Wortschatz aufzubereiten. Sie charakterisieren sich (in der Regel durch den Titel) selbst als solche, die den Wortschatz eines bestimmten Fachgebiets oder eben der Gemeinsprache (mit mehr oder weniger großer Berücksichtigung von allgemeiner geläufigen Fachausdrücken) betreffen. Sämtliche Wörter eines Textes / Textkorpus lassen sich in diesen Werken nachschlagen und einer der Gruppen aus Abbildung 5.11 zuordnen. In welcher Art von Nachschlagewerk ist der Ausdruck verzeichnet? in keinem Nachschlagewerk nur in allgemeinen Wörterbüchern allgemeine fachspezifische ohne Angabe eines Fachgebiets in allgemeinen Wörterbüchern UND in fachspezifischen Nachschlagewerken nur in fachspezifischen Nachschlagewerken mit Angabe (mindestens) eines Fachgebiets ohne Verweis auf gemeinsprachlichen Gebrauch mit Verweis auf gemeinsprachlichen Gebrauch Abb. 5.11: Vorkommen eines Ausdrucks in Nachschlagewerken <?page no="300"?> 300 5. Fächer als diskursive Konstrukte Die Ausdrücke der ersten und dritten Gruppe können leicht der Gemeinsprache bzw. einem oder mehreren Fachwortschätzen zugeordnet werden, unklar bleibt, wofür man die aus der zweiten und vierten Gruppe halten soll. Die zweite Gruppe betrifft den Übergangsbereich, der zeigt, dass eine reinliche Scheidung zwischen Gemeinsprache und Fachsprachen nicht möglich ist, die Fachsprachen nämlich einerseits auf der Gemeinsprache aufbauen und Fachausdrücke umgekehrt in die Gemeinsprache ‚eindringen‘, d. h. auch in Texten für den exoterischen Kreis vorkommen. Solche Sammlungen behandeln wir nun als Quelle für die Rekonstruktion der-- ja nicht unmittelbar zugänglichen-- Größe ‚Wortschatz der Sprache / Varietät x‘, d. h. sie sollten zumindest in einem gewissen Ausmaß Aufschluss darüber geben, welche Gebiete Spezialisten selbst als relevant setzen und welche Ausdrücke sie dabei für wichtig halten. Da ‚der‘ Wortschatz von Fachgebieten ebenso wie der ‚der‘ Gemeinsprache keine klar abgrenzbare Menge von Einheiten umfasst, müssen auch allgemeine Nachschlagewerke herangezogen werden. Dabei geht es nicht allein darum, ob die Ausdrücke verzeichnet sind oder nicht (ob sie also auf den potenziellen Listen der weißen Kästchen erscheinen würden), sondern auch darum, welche Gebrauchsbedingungen dafür angegeben sind. Dazu gehört zunächst, ob sie (oder einzelne Lesarten davon) als fachlich markiert sind (vgl. 2.1.). Relevant ist ferner die Frequenz, die ein wesentliches Kriterium dafür ist, ob ein Ausdruck zum Zentrum, dem grundlegenden Wortschatz, gehört oder in den peripheren Bereich. Ausdrücke, die nur selten vorkommen, sich z. B. noch in der ‚Erprobungsphase‘ eines esoterischen Kollektivs befinden, werden gar nicht erst in das Verzeichnis aufgenommen. Da der grundlegende Wortschatz auch zur Gemeinsprache gehört, halten ihn manche in fachlich spezialisierten Zusammenhängen grundsätzlich für ungeeignet oder für so trivial, dass er nicht in Fachwörterbücher gehört (vgl. dazu ausführlich Kolde 2001 und die dort angeführte Literatur). Nun sind sich die Wörtersammler keineswegs immer darüber einig, wie mit den verschiedenen Ausdrücken umzugehen ist. Die Abbildung 5.11 enthält daher wieder einen Doppelpfeil, der in diesem Fall besagt, dass die Ausdrücke bzw. Lesarten in mehr oder weniger vielen Werken (so) verzeichnet sind. Eine derartige Analyse hat Kolde (1999) an den beiden Lemmareihen Laut, Wort, Satz, Text und Phonem, Lexem, Phrase (in der Lesart wie in Nominal-, Verbalphrase usw.) und Textem vorgenommen, nämlich deren Vorkommen und Markierung (als linguistisch) in 17 Nachschlagewerken überprüft. Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle dargestellt (Abb. 5.12). <?page no="301"?> 301 5.4. Fachwörter aus Fachtexten AEW L W S T P L P T LFW L W S T P L P T BW + + + + + + + + AB + + + + + + + + DB + + + + - - - - BE + + + + + - - - DU + + + + + + + - BU + + + + + + + + LG + + + + + - + - CO + + + + + + + + PW + + + + - - - - GL + + + + + + + + WA + + + + + + - - HE - + + + + + v + KS + + + + + + - - KK + * * - + + + - LE + + + + + + + - SS + + + + + + - + UL + + + + + + + + Abb. 5.12: Tabellarischer Überblick der Lemmabelegungen (nach Kolde 1999: 222). Legende: + = das Lemma ist belegt; - = das Lemma fehlt; v = reines Verweislemma; * = nur komplexe Lemmata wie Wort-, Satzform 82 Nur noch zehn dieser Wörterbücher, und zwar je fünf für die Gemeinsprache und die linguistische Fachsprache werden beim Vergleich der Begriffsexplikation (häufig als Definition bezeichnet) herangezogen. Als Ergebnis hält Kolde fest: „Wenn schon die funktiolektale Zuordnung der vier- […] Lemmata Laut, Wort, Satz und Text problematisch ist und darum in den untersuchten allgemeinen und linguistischen Wörterbüchern sehr uneinheitlich erfolgt, so sperren sich erst recht die Explikationen beider Lemmaserien in beiden Wörterbuchtypen einer eindeutigen Bestimmung des Grades ihrer Fachsprachlichkeit.“ (Kolde 1999: 234) 82 Abkürzungen: AEW : Allgemeine einsprachige Wörterbücher; BW : Brockhaus Wahrig; DB: Duden Bedeutungswörterbuch; DU: Duden Universalwörterbuch; LG: Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache; PW: Pauls Deutsches Wörterbuch; WA: Wahrig Deutsches Wörterbuch; KS : Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Klappenbach / Steinitz); LFW : Linguistische Fachwörterbücher; AB : Abraham, Terminologie zur neueren Linguistik; BE: Bünting / Eichler, ABC der deutschen Grammatik; BU: Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft; CO : Conrad, Lexikon sprachwissenschaftlicher Termini; GL : Glück, Metzler Lexikon Sprache; HE : Heupel, Taschenwörterbuch der Linguistik; KK : Kürschner, Grammatisches Kompendium; LE : Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch; SS: Sommerfeldt / Spiewok, Sachwörterbuch für die deutsche Sprache; UL: Ulrich, Wörterbuch Linguistische Grundbegriffe. <?page no="302"?> 302 5. Fächer als diskursive Konstrukte Die Nachprüfung in real existierenden Nachschlagewerken bestätigt also für linguistische Grundbegriffe, dass eine säuberliche Aufteilung von Fachwörtern je nach ihrem Fachlichkeitsgrad nicht möglich ist. Um auch ein anderes Fachgebiet einzubeziehen, seien einige Beispiele aus der Chemie angeführt. Ausdrücken wie Wort oder Satz entspricht besonders gut das Wort Metall. In der Gemeinsprache stehen diesem Ausdruck an der Seite: Holz, Papier, Plastik, Stein usw. Das usw. ist hier angebracht, denn es gibt keine geschlossene Liste solcher Kohyponyme, also Unterbegriffe von (Werk-)Stoff, Material. Ganz anders bei Metallen (im Plural! ) im Sinne chemischer Elemente. Neben Metallen (zu denen die meisten Elemente gehören) gibt es Halbmetalle und Nichtmetalle. Ob auf der obersten Ebene noch mit Übergangsmetallen als eigener Kategorie zu rechnen ist, scheint weniger klar, da Übergangsmetalle eine Untergruppe der Metalle sind. Für Wörterbücher der Gemeinsprache müsste aus dem Dargelegten eigentlich folgen, dass Metall zwei Lesarten hat: 1. (Werk-)Stoff [der meist aus verschiedenen Metallen in der Lesart 2 besteht], Nebenbegriffe: Holz, Stein, Papier,-… 2. (Chemie) Gruppe von chemischen Elementen. Nebenbegriffe (je nach Erkenntnisstand und Bezugstheorie): Nichtmetall, Halbmetall, (Übergangsmetall) (Werk-)Stoff Metall Holz Ton Papier … … chemische Elemente Metalle Nichtmetalle (Übergangsmetalle) Halbmetalle Abb. 5.13: Metall in der Gemeinsprache und der Fachsprache der Chemie <?page no="303"?> 303 5.4. Fachwörter aus Fachtexten In DUW und DWDS ist aber durch den Oberbegriff ‚chemisches Element‘ nur die Lesart 2 expliziert, obwohl die meisten Beispiele Lesart 1 betreffen und es sich nicht um ein Element, sondern eine Gruppe davon handelt: ‚chemisches Element, das sich durch charakteristischen Glanz, Undurchsichtigkeit und die Fähigkeit, Legierungen zu bilden sowie Wärme und Elektrizität zu leiten, auszeichnet‘ ( DUW ) ‚chemisches Element mit charakteristischem Glanz und einer meist silberweißen bis grauen Färbung, das geringe Lichtdurchlässigkeit, gute elektrische Leitfähigkeit und hohe Leitfähigkeit für Wärme besitzt‘ ( DWDS ) Wahrig ( 8 2006) wählt als Oberbegriff ‚Stoff ‘ und die Definition lässt eher an Lesart 1 denken: ‚mit Ausnahme des Quecksilbers bei Zimmertemperatur fester kristalliner Stoff, der einen charakterist. Glanz u. hohes elektr. u. Wärmeleitvermögen hat‘ (Wahrig) In dem Wörterbuch für Deutsch als Fremdsprache geht es schließlich nur um die nicht-fachliche Lesart, die unter den Oberbegriff ‚Substanz‘ gestellt wird: ‚eine meist harte, glänzende Substanz (wie Eisen, Gold und Silber), die Wärme und Elektrizität gut leitet und die man (in heißem Zustand) durch Walzen oder Pressen formen kann‘ (Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache) Selbst für Wörterbuchschreiber ist es offenbar nicht immer einfach, Gemein- und Fachsprache auseinanderzuhalten. Außerdem enthalten alle Definitionen Sachinformationen zu den Eigenschaften von Metall, insbesondere zu solchen, die der Wahrnehmung unmittelbar zugänglich sind. Zu den zentralen Ausdrücken der Chemie gehören zweifellos Element, Molekül und Periodensystem sowie die Bezeichnungen für die einzelnen Elemente. Alle diese Begriffe erscheinen mit der relevanten fachspezifischen Bedeutung in allgemeinsprachlichen Wörterbüchern wie dem DUW und in allgemeinen Enzyklopädien wie dem Brockhaus, die beiden letzten aber nicht im sog. Gold Book, dem von der International Union of Pure and Applied Chemistry ( IUPAC ) herausgegebenen Compendium of Chemical Terminology, das gut 7.000 Einträge umfasst (http: / / goldbook.iupac.org/ ). Ein deutschsprachiges Glossar aus einer curricularen Enzyklopädie zur Chemie namens ChemgaPedia umfasst ca. 4.000 Einträge, 83 darunter auch die drei genannten, es verzichtet 83 www.chemgapedia.de/ vsengine/ glossar/ de/ index.html; <6. 11. 2017> <?page no="304"?> 304 5. Fächer als diskursive Konstrukte aber ebenfalls auf Einträge für die Elementnamen oder wichtige chemische Verbindungen. Man findet also z. B. Lithium-Methode und Natriumchlorid-Gitter, nicht jedoch die Bestimmungswörter dieser Komposita. Zum peripheren Wortschatz gehören- - wie beim Gemeinwortschatz- - auf jeden Fall neu gebildete Ausdrücke, die in primären Fachtexten, besonders im Rahmen der Forschungstätigkeit geprägt werden. Auch wenn sie definiert sind, hat der neue Begriff bzw. das Begriffssystem zunächst nur Gültigkeit für den einzelnen Text oder eine Gruppe eng zusammengehöriger Texte. Da im Allgemeinen an einem Objektbereich sehr viele Menschen in verschiedenen Ländern und Sprachen arbeiten, kommt es beim Versuch, diesen begrifflich zu strukturieren, leicht zu einer Menge konkurrierender Ausdrücke und auch verschiedener inhaltlicher Systematisierungen, Modelle und Theorien. Während in der Gemeinsprache und in Disziplinen mit wenig ausgebildeter terminologischer Stringenz allein die Beobachtung des Sprachgebrauchs Grundlage dafür ist, ob Ausdrücke oder Bedeutungsvarianten in Wörterbücher aufgenommen oder auch wieder daraus ausgeschlossen werden, gibt es in Gebieten mit großem Standardisierungsbedarf Instanzen, die den Sprachgebrauch laufend prüfen und Empfehlungen aussprechen. Im Gold Book sind z. B. bei jedem Terminus die Quellen, in der Regel Empfehlungen der IUPAC , frühere Nomenklaturen u. Ä. angeführt. Die terminologische Arbeit besteht also in einem sehr komplexen Abgleichungsprozess, der angesichts der ständigen Neuerungen auch nie abgeschlossen ist. Die Vorstellung, Fachausdrücke oder auch Termini i. e. S. würden in einem einfachen deklaratorischen Akt verbindlich definiert, geht also an den tatsächlichen Verhältnissen gänzlich vorbei und widerspricht ja auch dem Wesen wissenschaftlicher Arbeit (vgl. auch 5.5.). Damit sind wir beim Kriterium der Standardisiertheit von Fachausdrücken. In der älteren Literatur beschränkt man den Fachwortschatz meist auf das, was für ein Fach charakteristisch ist, schließt jedenfalls den gemeinsprachlichen Wortschatz aus, unterscheidet aber nach dem Kriterium der terminologischen Strenge. Besonders bekannt ist das Schema von Wilhelm Schmidt (Abb. 5.14), das voraussetzt, dass nicht alle Ausdrücke gleich präzise definiert sind. <?page no="305"?> 305 5.4. Fachwörter aus Fachtexten Fachwortschatz Fachjargonismen Termini standardisierte nichtstandardisierte Halbtermini Abb. 5.14: Gliederung des Fachwortschatzes entsprechend dem Standardisierungsgrad (nach W. Schmidt 1969: 20) Natürlich ist auch hier damit zu rechnen, dass es sich eher um eine Skala handelt, man also viele Begriffe nicht eindeutig zuordnen kann und die Ausdrücke im Laufe der Zeit in eine andere Kategorie wechseln (können). So geht der Standardisierung immer ein nichtstandardisierter, aber definierter Gebrauch voraus, nicht zuletzt weil ein solches institutionalisiertes Verfahren Zeit beansprucht. Immerhin macht das Schema deutlich, wo man Termini im engeren bzw. im weiteren Sinn einordnet: Im engsten Sinn handelt es sich nur um die linke Gruppe, für die die Terminologielehre entwickelt wurde (vgl. 1.1.). Dies ist die Lesart von Terminus, die man im Metzler Lexikon Sprache findet, während Bußmann kein Lemma zu dem Ausdruck enthält. „Fachausdruck einer Einzelwiss., der in einer theoriegeleiteten → Terminologie exakt definiert ist. Ein T. muss innerhalb dieser Terminologie systemat. auf andere Termini beziehbar sein.“ (Glück 2010: 704) Im weitesten Sinne ist die Gesamtheit des Fachwortschatzes einbezogen; alltagssprachlich gehört dazu einfach alles, was ein Fachausdruck sein könnte. Das DUW umschreibt die Bedeutung von Terminus mit ‚festgelegte Bezeichnung, Fachausdruck‘, die von Terminus technicus gar nur mit ‚Fachausdruck‘. Fachausdruck selbst wird erklärt als ‚feste, spezielle Bezeichnung für etwas ganz Bestimmtes in einem bestimmten Fachgebiet; Terminus‘. Wenn in 3.2.3. behauptet wurde, Wissensgesellschaft sei überhaupt kein Terminus, so unter Zugrundelegung einer engeren Lesart. <?page no="306"?> 306 5. Fächer als diskursive Konstrukte Dass es sich bei Fachwörtern (und Untertypen davon) nicht um klar abgrenzbare Mengen ohne Überschneidungsbereiche handelt, sondern um gleitende Skalen, versuchte man in der Fachsprachenforschung schon relativ früh zu modellieren. Für erhellend halte ich noch immer das Modell von Heller (Abb. 5.15), da er versucht, zugleich andere Varietäten einzubeziehen. Problematisch ist freilich die Platzierung von Dialektismen, Jargonismen und (erst recht! ) Fremdwörtern, da letztere besonders häufig zugleich Fachwörter sind und die ersten beiden Typen es sein können. Abb. 5.15: Versuch einer Systematisierung des Wortschatzes unter den Aspekten von Fachlichkeit und allgemeiner Verständlichkeit (Heller 1970: 533) Der Grad der Spezialisation kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden: ▶ Ein Ausdruck kann mehr oder weniger fachspezifisch sein. Ein wichtiges Kriterium dafür ist der Grad seiner Allgemeinverständlichkeit (angedeutet durch den abnehmenden Schwärzungsgrad der Striche). ▶ Ein Weltausschnitt kann mehr oder weniger intensiv fachlich erschlossen sein. Ein wichtiges Kriterium dafür ist das Ausmaß der Spezialisiertheit <?page no="307"?> 307 5.4. Fachwörter aus Fachtexten vorliegender Kenntnisse, das sich u. a. in der Menge der Fachwörter eines Sachbereichs niederschlägt. ▶ Und schließlich kann ▷ ein einzelner Mensch mehr oder weniger Expertise haben, d. h. mehr oder weniger von dem Fachgebiet wissen bzw. in mehr oder weniger großem Umfang über das kollektiv vorhandene Spezialwissen verfügen, ▷ ein mehr oder weniger großer Teil der Gesellschaft über ein bestimmtes Ausmaß an Spezialwissen verfügen. Der Grad der Allgemeinverständlichkeit hängt eng mit der Bildungsweise zusammen. Auf diese greift man relativ häufig zur Subkategorisierung von Fachwörtern zurück. Besonders differenziert hat v. Hahn (miteinander kombinierbare) Zeichenklassen unterschieden (Abb. 5.16). Zeichenklasse Beispiel Elemente Wort Treibriemen, PVC Buchstaben Sonderzeichen Name Dunlop, BDF Buchstaben Sonderzeichen Zahl II/ 3798-1 Ziffern Symbole Formel Symbole Buchstaben Ziffern Graphik Kanten, Knoten, Kästen etc. Bild Farbwertzonen Abb. 5.16: Fachsprachliche Zeichenklassen (nach v. Hahn 1983: 83) <?page no="308"?> 308 5. Fächer als diskursive Konstrukte Hervorzuheben ist zunächst, dass man auch in Fachsprachen nur sehr selten auf das Verfahren der eigentlichen Wortschöpfung zurückgreift, d. h. eine in der Sprache noch nicht besetzte Lautfolge, ein potenzielles Wort (z. B. Ando, Belu), neu kreiert. Dies wäre sehr einfach, weil es eine Unmenge solch potenzieller, d. h. in der Sprache bildbarer Ausdrücke gibt und diese Bildungen dem Arbitraritätsprinzip vollkommen entsprechen. Tatsächlich ist jedoch das Bedürfnis nach relativer Motiviertheit so groß, dass dieses Verfahren kaum Verwendung findet. Charakteristisch ist es nur für Produktnamen (z. B. Elmex, Kodak). Teilweise gehen die Ausdrücke, die wie Fantasienamen wirken, aber auch auf (Kürzungen von) Eigennamen zurück (z. B. Haribo, Adidas). Angesichts der starken Tendenz zu (akronymischen) Kurzwörtern entstehen aber doch viele Elemente, die völlig arbiträr, also nicht durchschaubar wirken, allerdings einen großen Bekanntheitsgrad erlangen können wie das im Schema erwähnte PVC , das auf Polyvinylchlorid zurückgeht, oder DNA (engl. deoxyribonucleic acid) bzw. DNS (Desoxyribonukleinsäure). Die Langformen entsprechen einem besonders beliebten Verfahren für die Bildung wissenschaftlicher Ausdrücke, dem Rückgriff auf griechisch-lateinisches Morphemmaterial, das dann in alle Arten von Wortbildungsstrukturen eingehen kann, auch in hybride, also solche, die mit indigenem Morphemmaterial gemischt sind. Welches Verfahren zur Fachwortbildung benutzt wird, hängt sehr stark vom jeweiligen Fachgebiet ab. Hervorzuheben ist aber, dass dem früher üblichen Hinweis, Metaphern seien typisch für Handwerkersprachen, in der Wissenschaft dagegen unangemessen oder gar verboten, v. a. im Gefolge der Metapherntheorie von Lakoff / Johnson (1980) heute eine breite Anerkennung der großen Bedeutung übertragener Redeweise gegenübersteht. Sie erlaubt es, Fremdes an bekannte Schemata anzuschließen und strukturiert so das Sehen vor: Das Gehirn funktioniert wie ein Computer; Maschinen verhalten sich wie Menschen usw. Sehr wesentlich hängt die Frage, welche Bildungsweisen typisch sind, damit zusammen, wie intensiv ein Fachgebiet bereits bearbeitet ist: Eine besonders systematische und auch stark kontrollierte Terminologie ist v. a. für Sachbereiche charakteristisch, die sehr umfassend erschlossen sind, die daher auch über einen besonders großen Bestand an Fachwörtern verfügen wie z. B. Biologie, Medizin und viele technische Bereiche- - man erinnere sich daran, dass die Terminologielehre im Kontext der Elektrotechnik entstand. Damit kommen wir zu einem letzten Kriterium, nach dem man Fachwörter unterscheiden kann, das allerdings eher selten benutzt wird, nämlich die Frage <?page no="309"?> 309 5.4. Fachwörter aus Fachtexten auf welche Objektbereiche und welche Referenten sich die Fachausdrücke beziehen. Aus der Laiensicht ist besonders relevant, inwieweit die Objekte dem Durchschnittsmenschen bekannt, vertraut und zugänglich sind. Aber auch für Fachleute stellt sich die Frage, ob sie die Referenten eindeutig identifizieren und z. B. entsprechend einer Definition eine Menge von Objekten klar und exakt verschiedenen Klassen zuordnen können. Auch hierfür sei ein grobes Schema (Abb. 5.17) präsentiert, das v. a. dazu dient, Prototypen von Objekten zu situieren. Referenten von Fachwörtern Artefakte Naturphänomene menschlicher Wahrnehmung unmittelbar zugänglich materielle menschlicher Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich institutionelle kognitive Blut Blutkörperchen Computer Europarat Wissensgesellschaft Phänomene der 3. Art Klimawandel Sprachwandel Abb. 5.17: Referenten von Fachausdrücken Es sind die materiellen Artefakte, und zwar insbesondere die technisch, in industrieller Serienfertigung hergestellten, die präzise Bezeichnungen für eindeutig identifizierbare Objektklassen notwendig machen, aber auch besonders einfach ermöglichen. Denn in diesem Fall ist schon das Verfahren der Herstellung der Sachen, prototypisch dafür Maschinen (im Beispiel wären das bestimmte Computermodelle) und ihre Bestandteile, kontrolliert und standardisiert, so dass man über die ‚objektive Existenz‘ der geschaffenen Produkte und ihre Identifizierbarkeit nicht in Streit geraten kann. Die Ausdrücke zur Bezeichnung solcher Referenten können mehr oder weniger geeignet sein, ihre Präzision ergibt sich aber allein aus dem eindeutigen Bezug auf eine Objektklasse; sie stehen also namenähnlichen Elementen relativ nahe. Während bei materiellen Artefakten der eindeutige referentielle Bezug unproblematisch ist, <?page no="310"?> 310 5. Fächer als diskursive Konstrukte gilt das schon weit weniger für Mengen von Artefakten, die zu Typen zusammengefasst werden (im Beispiel wäre das die Gattungsbezeichnung Computer). Bei Abstrakta als rein kognitiven Konstrukten lässt sich schließlich über den Wirklichkeitsbezug am schlechtesten entscheiden. 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen In diesem Abschnitt soll ein Sachfeld, das schon mehrfach zur Sprache gekommen ist, noch einmal in einen etwas größeren Zusammenhang gestellt werden, so dass auch längere Texte in den Blick kommen. Bei der Chemie handelt es sich um eine prototypische Expertendomäne, die für Durchschnittsmenschen kaum relevant ist. Zum Vergleich werden einige Fachausdrücke aus der Linguistik herangezogen, einer Wissenschaft, die ein Alltagsphänomen par excellence zum Gegenstand hat und die zudem für alle Fachgebiete relevant ist. Damit werden auch die (vermeintlichen) Gegensätze zwischen Natur- und Geisteswissenschaften noch einmal aufgenommen, die ein wesentliches Thema in 5.2. waren. Dort wurden sie aus Sicht von Vertretern exakter Wissenschaft behandelt, hier geht es um sprachwissenschaftliche Erläuterungen. Bei den im Titel genannten Ausdrücken für fundamentale Einheiten dieser Wissenschaften handelt es sich in beiden Fällen um Syntagmen, deren substantivischer Kern mehrdeutig ist, erst das Adjektiv weist auf Fachlichkeit hin. Im DUW erscheint unter dem Lemma Element eine Lesart (Nr. 5) mit der Markierung Chemie, bei Zeichen ist das nicht der Fall, ebenso wenig bei Bezeichnung, Inhalt, Bedeutung, Begriff und Benennung, die Prägungen aus der Terminologielehre (vgl. 1.2.) sind also nicht erfasst. Lediglich Signifikant, Ausdrucksseite und Wortkörper, also drei verschiedene Ausdrücke für die eine Seite des Zeichens, werden der Sprachwissenschaft zugeordnet, Signifikat oder Inhaltsseite sind nicht verzeichnet. Wie in 5.4.2. erwähnt, behandelt das DUW Metall als einen Unterbegriff zu ‚chemisches Element‘, die fach- und die alltagssprachliche Verwendung vermischen sich. Drei weitere Einträge seien hier zusätzlich herangezogen: Pe|ri|o|den|sys|tem, das <o. Pl.> (Chemie): systematische Anordnung der chemischen Elemente in einer Tabelle nach Eigenschaften, die sich in einer bestimmten Ordnung wiederholen; periodisches System. <?page no="311"?> 311 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen Na|t|ri|um, das; -s [zu → Natron]: sehr weiches, an Schnittstellen silberweiß glänzendes Alkalimetall, das sehr reaktionsfähig ist und in der Natur fast nur in Verbindungen vorkommt (chemisches Element; Zeichen: Na). Kạd|mi|um, (fachsprachlich: ) Cadmium, das; -s [zu lateinisch cadmia-= Zink(erz) < griechisch kadmía]: silberweiß glänzendes, leicht schneidbares Metall (chemisches Element; Zeichen: Cd). Bemerkenswert ist, dass die Bezeichnungen für die chemischen Elemente gar nicht mit der Markierung Chemie versehen sind (bei Kadmium bezieht sich die Markierung fachsprachlich nur auf die Schreibweise mit C), nicht einmal, wenn es sich um so relativ unbekannte wie Bohrium oder Polonium handelt. Die Bedeutungserläuterung hat enzyklopädischen Charakter. Dass die Ausdrücke weniger als sprachliche Zeichen denn als Etiketten für außersprachliche Dinge behandelt werden, zeigt die Erläuterung zum Periodensystem, das gar keinen namenartigen Charakter trägt: Es soll keine Pluralform dazu geben. Diese lässt sich aber natürlich sprachsystematisch problemlos bilden, da das Kompositum ja ein pluralisierbares Grundwort enthält anders als z. B. Stoffbezeichnungen wie Milch- - dazu dann etwa Milchsorten; anders aber auch als die einzelnen chemischen Elemente, zu denen es tatsächlich keinen normalen Plural gibt. Wichtiger ist, dass der Plural Periodensysteme sogar recht gebräuchlich ist. Dies gibt Anlass, die Relativität der Referententypen aus Abbildung 5.17 zu thematisieren: Das Periodensystem ist ein kognitives Artefakt, ebenso wie z. B. ein Sprachsystem oder eine Grammatik. Es erscheint aber auch als materielles Artefakt, als Bild, wie man leicht feststellt, wenn man Periodensystem(e) in Google Bilder eingibt. Ferner ist zwar ein bestimmtes System derzeit das Standardmodell, dieses hat sich aber im Laufe der Zeit entwickelt, und es gibt auch heute andere Entwürfe (vgl. Wikipedia, unter Alternative Periodensysteme). Das Standardmodell ist Ergebnis institutioneller Artefakte, u. a. der IUPAC . Das Periodensystem soll / will natürlich Naturphänomene erfassen. Schon die (meisten) Elemente sind aber der menschlichen Wahrnehmung nicht zugänglich, sondern müssen erst mithilfe kognitiver und materieller Artefakte isoliert oder gar künstlich hergestellt werden. Das Periodensystem als solches ist nicht beobachtbar. Damit unterscheiden sich die Objekte der Chemie keineswegs so grundsätzlich von denen, mit denen die Linguistik zu tun hat: Es gibt der menschlichen Wahrnehmung unmittelbar zugängliche Naturerscheinungen (die Sprachwerkzeuge), solche, die der (unmittelbaren) Wahrnehmung nicht zugänglich sind <?page no="312"?> 312 5. Fächer als diskursive Konstrukte (u. a. die angeborene Sprachfähigkeit); ferner kognitive Artefakte (Sprachtheorien), materielle Artefakte (darunter sprachliche Äußerungen und Wörterbücher), Institutionen wie die IPA (www.internationalphoneticassociation.org) oder den deutschen Rechtschreibrat (www.rechtschreibrat.com). Die Unterschiede sind relativ. Allerdings ist der Konsens insbesondere über das Standardmodell des Periodensystems sehr viel größer als der über sprachtheoretische Modelle, u. a. die Frage, was am menschlichen Sprachvermögen angeboren und damit den Naturphänomenen zuzurechnen ist. Besonders breite Übereinstimmung besteht immerhin über die Spezifik des sprachlichen Zeichens nach dem Modell von Ferdinand de Saussure: Es umfasst eine Ausdrucks- und eine Inhaltsseite. Diese doppelseitigen Zeichen als Ganze sind die Grundelemente natürlicher Sprachen. Der größte Teil von ihnen, nämlich die (mehr oder weniger komplexen) lexikalischen Einheiten dient zur Referenz auf Elemente der wirklichen oder geistig entworfener Welten. Wir kommen nun zu Belegen für die Ausdrücke in nichtfachlichen Texten. Im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo-2015- II ; April 2017) finden sich 1.486 Belege für den Ausdruck Periodensystem. Davon stammen 619 (in 334 Texten) aus einer ‚Enzyklopädie‘ (Wikipedia), also einem Textkorpus mit hohem Fachlichkeitsgrad (s. u.). 79 (57 Texte) sind der Textsorte ‚Bericht‘ zugeordnet. Bei den meisten (743; 474 Texte) erscheint als Textsorte die Kategorie ‚undefiniert‘. Es handelt sich aber, wie bei 16 anderen Textsorten mit weniger als 10 Belegen oder Texten fast ausschließlich um solche aus den Massenmedien. Teilweise sind sie typische Vertreter von Wissenschaftspopularisierung (z. B. aus Rubriken wie dem Aktuellen Lexikon der Süddeutschen Zeitung). Periodensystem steht aber auch metonymisch für Chemie und wird als Inbegriff eines vollständigen wissenschaftlichen Systems, das die Rätsel der Natur erschließt, auf andere Gebiete übertragen. Dazu einige Belege: 84 „eine Genkarte-- vergleichbar mit dem Periodensystem der chemischen Elemente“ „Daneben ein Periodensystem-- für Sex, 118 Stellungen, fein säuberlich angeordnet“ „die Geschichte von der Arche Noah unter Verwendung der vier Elemente-- Feuer, Erde, Wasser und Luft-- dargestellt, die die Urstoffe des Daseins bedeuten, sozusagen das Periodensystem des Glaubens“ 84 Ein genauer Belegnachweis scheint mir hier entbehrlich. Für die längeren Auszüge habe ich die Texte aus den Originaldokumenten ergänzt. <?page no="313"?> 313 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen „Liebe, das ist eben nicht nur eine zwischenmenschliche Angelegenheit, sondern auch eine Chemie der Herkunft mit einem ganz eigenen familiären Periodensystem“ „Mag [im Museum] auch im ersten Moment eine Kleinigkeit fehlen, die irgendwann auftauchen wird wie ein noch nicht entdecktes Element in Mendelejews Periodensystem“ „Es gibt in diesem Werk [von Sol LeWitt, amerikanischer Konzeptkünstler] keine überflüssigen oder ‚schwachen‘ Arbeiten. Jede ist in sich abgeschlossen, autonom wie ein Axiom. Das Frappante dieses Œuvres ist die Stringenz eines Gesamtsystems, bei dem nichts weggekürzt werden kann.-[…] Es gibt auch keine stufenweise Entwicklung zu beobachten. Vielmehr formuliert dieser Creator laufend neue Konzepte, die wie die Elemente im chemischen Periodensystem nebeneinander stehen.“ „Das System des Lagers [Auschwitz] dominiert immer noch sein [Primo Levis] Leben, stärker als jedes chemische Gesetz, es wird zu seinem persönlichen Periodensystem der Vernichtung.“ Auch für die Übertragung auf Sprache findet sich ein Text: „Es sei an der Zeit, Ordnung in die Atome der Sprache zu bringen, wie es die Chemiker vor 140 Jahren mit den Bausteinen der Materie vorgemacht haben. Um die Analogie zur Chemie dreht sich das Buch. Chomsky ist für Baker der Demokrit der Linguistik und ihr John Dalton in einer Person: der Urvater der Atomtheorie und der erste, der überprüfbare Vorhersagen aus ihr ableitete. Für sich selbst hat Baker offenbar die Rolle Dimitri Mendelejews vorgesehen, der das Periodensystem der Elemente entdeckte.“ (Süddeutsche Zeitung, 5. 4. 2002) Abgesehen von diesen auf dem Prestige aufbauenden Verwendungen assoziieren viele mit Periodensystem meist unangenehme Erinnerungen an die Schule. Unmittelbar damit zusammenhängend stehen viele Belege, in denen es um die Probleme der Vermittlung geht: „Düstere Reminiszenzen an den Chemie-Unterricht: ‚73 / Ta / Tantalum‘, ‚6 / C/ Carbon‘ oder ‚12 / Mg / Magnesium‘. Mit der-[…] ‚Credit Card for a Universe‘ ermöglicht der ‚steirische herbst‘ heuer eine Beschäftigung mit dem Periodensystem der Elemente. Die Partitur des Universums, zusammengefasst auf einer kleinen, handlichen Scheckkarte.“ „Womit sich die Chemie befasst, dürfte den Erwachsenen noch aus früheren Schulstunden bekannt sein. Vor allem das Periodensystem der Elemente, das als tabellari- <?page no="314"?> 314 5. Fächer als diskursive Konstrukte sche Auflistung schwer verständlicher Abkürzungen einst über der Tafel im Klassenzimmer baumelte, hat beim Leistungstest so manchen Schweißausbruch verursacht. Was sollte man sich bloß unter Sodium, Molybdenum und Co. vorstellen? Hierfür halbwegs anschauliche Erklärungen zu finden, damit steigt Moschner in die Welt der Chemie ein. Nicht alle, aber einige Elemente sind greifbar.“ [Kontext Schulsanierung] „Rüdiger David, Leiter des Immobilienmanagements der Kreisverwaltung, schwärmt gerade so, als wolle er noch einmal das berühmt-berüchtigte Periodensystem der chemischen Elemente pauken: ‚Im neuen Raum lassen sich die Systeme von der Decke absenken.‘“ „Ein Highlight war auch der Vortrag von Glenn Pennock. Der ‚Internetguru‘ referierte zum Thema ‚Erleben von Bilderwelten im Internet‘. Für ihn sind Bilder ‚die wichtigsten Informationsträger überhaupt‘. Wie viel Information Bilder transportieren, bewies er, indem er den Schülern das Periodensystem der chemischen Elemente innerhalb kürzester Zeit mit der Hilfe von Bildern beibrachte.“ „Es gibt spezielle Computerprogramme. Man kann ein Periodensystem zeigen und wenn man auf ein Element klickt, erscheinen alle seine Eigenschaften auf dem Monitor“ Zum Abschluss dieses Blocks eine bunte Nachricht, die zeigt, dass manche doch etwas mehr aus dem Chemieunterricht zurückbehalten haben: „Mit Hilfe von Chemiekenntnissen aus ihrer Schulzeit haben Polizisten einen Hochstapler entlarvt. Der 53-jährige Betrüger hatte sich unter falschem Namen und mit gestohlenen Papieren als Doktor der Chemie in ein Hotel eingemietet. Weil dem Hotelier der Gast verdächtig vorkam, alarmierte er die Polizei. Als die Beamten den Mann nach dem Periodensystem der Elemente- - dem kleinen Einmaleins dieser Wissenschaft- - fragten, musste der 53-Jährige passen.“ (Nürnberger Nachrichten, 4. 4. 2002) Ein weiterer wichtiger Inhaltskomplex betrifft den Bereich Gesundheits- und Umweltbelastung. Das Vorhandensein vieler Elemente in Dingen unserer Umgebung wird als beängstigend erlebt. Ebenso wie beim Vermittlungsproblem gibt es meist einen aktuellen Anlass für die Texte: „Viele Gartenböden sind stark belastet mit Blei, Zink, Kupfer und Cadmium. Praktisch alle Metalle aus dem Periodensystem sind in Flechten nachweisbar“ <?page no="315"?> 315 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen „‚Salopp gesagt, findet man dort im Boden das Periodensystem kreuz und quer‘, sagt der Chemiker-[…]. Genaue Aufzeichnungen über die abgelagerten Abfälle gebe es indes nicht.“ Zum Abschluss dieses Blocks noch zwei Texte von Zeitungslesern aus den Niederösterreichischen Nachrichten (vom 18.9. bzw. 9. 10. 2007) „Zum Thema ‚Basaltfaserwerk‘-- Forschung und Produktion an der TU Wien: Prof. Marini gab uns eine Einführung in die Basaltfasertechnik und führte uns seine Versuchsanlage vor. Unser größtes Bedenken wurde sogar vergrößert. Laut Marini ist im Basalt das gesamte chemische Periodensystem ab Natrium enthalten. Auch wenn teilweise in nur sehr geringem Anteil heißt das, es sind noch mehr chemische Elemente enthalten, als wir angenommen haben. Damit sind die sich daraus ergebenden Abgase sehr schwer bestimmbar.“ „zum Thema Basaltwerk Sehr überrascht war ich über den Leserbrief der Bürgerinitiative BUH in der NÖN , KW 38. Ich möchte Folgendes richtig stellen: Nicht nur im Basaltgestein ist das gesamte Periodensystem enthalten, sondern in jedem Stein, den wir in der Natur finden. Daraus lässt sich nicht auf Gefährlichkeit schließen.“ Als letzte Gruppe seien Belege zusammengestellt, die aktuelle Nachrichten aus der Wissenschaft betreffen, nämlich neue Elemente. Die Belege sind hier nach Jahren geordnet, der zweite geht auf eine Meldung der Deutschen Presse- Agentur zurück und erscheint in ähnlicher Form mehrfach: 1996 „Wissenschafter haben ein neues Element gefunden: Das 112 Einer Arbeitsgruppe der Gesellschaft für Schwerionenforschung ( GSI ) in Darmstadt ist es nach eigenen Angaben kürzlich gelungen, das Element 112 zu erzeugen. Zum sechsten Mal in Folge haben deutsche Kernphysiker das chemische Periodensystem erweitert: Sie entdeckten das Element 112. Die Zahl gibt an, wieviel positiv geladene Kernbausteine das Element besitzt. Mit einem 277mal höheren Atomgewicht als Wasserstoff ist es das nunmehr schwerste Element, das der Mensch bisher künstlich geschaffen hat. Das ‚natürliche‘ Periodensystem endet beim Uran, dem Element mit der Ordnungszahl 92.“ (Zürcher Tagesanzeiger, 22. 2. 1996) <?page no="316"?> 316 5. Fächer als diskursive Konstrukte 2009 „Neues Element Im chemischen Periodensystem gibt es ein neues Element, das zugleich das schwerste ist. Mehr als 13 Jahre nach seiner Entdeckung am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt ist der Nachweis des Elementes 112 offiziell von der internationalen Chemiker-Union IUPAC bestätigt worden. Eine Bestätigung dauert deshalb so lange, weil dafür umfangreiche Gegentests notwendig sind. Das Element mit der Ordnungszahl 112 ist 277 Mal schwerer als Wasserstoff, das leichteste aller Atome.“ (Mannheimer Morgen, 20. 6. 2009) 2010 „Super-Schwergewicht Neues Element heißt Copernicium Das schwerste anerkannte chemische Element trägt nun einen Namen. Das Element mit der Ordnungszahl 112 im Periodensystem wurde am Montag in Darmstadt auf den Namen Copernicium getauft. Es ist nach dem Astronom Nikolaus Kopernikus (1473 bis 1543) benannt. Die Erzeugung und der Nachweis des Elementes gelangen einer internationalen Wissenschaftlergruppe am Helmholtz-Zentrum für Schwer-Ionen-Forschung ( GSI ) in Darmstadt erstmals 1996. Durch die Verschmelzung von Blei- und Zink-Atomkernen war für Bruchteile von Sekunden das neue Element entstanden und dann gleich wieder radioaktiv zerfallen.“ (Süddeutsche Zeitung, 13. 7. 2010) Die Belege zeigen, dass man die Forschung zu neuen Elementen in Presseorganen mitverfolgen kann. Die Tagespresse bevorzugt eher kurze aktuelle Nachrichten. Angesichts der langen Geschichte dieser Entdeckung / Erfindung überblickt man allerdings die Zusammenhänge nicht. Dafür eignen sich ausführlichere Artikel, die man eher in speziellen Beilagen von Tageszeitungen, den einschlägigen Rubriken aus Wochenzeitungen oder (Special-Interest-)Zeitschriften findet. Ein solcher Artikel erschien unter dem Titel Ionenforschung: Heavy Metallium 2009 in der Zeit: „Das Periodensystem bekommt Zuwachs. Physiker aus Darmstadt schufen das schwerste Atom der Welt. Nun dürfen sie das neue Element taufen Seit Kurzem ist es offiziell: Physiker in Darmstadt haben das anerkannt schwerste Atom der Welt hergestellt. Damit bekommt ein Wissenschaftskrimi, der vor 13 Jahren begann, endlich sein Happy End. Forscher aus Deutschland, Russland, Finnland und der Slowakei waren an den Experimenten beteiligt. Andere versuchten ihnen zuvorzukommen, zwischendurch flog ein Datenfälscher auf. Nun wird das Periodensystem um Element 112 erweitert, ein Metall, das unterhalb von Quecksilber <?page no="317"?> 317 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen und neben Roentgenium (111) steht. Jetzt durften die stolzen Entdecker für ihr umkämpftes Baby einen Namen vorschlagen: Sie einigten sich auf ‚Copernicium‘ mit dem chemischen Symbol ‚Cp‘, zu Ehren des Astronomen Nikolaus Kopernikus. Früher suchten Alchemisten nach dem Rezept für Gold. Heute suchen Schwerionenforscher nach superschweren Elementen jenseits des bereits zu Zerfall neigenden Urans, nach sogenannten Transuranen. Ihre Hexenküchen sind Teilchenbeschleuniger. Einer davon steht bei der Gesellschaft für Schwerionenforschung ( GSI ) in Darmstadt. Die Konkurrenten forschen in Dubna bei Moskau, in Berkeley (Kalifornien) und Japan. Anhand der sehr labilen, superschweren Elemente können die Wissenschaftler ihre theoretischen Atommodelle testen und deren Chemie besser verstehen. Insbesondere suchen sie nach der ‚Insel der Stabilität‘, einer Region auf der Landkarte der Elemente, in der besonders schwere und dennoch relativ stabile Exemplare beheimatet sind, die nicht blitzartig wieder radioaktiv zerfallen. Solche Elemente waren bislang weder auf der Erde noch im All nachweisbar. Deshalb muss man versuchen, sie künstlich herzustellen. ‚Mit Element 112 haben wir den Strand dieser Insel erreicht‘, sagt der Chemiker Andreas Türler von der Technischen Universität München. Wo die höchsten Inselberge liegen, wisse allerdings niemand. Das Backrezept für Element 112 klingt sehr einfach: Man schieße zwei schwere Elemente aufeinander, deren Protonenzahl sich zu 112 summiert, und hoffe, dass beide Atomkerne zu einem verschmelzen. Bei der GSI bombardierten die Physiker Blei (82 Protonen) mit Ionen von Zink (30 Protonen). In der Praxis ist das mühsam. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Atomkerne frontal aufeinanderprallen und dabei verschmelzen, ist äußerst gering. Außerdem überleben die meisten superschweren Atome bislang nur Sekundenbruchteile, bevor sie in leichtere Elemente zerfallen. Eine Woche lang mussten Sigurd Hofmann und seine Kollegen 1996 warten, bis sie in ihrer Datenfülle eine verdächtige Spur entdeckten. Eine charakteristische Abfolge von radioaktiven Zerfallssignalen deutete darauf hin, dass ein Atom von Element 112 für kurze Zeit existiert haben musste, bevor es in leichtere Elemente zerfiel. Tage später fanden sie eine weitere Indizienkette. Zwar gab es Unstimmigkeiten zwischen beiden Messungen, die Physiker veröffentlichten sie trotzdem. Was damals niemand ahnte (bis auf einen): Hofmanns Mitarbeiter Victor Ninov hatte die erste Datenreihe gefälscht. Um ein aussagekräftiges Ergebnis vorzugaukeln, hatte er einfach Rohdaten am Computer ergänzt. ‚Außer Ninov hat da niemand reingeguckt‘, sagt Hofmann heute. ‚Das Ausdrucken der Daten war nur ein Printbefehl.‘ Erst als die GSI -Forscher ihre Experimente im Jahr 2000 wiederholten und die alten Daten prüften, fiel ihnen die Fälschung auf. Sie widerriefen die inkriminierte Datenreihe von 1996-- und fanden prompt ein weiteres <?page no="318"?> 318 5. Fächer als diskursive Konstrukte Exemplar von 112. Im gleichen Jahr wurde Ninov von der Konkurrenz in Berkeley gefeuert, wo er erneut Daten gefälscht hatte. Nachdem japanische Forscher ebenfalls einige Atome von Element 112 erzeugen konnten, was die Entdeckung bestätigte, wird sie nun von der Internationalen Chemiker-Union offiziell anerkannt. 20 Namensvorschläge wurden bei der GSI diskutiert, alle geheim. Heraus kam ‚Copernicium‘-- eine gute Wahl. Denn das Periodensystem musste schon allzu oft für lokalpatriotische Eitelkeiten herhalten, einige der neueren Elemente heißen Dubnium, Berkelium, Californium, Darmstadtium und Hassium (für Hessen). Origineller wäre allenfalls der Vorschlag eines Feuerwehr-Bloggers gewesen: Zu Ehren der europaweiten Notrufnummer, schrieb er, solle man 112 ‚Vigilium‘ (Wache) taufen. Daraus wird nun wohl nichts. Ob das neue Element allerdings wirklich ‚Copernicium‘ heißen wird, steht auch noch nicht fest. Sechs Monate lang steht der Vorschlag nun zur Diskussion, bevor die Internationale Chemikerunion ( IUPAC ) sich endgültig festlegen wird. Wer auf Nummer sicher gehen möchte, sollte sich vorerst also kein neues Periodensystem kaufen.“ (Max Rauner, in: Die Zeit, 9. 7. 2009; Hervorhebungen K. A.). An alltagsweltliche Schemata (Kinderkriegen und Kuchenbacken) angepasste Denkstile in vertrauter Sprache, die in 5.3.1. genannten ‚unwissenschaftlichen‘ Wirklichkeitselemente (Stolz, Eitelkeit, Wettlauf zu einer sagenhaften Insel und natürlich Fälschung) gleich zu einem Krimi stilisiert, verbinden sich mit Anekdoten (der Feuerwehrmann), einem Blick hinter die Kulissen (Hofmanns Aussage), sparsam eingesetzten Fachausdrücken und das Wesentliche gut erklärenden Erläuterungen zu einem lehrreichen und unterhaltsamen Ganzen. Die Geschichte erinnert in manchem an Flecks Beispiel (vgl. 5.2.). Zum Glück gibt es die Kontrollen der IUPAC , die allerdings auch nicht immer funktionieren: „Das chemische Element 118, das erst vor zwei Jahren von Forschern des Lawrence Berkeley National Laboratory in Kalifornien ‚nachgewiesen‘ wurde, muss wieder aus dem Periodensystem gestrichen werden. In den letzten beiden Jahren haben die amerikanischen Wissenschafter sowie andere Gruppen in Frankreich, Deutschland und Japan erfolglos versucht, die damals gewonnenen Resultate zu reproduzieren. Als eine daraufhin vorgenommene Reanalyse der ursprünglichen Daten ebenfalls ein negatives Ergebnis lieferte, sahen sich die Forscher gezwungen, ihre Entdeckung in einer kurzen Stellungnahme zu widerrufen. Wie es zu diesem peinlichen Fauxpas kommen konnte, ist momentan Gegenstand von Untersuchungen.-[…] Worauf sich also die vor zwei Jahren gemachte Behauptung gestützt hat, ist derzeit mehr als schleierhaft. Fehlerhafte Computerprogramme werden ebenso in Er- <?page no="319"?> 319 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen wägung gezogen wie eine bewusste Fälschung der Resultate. Schon um seinen guten Ruf zu wahren, will das Lawrence Berkeley National Laboratory in den nächsten Wochen alle Anstrengungen unternehmen, um die Ungereimtheiten aufzuklären. Als kleine Randnotiz sei angefügt, dass die Forscher vom Lawrence Berkeley National Laboratory nicht die ersten und bestimmt auch nicht die letzten sind, die sich nach einer Überprüfung ihrer Daten gezwungen sehen, einmal gemachte Behauptungen zu revidieren. Etwas Ähnliches passierte kürzlich am Cern in Genf. Dort wurde bekannt, dass die vor einigen Monaten aufgetauchten Hinweise auf das Higgs-Teilchen weniger stichhaltig sind, als man nach der ersten Daten-Analyse geglaubt hatte. Allerdings hatten die Forscher am Cern nie den Anspruch erhoben, sie hätten das Higgs-Teilchen entdeckt.“ (Neue Zürcher Zeitung, 8. 8. 2001; Hervorhebungen K. A.) Die Kurzlebigkeit von Pressetexten macht sie für eine systematische Wissensaneignung natürlich ungeeignet. Dafür gibt es Lexika und Enzyklopädien. Im DUW ist keines der seit 2000 entdeckten Elemente enthalten, und auch viele aus den 1990er Jahren fehlen. In der Brockhaus Enzyklopädie Online findet sich folgender Eintrag: „Copernicium [nach N. Kopernikus] das, -s, chemisches Symbol Cn, künstlich erzeugtes radioaktives chemisches Element der Kernladungszahl 112; erstmals 1996 bei der Gesellschaft für Schwerionenforschung ( GSI ) in Darmstadt nachgewiesen und 2009 von der Internationalen Union für Reine und Angewandte Chemie ( IUPAC ) offiziell anerkannt (Namensfestlegung der IUPAC 2010). Das Isotop 277 112 entstand durch Beschuss von 208 Pb mit 70 Zn nach Emission eines Neutrons. Externe Weblinks ▶ Infos zu Ununbium (Element 112) in ‚Rutherford-Lexikon der Elemente‘ Ausführliche Beschreibung des chemischen Elements, tabellarische Übersicht der wichtigsten Kenngrößen ▶ GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung GmbH“ Publiziert am: 1. 4. 2014 Dass es sich bei den Artikeln aus Wikipedia, jedenfalls bei Periodensystem und den chemischen Elementen, um Texte mit hohem Fachlichkeitsgrad handelt (s. o.), lässt die Gegenüberstellung unmittelbar erkennen. Der Artikel (Stand 26. 1. 2017) ist mit knapp 3 Textseiten ( PDF -Version) verglichen mit denen zu anderen Elementen (z. B. Cadmium gut 7, Natrium 14 Seiten) noch relativ kurz. Er umfasst ein Inhaltsverzeichnis, eine Abbildung von Kopernikus und besteht zu einem Viertel aus der tabellarischen Übersicht über die wichtigsten Kenngrößen (Abb. 5.18), die sich bei allen Elementen findet und für die der Brockhaus auf ein Fachlexikon verweist. <?page no="320"?> 320 5. Fächer als diskursive Konstrukte Eigenschaften Allgemein Name, Symbol, Ordnungszahl Copernicium, Cn, 112 Serie Übergangsmetalle Gruppe, Periode, Block 12, 7, d CAS-Nummer 54084-26-3 Atomar Atommasse 277 u Elektronenkonfiguration [Rn] 5f 14 6d 10 7s 2 (? ) Physikalisch Isotope Isotop NH t 1/ 2 ZA ZE (MeV) ZP 277 Cn {syn.} 0,2 ms α 11,62 273 Ds 283 Cn {syn.} 4 s α 9,62 279 Ds SS 285 Cn {syn.} 34 s α 8,79 281 Ds Weitere Isotope sieheListe der Isotope Sicherheitshinweise GHS-Gefahrstoffkennzeichnung [1] keine Einstufung verfügbar H- und P-Sätze H: siehe oben P: siehe oben Radioaktivität Radioaktives Element Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen. Nikolaus Kopernikus, Namenspatron des Copernicium Copernicium aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie Copernicium ist ein radioaktives, künstlich erzeugtes, nicht natürlich vorkommendes chemisches Element mit dem Elementsymbol Cn und der Ordnungszahl 112, das zu den Transactinoiden gehört und im Periodensystem der Elemente in der 12. IUPAC- Gruppe, der Zinkgruppe, steht. Inhaltsverzeichnis 1 Gewinnung und Darstellung 2 Eigenschaften 3 Namensgebung 4 Sicherheitshinweise 5 Einzelnachweise 6 Weblinks Gewinnung und Darstellung Copernicium wurde erstmals am 9. Februar 1996 bei der GSI in Darmstadt von Sigurd Hofmann und Victor Ninov durch Fusion eines Zink-( 70 Zn)- und eines Blei-( 208 Pb)- Atomkerns erzeugt: [2] Eigenschaften Nach Pressemitteilungen des Paul Scherrer Instituts und der Universität Bern am 31. Mai 2006 ergaben Experimente, dass Copernicium sich chemisch ähnlich wie Quecksilber (Hg) verhalte. [3][4] Diese Aussage stützt sich auf die Beobachtung von lediglich zwei Atomen 283 Cn. Diese entstanden durch den Beschuss von Plutonium mit Calcium und hatten eine Halbwertszeit von etwa vier Sekunden. [5] Periodensystem [Rn] 5f 14 6d 10 7s 2 (? ) 112 Cn Abb. 5.18: Schematische Übersicht zu Copernicium (Wikipedia) Die dem Eintrag aus dem Brockhaus entsprechenden Teile lauten: <?page no="321"?> 321 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen „Copernicium ist ein radioaktives, künstlich erzeugtes, nicht natürlich vorkommendes chemisches Element mit dem Elementsymbol Cn und der Ordnungszahl 112, das zu den Transactinoiden gehört und im Periodensystem der Elemente in der 12. IUPAC -Gruppe, der Zinkgruppe, steht.“ „Gewinnung und Darstellung Copernicium wurde erstmals am 9. Februar 1996 bei der GSI in Darmstadt von Sigurd Hofmann und Victor Ninov durch Fusion eines Zink-( 70 Zn)- und eines Blei-( 208 Pb)- Atomkerns erzeugt: [2] [Formel]“ Zusätzlich gibt es einen dreizeiligen Absatz mit dem Titel Sicherheitshinweise sowie folgenden Abschnitt „Eigenschaften Nach Pressemitteilungen des Paul Scherrer Instituts und der Universität Bern am 31. Mai 2006 ergaben Experimente, dass Copernicium sich chemisch ähnlich wie Quecksilber (Hg) verhalte. [3][4] Diese Aussage stützt sich auf die Beobachtung von lediglich zwei Atomen 283 Cn. Diese entstanden durch den Beschuss von Plutonium mit Calcium und hatten eine Halbwertszeit von etwa vier Sekunden. [5] “ Der längste Abschnitt des Fließtextes (180 von 328 Wörtern) betrifft die Namengebung. Dass Kopernikus damit geehrt werden sollte, war zwar nicht umstritten, aber das vom GSI gewählte Kürzel Cp stieß auf Probleme: „Zum einen wurde das Symbol Cp bis 1949 im deutschen Sprachraum für das Element Cassiopeium verwendet, das heute Lutetium (Lu) genannt wird. [11] [12] Darüber hinaus wird das Symbol Cp ebenfalls in der metallorganischen Chemie verwendet, um den Cyclopentadienyl-Liganden zu bezeichnen. Aus diesem Grunde erlaubte die IUPAC zunächst nicht den Gebrauch des Symbols Cp für Copernicium und schlug stattdessen das Symbol Cn als Alternative vor. [9] “ Ebenfalls etwa ein Viertel des Platzes entfällt auf 12 Einzelnachweise (darauf beziehen sich die Zahlen in eckigen Klammern), von denen 11 auf Quellen führen. Davon sind 6 solche für Fachleute, 5 sind als Vermittlungstexte zu betrachten. Dazu gehören auch solche des Darmstädter Instituts (dessen Adresse erscheint im Brockhaus ebenfalls als Link) sowie des Informationsdienstes Wissenschaft, der sich selbst folgendermaßen darstellt: „Der Informationsdienst Wissenschaft (idw) ist das Nachrichtenportal für Aktuelles aus Wissenschaft und Forschung. Er bringt Wissenschaft und Öffentlichkeit zusammen, indem er die Nachrichten und Termine seiner mehr als 980 Mitgliedseinrichtungen veröffentlicht und an rund 36.000 Abonnenten versendet, darunter 7.700 Journalisten.“ (https: / / idw-online.de/ de/ aboutus; <08. 11. 2017>) <?page no="322"?> 322 5. Fächer als diskursive Konstrukte Es handelt sich eindeutig um popularisierende Texte, der zusammenfassende erste Absatz eines Artikels von 2006 (insgesamt 526 Wörter) lautet: „Einem internationalen Forschungsteam mit Beteiligung des Paul Scherrer Instituts (PSI) und der Universität Bern in der Schweiz ist es gelungen, mit zwei Atomen des künstlichen Elements 112 chemische Untersuchungen durchzuführen. Damit haben sich die Wissenschaftler erstmals experimentell auf der Insel der superschweren Atomkerne im Periodensystem bewegt. Diese Pionierleistung in der Radiochemie zeigt, dass sich das Element 112 ähnlich verhält wie das flüchtige Schwermetall Quecksilber.“ (https: / / idw-online.de/ de/ news161915; <06. 11. 2017>, im Original kursiv) In Wikipedia entspricht diesem Text der Absatz Eigenschaften. Welcher Textsorte bzw. welcher vertikalen Schicht (vgl. 1.4. und 4.3.) soll man nun aber diesen Enzyklopädie-Artikel zuordnen? Er stellt eine Mischung aus Teilen dar, die nur Eingeweihten zugänglich sind, und allgemeineren Informationen, die allerdings deutlich über das hinausgehen, was eine klassische Enzyklopädie wie der Brockhaus bietet. Der unbeschränkt zur Verfügung stehende Platz hat also auch einen Nachteil: Leser müssen viel mehr selbst auswählen, besonders natürlich bei längeren Artikeln. Die Frage, wie man sich in der großen Informationsmenge zurechtfinden soll, was man allenfalls zur Kenntnis nehmen möchte, betrifft auch die Einzelnachweise in Wikipedia. Man muss schon recht viel Routine haben, um die oben angegebenen Zuordnungen in eher fachinterne oder fachexterne Quellen vornehmen zu können. Zu den wichtigsten fachinternen gehört die Publikation, die institutionell einen Tatbestand hervorbringt. Sie ist insofern von allgemeinerem Interesse, als sie sehr gut erkennen lässt, was es konkret bedeutet, dass die Wissenschaftlergemeinschaft Ergebnisse ‚aushandelt‘. Die Veröffentlichung wird als Technical Report bezeichnet, dabei handelt es sich um eine Art Gutachten, jedenfalls einen Metatext, in dem es fast nur um andere Texte geht. Zuständig dafür ist nicht nur die IUPAC . Sie hat eine Schwesterorganisation, die International Union of Pure and Applied Physics ( IUPAP ). Vertreter aus beiden Vereinigungen bilden gemeinsame Arbeitsgruppen (Joint Working Parties, JWP ), um zu prüfen, welchen Arbeiten der Vorrang bei der Entdeckung chemischer Elemente zukommt. Die Arbeitsgruppe für das Element 112 forderte im August 2005 die damit vorrangig beschäftigten Forschungsgruppen auf, bis zum Januar 2006 einschlägige Veröffentlichungen einzureichen. Die darauf eingegangenen 45 Aufsätze hat sie geprüft und die Ergebnisse in der von der IUPAC herausgegebenen Zeitschrift <?page no="323"?> 323 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen Pure and Applied Chemistry publiziert. Die Darmstädter Forschungsgruppe um Hofmann erhielt nicht nur aufgrund des Aufsatzes von 1996, sondern auch einer weiteren Veröffentlichung aus dem Jahr 2002 den Prioritätsanspruch zuerkannt (der zweite erscheint nicht in den Einzelnachweisen aus Wikipedia). Sowohl die verschiedenen Aufsätze als auch der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe stellen hoch spezialisierte Texte dar, die auch nur in englischer Sprache erscheinen. Selbst für eine in der Chemie völlig unbewanderte Laiin wie mich ist jedoch die Argumentation aus dem Technical Report immerhin nachvollziehbar. Es reicht dafür, das Abstract zur Kenntnis zu nehmen: „Abstract: The IUPAC / IUPAP Joint Working Party ( JWP ) on the priority of claims to the discovery of new elements has reviewed the relevant literature pertaining to several claims. In accordance with the criteria for the discovery of elements previously established by the 1992 IUPAC / IUPAP Transfermium Working Group ( TWG ), and reiterated by the 1999 and 2003 IUPAC / IUPAP JWP s, it was determined that the 1996 and 2002 claims by the Hofmann et al. research collaborations for the discovery of the element with atomic number 112 at Gesellschaft für Schwerionenforschung ( GSI ) share in the fulfillment of those criteria. A synopsis of Z- = 112 experiments and related efforts is presented. A subsequent report will address identification of higher-Z elements including those of odd atomic number. Keywords: discovery of element 112; new elements; transfermium; periodic table; heavy elements; island of stability; doubly closed shell; nucleosynthesis; transactinides; transactinoids.“ (http: / / iupac.org/ publications/ pac/ pdf/ 2009/ pdf/ 8107x1331.pdf; <06. 11. 2017>; Hervorhebungen K. A.) Dieser Bericht umfasst 13 Seiten und stammt von 6 Autoren, für die Darstellung ihrer Forschungsergebnisse brauchten die 12 (1996) bzw. 16 (2002) Autoren der Darmstädter Forschungsgruppe dagegen nur 1 bis 2 Seiten. Das Abstract von 1996: „The new element 112 was produced and identified unambiguously in an experiment at SHIP , GSI Darmstadt. Two decay chains of the isotope 277 112 were observed in irradiations of 208 Pb targets with 70 Zn projectiles of 344 MeV kinetic energy. The isotope decays by emission of α particles with a half-life of (240{ -90 / +430 }) µs. Two different α energies of (11,649±20) keV and (11,454±20) keV were measured for the two observed decays. The cross-section measured in three weeks of irradiations is (1.0{ -0.4 / +1.8 }) pb.“ (http: / / adsabs.harvard.edu/ abs/ 1996ZPhyA.354..229H; <06. 11. 2017>) <?page no="324"?> 324 5. Fächer als diskursive Konstrukte Schließen wir den Ausflug in die Chemie mit Erläuterungen zu den Namen der Elemente ab. Während Zahlen gewöhnlich der inhaltsleerste Bezeichnungstyp überhaupt sind, nimmt man auf die Elemente denotativ am eindeutigsten mit ihrer Ordnungszahl Bezug, auf diesen höchst bedeutungsvollen Zahlen beruht das ganze System. Die Ziffern sind arabisch, für die Lautung greift man fachsprachlich auf das Lateinische zurück: Ununbium (112) für unser Beispielelement, aber auch Ununennium (119) usw. für noch nicht nachgewiesene Elemente eines erweiterten Periodensystems (das Standardmodell endet bei der Ordnungszahl 118). Im fachlichen Alltag dürften die Zahlen allerdings eher in der jeweiligen Landessprache bzw. auf Englisch ausgesprochen werden. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es dabei eigentlich belassen zu können, wenn es doch nur um Eindeutigkeit geht. Tatsächlich kommt es jedoch noch zu einem langwierigen Namensgebungsprozess, einer Taufe. Dabei geht es nicht um Eindeutigkeit, die ist ja schon gegeben, sondern um andere Funktionen fachsprachlicher Ausdrücke. Die neueren bringen eine Ehrerbietung zum Ausdruck, die gar nicht unbedingt etwas mit der Erfindungs-/ Entdeckungsgeschichte zu tun hat, wie gerade Copernicium zeigt. Sie sind damit ein guter Beleg dafür, dass es mit der Unpersönlichkeit bzw. Anonymität auch in den harten Wissenschaften nicht so weit her ist. Mitunter kommt es geradezu zu Kämpfen zwischen verschiedenen Forschergruppen. Dies gilt für die Elemente 104-109, für die folgende Namen vorgeschlagen wurden: Rutherfordium, Hahnium, Seaborgium, Kurtschatowium (engl. Kurchatovium), Nielsbohrium, Hassium und Meitnerium. Diese Kontroversen um die Namen zogen sich über Jahrzehnte hin (vgl. den Wikipedia-Eintrag Elementnamensgebungskontroverse, der übrigens im April 2017 nur in 5 Sprachversionen existiert und im Englischen mehr Kontroversen behandelt als die hier nach der deutschen Version erwähnten). Bevor ein Name endgültig akzeptiert werden kann, muss man auch noch eine geeignete Abkürzung finden, und zwar nicht zuletzt, weil diese Abkürzungen in die Formeln und Tabellen eingehen. Hier nun wird die Systematik terminologischer Systeme relevant: Innerhalb eines Systems sollte eine ein-eindeutige Beziehung zwischen Abkürzung und Langform bestehen: Jede Abkürzung entspricht genau einer Langform und umgekehrt. Eine solche Relation gibt es nun allenfalls innerhalb der Fachsprache der Chemie. Ansonsten sind Abkürzungen, zumal wenn sie nur aus zwei Buchstaben bestehen, extrem vieldeutig. Rf z. B. steht nicht nur für das nach Rutherford benannte Element, sondern auch für <?page no="325"?> 325 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen die maledivische Währung, in der Variante R f gibt es sogar einen Konkurrenten in der Chemie (Retentionsfaktor), und wenn man sämtliche Schreibweisen (große, kleine Buchstaben, mit Punkten oder ohne) berücksichtigt, hat man (auf Deutsch) die Auswahl zwischen ca. 30 Langformen. Dies lässt allerdings die Verständigung nicht zusammenbrechen, weil man normalerweise weiß, in welchem Bezugssystem man sich befindet. Abkürzungsverzeichnisse z. B. in Büchern kreieren ein solches Bezugssystem für einen einzigen Text. Die Namen der Elemente samt Abkürzungen stellen einen Sonderfall international gültiger Zeichen dar-- sie gelten aber auch nur in der Welt der Chemie. Mit dem Periodensystem, einem freilich nur sehr kleinen Ausschnitt aus dem Objektbereich der Chemie, haben wir einen Sonderfall auch insofern vor uns, als es sehr prestigeträchtig ist, als (komplizierter) Schulstoff erinnert wird und man hier die ganze Bandbreite von Texten geringeren oder höheren Fachlichkeitsgrades findet, die sich auch Menschen aus dem exoterischen Kreis relativ leicht zugänglich machen können. Schließlich ist die aufwendige Prozedur der Namengebung für sprachwissenschaftliche Belange von besonderem Interesse. Aus der Linguistik selbst gibt es keine Inhalte, die damit auch nur annähernd vergleichbar wären. Zwar gehört es zu den Zielen des Deutschunterrichts (aller Stufen), Sprache und Sprachgebrauch zu reflektieren. Es ist aber nicht besonders klar, was damit genau gemeint ist und welche Inhalte zentral sind. Mustert man unter dieser Fragestellung aktuelle Lehrmaterialien, so erscheinen am ehesten die Modelle von de Saussure und Bühler als Elementaria dieser Disziplin. Ob sich dies auch im Gedächtnis festsetzt, ist allerdings eine andere Frage, als besonders komplexe Inhalte werden sie gewiss nicht erinnert. Eher ist zu erwarten, dass man sich fragt, wieso eigentlich diese Modelle besonders bedeutsam sind. Bei der Wanderung der Gedanken beider Forscher in Lehrmaterialien (vgl. 5.3.2.) geht nämlich fast alles verloren, was für Durchschnittsmenschen überhaupt Interesse auf sich ziehen könnte. Das betrifft besonders das Zeichenmodell von de Saussure, ein recht komplizierter Fall, weil ja schon seine Hörer, die Herausgeber des Werks, ihn anscheinend nicht richtig verstanden haben (vgl. 5.3.2.). So tobt eine Kontroverse um die Frage, was denn wohl der ‚wahre Saussure‘ gemeint hat bzw. gemeint haben würde, wenn er seine Gedanken hätte zu Ende denken und niederlegen können (und wollen). Diese Diskussion findet auf einem derart spezialisierten Niveau statt, dass sie für allgemein Interessierte nicht mehr zugänglich ist (vgl. auch die Diskussionsseite in der deutschen Version der Wikipedia zu Ferdinand de Saussure). <?page no="326"?> 326 5. Fächer als diskursive Konstrukte Andererseits ist unbestreitbar, dass es die 1916 publizierte Version des Cours de linguistique générale ist, die ein wissenschaftsgeschichtlich einflussreiches Werk darstellt. Wenn ein Text einmal in der Welt ist, haben weder seine Autoren noch ein dahinter stehender Ideengeber Einfluss darauf, was im weiteren Diskurs mit ihm geschieht; sie können sich allenfalls an diesem Diskurs beteiligen, solange sie am Leben sind. Es ist also durchaus angemessen, wesentliche Elemente des Cours weiterzugeben, zumal solange sich die Wissenschaftlergemeinschaft noch nicht auf eine Interpretation geeinigt hat (falls das überhaupt je eintreten sollte). Als wesentliches Element von Saussures Zeichenmodell wird der Grundsatz der Arbitrarität überliefert, die Vorstellung nämlich, dass die Beziehung zwischen den zwei Seiten des Zeichens, signifiant und signifié, Signifikant und Signifikat, Ausdruck und Inhalt (oder welche Konkurrenzbegriffe man immer dafür verwendet) unmotiviert ist. Am Anfang der Ausführungen des Cours zum Zeichenmodell finden sich die folgenden vier Abbildungen, von denen die letzte besonders häufig reproduziert wird: : Abb. 5.19: Das Beispiel arbor (de Saussure 1967: 76 und 78) Schulbücher bieten auch ‚elaborierte‘ Visualisierungen, u. a. die folgenden: <?page no="327"?> 327 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen Abb. 5.20: Saussures Zeichenmodell in Lehrmaterial (Sprachwelt Deutsch 2014: 106 bzw. Biermann / Schurf 2006: 367) In der folgenden Abbildung aus einer Publikation, die „Abiwissen kompakt“ präsentieren will, ist das Modell sogar vollkommen entstellt. Abb. 5.21: Saussures Zeichenmodell nach Lindzus / Tonsky-Katzer (2009: 83) Nun ist der Tatbestand, dass ein Objekt in verschiedenen Sprachen unterschiedlich bezeichnet wird, dem Alltagsverstand vollkommen evident. Wieso wird eine Theorie bzw. ein Modell aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts als besonders tradierenswert behandelt, die diese Banalität in einer spezifischen grafischen Form präsentieren? Was ist der Clou der Theorie? Irgendeinen wird es doch wohl geben, wenn sie ihrem Schöpfer zu wissenschaftlichem Ruhm verholfen hat. Diese Fragen versuchen die Perspektive des Alltag-Denkkollektivs einzunehmen (vgl. den Schluss von 5.2.), sogar in ihrer wohlwollenden Variante, <?page no="328"?> 328 5. Fächer als diskursive Konstrukte die unterstellt, es müsse daran doch etwas sein. Im Cours selbst wird sowohl die Evidenz des Prinzips als auch die Möglichkeit thematisiert, dass man dessen Konsequenzen nicht unmittelbar erfasst: „Der Grundsatz der Beliebigkeit des Zeichens wird von niemand bestritten; aber es ist oft leichter, eine Wahrheit zu entdecken, als ihr den gehörigen Platz anzuweisen. Dieser Grundsatz beherrscht die ganze Wissenschaft von der Sprache; die Folgerungen daraus sind unzählig. Allerdings leuchten sie nicht alle im ersten Augenblick mit aller Deutlichkeit ein; erst nach mancherlei Umwegen entdeckt man sie und mit ihnen die prinzipielle Bedeutung des Grundsatzes.“ (de Saussure 1967: 79) Nehmen wir also einige Umwege über Fragen, die Abbildungen wie 5.20 unmittelbar provozieren: Ist es gleichgültig, ob der Inhalt oben oder unten steht, ob es eine Ellipse oder ein Viereck ist? Was ist eigentlich der Unterschied zwischen der linken und der rechten Variante von 5.19-- abgesehen davon, dass man die Elemente jetzt nicht neben-, sondern übereinander setzt, eine Form darum zeichnet und Pfeile dazusetzt? Und-- auch wenn man nur eine Variante sieht: Warum malt man für jede Sprache ein Extra-Ei und stellt es nicht wie in Abbildung 5.22 dar? tree Baum arbre Abb. 5.22: Variation 1 zu Saussures Zeichenmodell Das Problem ist, dass das ikonische Zeichen, d. h. das Bild des Baumes, Verschiedenes repräsentieren kann, zumindest: a) einen individuellen Gegenstand, b) eine Klasse von Gegenständen (also einen abstrakten Begriff), c) eine individuelle Vorstellung, <?page no="329"?> 329 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen d) eine ‚kollektive Vorstellung‘, e) einen Inhalt, der 1. in einem bestimmten Zeichensystem gilt oder 2. in verschiedenen Zeichensystemen identisch ist. Angesichts dieser Möglichkeiten und der Frage, was genau mit Vorstellung, Begriff, Inhalt usw. gemeint ist, wird schon besser verständlich, dass es sich um ein eher komplexes Problem handelt. Die Abbildungen 5.20 und 5.22 legen nahe, dass b) oder e)2. gemeint ist, die richtige Lösung ist aber e)1. Die Vorstellungen (signifiés) sind als einzelsprachspezifische gedacht, d. h. dass die verschiedenen Lautungen eben nicht auf die gleiche Sache verweisen, die man in der außersprachlichen Wirklichkeit identifizieren könnte. Der Cours eröffnet die Ausführungen ausdrücklich mit der Präsentation und Kritik an der ‚Alltagstheorie‘ (Abb. 5.19, links), wonach „die Sprache im Grunde eine Nomenklatur [ist], d. h. eine Liste von Ausdrücken, die ebensovielen Sachen entsprechen“ (de Saussure 1967: 76). Die Variante e)1. könnte man folgendermaßen visualisieren: tree Baum arbre Abb. 5.23: Variation 2 zu Saussures Zeichenmodell Dabei kommt aber immer noch nicht zum Ausdruck, dass der Clou in der Systemgebundenheit der Zeichen besteht. Es hat wenig Sinn, das Konzept ‚Baum‘ allein zu betrachten: Nicht nur ist wichtig, welche Arten von Gewächsen unterschieden und diesem Oberbegriff untergeordnet werden, es müssen auch die verwandten Konzepte (z. B. Strauch, Busch, Staude) einbezogen werden, wenn man einen Einblick in die einzelsprachliche Gliederung des Wirklichkeitsausschnittes bekommen will. Sowohl die Form als auch der Inhalt eines sprachlichen Zeichens können in verschiedenen Sprachen identisch sein, die spezifische Kombination der beiden Seiten des Zeichens und dessen Stellenwert im Gefüge ähnlicher Zeichen sind aber grundsätzlich einzelsprachspezifisch. Dass Inhalte in verschiedenen Einzelsprachen identisch sind, ist nun (abgesehen von Eigennamen) eher oder vielleicht überhaupt nur bei fachsprachlichen oder jedenfalls fachsprachnahen Zeichen möglich. Auch diese sind <?page no="330"?> 330 5. Fächer als diskursive Konstrukte jedoch in bestimmten Bezugssystemen organisiert. Hierfür können wir noch einmal auf das Beispiel des Periodensystems zurückgreifen. Erinnert sei daran, dass es (mindestens) zwei gängige Modelle gibt, von denen das erste 118, das zweite 218 Elemente umfasst. Die Elemente 1-118 sind zwar denotativ identisch, haben aber in den beiden Systemen einen unterschiedlichen Stellenwert, der sich in ihrer grafischen Anordnung niederschlägt. Bei der Frage, mit welchem lateinischen Ausdruck man das Element 112 benennen soll, kam der Vorschlag auf, eine Verbindung zu einem ganz anderen fachsprachnahen System herzustellen, den Notfallnummern in verschiedenen Ländern Europas. Dort stimmt nur 112 tatsächlich überall überein (Abb. 5.24): Land zentral Polizei Feuer Ambulanz Andorra 112 110 118 118 Belgien 112 101 100 100 Bulgarien - 166 160 150 Bosnien-Herzegowina 112 92 93 94 Dänemark 112 - - - Deutschland 112 110 112 div. Estland 112 110 112 112 Finnland 112 10022 - - Frankreich 112 17 18 15 Gibraltar - 199 190 199 Griechenland 112 100 199 166 Großbritannien 112 999 999 999 Irland 112 999 999 999 Island 112 - - - Abb. 5.24: Notfallnummern in Europa (Auszug) <?page no="331"?> 331 5.5. Beispiele: (Chemische) Elemente und (sprachliche) Zeichen 6. Zum Schluss: Was ist an Fachsprachen interessant? Zum Abschluss sei an das Einleitungskapitel angeschlossen, insbesondere den Befund, dass Fachsprachen in der Öffentlichkeit auf wenig Interesse stoßen und weder im Deutschunterricht noch im linguistischen Grundstudium ausführlicher thematisiert werden. Allgemein geläufig sind allerdings zwei einander entgegenstehende Stereotype, die auf die Janusköpfigkeit von Fachsprache verweisen (vgl. den Schluss von 2.3.): Das dahinter stehende bzw. vermutete Maximum an Sachwissen verleiht ihr Prestige, die Untauglichkeit in der Alltagswelt lässt ihre Charakteristika dagegen als Stigma erscheinen. Mit der scharfen Gegenüberstellung von Experten und Laien hat die Fachsprachenlinguistik diesen Stereotypen lange wenig entgegengesetzt, sondern eher zu ihrer Reproduktion beigetragen. Je stärker man den gewissermaßen exotischen Charakter von Fachtexten hervorhebt, die nur für einen kleinen Kreis von Eingeweihten verständlich sind, desto mehr stuft man Bedeutung und Interesse dieses Phänomens für Normalsterbliche herab und schürt damit selbst das Desinteresse. Es ist m. E. höchst unwahrscheinlich, wenn nicht überhaupt ausgeschlossen, dass diese Stereotype je ‚überwunden‘ würden (vgl. auch 2.1.). Allerdings käme es auch einer gravierenden Unterschätzung der Laien gleich, wenn man unterstellte, ihnen sei die Klischeehaftigkeit dieser Stereotype nicht bewusst. Karikaturen und Parodien sind ein-- mehr oder weniger amüsantes-- Sprachspiel für sich (vgl. Roelcke 2010: Kap. 10), aus dem man gewiss nicht schließen kann, dass irgendjemand (oder gar die Mehrheit) die polemischen Überspitzungen für bare Münze nähme. Zumal Laien ja nicht nur die Durchschnittsmenschen sind, sondern auch die Experten, nämlich in Bezug auf ihnen fremde Fächer oder auch nur Spezialgebiete. Wir sind zwar alle in Bezug auf fast alle Fächer Laien, zugleich hat aber die Bildungsexpansion dazu geführt, dass noch nie so viele Menschen über-- z. T. deutlich mehr als elementare-- Kenntnisse in diversen Fachgebieten verfügen. Dass die Wissensgesellschaft (in all ihren Lesarten) für die Gegenwart und Zukunft bestimmend ist, steht also außer Frage. Auch dass dies einer gesellschaftlich brisanten Situation entspricht. Dazu sei noch einmal aus dem PUSH -Memorandum (vgl. 3.2.1.) zitiert: „Wissenschaft kommt meist anonym daher; dass sie von Menschen- - mit all ihren persönlichen Stärken und Schwächen-- gemacht wird, geht dabei unter. <?page no="332"?> 332 6. Zum Schluss: Was ist an Fachsprachen interessant? Erschwerend kommt hinzu, dass die Wissenschaften an der Schwelle zum 21. Jahrhundert mehr denn je im Spannungsverhältnis ihrer öffentlich sowohl konstruktiv wie destruktiv wahrgenommenen Rolle stehen. Sie verkörpern einerseits den Fortschritt, andererseits werden sie jedoch auch als eine Bedrohung der menschlichen Sicherheit empfunden. Je mehr die Wissenschaften individuell spürbar die Bedingungen des Lebens verändern, umso mehr sind auch sie aufgefordert, solche Veränderungen öffentlich zu rechtfertigen, ja sogar vorausschauend öffentlich zu diskutieren. Um den Bürger in die Lage zu versetzen, an dieser Diskussion aktiv teilzunehmen, bedarf es ebenfalls der Vermittlung mindestens allgemeiner Kenntnisse der wissenschaftlichen Entwicklung.“ ( PUSH 2000: 58; Hervorhebungen K. A.) Im Rahmen des Symposiums von 1999 wurde auch das Projekt Wissenschaft im Dialog initiiert, das sich als „führende Organisation der Wissenschaftskommunikation in Deutschland“ 85 begreift und die im Memorandum formulierten Ziele durch vielfältige Projekte umzusetzen sucht. In der fachsprachenlinguistischen Literatur ist dieses Projekt wenig präsent, wie man hier überhaupt eher vernachlässigt, was eine sehr weit getriebene Fächerdifferenzierung gesellschaftlich konkret bedeutet (vgl. 4.5.). Zur von Kalverkämper geforderten ‚Selbstortung‘ der Fachsprachenlinguistik (vgl. 4.1.) gehört jedoch sicherlich die Reflexion darüber, was speziell die Sprachwissenschaft dazu beizutragen hat, mindestens allgemeine Kenntnisse über wissenschaftliche Arbeit zu vermitteln. In der vorliegenden Darstellung wurden Fächer, Fachausdrücke und auch wissenschaftliche ‚Tatsachen‘ als Diskursprodukte behandelt und damit Sprache und Kommunikation als unhintergehbare Elemente von (wissenschaftlicher) Erkenntnis. Das ist keineswegs besonders originell oder innovativ, aber auch weit davon entfernt, bereits als Trivialität ins allgemeine Bewusstsein getreten zu sein. Mit den Worten de Saussures: Es ist oft leichter, eine Wahrheit zu entdecken, als ihr den gehörigen Platz anzuweisen (vgl. 5.5.). Lassen sich nun nicht gerade Fachsprachen heranziehen, um gewissen Kerninhalten der Linguistik ihren Platz anzuweisen? Dazu ist es freilich notwendig, sie nicht bevorzugt der Gemeinsprache entgegenzustellen oder die Diversitäten unterschiedlicher Fächer zu betonen. Nicht nur aus linguistischer Sicht könnte es hilfreicher sein, Fachsprachen als natürliche Sprachen bzw. Ausprägungen davon zu präsentieren, die im Prinzip genauso funktionieren wie ‚Normalsprache‘. Die Ausdrücke natürliche oder normale Sprache sind hochgradig vage, 85 www.wissenschaft-im-dialog.de/ ueber-uns/ portraet/ ; <6. 11. 2017>. <?page no="333"?> 333 6. Zum Schluss: Was ist an Fachsprachen interessant? anders gesagt: Man bezeichnet damit sehr verschiedene Phänomene, die sich nicht klar mit der Dichotomie natürlich vs. künstlich erfassen lassen. Diese Kategorien sind eher als Extrempole auf einer breiten Skala zu verstehen: ‚Naturbelassene‘ Ausdruckssysteme auf der einen, Kunstsprachen auf der anderen Seite (vgl. 1.3.) und mehr oder weniger ausgebaute Sprachen im Mittelfeld (vgl. 3.1.). Ausbausprachen sind verschriftet, standardisiert und kodifiziert, dahinter stehen Normierungsinstanzen. Bei Fachsprachen sind intentionale Eingriffe in die Systeme, die bewusste Arbeit an der Sprache deutlich wichtiger als bei Standardvarietäten. Sie werden viel reflektierter gelernt, (um)gestaltet und verwendet. Veränderungen erfolgen teilweise sehr viel schneller und abrupter, als Folge der gezielten Auswahl aus konkurrierenden Varianten (vgl. z. B. 4.2. zur Übernahme der DDC ) oder der Kreation neuer Teilsysteme (z. B. in der Reihentheorie Wichters; vgl. 5.3.3.). Daher eignen sich Fachsprachen als eine Art Vergrößerungsglas, das klarer erkennen lässt, welch vielfältigen Zwecken Sprachen dienen, wie sie entstehen und sich wandeln. Betrachtet man Fachsprachen unter dieser Perspektive, rücken sogar Fragen in den Vordergrund, die für das Alltag-Denkkollektiv, also die gewöhnlichen Sprachteilhaber, von besonderem Interesse sind und die auch im schulischen Curriculum des Kompetenzbereichs ‚Sprache und Sprachgebrauch reflektieren‘ zentral sind: Sprachen in der Sprache bzw. Varietäten- - darunter besonders Gruppensprachen und manipulationsverdächtiger Sprachgebrauch wie in der Werbe- und Ideologiesprache; Sprachnormen und Sprachkritik; Sprachwandel und natürlich das große Thema Sprache, Denken, Wirklichkeit. Diese Themenfelder stehen-- etwa in Unterrichtsmaterialien für die Oberstufe, in der auch die Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen gefordert wird-- einigermaßen unvermittelt nebeneinander. Auch ein Zusammenhang mit den quasi kanonischen Inhalten aus der Linguistik (de Saussure und Bühler; vgl. 5.5.) ist selten zu erkennen. Die einzelnen Themen werden ja auch in sehr verschiedenen sprachwissenschaftlichen Subdisziplinen behandelt; sie gelten teilweise noch dazu als eher peripher oder scheinen überhaupt außerhalb des anerkannten Theorienpools zu liegen. Das betrifft neben der Sprachkritik speziell das Thema Sprache und Denken. Als zentrale Theorie erscheint hier regelmäßig das Whorf‘sche Relativitätsprinzip, und zwar sowohl im Feuilleton als auch in Lehrmaterialien (die übrigens im Kompetenzbereich Sprachreflexion bemerkenswert häufig auf popularisierende Texte zurückgreifen). In diesem Zusammenhang ist dann von exotischen Sprachen und Kulturen die Rede, die niemand kennt, so dass man <?page no="334"?> 334 6. Zum Schluss: Was ist an Fachsprachen interessant? sich gar kein vernünftiges Urteil bilden kann. Stellungnahmen dazu können eigentlich nicht weit über Meinungsäußerungen zu Sachverhalten hinauskommen, die man lediglich vom Hörensagen kennt. Man muss aber gar nicht in die Ferne schweifen, um auf exotische Kategorisierungen der außersprachlichen Wirklichkeit zu stoßen, sie liegen vielmehr vor der Haustür. Und zwar speziell in Gestalt der Fachsprachen-- es bezweifelt ja auch niemand, dass sie etwas durchaus Exotisches an sich haben (können). In 1.2. wurde (mit Felder / Gardt) vorausgesetzt, dass vorwissenschaftlichen, also laienhaften Vorstellungen die realistische Sprachauffassung-- Sprache als Abbild der Wirklichkeit-- näher liege als konstruktivistische. Roelcke hält die realistische Auffassung auch in der Fachsprachenlinguistik für vorherrschend und angemessen (vgl. auch 2.4. und 5.1.). Damit haben wir eine ungewöhnliche Konstellation vor uns, denn im Allgemeinen wird ja der Gegensatz zwischen Laien- und Expertensicht betont, und gerade die Sprachwissenschaft grenzt sich gern von der sog. Laien-Linguistik ab (Antos 1996; vgl. auch 5.3.1.). Führt man sich die typischen Aktivitäten der Laien-Linguistik vor Augen, so drängt sich jedoch durchaus nicht der Eindruck auf, sie handele unter simplen sprachrealistischen Voraussetzungen. Danach würde gelten: Für die Dinge stehen die Bezeichnungen, die ihnen in einer Sprache (konventionell) zukommen, und damit sind keine irgendwie gearteten Wirklichkeitsinterpretationen oder -konstruktionen verbunden. Welche laienhaften Sprachspiele widersprechen dieser Auffassung? Sprachbeobachtung und -kritik in der Variante der Sammlung von Wörtern und Unwörtern des Jahres (vgl. 3.2.1.) richtet sich direkt gegen wirklichkeitsentstellenden, -beschönigenden, unangemessene Auffassungen entlarvenden Sprachgebrauch usw. Wer befürchtet, mittels Sprache manipuliert zu werden, setzt voraus, dass Redeweisen Einfluss auf Denken und Handeln haben (können). Selbst Anglizismenbekämpfer erkennen, dass es für die ungeliebten ‚Fremdlinge‘ nicht immer ein passendes einheimisches Wort gibt. Sie akzeptieren einige Anglizismen dann doch und betätigen sich ansonsten selbst als Konstrukteure neuer einheimischer Wörter für (noch) nicht zufriedenstellend Bezeichnetes. Dass Sprachverschiedenheiten für das Jedermanns-Ich evident sind, kam schon in 5.5. zur Sprache. Der (mehr oder weniger diffuse) Eindruck, damit seien auch unterschiedliche Mentalitäten, Denkstile o. Ä. verbunden, ist zumindest weit verbreitet. Daher das Interesse, das die Whorf ‘sche Theorie mit dem griffig-prätentiösen Namen immer wieder auf sich zieht. Wenn man diese Theorie als fragwürdig und wissenschaftlich umstritten behandelt, was stellt man ihr dann entgegen? Eine realistische Sicht? <?page no="335"?> 335 6. Zum Schluss: Was ist an Fachsprachen interessant? Mit dem Zeichenmodell von de Saussure lässt sich eine realistische Sicht jedenfalls nicht vereinbaren. Es eignet sich, den Minimalkonsens in dieser Frage zu erläutern (vgl. 5.5.): Konventionelle Zeichen funktionieren jeweils im Rahmen eines bestimmten Bezugssystems. Identischen Formen können innerhalb unterschiedlicher Bezugssysteme völlig verschiedene Bedeutungen zukommen. Es ist daher sinnlos, ihnen eine Bedeutung zuordnen zu wollen ohne Rücksicht auf das Kollektiv, das sich ihrer bedient. Ihre Bedeutung ergibt sich nur, wenn man auch andere Elemente aus den (Sprach-)Welten kennt, in denen sie ihren Platz haben. Das bleibt richtig und widerspricht auch nicht der ebenfalls gültigen Annahme, dass die Bedeutung sich erst aus dem textuellen Zusammenhang ergibt. Mitunter braucht man diesen aber nur, um zu erkennen, in welchem Bezugssystem man sich befindet. Dies geschieht oft derartig automatisiert, dass man sich dieser vorgängigen Zuordnungsleistung gar nicht bewusst wird. Bei Sprachen und Varietäten, die nahe am ‚Natürlichkeits‘-Pol liegen, kann man nur darüber rätseln bzw. spekulieren, wer denn dafür verantwortlich sein mag, die grundsätzlich arbiträre Beziehung zwischen Ausdruck und Inhalt zur gültigen Konvention erhoben zu haben. Sprachteilhaber können sich diesen Konventionen ja trotz ihrer Arbitrarität normalerweise nicht entziehen. Fachleute dagegen können das, es gehört sogar zum Hauptgeschäft innovativer Arbeit, neue Dinge in die Welt zu bringen oder bereits existierende unter einer neuen Perspektive zu betrachten, alternative Kategoriensysteme zu erfinden usw. Die Erfinder der Systeme lassen sich häufig genug namhaft machen. Die Konstruiertheit liegt also klar auf der Hand. Ferner sind die Werkzeuge, mit denen man solche Konstruktionen hervorbringt, allgemein bekannt und sogar allen zugänglich. Es sind nämlich die natürlichen Sprachen, die dabei als Metasprachen herangezogen werden. Man kann in einer gegebenen natürlichen Sprache sowohl über andere Sprachen als auch über dieselbe Sprache oder ihre Varietäten sprechen und ferner auf dieser Grundlage- - und nur auf dieser! - - neue Elemente oder auch ganze Systeme erfinden. Die Laien-Linguisten bedienen sich der Gemeinsprache als Metasprache bevorzugt, um Bewertungen vorzunehmen. Die Linguisten-Zunft steht Bewertungen sprachlicher Varianten und Varietäten dagegen sehr kritisch gegenüber. Bei den Fachsprachen scheint dieses Abstinenzgebot allerdings ziemlich durchgängig in Vergessenheit zu geraten. Ihnen werden insbesondere die Werte Präzision und Exaktheit zugeschrieben, die durch normierte, kodifizierte (terminologische) Systeme erreichbar seien. <?page no="336"?> 336 6. Zum Schluss: Was ist an Fachsprachen interessant? Das entspricht der scharfen Entgegensetzung von Fachvs. Gemein- oder auch Standardsprache. Denn außerhalb des Fachsprachenkontextes gilt der Ruf nach Sprachnormen geradezu als Schibboleth, das laienhafte von wissenschaftlicher Sprachbetrachtung unterscheidet. Ausgerechnet bei Fachsprachen sollten nun Diversität und Wandel möglichst begrenzt werden, hier sollten Homogenität und (von wem? ) verordneter Stillstand der Sprachentwicklung angemessen sein? Es handelt sich wohlgemerkt um den gesellschaftlichen Bereich, der sich am stärksten durch Dynamik und auch Rivalität auszeichnet, durch den Wettkampf der kreativsten Köpfe und innovativsten Projekte. Dass es von Vorteil sein sollte, fachsprachliche Systeme still-zu-stellen, ist nicht nur vom Grundsatz her schwer einsehbar, es widerspricht auch eklatant der fachsprachlichen Praxis. Für diese ist es ein charakteristischer, ansonsten aber eher außergewöhnlicher Sachverhalt, dass ein Individuum (außerhalb institutioneller Zusammenhänge) die Möglichkeit hat, einen (neuen) Sprachgebrauch als gültig zu setzen, die Bedeutung von geläufigen Ausdrücken neu festzulegen, eigene Ausdrücke oder ein ganzes Kategoriensystem einzuführen. Ihm kommt die Definitionsmacht zu. Damit hat es aber auch schon sein Bewenden: Die Festlegungen gelten zunächst nur für einen einzelnen Text, in einem weiteren nimmt der Autor vielleicht sogar selbst Veränderungen an seinem System vor. Andere greifen diese Vorschläge dann auf-- oder auch nicht. Am verblüffendsten ist es wohl, dass auch in fachlichen Kontexten eine Kreation Erfolg haben und in den dort allgemein bekannten Wissensbestand eingehen kann, gerade dadurch jedoch eine Art Eigenleben entwickelt, in dem sogar das Wesentliche des ursprünglich Gemeinten verloren gehen kann. Sprachwandel vollzieht sich in Fachsprachen wie in anderen Varietäten im Spannungsfeld beider Wirkkräfte: Intentionaler Eingriffe, Erfindungen oder mehr oder weniger bewusster Auswahlen und (Neu-)Prägungen einerseits und nicht wirklich kontrollierbarer kollektiver Prozesse andererseits. Träger von Fachsprachen sind (wie die von anderen Varietäten) Kollektive, in denen sich Sprachgebräuche so einspielen, wie Trampelpfade entstehen, geleitet wie von einer unsichtbaren Hand (vgl. den Schluss von 5.2.). Es handelt sich eben nicht um echte Artefakte, künstliche Systeme, die so sind und bleiben, wie ihre Schöpfer sie konstruiert haben. Diese haben nicht die Macht, ihre Konstruktionen durchzusetzen und andere zu zwingen, ihnen zu folgen (vgl. 5.4.1.). Noch weniger haben sie die Macht sicherzustellen, dass andere sie auch richtig verstehen. Wenn (fach)sprachliche Systeme von Kollektiven verwendet werden, dann verändern sie sich auch: Lebendige Sprachen sind Dauerbaustellen (vgl. 4.5.). <?page no="337"?> 337 6. Zum Schluss: Was ist an Fachsprachen interessant? Zwar sind für fachliche Tätigkeitsbereiche Normierungsinstanzen sehr viel wichtiger als für die Standardsprache (oder gar für andere Varietäten) und es gibt unendlich viel mehr Einzelnormen. Gerade deren große Menge und der enorme Aufwand, der mit ihrer Etablierung und kontinuierlichen Anpassung an den tatsächlichen Sprachgebrauch verbunden ist, lässt jedoch keinen Zweifel an der grundsätzlichen Relativität von Normen: Sie gelten immer nur in bestimmten Bezugswelten. Anders gesagt: Ebenso wie die Gesamtsprache oder die Standardsprache sind auch Fachsprachen in sich heterogen und instabil. Nur dies gewährleistet, dass sie beim Gebrauch an verschiedene Zwecke, Handlungsbereiche und Situationen angepasst werden können. Im Projekt Wissenschaft im Dialog besteht die besondere Herausforderung für die Experten darin, die Denkstile und die-- teilweise gegenläufigen-- Wertsysteme exoterischer Kreise ernst zu nehmen, damit ein Austausch auf gleicher Augenhöhe stattfinden kann. In Lehr-Lern-Kontexten ist es besonders wichtig, den Sinn fachlicher Konstrukte greifbar werden zu lassen. Dazu schließt man gewöhnlich an bereits Bekanntes, aus der Alltagswelt Vertrautes an. Ein Problem kann sich ergeben, wenn Inhalte derart vertraut sind, dass man nicht recht erkennt, wieso es zu ihrer Erfassung wissenschaftlicher Theorien bedarf. Das gilt nicht nur für das Arbitraritätsprinzip von de Saussure, sondern auch für das Organon-Modell (Abb. 2.8). Bühler (1933 / 1969: 94) spricht selbst von Platons „common-sense-Ausspruch, die Sprache sei ein organum [Werkzeug], um einer dem andern etwas mitzuteilen über die Dinge“. An einem kommunikativen Austausch sind mindestens zwei Leute beteiligt; sie sprechen über irgendetwas-- das ist doch ein recht schlichter Gedanke. Was steckt dahinter, das sich nicht unbedingt beim ersten Hinsehen erschließt und tatsächlich bei der Wanderung dieses Gedankens immer wieder verloren zu gehen droht? Zunächst dasselbe wie bei de Saussure, auf den Bühler sich sehr ausführlich bezieht, die Zurückweisung der Vorstellung nämlich, sprachliche Zeichen seien Namen oder Etiketten für Sachen. Es gibt keine direkte Beziehung zwischen Zeichen / Lautbildern und Dingen, eine Zuordnung gilt nur kraft Konvention, und zwar der Konventionen eines bestimmten Systems. Im Organon-Modell haben überdies „der Sender als Täter der Tat des Sprechens- […] wie der Empfänger als Angesprochener- […] eigene Positionen“ inne (Bühler 1934 / 1965: 31). Darauf gründet Bühler seine Theorie der drei fundamentalen Funktionen von Sprache: Sprachliche Zeichen dienen nicht nur der Darstellung oder gar Abbildung der Welt, ihnen kommt auch eine Ausdrucks-/ <?page no="338"?> 338 6. Zum Schluss: Was ist an Fachsprachen interessant? Symptom- und Appellfunktion zu-- und zwar gleichzeitig. Es handelt sich nicht um verschiedene Arten von Zeichen, sondern um verschiedene Aspekte oder Perspektiven auf den Gegenstand. Bei der Betrachtung von Fachsprachen ist diese Theorie insofern erhellend, als sie sich als Gegenmodell zum hier verbreiteten ‚Taxonomismus‘ verstehen lässt: Gehören Fachsprachen zu diasozialen, diasituativen oder diafunktionalen Varietäten? Ist die Gegenstands-, die Gruppenbindung oder der Kommunikationszweck zentral? Ist dieser Ausdruck / Text dem intra-, inter- oder extrafachlichen Bereich zuzuordnen? Auf solche Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten, denn sie sind selbst an bestimmte Kategoriensysteme gebunden, die sich als Beschreibungen ausgeben, aber tatsächlich konkurrierende Konstrukte darstellen und überdies die Wirklichkeit (der Kommunikation) eindeutiger zu machen suchen, als sie es ist. Ob der Zweck eines Sprachgebrauchs darin besteht, einen Sachbereich möglichst präzise zu gliedern, sich den Nimbus eines Experten zu geben oder andere zu manipulieren, das ist nicht zuletzt eine Frage der Perspektive-- auch bei Fachtexten! „Denn ein Rest von Ausdruck steckt auch in den Kreidestrichen noch, die ein Logiker oder Mathematiker an die Wandtafel malt“ und an denen „ein geübter Graphologe seine Freude haben und seine Deutekunst nicht vergebens bemühen“ würde (Bühler 1934 / 1965: 32). <?page no="339"?> 339 Literatur Literatur Adamzik, Kirsten 1998: Fachsprachen als Varietäten. 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Erklären und Verstehen. Frankfurt a. M. 1974. <?page no="353"?> 353 Abbildungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis Abb. 1.1: Perspektiven auf Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Abb. 2.1: Vier-Dimensionen-Modell und Sprachvarietäten (Becker/ Hundt 1998) . . 55 Abb. 2.2: Kommunikative Reichweite von Hochsprache und Dialekten (König et al. 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Abb. 2.3: Diasystem funktioneller Sprachen (Coseriu 1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Abb. 2.4: Sprachwirklichkeitsmodell (Löffler 2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Abb. 2.5: Markierte Elemente in Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Abb. 2.6: Ein mehrdimensionaler Variationsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Abb. 2.7: Kommunikationsmodell (Roelcke 2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Abb. 2.8: Fach im Organon-Modell von Bühler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Abb. 2.9: Funktionalstile (Löffler 2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Abb. 2.10: Fachsprachen in den kommunikativen Bezugsbereichen (Becker / Hundt 1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Abb. 2.11: Bezugswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Abb. 3.1: Periodisierung der deutschen Fachsprachen (nach Roelcke 2010) . . . . . . 105 Abb. 3.2: Besuch von Schularten 1952 - 2014 (Statistisches Bundesamt) . . . . . . . . . 110 Abb. 3.3: Entwicklung der Wirtschaftsbereiche seit 1991 (Statistisches Jahrbuch 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Abb. 3.4: Anteil der Wirtschaftsbereiche 1960 und 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Abb. 3.5: Wörter und Unwörter aus den Jahren 2000 bis 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Abb. 3.6: Internetnutzung von Jugendlichen (JIM-Studie 2015) . . . . . . . . . . . . . . 149 Abb. 4.1: Dewey Dezimalklassifikation (Auszug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Abb. 4.2: Verwendungsgebiete von Klassifikationssystemen (nach Dahlberg 1974) 177 Abb. 4.3: Horizontale Fächergliederung (Hoffmann 1985) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Abb. 4.4: Die sieben freien Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Abb. 4.5: Vertikale Schichtung (nach Roelcke 2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Abb. 4.6: Horizontale Gliederung (Roelcke 2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Abb. 4.7: Sprache und Kommunikation nach Wirtschaftssektoren (Roelcke 2014) 185 Abb. 4.8: Ausgewählte Fachsprachen des Deutschen nach HSK 14 . . . . . . . . . . . . 186 Abb. 4.9: Fächersystematik der DFG (Auszug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Abb. 4.10: Wissenschaftssystematiken im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Abb. 4.11: Die Forschungsbereiche der Fraunhofer-Gesellschaft und der Helmholtz-Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Abb. 4.12: Klassifikation zur Mathematik: Hauptkategorien (Ausschnitt) . . . . . . . 194 <?page no="354"?> 354 Abbildungsverzeichnis Abb. 4.13: Auszug aus der Sachklassifikation für Mathematik in der Kategorie 14 . 195 Abb. 4.14: Subklassifikation der Linguistik (Kürschner 2007) . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Abb. 4.15: Preußische Volksschule Wochenstundenzahlen pro Fach (1872) . . . . . . 197 Abb. 4.16: Unterschiedliche Gliederungen der Fächer Geschichte, Erdkunde, Sozialkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Abb. 4.17: Zusammenführung nationaler zu internationalen Gliederungen der Wirtschaftszweige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Abb. 4.18: Kategorisierung der Wirtschaftszweige nach WZ . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Abb. 4.19: Subkategorisierung der Wirtschaftszweige (WZ) in den Bereichen J und P (Auszug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Abb. 4.20: Perspektiven auf Fächer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Abb. 5.1: Dimensionen der Textbeschreibung (Adamzik 2016) . . . . . . . . . . . . . . . 236 Abb. 5.2: Typologie schriftlicher Fachtextsorten (Gläser 1990) . . . . . . . . . . . . . . . 261 Abb. 5.3: Fachtexttypologie (Göpferich 1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Abb. 5.4: Relationen zwischen Text(sort)en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Abb. 5.5: Internetphänomen (Wikipedia) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Abb. 5.6: Zentrale Handlungsfelder und Relationen zwischen ihnen . . . . . . . . . . 276 Abb. 5.7: Textsorten im Rahmen wissenschaftlicher Tagungen (Christa Pieth) . . . 280 Abb. 5.8: Kommunikationsbereiche des politischen Diskurses (Kuße 2012) . . . . . 284 Abb. 5.9: Gliederung von Fachsprach- und Fachtextwortschatz (Roelcke 2010) . . . 296 Abb. 5.10: Erkennbarkeit von Fachausdrucken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Abb. 5.11: Vorkommen eines Ausdrucks in Nachschlagewerken . . . . . . . . . . . . . . 299 Abb. 5.12: Tabellarischer Überblick der Lemmabelegungen (nach Kolde 1999) . . . . 301 Abb. 5.13: Metall in der Gemeinsprache und der Fachsprache der Chemie . . . . . . 302 Abb. 5.14: Gliederung des Fachwortschatzes entsprechend dem Standardisierungsgrad (nach W. Schmidt 1969: 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Abb. 5.15: Versuch einer Systematisierung des Wortschatzes (Heller 1970) . . . . . . 306 Abb. 5.16: Fachsprachliche Zeichenklassen (nach v. Hahn 1983) . . . . . . . . . . . . . . 307 Abb. 5.17: Referenten von Fachausdrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Abb. 5.18: Schematische Übersicht zu Copernicium (Wikipedia) . . . . . . . . . . . . . 320 Abb. 5.19: Das Beispiel arbor (de Saussure) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Abb. 5.20: Saussures Zeichenmodell in Lehrmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Abb. 5.21: Saussures Zeichenmodell nach Lindzus / Tonsky-Katzer . . . . . . . . . . . . 327 Abb. 5.22: Variation 1 zu Saussures Zeichenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Abb. 5.23: Variation 2 zu Saussures Zeichenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Abb. 5.24: Notfallnummern in Europa (Auszug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 <?page no="355"?> 355 Namenregister Namenregister Adamzik, Kirsten 27, 43, 61, 64, 70, 80-83, 90, 96, 101-104, 119, 196, 216, 234 ff., 249, 256, 258, 260, 262, 264 f., 269, 271, 275, 280, 286, 288 Alghisi, Alessandra 83 Ammon, Ulrich 87 f. Antos, Gerd 334 Aristoteles 175, 224 BBarbour, Stephen 38 Bausinger, Hermann 38, 44 Becker, Andrea 27, 38, 53, 55 f., 58, 60, 63, 66, 70 f., 96 ff., 101, 187 Beck, Ulrich 129, 155 Berger, Peter L. 97-104, 109, 111, 118, 132, 208 Berlin, Brent 15 Berruto, Gaetano 37 ff., 53, 55, 63, 65 f., 71 Betzel, Dirk 61 Biermann, Heinrich 198, 327 Bittlingmayer, Uwe 131 ff., 135, 138 f. Bock, Bettina (M.) 120 Böhn, Andreas 148 Bokulich, Alisa 218 Bolder, Axel 142, 157 f. Boyle, Robert 223, 228, 252 Brünner, Gisela 27 Budin, Gerhard 173, 286 Bühler, Karl 87, 226, 325, 333, 337 f. Bührmann, Andrea D. 156 Busse, Dietrich 188 Bußmann, Hadumod 25 f., 28, 51, 301, 305 CCortina, Kai S. 109 f., 151, 189, 193, 209 Coseriu, Eugenio 38 f., 56, 63, 66 f., 233 Crouch, Colin 111 Dahlberg, Ingetraut 169, 171 f., 174-177, 186, 195, 204 Dahrendorf, Ralf 153 Darwin, Charles 15 Deutscher, Guy 15 Devlin, William J. 218 Dieckmann, Walther 281 f. Dittmar, Norbert 38 Drucker, Peter 127, 129 f. EEhlich, Konrad 81, 209 Eichhoff-Cyrus, Karin M. 81 Eichinger, Ludwig M. 48 Einstein, Albert 252 Engelhardt, Laura 132 f., 136 FFaulstich, Peter 142, 151 Feilke, Hellmuth 18 Felder, Ekkehard 14, 19 ff., 85, 92, 97, 334 Fisch, Stefan 153 Fix, Ulla 220 Fleck, Ludwik 219-225, 227 ff., 231 ff., 251 f., 256, 287 Fluck, Hans-Rüdiger 19, 24, 28, 84, 167, 178, 180, 286 Forner, Werner 27 Fraas, Claudia 293 Frey, Bruno S. 248 Fugmann, Robert 176 GGalinski, Christian 173, 286 Gardt, Andreas 14, 19 ff., 84, 90-93, 102, 208, 334 Geißler, Karlheinz A. 158 Girnth, Heiko 281 f. Gläser, Rosemarie 260, 264 Glück, Helmut 25 f., 28, 33, 295, 301, 305 <?page no="356"?> 356 Namenregister Goethe, Johann Wolfgang v. 27 Göpferich, Susanne 13 f., 32, 81 f., 262 ff., 272, 277 Graefen, Gabriele 209 Grice, H. Paul 89, 120, 123 Grimm, Jacob und Wilhelm 30 Grotjahn, Rüdiger 291 ff. HHabscheid, Stephan 277 Hahn, Walther v. 287, 289, 292 f., 298, 307 Hammarström, Göran 42 Heller, Klaus 306 Hendrich, Wolfgang 142, 157 f. Hennig, Mathilde 225 Herrgen, Joachim 60, 165 Herrlitz, Hans-Georg 151, 197 Herzog, Roman 141 f., 158, 245 Hoffmann, Lothar 24, 26, 29, 32 f., 72 f., 84 f., 111, 117 f., 128, 167, 178 f., 182, 209, 212, 271, 295 Horton, Richard 114 f., 126, 144, 240 Humboldt, Wilhelm v. 19, 246 Hundt, Markus 27, 38, 53, 55 f., 58, 60, 63, 66, 70 f., 96 ff., 101, 187 IIschreyt, Heinz 182 JJäger, Ludwig 255 Johnson, Mark 308 Jumpelt, Rudolf Walter 28 KKajetzke, Anina 132 f., 136 Kalverkämper, Hartwig 8, 27, 45 f., 88, 160, 163 ff., 167-171, 188, 203 f., 212, 332 Kaube, Jürgen 245, 248 Kay, Paul 15 Kerner, Maximilian 123 Keyes, Ralph 242, 244, 254 Kieserling, André 245 f. Klein, Josef 262, 279, 281 f. Kloss, Heinz 107 ff., 111 Knapp, Karlfried 11 Knoop, Ulrich 81 Kocourek, Rotislav 27 Köhler, Reinhard 80 Kohl, Helmut 139 Kolde, Gottfried 286, 300 f. König, Werner 59 Kopernikus 220, 316 f., 319, 321 Krämer, Sybille 255 Krämer, Walter 83 Kretzenbacher, Heinz Leo 180 Kübler, Hans-Dieter 130 f., 133 Kuhn, Thomas S. 102, 215, 217-221, 223-226, 228-232, 234, 238 f., 251 f., 254, 287, 297 Kunz, Alexa Maria 150 Kürschner, Wilfried 196 Kuße, Holger 284 LLabov, William 42 f., 56, 75 Lakoff, George 308 Lindzus, Helmut 327 Linné, Carl v. 211 Löffler, Heinrich 37 f., 43, 48, 55, 58, 67 f., 75, 90 f., 95, 180 Luckmann, Thomas 97-104, 109, 111, 118, 132, 208 MMatzke, Brigitte 9 Merkel, Angela 116 Möhn, Dieter 178, 293 Moll, Melanie 209 Münch, Richard 245 NNabrings [Adamzik], Kirsten 27, 37 f., 44, 56, 63 f. Neuland, Eva 47 f. Niederhauser, Jürg 81 Niemann, Robert 225 <?page no="357"?> 357 Namenregister Osterloh, Margit 248 PPelka, Roland 178 Perkuhn, Rainer 80 Pfadenhauer, Michaela 150 Pieth, Christa 82, 278 Pinkal, Manfred 293 Platon 337 Pöckl, Wolfgang 27 Polenz, Peter v. 27, 53, 147, 151 ff., 159 RReagan, Ronald 139 Rehbein, Jochen 209 f., 215, 250 Reisigl, Martin 283 Richter, Frank 216 Riesel, Elise 90 Ritz, Hans 49 Roelcke, Thorsten 9 ff., 14, 19 f., 22, 33, 64, 66, 84 ff., 90, 92 ff., 105 f., 166 f., 181-185, 187, 189, 208, 210 ff., 271, 286, 295 f., 331, 334 Rolf, Eckard 260 Römer, Christine 9 SSager, Juan C. 27 Sapir, Edward 14, 295 Saussure, Ferdinand de 28, 255, 271, 292, 312, 325-329, 333, 335, 337 Schäfers, Bernhard 61 f. Schank, Gerd 64 Schlosser, Horst Dieter 127, 142 Schmidt, Jürgen Erich 60, 165 Schmidt-Tiedemann, K. Joachim 123, 244, 283 Schmidt, Wilhelm 304 f. Schoenthal, Gisela 64 Schollwöck, Ulrich 248, 258 Schröder, Gerhard 116 Schulze, Gerhard 63, 129 Schurf, Bernd 198, 327 Schütz, Alfred 97, 99, 103, 208 Schützeichel, Rainer 133 Searle, John R. 16 Seidler, Andreas 148 Sinner, Carsten 37 f., 53 Standop, Ewald 82 Steger, Hugo 38, 55, 96 f., 101, 187 f. Steger, Ulrich 127 Steinig, Wolfgang 61 Sternefeld, Wolfgang 216 Stevenson, Patrick 38 Strauß, Gerhard 282 Szurawitzki, Michael 107 TTeubert, Wolfgang 81 Thatcher, Margaret 116, 139 Thörle, Britta 27 Tonsky-Katzer, Petra 327 Trabant, Jürgen 106 f. Tuncer, Hidayet 131 ff., 135, 138 f. WWassermann, Paul v. 219, 223 f., 233, 251, 295 Weinrich, Harald 210 Welke, Martin 152 Werlen, Iwar 14 Whorf, Benjmin Lee 14, 92, 295, 333 f. Wichter, Sigurd 79, 111 f., 114, 124, 266 f., 277 f. Wolski, Werner 293 Wright, Georg Henrik v. 209 <?page no="358"?> ,! 7ID8C5-cejgcf! ISBN 978-3-8252-4962-5 Kirsten Adamzik Fachsprachen Die Konstruktion von Welten Informationsexplosion, Verwissenschaftlichung, Wissensgesellschaft - angesichts solcher Schlagworte besteht kein Zweifel, dass Fachsprachen eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft zukommt. Zugleich lassen sie erkennen, dass fachsprachliche Elemente nicht (mehr) als Teile exotischer Ausdruckssysteme zu behandeln sind, die von Experten für Experten geschaffen wurden. Dieser Band nimmt die Perspektive von Nicht-Experten ein und präsentiert Fachsprachen als hochgradig variable und dynamische Ausdruckssysteme, an denen ständig weitergearbeitet wird. Er wendet sich an fortgeschrittene Studierende, die neben dem Grundlagenwissen gängiger Einführungen auch am Nachdenken über die Methoden und Theorien der Fachsprachenforschung Interesse haben und bereit sind, über die Grenzen ihres Faches hinaus gesellschaftliche Zusammenhänge zu erfassen. Sprachwissenschaft Fachsprachen Adamzik Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 49625 Adamzik_M-4962.indd 1 16.07.18 13: 43