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Kampfplätze des Denkens

Praxis der interkulturellen Kommunikation

0716
2018
978-3-8385-4997-2
978-3-8252-4997-7
UTB 
Hamid Reza Yousefi

Kompetent und in leicht verständlicher Sprache führt Hamid Reza Yousefi den Leser in die Praxis der interkulturellen Kommunikation ein. Ausgehend von seiner Theorie der Praxis kommunikativen Denkens erläutert er nicht nur die Funktionsbereiche menschlichen Denkens, sondern auch bestehende Universalitäts- und Partikularitätskonzepte der Kommunikation sowie wesentliche Grundbegriffe interkulturellen Denkens und Handelns. Umfassend und prägnant präsentiert er dem Leser die Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation sowie die praktischen Barrieren und die psychologischen Komponenten dieser Kommunikation. Dabei zeigt er auf, dass jede Art von Kommunikation von bestimmten Denkweisen, Denknutzungen und Denkleistungen abhängig ist, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich gestaltet sind. Eine für Lehrende und Studierende sowie Theoretiker und Praktiker auf dem Gebiet der Kommunikation unerlässliche Pflichtlektüre.

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 27 <?page no="2"?> Hamid Reza Yousefi Kampfplätze des Denkens Praxis der interkulturellen Kommunikation 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlag · München <?page no="3"?> Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http: / / dnb.ddb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlag München 2018 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck UVK Verlag Nymphenburger Straße 48 · 80335 München Telefon: 089/ 452174-65 www.uvk.de Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon: 07071/ 9797-0 www.narr.de UTB-Nr.: 4127 ISBN 978-3-8252-4997-7 Hamid Reza Yousefi ist Professor für Interkulturelle Philosophie und Dialog der Religionen an der University of Religions and Denominations in Qom. Zudem ist er Gründungspräsident des Instituts zur Förderung der Interkulturalität-e.V. in Trier und Lehrbeauftragter der Universität Potsdam und der Universität des Saarlandes. <?page no="4"?> Dieses Buch ist das Ergebnis meiner intensiven Lehrerfahrung und Arbeit mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturregionen der Welt. Meine Frau Ina Braun-Yousefi begleitet mich in all diesen Jahren mit Wort und Tat: Ihr ist dieses Buch in dankbarer Verbundenheit gewidmet. <?page no="6"?> 9 1. 13 1.1. 13 1.1.1. 14 1.1.2. 15 1.2. 20 1.2.1. 31 1.2.2. 34 1.2.3. 37 1.2.4. 39 1.2.5. 41 2. 46 2.1. 46 2.2. 48 3. 52 3.1. 56 3.2. 58 4. 62 4.1. 62 4.2. 63 4.3. 66 4.4. 73 5. 75 5.1. 76 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens . . . . . . . . . . . . . Was ist der Mensch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mensch und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mensch und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Denken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken und Instinkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken und Ur-Sehnsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken und Menschsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken und das Stufenmodell von Jean Piaget . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken und seine Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geistige Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kampfplätze des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Universalitätskonzepte der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . Partikularitätskonzepte der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . Transkultur - Multikultur - Interkultur - Plurikultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multikulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inklusive Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plurikulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation . . . . . . . Eine kleine Geschichte der interkulturellen Kommunikation . <?page no="7"?> 5.2. 80 5.2.1. 82 5.2.2. 92 5.3. 95 5.3.1. 100 5.3.2. 114 5.3.3. 120 5.3.4. 125 5.3.5. 130 5.3.6. 136 5.3.7. 147 5.4. 159 5.4.1. 159 5.4.2. 161 6. 164 6.1. 166 6.2. 170 6.3. 176 6.4. 183 7. 189 7.1. 190 7.2. 196 7.3. 204 209 212 221 Logik und Hermeneutik der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . Bedeutungsebenen der Kommunikation . . . . . . . . . . . . Das tragfähige Zwischen: Die Menschenwürde . . . . . . Korrelatbegriffe der Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modus der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modus der Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modus der Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modus der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modus der Komparatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modus der Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modus der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden der interkulturellen Kommunikation . . . . . . . . . . . Das Modell des Methodenpluralismus . . . . . . . . . . . . . . Das Konzept der Interdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . Rigidität des Absolutheitsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sackgasse der Vorurteile und Stereotype . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Egoismus und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie der praktischen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bewusstseinskonzept von Carl Gustav Jung . . . . . . . . . . . Das Selbststeuerungskonzept von Julius Kuhl . . . . . . . . . . . . . Kommunikation und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="8"?> 1 Eine vorläufige Zusammenfassung meines Ansatzes findet sich unter anderem in den Lehrwerken der Interkulturellen Kommunikation, 2014 und Grundbegriffe der interkul‐ turellen Kommunikation, 2014. Einleitung Mit diesem Praxisbuch beabsichtige ich in einer klaren, kurzen und leicht ver‐ ständlichen Form, in die Grundstruktur der interkulturellen Kommunikation einzuführen. Folgendes möchte ich diesem Versuch voranstellen: In den ver‐ gangenen zwei Jahrzehnten habe ich eine Theorie der interkulturellen Kom‐ munikation entwickelt und durch eine Reihe von Publikationen veranschau‐ licht. 1 Nun bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass diese Theorie, so fundiert ausgearbeitet sie auch sein mag, einer grundlegenden Modifikation bedarf. Betrachten wir die Diskurstheorien der vergangenen Jahrzehnte, so werden wir feststellen können, dass Kommunikation zu den wichtigsten Bemühungen aller Bereiche der Politik, Wissenschaft und Gesellschaft zählt. Die Ausgangs‐ position dieser Diskurse ist der Kulturbegriff. Von diesem Begriff und seinen Transformationsmöglichkeiten aus, werden Rahmenbedingungen der Kommu‐ nikation betrachtet und Lösungsansätze für ein gelingendes Miteinander for‐ muliert. Hierbei fällt auf, dass ein wesentliches Element in diesen Kommunika‐ tionstheorien entweder unzureichend betrachtet wird oder nur am Rande Erwähnung findet. Meine These ist: Nicht ›Kulturen‹ sind wesentlich für die Entfaltung einer gelingenden Kommunikation, sondern auch Denkweisen, Denknutzungen und Denkleistungen, die von Individuum zu Individuum unterschiedlich ausfallen. Daher erscheint es notwendig, meinen Ansatz gemäß dieser Annahme grund‐ legend zu modifizieren und eine praktische Kommunikationstheorie vorzu‐ stellen sowie deren Bedingungen und Hindernisse zu beleuchten. Damit ist aus‐ gesagt, dass Denken der Kultur vorausgeht, denn Denken bildet Kultur und bestimmt, was Kultur ist bzw. nicht ist: Ohne Denken keine Kultur! Folglich bestimmt das Denken, was Kommunikation ist bzw. nicht ist und/ oder was Re‐ ligion ist bzw. nicht ist. Denken spielt die tragende Rolle innerhalb aller Kom‐ munikationsbemühungen. Im Prozess des Denkens befindet sich alles im Werden und die wissenschaft‐ liche Tätigkeit beschreibt diejenigen Erfahrungen, mit denen sich das Wagnis des Neuen formiert, aus dem man verändert hervorgeht. Jede Erfahrung trägt zur Erweiterung des Wahrnehmungshorizontes und damit letztlich zur Verän‐ <?page no="9"?> derung der Denkform bei. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben mich derart verändert, dass ich das Konzept der interkulturellen Kommunikation nicht mehr so denken kann, wie zuvor. Mein Ansatz begreift sich nun als eine Theorie der Praxis kommunikativen Denkens, mit dem das Welt- und Selbstverhältnis der Individuen in der Interaktion miteinander kontextuell- und situationsbedingte Beziehungen eingehen. Folgendes möchte ich diesem veränderten Denken nach festhalten: Nicht Kulturen reden miteinander, sind kompromissorientiert, verfahren absolutis‐ tisch und schließen einander wechselseitig aus. Kulturen sind interaktionslos, taub und stumm. Es sind Menschen und ihre Denkformen, die Kulturen bilden und ihnen einen Namen geben. Auch sind es Denkkulturen, die Kompromisse suchen, absolutistisch vorgehen und kognitive Dissonanzen hervorbringen. Alles beginnt und hört mit dem Denken auf. Eine solche Spezifizierung hilft vielmehr von Denkformen auszugehen und nicht von Kulturen, die dann für das Gelingen oder Scheitern von Kommunikation verantwortlich gemacht werden können. Daher ist es zweckdienlich, das Kompositum ›Dialog der Kulturen‹ durch ›Dialog der Denkformen und Denksysteme‹ zu ersetzen. Das Gleiche gilt auch für den ›Dialog der Religionen‹ oder den ›Dialog der Philosophien‹. Dies ist ein Grund, warum die Untersuchung der Kulturtransformationen der Frage vorausgeht, was Denken ist, was es mit Menschen macht und was Menschen mit ihm machen. Diesem vielschichtigen Themenfeld möchte ich in sieben dialektischen Schritten näherkommen. Dabei beginne ich mit der Frage nach dem Menschen und seinen vielfältigen Weltbildern, die Folgen seiner kognitiven Ausstattung sind, eine Fähigkeit, die für seinen Umgang mit der ihn umgebenden Welt sowie seine zwischenmenschlichen Beziehungen richtungsweisend ist. Diese Refle‐ xionen rücken die Frage nach der Bedeutung des Denkens in das Zentrum des folgenden Kapitels, in dem das Wechselverhältnis zwischen Denken und Ge‐ fühlswelt des Menschen, mit Instinkt und Ur-Sehnsucht sowie Sprache, Kultur und Mensch zur Darstellung kommt. Das Thema des zweiten Kapitels umfasst die kognitiven Entfaltungsmöglich‐ keiten der Heranwachsenden im Denken von Jean Piaget. Er ist derjenige Psy‐ chologe, dem es gelungen ist, Funktionen und Entwicklungslinien der geistigen Fähigkeit des Menschen in unterschiedlichen Altersstufen und Lebensphasen zu beschreiben. Diese geistige Entwicklung ist es, die geradezu Denkformen herausbildet, die auf allen Kommunikationsfeldern deutlich zum Tragen kommen. Aufbauend auf den gewonnenen Erkenntnissen dieser ersten beiden Kapitel befasst sich der dritte Schritt mit den Kampfplätzen des Denkens, die bislang in Einleitung 10 <?page no="10"?> der Literatur als ›Kampfplätze der Kulturen‹, ›Kampfplätze der Religionen‹ sowie ›Kampfplätze der Philosophien‹ bezeichnet worden sind. Um die eigent‐ liche Dissonanz der Denkformen und ihre jeweiligen Entstehungsgründe zu verdeutlichen, werden zwei Konzepte voneinander unterschieden, die im Kern betrachtet etliche Gemeinsamkeiten aufweisen: Es handelt sich einerseits um Universalitäts- und andererseits Partikularitätskonzepte der Kommunikation. Während Universalitätskonzepte hierarchisch von oben nach unten inter‐ agieren und alles nach eigenem Diktum betrachten, verfahren partikuläre An‐ sätze selbstverabsolutierend und bekämpfen ein solches, totalitäres Vorgehen. Das vierte Kapitel befasst sich, um Orientierungsplätze derartiger Denkan‐ sätze zu zeigen, mit drei aktuellen Theorien, die innerhalb der vergangenen dreißig Jahre entwickelt wurden: Die Ansätze der Trans-, Multi-, und Inter‐ kultur. Während Transkulturalität von einem Durcheinander der Kulturen aus‐ geht, stellt Multikulturalität ein Nebeneinander der Kulturen dar. Anders ver‐ fährt die Theorie der Interkulturalität, die jeder Form von Kugelförmigkeit der Kulturen als geschlossenen Gefügen ablehnend gegenübersteht. Ganz im Ge‐ genteil: Sie betrachtet Kulturen als dynamisch-veränderbare Sinn- und Orien‐ tierungssysteme. Diese Ansätze führen zirkulär vor Augen, dass sie selbst Pro‐ dukte unterschiedlicher Denkformen sind, die sich jederzeit und in jedem Kontext und Diskurs bekämpfen, bejahen oder ergänzen können. Meine Praxistheorie der interkulturellen Kommunikation fußt auf diesen fünf ineinander verflochtenen Dialektikschritten. Diese grundlegende Neuorientie‐ rung ermöglicht es, Logik und Hermeneutik der Kommunikation erneut zu be‐ trachten und ihre Kernbereiche der Identität, Kompetenz, Semantik, Herme‐ neutik, Komparatistik sowie Toleranz und Ethik zu rekontextualisieren. Die zentrale Säule meiner Praxistheorie der Kommunikation ist die unveräußerliche Menschenwürde als das ›tragfähige Zwischen‹, das allen Denkformen und Sinnsystemen als unanfechtbare Grundlage dient. Das sechste Kapitel zeigt mögliche Hindernisse und Aporien dieser Denk‐ formen, die für das Gelingen oder Scheitern der Kommunikation auf jedwedem Gebiet verantwortlich sein können. Es handelt sich hierbei neben der negativen Macht auch um kulturalistische Selbstverliebtheit, separatistischen Ethnozent‐ rismus und die kontraproduktive Selbstverabsolutierung der eigenen Position sowie destruktive Vorurteile und klischeehafte Stereotypen. In einem letzten Schritt wird das Wechselverhältnis zwischen Bewusstseins‐ funktionen und Selbststeuerungstechniken am Beispiel der analytischen Psy‐ chologie Carl Gustav Jungs und der differenziellen Psychologie von Julius Kuhl thematisiert. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Wechselverhältnis zwi‐ Einleitung 11 <?page no="11"?> schen Kommunikation und Erziehung zu, die mit den erwähnten Denkweisen, Denknutzungen und Denkleistungen der Individuen eng zusammenhängen. Die Grundintention eines jeden Lehrwerkes ist der Wissenstransfer, der min‐ destens auf drei Prinzipien fußt, die sich wechselseitig bedingen: An erster Stelle benötigt es Verständlichkeit, um das generierte Wissen in einer angemessenen Sprache zu vermitteln. Zweitens geht es um eine gewisse Plausibilität, um diese Verständlichkeit auf allen Ebenen zu gewährleisten. Ein letztes Kriterium bildet die Nützlichkeit eines solchen Theoriekomplexes, um eine praktische Korres‐ pondenz zwischen Wissenschaft und Gesellschaft herzustellen. In diesem Sinne bilden Originalität der Fragestellung, Klarheit der Gedankenführung, Eleganz der Darstellung und gekonnte Auswahl der Methoden den Geist des vorlie‐ genden Studienbuches. Abschließend möchte ich mich bei einigen Menschen bedanken, die mich in den letzten zwei Jahrzehnten neben meiner Frau Ina Braun intensiv begleiten: Meine Schüler Matthias Langenbahn M.A. und Alexandra Seibel M.A. gehören, neben meinen Kollegen Prof. Dr. Harald Seubert und Dr. Philipp Thull, zu den‐ jenigen Menschen, die mich mit Leib und Seele begleiten. Unterteilen wir das Lesen in vier Formen, kursorisches, informierendes, gründlich-studierendes und vergleichendes, so schlage ich dem Leser das gründlich-studierende Lesen vor. Hamid Reza Yousefi Trier, im Juli 2018 Einleitung 12 <?page no="12"?> 1 Jaspers, Karl: Kleine Schule des philosophischen Denkens, 10 1974, S. 62. 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 1.1. Was ist der Mensch? Die Beantwortung der Frage ›Was ist der Mensch? ‹ bildet die Grundlage aller Anthropologie. Ibn Sina (980-1037) und Immanuel Kant (1724-1804) sind zwei Weltphilosophen, die die Frage nach dem Menschen stellen und sein Denken und Wesen systematisch thematisieren. Beide betrachten den Menschen sowohl physiologisch, d. h. was die Natur aus dem Menschen macht und pragmatisch, d. h. was der Mensch mit seinem Denken aus sich selbst macht. Sie charakteri‐ sieren den Menschen als Person und gleichsam als Wesen mit Vernunft und Verstand, auch wenn sie diese in völlig unterschiedlichen, kulturellen Kontexten betrachten. Ibn Sina aus iranisch-islamischer Sicht und Kant aus deutsch-christ‐ licher Perspektive. Der Mensch verfügt in der Tat über eine faszinierende und zugleich geheim‐ nisvolle Geisteswelt, wie das Universum selbst. Er ist seit der Entdeckung seiner Selbst im Denken unterwegs, die Welt seines Geistes und die Struktur der Welt zu erschließen. Bei einer kurzen Selbstbetrachtung, stellt jeder bald fest, dass er nicht nur ein betrachtendes oder stellungnehmendes Wesen ist, sondern auch ein fragendes und antwortendes mit einem suchenden Geist. Dies alles setzt Denken und Denken-Können voraus. Er wird ebenfalls feststellen, dass er in seinem befristeten Dasein über sich hinaus will, dass er keine letztliche Befrie‐ digung findet und sich selbstdenkend verstehen will: »Über sich hinaus gelangt der Mensch«, schreibt Jaspers, »in seinem inneren und äußeren Handeln, in seinem Verwirklichen wird er sich als er selbst bewußt« 1 . Dieses immerwäh‐ rende Streben zeigen die folgenden Welt- und Menschenbilder quer durch die Geschichte, in denen sich eine Vielzahl an Denknutzungen, Denkweisen und Denkleistungen im Hinblick auf die Betrachtung des Menschen begegnen, die sich widersprechen, verwerfen, verbinden oder ergänzen. Die Faktizität und Geltung der Gleichberechtigung verschiedener Begriffstypen impliziert einen Relativismus, den die Wissenschaft benötigt, um nicht stehen zu bleiben. <?page no="13"?> 2 Vgl. Khella, Karam: Geschichte der arabischen Völker, 2007. 3 Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Zarathustra neu entdeckt, 2010. 4 Vgl. Glasenapp, Helmuth von: Die Weisheit des Buddha, 1946. 5 Vgl. Mittwede, Martin: Vedanta-Philosophie im interkulturellen Kontext, S. 32. 6 Vgl. Dahlheim, Werner: Die Antike, 6 2002. 7 Vgl. Drerup, Engelbert: Homer, 1903. 1.1.1. Mensch und Religion Diese Mannigfaltigkeit selbst ist ein Ausdruck des sinnsuchenden und über sich hinauswachsenden Denkens. Bereits bei den indigenen Völkern und in den alt‐ ägyptischen Konzepten 2 , wie auch den zarathustrischen Kosmologien in Per‐ sien, wird der Mensch als das Geschöpf einer unsichtbaren Natur beschrieben, die ihm das Gute und das Vermögen, das Böse zu vollbringen, in seine Seele eingehaucht hat. Seine Aufgabe ist, das moralisch Gute zu befolgen und das moralisch Verwerfliche zu unterlassen. 3 Das ist eine Dimension, die in allen übrigen Religionen und philosophischen Weltanschauungen unterschiedlich zum Tragen kommt, welche die Qualität des Menschen als Geisteswesen un‐ terstreichen. Im buddhistischen Kontext ist der Mensch ein völlig vom göttlichen Reich abgekoppeltes Wesen. Die Welt ist ewig, und der Mensch ein Wesen, das sich permanent in Inkarnationsstress befindet. 4 Ähnlich betrachtet auch Ibn Sina die Welt, indem er ihr die Attribute der Ewigkeit und Endlosigkeit zuspricht, in der jedoch weiterhin alles entsteht, besteht und vergeht. Dieser karmabedingte Zu‐ stand wird durch die Versenkung überwunden und der Mensch erreicht das Reich der Ewigkeit, das gewöhnlich als Nirwana bezeichnet wird. Er wird nicht mehr wiedergeboren. Das ist letztlich die Ruhe, nach der sich der Buddhist sehnt. 5 In der antiken Mythologie wird der Mensch wiederum völlig anders als im Buddhismus betrachtet. 6 Die Erde gilt in dieser Zeit als Mittelpunkt des Kosmos und die Götter beherrschen fast alle Lebensbereiche des Menschen. Diese Ab‐ hängigkeit dominiert fast bis zu Plotins (205-270) Zeit das Denken der Griechen. Homer (8. Jhd. v. Chr.) demonstriert in seiner ›Odyssee‹ die menschliche und göttliche Welt als eine unauflösliche Einheit. Im Weltbild Homers ist die Erde eine runde, vom Ozean umflossene Scheibe. 7 Im Gegensatz zu den unsterblichen Göttern existiert der Mensch als ein sterbliches, vergängliches Wesen. Homer beschreibt ihn als das armseligste Wesen, das es gibt und das auf der Erde atmen und kriechen muss. Das Erscheinungsbild des Menschen im alt- und neutestamentarischen sowie islamischen Mythos ist im Gegensatz zu diesem transzendenzverschlossenen Konzept völlig anders. In der Bibel wird der Mensch als Krone der göttlichen 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 14 <?page no="14"?> 8 Vgl. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, 1986. Schöpfung betrachtet. Der Mensch bildet eine untrennbare Einheit von Körper-Seele-Geist, wobei die Seele als unsterblich gilt. Er gilt nämlich als ›Ebenbild Gottes‹ und erhält als solches den Auftrag, sich die Erde untertan zu machen. Weiterhin wird der Mensch im Paradiesmythos durch den Sündenfall charakterisiert. Er wird aus dem Paradies vertrieben und hat fortan ein schmerz‐ volles und beschwerliches Leben zu führen. ›Ebenbild Gottes‹ und die soge‐ nannten ›Sünder‹ sind völlig disparat. Daher umfasst der biblische Mythos zwei Ansätze von transzendenten Anthropologien. Wie kann der Mensch göttlich und zugleich sündhaft sein? Das Wesen des Menschen im Islam stimmt weitgehend mit den alt- und neu‐ testamentarischen Theologien überein. Die Philosophen der islamischen Welt modellieren das transzendenzoffene Menschenbild des Aristoteles (384-322 v. Chr.) neu und ergänzen die Stellung des Menschen in der Ordnung der Welt. Nach dem islamischen Menschenbild gilt der Mensch als ›Khalifatolah‹, Stell‐ vertreter Allahs auf Erden, woraus er seine Würde erhält. Allah hat den Men‐ schen gelehrt, zu denken und sich denkend wahrzunehmen. Der Mensch müsse sich aber wegen seiner kreatürlichen Begrenztheit vervollkommnen. 1.1.2. Mensch und Philosophie Die Stoiker bezeichnen Jahrhunderte später Menschen als Vernunftwesen, die Verwandtschaft mit Göttern aufweisen. Platon (428-348 v. Chr.) kommt wie‐ derum zu einer umwälzenden Erneuerung des Menschenbildes. In seiner ›Poli‐ teia‹ betrachtet er den Menschen als individuelles und unsterbliches Geist‐ wesen. Der Mensch wird durch Seelenvermögen zu einem bestimmten Charakter. Aristoteles betrachtet Menschen als ›zoon logon echon‹, als Geist- Körperwesen. 8 Der Körper ist wesentlich dem Geist zugeordnet und funktioniert als Werkzeug, also ›Organon‹ der Seele, die ihn beherrscht und bewegt. Im Menschenbild des Aristoteles ist der Mensch als ein handelndes Wesen charak‐ terisiert, das danach strebt, in seiner befristeten Daseinszeit glücklich zu werden. Aristoteles bettet den Menschen in die Natur ein. Er beschreibt Menschen als Sinneswesen mit Vernunft. Dieses Menschenbild ist von vielen Forschenden übernommen worden. Die Philosophie untersucht die Leib-Seele-Frage, die Theologie diskutiert die Frage nach der existenziellen Abhängigkeit des menschlichen Daseins, die Medizin analysiert den menschlichen Körper, die So‐ ziologie befasst sich mit der gesellschaftlichen Existenz des Menschen und die Psychologie untersucht sein Seelenleben und Gründe seines Verhaltens. 1.1. Was ist der Mensch? 15 <?page no="15"?> 9 Gruber, Hans und Elena Stamouli: Intelligenz und Vorwissen, 2009, S. 31. 10 Vgl. La Mettrie, Julien Offray de: Der Mensch als Maschine, 1988. 11 Vgl. Jung, Carl Gustav: Erinnerungen, Träume, Gedanken, 1971, S. 303. 12 Vgl. Tomasello, Michael: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, 2001. Neben diesen Menschenbildern ist das Menschenbild von Charles Darwin (1809-1882) zu nennen, der bemüht ist, daraus eine intrinsische Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier zu begründen. Für ihn ist der Mensch das Resultat einer langen Entwicklung. In diesem Sinne betrachtet La Mettrie (1709-1751) Menschen als Maschinen. In seinen Augen ist der Mensch ein intelligentes Tier, ein Affe mit besonderem Gehirnvolumen. Es ist zu beachten, dass die mensch‐ liche Intelligenz oft versagt und nicht den Eigenschaften nachzukommen vermag, mit denen sie oftmals charakterisiert wird. Diese Unzulänglichkeit lässt sich besonders eindrucksvoll in Konfliktsituationen beobachten, etwa in zwi‐ schenmenschlichen Kontexten, in denen der Mensch seine Fassung verliert und zur Herausforderung seiner selbst wird. Die ihm eigene Intelligenz ist dabei oftmals nicht in der Lage, einen adäquaten Lösungsansatz für ein Problem zu generieren, wobei es eine grundlegende Eigenschaft des Denkens ist, auch in derartigen Konfliktfällen nach einem Lösungsweg zu suchen. Die Frage nach Intelligenz lässt sich unterschiedlich betrachten. Im Allge‐ meinen beschreibt sie die Art der Bewältigung eines Problems, das in unter‐ schiedlichen Situationen auftreten kann. Dabei geht es um die Triade des guten Denkens und Verstehens, um angemessen urteilen zu können. Intelligenz ist im Grunde eine Fähigkeit, die hilft, Bedeutungen, Beziehungen und Sinnzusam‐ menhänge zu erfassen und herzustellen. Diese Fähigkeit ist von Individuum zu Individuum verschieden ausgeprägt und zeigt sich in sprachlichen und raum-zeitlichen Denkformen. Dabei wird Intelligenz oftmals gleichgesetzt mit dem Vermögen des Menschen »zur Anpassung an neuartige Bedingungen und zur Lösung neuer Probleme auf der Grundlage vorangehender Erfahrungen im gesellschaftlichen Kontext«. 9 La Mettrie vertritt eine Homo-Mensura-Philosophie, nach der der Mensch als Schöpfer seiner Selbst im Zentrum des Kosmos steht. 10 Wie Protagoras (490-411 v. Chr.) hält er den Menschen für ›das Maß aller Dinge‹, eine Anthropozentrik. Nach dieser Bestimmung unterliegt der Mensch den mechanischen Gesetzen einer determinierten Materie. Carl Gustav Jung (1875-1961) ist hingegen der Ansicht, dass der Mensch »keine Maschine [ist], die man gegebenenfalls für ganz andere Zwecke umbauen kann und die dann in ganz anderer Weise ebenso regelmäßig funktioniert wie vorher«. 11 Gegenwärtige Verhaltensforscher wie Michael Tomasello (*1950) sehen wie Darwin in Affen Menschen und in Men‐ schen Affen mit gewissen Unterschieden. 12 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 16 <?page no="16"?> 13 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, 1995, S. 24 ff. 14 Vgl. Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen, 1996. Friedrich Nietzsche (1844-1900) entwickelt auf diesen Gedanken aufbauend die Theorie, dass der Mensch ein zunächst schwaches Wesen im Weltgeschehen sei. Er bemüht den kritischen Begriff des Übermenschen, um aufzuzeigen, dass der Mensch sich drei Verwandlungen zu unterziehen habe: Vom Kamel, das für die passive Erduldung aller Erfahrungen steht, entwickelt sich der Mensch zur nihilistischen Zerstörungsvorstellung des Löwen. Nachdem dieser die ihn um‐ gebende und bloß als zwingend und einengend empfundene Welt zerstört hat, erschafft er sie, den Deutungen und Inhalten ihrer Begriffe nach, aus sich selbst heraus neu, wobei er die Welt wie ein Kind spielend begreift. Er hat sich demnach selbst in der Gewalt und ist, wie der Begriff des Übermenschen aussagt, Herr über sich selbst, der alle an ihn herangetragenen Moralvorstellungen kritisch überprüft. 13 Das Menschenbild-Konzept von Karl Marx (1818-1883) geht von einer ähn‐ lichen Annahme aus, dass alle Menschen auf einer Welt zu leben haben, deren Weiterentwicklung auf unterschiedlichen Wegen gehemmt wird. Das Gleiche gilt für Friedrich Engels (1820-1895). Beide sprechen von ›wahren Menschen‹, die sie auch als ›wirkliche Menschen‹ bezeichnen. Ein solcher Mensch sei total, er werde nicht entfremdet. Der wahre Mensch distanziere sich von der Religion. Nach diesem Welt- und Menschenbild wird der Mensch von drei Entfremdungs‐ formen beeinträchtigt: Ökonomische Entfremdung durch Privateigentum an Produktionsmitteln, politische Entfremdung durch die Zwänge des Staates sowie seiner Bürokratie und ideologische Entfremdung durch Religion und Glauben. Im 20. Jahrhundert werden Konzepte entwickelt, nach denen Menschen als ›Laune der Natur‹ oder als ein ›Mängelwesen‹ betrachtet werden, das diese Mängel Zeit seines Lebens zu kompensieren sind. Das beginnt mit dem von Hesiod (7. Jhd. v. Chr.) und Platon überlieferten Prometheus-Mythos, in dem menschliche Mängel wie Nacktheit und körperliche Schwäche durch die gött‐ lichen Gaben des Feuers, der Wissenschaften und Künste kompensiert werden. Bei anderen Philosophen wird diese Kompensation durch Vernunft, Sprache sowie Kontemplation und Freiheit erreicht. Hier hängen Gottes- und Men‐ schenbild untrennbar zusammen. Dabei wird der individuelle Entwicklungs‐ prozess des Menschen betont, der auf Bildung angelegt ist. Diese Kompensation gerät durch immer weiter fortschreitende Vorherrschaft der Technik in Ge‐ fahr. 14 1.1. Was ist der Mensch? 17 <?page no="17"?> 15 Fromm, Erich: Psychologie für Nichtpsychologen, 1980, S. 170. Diese Ausführungen zeigen, dass Mensch und Tier nicht nur Vieles ge‐ meinsam haben, sondern auch von uneinholbaren Differenzen geprägt sind. Es dürfte deutlich geworden sein, dass es - wie bereits erwähnt - viel Tierisches im Menschen und viel Menschliches im Tier gibt, wobei anzumerken ist, dass im Wesen des Menschen eine Reihe komplexer und untierischer Komponenten wirksam sind, die seine Sonderstellung unterstreichen. Der Mensch ist von einer animalisch-humanen Doppelnatur geprägt. Er zeigt nicht nur Ähnlichkeiten in seiner Verhaltensstruktur zu Lebewesen der übrigen Natur, sondern trägt auch, das ist sein Alleinstellungsmerkmal, eine Ur-Sehnsucht in sich, darüber später, die in seinem Wesen sinnsuchendes Denken aktiviert. Der Mensch hat ferner ein Bewusstsein vom Bewusstsein, eine ausgeprägte Ich-Identität, vermag sich seine Existenz jederzeit rekursiv zu reflektieren und Zukunftspläne zu entwerfen. Er verfügt über unentdeckte Intelligenz und So‐ zialität sowie Vernunft und Verstand. Der Mensch ist dasjenige Wesen, das in der Lage ist, nicht nur sein Denken, sondern auch jedes Denken zu bedenken und zu überdenken. Gewiss verfügen auch Tiere über gewisse kognitive Fähig‐ keiten und können Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Anpassungsleistungen erbringen und auf erlernte Signale adäquat reagieren. Empirische Studien zeigen die Entwicklung solcher Fähigkeiten in Lernprozessen. Wird dieser Prozess un‐ terbrochen, so verlernt das Tier das Gelernte. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des Menschen ist, neben der ihm gege‐ benen Ur-Sehnsucht, sein Denkapparat. Er kann Denken und mittels seines Denkens über die Befriedigung eigener Wünsche und Bedürfnisse hinausrei‐ chen. Aufgrund seiner Willensfreiheit kann er negative wie positive Sehnsüchte entwickeln; er vermag aus freien Stücken denkend ›Ja‹ oder ›Nein‹ zu sagen und seine Entscheidungen und Handlungen zu reflektieren. Denken ist ihm ein wirkungsmächtiges Mittel, »um die Wirklichkeit des eigenen Daseins und der Umwelt zu entdecken«. 15 Der Mensch verfügt über unvergleichbares Daseins‐ bewusstsein und Selbstreflexionsvermögen sowie Freiheitssinn und Verantwor‐ tungsgefühl - Elemente, die seine Alleinstellungsmerkmale unterstreichen. Wie aber zeigt sich ein solches Gesamtbild des Menschen, oder anders for‐ muliert, was ist ein Menschenbild? Ein erster Versuch zu erläutern, was ein Menschenbild ist, führt unweigerlich zur Grundfrage aller Anthropologie, ›Was ist der Mensch? ‹. Es gibt eine Vielzahl von Menschenbildern und -entwürfen, die oftmals miteinander konkurrieren. Alltäglich geläufige Beispiele wie Kar‐ riere- oder auch Erfolgsmenschen, Familienmenschen, ordentlicher oder zer‐ streuter Mensch, einfacher oder komplizierter Mensch scheinen einen inhä‐ 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 18 <?page no="18"?> 16 Dawkins, Richard: Das egoistische Gen, 1978, S. V. Vgl. auch Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln, 2003, S. 545. 17 Ebenda, S. VIII. renten Aussagegehalt über den Begriff des Menschen zu besitzen. Dabei weichen sie von gängigen, wissenschaftlichen Begriffen zur Bestimmung des Menschen ab, die den Menschen auf der Basis seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie verschiedener Denksysteme zu kontrastieren suchen. Will man eine übersichtlichere Einteilung verschiedener Menschenbilder vornehmen, so lassen sich im Allgemeinen, wie das folgende Schaubild zeigt, drei Modelle voneinander unterscheiden: 10 oder auch Erfolgsmenschen, Familienmenschen, ordentlicher oder zerstreuter Mensch, einfacher oder komplizierter Mensch scheinen einen inhärenten Aussagegehalt über den Begriff des Menschen zu besitzen. Dabei weichen sie von gängigen, wissenschaftlichen Begriffen zur Bestimmung des Menschen ab, die den Menschen auf der Basis seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie verschiedener Denksysteme zu kontrastieren suchen. Will man eine übersichtlichere Einteilung verschiedener Menschenbilder vornehmen, so lassen sich im Allgemeinen, wie das folgende Schaubild zeigt, drei Modelle voneinander unterscheiden: Modelle von Menschenbildern Transzendentalistische Positionen Naturalistische Positionen Humanistische Positionen Abbildung 1.1: Menschenbilder Diesem Modell nach gibt es Theorien, welche die eigenen Theorien hypostasieren und meinen, der Mensch sei letztlich ein Tier, das sich im Laufe der Evolution zu einem hochkomplizierten Wesen herausentwickelt habe. Richard Dawkins (*1941) ist ein Vertreter dieser Richtung. Für ihn sind Menschen zu 99,5 % »Schimpansen«. 16 Dementsprechend bezeichnet er sie als »Überlebensmaschinen« und »Roboter, die zu selbstsüchtigen Molekülen blind programmiert sind«. 17 Der Unterschied zwischen Mensch und Tier wäre aus dieser Perspektive bloß graduell. Solche Ansätze können als rein naturalistisch betrachtet werden. Andere Theorien wiederum verhalten sich kontradiktorisch zu diesem Menschenbild und hypostasieren ebenfalls die Meinung, der Mensch sei ein Geisteswesen, das von einem Schöpfergott seine Existenz erhalten habe. Diese Theorien meiden und bekämpfen gleichsam jeden Ansatz, nach dem der Mensch als höheres Tier bezeichnet wird und Tiere als niedere Wesen deklariert werden. Der Mensch gehöre einer anderen Sphäre an. Diese Theorien können als rein transzendentalistisch bezeichnet werden. Es gibt aber auch Theorien, die das Wesen des Menschen und seine Stellung in der Welt in eine Zwischenposition platzieren, nach welcher der Mensch als ein biologisches und zugleich ein denkendes und fühlendes Geisteswesen angesehen wird. Eine solche Attribuierung macht ihn widerspruchsvoll und vielfältig. Solche Theorien, zu denen auch Ansätze von Max Scheler 18 (1874- 1928) und Helmuth Plessner (1892-1985) gehören 19 , können humanistisch genannt werden, weil sie die biologische Grundfunktion des Menschen mit seiner Geistesfunktion in Einklang sehen. Diesem Muster nach hat der Mensch biologisch verwurzelte und nichtbiologisch verankerte Triebe und Leidenschaften. Ersteres umfasst im Allgemeinen Wünsche und Bedürfnisse nach Überleben sowie das Verlangen, Hunger und Durst zu stillen, Schutz zu erhalten, in einer Gemeinschaft integriert zu sein und seinen gewünschten Lebensstil zu realisieren. Letzteres tritt der Form der jeweiligen Gesellschaftsstruktur nach verschiedentlich in Erscheinung. 16 Dawkins, Richard: Das egoistische Gen, 1978, S. V. Vgl. auch Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln, 2003, S. 545. 17 Ebenda, S. VIII. 18 Vgl. Scheler, Max: Philosophische Weltanschauung, 3 1968. 19 Vgl. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1981. Abbildung 1.1: Menschenbilder Diesem Modell nach gibt es Theorien, welche die eigenen Theorien hyposta‐ sieren und meinen, der Mensch sei letztlich ein Tier, das sich im Laufe der Evo‐ lution zu einem hochkomplizierten Wesen herausentwickelt habe. Richard Dawkins (*1941) ist ein Vertreter dieser Richtung. Für ihn sind Menschen zu 99,5 % »Schimpansen«. 16 Dementsprechend bezeichnet er sie als »Überlebens‐ maschinen« und »Roboter, die zu selbstsüchtigen Molekülen blind program‐ miert sind«. 17 Der Unterschied zwischen Mensch und Tier wäre aus dieser Per‐ spektive bloß graduell. Solche Ansätze können als rein naturalistisch betrachtet werden. Andere Theorien wiederum verhalten sich kontradiktorisch zu diesem Menschenbild und hypostasieren ebenfalls die Meinung, der Mensch sei ein 1.1. Was ist der Mensch? 19 <?page no="19"?> 18 Vgl. Scheler, Max: Philosophische Weltanschauung, 3 1968. 19 Vgl. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1981. 20 Fromm, Erich: Psychologie für Nichtpsychologen, 1980, S. 173 f. Geisteswesen, das von einem Schöpfergott seine Existenz erhalten habe. Diese Theorien meiden und bekämpfen gleichsam jeden Ansatz, nach dem der Mensch als höheres Tier bezeichnet wird und Tiere als niedere Wesen deklariert werden. Der Mensch gehöre einer anderen Sphäre an. Diese Theorien können als rein transzendentalistisch bezeichnet werden. Es gibt aber auch Theorien, die das Wesen des Menschen und seine Stellung in der Welt in eine Zwischenposition platzieren, nach welcher der Mensch als ein biologisches und zugleich ein denkendes und fühlendes Geisteswesen an‐ gesehen wird. Eine solche Attribuierung macht ihn widerspruchsvoll und viel‐ fältig. Solche Theorien, zu denen auch Ansätze von Max Scheler 18 (1874-1928) und Helmuth Plessner (1892-1985) gehören 19 , können humanistisch genannt werden, weil sie die biologische Grundfunktion des Menschen mit seiner Geis‐ tesfunktion in Einklang sehen. Diesem Muster nach hat der Mensch biologisch verwurzelte und nichtbiologisch verankerte Triebe und Leidenschaften. Ersteres umfasst im Allgemeinen Wünsche und Bedürfnisse nach Überleben sowie das Verlangen, Hunger und Durst zu stillen, Schutz zu erhalten, in einer Gemein‐ schaft integriert zu sein und seinen gewünschten Lebensstil zu realisieren. Letz‐ teres tritt der Form der jeweiligen Gesellschaftsstruktur nach verschiedentlich in Erscheinung. Diese weitestgehend soziokulturell bedingten Leidenschaften sind unter an‐ derem Konkurrenzgedanken und Solidarität, Hass und Liebe, sowie Neid und Freude. Solcherlei Leidenschaften können dazu verleiten, das eigene Leben für Hass und Ehrgeiz oder Liebe und Loyalität hinzugeben. 20 Es dürfte deutlich ge‐ worden sein, dass Ansichten über Wesen und Ursprung des Menschen nicht nur vielfältig und unspezifisch, sondern auch schwer zu bestimmen sind. 1.2. Was ist Denken? Die Fähigkeit zum Denken ist dasjenige Vermögen, das jedem Individuum ge‐ geben ist. Denken macht das Menschsein des Menschen aus. Ein Mensch, der nicht zu denken in der Lage ist oder dem das Denken abgesprochen wird, kann sich unter keinen Umständen entfalten. Der signifikante Unterschied zwischen Menschsein und Nicht-Menschsein besteht geradezu im Denkvermögen und in den Entfaltungsmöglichkeiten, die aus diesem Denken resultieren. Denken ist ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen, mit dem er Systeme entwickeln, 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 20 <?page no="20"?> 21 Vgl. Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken, 2011. Probleme als solche erkennen kann und in der Lage ist, sich reflexiv selbst zu betrachten. Denken ist ein Werkzeug, das der Mensch immer bei sich hat. Mit der Kraft seines Denkens erforscht er die dynamischen Anfänge seiner eigenen Entstehungsgeschichte. Im Tätigkeitsgebäude des Denkens entfalten sich Ver‐ nunft und Verstand. Für den Vorgang ›Denken‹ gibt es in allen Sprachen der Völker entsprechende Ausdrücke. Das deutsche Wort ›Denken‹ geht etymologisch auf die indoeuro‐ päische Wurzel ›teng/ tung‹ zurück, die so viel bedeutet wie ›für wahr halten‹, ›erwägen‹ oder ›in Betracht ziehen‹. In Sprachen des Afrikanischen gibt es für das Wort ›Denken‹ die Bezeichnung ›kwèè yi‹, im Französischen ›penser‹, im Spanischen ›pensar‹, im Indonesischen ›pikir‹, im Nepalesischen ›soschnu‹, im Russischen ›myschlenije‹, im Chinesischen ›schia‹, im Japanischen ›kangae‐ masu‹, im Persischen ›andische‹ und im Arabischen ›tafakor‹. Sich mit dem Phänomen bzw. Instrument ›Denken‹ zu befassen, heißt, sich reflexiv mit den Erweckungs- und Entfaltungsmöglichkeiten menschlicher Sehnsüchte zu beschäftigen. Dies zeigen Schulungs- und Sozialisationsprozesse der Sehnsucht im individuellen Geisteshaushalt des Menschen und seine Kon‐ sequenzen für das eigene Leben und das Zwischenmenschliche überhaupt. Bei der Praxis einer solchen Verfahrenstechnik ist es oft unvermeidbar, nicht nur weit auszuholen, sondern auch den Bestimmungsprozess und Funktionsweisen des Denkens zu umreißen, die unterschiedliche Ausdrucksqualitäten des menschlichen Geistes sind. Die Wurzel des Denkens ist uns unsichtbar, den Stamm bildet das allem Denken Gemeinsame und die Äste sind die jeweils verschiedenen Ausprä‐ gungen des Denkens wie differierende Denk-Temperamente, die eine totalitäre, autoritäre, extrovertierte oder eine introvertierte Charakterstruktur haben. Dabei gibt es Menschen, die mutig oder ängstlich sind. Diese Unterschiede lassen sich leicht auf viele Denkweisen, Denknutzungen und Denkleistungen beziehen, in denen Momente des schnellen und langsamen Denkens fließend sind. Schnelles Denken umfasse tägliche, automatisierte mentale Wahrnehmungs- und Gedächtnisprozesse, mit denen wir uns im Alltag orientieren. 21 Es bestehe aus sachkundigem und heuristischem Denken. Wenn dieses spontane Denken scheitert, so fühlt sich der Mensch gezwungen, einen anderen Weg zu gehen. Es handelt sich um eine langsame Denkart, die aufgrund ihrer Überlegtheit an‐ strengender ist als eine intuitiv-spontane Antwort oder Reaktion auf einen Sachverhalt. 1.2. Was ist Denken? 21 <?page no="21"?> 22 Vgl. Lommel, Pin van: Endloses Bewusstsein, 2009, S. 17 f. Wer das Selberdenken aufgibt, wohnt in der Regel bei einer anderen Denk‐ weise zur Miete. Ein solcher Mensch wird dann wegen seiner totalen Abhän‐ gigkeit nicht nur Miete zahlen müssen, sondern auch weite Teile seiner Ich-Iden‐ tität und seines kulturellen Hintergrundes aufgeben. Wer seine natürlichen Ressourcen verkennt oder nicht angemessen erkennt, kann auch Opfer eigener Unfähigkeit werden, die nicht nur soziale, sondern auch individuelle Gründe haben kann. Denken hat eine erweckende Funktion, kann den Menschen zu sich selbst bringen und jede Selbstentfremdung überwinden. Letztlich kommt es auf die rechte Nutzung des Denkens an. Denken bringt ferner Ordnungslehre hervor. Es ist das unverzichtbare Instrument dessen, was wir Wissenschaft nennen. Die erwähnten Funktionen von Darstellung, Orientierung und Ausdruck transferieren emotionale Welten in die Denk- und Wahrnehmungswelt der Kommunizierenden. Es handelt sich hier um die Diversität von Fühlen, Gefühlen und Intuition, die aufgrund der unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen und Gemütsverfassungen Gegenreaktionen auslösen, welche die Kommunika‐ tion jederzeit gefährden können. Die Explosivität einer solchen Zusammenkunft hängt damit zusammen, dass Denkarten, Gefühlsarten, Arten des Fühlens und der Intuition aufeinandertreffen, deren Differenzen häufig viel größer sind als deren Gemeinsamkeiten. Das Zentrum, in dem sich das Denken vollzieht, ist das Gehirn, das mit seinen Facetten und Denkmöglichkeiten wie ein Hardwaresystem funktioniert. Das Gehirn ist eine geschlossene Einheit mit einer Vielzahl an zusammenwirkenden Nervenzellen. In diesem System werden Gedanken je nach Bildung, soziokul‐ turellem Hintergrund und individueller Persönlichkeitsstruktur verarbeitet. Das Softwaresystem umfasst unendliche Nutzungsprogramme, die im inneren Denkprozess des Hardwaresystems erzeugt werden. Beide Systeme sind dyna‐ misch und veränderbar. Der Denkvorgang an sich funktioniert wie ein Fern‐ sehapparat, der durch Antennen Informationen aus elektromagnetischen Fel‐ dern empfängt und zu Bildern und Tönen entschlüsselt. Es arbeitet aber auch wie eine Fernsehkamera, die Bild und Ton in elektromagnetische Wellen umsetzt oder unmittelbar verschlüsselt. 22 Diese internen Prozesse, die den inneren Mo‐ nolog und das Verstehen nach außen ermöglichen, werden im Rauschzustand gestört und im Delta-Stadium zerstört, so dass ein Wiederaufbau des Denken-Lernens geradezu eine therapeutische Notwendigkeit darstellt. Ein historischer Exkurs soll Denken und seine Funktionen im Kontext der Geschichte bis in unsere Tage hinein verdeutlichen. Platon bezeichnet das 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 22 <?page no="22"?> 23 Platon: Der Staat, 1990, 263e. 24 Ghazali, Abu Hamed: Mizan al-amal [Das Kriterium des Handelns], 1976, S. 220. 25 Ebenda, S. 220. 26 Heidegger, Martin: Was heißt Denken? 1994, S. 7. 27 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft, 1959, S. 34. 28 Maier, Heinrich: Psychologie des emotionalen Denkens, 1967, S. 27. 29 Ebenda, S. 39. Denken als »das innere Gespräch der Seele mit sich selbst«. 23 In diesem Sinne hält Aristoteles Denken für eine Fähigkeit. Vorgänge des Denkens und Erken‐ nens entfalten sich durch Interaktion in einer seelischen Wechselwirkung mit anderen. Abu Hamed Ghazali (1058-1111) unterscheidet zwischen dem angeborenen Denken und der erworbenen Vernunft. Das angeborene Denken »ist die grund‐ sätzliche Fähigkeit, die schon […] im Kind vorhanden« ist, »ähnlich wie die Palme im Samenkern«. 24 Die erworbene Vernunft, die ›aql‹, entsteht und ent‐ wickelt sich vor allem im Alltag und in Interaktion der Menschen untereinander und nicht zuletzt »durch die Beschäftigung mit den Wissenschaften«. 25 Denken lernt jedes Individuum gemäß seiner Sozialisation, soziokulturellen Prägung und Bildung sowie spezifischen Persönlichkeit anders, obwohl der Grundme‐ chanismus des Denkens derselbe ist. Es ist eine Faszination, dass aus diesem Grundmechanismus unterschiedliche Denktechniken entwickelt werden können, so wie Wasser aus einer Fontäne sprudelt. Denken »lernen wir, indem wir auf das achten, was es zu bedenken gibt«. 26 Für Ghazali spielt das individuelle Gemüt und Temperament eine grundlegende Rolle bei der Entfaltung seines Denkens. Auf diese Weise wird das Denken eine Instanz, durch die emotionale Welten transferiert werden. Friedlich Wilhelm Hegel (1770-1831) unterscheidet drei Denkformen: ver‐ ständiges, vernünftiges und spekulatives Denken. Nur im spekulativen Denken sieht er die Bedingungen gegeben, dass der Geist zu eigentlicher Erkenntnis kommt. Vollendete Erkenntnis besitzt nur, wer in seinem Denken eine vollkom‐ mene Anschauung von dem gewonnen hat, was ihn bewegt. Alles Menschliche wird »dadurch menschlich, dass es durch das Denken bewirkt wird«. 27 Der psychologisch orientierte Philosoph Heinrich Maier (1867-1933) entfaltet zum Auftakt des 20. Jahrhunderts eine ganze Typologie des Denkens, um seinen emotionalen Unterbau zu reflektieren. Psychologie ist für ihn ein Reich der so‐ genannten »Geisteswissenschaften, die fundamentale Gesetzeswissenschaft«. 28 Die psychologische Analyse der Denkvorgänge bezieht sich nicht allein auf die Erlebnisse des eigenen Bewusstseins, sondern, wie Maier es ausdrückt, »auf das Tatsachenmaterial der vergleichend-historischen Wissenschaften«. 29 Denken 1.2. Was ist Denken? 23 <?page no="23"?> 30 Ebenda, S. 26. 31 Steiner, Rudolf: Anthroposophie. Ihre Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte, 1962, S. 31. 32 Steiner, Rudolf: Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung, 2005, S. 32. 33 Ebenda, S. 35. 34 Vgl. Feurer, Martina: Psychoanalytische Theorien des Denkens, 2011. 35 Freud, Sigmund: Die Verneinung, 1925, S. 14. artikuliert die Gewissheit des Bewusstseins und ist bestimmend für die Ich-Iden‐ tität. Zur Psychologie einer solchen Typologie zählt Heinrich Maier affektives Denken, ästhetisches Denken, religiöses Denken, volitives Denken sowie ethi‐ sches Denken, mit denen eine Reihe von Urteilsakten und emotionalen Welten zusammenhängen. Maier und Ghazali zeigen auf unterschiedlichem Wege, dass diese Denktypen mit dem emotionalen Gemüt des Menschen korrelieren und zu unterschiedlichen Urteilsakten führen. Maier sieht eine Relation zwischen logischem Denken und Psychologie. Das logische Denken ist in seiner Typologie »in allen seinen Erscheinungsformen […] eine psychische Tatsache« 30 , mit der sich die Psychologie zu beschäftigen habe. Für ihn drücken Wunsch, Willens- und Gebotsakte Vorstellungen aus, denen eine erhebliche, individuell unter‐ schiedliche Emotionalität immanent ist. Ähnlich argumentiert auch Rudolf Steiner (1861-1925). Denken ist für ihn eine Tätigkeit und sein Träger ist das Bewusstsein. Die Wirklichkeit tritt dem Menschen erst dadurch vor die Seele, »daß er aus seinem inneren heraus die Aktivität des Denkens erzeugt«. 31 Folgerichtig ist er der Ansicht, dass ›Denken und Beobachten‹ zwei Ausgangspunkte eines jeden geistigen Strebens des Men‐ schen sind, insofern er sich eines solchen bewusst ist. 32 Die eigentümliche Natur des Denkens sieht Steiner darin, »dass der Denkende das Denken vergißt, wäh‐ rend er es ausübt. Nicht das Denken beschäftigt ihn, sondern der Gegenstand des Denkens, den er beobachtet«. 33 Denken als Steuerungssystem in der Psyche bringt nach Steiner Begriffe und Ideen hervor, die sich zu einem gesetzmäßigen Ganzen zusammenschließen. Eine Reihe Psychologen und Psychoanalytiker befassen sich ebenfalls mit Denken und Denkfähigkeit. 34 Sie zeigen, wie der Mensch seine natürlichen Res‐ sourcen einsetzen kann, um Leistungen zu erbringen und was geschieht, wenn eine inadäquate Ressourcennutzung vorliegt. Nach Sigmund Freud (1856-1939) besitzt, ähnlich wie Steiner, Denken »die Fähigkeit, etwas einmal Wahrgenom‐ menes durch Reproduktion in der Vorstellung wieder gegenwärtig zu machen, während das Objekt draußen nicht mehr vorhanden zu sein braucht«. 35 Diese Qualität ermöglicht dem Menschen seine innere Welt jederzeit mit der Realität 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 24 <?page no="24"?> 36 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen, 10 1960, S. 457 f. 37 Bion, Wilfred: Eine Theorie des Denkens, 1963, S. 426. 38 Ebenda, S. 426 ff. nach außen zu verbinden und über diese beliebig zu verfügen. Dementsprechend ist der Mensch im Stande auf eigenem Erkenntnisvermögen Erinnerungskul‐ turen und Menschen sowie Weltbilder zu entwickeln. Offen bleibt, ob eine solche Haltung nicht die Möglichkeit des Denkens dahingehend einschränkt, zukünf‐ tige Ereignisse zu perspektivieren, indem lediglich Vergangenes sowie Gegen‐ wärtiges in den Denkprozess eingelassen ist. Carl Gustav Jung betrachtet Denken als eine der vier psychologischen Grund‐ funktionen, neben Empfinden, Intuition und Gefühl. Der Denkvorgang an sich ist nach Jung diejenige psychologische Funktion, die ihren eigenen Gesetzen im Sinne der gegebenen Vorstellungsinhalte auch begrifflich in Zusammenhang bringt. Er unterscheidet Denken in eine aktive und eine passive Tätigkeit. Wäh‐ rend Erstere eine Willenshandlung darstellt, ist Letztere ein Geschehnis. 36 Die anderen drei psychologischen Grundfunktionen werden weiter unten einge‐ hend untersucht. Wilfred Ruprecht Bion (1897-1979) befasst sich mit dem Denken der Heran‐ wachsenden. Die Leistungen des Denkens bewertet er »als abhängig vom er‐ folgreichen Verlauf zweier Entwicklungsprozesse« 37 , nämlich von der Entwick‐ lung des Gedankens und der des Denkapparates. Es handelt sich dabei zum einen um die Entwicklung der Gedanken und zum anderen um die Entstehung des Denkapparats, die zusammenwirken, ohne identisch zu sein. 38 Menschliches Denken entfaltet sich bei der Bewältigung von Aufgaben, was er als eigentliches Denken bezeichnet. Mit seiner Analyse zeigt Bion die biologischen Prozesse menschlicher Denkentwicklungen und Denkapparate, die mit der äußeren Er‐ fahrung und Erlebnissen des Menschen in einer immerwährenden Interaktion stehen. Im Denken liegt eine erhellende Entzauberungskraft, die sich jederzeit selbst mythologisieren kann. Denken erzählt, wie unser Geisteskarussell und wie Wahrnehmung funktioniert und wodurch Erkenntnis und Wissen zustande kommen. Denken hängt, wie mehrfach hingewiesen, stets mit ›Denkweisen‹, ›Denknutzungen‹ und ›Denkleistungen‹ zusammen. Denkleistungen sind Ergebnisse dieser Denknutzungen. Der Wagen, die Ge‐ stalt des Gartens, das Bücherregal und der Roman. Denkleistungen sind immer auf bestimmte Denkweisen und Denknutzungen zurückzuführen. Denkweisen beschreiben eine innere Einstellung, die der Mensch biogra‐ phisch bedingt entwickelt und die stets im Wandel begriffen ist. Allen Denk‐ 1.2. Was ist Denken? 25 <?page no="25"?> 39 Vgl. Oerter, Rolf: Psychologie des Denkens, 3 1972, S. 62. weisen liegt, wie bereits betrachtet, ein bestimmtes Welt- und Menschenbild zugrunde, ein bestimmter Erlebnishorizont. Denkweisen ziehen ihre eigenen Kreise, verlassen manchmal ›alte‹ und setzen andere fort, die Ähnlichkeiten oder Überlappungen aufweisen, formen eigene neue Bilder und finden sich in älteren wieder. Denknutzungen sind die Anwendung von Denkweisen auf einen bestimmten Gegenstand. Wenn man bspw. einen Wagen konstruieren möchte, um seine Einkäufe zu transportieren, wenn man den eigenen Garten effizient und umweltfreund‐ lich gestalten möchte, wenn man ein Bücherregal bauen will, oder wenn man einen Roman schreiben möchte, artikuliert man in der Denknutzung eigener Denkweisen. Denknutzungen sind gewissermaßen Unterscheidungsmerk‐ male der Menschen. Perspektivisches Denken des Menschen Der Mensch erblickt die Welt als ein unfertiges Wesen, ein Wesen mit Veranla‐ gungen und Qualitäten. Erst durch jahrelange Erziehung entdeckt er in sich einen Spiegel, in dem er sich als Ich wahrnimmt. In seinem Geist entwickelt sich in früher Kindheit allmählich das Ich-Bewusstsein, ein unverwechselbares Selbstbild, ein identitätsstiftendes Ich. Mit diesem Ich erwacht und besteht eine Sehnsucht, aus der Wille und Motivationskräfte hervorgehen, die der Mensch unentwegt benötigt, um ein Leben zu gestalten und zu führen. Der Mensch lernt in einer Dauerinteraktion mit seiner Mitwelt zu denken und diesem Ich Ausdruck zu verleihen. Durch die Aktivität des Denkens erzeugt dieses Ich geistige Begriffe als Ergüsse des Geistes, die seine Innenwelt mit der Außenwelt verbinden oder neue Denkwelten schaffen. Der Erwerb von Be‐ griffen ist eine produktive Leistung des Denkens. Sie sind genau genommen Instrumente der Erkenntnis. 39 Diese Wechselwirkung ist ein Akt des Bewussts‐ eins selbst. Dieses Bewusstsein setzt sich zusammen aus dem Wissen um die eigene Person, um die eigenen geistigen und seelischen Zustände. Von Bedeu‐ tung ist die Intaktheit von Wahrnehmung und Denken. Dabei geht es um die Möglichkeit, Wahrnehmung, Erleben, Erinnern, Vorstellen und Denken selbst‐ bewusst, realitätsorientiert und als zusammenhängend zu erleben. Innerhalb der Bewusstseins- und Seeleninhalte wie Wahrnehmen, Vorstellen, Fühlen oder Wollen besitzt das Denken eine Ausnahmestellung und eignet sich zur näheren Benennung dessen, was man Geist oder Geistiges nennen kann. Denken ist keine bloße Improvisation, die in eine soziokulturelle Matrix ver‐ 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 26 <?page no="26"?> 40 Vgl. Jaspers, Karl: Psychologie der Weltanschauungen, 2 1922, S. 21. woben ist. Das Ich vermag als Zentrum der geistigen Individualität, sein eigenes Denken und Handeln kritisch in den Blick zu nehmen. Dadurch entsteht im Denken und Handeln eine Ich-Objektivität als Grundlage der Identität. Im Be‐ wusstsein findet eine Spaltung in Subjekt und Objekt statt. 40 So ist der Mensch umgeben von Objekten, die ihn beeinflussen und die er seinerseits zu verändern vermag. Dieses Ich erkennt das Andere, also das Du, in seinen mannigfachen Erschei‐ nungsformen und tritt mit ihm in einen Dialog. In diesem Dialog stehen Iden‐ titäten einander gegenüber. Das Ich merkt, dass dieses Du für sich ein ›Eigener‹ ist und jeder, der sich als ›Eigener‹ betrachtet, ist auch ein ›Anderer‹. Hier wird der Stellenwert des Ich für die Begegnung mit dem Anderen als ein existierendes Du betont. Nehmen wir diese Erkenntnisse zusammen und betrachten die Ent‐ wicklungsgeschichte der Menschheit, so können wir festhalten, dass Menschen zumindest über ein vierfaches Denken verfügen: 1. Naturbezogenes Denken: Dies betrifft die Bewältigung von Anpassungs‐ notwendigkeiten an klimatische Gegebenheiten, wie das Aufsuchen eines Winter- oder Sommerquartiers. Erleben geht hier in Denken über. Schon in dieser Phase entwickelt der Mensch eine einfache Sprache, gepaart mit Gestikulation. 2. Technisches Denken: Dies umfasst Zweckrationalismen bei der Herstel‐ lung von Werkzeugen, um das eigene Überleben zu sichern. Der Mensch baut sich mithilfe seines technisch-kausalen Denkens eine Behausung aus Holz und Stein. Nach einer langen Zeit bildlicher Darstellung seiner Vor‐ stellungen und Wünsche entwickelt er schließlich ein Zeichensystem, die Schrift. Dabei erkennt er die Vorzüge des Denkens, die ihm das Leben erleichtern. Sie befähigen ihn allerdings auch dazu, Kriege zu führen, sei es zur Verteidigung oder auch zur Expansion. Mit der Entstehung von Schrift und Sprache entsteht zum ersten Mal Bildung. Der Mensch kann sein Wissen und Erkennen konservieren und beliebig weitergeben. 3. Soziales Denken: Dies befähigt den Menschen, die Notwendigkeit sozialer Interaktion zu bewältigen und sich als Wesen zu entdecken, das imstande ist, sich in Gruppen, gegen Gruppen und zwischen den Gruppen zu be‐ wegen. Dabei entdeckt er in sich nicht nur Machtstreben, Egoismus und Hinterlistigkeit, sondern auch die Möglichkeit, den sozialen Notwendig‐ keiten denkend eine Gesetzesstruktur zu geben. 4. Spirituelles Denken: Es ist die erwähnte Ur-Sehnsucht des Menschen, die ihm die Willensdynamik gibt, die Welt in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit 1.2. Was ist Denken? 27 <?page no="27"?> und vor allem in einer Hintergrundstruktur denkend zu begreifen. Gerade dieses Denken führt dazu, dass Religion entsteht, dass der Mensch eine gewisse theomorphe Natur in sich vermutet. Es ist ein existenzieller Bezug zur Transzendenz. Wie wir sehen, ist der Mensch immer Mensch, weil er denkt und über dieses Vermögen verfügt. Das Denken führt ihn, wie erwähnt, über sich hinaus und verbindet ihn mit den Objekten, mit denen er in Beziehung steht. Es befähigt ihn, seine natürlichen Ressourcen zu koordinieren, um Ziele zu erreichen. Je präziser sich das Denken entfaltet, umso deutlicher treten in Menschen Identi‐ fizierungstendenzen und Unterscheidungsmöglichkeiten hervor. Ein solch ord‐ nendes Denken zerlegt sich bewusst in eine Vielheit von Strukturen. Diese Art von Denknutzung heißt methodisches Denken, welches dem Menschen eine innere bewusste Orientierung gibt. In der Fähigkeit, uns als Subjekt und Objekt wahrzunehmen, wird ein wesentlicher Unterschied zwischen Mensch und Tier oder Robotern angesprochen. Freilich haben naturalistische oder biologistische Auffassungen ihre Existenzberechtigung. Bei allem Stolz über diese besondere menschliche Fähigkeit dürfen wir nicht vergessen: Unsere Fähigkeit, selbst solche Fundamente wie Logik, diese komplexe Grammatik des Denkens, her‐ vorzubringen, ist ein menschliches Privileg. Denkschulen der Psychologie Auch Philosophie und Psychologie sind Denkleistungen. Mit dem Instrument ›Denken‹ beschäftigen sich nicht nur Neurologen, sondern auch eine Reihe psychologischer Schulen und nicht zuletzt auch Philosophen. Zu nennen sind vor allem die Würzburger Schule und Behavioristen sowie Gestalt- und Kogni‐ tionspsychologen, die eine Reihe verschiedenster Denktechniken entwickelt haben, um Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen zu überprüfen und seine Unzulänglichkeiten zu verbessern. Es geht im Grunde auch hier darum, Ergeb‐ nisse und Konsequenzen unterschiedlicher Ressourcennutzungen zu debat‐ tieren. Die Würzburger Schule, deren Vertreter sich stets als philosophische Psy‐ chologen wahrgenommen haben, hat unter anderem sowohl die Funktion des Gedächtnisses als auch die experimentelle Erforschung von Denk- und Willens‐ prozessen zum Gegenstand. Oswald Külpe (1862-1915) und Karl Bühler (1879-1963) sind zwei wesentliche Vertreter dieser Schule. Bei der Untersuchung geistiger Prozesse favorisieren sie die Methode der Introspektion bzw. die ex‐ perimentelle Selbstanalyse. Es geht im Grunde um die Beschreibung und Ana‐ lyse des eigenen Erlebens und Verhaltens durch eine nach innen gerichtete Be‐ 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 28 <?page no="28"?> 41 Vgl. Müller, Heinz A.: Psychologie und Anthropologie des Denkens, 1971, S. 6 f. 42 Vgl. Watson, John Broadus: Behaviorismus, 2000. 43 Vgl. Schorr, Angela: Behaviorismus und Neobehaviorismus, 2005, S. 113 f. 44 Vgl. Metzger, Wolfgang: Gesetze des Sehens, 2 1953. obachtung. Das Denken wird nach der Ansicht der Vertreter dieser Schule von Gedanken getragen, die im Wesentlichen unanschaulich sind. Das Ziel der Würzburger Schule war in erster Linie darauf ausgerichtet, das Denken experimentell zu betrachten, um es auch von der Vorstellungsmechanik eines sensualistischen Verständnisses des Denkvorganges abzuheben. Bühler geht von einer gedanklichen Ordnung aus und ist der Ansicht, dass Gedanken Träger des Denkens seien und nicht die Vorstellungen. Er verwendet seine ex‐ perimentelle Untersuchungsmethode durch trainierte Versuchspersonen, die im Anschluss an die Bearbeitung bestimmter Denkaufgaben berichten sollten, was sie alles während dieses Vorganges erleben. Diese Erlebnisse bzw. Assoziationen wurden dann unter logischen und psychologischen Gesichtspunkten klassifi‐ ziert. 41 Behaviorismus betrachtet Psychologie als eine vollkommen objektive und experimentelle Disziplin, die ein Zweig der Naturwissenschaft ist. Dabei geht es um die Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens überhaupt. Auf der Grund‐ lage der Forschungsergebnisse von Iwan Petrowitsch Pawlow (1849-1936) wurde der Behaviorismus als psychologisches Paradigma in den USA vertreten. John Broadus Watson (1878-1950) überträgt die Pawlowschen Konditionie‐ rungsmodelle auf Menschen und begründet diese Richtung der Psychologie. 42 Ziel und Aufgaben einer wissenschaftlichen Psychologie sieht er dabei darin, das Verhalten zu untersuchen. 43 Behavioristen beschäftigen sich in Anlehnung an naturwissenschaftliche Methoden sowohl mit menschlichem als auch tier‐ ischem Verhalten ohne Introspektion, also Selbstanalyse. Beispielsweise ver‐ wirft Watson die selbstanalysierende Beobachtung der Würzbürger Schule und konzentriert sich ausschließlich auf die Beobachtung des Verhaltens. Dabei werden Verhaltensweisen grundsätzlich auf Reiz-Reaktionsbeziehungen zu‐ rückgeführt. Gestaltpsychologen beschreiben die menschliche Wahrnehmung als eine Fä‐ higkeit, Strukturen und Ordnungsprinzipien in Sinneseindrücken auszuma‐ chen. So entspringt das Denken nach Wolfgang Metzger (1899-1979) daraus 44 , dass der Mensch etwas mit einer vermeintlich defekten Gestalt, vielleicht ein Problem, in eine ›gute‹ Gestalt umstrukturieren will, und damit sein ›Problem‹ löst. Das Augenmerk der Gestaltpsychologie ist auf das Hier und Jetzt gerichtet. Ihr Kriterium für Heilung ist die innere Gestalt. Das eigentliche Instrument ist dabei die Wahrnehmung. Die Gestalttherapie geht von einem entwicklungso‐ 1.2. Was ist Denken? 29 <?page no="29"?> 45 Vgl. Anderson, John R.: Rules of the mind, 1993. 46 Vgl. Beiersdörfer, Kurt: Was ist Denken? 2003, S. 12. 47 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1974, S. 74. rientierten Wachstumsprozess aus. Dies gründet auf Ressourcen und inneren Motivationen der Betroffenen, geistig-seelische Gesundheit zu suchen und zu kreativen Lösungen zu gelangen. Dabei unterhält der Therapeut dem Betrof‐ fenen gegenüber keine Beziehung der Über- und Unterordnung, sondern er denkt und handelt in allen Therapiekonzepten dialogisch. Der Betroffene soll in diesem Vertrauensverhältnis nicht nur im Hier und Jetzt leben, sondern auch Verantwortung übernehmen und die Realität seiner Umwelt akzeptieren. Dieses auf Vertrauenspsychologie gestützte Vorgehen entspricht weiten Teilen der Avicenna-Therapie, auf die in späteren Kapiteln konkret eingegangen wird. Kognitionspsychologen befassen sich neben der Frage nach Wahrnehmung, Erkenntnis und Wissen auch mit Lerntheorien. Manche Vertreter dieser Rich‐ tung, wie John Robert Anderson 45 (*1947), verwerfen diese Methoden und wenden sich der Frage zu, wie der Mensch Informationen aus seiner Umwelt gewinnt, repräsentiert, verarbeitet und zur Steuerung seines Verhaltens nutzt. Neurowissenschaftler beschäftigen sich mit den biologischen Mechanismen des Denkens. Sie diskutieren die Frage, was Denken ist und wie es sich im mensch‐ lichen Gehirn entwickelt. Sie sind zumeist bestrebt, traditionelle Sichtweisen über das Thema ›Denken‹ zu modifizieren. Kurt Beiersdörfer befasst sich mit den Funktionen des Denkens und wendet diese auf die künstliche Intelligenz an. Drei Wege führen nach ihm zum Denken: 1. der natürliche Weg in lebenden Gehirnen 2. der an Regeln orientierte in wissensbasierten Systemen und 3. der durch Training und Erfahrung erworbene in neuronalen Netzen. 46 Bemerkenswert bei allen Schulen und Richtungen ist, dass sie letztlich über die genaue Entstehung der Gedanken und des Bewusstseins doch nichts Fund‐ iertes aussagen können. Das Denken zu denken, bedeutet, ihm gegenüber eine Einstellung einzunehmen, die wir zuerst in unserem Verhältnis zu den Dingen einzunehmen gelernt haben. Das Denken zu denken ist aber kein ›Selbstgefühl‹, wie Merleau-Ponty (1908-1961) vermutet. 47 Denken ist Denken, genauso, wie Gefühl, Gefühl ist. Auch viele andere Lebewesen denken, aber nicht jedes Denken ist gleich. Es kommt immer auf die Korrelation zwischen Denken und Gefühl an. Nur der Mensch ist im Vergleich zu allen anderen Lebewesen mit dem Vermögen ausgestattet, über sein Denken zu reflektieren und sich seiner Denkvorgänge bewusst zu sein. Was Menschen voneinander unterscheidet, ist die qualitative Ausprägung oder Eigenart ihres Denkens, das aus der inneren Antriebskraft heraus bewegt wird. Ressourcenoptimierung ist eine menschliche 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 30 <?page no="30"?> 48 Vgl. Avenarius, Richard: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes, 1903. 49 Vgl. Fromm, Erich: Psychologie für Nichtpsychologen, 1980, S. 88. Qualität, die bei übrigen Lebewesen der Natur nur geringfügig zu beobachten sind. Diese Gesamtheit zu begreifen, steht geradezu im Zentrum des philosophi‐ schen Denkens und Forschens. Deshalb heißt Philosophie Denken der Welt, wie Richard Avenarius (1843-1896) hervorhebt. 48 Betrachten wir ein Auto, ein Radio oder ein Uhrwerk, so betrachten wir, genau genommen, nicht nur eine lange Geschichte der erfinderischen Denkmengen, sondern auch eine Reihe von kon‐ servierten Denkenergien und Denkleistungen, die mit unterschiedlichen Her‐ kunftsgeschichten verbunden sind. Hier kommt eine Ressourcenkompensation mit Tiefe und Breite zusammen. 1.2.1. Denken und Instinkt Um das reflektierte Denken des Menschen von dem instinktgesteuerten Denken der Tiere zu unterscheiden, kann das Beispiel der Katze hilfreich sein. Die Frage ist, ob eine Katze, die einen geeigneten Ort für die Geburt ihrer Jungen sucht, denkt oder nicht, ob sie eine abstrakte Vorstellung von dem hat, was da ge‐ schehen soll, ob sie Argumente für ihr Handeln finden kann und ob sie schließ‐ lich überhaupt argumentativ zugänglich ist. Es ist anzunehmen, dass Tiere aus menschlicher Sicht stets nach einem festgelegten Programm handeln, das wir Instinkt nennen, eine naturgegebene Determination. Man kann ›Instinkt‹ als eine Kette von unreflektierten Bedürfnissen begreifen. 49 Die Katze hat zunächst nur das instinktiv-starke Bedürfnis nach einem ge‐ schützten und sicheren Ort für die Geburt. Gewiss ist dieses Verhalten das Er‐ gebnis eines unbewussten Denkprozesses. Die Katze denkt nicht, sondern das Naturprogramm in ihrem Wesen in Form von konserviertem Denken. Die Katze weiß nur, dass sie warten muss. Was dort geschehen soll, lässt sie einfach auf sich zukommen. Aus menschlicher Sicht würden wir sagen, sie wartet ab, bis Wehen einsetzen. Aber das würde bedeuten, dass sie eine vorweggenommene abstrakte Vorstellung von dem hätte, was geschehen soll. Was sich dann ereignet, unterliegt einer biologischen Logik, die, wie erwähnt, das Ergebnis eines Denkprozesses der Natur ist. Das Wesen der Katze ist von einer verblüff‐ enden Naturfunktionalität. Die Katze kann Gründe und Zusammenhänge ihrer Handlungen nicht reflektieren. Nur der Mensch hat, im Gegensatz zu allen anderen Erdenwesen, das Ver‐ mögen, in dieser Funktionalität einen Akt kausalen Denkens zu sehen. Nur er 1.2. Was ist Denken? 31 <?page no="31"?> 50 Vgl. Hand, Ivar: Pawlows Beitrag zur Psychiatrie, 1972. ist mit den dynamischen Prozessen des Daseins analysierend verwoben. Tiere handeln also instinktiv, wobei sie über eine scheinbare Form von Intelligenz und eine Art Gedächtnis verfügen, das in begrenztem Maße geschult werden kann. Der Gebrauch dieser ›Intelligenz‹ ist durch den Instinkt geregelt. Bedingt durch die naturgegebene Organisation ihres Wesens, lebt die Katze ausschließlich im Hier und Jetzt. Wenn sie Junge hat, versorgt sie diese. Nimmt man ihr aber ein Junges weg, so vermisst sie dieses nicht unbedingt. Dieser Akt lässt sich verifi‐ zieren. Nur die anwesenden Kätzchen lösen im Wesen der Katzenmutter den Versorgungsreflex aus. Wenn wir also die Katze als Hardware wahrnehmen, können wir annehmen, dass sie mit einer Software ausgestattet ist, die schon von Natur aus reglemen‐ tiert ist. Dies trägt dazu bei, dass alle Handlungen der Katze völlig determiniert sind, auch wenn sie als Hauskatze domestiziert wird, so dass man annehmen könnte, dass sie gewisse Instinkte abgelegt hätte, werden wir überrascht sein, wenn die Katze urplötzlich eine Maus sieht. In diesem Moment dürfte uns klar sein, dass die reglementierte Software die Katze immer wieder zurückholt. Daher bleibt die Katze immer eine Katze, ohne in der Lage zu sein, ihre negativen Instinkte durch positive zu ersetzen. Der signifikante Unterschied besteht darin, dass der Mensch von Natur aus in der Lage ist, Grenzen zu setzen und Grenzen zu überschreiten. Katzen oder Hunde können wir im Gegensatz zum Menschen nach dem Paw‐ lowschen Prinzip konditionieren. Pawlow hat bei seinen Experimenten bemerkt, dass der Speichelfluss nicht nur angeregt wird, wenn man dem Tier Futter ins Maul legt, sondern auch, wenn man ihm das Futter nur zeigt. Pawlow hat seine Hunde im Experiment derart konditioniert, dass es immer dann zum Speichel‐ fluss kam, wenn er eine Glocke ertönen ließ. Dies geschah selbst dann, wenn sie gar kein Futter bekamen. 50 Das Tier reagiert nicht denkend, sondern völlig fokussiert auf das Futter, wenn es Klänge hört oder weiß, wo sich das Futter befindet. Derlei Versuche sind das Ergebnis langer Trainingsprozesse von Ver‐ haltens- und Neurowissenschaftlern mit Tieren. Sie unterliegen einer reinen Konditionierung, die Tiere schließlich befähigt, gewisse Aufgaben zu lösen. Tiere sind in einem eingeschränkten Sinne intelligent, was man als fixiertes Zweckverhalten bezeichnen kann. Die Frage, ob und inwieweit der Mensch ein triebhaftes Wesen sei und seine Handlungen instinktive Vollzüge seien, wird seit Menschengedenken diskutiert. Diese Frage ist zwar in unterschiedlichen Epochen mit besonderer Intensität gestellt worden, aber seit der Darwinschen Theorie der Arten hat sich die Ins‐ 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 32 <?page no="32"?> tinktivitätstheorie verstärkt ausgeprägt. Psychologen wie William James (1842-1910) sind solche Instinktivisten, nach denen das menschliche Lachen ein Lachinstinkt, das menschliche Weinen ein Weininstinkt und das menschliche Essen auch ein Nahrungsinstinkt sein kann. Das Problem ist, dass das ›tertium comparationis‹, der Vergleichsmaßstab, solcher Urteile das Tier ist. Bis heute liegt keine empirisch fundierte Studie vor, in der plausibel begründet wird, ob und inwieweit die Gattung Mensch solchen Determinanten wie Instinkt und Handlung unterliegt, die das Tierisch-Automatenhafte im Menschen begründen würde. Auch die Verhaltenstheorien eines Konrad Lorenz (1903-1989) sind Er‐ kenntnisse seiner Beschäftigung mit der Tierwelt, die nicht immer und überall auf Menschen übertragen werden können. Es wäre zu kurz gegriffen, Menschen triebhaftes oder instinktorientiertes Verhalten zu unterstellen. Es ist durchaus berechtigt anzunehmen, dass Kinder bis zur Pubertät im Rahmen ihrer sexuellen Identitätsfindung bewusst oder un‐ bewusst ›Doktorspiele‹ bis zum Geschlechtsverkehr unternehmen. Im Heran‐ wachsenden stärken sich immer intensiver seine sexuellen Kontrollmecha‐ nismen. Tiere leben Triebe und Instinkte hemmungslos, überall und jederzeit aus, wenn das innere Programm ihres zeitbedingten Sexualtriebs in ihrem in‐ neren Wesen freigeschaltet wird. In der Paarungszeit führen Tiere Balztänze durch, tragen Kämpfe aus, um die Position des Platzhirsches einzunehmen oder um das Weibchen zu beeindrucken und kopulieren überall. Nach dieser Zeit sind sie wieder automatenhaft neutralisiert. Daher ist es sinnvoll, wenn Erich Fromm (1900-1980) im Hinblick auf den Menschen nicht von ›Trieben‹ im tierischen Sinne spricht, sondern vom ›Antrieb‹, der einen solchen Steuerungsmecha‐ nismus meint. Der Mensch trägt Tendenzen in seinem Wesen, die ihn vom Saulus zum Paulus werden lassen. Dies ist ein Alleinstellungsmerkmal des menschli‐ chen Denkvermögens. Ferner unterscheiden sich Tiere von Menschen auch durch ihre starke Um‐ weltgebundenheit. Menschen sind in allen Belangen des Lebens in der Lage, ihre Umwelt nachhaltig ihren Bedürfnissen aus sich heraus anzupassen. Der Mensch kann sich überall und zu allen Zeiten für unbewohnbare Orte entscheiden und sich dementsprechend anpassen. Ein Tier hingegen kennt nur die vertraute Umgebung. Auch Zugvögel kehren immer wieder zurück in ihren ursprüngli‐ chen Lebensraum. Der Mensch besitzt aber ein gruppenspezifisches Identitäts‐ bewusstsein. Es ist eine einzigartige Denkleistung des Menschen, Religionen zu entwi‐ ckeln, Traditionen zu bilden, Kulturen hervorzubringen, Zivilisationen in Gang zu setzen, Philosophien zu formulieren, Wissenschaften zu konzipieren, Musik zu komponieren, Kunst zu produzieren und schließlich ist es einzig und allein 1.2. Was ist Denken? 33 <?page no="33"?> der Mensch, der politische Systeme zu entfalten vermag. Diese Leistungen sind ausschließlich auf das Denkvermögen des Menschen zurückzuführen, Situati‐ onen zu seinen Gunsten zu verändern. Eine solche flexible Mannigfaltigkeit ist ein signifikanter Unterschied, der letztlich dazu geführt hat, dass nur der Mensch die ganze Erde erobern und sich untertan machen konnte. Der Mensch ist ein bewegliches Labor, eine Denkwerkstatt, die sich jederzeit und unerwartet über‐ steigern und zu umwälzenden Erkenntnissen gelangen kann. Es dürfte deutlich geworden sein, dass nur der Mensch sich vornehmen kann, über eine bestimmte Frage nachzudenken oder bestimmte Gedankengänge zu entfalten. Wenn die Person X bspw. von einem wütenden Wildschwein ange‐ griffen wird, hat sie keine Zeit, um Reaktionsmöglichkeiten zu reflektieren und handelt aus dem Affekt heraus. Im Nachhinein ist sie immer schlauer, weil sie den Vorgang rekonstruieren und Strategien entwickeln kann, um durch die Einsetzung der optimierenden Ressourcen dem Wildschwein zu entkommen. Erfahrene Menschen, die derartigen Situationen häufig ausgesetzt sind, ver‐ fügen im Gegensatz zu Tieren über konservierte Reaktionsmöglichkeiten. 1.2.2. Denken und Ur-Sehnsucht Sehnsucht ist ein innerer, vielschichtiger Vorgang, der sich lebenslang in ver‐ schiedenen Situationen bemerkbar macht. Sie impliziert Wünsche, Träume und Bedürfnisse sowie Verlangen nach einem fernen oder nahen Ziel, Ort oder einer Person. Sie lässt sich in einer negativen und einer positiven Art unterteilen. Negative Sehnsucht beschreibt eine Haltung, die durch Enttäuschung, Verzweif‐ lung oder Unerwünschtheit entsteht. Sie artikuliert eine Vorstufe zur Sucht - eine zwanghafte und krankhafte Abhängigkeit von etwas. Negative Sehnsüchte sind stets Ausdruck einer vielschichtigen Verwahrlosung des Innenlebens der Betroffenen. Positive Sehnsucht umfasst unterschiedliche Formen von Wün‐ schen, Verlangen, Bedürfnissen oder Träumen, mit denen alle Individuen seit Menschengedenken zu tun haben. Positive Sehnsucht kann, - wenn sie eine konstante oder steigernde Ebene der Übertreibung oder Extremhaltung erreicht - zu Sucht werden. Sehnsucht ist ein inneres Bestreben, das alle Menschen, jenseits ihrer reli‐ giösen und kulturellen Zugehörigkeiten in sich spüren. Dies sieht man daran, dass alle Menschen die Sehnsucht haben, ein gutes Leben zu führen, gute Freunde zu haben und beruflich gut dazustehen. Auch hat jeder die Sehnsucht, gut behandelt zu werden. Dies beobachten wir in allen Dialogbemühungen auf den Gebieten der Religion, Wissenschaft und Gesellschaft. In all diesen Dia‐ logen, die mit unterschiedlichen Formen der Sehnsucht verbunden sind, spielt 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 34 <?page no="34"?> 51 Vgl. Baege, Max Hermann: Soziologie des Denkens, 1929, S. 4. die Art und Weise des Denkens eine außerordentlich wichtige Rolle. Alle Vor‐ gänge des Denkens und Erkennens sind individual- und sozialpsychologische Prozesse. 51 Also Prozesse, die sich im menschlichen Einzelwesen vollziehen. Denken ermöglicht einen biologischen Anpassungsprozess und dient dazu, Le‐ bensumstände und Lebensbedürfnisse kontextangemessen zu identifizieren und zu meistern. Denken stiftet Identität. Die Intensität der Ich-Ausprägung ist in allen Be‐ langen des Lebens konstitutiv für die naturgegebenen Ressourcen und die Ur-Sehnsucht. Es gibt viele Gründe, warum diese Ur-Sehnsucht bei manchen Menschen deaktiviert und warum es bei manchen zu großen Selbstentfaltungen kommen kann. Die Frage nach den Langzeitfolgen frühkindlicher seelischer Verletzungen, die mit dieser Ich-Beeinträchtigung zusammenhängt, ist zu un‐ tersuchen. Denken ist eine Bewusstseinsleistung des Menschen, ein nicht ergründbarer Ausdruck der menschlichen Ur-Sehnsucht, die Sinnhaftigkeit seines Daseins zu begreifen. In diesem Sinne bedeutet Denken Kommunikation mit sich selbst und mit der Welt. Erziehung zum Denken heißt, Erziehung zu Selbstreflexion, Selbst‐ bewusstsein sowie Selbsttätigkeit und Selbstvertrauen. Alle Übung und alles Lernen bestehen in der Lenkung der denkenden Wahrnehmungen, die Sinne und Zwecke bestimmen. Wahrnehmung ist als aisthetische Qualität eine be‐ schreibende Repräsentation der inneren Welt des Menschen. Wenn ich bspw. sage, dass ich etwas wahrgenommen habe, was mich begeistert oder mir impo‐ niert, so mache ich eine Aussage über die Empfindungen meiner inneren Welt. Wie wir gesehen haben, stehen Wahrnehmen und Denken in einem immer‐ währenden Wirkungszusammenhang. Vom richtigen Wahrnehmen hängt das Überleben des Menschen ab. Wahrnehmen steht im Dienste des Denkens und Denken ist eine Reaktion auf das Wahrgenommene. Das Gehirn ist das Haus des Denkens. Wir denken über eine Sache, wie wir sie wahrnehmen. Wenn man, um nur ein Beispiel zu bringen, die Straße überqueren will, so nimmt man die vorbei‐ fahrenden Autos wahr. Eine falsche oder ungenaue Wahrnehmung des Umfeldes kann schwere Folgen haben. Wahrnehmen und Denken gehen somit ineinander über und bedingen sich gegenseitig. Wahrnehmung ist immer maßgeblich für die Art und Weise des Denkens. Denken ermöglicht dem Menschen, Bedin‐ gungen von Sachverhalten bewusst zu selektieren oder synthetisch zusammen‐ zuführen. Dies hängt damit zusammen, dass er vorausschauend und perspekti‐ visch denkt. Denken vermag aus Ähnlichkeiten Analogien und aus Vergleichen 1.2. Was ist Denken? 35 <?page no="35"?> 52 Vgl. Martens, Ekkehard: Zwischen Gut und Böse, 1997, S. 215. 53 Vgl. Feuling, Daniel: Das Leben der Seele, 1940, S. 280. Metaphern zu erschaffen. Dabei geht es um die Entdeckung einer Korrelation zwischen früheren Erfahrungen und momentanen Erlebnissen. Insofern liegt im Wesen der Analogie eine Dialektik, die nicht nur Prozesse in Gang bringt, son‐ dern auch Resultate hervorbringen kann. Denken kreiert unsere Alltagssprache und unsere trivialen Schlüsse ebenso wie künstlerische Ausdrucksweisen und höchste wissenschaftliche Leistungen. Die Geschichte der Menschheit zeigt, dass wir durch Denken Städte bauen können, um Fortschritt und Wohlstand zu fördern, dass wir das Gute durch denkendes Handeln, und Gerechtigkeit durch liebendes Denken erreichen können. Denken kann in uns würdige Mitmenschlichkeit und dialogisches Sein erwecken. Es kann uns sowohl Türen des irdischen Paradieses als auch Türen der real gewordenen Hölle durch Sucht und ähnliche Abhängigkeiten öffnen. Denken hat somit auch eine destruktive Kehrseite. Verrat am Denken wird nicht begangen, wenn die Ur-Sehnsucht aus indi‐ genen und/ oder psychogenen Gründen nicht zur Entfaltung innerer Kräfte führt, sondern immer wenn der Mensch vorsätzlich sein Denken als ein Instru‐ ment für die Erreichung nekrophiler Ziele einsetzt. Bei einem solchen Verrat spielen auch die sozialisationsbedingten Defizite in der Persönlichkeitsstruktur der handelnden Personen eine wesentliche Rolle. Der Mensch entfaltet Ge‐ danken, führt Paradigmen herbei und entwickelt Perspektiven immer gemäß des Ertrags seiner Wahrnehmung. Die Handlungen des Menschen sind immer das Ergebnis seines Denkens. Denken sucht in seiner Reinform aus sich heraus das Gute. Es ist also das Denken selbst, das den Menschen zum Umdenken, zur Revision seines Verhaltens, seiner Charakterstruktur aus besserer Erkenntnis bewegt oder gar zwingt. Deshalb vermag sich der Mensch stets durch Reflexion zu nötigen, das Gute anzustreben und das Schlechte zu unterlassen. Ähnlich formuliert Ekkehard Martens (*1943) seine These, dass der Mensch sich be‐ ständig denkend zwischen Gut und Böse bewegt. 52 Jeder Mensch hat zusammenfassend inneres Erleben in der Weise mannig‐ faltiger Wahrnehmung, verbunden mit unterschiedlichen Erinnerungskapazität und Intuititonsstärke. Jeder Mensch verfügt über eigene begriffliche Erkennt‐ nisform, Gefühlswelt und Gemütsbewegung. Ferner besitzt er Willenstrieb, freie Willenswahlen und eine in ihm tiefsitzende Ur-Sehnsucht. 53 Der Mensch ist durchaus in der Lage, durch seine Denknutzung die Türen des Paradieses oder auch der Hölle zu öffnen. Es steht ihm frei, den Weg zum Paulus oder zum Saulus zu wählen. 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 36 <?page no="36"?> 54 Vgl. Ortner, Hanspeter: Schreiben und Denken, 2000, S. 36 ff. 55 Vgl. Hussy, Walter: Denkpsychologie, 1986, S. 97 f. 56 Oerter, Rolf: Psychologie des Denkens, 3 1972, S. 89. 57 Vgl. Hussy, Walter: Denkpsychologie, 1986, S. 123 f. 1.2.3. Denken und Sprache Sprache und Denken sind aufs Innigste miteinander verwoben. 54 Sprache ist zunächst einmal ein Werkzeug des Denkens und damit Mittel der Verständi‐ gung. Der Mensch teilt sich durch die Sprache mit und transformiert die Über‐ legungen seiner inneren Welt nach außen. Um sich in verwirrenden Ähnlich‐ keiten und Verschiedenheiten der Wirklichkeit zu behaupten und seiner Rationalität Ausdruck zu verleihen, schafft sich der Mensch ein System von Erkennungszeichen durch die Sprache. Sprache ist als ein System von Zeichen (Semantik) und Regeln wie Syntax und Phonologie zu verstehen, welche die Verbindung zwischen den Zeichen bestimmen. Dieses Zeichen- und Regelsystem hat die Funktion, eine Kommu‐ nikation zwischen den Menschen durch die Übermittlung von Informationen zu ermöglichen. 55 In der Wechselbeziehung von Denken und Sprache werden Wörter erzeugt, die wiederum Handlungen steuern. Denken schafft im Zwi‐ schenmenschlichen Unterschiede. Kulturen und Umgebungen verfestigen solche Differenzen. Der Mensch geht aber als ein denkendes Wesen nie restlos in einer Kultur völlig auf. Begriffe, die wir verwenden, sind konservierte Denk‐ leistungen, denen eine lange Geschichte zugrunde liegt. Sprache »dient nicht eigentlich dem Denken, sei es Begriffsbildung, sei es Problemlösen, sondern nur der Darstellung von Denkvorgängen und der Mitteilung von Denkergeb‐ nissen«. 56 Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Sprache und Denken lassen sich mindestens zwei kontradiktorische Positionen unterscheiden. Sprachinstru‐ mentalisten sind der Ansicht, dass Denken von der Sprache unabhängig sei und die Sprache diene dazu, Gedanken und Denkprodukte zu artikulieren. Für Sprachinstrumentalisten hat Sprache eine ausschließlich kommunikative Funk‐ tion. Die Sprachdeterministen sind hingegen der Auffassung, dass Denken ohne Sprache nicht möglich sei, so dass die Sprache stets unter dem Einfluss des Denkens stünde. 57 Sprache ist bedingt und bestimmt durch gesellschaftliche Faktoren. Die Ent‐ wicklung von Sprache und die Entfaltung des Denkens fließen zwar zusammen, erfolgen aber nicht gleichzeitig, sondern ungleichmäßig. Das heißt, sie laufen zusammen und wieder auseinander, überschneiden sich, decken sich stellen‐ weise und verzweigen sich wieder, wie Jean Piaget (1896-1980) hervorhebt. 1.2. Was ist Denken? 37 <?page no="37"?> 58 Vgl. Gehlen, Arnold: Philosophische Anthropologie, 1971, S. 197. 59 Feuling, Daniel: Das Leben der Seele, 1940, S. 292. Denken ist die Baustelle der Begriffe. Es geht der Sprache voraus. 58 Sprachsystem und Denksystem gehören dann so zusammen. Jeder Mensch bildet teilweise sein eigenes Sprachsystem, das nicht nur über sein Denksystem Aussagen trifft, son‐ dern auch über seine Wahrnehmungs- und Verstehensgeometrie. Aus jeder re‐ flektierten Denkleistung resultiert eine eigene Begriffsentfaltung, die zu erheb‐ lichen Verständigungskomplikationen führen kann. Sprache erfüllt in Korrelation mit dem Denken drei miteinander eng verbun‐ dene Funktionen: Darstellungsfunktion, Ausdrucksfunktion und Orientierungs‐ funktion. Das Zusammenwirken dieser Komponenten beobachten wir in allen Bereichen der Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Eine Verschiebung dieser Komponenten ist allgegenwärtig, weil Denkweisen, Denknutzungen und Denk‐ leistungen in all diesen Bereichen unterschiedlich zum Tragen kommen. Je nach Strategie und Grundabsicht ändert sich der Modus von Darstellung, Ausdruck und Orientierung, was unmittelbare Reaktionen im Verhalten des Gegenübers auslöst. Daher ist es immer von Bedeutung, darauf zu achten, wie ich mein Denken sprachlich gestalte, ohne Missverständnisse hervorzurufen. Es ist frei‐ lich jederzeit möglich und gegeben, dass die Teilnehmer aufgrund bestimmter Darstellungen und Ausdrucksformen bestimmte Orientierungen im Verhalten des Gegenübers bewirken wollen. Hier liegt eine häufig zu beobachtende Sys‐ temstrategie in der Gesprächsführung vor, die in der Regel ein Kampf der Denk‐ formen hervorruft. Folgendes sei kritisch anzumerken: Der Verbalismus im menschlichen Haus‐ halt entsteht immer durch eine Korrelation von Wort- und Sprachgebundenheit des Denkens, was und wie dieses Denken sein und in welchem Alter es zur Entfaltung kommen mag. Die Beobachtung der Entwicklungslinie zeigt, dass das Kleinkind bereits vieles ohne Sprache gedacht und erkannt haben muss, bevor es die Sprache, die es später als Muttersprache erlernen wird, entdecken und anwenden kann. Es bleibt daher offen, ob Denken der Sprache oder Sprache dem Denken vorausgeht: »Tiefer genommen, geht es bei allem um die höchst menschliche und psychologische Frage, ob menschliche Schau, ob geistiges Leben, ob begriffliches Denken und Wissen samt allem Fühlen, Streben und Wollen nur auf den umständlichen Wegen sprachlicher Formung vorangeht und Gewissheit erreicht.« 59 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 38 <?page no="38"?> 1.2.4. Denken und Kultur Kultur ist ein fester Bestandteil der menschlichen Gesellschaft. Sie bestimmt unsere Wertvorstellungen und Normen sowie unsere Identität, unseren Glauben, unser Weltbild und unsere Sprache. Kultur nimmt Einfluss auf unser soziales Umfeld und bestimmt, was wir für gut oder nicht gut halten. Kulturelle Vorprägungen bilden Heimat. Wo immer wir auch hingehen, nehmen wir dieses Heimatgefühl mit. Betrachten wir die bestehenden Kulturtheorien, so reicht ihr Kulturbild von geschlossenen Einheiten bis hin zu Gebilden mit offenen Grenzen. Was diese Theorien miteinander verbindet, ist der Erklärungsversuch, was Kultur ist bzw. nicht ist und welche symbolischen Formen, Sitten und Gebräuche bestimmend sind. Gemeinsam ist all diesen Überlegungen auch die Frage nach der Stellung des Menschen innerhalb einer Kultur, Gesellschaft oder Gemeinschaft. Der Mensch ist ein naturhaftes und dennoch kulturstiftendes Wesen. Er bleibt Zeit seines Lebens mehr oder weniger unter dem Einfluss des Kulturraumes, dem er sich zugehörig fühlt. Sigmund Freud stellt in seinem Werk ›Das Unbehagen in der Kultur‹ dieses Wechselverhältnis dar. In der Kultur sieht er den Gegenspieler der menschlichen Triebe und Leidenschaften. Kultur bringe nach Freud soziale Ordnung hervor, richte Institutionen ein und sichere das Überleben der Menschen. Trotz dieser positiven Aspekte ist der Mensch Zeit seines Lebens bestrebt, die Kultur zu durchbrechen, um eigene Triebe zu befriedigen. Hier geraten Ich, Es und Über-Ich in Konflikt. Während das Es das Unbewusste repräsentiert und ver‐ drängte Triebe sowie nicht verarbeitete Erlebnisse und Träume umfasst, reprä‐ sentiert das Über-Ich die gesellschaftlichen und kulturellen Werte, die auf den Menschen einwirken und von ihm mehr oder minder verinnerlicht werden. Das Ich ist die Vernunft, die im Bewusstsein des Menschen angesiedelt ist und zwi‐ schen Es und Über-Ich vermittelt. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Während das Es einen Kommunikationspartner für einen üblen Fanatiker hält, verbietet das Über-Ich, dies laut auszusprechen. Das Ich vermittelt zwischen diesen beiden Positionen und lässt es bei einer höflichen Andeutung bewenden. Das Unbehagen besteht also darin, dass Kultur zwar Ordnung und Orientie‐ rung bietet, zugleich aber die Entfaltungsmöglichkeiten dieser Triebe derart einschränkt, dass der Mensch sich nicht so ausleben kann, wie er eigentlich möchte. Nach Freud ist es unmöglich, diese Triebe restlos zu unterdrücken. Ne‐ gative Macht in Form von Kriegen ist ein Beispiel hierfür. Hier bringen sich zivilisierte Menschen gegenseitig um, die stets vorgeben, nach moralisch-hu‐ manistischen Maximen zu handeln. Macht wird hier zu einer Instanz, die be‐ 1.2. Was ist Denken? 39 <?page no="39"?> 60 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, 1930. 61 Bolten, Jürgen: Interkulturelle Kompetenz, 2007, S. 24. 62 Thomas, Alexander: Psychologie interkulturellen Handelns, 1991, S. 5. stimmt, was legitim bzw. nicht legitim ist. Freud schlussfolgert, dass es nur we‐ nigen möglich ist, ihre Triebe und Leidenschaften zu beherrschen. 60 Kulturen sind in der Tat »Lebenswelten, die sich Menschen durch ihr Handeln geschaffen haben und ständig neu schaffen. Diese Lebenswelten existieren ohne Bewusstseinsmaßstäbe. Sie basieren nicht auf einer Auswahl des Schönen, Guten und Wahren, sondern umfassen alle Lebensäußerungen derjenigen, die an ihrer Existenz mitgewirkt haben und mitwirken.« 61 Weil Menschen insge‐ samt über eine ähnliche kognitive Ausstattung verfügen, sind auch ihre kultu‐ rellen Fähigkeiten ähnlich. Zweifelsohne gehören Denken, Fühlen und Handeln dazu, wie sie in konkreten Situationen in Form von Trauer, Freude und Tabu‐ bereichen unterschiedlich zum Ausdruck kommen. Kulturelles Gedankengut ist in allen religiösen, politischen, weltanschaulichen und wissenschaftlichen Kon‐ texten enthalten, ohne darin restlos aufzugehen. Kulturen verändern sich auf‐ grund ihres dynamischen Charakters durch Austausch- und Überlappungspro‐ zesse kontinuierlich. An dieser Nahtstelle drängt sich die Frage auf, ob es fixe Kulturstandards gibt oder nicht. Alexander Thomas geht von einer solchen Annahme aus und hält fest: »So wie ein Standard angibt, wie ein Gegenstand normalerweise beschaffen zu sein hat, wie ein häufig vorkommendes Ereignis normalerweise abläuft, so legt ein Kulturstandard den Maßstab dafür fest, wie Mitglieder einer bestimmten Kultur sich zu verhalten haben, wie man Objekte, Personen und Ereignisse zu sehen, zu bewerten, zu behandeln hat.« 62 Diese Überlegungen treffen in der Regel nur in geschlossenen Gesellschaften zu. Menschen sind keine elektron‐ ischen Rechner, die per Zuweisung funktionieren. Technische Standardisierung macht es möglich, dass wir per Mausklick bestimmte Funktionen betätigen können, die mit großer Exaktheit beim Empfänger wiedergegeben werden. Eine solche Entsprechung gibt es bei der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht. Jedes Individuum besitzt eine eigene kognitive Landkarte, ein einzigar‐ tiges Repertoire interner Konstruktionen seiner Wirklichkeit. Es gibt so etwas wie die Wirklichkeit der Innen- und Außenwelt, die stets miteinander konfron‐ tiert werden. Die generalisierende Annahme eines Kulturstandards, wie Alexander Thomas (*1939) vorschlägt, ist der Kommunikation nicht förderlich, weil im Vorfeld mit Klischees und Stereotypen gearbeitet wird. Kulturstandards in ihrer Radikalität gibt es nur, wenn wir, wie erwähnt, von einem geschlossenen Kul‐ turbegriff ausgehen. Die Frage, ob es einen typisch deutschen, amerikanischen 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 40 <?page no="40"?> 63 König, René: Einleitung: Über einige Fragen der empirischen Kulturanthropologie, 1972, S. 35. oder iranischen Musikstil gibt, wird mit ›ja‹ beantwortet, wenn wir Kulturen essentialistisch auffassen. Sie wird mit ›nein‹ beantwortet, wenn wir Kulturen als offene Sinn- und Orientierungssysteme begreifen, die sich gegenseitig be‐ einflussen. Man kann zwar durch die Aneignung von musikalischen Fertig‐ keiten bestimmte Musikrichtungen erlernen, die als ›deutsch‹ usw. deklariert werden, offen bleibt aber, ob diese Musik ursprünglich rein deutsch gewesen ist. Zweifelsohne sind kulturübergreifende Momente dabei wirksam. René König (1906-1992) verweist mit Recht darauf, dass es die Kultur nicht gebe, dass sie nicht »allgemein und einheitlich sei. […] Es gibt in Wahrheit so starke kulturelle Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft zwischen ihren un‐ terschiedlichen Teilen, dass sie unter Umständen größer sind als die Unter‐ schiede zwischen verschiedenen Kulturen.« 63 Insofern gibt es eine reine eigene Kultur der Sache nach nicht, sondern nur noch Mischkulturen, die eine starke Verankerung in Geschichte und Gegenwart haben. Fassen wir Kulturen als dy‐ namisch-veränderbare Sinn- und Orientierungssysteme oder als geschlossene Gebilde auf, welche wie abgeschlossene Kreise nebeneinander existieren und einander wesensfremd sind, so wird dies unmittelbar bestimmend sein für die Art und Weise unseres Kommunizierens. Kultur ist Kommunikation und Kom‐ munikation bringt Kultur hervor. 1.2.5. Denken und Menschsein Denken ist, wie erwähnt, eine anthropologische Konstante. Das Menschsein ist ohne das Denken nicht denkbar. Der Mensch ist dasjenige Wesen, das sein Denken in Handlungen ausdrückt. Es ist zwar richtig, dass er das Denken her‐ vorbringt, aber das Denken verändert ihn selbst ebenso. Aufgrund dieser Kon‐ stante, dass jeder Mensch anders denkt, können wir nicht, im Sinne der Multi‐ kulturalismusidee, von der Annahme ausgehen, dass es eine eigene ›Afrikanische Logik‹, eine eigene ›Europäisch-westliche Logik‹ ebenso wenig gibt, wie es eine eigene ›Orientalische Logik‹ oder eine eigene ›Asiatische Logik‹ geben kann. Es gibt einige Vertreter der kulturvergleichenden Psychologie, die eine Indi‐ vidualismus-Kollektivismus-Dichotomie annehmen und als Unterscheidungs‐ merkmal zwischen der europäisch-westlichen Welt und anderen Kulturen vor‐ aussetzen. Richard Nisbett (*1941) und Simon Ehlers sind zwei Vertreter dieses problematischen Universalitätskonzeptes, nach dem Völker als umzäunte Ge‐ füge wahrgenommen werden, in denen sich völlig eigentümliche Denkeinheiten 1.2. Was ist Denken? 41 <?page no="41"?> 64 Vgl. Nisbett, Richard: The Geography of Thoughtv, 2003, S. 40 f. 65 Ehlers, Simon: Der Kreis und die Linie, 2004, S. 48 f. 66 Vgl. Nisbett, Richard: The Geography of Thoughtv, 2003. herausbilden. Im Folgenden soll kurz auf diese beiden Modelle vergleichend eingegangen werden. Nisbett geht in seiner vergleichenden Studie von einer derartigen Annahme aus und betrachtet westliches Denken vorwiegend als analytisch und sachlich ausdifferenziert, während er östliches Denken als vorwiegend kollektivistisch und holistisch charakterisiert. Dieses Konzept nennt er Geographie des Den‐ kens. 64 Dies bedeutet anzunehmen, dass bestimmte Denkformen in bestimmten Kulturräumen der Welt weiter verbreitet sind als andernorts und ferner, dass aufgrund dieser die Verallgemeinerung getroffen werden könne, dass eine Kultur leicht als holistisch-gesamtheitlich oder linear-analytisch hinsichtlich ihrer Denkleistungen beschrieben werden kann. Die Folge daraus ist, dass die Zuschreibung einer bestimmten Denkweise als fundiert angenommen und somit eine kulturübergreifende Stigmatisierung erfolgen kann, die zur Schaf‐ fung weiterer Kampfplätze des Denkens an Orten beiträgt, an denen eine prin‐ zipielle Offenheit von Seiten kulturübergreifender Betrachtungen gefordert ist. Simon Ehlers verfährt ähnlich. Ob wir »logisch und linear« oder eher »fle‐ xibel und dialektisch« denken, hängt nach Ehlers vor allem davon ab, ob wir im Westen oder im Osten zu Hause seien. Asiaten betrachteten die Dinge komplexer und ›kreisförmiger‹ als die analytisch denkenden Europäer und Amerikaner. 65 Der analytisch denkende Europäer/ US-Amerikaner empfinde sich »als unab‐ hängiges Individuum, das eigene Pläne hat und diese gegen die Interessen an‐ derer durchsetzt«, während sich die ganzheitlich denkenden Asiaten »als Teil der sozialen Gemeinschaft« sähen, »in der kollektive Ziele Priorität haben und in der man sich anpasst, um ein harmonisches Zusammensein sicherzustellen«. Nisbett und Ehlers sprechen Tendenzen an, die in Asien wie im Westen mehr oder minder zu finden sind. In der Tat denken Menschen in allen Kulturregionen der Welt, ob kollektivistisch oder individualistisch, mehr oder minder logisch oder holistisch. Nisbett nimmt an, verschiedene Gruppen aus westlichen und östlichen Hemisphären der Welt dächten, wegen der Diversität ihrer Vorstel‐ lungen von der Natur, der Welt und der Metaphysik, unterschiedlich. Ein Ex‐ periment dient zur Demonstration, dass Nichtwestler in Sachverhalten keine Struktur erkennen würden, sondern immer das Ganze vor Augen hätten. 66 Dabei verfährt er wie folgt: Er fordert jeweils 50 ›Asiaten‹ und ›Europäer/ Amerikaner‹ auf, die Ausdrücke ›Huhn‹, ›Kuh‹ und ›Gras‹ miteinander in Verbindung zu bringen: 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 42 <?page no="42"?> 67 Vgl. Said, E. W.: Orientalismus, 1981, S. 20 ff. 68 Vgl. Zarrinkoub, Abdolhossein: Na sharghi, na gharbi - ensani [Nicht östlich - nicht westlich - menschlich! ], 2001, S. 27 f. 26 individualistisch, mehr oder minder logisch oder holistisch. Nisbett nimmt an, verschiedene Gruppen aus westlichen und östlichen Hemisphären der Welt dächten, wegen der Diversität ihrer Vorstellungen von der Natur, der Welt und der Metaphysik, unterschiedlich. Ein Experiment dient zur Demonstration, dass Nichtwestler in Sachverhalten keine Struktur erkennen würden, sondern immer das Ganze vor Augen hätten. 66 Dabei verfährt er wie folgt: Er fordert jeweils 50 ›Asiaten‹ und ›Europäer/ Amerikaner‹ auf, die Ausdrücke ›Huhn‹, ›Kuh‹ und ›Gras‹ miteinander in Verbindung zu bringen: Das Experiment von Richard Nisbett Huhn Gras Kuh Abbildung 1.1: Geographie des Denkens Das Erhebungsergebnis seiner kulturvergleichenden Analyse zeigt Folgendes: Die Asiaten hätten ohne Ausnahmen gesagt, die ›Kuh‹ fresse das ›Gras‹. Auf die gleiche Frage sollen die ›Europäer/ Amerikaner‹ eher geantwortet haben, ›Huhn‹ und ›Kuh‹ seien Lebewesen. Daher geht Nisbett davon aus, dass Asiaten holistisch-kollektivistisch denken und nicht nach Struktur und Zusammenhang suchten, während ›Europäer/ Amerikaner‹ individualistisch-analytisch Strukturen feststellten. Diese Untersuchung ist von Bedeutung, weil es ähnliche Wahrnehmungen im Hinblick auf Westasien gibt, wozu auch der Iran gehört. Edward Said (1935-2003) beschreibt in seinem Werk ›Orientalismus‹ historische Dichotomisierungen, die mit Nisbetts Erhebungsergebnissen weitgehend übereinstimmen. Er kritisiert die Auffassung, der Orient sei, im Gegensatz zum Okzident, holistisch, schwärmerisch und romantisierend. 67 Allein der persische Arzt Ibn Sina zeigt das Gegenteil dieses historisch gewachsenen Vorurteils. Ibn Sina ist ein Paradebeispiel dafür, dass Menschen kognitiv ähnlich ausgestattet sind und in verschiedenen Situationen unterschiedlich agieren. 68 Es ist verwunderlich, dass Nisbetts These allgemeine Anerkennung gefunden hat, zumal die asiatischen Versuchspersonen ebenfalls in den USA geborene Amerikaner waren. Viele westliche Neurowissenschaftler teilen die Auffassung, es gebe so etwas wie kulturelle Eigenlogik. Dies lasse sich im Bereich der Gestik und Mimik beobachten, wenn unterstellt werde, Gesichtsausdrücke enthielten kulturkollektiv bestimmte Aussagen. Diese These lässt sich in der Tat verifizieren, wenn wir Menschen als Rechner betrachten, die nach einer bestimmten Gebrauchsanweisung funktionieren. Nisbetts Folgerungen lassen vermuten, dass er Kulturen als geschlossene Kreise begreift und das menschliche Denken selbst auf kulturgenetisch verankerte Mechanismen zurückführt, die hermetisch voneinander getrennt sind. 69 Nach einer solchen Auffassung wären Kulturen einander 66 Vgl. Nisbett, Richard: The Geography of Thoughtv, 2003. 67 Vgl. Said, E. W.: Orientalismus, 1981, S. 20 ff. 68 Vgl. Zarrinkoub, Abdolhossein: Na sharghi, na gharbi - ensani [Nicht östlich - nicht westlich - menschlich! ], 2001, S. 27 f. 69 Vgl. Zaumseil, Manfred: Beiträge der Psychologie zum Verständnis des Zusammenhangs von Kultur und psychischer Gesundheit bzw. Krankheit, 2006, S. 8. Abbildung 1.1: Geographie des Denkens Das Erhebungsergebnis seiner kulturvergleichenden Analyse zeigt Folgendes: Die Asiaten hätten ohne Ausnahmen gesagt, die ›Kuh‹ fresse das ›Gras‹. Auf die gleiche Frage sollen die ›Europäer/ Amerikaner‹ eher geantwortet haben, ›Huhn‹ und ›Kuh‹ seien Lebewesen. Daher geht Nisbett davon aus, dass Asiaten holistisch-kollektivistisch denken und nicht nach Struktur und Zusammenhang suchten, während ›Europäer/ Amerikaner‹ individualistisch-analytisch Struk‐ turen feststellten. Diese Untersuchung ist von Bedeutung, weil es ähnliche Wahrnehmungen im Hinblick auf Westasien gibt, wozu auch der Iran gehört. Edward Said (1935-2003) beschreibt in seinem Werk ›Orientalismus‹ historische Dichotomi‐ sierungen, die mit Nisbetts Erhebungsergebnissen weitgehend übereinstimmen. Er kritisiert die Auffassung, der Orient sei, im Gegensatz zum Okzident, holis‐ tisch, schwärmerisch und romantisierend. 67 Allein der persische Arzt Ibn Sina zeigt das Gegenteil dieses historisch gewachsenen Vorurteils. Ibn Sina ist ein Paradebeispiel dafür, dass Menschen kognitiv ähnlich ausgestattet sind und in verschiedenen Situationen unterschiedlich agieren. 68 Es ist verwunderlich, dass Nisbetts These allgemeine Anerkennung gefunden hat, zumal die asiatischen Versuchspersonen ebenfalls in den USA geborene Amerikaner waren. Viele westliche Neurowissenschaftler teilen die Auffassung, es gebe so etwas wie kulturelle Eigenlogik. Dies lasse sich im Bereich der Gestik und Mimik beobachten, wenn unterstellt werde, Gesichtsausdrücke enthielten 1.2. Was ist Denken? 43 <?page no="43"?> 69 Vgl. Zaumseil, Manfred: Beiträge der Psychologie zum Verständnis des Zusammenhangs von Kultur und psychischer Gesundheit bzw. Krankheit, 2006, S. 8. 70 Gernot Böhme ist ein Vertreter dieser Weltvorstellung. Vgl. Böhme, Gernot: Anthropo‐ logie in pragmatischer Hinsicht, 1985, S. 222. Rolf Arnold kritisiert diesen Ansatz. Vgl. Arnold, Rolf: Interkulturelle Berufspädagogik, 1991, S. 41 ff. kulturkollektiv bestimmte Aussagen. Diese These lässt sich in der Tat verifi‐ zieren, wenn wir Menschen als Rechner betrachten, die nach einer bestimmten Gebrauchsanweisung funktionieren. Nisbetts Folgerungen lassen vermuten, dass er Kulturen als geschlossene Kreise begreift und das menschliche Denken selbst auf kulturgenetisch veran‐ kerte Mechanismen zurückführt, die hermetisch voneinander getrennt sind. 69 Nach einer solchen Auffassung wären Kulturen einander wesensfremd, ihre Träger kognitiv verschieden, die über eine jeweils eigene Logik verfügen. 70 Eine methodisch offene kulturvergleichende Psychologie geht von Kulturen als of‐ fenen Sinn- und Orientierungssystemen aus, die einander nicht wesensfremd seien, sondern sich viel mehr ergänzten, trotz Unterschieden, die lediglich Er‐ gebnis der Kulturprägungen und nicht kulturgenetische Differenzen wären. Ein solcher Ansatz böte eine Basis für solide interkulturelle Forschungen und könnte Beiträge zu einer ›dialogischen und verstehenden Völkerverständigung‹ leisten. Das folgende Beispiel mag gewisse Unterschiede beleuchten. Eine historisch gewachsene und in weiten Teilen der iranischen Gesellschaft existierende Selbstbeschneidung in Form des ›Gesicht-Wahrens‹ verleitet manchen, sich zu leugnen, Notlügen zu erfinden oder sich hinter bloßen Höflichkeitsfloskeln zu verbergen. Weil man glaubt, dass Gesichtsverlust gleichsam Ausschluss aus der Gesellschaft bedeutet, ist man übervorsichtig und außerordentlich empfindsam, was die Reaktion der anderen ist und wie sie denken. So identifizieren sich solche Menschen in ihrer Umwelt gegenseitig fremd‐ gesteuert und geraten in eine problematische ›Kollektivismusfalle‹, nach dem Motto: ›Ich lebe für die anderen, und die anderen leben für mich‹, ein Teufels‐ kreis, aus dem schwer herauszukommen ist. Diese Falle hindert die freie Ent‐ faltung der Persönlichkeit, der Identität und des Selbstwertgefühls der Heran‐ wachsenden. Die Beeinträchtigung des Innenlebens von Heranwachsenden führt oft zu einer unerfüllten Daseinsgestaltung, die ihre Sehnsüchte entweder ganz verschweigen oder wegen des ›Gesicht-Wahrens‹ bzw. den dahinter ver‐ borgenen Schamaffekten erdrücken. Dieses schichtenübergreifende Ambivalenzverhalten macht oft aus Heran‐ wachsenden Persönlichkeiten, die jederzeit explodieren können. Ein Grund, warum manche Jugendliche den Iran verlassen, hängt neben dieser historisch gewachsenen und entwicklungsblockierenden Selbstbeschneidung mit der Tat‐ 1. Der Mensch und die Funktionsbereiche seines Denkens 44 <?page no="44"?> 71 Vgl. Simon, Josef und Werner Stegmaier: Fremde Vernunft, 1998. 72 Vgl. Lenk, Hans: Interpretation und Rationalität, 1995, S. 37 ff. sache zusammen, dass sich die Jugendlichen in ihrer eigenen Gesellschaft fremd fühlen, weil sie selbstentfremdet sind. Das Gegenteil ist in dem eher individualistisch ausgerichteten Deutschland der Fall, wo Menschen ihre Meinung, auch wenn es den anderen schmerzt, in allen Belangen und Kontexten unverblümt artikulieren. Man könnte von einer totalen Aufklärungstendenz in dieser Gesellschaft sprechen. Sehnsüchte werden nicht preisgegeben und erdrückt, sondern frei ausgelebt, die wiederum abwei‐ chendes Verhalten wie Sucht nach sich ziehen und einer freien Persönlichkeits‐ entfaltung im Wege stehen können. Es ist darauf hinzuweisen, dass diese unterschiedlichen Verhaltensweisen sich nicht auf das dialektische Denken auswirken. Ein Wissenschaftler kann zuhause aufgrund des ›Gesicht-wahrens‹ völlig traditionell leben, aber in seiner Funktion als Wissenschaftler ein Kulturkritiker sein. Deshalb kann es nur hilf‐ reich sein, wenn wir auf zweierlei Ebenen eine dringend erforderliche Aufklä‐ rung betreiben: Aufklärung im Innen- und Außenverhältnis. Dies bedeutet nicht nur, Ethnologen anderer Kulturen zu sein und abwertende Äußerungen zu treffen, sondern auch und vor allem in die Innenverhältnisse des eigenen Kul‐ turraumes zu blicken. Es gibt so viele Vernunftsformen und Rationalitätstypen wie es Individuen gibt. Allein diese Tatsache erhebt alle Felder der Interpretation und Lesarten zu einem Kampfplatz der Denkformen, die sich gegenseitig als fremd wahr‐ nehmen. 71 Wo sich aber Ähnlichkeiten und Überlappungen finden lassen, dort beginnt sich eine verstehensorientierte Begegnung zu entfalten, in der auch Dif‐ ferenzen zu Sprache kommen können und sollten. Erhalten Begegnungen ein kontextreiches Ausmaß an Diversitäten intra- oder interkultureller Art, so lassen sich die vorhandenen Rationalitätstypen nicht problemlos auf europäische oder nicht-europäische Typen reduzieren oder stufentheoretisch betrachten. Hans Lenk (*1935) vernachlässigt das ›Prinzip Heterogenität‹ im Weltkontext und reduziert seine Rationalitätstypologie restlos auf Westeuropa und Nord‐ amerika. 72 Die Offenheit des Wahrnehmungsblicks in einer kontextreichen Interkulturalität ist wesentlich, weil Rationalitätstypen von Individuum zu In‐ dividuum unterschiedliche Entfaltungsformen erfahren, mit denen diverse In‐ terpretationen und Lesarten des Selbst- und Weltverhältnisses verknüpft sind. Diese Mannigfaltigkeit macht den Geist der Problemlösungswege im Vergleich und Verständnis der Individuen aus, die für alle Formen der Kommunikation von Bedeutung sind. 1.2. Was ist Denken? 45 <?page no="45"?> 1 Vgl. Piaget, Jean: Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, 1998. 2 Vgl. Piaget, Jean: Abriß der genetischen Epistemologie, 1980. S. 26. 3 Vgl. Scharlau, Ingrid: Jean Piaget. Zur Einführung, 2013, S. 25. 2. Denken und das Stufenmodell von Jean Piaget Jean Piaget hat eine Vielzahl an Arbeiten mit grundlegendem Charakter hin‐ terlassen. Sein Konzept des ›Genetischen Lernens‹ befasst sich mit der Erklä‐ rung kognitiver Entwicklung von Heranwachsenden und ihrer Interaktion mit ihrer Umwelt. 1 Zudem ist er der Begründer der ›Genetischen Epistemologie‹, die den methodischen Versuch in Anlehnung an die Erkenntnisse der Biologie beschreibt, nicht nur den Wissenserwerb, sondern auch das Anwachsen wis‐ senschaftlicher Erkenntnis und deren ›phylo- und ontogenetischer Entste‐ hungsbedingungen‹ zu erklären. 2 2.1. Denken und seine Funktionen Im Zentrum von Piagets Forschungsinteresse stehen Denkstrukturen und ihre jeweiligen Funktionen. Handlungen sind für ihn, in welchem Kontext auch immer, ein Moment von Denken und Geist. Piaget zeigt, dass Menschen im Rahmen ihrer Gesamtsozialisation, vom Säuglingsalter bis hin zum Erwachse‐ nenalter eine kognitive Entwicklung durchmachen und in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt eine Reihe von Fähigkeiten und Begriffen hervorbringen. Diese Methode wurde später modifiziert und erweitert in ›revidierte klinische Me‐ thode‹. 3 Bezeichnend ist die empirisch-experimentelle Methodenvielfalt, die in Piagets Denken eine nachhaltige Rolle spielt. Zu nennen ist seine ›klinische Methode‹, die er durch Interviews auf den psychiatrischen Patienten anwendet, um die Wurzel ihrer Krankheitssymptome zu ergründen. Er überträgt diese kli‐ nische Methode dann auch auf das Denken und Weltbild der Kleinkinder. Piaget war von Anfang an bestrebt, seine Forschungen nach einem biologi‐ schen Kausalitätsprinzip zu gestalten. Dabei spielt in seinem Erkenntniskon‐ zept eine Vielzahl von Begriffen eine grundlegende Rolle. Zu den kontinuier‐ lichen Prozessen gehören Anwendung und Schema, vor allem ›Assimilation‹, ›Akkomodation‹ und ›Äquilibration‹. Während Erstere die Aufnahme bzw. <?page no="46"?> 4 Vgl. Piaget, Jean: Meine Theorie der geistigen Entwicklung, 1985, S. 36. 5 Vgl. Ebenda, S. 73. 6 Vgl. Oerter, Rolf: Psychologie des Denkens, 3 1972, S. 350. Integration äußerer Elemente in eine sich entwickelnde Struktur bedeutet, die sich im Subjekt (eines Organismus) befinden, ist unter Letzterer der komple‐ mentäre Prozess zu verstehen, in dem sich die Struktur des Subjekts aufgrund der Auseinandersetzung durch fremde Umweltfaktoren verändert. Assimila‐ tion und Akkomodation bedingen sich im Erkenntnisprozess gegenseitig. Kog‐ nitive Adaption und ihr biologisches Gegenstück bestehen aus einem Gleich‐ gewicht zwischen diesen zwei Begriffen. Solange sie dieses Gleichgewicht beibehalten »können wir von kognitivem Verhalten im Gegensatz zu Spiel, Nachahmung oder Vorstellungsbild sprechen und befinden uns damit wieder auf dem eigentlichen Gebiet der Intelligenz«. 4 Wissensbestände werden erweitert vom ›Schema‹ über die ›Assimilation‹ neuen Wissens, die ›Akkomodation‹ durch Integration und schließlich die ›Äquilibration‹. 5 Ein Effekt der Assimilation ist das physiologische Sehen des Kindes. 6 Ein Heranwachsender weiß, was ein Glas ist, hat diesen Begriff dem‐ zufolge in einem Schema bzw. einer Schublade gesammelt: Es ist hoch, durch‐ sichtig und zum Einfüllen von Flüssigkeiten geeignet. Wenn er ein Glas sieht und dieses als solches identifizieren kann, so assimiliert er sein Wissen. Nun sieht er eine Tasse, die er zunächst ebenfalls als ›Glas‹ bezeichnet. Er wird aber eines Besseren belehrt und erkennt: Meist nicht aus Glas, sondern aus Keramik, mit Henkel etc., und bildet daraufhin ein neues Schema bzw. eine neue Schub‐ lade für ›Tasse‹. Für diesen Gegenstand hat er dann eine Akkomodation vorge‐ nommen. Forthin ist er im Besitz von zwei Schemata für ›Glas‹ und ›Tasse‹. Nun könnte dieser Vorgang der Spezifizierung bis ins Unendliche fortgesetzt werden, denn es gibt unterschiedliche Gläserarten, (Wein-, Wasser- und Whiskygläser), wie auch verschiedene Tassentypen (Kaffee-, Teetassen usw.). In der Sprache werden sie ihrem Bedeutungsinhalt nach bestimmt, doch ihre grundlegenden Eigenschaften bleiben dabei unverändert. Eine Spezifizierung ins Unendliche wäre aber für den Denkprozess unökonomisch. Deshalb bilden wir, mithilfe der Äquilibration, Schubladen mit Oberbegriffen, in die wir alles Glas- oder Tas‐ senartige einsortieren, ohne weitere Unterscheidungen zu treffen. In der Se‐ mantik findet sich ein solches Über- und Unterordnungsphänomen im Zusam‐ menhang mit nahezu allen Dingen. 2.1. Denken und seine Funktionen 47 <?page no="47"?> 7 Vgl. Ebenda, S. 67. 8 Piaget, Jean: Erkenntnistheorie der Wissenschaften vom Menschen, 1972, S. 19. 9 Vgl. Oesterdiekhoff, Georg W.: Kulturelle Bedingungen kognitiver Entwicklung, 1997, S. 256 f. 10 Piaget, Jean: Strukturalismus, 1973, S. 8. 11 Vgl. Piaget, Jean: Probleme der Entwicklungspsychologie. Kleine Schriften, 1993, S. 47 ff. 2.2. Geistige Entwicklungslinien Alle Versuche und Experimente von Piaget zielen darauf ab, Intelligenz- und Entwicklungsniveaus der Heranwachsenden zu erschließen und systematisch zu klassifizieren. Er beschreibt den Erkenntnisgewinnungsweg des Kleinkindes durch Beobachtung und Befragung in Form eines Gesprächs. Er ist der Ansicht, dass das Kind durch Anwendung von logischen Beziehungen zum Invarianz‐ begriff kommen müsse. 7 Daher ist das Werk Piagets praktisch eine Erkenntnis‐ reise in die Welt der Kleinkinder. Ihm geht es darum, »hinter die Geheimnisse eines Denkens zu kommen, das wir nicht im voraus kannten, und weitestmög‐ lich zu vermeiden, dieses Denken zu begreifen durch die Form der gestellten Fragen«. 8 Dabei verzichtet Piaget auf standardisierte Testverfahren und ge‐ staltet seine Methode der Situation angemessen. Piaget gelingt es durch diese effektive Arbeitssystematik Erkenntnistheorie und Entwicklungspsychologie miteinander zu verbinden. 9 Sein komplemen‐ tärer Ansatz, der sokratische Züge besitzt, ermöglicht es ihm, in die Innenwelt der Denkstrukturen und Denkgebäude leichter hineinzutauchen. Unter Struktur versteht Piaget »ein System von Transformationen, das als System eigene Gesetze hat und das eben durch seine Transformationen erhalten bleibt oder reicher wird, ohne daß diese über seine Grenzen hinaus wirksam werden oder äußere Elemente hinzuziehen«. 10 Bei seinen empirisch-experimentellen Beobachtungen stellt Piaget fest, dass die geistige Entwicklung des Menschen in Stufen bzw. Phasen oder Perioden verläuft, die eng miteinander verwoben sind. Er verweist darauf, dass die Fähigkeiten des Kleinkindes spontan zu Strukturen werden. 11 Auf dem Wege der Begründung seiner Erkenntnistheorie untersucht Piaget eingehend den Aufbau kindlicher Logik mittels empirischer Beobachtungen und natürlicher Verhaltensabläufe. Durch empirisch-experimentelle Beobachtungen gelingt es ihm einen Wechselbezug zwischen kindlichem Denken und seiner Entwicklungsphase zu gestalten. Auf dieser Erkenntnisbasis gründet er sein vierstufiges universalistisches Modell der kognitiven Entwicklung des Men‐ schen, die durch jeweils spezifische Merkmale charakterisiert sind. Diese Stufen zeigen, wie das Denken heranreift und an Komplexität gewinnt, wobei die je‐ 2. Denken und das Stufenmodell von Jean Piaget 48 <?page no="48"?> 12 Vgl. Oesterdiekhoff, Georg W.: Die geistige Entwicklung der Menschheit, 2012. 13 Vgl. Piaget, Jean: Die Entwicklung des Erkennens, 1975, S. 10. 14 Piaget, Jean: Meine Theorie der geistigen Entwicklung, 1985, S. 23. 15 Ebenda, S. 23. 16 Fend, Helmut: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 3 2003, S. 121. weiligen Lebensalter individuell voneinander abweichen können. Von beson‐ derer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Georg W. Oesterdiekhoff, der in einer Reihe von Studien sowohl die Grundstrukturen der kognitiven und sozi‐ alen Entwicklung als auch das Zusammenspiel psychisch-kognitiver und sozi‐ alhistorischer Entwicklung der Menschheit systematisch untersucht. 12 Bei der Frage nach Intelligenzmessung der Heranwachsenden geht es Piaget nicht darum, was Kinder in einem bestimmten Alter können, sondern vielmehr darum, was sie nicht können und aus sich herausholen können. Das Werk Pia‐ gets bildet die Grundlage einer Erkenntnistheorie der Entwicklungspsychologie, obschon er seinen Ansatz selbst eine Art »Embryologie des Geistes« 13 nennt: »Meine Theorie«, schreibt Piaget, »die sich hauptsächlich mit der Entwicklung der kognitiven Funktionen befaßt, kann nicht verstanden werden, wenn wir nicht zuvor die biologischen Voraussetzungen, auf denen sie beruht, und die erkenntnistheoretischen Konsequenzen, zu denen sie führt, eingehend analy‐ sieren«. 14 Gleiche Probleme und Erklärungstypen kommen nach Piaget in drei Prozessen zusammen: Zum einen in der Adaption eines Organismus an seine Umwelt, zum anderen in der Adaption der Intelligenz beim Aufbau ihrer eigenen Strukturen und schließlich in der Herstellung kognitiver oder allgemeiner er‐ kenntnistheoretischer Reaktionen. 15 Piagets Idee besteht darin, »einerseits die Strukturen des ausgereiften Er‐ wachsenendenkens zu beschreiben und andererseits die Entwicklung inhaltlich in mehreren Stufen als auf diese Endform zustrebend zu konzipieren«. 16 Im Geiste dieser Überlegungen beschreibt Piaget, wie das Schaubild visualisiert, eine qualitative Entwicklungslinie mit einer stufenförmigen Re-Organisation des Denkens bei Kindern und Jugendlichen. 2.2. Geistige Entwicklungslinien 49 <?page no="49"?> 17 Piaget, Jean: Meine Theorie der geistigen Entwicklung, 1985, S. 41. 31 Bei der Frage nach Intelligenzmessung der Heranwachsenden geht es Piaget nicht darum, was Kinder in einem bestimmten Alter können, sondern vielmehr darum, was sie nicht können und aus sich herausholen können. Das Werk Piagets bildet die Grundlage einer Erkenntnistheorie der Entwicklungspsychologie, obschon er seinen Ansatz selbst eine Art »Embryologie des Geistes« 13 nennt: »Meine Theorie«, schreibt Piaget, »die sich hauptsächlich mit der Entwicklung der kognitiven Funktionen befaßt, kann nicht verstanden werden, wenn wir nicht zuvor die biologischen Voraussetzungen, auf denen sie beruht, und die erkenntnistheoretischen Konsequenzen, zu denen sie führt, eingehend analysieren«. 14 Gleiche Probleme und Erklärungstypen kommen nach Piaget in drei Prozessen zusammen: Zum einen in der Adaption eines Organismus an seine Umwelt, zum anderen in der Adaption der Intelligenz beim Aufbau ihrer eigenen Strukturen und schließlich in der Herstellung kognitiver oder allgemeiner erkenntnistheoretischer Reaktionen. 15 Piagets Idee besteht darin, »einerseits die Strukturen des ausgereiften Erwachsenendenkens zu beschreiben und andererseits die Entwicklung inhaltlich in mehreren Stufen als auf diese Endform zustrebend zu konzipieren«. 16 Im Geiste dieser Überlegungen beschreibt Piaget, wie das Schaubild visualisiert, eine qualitative Entwicklungslinie mit einer stufenförmigen Re-Organisation des Denkens bei Kindern und Jugendlichen. 1. Sensomotorische Periode Lebensalter 2. Präoperationale Periode 3. Konkret-operationale Periode 4. Formal-operationale Periode Lebensalter Geistige Entwicklungslinie des Heranwachsenden Abbildung 3.1: Geistige Entwicklungslinie Die erste Periode nennt Piaget ›sensomotorisch‹, die bis ungefähr zum Alter von anderthalb Jahren dauert. Es ist eine Stufe vor der Sprache und Entwicklung von inneren Bildern, in der das Kind seine Umwelt wahrzunehmen beginnt. Die zweite Entwicklungsperiode nennt er ›präoperational‹. Diese prägt das Denken zwischen dem 2. und dem 7. Lebensjahr. In dieser Phase erwirbt das Kind das Instrument Sprache und lernt mit Bedeutungen umzugehen. Die dritte Periode nennt Piaget ›konkret-operational‹, in der Primarschulzeit, die die formalen Operationen umfasst. In dieser Periode werden Fähigkeiten konkreter. Kinder lernen, Aufgaben zu verstehen und zu lösen. Die vierte Stufe nennt er ›formal-operational‹. Diese umfasst den Zeitraum des reflektierenden Denkens, das nicht bei allen gleich entwickelt wird. 17 Mit seinem Modell zeigt Piaget die adäquate Ressourcennutzung der Heranwachsenden und einen modifizierbaren Umgang mit diesen Ressourcen. 13 Vgl. Piaget, Jean: Die Entwicklung des Erkennens, 1975, S. 10. 14 Piaget, Jean: Meine Theorie der geistigen Entwicklung, 1985, S. 23. 15 Ebenda, S. 23. 16 Fend, Helmut: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 3 2003, S. 121. 17 Piaget, Jean: Meine Theorie der geistigen Entwicklung, 1985, S. 41. Abbildung 3.1: Geistige Entwicklungslinie Die erste Periode nennt Piaget ›sensomotorisch‹, die bis ungefähr zum Alter von anderthalb Jahren dauert. Es ist eine Stufe vor der Sprache und Entwicklung von inneren Bildern, in der das Kind seine Umwelt wahrzunehmen beginnt. Die zweite Entwicklungsperiode nennt er ›präoperational‹. Diese prägt das Denken zwischen dem 2. und dem 7. Lebensjahr. In dieser Phase erwirbt das Kind das Instrument Sprache und lernt mit Bedeutungen umzugehen. Die dritte Periode nennt Piaget ›konkret-operational‹, in der Primarschulzeit, die die formalen Operationen umfasst. In dieser Periode werden Fähigkeiten konkreter. Kinder lernen, Aufgaben zu verstehen und zu lösen. Die vierte Stufe nennt er ›formal-operational‹. Diese umfasst den Zeitraum des reflektierenden Denkens, das nicht bei allen gleich entwickelt wird. 17 Mit seinem Modell zeigt Piaget die adäquate Ressourcennutzung der Heranwachsenden und einen modifizierbaren Umgang mit diesen Ressourcen. Egozentrismus kommt nach Piaget in der Gesamtentwicklung des Menschen eine grundlegende Bedeutung zu. Dabei handelt es sich um eine für natürlich empfundene Anthropozentrik der Heranwachsenden. Das Kind lebt im naiven Glauben, dass ›seine‹ Welt ›die‹ Welt schlechthin wäre. Diese intersubjektive Be‐ trachtung der Welt speist sich aus der kognitiven Unfähigkeit des Kindes zu de‐ zentrieren, dass es Unterschiede zwischen der eigenen und den anderen Ansichten gibt: »Von dem Tag an«, schreibt Kant, »da der Mensch anfängt durch Ich zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst […] zum Vorschein, und der Egoismus 2. Denken und das Stufenmodell von Jean Piaget 50 <?page no="50"?> 18 Kant, Immanuel: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 1983, S. 408. 19 König-Fuchs, Claudia: Egozentrismus im interkulturellen Kontext, 2005, S. 60. schreitet unaufhaltsam fort«. 18 Diesen Egozentrismus entdeckt Piaget bei der Ana‐ lyse der Genealogie der Denkformen als eine »vor-rationale, vor-objektive Hal‐ tung der Erkenntnis« 19 , die durch Interaktion und Bewusstwerdung von Gemein‐ samkeiten und Unterschieden der Ansichten überwunden werden könne. In diesem lebenslangen Prozess der Berührung mit anderen Denkformen und unref‐ lektierten Vorurteilen lernt der Heranwachsende nicht nur seine eigenen Grenzen kennen, sondern auch sein unerlässliches Angewiesensein auf die Mitwelt. Piaget stellt den Menschen von Anfang an ins Zentrum seines Interesses. Mit seinem evolutionären Ansatz zeigt er, wie der denkende Mensch zu dem wird, was er ist. Er zeigt auch, dass die Denkentfaltungsmöglichkeiten der Menschen unter‐ schiedlich sein können und dies wiederum für ihr Leben von grundlegender Be‐ deutung ist. Mit der Idee der geistigen Entwicklungslinie des Heranwachsenden hebt Piaget die Rolle der Erziehung hervor und führt vor Augen, dass die Erzie‐ hung einen erheblichen Einfluss auf die Entfaltung der individuellen Persönlich‐ keit des Menschen auszuüben vermag, die ihn ein Leben lang begleitet. Dieser Einflussfaktor ist auch bestimmend für die Art und Weise des Denkens, die wie‐ derum Einfluss nimmt auf die zwischenmenschliche Kommunikation. Die Analyse der Entwicklungslinie von Piaget zeigt die Parallelität der Ent‐ wicklung des Gehirns und die Entfaltungsmöglichkeiten von Persönlichkeiten. Das Gehirn steuert das gesamte Geisteskarussell des Menschen und damit auch sein gesamtes Verhalten. Diese Phase beginnt bereits in der Vorgeburtszeit, bis in die Geburtszeit hinein und dauert ein Leben lang an. Daher kann festgestellt werden, dass die menschliche Persönlichkeit sich in einem lebenslangen Prozess entwickelt und im Werden begriffen ist. Eine Persönlichkeit, die aus der untersten, der mittleren oder der obersten Schicht der Gesellschaft herkommt, unterhält, von wenigen Ausnahmen abge‐ sehen, in der Regel ein völlig anderes Selbst- und Weltverhältnis, das ebenfalls ausschlaggebend ist für die Kontakt- und Kompromisssuche mit anderen Men‐ schen im Rahmen seiner Begegnungen. Diese Differenzen beobachtet man, wenn der Mensch im Rahmen seiner Sozialisation oft unter dem Existenzmi‐ nimum leben musste und von Eltern erzogen worden ist, die entweder nicht seine waren oder ihn nicht angemessen behandelt haben. Auch Heranwach‐ sende, die in wohlhabenderen Verhältnissen gelebt haben, können derartige Defizite aufweisen. All diese Persönlichkeitsstrukturen verweisen darauf, dass Kommunikationsfelder oft Kampfplätze der Denkformen sind und sein können, und dies jenseits ihrer kulturellen Einbettungen. 2.2. Geistige Entwicklungslinien 51 <?page no="51"?> 3. Kampfplätze des Denkens Einige zentrale Handlungsbereiche des Denkens sind in den vorangegangenen Kapiteln eingehend untersucht worden. Diese Bereiche umfassen das Wechsel‐ verhältnis zwischen Gefühlswelten, Sprache und Kultur sowie Ur-Sehnsucht. Dazu gehört auch das Verhältnis zwischen Denken und Instinkt, welche signi‐ fikante Unterschiede zwischen menschlicher Intelligenz und tierischem Instinkt zeigen. Auch ist das Wechselverhältnis zwischen Denken, Wissenschaft und Politik sowie Gesellschaft und Kommunikation von außerordentlicher Bedeu‐ tung. Denken macht aus dem Menschen das, was er ist, und er benutzt sein Denken, wie er ist. Dementsprechend gestaltet er die Art und Weise seiner Be‐ gegnungen, in denen sich das Wechselverhältnis zwischen Denken und Handeln artikuliert. Der Mensch ist dasjenige Wesen, das in der Lage ist, sich durch das Denken die Türen des Paradieses zu öffnen, aber auch Katapulte zu bauen, um eine ganze Stadt in Brand zu stecken und zu zerstören. Diese Dualität führt Dienst und Verrat am Denken vor Augen und zeigt, dass das Denken sowohl dialogische Erhellung als auch unversöhnliche Gewalt erzeugen kann. Diese Dualität macht das Feld der zwischenmenschlichen Begegnungen zu einem Kampfplatz der Denkformen und individuell unterschiedlichen Mentalitäten. Die Frage nach Sinn und Funktion des Ausdrucks ›Kampfplätze des Denkens‹ ist mit guten Gründen von besonderer Wichtigkeit und es gibt einen subtilen Unterschied zwischen den Begriffen ›Kampf‹, ›Ringen‹ und ›Krieg‹. Krieg ist eine umfassend organisierte Gewalt unter Einsatz von Waffen. Das Ziel eines jeden Krieges ist das Erobern, Rückerobern oder die Begleichung bestimmter Rechnungen, die mit Macht und Einfluss verbunden sind. Krieg geht stets mit wütender Zerstörung einher. Wer gut organisiert ist und gut mit seinem Waf‐ fenarsenal umgehen kann, wird den Sieg davontragen. Dem Inhalt nach geht es beim Ringen, Boxen oder anderen Sportarten ähnlich zu. Es handelt sich zwar um einen Wettkampf, aber unter freiwillig eingegangenen Regeln, aus dem dann ein Sieger hervorgeht. Mutatis mutandis gilt dies auch für den Begriff ›Kampf‹. Auch hier geht es eher um eine körperliche Kraft, eine Auseinandersetzung auszutragen, aus der auch ein Sieger hervorgehen kann, aber nicht muss. Bei diesen drei Begriffen setzt sich in der Regel die Macht des Stärkeren und Cle‐ vereren durch. Der Machthabende oder Mächtige hat die Möglichkeit, unmit‐ <?page no="52"?> 1 Vgl. Galtung, Johan: Eine strukturelle Theorie des Imperialismus, 1980, S. 29 ff. telbar strukturelle Gewalt anzuwenden 1 , um sein Interesse beliebig durchzu‐ setzen. Im vorliegenden Fall wird von einem völlig anderen Kampf- und Streitbegriff ausgegangen. Es geht hier nicht um Sieger oder Verlierer, auch nicht um Sank‐ tionen, Allianzsuche oder die Bildung von Fraktionen, um Macht zu erlangen und Interessen durchzusetzen. Gemeint ist hier schlicht und ergreifend ein ar‐ gumentativer Austausch diverser Meinungen und Überzeugungen religiöser, kultureller, politischer sowie sozialer und wissenschaftlicher Art, die mit un‐ terschiedlichen Welt- und Menschenbildern einhergehen. Bei dem Ausdruck ›Kampfplätze des Denkens‹ oder ›Streit der Denksysteme‹ handelt es sich um eine wertschätzende Begegnung und ein gemeinsames Ringen unterschiedlicher Formen von Wahrnehmungen, wie ein Fenster aus dem jeweils eigenen Gebäude, durch das man die Welt betrachtet. Auf diesem Kampfplatz sind die Kommunizierenden bestrebt, sowohl zu verstehen als auch verstanden zu werden. Das vorliegende Praxisbuch der interkulturellen Kom‐ munikation sensibilisiert und zeigt diesem Komplex nach Wege mit praktischen Beispielen, die helfen, Handlungsmuster zu erkennen und zu lernen sich ange‐ messen zu verhalten. Wir müssen lernen, dass Kommunikation immer und überall zweckorientiert ist, die sich auf solchen Kampfplätzen der Denkformen zuträgt. Eine ziellose Kommunikation gibt es nicht. Wir betreiben sie, um uns zu orientieren und um die Welt zu begreifen und zu beherrschen, in der wir leben. Denken geht der Kommunikation voraus. Eine ängstliche Person denkt in der Regel anders und gestaltet ihre Kommunikation mit Menschen, die mutig sind ebenfalls anders. Dabei spielen neben diversen Formen der Bildung und sozialer Kompetenz der jeweiligen Personen auch die Primär- und Sekundär‐ sozialisation sowie frühkindliche Erfahrungen und familiäre Verhältnisse eine konstitutive Rolle. Es sind, wie bereits erwähnt, nicht Kulturen, die miteinander kommunizieren, sondern Menschen, die in unterschiedliche Kulturen hineingeboren und sozi‐ alisiert werden. Daher ist der Boden, auf dem die Kommunikation stattfindet, häufig ein Kampfplatz der Denksysteme, wie differierende Denk-Temperamente mit einer totalitären, autoritären, extrovertierten oder introvertierten Charak‐ terstruktur. Hinzu kommen die ganzen Schulen der Wissenschaften, wie die sogenannten Rationalisten, welche die Hermeneutiker als geistige Stinktiere stigmatisieren, die von der Wissenschaft nichts wüssten, oder feministische Strömungen mit ihren Kontrahenten. Auch auf dem Gebiet der Politik sind solche Kampfplätze zwischen den einzelnen Parteien innerhalb eines Landes, 3. Kampfplätze des Denkens 53 <?page no="53"?> 2 Vgl. Yousefi, Hamid Reza und Sarah Ginsburg: Kultur des Krieges, 2007. 3 Vgl. Schleichert, Hubert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren, 1999, S. 63 ff. 4 Vgl. Scheidgen, Hermann-Josef: Dimensionen der fundamentalistischen Einstellung, 2014, S. 131 ff. zwischen den Globalisten und ihren Gegnern innerhalb und zwischen den Kul‐ turen, sowie den säkularen und nichtsäkularen Befürwortern von Staatsformen, Allianzbildungen wie der westlich-freien Welt gegen den Rest der Welt festzu‐ stellen. 2 Ähnlich verhält es sich mit den Wortführern diverser Religionen, die ihren jeweils eigenen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch erheben. In gesell‐ schaftlichen Institutionen, zu denen Schule und Familie gehören, stehen diverse, sich oft ausschließende und bekämpfende Denkformen einander gegenüber. Drei Studien sind in diesem Zusammenhang zu nennen, die solche Phäno‐ mene offenlegen. Hubert Schleichert (*1935) geht von der These aus, dass der Mensch Zeit seines Lebens versuche, seine Position und seine Thesen durchzu‐ setzen. Dabei spielen oft Argumente eine sekundäre Rolle, sondern ideologische Einstellungen sind primär, mit denen jeder Vorwurf und jede Kritik abgeschmet‐ tert wird. Dabei zeigt Schleichert, wie man Schwachstellen der Diskussions‐ partner nutzt, um in Streitgesprächen besser zu bestehen. Bloße Toleranzap‐ pelle, die in der Regel, wie wir weiter unten sehen werden, Gehäusetoleranz darstellen, hält er für wirkungslos. Konflikte müsse man durch Lösung der re‐ alen Probleme beseitigen. Dies gelte insbesondere für alle Formen der nationa‐ listischen, rassistischen, religiösen, wirtschaftlichen und politischen Einstel‐ lungen. Für ganz problematisch hält Schleichert die Subversivität der Denkformen, die darauf ausgerichtet sind, im Verborgenen oder explizit, die bestehende Ordnung eines Systems durch Unterwanderung und Untergrabung umzustürzen. 3 Hermann Josef Scheidgen (*1957) verfährt ähnlich und beschreibt eine Reihe von fundamentalistischen Strömungen aus den Bereichen der Gesellschaft, Po‐ litik und Wissenschaft, die explizite Kampfplätze der Denkformen darstellen. Er hebt dabei die Historiographien hervor, in denen andere Geschichtsschrei‐ bungen verdreht und abgewertet werden, während die eigene als die richtige Geschichtsschreibung universalisiert und verabsolutiert wird. Das Gleiche gilt seiner Meinung nach für philosophische Weltbilder und verdrehte Wahrneh‐ mungskonstruktionen in der Politik, nach denen bestimmte Handlungen legi‐ timiert werden. 4 Peter Gerdsen (*1936) spricht in seiner Studie von einer geistigen Herrschaft, die in allen Kommunikationsformen verschiedentlich anzutreffen ist. Dabei gehe es zunächst um eine Beherrschung des Denkens, einschließlich seiner 3. Kampfplätze des Denkens 54 <?page no="54"?> 5 Vgl. Gerdsen, Peter: Das moralische Kostüm geistiger Herrschaft, 3 2014, S. 17. Bausteine und Begriffe. Herrschaft in diesem Sinne wird durch psychische Ge‐ walt und Erpressung oder moralischen Druck ausgeübt, um den Willen des Ge‐ genübers zu brechen und notfalls durch die Anwendung physischer Gewalt zu eigenen Gunsten zu verändern. Das ganze Unternehmen fußt auf einer subver‐ siven Denkform, die Gerdsen als moralisches Kostüm geistiger Herrschaft be‐ zeichnet. 5 Bei all diesen Kampfplätzen der Denkformen und Gesinnungen spielt der Begriff der ›Kultur‹ eine sekundäre Rolle, obgleich immer wieder eine solche Rolle unterstellt wird. Das Spannende und gleichsam Problematische ist hier die antinomische Bestimmung innerhalb und zwischen diesen Denkformen. Sie be‐ sagt, dass ein Sachverhalt unterschiedlich betrachtet werden könne. Wenn wir, wie das folgende Schaubild zeigt, sagen, Person oder Gruppe A könnte Recht haben, dann kann gleichsam gesagt werden, Person oder Gruppe B könne eben‐ falls Recht haben. 35 Bei all diesen Kampfplätzen der Denkformen und Gesinnungen spielt der Begriff der ›Kultur‹ eine sekundäre Rolle, obgleich immer wieder eine solche Rolle unterstellt wird. Das Spannende und gleichsam Problematische ist hier die antinomische Bestimmung innerhalb und zwischen diesen Denkformen. Sie besagt, dass ein Sachverhalt unterschiedlich betrachtet werden könne. Wenn wir, wie das folgende Schaubild zeigt, sagen, Person oder Gruppe A könnte Recht haben, dann kann gleichsam gesagt werden, Person oder Gruppe B könne ebenfalls Recht haben. Kampfplätze des Denkens Person oder Gruppe A Person oder Gruppe B Abbildung 3.1: Dichotomie-Modell Dieses Schaubild demonstriert zwei unterschiedliche, sich ausschließende Dispositionen. Das Positive bei der Antinomie ist, dass beide Denksysteme der Person oder Gruppe A und B ihre Behauptung geltend machen können. Das Negative ist aber, dass hier der Relativität Tür und Tor geöffnet werden. Der Mensch ist ein sinnliches Wesen und braucht etwas, um sich daran festzuhalten; er braucht eine feste Bodenhaftung, auf der er mit der ganzen Struktur und Geschichte seiner Persönlichkeit stehen kann. An diesem Scheideweg gabeln sich Kommunikationswege. Es gibt eine Reihe von Kommunikationsmodellen, die entweder relativistisch oder verabsolutierend konzipiert sind. Um die gesamte Palette solcher Kommunikationsformen auf ein handliches Format zu bringen, unterscheide ich zwischen zwei Modellen, in denen alle Elemente der Relativierung und Verabsolutierung vorkommen. 3.1. Universalitätskonzepte der Kommunikation Es liegt in der Natur der Sache, dass fast jeder, der Gedanken entfaltet, der Meinung ist, ein Stück ›Wahrheit‹ oder die ›Wahrheit‹ entdeckt zu haben. Ein solcher Mensch wird mit großer Wahrscheinlichkeit bestrebt sein, seine Meinung dem Rest der Welt als ultimativ zur Verfügung zu stellen. Solche Tendenzen finden wir nicht nur in den Religionen Judentum, Christentum und Islam, sondern auch im Buddhismus und Hinduismus, die sich auf unterschiedlichem Wege für wahr, absolut und alleinseligmachend halten. Dementsprechend scheint es selbstverständlich zu sein, diese Gesinnung oder Denkhaltung missionarisch und/ oder exklusivistisch nach außen zu tragen. Die Welt muss von diesem selbsterhobenen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch überzeugt werden. Jenseits religiöser Weltanschauungen gibt es in allen Kontexten der Politik, Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft der fünf Kontinente Schurken und Schurkenstaaten, die nach eigenem Selbst- und Weltverhältnis interagieren und Welthegemonien beanspruchen. Das Ergebnis ist oft Dissonanz, Hass und letztlich Krieg. Politiker arbeiten mit Wahrnehmungskonstruktionen, in denen Mensch und Welt und ihr Verhältnis zueinander unterschiedlich gesehen werden. 6 Je nach religiösem Hintergrund oder weltanschaulicher Gesinnung geht es auch ihnen um Rechte und Pflichten des Menschen sowie Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz, die sie ebenfalls gemäß ihrer Wahrnehmungskonstruktion unterschiedlich definieren und exklusivistisch nach außen tragen wollen. Hier geht es letztlich auch, wie bei den Religionen, um eine bestimmte Weltanschauung, die verbunden ist mit einem Wahrheits- und Absolutheitsanspruch. 6 Vgl. Böhr, Christoph, Kommunikation: Die politische Dimension eines Begriffs, 2015, S. 53 f. Abbildung 3.1: Dichotomie-Modell Dieses Schaubild demonstriert zwei unterschiedliche, sich ausschließende Dis‐ positionen. Das Positive bei der Antinomie ist, dass beide Denksysteme der Person oder Gruppe A und B ihre Behauptung geltend machen können. Das Negative ist aber, dass hier der Relativität Tür und Tor geöffnet werden. Der Mensch ist ein sinnliches Wesen und braucht etwas, um sich daran festzuhalten; er braucht eine feste Bodenhaftung, auf der er mit der ganzen Struktur und Geschichte seiner Persönlichkeit stehen kann. An diesem Scheideweg gabeln 3. Kampfplätze des Denkens 55 <?page no="55"?> 6 Vgl. Böhr, Christoph, Kommunikation: Die politische Dimension eines Begriffs, 2015, S. 53 f. sich Kommunikationswege. Es gibt eine Reihe von Kommunikationsmodellen, die entweder relativistisch oder verabsolutierend konzipiert sind. Um die ge‐ samte Palette solcher Kommunikationsformen auf ein handliches Format zu bringen, unterscheide ich zwischen zwei Modellen, in denen alle Elemente der Relativierung und Verabsolutierung vorkommen. 3.1. Universalitätskonzepte der Kommunikation Es liegt in der Natur der Sache, dass fast jeder, der Gedanken entfaltet, der Mei‐ nung ist, ein Stück ›Wahrheit‹ oder die ›Wahrheit‹ entdeckt zu haben. Ein sol‐ cher Mensch wird mit großer Wahrscheinlichkeit bestrebt sein, seine Meinung dem Rest der Welt als ultimativ zur Verfügung zu stellen. Solche Tendenzen finden wir nicht nur in den Religionen Judentum, Christentum und Islam, son‐ dern auch im Buddhismus und Hinduismus, die sich auf unterschiedlichem Wege für wahr, absolut und alleinseligmachend halten. Dementsprechend scheint es selbstverständlich zu sein, diese Gesinnung oder Denkhaltung mis‐ sionarisch und/ oder exklusivistisch nach außen zu tragen. Die Welt muss von diesem selbsterhobenen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch überzeugt werden. Jenseits religiöser Weltanschauungen gibt es in allen Kontexten der Politik, Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft der fünf Kontinente Schurken und Schurkenstaaten, die nach eigenem Selbst- und Weltverhältnis interagieren und Welthegemonien beanspruchen. Das Ergebnis ist oft Dissonanz, Hass und letzt‐ lich Krieg. Politiker arbeiten mit Wahrnehmungskonstruktionen, in denen Mensch und Welt und ihr Verhältnis zueinander unterschiedlich gesehen werden. 6 Je nach religiösem Hintergrund oder weltanschaulicher Gesinnung geht es auch ihnen um Rechte und Pflichten des Menschen sowie Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz, die sie ebenfalls gemäß ihrer Wahrnehmungskonstruktion unter‐ schiedlich definieren und exklusivistisch nach außen tragen wollen. Hier geht es letztlich auch, wie bei den Religionen, um eine bestimmte Weltanschauung, die verbunden ist mit einem Wahrheits- und Absolutheitsanspruch. Mit der Wissenschaft verhält es sich nicht anders. Ein Wissenschaftler, der hermeneutisch oder analytisch vorgeht, betrachtet die Welt und die Stellung des Menschen in ihr oft spezifisch anders. Ein analytisch arbeitender Philosoph will die Welt nach dem Prinzip der Objektivation und Widerspruchsfreiheit in Ein‐ 3. Kampfplätze des Denkens 56 <?page no="56"?> zelteile zerlegen und nach den empirischen Methoden für jeden begreifbar ma‐ chen. Auch ein hermeneutisch verfahrender Wissenschaftler ist auf seine Weise bestrebt, die Welt in Einzelteilen zu betrachten und als solches zu präsentieren. Beide erheben, wie das folgende Schaubild demonstriert, einen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, den sie häufig mit aller Gewalt nach außen durchsetzen möchten. 36 Mit der Wissenschaft verhält es sich nicht anders. Ein Wissenschaftler, der hermeneutisch oder analytisch vorgeht, betrachtet die Welt und die Stellung des Menschen in ihr oft spezifisch anders. Ein analytisch arbeitender Philosoph will die Welt nach dem Prinzip der Objektivation und Widerspruchsfreiheit in Einzelteile zerlegen und nach den empirischen Methoden für jeden begreifbar machen. Auch ein hermeneutisch verfahrender Wissenschaftler ist auf seine Weise bestrebt, die Welt in Einzelteilen zu betrachten und als solches zu präsentieren. Beide erheben, wie das folgende Schaubild demonstriert, einen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, den sie häufig mit aller Gewalt nach außen durchsetzen möchten. Kampfplätze des Denkens Politik Religion Abbildung 3.2: Kampfplätze des Denkens Wissenschaft Gesellschaft Geschichte Literatur Kunst Philisophie Diese drei Bereiche führen in aller Kürze vor Augen, dass in allen Diskursen unterschiedliche Denkkulturen aufeinandertreffen, die sich gegenseitig ablehnen und letztlich bekämpfen können. In allen im Schaubild gezeigten Bereichen stehen sich miteinander konkurrierende Meinungen und Thesen gegenüber, die einander ausschließen, ergänzen, kritisieren oder versuchen, sich gegenüber den anderen in ihrer Deutungshoheit durchzusetzen. Diskurse, Debatten sowie Dialoge zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen, Gesellschaften und Nationen zeigen anschaulich die Natur solcher Kampfplätze des Denkens, aus denen unweigerlich praktischen Kampfplätze des Handelns hervorgehen. Dieses inhärente Konkurrenzstreben hat bedenkliche Folgen für jeden Versuch einer kulturübergreifenden Verständigung, insofern hierin bestimmte Stigmatisierungen, Zuschreibungen und Verallgemeinerungen angelegt sind, die sich gegenüber bestimmten Standpunkten positionieren. Auf diesem Wege etablieren sich rasch hierarchische Strukturen eines negativen Machtbegriffes, der alle Bereiche des Schaubildes erfassen und im eigenen Sinne zu ordnen bestrebt ist. Das Ziel einer dialogischen Kommunikation dieser Bereiche, die viele weitere Bereiche beinhalten, ist nicht immer die gleichseitige Suche nach Gemeinsamkeiten, Differenzen und Überlappungen. Die Praxis solcher Versuche sehen wir in Begegnungen von Politikern, religiösen Wortführern und Wissenschaftlern auf intra- und interkulturellen Ebenen. Was aber häufig dabei unterschwellig zum Vorschein kommt und oft nicht gesehen wird, ist die Subjektivität aller Sichtweisen: Eine Subjektivität, die gleichsam von vielen Kommunizierenden als ›reine Objektivation‹ missverstanden wird. In keinem dieser Bereiche herrscht das Prinzip Intersubjektivität, nach dem behauptet werden kann, dass alle Beteiligten das Gleiche denken und das Gleiche meinen. Tun wir das, so müssen wir voraussetzen, dass im Menschen dieselbe Software installiert ist, die wir in einer Waschmaschine finden können. Dementsprechend funktionieren alle Menschen immer und überall nach einer Gebrauchsanweisung. Weil aber Menschen aufgrund ihres inneren Vermögens unterschiedlich denken, obschon sie über denselben Kognitionsapparat verfügen, kommen ihre Denkweisen, Denknutzungen und Denkleistungen unterschiedlich zum Tragen, was ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen ist. Abbildung 3.2: Kampfplätze des Denkens Diese drei Bereiche führen in aller Kürze vor Augen, dass in allen Diskursen unterschiedliche Denkkulturen aufeinandertreffen, die sich gegenseitig ab‐ lehnen und letztlich bekämpfen können. In allen im Schaubild gezeigten Berei‐ chen stehen sich miteinander konkurrierende Meinungen und Thesen gegen‐ über, die einander ausschließen, ergänzen, kritisieren oder versuchen, sich gegenüber den anderen in ihrer Deutungshoheit durchzusetzen. Diskurse, De‐ batten sowie Dialoge zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen, Gesell‐ schaften und Nationen zeigen anschaulich die Natur solcher Kampfplätze des Denkens, aus denen unweigerlich praktischen Kampfplätze des Handelns her‐ vorgehen. Dieses inhärente Konkurrenzstreben hat bedenkliche Folgen für jeden Versuch einer kulturübergreifenden Verständigung, insofern hierin be‐ stimmte Stigmatisierungen, Zuschreibungen und Verallgemeinerungen ange‐ legt sind, die sich gegenüber bestimmten Standpunkten positionieren. Auf diesem Wege etablieren sich rasch hierarchische Strukturen eines negativen 3.1. Universalitätskonzepte der Kommunikation 57 <?page no="57"?> Machtbegriffes, der alle Bereiche des Schaubildes erfassen und im eigenen Sinne zu ordnen bestrebt ist. Das Ziel einer dialogischen Kommunikation dieser Bereiche, die viele weitere Bereiche beinhalten, ist nicht immer die gleichseitige Suche nach Gemeinsam‐ keiten, Differenzen und Überlappungen. Die Praxis solcher Versuche sehen wir in Begegnungen von Politikern, religiösen Wortführern und Wissenschaftlern auf intra- und interkulturellen Ebenen. Was aber häufig dabei unterschwellig zum Vorschein kommt und oft nicht gesehen wird, ist die Subjektivität aller Sichtweisen: Eine Subjektivität, die gleichsam von vielen Kommunizierenden als ›reine Objektivation‹ missverstanden wird. In keinem dieser Bereiche herrscht das Prinzip Intersubjektivität, nach dem behauptet werden kann, dass alle Beteiligten das Gleiche denken und das Gleiche meinen. Tun wir das, so müssen wir voraussetzen, dass im Menschen dieselbe Software installiert ist, die wir in einer Waschmaschine finden können. Dementsprechend funktionieren alle Menschen immer und überall nach einer Gebrauchsanweisung. Weil aber Menschen aufgrund ihres inneren Vermögens unterschiedlich denken, obschon sie über denselben Kognitionsapparat ver‐ fügen, kommen ihre Denkweisen, Denknutzungen und Denkleistungen unter‐ schiedlich zum Tragen, was ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen ist. Diese Tatsache ist ein Grund dafür, dass überall, wo Kommunikation stattfindet, gleichsam Kampfplätze des Denkens entstehen; Denksysteme, die sich gegen‐ seitig als Universalitätskonzepte wahrnehmen und die Welt nach diesem Welt‐ bild konstituieren. 3.2. Partikularitätskonzepte der Kommunikation Ein Problem, das daraus resultiert, ist, dass solche Universalitätskonzepte alle anderen Ansätze als partikuläre Randerscheinungen stigmatisieren und öffent‐ lich angreifen, um sie gefügig zu machen. Hier wird das Kommunikationsfeld ein Kampfplatz der Denkform. Um solcherlei Vorstellungen gefügig zu machen, wird ihnen durch Gruppendruck suggeriert, sie seien ›Regionalideologien‹ oder ›Regionalkulturen‹, die das Globale nicht sehen und sich nicht anpassen wollen. Ein Paradebeispiel in diesem Zusammenhang ist das Konzept der Menschen‐ rechte. Die selbsternannte Alpha-Kultur entwirft mit ihren Verbündeten ein solches Konzept, das nicht nur verabsolutiert und für universal gehalten wird, sondern auch alle anderen werden aufgefordert und durch Sanktionen ge‐ zwungen, sich danach zu richten. Das folgende Schaubild demonstriert die Mentalität der Alpha-Kultur: 3. Kampfplätze des Denkens 58 <?page no="58"?> Dominanzanspruch der Alpha-Kultur Kultur N Abbildung 3.3: Dominanzanspruch der Alpha-Kultur Kultur B Kultur C Kultur Y Kultur H Kultur B Kultur Z Kultur K Kultur P Abbildung 3.3: Dominanzanspruch der Alpha-Kultur Eine Alpha-Kultur beinhaltet diejenige Vorstellung, alleinseligmachend über alle Komponenten der Freiheit zu verfügen, die das Wohlergehen garantieren und gewährleisten. Dementsprechend schreibt die Alpha-Kultur per Diktum vor, was Menschenrechte sind bzw. nicht sind, was Recht bzw. Unrecht bedeutet. Das Denken der Alpha-Kultur ist notgedrungen, aufgrund der eigenen Selbst‐ überzeugung subversiv. Durch gezielten Druck auf die unter ihr subsumierten ›Kulturen‹ beabsichtigt die Alpha-Kultur einerseits, ihre derzeitige Machtposi‐ tion zu stärken und andererseits jedweden Widerstand gegen sie im Keim zu unterdrücken. Dabei verhalten sich die von ihr beherrschten Kulturen im akuten Zustand der Unterdrückung zueinander oftmals durchlässig und treten nicht selten in Bündnisse miteinander, um die vorherrschende Macht der Alpha- Kultur zu unterwandern oder gegebenenfalls zu brechen. In den Wissenschaften ist ein solches Schaubild leicht auf die Geschichtswissenschaften übertragbar und erinnert an den berühmten Ausspruch Winston Churchills (1874-1965) ›Geschichte wird von den Siegern geschrieben‹. In einem solchen Zusammenhang wird das eigene Geschichtsbild, die eigene Erinnerungskultur und Geschichtserfahrung sowie das eigene Welt- und Men‐ schenbild latent ebenfalls verabsolutiert und für alleinseligmachend gehalten. Gleichsam erscheinen andere Konzepte als traditionell und menschenrechts‐ verletzend, denen man unterstellt, despotisch zu sein. Person A übersieht hier die eigene einseitige und despotische Partikularität, die unbeirrt für universal gehalten wird. Um die anderen geistig zu entwaffnen und als Moralapostel zu 3.2. Partikularitätskonzepte der Kommunikation 59 <?page no="59"?> 7 Vgl. Schleichert, Hubert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren, 1999, S. 112 ff. erscheinen, wird immer wieder der angebliche Despotismus der anderen welt‐ öffentlich mit Gruppendruck betont. Diese Strategie verschleiert die eigene des‐ potische Haltung der Alpha-Kultur. Eine Kommunikation wird nach dem Dafürhalten der Alpha-Kultur immer dann als fruchtbar erachtet, wenn der andere bereit ist, sich von seiner Haltung zu distanzieren und die Grundsätze der ›Universalisten‹ zu akzeptieren. Dieses konfliktive Denken ruft unmittelbar Wut und Zorn des Gegenübers hervor, der den ›Universalisten‹ das Gleiche vorwirft. Auf diesem Kampfplatz der Denk‐ systeme hört die Kommunikation auf, wirklich Kommunikation zu sein. Was ihren Sinn und Zweck bestimmt, ist die wechselseitige Durchsetzung von Macht und Interesse bzw. Faktizität und Geltung, die Konflikte nach sich ziehen. Die sogenannte Alpha-Kultur stellt sich in den Mittelpunkt und betrachtet den Rest der Welt als Peripherie. Die gesamte Kommunikationsbestrebung der Alpha- Kultur läuft von oben nach unten. Ihr entgeht dabei, dass Kommunikation keinen Konsens darstellt, sondern einen Aushandlungsprozess beschreibt. Wer versucht, sein Diktum zur Grundlage der Kommunikation zu machen, ist ge‐ zwungen, kulturhierarchisch zu denken und zu handeln. Lassen wir die Geschichte der Kommunikation Revue passieren, so kann, wie erwähnt, eine Zentrum-Peripherie der Kommunizierenden auf der Weltebene beobachtet werden. Das Zentrum ist strukturell bestrebt, überall dort Gewalt auszuüben, wo eigene Machtinteressen in Gefahr geraten. Strukturelle Gewalt bedeutet in diesem Zusammenhang, die Widersacher der eigenen Ideologie durch Allianzbildung daran zu hindern, sich gemäß ihres eigenen Potentials zu entwickeln oder sie vollständig zu vernichten. Diese subversive Denkform ist im Verborgenen oder explizit bemüht, die bestehende Ordnung eines aus deren Sicht ›unbeliebten‹ politischen Systems durch Unterwanderung und Untergra‐ bung (Regimewechsel) zu ersetzen. 7 Auf medialer Ebene werden solche Regie‐ rungssysteme dämonisiert und als Gefahr dargestellt. Der bekannte Ausdruck ›Zuckerbrot und Peitsche‹ in der internationalen Politik ist ein Bestandteil der Zentrum-Peripherie-Strategie. Dies besagt, dass sich der Widersacher erst dann selbst entfalten kann, wenn die Erfordernisse der Alpha-Kultur als internatio‐ nale Norm anerkannt werden. Dafür gibt es Zuckerbrot. Ist das Gegenteil der Fall, gibt es Peitsche. Es ist offensichtlich, dass derartig postulatorische Kommunikationsmodelle aufgrund ihrer ideologischen Enge weniger zum Gelingen des dialogischen Denkens und kommunikativer Begegnung der Individuen, Gruppen und Völker 3. Kampfplätze des Denkens 60 <?page no="60"?> beitragen können. Die Erfahrungen zeigen, dass solche Ansätze des ›Entweder-Oders‹ jeden Versuch, miteinander zu kommunizieren, destruieren. Daher empfiehlt es sich, wenn überhaupt ein Interesse an einer echten und wechselseitigen Verständigung besteht, neue Wege zu beschreiten, um die dar‐ gestellten ›Kampfplätze‹ des Denkens in einem ›Dialogplatz‹ des Denkens zu überführen. Mein vorzuschlagendes Konzept ist die Praxis einer kontextuellen Kommu‐ nikation, die ich weiter unten systemisch entfalten werde. Der Kontext be‐ schreibt dabei unterschiedliche Handlungsfelder. Weil mein Entwurf auf den Ansatz der Interkulturalität aufbaut, ist zunächst die Frage zu klären, wie sich dieser Ansatz von den Konzepten der Multi- und Transkulturalität unter‐ scheidet. 3.2. Partikularitätskonzepte der Kommunikation 61 <?page no="61"?> 1 Vgl. Demorgon, Jacques u.a.: Multikultur, Transkultur, Leitkultur, Interkultur, 2006. 2 Vgl. Welsch, Wolfgang: Transkulturalität, 1992. 4. Transkultur - Multikultur - Interkultur - Plurikultur In den letzten 30 Jahren ist eine Reihe von Konzepten entwickelt worden, um dem Zeitgeist Rechnung zu tragen. Die Notwendigkeit solcher Diskursbeiträge und Theorien wird dadurch begründet, dass eine weltweite Entgrenzung statt‐ gefunden hätte. In der Tat hat die Welt eine neue Umwälzung erfahren. Kulturen öffnen sich, Völkerwanderungen nehmen an Intensität zu und Menschen können durch die Entwicklung von sozialen Netzwerken in Sekundenschnelle miteinander kommunizieren. Drei Theorien lassen sich voneinander unterscheiden: Trans-, Multi- und Interkulturalität 1 , welche die geistige Weltsituation trefflich umschreiben und die geistige Verfasstheit der Kulturen in ihrer Tiefe und Breite betrachten. Frei‐ lich bringt auch diese vielfältige Weltsituation Fragen und Herausforderungen mit sich. Die entwickelten Theorien sind von Mannigfaltigkeit geprägt. 4.1. Transkulturalität Der Ansatz der Transkulturalität erblickt in dieser Entgrenzung der Kulturen auch eine Entindividualisierung der Völker. Dieser Ansatz wurde in keinem Zusammenhang systematisch beschrieben. Es gibt lediglich einige kleine Bei‐ träge, die ebenfalls keine Grundlage für eine ernstzunehmende Diskussion bieten. 2 Der Ansatz der Transkulturalität geht von einem ›Durcheinander der Kulturen‹ aus, die ineinander auslaufen und das Wesen der Globalisierung aus‐ machen. Transkulturalisten verunglimpfen ihre Widersacher als bornierte Ver‐ treter von Regionalkulturen. Wolfgang Welsch (*1946) ist der führende Theoretiker der Transkulturalität, der außer einigen kleineren Beiträgen die Systematik dieses Ansatzes in keinem Zusammenhang beschrieben hat. Seine Grundthese konzentriert sich auf eine grundsätzliche Kritik zu den Ansätzen der Multi- und Interkulturalität. Diesen wirft er separierende Tendenzen vor und unterstellt, diese schleppten den alten Kulturbegriff mit sich, nach dem alle Kulturen als separate Einheiten ohne mög‐ <?page no="62"?> 3 Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation, 4 2016, S. 22. 4 Vgl. Welsch, Wolfgang: Transkulturalität, 1992. 5 Vgl. Neubert, Stefan u.a.: Multikulturalität in der Diskussion, 2 2008. lichen Einfluss aufeinander existieren. Dementsprechend kann von Kultur A, B, C oder D gesprochen werden, die einander wesensfremd sind und deren Mi‐ schung nur verheerende Folgen für ihre Träger haben könne. Das Konzept der Transkulturalität beschreibt »Phänomene und Prozesse, die die Grenzen einer Kultur […] überschreiten und hierdurch mehreren Kulturen oder Kulturräumen gemeinsam sind.« 3 Transkulturalität findet nach Welsch auf zwei Ebenen statt. Auf der Makro‐ ebene befasst sie sich mit der externen Vernetzung der heutigen Gesellschaften, in denen fremde Elemente mittlerweile zur Gewohnheit geworden sind. Auf der Mikroebene zeigt sie, dass jedes Individuum mehr als eine kulturelle Herkunft aufweist, und daher zwischen individueller Identität und nationaler Identität unterschieden werden muss. Welsch zeigt ferner, dass die Theorie der Trans‐ kulturalität keineswegs ein neu entdecktes Konzept ist, sondern schon lange Teil der Geschichte ist. »Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt - wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen.« 4 Das Paradoxe an Welschs Kritik ist, dass er dies nicht genügend begründet. Vielmehr scheint seine kritische Abwertung dieser Ansätze allein begründet aus der Aufwertung der eigenen Idee der Transkulturalität, die letztlich vage bleibt. Nicht nur Welsch mit seinem Ansatz sondern auch alle anderen transkulturell anmutenden Theorien beantworten die Frage, wer und wie Inhalte und Aus‐ richtung dieses Universalitätskonzeptes der Transkulturalität gestaltet. Handelt es sich hier um eine weltweite Zusammenkunft verschiedener Vertreter, die Konzepte der Globalisierung aushandeln, oder geht es um die europäisch-west‐ liche Hemisphäre, die ein solches Universalitätskonzept ausruft? Tendenziell setzen derartige theoretische Bestrebungen die europäisch-westliche Hemi‐ sphäre als Alpha-Kultur voraus, die als Wortführerin der Globalisierung und damit der Welt gilt. 4.2. Multikulturalität Das Konzept der Multikulturalität ist das zur Transkulturalität gegenläufige Konzept, mit gewissen Ähnlichkeiten. Sie nimmt an, dass Kulturen einander wesensfremd seien und jede Berührung eine Verunreinigung des Eigenen zur Folge habe. 5 Um der Überfremdung der eigenen Kultur entgegenzuwirken, 4.2. Multikulturalität 63 <?page no="63"?> 6 Vgl. Rathje, Stefanie: Multikollektivität, 2014. 7 Vgl. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen, 3 1997. 8 Ebenda, 3 1997 S. 68. 9 Vgl. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation, 2006, S. 15 f. streben die Multikulturalisten eine totale Homogenisierung der fremden Kul‐ turträger innerhalb der eigenen Leitkultur an. Dieser Ansatz wird dann proble‐ matisch, wenn vermutet wird, dass Kulturen wie Billardkugeln seien und ei‐ genständig nebeneinander ›leben‹ könnten, ohne miteinander in Berührung zu kommen. Das Konzept der Multikulturalität besitzt monokollektive Züge, die jeder Haltung der Multikollektivität bzw. Multidiversität abträglich ist 6 , worauf ich weiter unten eingehen werde. Der öffentlichkeitswirksamste Vertreter einer geschlossenen Konflikttheorie der Gegenwart ist Samuel P. Huntington (1927-2008), der mit seiner Kultur‐ kampfrhetorik die These eines clash of civilizations oder ›Zusammenprall der Zivilisationen‹ aufgestellt hat. 7 Für ihn sind Kulturen wie Kugeln, die einander wesensfremd sind und sich im ständigen Kampf befinden. Huntington teilt die gegenwärtige Welt in zwei Lager auf, nämlich den ›Westen‹ und den Rest der Welt. Huntington schreibt ganz im Sinne des Universalismuskonzeptes: »Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen, oder der Werte oder seiner Religion, sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt. Die Westler vergessen oftmals diese Tat‐ sache; die Nichtwestler vergessen sie niemals.« 8 Die Übertragung dieser Annahme auf die Gesellschaft erweist sich aus zwei Gründen für nicht haltbar: Einerseits existiert kein Mensch und somit auch keine Gemeinschaft von Menschen, die innerhalb eines spezifischen Ausdehnungs‐ raumes ›Staat‹ als ›Gesellschaft‹ bezeichnet werden könnte. Der Mensch steht in beständigem Austausch mit anderen, sie umgebenden Gesellschaften. Ande‐ rerseits ist zu beachten, dass sowohl der Begriff ›Gesellschaft‹ in seiner Funktion als Bezeichnung der Vielzahl einer potentiell ähnlich gearteten Gruppe von Personen innerhalb eines bestimmten, geographischen Raumes, wie auch der‐ jenige der ›Kultur‹, den das starre, geschlossene Kulturmodell vorstellt, lediglich als ›vorgestellt‹ betrachtet werden können. Das bedeutet, dass ›die Gesellschaft‹ und ebenso ›die Kultur‹ lediglich als illusionäre, vorgestellte Begriffe existieren können, die als Platzhalter bestimmter Theoreme und Analysen dienen. 9 Nach dem geschlossenen Kulturbild ›leben‹ Menschen ebenfalls als unver‐ änderbare Identitäten nebeneinander. Hier kann von Kultur-Identität A und Kultur-Identität B usw. gesprochen werden, die im Diskurs wie Billardkugeln aufeinanderprallen. Auch dieser Ansatz bietet keine theoretische Basis für eine 4. Transkultur - Multikultur - Interkultur - Plurikultur 64 <?page no="64"?> immer komplexer werdende Welt. Das Konzept der Multikulturalität geht von einem ›Nebeneinander‹ der Kulturen aus. Die Kritik Welschs trifft auf alle Dimensionen der Multikulturalität zu, weil sie sich in der Tat separatistisch verhält. Diese Eigenschaft lässt sich am Beispiel der Integration verdeutlichen. Integration bedeutet im Allgemeinen, sich als Bestandteil einer Gesellschaft zu fühlen, ohne sich gänzlich aufzugeben. Sie wird aber im Kontext der Multikulturalität disparat verstanden. Diejenigen, die sich innerhalb dieser Kultur bewegen, haben sich den Bedingungen der Leitkultur anzupassen. Wenn bspw. die Angehörigen der Kultur-Identität B mit den An‐ gehörigen der Kultur-Identität A zusammenkommen, die sich als Alpha-Kultur wahrnimmt, so haben sich erstere völlig anzupassen. Dies bedeutet in der Praxis, dass sie auch weiteste Teile ihrer Gewohnheiten aufgeben und sich assimilieren. So gesehen heißt Integration nach diesem Konzept praktische Assimilation. Weil es so etwas wie Assimilation ohne Integration gibt, sollte über Sinn und Funk‐ tion der Integration erneut kritisch nachgedacht werden. Assimilation im Kontext der Kommunikation ist in vielerlei Hinsicht außer‐ ordentlich problematisch. Im Allgemeinen wird darunter die völlige Aufgabe des eigenen Selbst verstanden. Dies bedeutet das Auslaufen der eigenen Denk- und Gefühlswelt sowie des Kultur- und Geschichtsverständnis des Eigenen zu Gunsten der neuen, zu assimilierenden Kultur. Dass dies nicht möglich ist, soll das folgende Beispiel verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, man wolle wie Marylin Monroe leben. Psychologisch betrachtet, genügt es nicht, sie nur stimmlich nachzuahmen und gewisse Posen einzunehmen. Wenn man Marylin Monroe werden möchte, ist man gezwungen, denjenigen Sprachduktus nachzuahmen, den sie gesprochen hat, diejenige individuelle Kultur zu verinnerlichen, die sie gepflegt hat, sich das Aussehen zu eigen zu machen, das sie präsentiert hat, sich so zu ernähren, wie sie es getan hat, und sich mit 36 Jahren das Leben zu nehmen. Wir wissen, dass sie Alkoholikerin war, dass sie Tabletten genommen hat und unter mass‐ iven Depressionen gelitten hat. Auch die enormsten Anstrengungen werden nicht dazu führen, zur Identität einer Marylin Monroe zu gelangen. Derjenige, der danach strebt, wird immer lediglich nur eine Rolle spielen, die nicht seine eigene ist, und sich damit der Lächerlichkeit preisgeben. Es ist anzunehmen, dass solche Rollenspiele Menschen eindimensional macht und von sich selbst entfremdet. Diejenigen also, die danach streben, Marylin Monroes Lebenskonzept zu ver‐ innerlichen, haben sich von dem zu verabschieden, was sie einst gewesen sind; sie werden aber auch kaum zu dem werden können, was Marylin Monroe ist. 4.2. Multikulturalität 65 <?page no="65"?> 10 Vgl. Falaturi, Abdoldjavad (Hrsg.): Der Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland, 1986-1990. Alles bleibt eine Annäherung zu Gunsten der Aufgabe der eigenen Person, der eigenen Identität, der eigenen Persönlichkeit und der eigenen Lebensführung. Eine solche Verunstaltung des eigenen Wesens kann kaum das Ziel einer ernst zu nehmenden Kommunikation in interkultureller Absicht sein. Selbst das Konzept der Integration ist mit Problemen verbunden. Integration im Kontext der Interkulturalität ist kontextuell ausgerichtet. Dies bedeutet, dass diejenigen Individuen, die sich innerhalb einer fremden Gesellschaft bewegen und immer wieder den Kontext wechseln, gezwungen sind, sich immer wieder neu zu erklären. Wenn bspw. zwei Studierende mit Migrationshintergrund in einem Stadtteil wohnen und von ihren Nachbarn mehr oder minder akzeptiert sind und bald innerhalb des gleichen Ortes umziehen, haben sie sich erneut zu erklären. Dies äußert sich praktisch in Fragen wie: ›Wo kommen Sie her? ‹, ›Sie sprechen gut unsere Sprache, warum sind Sie überhaupt hier? ‹, ›Wann gehen Sie wieder nach Hause? ‹ Der Kontextwechsel, wie wir sehen, trägt dazu bei, dass sich Integration und Assimilation in einer Daueroszillation bewegen, weil der zu Integrierende immer wieder Erklärungen abgeben muss, warum er da ist und wann er nach Hause geht. Dadurch entsteht psychologisch ein Gefühl des un‐ aufgehobenen Aufgehobenseins in einer Gastkultur, das Unbehagen nach sich zieht. Dies sind Gründe, warum es zweckdienlich erscheint, von einer Kontex‐ tualität einer Integration auszugehen. 4.3. Inklusive Interkulturalität Das Konzept der Interkulturalität ist in den letzten Jahren in Verruf geraten. Dies hängt mit der problematischen Entwicklung dieses Begriffs zusammen, die eng mit der Entstehung der interkulturellen Philosophie im deutschsprachigen Raum in Verbindung gebracht werden kann. Abdoldjavad Falaturi (1926-1996), der auch den Lehrstuhl für Islamwissenschaften innehatte, wirkte in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in Köln. Seine Grundabsicht war die Förderung des ›Dialogs der Religionen‹ durch die Verbesserung der deutschen Schulbücher im Hinblick auf allgemeine Vorurteile und historisch gewachsene Stereotype gegen den Islam. 10 In den 1980er Jahren hat Falaturi mit seiner Habilitationsschrift ›Umdeutung der griechischen Philosophie durch das islamische Denken‹ in seinem Wir‐ 4. Transkultur - Multikultur - Interkultur - Plurikultur 66 <?page no="66"?> 11 Vgl. Falaturi, Abdoldjavad: Die Umdeutung der griechischen Philosophie durch das isla‐ mische Denken, 2018. 12 Vgl. Mall, Ram Adhar und Dieter Lohmar: Philosophische Grundlagen der Interkultura‐ lität, 1993. 13 Vgl. Mall, Ram Adhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen, 1995. 14 Vgl. Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie, 2004, S. 19. 15 Vgl. Stenger, Georg: Philosophie der Interkulturalität, 2006, S. 1023 f. kungskreis ein Signum gesetzt. 11 Zu denjenigen Menschen mit Migrationshin‐ tergrund, die mit ihm verbunden waren, zählte Ram Adhar Mall (*1937). Aus seinem Konzept des interreligiösen Dialoges haben sie, ebenfalls in Köln, ein Konzept der interkulturellen Philosophie entwickelt. Falaturi hat bis einige Jahren vor seinem Tod mit Mall und anderen über Themen wie Interkulturalität und Interreligiosität Vorträge gehalten. Das Anliegen der Interkulturalität und interkulturellen Philosophie wird be‐ reits im ersten Band der ›Studien zur interkulturellen Philosophie‹ 12 von der ›Internationalen Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie e.V.‹ bearbeitet, die Mall mit einigen Schülern Falaturis ins Leben gerufen hat. Alle Autoren des Bandes, zu denen auch Mall und Wimmer (*1942) gehören, betrachten Kulturen als diverse Konfigurationen mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Ähnlich wie eine Software, die in unterschiedlicher Hardware installiert ist. 13 Ziel dieser Positionierung ist und bleibt bis heute die unendliche Suche nach Überlap‐ pungen. Besonders problematisch wird ein solcher Ansatz dann, wenn in diesen kreisförmigen Kulturvorstellungen kulturimmanente Philosophien gesehen werden. Es ist daher verständlich, dass Mall von ›Philosophie im Vergleich der Kulturen‹ und Wimmer vom ›Polylog‹ als einer Vielzahl an Gesprächen ›zwi‐ schen den Kulturen‹ ausgehen. 14 Georg Stenger (*1957) übernimmt diesen tra‐ ditionellen Kultur- und Philosophiebegriff. Dabei geht er einen Schritt weiter und überführt die Interkulturalität in eine ›Intermundaneität‹ 15 , um den Welt‐ charakter der einzelnen Kulturen zu unterstreichen. Bei all diesen Bemühungen der insbesondere interkulturell arbeitenden Phi‐ losophen, die sich gleichsam mit der Praxis der interkulturellen Kommunikation auseinandersetzen, wird das ›Prinzip Heterogenität‹ als Hinweis auf die Diver‐ sität von Denkformen innerhalb der Kulturräume vernachlässigt. Die gesamte Gewichtung und Orientierung ist hingegen auf ›Kulturen‹ und ihre ›Kommu‐ nikation‹ untereinander fokussiert. Hier zeigt sich der Konstruktcharakter des angenommenen Kulturbegriffs, der entweder mit vielen essentialistischen und exotisierenden Vorurteilen und Stereotypen versehen ist oder solche verursacht. Diese auf verschiedenen Wegen destruierende Kultur- und Philosophiewahr‐ nehmung hat ferner zu der Annahme verleitet, interkulturelle Philosophie ver‐ 4.3. Inklusive Interkulturalität 67 <?page no="67"?> 16 Földes, Csaba: Black Box ›Interkulturalität‹, 2009, S. 512. 17 Vgl. Dahlén, Tommy: Among the Interculturalists, 1997, S. 177. fahre ausschließlich vergleichend. Diese Fehlentwicklung hat fatale Folgen für die öffentliche Wahrnehmung und Akzeptanz des Interkulturalitätsbegriffs, der dadurch in Verruf geraten ist. Die kugelhafte Vorstellung von Kultur hat auch Nachahmer gefunden, wie Csaba Földes (*1958) und Alexander Thomas. Földes geht ebenfalls von dem besagten traditionellen Kulturbegriff aus und sieht in dem Konzept der Inter‐ kulturalität ein Phänomen, das »zur Herausbildung einer ›dritten Größe‹ führt«. 16 Auch für Thomas bilden Kulturen geschlossene Kreise und Sinnsys‐ teme, mit Betonung auf ihrer konkreten Essentialität. In Kulturen sieht er Ge‐ genstände, die leicht nach objektiven Kriterien miteinander vergleichbar wären. Deshalb spricht er, wie oben bereits erwähnt, in seinen Konzepten über Kultur‐ standards und legt einen ganzen Katalog vor, wie man Kulturen versteht und kulturvergleichend arbeitet. Die Eckpunkte des Ansatzes von Thomas, die früher von Norbert Elias (1897-1990) und Bronislaw Malinowski (1884-1942) vertreten worden sind, finden wir auch in Studien von Anthropologen wie Ri‐ chard Nisbett und Simon Ehlers. Für diese Kulturwissenschaftler sind Kulturen verschiedene Betriebssysteme, die einander wesensfremd sind. Die Rede vom ›Dialog der Kulturen‹, ›Dialog der Religionen‹, ›Dialog der Philosophien‹ fußt auf einem solchen, geschlossenen Kulturbegriff. So wird das Feld des Dialogs zwischen den Kulturen und Philosophien zu einem Kampfplatz der Denkformen, die den Grundabsichten von Verstehen und Verständigung zwischen den Men‐ schen und über die Kulturen hinaus abträglich ist. Kulturen sind für diese ext‐ remen Interkulturalisten, wie Tommy Dahlén zu Recht feststellt, kohärente Sys‐ teme, die aus allgemein geteilten Werten und unbewussten Dispositionen bestehen. 17 In den letzten 20 Jahren habe ich immer wieder darauf insistiert, interkultu‐ relle Philosophie benötige eine erkenntnistheoretische Grundlage und einer ge‐ nauen Betrachtung des zugrundeliegenden Kulturbegriffs. Heinz Kimmerle (1930-2016) ist derjenige interkulturell arbeitende Philosoph, der vergeblich versucht hat, eine Änderung innerhalb des interkulturellen Denkens herbeizu‐ führen. Diese fachliche Dissonanz hat zur Zersplitterung der interkulturellen Werkstätten der einzelnen Vertreter, zu denen auch ich selbst gehöre, geführt. Es ist außerordentlich wichtig, von der Idee der Kulturen als geschlossenen Kreisen Abschied zu nehmen, um den Weg für eine grundlegende Modifikation des interkulturellen Philosophierens zu ebnen. Heute distanziere ich mich von einer Tradition, an der ich selbst in den Anfangszeiten mitgewirkt habe. Ab‐ 4. Transkultur - Multikultur - Interkultur - Plurikultur 68 <?page no="68"?> 18 Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Interkulturelle Kommunikation, 2014. Vgl. auch Grein, Marion: Das Mixed Game Model in der interkulturellen Forschung, 2017. doldjavad Falaturi verwarf das Bild von Kulturen, die einander wesensfremd sind, doch mit diesem Anliegen ist er seinerzeit nicht verstanden worden. Es ist verständlich, dass Wolfgang Welsch, etwa zehn Jahre später, das Kon‐ zept der Transkulturalität in der Absicht definiert, Positionen, die dem traditio‐ nellen Kulturbegriff anhängen und sich separatistisch verhalten, kritisch zu be‐ leuchten. Seitdem hat sich Welsch mit diesem Ansatz kaum auseinandergesetzt. Es scheint, als ob er nur auf dieses Desiderat, auf diese Fehlentwicklung hin‐ weisen wollte, die leider von den Vertretern der interkulturellen Philosophie nicht gehört worden ist. Mehr sogar, man hat sich ablehnend mit ihm ausei‐ nandergesetzt und versucht, die Achillesferse des transkulturellen Ansatzes weiterhin mit dem traditionellen Kulturbegriff, der unmerklich gepflegt worden ist, zu bekämpfen. Damit haben die Vertreter der interkulturellen Philosophie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Mein Entwurf der ›Interkulturalität als akademische Disziplin‹ positioniert sich zwischen homogenisierenden und entgrenzenden Ansätzen, um die Iden‐ tität des Menschen in unserer zerklüfteten Welt nicht im Vakuum hängen zu lassen. Interkulturalität ist ein Schlüsselbegriff unserer Gegenwart. 18 Inklusive Interkulturalität ist der Name einer Theorie und Praxis, ein Modus der Verstän‐ digung, die sich mit dem historischen und gegenwärtigen Verhältnis aller Kul‐ turräume beschäftigt. Auch Menschen stehen im Zentrum dieses Ansatzes als Kulturwesen, die unterschiedliche Denkformen innerhalb verschiedener, kul‐ tureller Einbettungen hervorbringen. Der Begriff ›Kultur‹ selbst wird dabei als ein offenes und dynamisch-veränderbares Gefüge wahrgenommen, das sich ge‐ genseitig beeinflusst, ohne ineinander auszulaufen. Die Vorsilbe ›inter‹, also ›zwischen‹ ist ein Verweis darauf, dass Kommuni‐ kation immer ›zwischen‹ den Menschen mit diversen Denkformen stattfindet. Die Ausgangsposition ist und bleibt die völlige Dynamik der Kulturen, deren Grenzen immer fließend sind, sodass es mehr als einfach ist, beweisen zu wollen, wo eine Kultur essentialistisch anfängt und wo sie aufhört. Konstitutiv ist für einen echten interkulturellen Ansatz das transkulturelle, kulturübergreifende Denken und interkulturelle Handeln. Dies beruht auf der Auffassung, Kulturen als offene und dynamisch-veränderbare Sinn- und Orientierungssysteme zu be‐ greifen, weshalb die Selbstwahrnehmung der Interkulturalität davon ausgeht, als standpunktbeweglicher Modus der Verständigung und Raum eines prinzi‐ piell offenen Dialoges zu sein. 4.3. Inklusive Interkulturalität 69 <?page no="69"?> Das Anliegen interkultureller Bemühungen zeigt sich immer dort forciert, wo hierarchischen Tendenzen und Strukturen entgegengewirkt werden soll, um eine gelingende Verständigung zu ermöglichen. Das ›Andere‹ innerhalb der miteinander interagierenden Kulturgemeinschaften wird auf diese Weise nicht stigmatisiert, sondern bewusst als anders im Kontext zum ›Eigenen‹ wahrge‐ nommen; etwas, das im vertrauten Umfeld nicht bekannt ist, aber eine vertraute Nähe ausstrahlt. Anhand von kulturübergreifenden Strukturen wie ›Familie‹ lässt sich ersehen, welche Differenzierung zwischen Interkulturalität, Trans- oder Multikulturalität besteht. Kulturen besitzen in allen ihren Kontexten und Schichten eine Familienähnlichkeit, die sie mit einander verbindet und vonein‐ ander trennt. Die Ansätze der Trans- und Multikulturalität sind politisch problematisch. Dies mag daran liegen, dass beide in Wahrheit latent und unterschwellig von der Ordnungsmacht der westlichen Welt als einer Alpha-Kultur ausgehen, nach deren Maßstäbe sich alle irgendwie zu richten haben. Daher lassen sich die Ausdrücke ›transkulturelle Globalisierung‹ und ›homogenisierende Multikul‐ turalität‹ als Synonyme für eine Welthegemonie des Westens als Alpha-Kultur begreifen. Wir können beobachten, dass die türkischen Gastarbeiter, die in den 1950er Jahren die Bundesrepublik mit aufgebaut haben, trotz massiven Integrations‐ drucks, weder ihre Religion und Tradition noch ihre Sprache und Kultur auf‐ gegeben haben. Ihre Integration ist zum großen Teil gescheitert, weil man ihnen immer mit Skepsis, Vorurteilen und Stereotypen begegnet ist und versuchte nach dem Prinzip einer problematischen Leitkultur alles von oben nach unten zu diktieren, was praktisch Unbehagen und damit Integrationsunwilligkeit aus‐ löst. Eine Ausnahme kann, vorsichtig formuliert, ihre zweite und dritte Gene‐ ration bilden, die ebenfalls traditionsbewusste Züge besitzt. Diese Tatsache macht deutlich, dass Entgrenzungen und Homogenisierungen in der Regel nur theoretisch Bestand haben können und deren gewaltsame Durchsetzung eben‐ falls theoretische wie praktische Gewalt nach sich zieht. Der Entwurf der Inter‐ kulturalität lässt sich mit zwei Beispielen verdeutlichen. Erstes Beispiel: Stellen Sie sich vor, Hélène und Gül lernen sich bei einer akademischen Feier irgendwo an einer Universität kennen. Beide sind nette, ambitionierte und vor allem geschäftstüchtige Frauen. Gül kommt aus der Türkei und Hélène aus Frankreich. Ihre Verständigungssprache ist deutsch. Beide arbeiten in Deutschland in zwei konkurrierenden Firmen; Hélène bei Mercedes Benz und Gül bei BMW. Hier beobachten wir eine typische interkulturelle Begegnungs‐ 4. Transkultur - Multikultur - Interkultur - Plurikultur 70 <?page no="70"?> situation, in der sich zwei gesellschaftliche Makro- und individuelle Mikro‐ ebenen begegnen. Um eine reflektierte Kommunikation führen zu können, müssen beide Frauen Selbstaufklärung betreiben, indem sie sich stets überlegen, was sie ausdrü‐ cken wollen und wie es beim Anderen ankommen könnte. Die Schwierigkeit besteht darin, dass sie sich mit unterschiedlichen kulturellen Kontexten iden‐ tifizieren. Bedenkt man, dass Gül bei gemeinsamen Mahlzeiten weder Schweinefleisch verzehrt noch alkoholische Getränke zu sich nimmt, entsteht ein Dilemma, wenn es für Hélène dazugehört, die Mahlzeit in bester franzö‐ sischer Manier mit einem alkoholhaltigen Aperitif zu beginnen. Wir sehen, dass ›beste französische Manier‹ bei Gül als ›Verstoß‹ gegen ein religiöses Gebot wahrgenommen wird. Dies macht sich gleich beim ersten gemeinsamen Abendessen bemerkbar, das gerade wegen dieser verschie‐ denen Einstellungen mit einer Verstimmung endet. Gül möchte keinen Wein auf dem Tisch sehen, während Hélène darauf nicht verzichten will. Hier spielt die Frage der Ambiguitätstoleranz eine wesentliche Rolle, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Zweites Beispiel: Max und Matthias sind Nachbarn. Beide haben ein Grundstück mit Gärtchen, aber ihre Vorstellung von der Gartengestaltung und -pflege ist völlig unter‐ schiedlich. So lässt Max seinen Garten im paradiesischen Naturzustand wu‐ chern, während Matthias Wert darauf legt, dass alle Pflanzen akkurat be‐ schnitten werden und insbesondere an der Grenze zum Nachbarn die Büsche exakt den entsprechenden Vorschriften gemäß gekürzt werden. Dies führt mit der Zeit zu Verstimmungen, über die sich Max zunächst in einem ärger‐ lichen Brief an den Nachbarn Luft macht. Die Angelegenheit wird später sogar durch ein richterliches Urteil entschieden. Diese Beispiele zeigen, dass interkulturelle Konflikte nicht nur zwischen Men‐ schen entstehen, die aus unterschiedlichen Kulturräumen stammen, sondern dass die Unterschiede auf der individuellen Mikroebene innerhalb eines Kul‐ turraumes wesentlich größer sein können als diejenigen zwischen Menschen, die aus verschiedenen Kulturräumen stammen. Nun stellt sich die Frage, was Interkulturalität in diesem Zusammenhang bedeutet. In der Tat lassen beide Beispiele mehrere Zugangsmöglichkeiten zu diesem Begriff zu. Zunächst einmal ist festzustellen, dass Interkulturalität ein gesellschaftliches Phänomen ist, das in allen Kulturen der Völker eine gängige Praxis darstellt. Dieses Phänomen lässt sich auf der gesellschaftlichen Makro- und der individuellen Mikroebene be‐ trachtend als eine Antwort auf die Frage begreifen, wie wir Kommunikations‐ 4.3. Inklusive Interkulturalität 71 <?page no="71"?> situationen so gestalten können, dass Vorurteile minimiert werden und Kom‐ munikationen offen und fruchtbar sind, dies insbesondere in einer sich immer mehr globalisierenden Welt. Inklusive Interkulturalität bereichert, als ein differenzierendes, dynamisches und multiperspektivisches Konzept, die moderaten Ansätze der Trans- und Multikulturalität. Sie gründet sich auf die völlige Gleichwertigkeit der Men‐ schen, obwohl dieses Selbstverständnis weder in der eigenen, noch in einer an‐ deren Kultur gleich ist. Diese Formen von Interkulturalität, die ich als eine re‐ flektierte bezeichne, setzen eine wechselseitige Selbstaufklärung im Sinne einer dialogischen Haltung voraus, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede gleicher‐ maßen sucht. Selbstaufklärung bedeutet, nicht nur Ethnologe anderer Kulturen und Individuen zu sein, sondern den Blick auf die Architektur der Innenwelt des Eigenen zu richten und die Frage zunächst an sich selbst heranzutragen, ob und inwieweit sich das Bild vom Anderen tatsächlich unterscheidet, ob es dem ei‐ genen ähnelt oder ob es konstruiert ist. Wer Unterschiede überbetont, belastet und verhindert bisweilen eine dialogische Begegnung mit dem Anderen. Um ihren gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen, verfährt die inklusive Inter‐ kulturalität interdisziplinär. Gemeint ist eine fachübergreifende Arbeitsweise bzw. Kooperation zwischen verschiedenen Fachrichtungen: 46 Soziologische Dimensionen Psychologische Dimensionen Historische Dimensionen Kulturphilosophische Dimensionen Theologische Dimensionen Sprachwissenschaftliche Dimensionen Kulturwissenschaftliche Dimensionen Pädagogische Dimensionen Abbildung 4.1: Interdisziplinarität Ein solches interdisziplinäres Vorgehen versteht sich als Reaktion auf die fortschreitende Spezialisierung in den etablierten wissenschaftlichen Disziplinen und zugleich als Antwort auf das wachsende Bewusstsein vom vielschichtigen Charakter wissenschaftlicher Problemstellungen. Dies hängt damit zusammen, dass Kommunikationen Erkenntnisse voraussetzen, die nicht nur in einer Disziplin beheimatet sind. 4.4. Plurikulturalität In diesem Zusammenhang ist das Konzept der Multidiversität bzw. Multikollektivität zu nennen, das sich im eigentlichen Wortsinn als Synonym für Interkulturalität darstellt. Beide Begriffe verweisen wie das Konzept der Interkulturalität auf den formalen und strukturellen sowie den dialogischen Umgang mit der Rolle des Menschen in vielfältigen und geradezu unendlichen Kontexten seiner Rollen und Handlungen. Multikollektivität »konstatiert zum einen die Existenz unüberschaubar vieler Kollektive und weist zum anderen darauf hin , dass diese Vielfalt nur deshalb funktioniert, weil das einzelne Individuum gleichzeitig in vielen Kollektiven verortet ist.« 19 Zu erwähnen ist auch der Ansatz der Plurikulturalität, der inhaltsimmanente Verschränkungen mit dem Ansatz der Interkulturalität und damit auch der Multidiversität und Multikollektivität gemeinsam hat. Plurikulturalität diskutiert das Vorhandensein diverser Kulturen ohne Vermischungstendenzen. Mehrsprachigkeit findet in der Regel im Kontext dieses Ansatzes einen thematischen Zusammenhang. 20 Im Grunde beschreibt Plurikulturalität eine Orientierung, in der Differenzen nicht einfach aufgehoben und Menschen unterschiedslos betrachtet werden, sondern diese bleiben trotz permanenter Interaktion und gewisser Verschränkungen bestehen. Von diesem Grundansatz her akzeptiert Plurikulturalität die Vielfalt einer Gesellschaft, einer Gruppe oder einer Minderheit, impliziert gleichsam auch eine kognitive Methode, Differenzen zu suchen, zu sehen, anzuerkennen und je nach Kontext hiermit umzugehen. Damit ist die Plurikulturalität bestrebt, nicht wie der Ansatz der Multikulturalität eine Gleichmacherei durch die Aufhebung der kulturellen oder religiösen Differenzen zu vollziehen. Plurikulturalität geht im Grunde mit dem Ansatz der Interkulturalität einher, weil beide Differenzen sehen und anerkennen, aber ohne Gemeinsamkeiten außer Acht zu lassen. Dies hängt damit zusammen, dass Gespräche in der Regel nur durch das Heranziehen gewisser Gemeinsamkeiten eine reale Chance erhalten können. Insofern beschreiben beide Ansätze der Inter- und Plurikulturalität einen Lernprozess, in dem der Kommunizierende bemüht ist, die Interaktion als einen Raum des wechselseitigen Lernens zu betrachten. Das Inter- und Pluralitätskonzept lässt sich am Beispiel ›Lernen in der Schule‹ verdeutlichen. Die Schule ist ein Ort, an dem Heranwachsende aus unterschiedlichen familiären Verhältnissen und gesellschaftlichen Schichten zusammenkommen. Das eigentliche Ziel der Lehrpersonen besteht zwar 19 Hansen, Klaus P.: Kultur, Kollektiv, Nation, 2009, S 20. 20 Vgl. Bhatti, Anil: Jenseits eines Denkens in Grenzen, 2014, S. 101 f. Abbildung 4.1: Interdisziplinarität Ein solches interdisziplinäres Vorgehen versteht sich als Reaktion auf die fort‐ schreitende Spezialisierung in den etablierten wissenschaftlichen Disziplinen und zugleich als Antwort auf das wachsende Bewusstsein vom vielschichtigen Charakter wissenschaftlicher Problemstellungen. Dies hängt damit zusammen, 4. Transkultur - Multikultur - Interkultur - Plurikultur 72 <?page no="72"?> 19 Hansen, Klaus P.: Kultur, Kollektiv, Nation, 2009, S 20. 20 Vgl. Bhatti, Anil: Jenseits eines Denkens in Grenzen, 2014, S. 101 f. dass Kommunikationen Erkenntnisse voraussetzen, die nicht nur in einer Dis‐ ziplin beheimatet sind. 4.4. Plurikulturalität In diesem Zusammenhang ist das Konzept der Multidiversität bzw. Multikol‐ lektivität zu nennen, das sich im eigentlichen Wortsinn als Synonym für Inter‐ kulturalität darstellt. Beide Begriffe verweisen wie das Konzept der Interkultu‐ ralität auf den formalen und strukturellen sowie den dialogischen Umgang mit der Rolle des Menschen in vielfältigen und geradezu unendlichen Kontexten seiner Rollen und Handlungen. Multikollektivität »konstatiert zum einen die Existenz unüberschaubar vieler Kollektive und weist zum anderen darauf hin, dass diese Vielfalt nur deshalb funktioniert, weil das einzelne Individuum gleich‐ zeitig in vielen Kollektiven verortet ist.« 19 Zu erwähnen ist auch der Ansatz der Plurikulturalität, der inhaltsimmanente Verschränkungen mit dem Ansatz der Interkulturalität und damit auch der Mul‐ tidiversität und Multikollektivität gemeinsam hat. Plurikulturalität diskutiert das Vorhandensein diverser Kulturen ohne Vermischungstendenzen. Mehrspra‐ chigkeit findet in der Regel im Kontext dieses Ansatzes einen thematischen Zu‐ sammenhang. 20 Im Grunde beschreibt Plurikulturalität eine Orientierung, in der Differenzen nicht einfach aufgehoben und Menschen unterschiedslos betrachtet werden, sondern diese bleiben trotz permanenter Interaktion und gewisser Ver‐ schränkungen bestehen. Von diesem Grundansatz her akzeptiert Plurikulturalität die Vielfalt einer Gesellschaft, einer Gruppe oder einer Minderheit, impliziert gleichsam auch eine kognitive Methode, Differenzen zu suchen, zu sehen, anzuerkennen und je nach Kontext hiermit umzugehen. Damit ist die Plurikulturalität bestrebt, nicht wie der Ansatz der Multikulturalität eine Gleichmacherei durch die Aufhebung der kulturellen oder religiösen Differenzen zu vollziehen. Plurikulturalität geht im Grunde mit dem Ansatz der inklusiven Interkulturalität einher, weil beide Dif‐ ferenzen sehen und anerkennen, aber ohne Gemeinsamkeiten außer Acht zu lassen. Dies hängt damit zusammen, dass Gespräche in der Regel nur durch das Heranziehen gewisser Gemeinsamkeiten eine reale Chance erhalten können. Insofern beschreiben beide Ansätze der Inter- und Plurikulturalität einen Lern‐ 4.4. Plurikulturalität 73 <?page no="73"?> 21 Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, 1980, S. 239. prozess, in dem der Kommunizierende bemüht ist, die Interaktion als einen Raum des wechselseitigen Lernens zu betrachten. Das Inter- und Pluralitätskonzept lässt sich am Beispiel ›Lernen in der Schule‹ verdeutlichen. Die Schule ist ein Ort, an dem Heranwachsende aus unterschied‐ lichen familiären Verhältnissen und gesellschaftlichen Schichten zusammen‐ kommen. Das eigentliche Ziel der Lehrpersonen besteht zwar darin, durch be‐ stimmte Lehrmethoden das Wissen professionell zu vermitteln. Ein Bestandteil dieser Professionalität ist die Beachtung der Heterogenität. Sie lässt sich fest‐ stellen in Diversitäten von Interessen, Alltagswissen, sozialem Umfeld, Motiva‐ tion, Erfassungs- und Auffassungsgabe, Lernbereitschaft sowie Ressourcennut‐ zung und kulturellem Hintergrund der Heranwachsenden. Auch die Diversität von Religionen, Weltanschauungen und Milieus sowie familiärem Umfeld und geographischem Hintergrund der Lernenden gehören dazu. All diese Elemente gelten und sind auch bestimmend für das Verhältnis zwischen den Menschen, die sich innerhalb unterschiedlicher Gesellschaftssysteme bewegen. Stellen Sie sich einmal vor, die Lehrpersonen an den Schulen würden diese Heterogenität nicht beachten. Gewiss könnte der Unterricht massiv darunter leiden und letztlich verunglücken, weil eine methodisch einheitliche Niveau‐ angleichung nicht möglich ist. Deshalb sind Lehrpersonen angehalten, das Prinzip der Heterogenität zu beachten, um gezielt auf die Interessen der Kinder gemäß ihrer Erfassungsgabe und auf Unterschiede angemessen einzugehen. Das Gleiche gilt für alle Bereiche der Weiterbildung auf den Feldern der gesell‐ schaftlichen Beziehungen. Im Sinne dieser Form von Plurikulturalität ließen sich nicht nur die gesell‐ schaftlichen Interaktionen, sondern auch die gruppalen oder interpersonalen In‐ teraktionen unter Beachtung der Individualität, Kontextualität und Situativität, wie noch weiter unten zu erläutern sein wird, wie der Umgang der Lehrperson mit den einzelnen Schülern betrachten. Auf allen Ebenen des Zwischenmensch‐ lichen ist das Prinzip der Heterogenität ein integrativer Bestandteil. Ganz im Sinne der Plurikulturalität und inklusiven Interkulturalität lässt sie die Bildungstheorie von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) betrachten. Er sieht die Aufgabe der Er‐ ziehung vortrefflich in der »Verschiedenheit der Köpfe und der Mannigfaltigkeit der Weisen«, wie sich die Welt in verschiedenen Individuen spiegelt. 21 Dies be‐ deutet, dass Lehrpersonen in erster Linie auf die innere Gestaltungskraft des Geistes achten sollen. 4. Transkultur - Multikultur - Interkultur - Plurikultur 74 <?page no="74"?> 1 Mitscherlich, Alexander: Toleranz - Überprüfung eines Begriffs, 1974, S. 20. 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation Mit wem, wo und warum findet interkulturelle Kommunikation statt? Mit Men‐ schen und Institutionen, in der Politik, zu Hause und in der Gesellschaft. Damit ist Folgendes ausgesagt: Interkulturelle Kommunikation heißt Arbeit in der, für die und mit der Öffentlichkeit. In allen diesen Bereichen geht es um Verstehen und Verständigung sowie Mitdenken und Umdenken. Die psychologische Betrachtung des gesamten Unternehmens der Kommu‐ nikation scheint genauer zu zeigen, warum der Mensch nach Kommunikation sucht und was geschieht, wenn diese nicht stattfindet. Im Grunde genommen beschreibt die Kommunikation eine Ich-Leistung, die der Mensch erbringt, um seinen Geltungsanspruch zu unterstreichen und den Platz des Anderen aufzu‐ zeigen. Die innere Sehnsucht nach Geltungsansprüchen aktiviert im Menschen Kräfte, die ihn befähigen, Strategien zu entwickeln, um sein Vorhaben zielge‐ richtet zu erreichen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Denkformen dabei entfalten, die eine totalitäre Diktatur der Selbstsucht zeigen, ohne sich dieser Destruktivität für das eigene Selbst sowie das des Anderen bewusst zu sein. Dabei ist die individuelle Belastbarkeit und Belastungstoleranz von grund‐ legender Bedeutung, die in der Regel mit der gesamten Entwicklung der Indi‐ viduen zusammenhängt. Dies umfasst frühkindliche Erfahrungen, innerfami‐ liäre Beziehungen, umweltbedingte Verhältnisse und nicht zuletzt das eigene Bildungsniveau und das der Umwelt. Je harmonischer das Geisteskarussell der Einzelnen zusammenspielt, desto belastbarer ist die Kommunikation. Mit dem Geisteskarussell ist das innere Team gemeint, das in jedem Individuum anders zusammenspielt. Dies hängt damit zusammen, dass jeder Mensch seine eigene Erfahrungswelt im Kontext seiner Primär- und Sekundärsozialisation durch‐ läuft. Sobald der Mensch mit dem Anderen zu sprechen beginnt, tritt sein inneres Team gleichsam zu einem inneren Dialog zusammen. Wenn die Kommunikation interkulturelle Dimensionen annimmt, so kommen kulturell unterschiedliche Einbettungen der Individuen hinzu. Die Kommunizierenden entwickeln sich in der Regel nach dem Maß individueller Belastbarkeit und unter permanenten sozialen Anforderungen. 1 <?page no="75"?> 2 Vgl. Exner, Isabel und Gudrun Rath (Hrsg.): Lateinamerikanische Kulturtheorien, 2015. 3 Vgl. Mabe, Jacob Emmanuel: Denken mit dem Körper, 2010. Wir wissen, dass Individuen, die sich an Diskursen beteiligen, im stillen Käm‐ merlein anders denken, wahrnehmen und fühlen als wenn sie sich in Gruppen bewegen. Sie stehen unterschiedlich unter dem Einfluss von Gruppenregungen und Gruppendruck. Deshalb ist das Feld der Kommunikation immer ein Kampf‐ platz des Denkens, auf dem alle Meinungen, Überzeugungen, Welt- und Men‐ schenbilder sowie Ideologien in einem argumentativen oder weniger argumen‐ tativen Diskurs aufeinanderstoßen. Kommunikation, recht verstanden, ist in allen Kontexten der Multi-, Trans- und Interkulturalität eine Ich-Leistung, die der Mensch für den Kompromiss oder Konsens erbringt. Dieser Prozess trägt zur Ich-Reifung und Identitätsbildung der Individuen bei. Aus diesem Grunde bleibt die Aufgabe, wie die Analyse der Korrelatbegriffe zeigen wird, sich zu‐ nächst selbst zu verstehen versuchen, um eine verstehende Kommunikation zu üben und zu lernen, was ein Verweis darauf ist, dass Kommunikation ohne wechselseitige Anstrengung kaum zustande zu kommen vermag. 5.1. Eine kleine Geschichte der interkulturellen Kommunikation Es gibt einen signifikanten Unterschied zwischen einer weltgeschichtlichen Entwicklung der interkulturellen Kommunikation und einer geschichtstheore‐ tischen Entwicklung, die sich in den westlichen Hemisphären der Welt entwi‐ ckelt hat. Die Entfaltung ersterer wird hier nicht möglich sein. Darüber muss ein gesondertes Werk verfasst werden. Was letztere anbelangt, so lässt sich eine Traditionslinie beschreiben, die zeigt, wie und warum sich Forschende mit Kul‐ turen auseinandersetzen und wie die Kommunikation mit Angehörigen ver‐ schiedener Kulturräume praktiziert worden ist. Ein Wendepunkt ist mit Sicherheit die Entstehung des Kolonialismus, weil eine Berührung mit den kolonialisierten Kulturräumen zwangsweise stattge‐ funden hat. Betrachten wir den ganzen Kontinent Lateinamerikas 2 , den ganzen Kontinent Afrikas 3 , weite Teile der islamischen Welt und Australien, so wird ersichtlich, welcher entfremdende Kulturdruck auf diese Regionen ausgeübt worden ist. Die Fächer der Orientalistik, Afrikanistik und viele weitere Zweige mehr sind auch als Folge dieser Erscheinung entstanden. Im Folgenden versuche ich, eine grobe Linie der Entwicklung der interkulturellen Kommunikation zu zeichnen. Allen diesen Theorien liegt ein essentialistischer Kulturbegriff zu‐ 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 76 <?page no="76"?> 4 Vgl. Goodenough, Ward E.: Componential analysis and the study of meaning, 1956. 5 Vgl. Kroeber, Alfred Louis und Clyde Kluckhohn: Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions, 1963. grunde, der Kulturen letztlich als geschlossene Gefüge im Sinne des Multikul‐ turalismus begreift, auf dem eine Reihe von Theorien der Kommunikation und Begegnung mit den Angehörigen anderer Kulturräume entwickelt worden ist. Theoretische Ansätze zur Kommunikationsforschung sind aus der statisti‐ schen Informationstheorie und der Kybernetik, aus der Ethologie, der Ethno‐ logie, der Psychologie und der Soziologie (z. B. im Rahmen der Massenkommu‐ nikationsforschung) sowie aus den Kultur- und Sprachwissenschaften, der Semiotik und der Philosophie (Hermeneutik, Diskursanalyse, Sprechakttheorie etc.) hervorgegangen. Eine weitere Entwicklung, die ebenfalls viel zum Kom‐ munikations- und Verstehensprozess beiträgt, ist der moderne Konstrukti‐ vismus, nach dem der Mensch weder einen allgemeinverbindlichen Zugriff auf die sogenannte ›objektive Realität‹ haben kann noch ist er in der Lage, die ei‐ gentliche Beschaffenheit der Dinge und alles, was ist, objektiv zu erkennen. Er kann alles lediglich durch seine Sinneseindrücke wahrnehmen und im Sinne seiner Individualität und Vorerfahrung interpretieren. Ausgesagt wird damit, dass der Mensch sich die Welt in allen Kontexten seines Lebens subjektiv kon‐ struiert. Die Forschungen über interkulturelle Kommunikation seit den 1940er Jahren zeigen zwei Ausrichtungen: den ›Kulturellen Dialog‹ und den ›Kulturellen Kri‐ tizismus‹. Grundlage des ›Kulturellen Dialogs‹ ist die Erforschung der Bedin‐ gungen, unter denen Mitglieder verschiedener Kulturen ohne unkorrigierbares Missverstehen miteinander kommunizieren können. Dabei ist der Wille, über‐ haupt kommunizieren zu wollen, vorauszusetzen. Der ›Kulturelle Kritizismus‹ widmet sich konflikterzeugenden Elementen in Kulturen, um diese im Vorfeld von Begegnungen zu analysieren und Möglichkeiten zur Beseitigung der Kon‐ flikte aufzuzeigen. Der Suche nach universellen Gemeinsamkeiten wird kaum Bedeutung beigemessen. Ward Goodenough gehörte zur Gründergeneration der Kommunikationsfor‐ scher 4 , die eine essentialistische Betrachtungsweise pflegten. Er lenkte den Blick darauf, dass Kultur in großen Teilen ein kognitives Faktum ist und der sprach‐ liche Ausdruck durch Überzeugungen und Werte des Individuums wie auch des Kollektivs bestimmt wird. Alfred Louis Kroeber und Clyde Kluckhohn sammeln 164 Kulturdefinitionen. 5 Der Mensch wird nach diesen überwiegend essentia‐ listischen Kulturtheorien derart von ›seiner Kultur‹ geprägt und bestimmt, dass selbst die Befriedigung elementarster Bedürfnisse, die als biologisch bezeichnet 5.1. Eine kleine Geschichte der interkulturellen Kommunikation 77 <?page no="77"?> 6 Vgl. Boas, Franz: Race, Language and Culture, 1940. 7 Vgl. Hall, Edward T. und F. W. Whyte: Intercultural Communication, 1960. werden könnten, außer unter ungewöhnlichen Umständen immer im Bann der Regeln bleibt, die von Gebräuchen und Gewohnheiten diktiert werden. Die Mensch-Kultur-Beziehung wurde um die Wende vom 19. zum 20. Jahr‐ hundert zunehmend zum zentralen Thema der ethnologischen und anthropo‐ logischen Forschung erhoben. Die systematische Entwicklung des essentialis‐ tischen Kulturbegriffs ist unter anderem mit Namen wie Gustav Klemm, Edward Tylor, Bronislaw Malinowski, Franz Boas, Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn sowie Alexander Thomas verbunden, die Kulturen, auch wenn mit Unterschied‐ lichen Akzentuierungen, essentialistisch betrachten. Ende des 19. Jahrhunderts waren vier Bedeutungsebenen des Kulturbegriffs vorherrschend, an die alle späteren kulturtheoretischen Diskurse anknüpften (Rüdiger Thomas): 1. Kultur als materielle Praxis, als Ausbildung von Kulturtechniken, die durch den technischen Fortschritt bestimmt werden; 2. Kultur als Sinnform, die sich entwicklungsgeschichtlich durch Mythos, Religion, Philosophie und Wissenschaft sowie zunehmend im Medium der Kunst ausprägt; 3. Kultur als Habitusform, die das Verhalten und die Persönlichkeitsent‐ wicklung bestimmt; 4. Kultur als Vergesellschaftungsform, die kollektive Identitäten konstitu‐ iert, vornehmlich durch Ausbildung kultureller Traditionen. Franz Boas setzte sich bspw. für eine ganzheitliche Betrachtung der Kulturen einschließlich ihrer religiösen, historischen, sprachlichen und künstlerischen Aspekte ein. Boas’ Arbeiten von 1940 sind klassifikatorisch im Sinne einer guten anthropologischen Beschreibung. Sie enthalten allerdings keine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Problemen interkultureller Kommunikation. 6 Dieses Thema behandelte als erster Edward Hall, der Kommunikation für den Kern der Kultur hält. 7 Zunächst hatte Hall auf der Feststellung beharrt, der Mensch könne seine Kultur nicht ablegen, was er später relativierte und plä‐ dierte dafür, man solle Kulturgebundenheit nicht überbewerten. Das Feld der interkulturellen Kommunikation war zu dieser Zeit noch keiner wissenschaftlichen Disziplin zugeordnet. Beiträge kamen von Ethnologen, Kommunikationswissenschaftlern, Psychologen und Anthropologen, hier ins‐ besondere von dem Gebiet der kognitiven Anthropologie. Die Kommunikati‐ onswissenschaften trugen dazu bei, den anthropologischen Blick von der reinen Betrachtung von Kunst- und Gebrauchsgegenständen auf die Bedeutung der 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 78 <?page no="78"?> 8 Vgl. Stewart, Edward: Outline of Intercultural Communication, 1973. 9 Vgl. Molefi Kete Asante u.a.: Handbook of Intercultural Communication, 1979. 10 Vgl. Gudykunst, William B. (ed.): Intercultural Communication Theory, 1983. 11 Vgl. Rehbein, Jochen (Hrsg.): Interkulturelle Kommunikation, 1985. 12 Vgl. Duala-M'bedy, Munasu: Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie, 1977. 13 Vgl. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung, 1987; Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, 1997; Rüsen, Jörn (Hrsg.): Westliches Geschichtsdenken, 1999 und Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien, 2006. Kommunikation zu lenken und die Konstitution ethnischer Identität vermehrt als einen sprachlichen Prozess aufzufassen. Edward Stewart schuf mit der Zu‐ sammenführung einzelner Forschungsrichtungen die theoretische Basis einer Disziplin der interkulturellen Kommunikation als interdisziplinäres For‐ schungsfeld. Er erhob Kultur zu einem Schlüsselbegriff, und unter interkultu‐ reller Kommunikation wurde das Verhältnis zwischen Kultur und menschlicher Interaktion verstanden. 8 Seit den 1980er Jahren entstanden mehrere Aufsatzsammlungen mit dem Ziel, sich dem Thema der interkulturellen Kommunikation interdisziplinär zu nä‐ hern. Zu nennen sind das ›Handbook of Intercultural Communication‹ von Mo‐ lefi Keite Asante 9 , dessen Maxime ›Practice what you preach‹ ›Lebe was du predigst‹ in Richtung einer Angewandten Kommunikationswissenschaft ten‐ diert. Eine Aufsatzsammlung ›Intercultural Communication Theory. Current Perspectives‹ von William B. Gudykunst verfolgt das Ziel, verstreute Konzepte zu einem konsistenten theoretischen Rahmen zusammenzufügen. 10 Den Um‐ gang mit Konfliktsituationen und die Kulturgebundenheit von Entscheidungs- und Problemlösungsstrategien thematisiert der von Jochen Rehbein herausge‐ gebene Sammelband ›Interkulturelle Kommunikation‹. 11 Er versucht, durch diskursanalytische Interpretationsverfahren zusammenhängender Kommuni‐ kationsabschnitte die Zwischenräume zwischen den sprachlichen Gruppen be‐ wusst zu machen, Diskriminierungspraktiken gegenüber sprachlichen Minder‐ heiten aufzudecken und Bedingungen für eine mehrsprachige Verständigung zu skizzieren. Eine neue Phase der Erfahrung interkultureller Kommunikation begann mit der Abkehr vom Ethnozentrismus und der Erkenntnis, dass die eigene Kultur nicht zum Mittelpunkt und Maßstab erhoben werden darf. Charakteristisch für diese Phase ist ein bewusster Abstand von Xenophobie und kultureller Kurz‐ sichtigkeit, die von Munasu Duala-M'bedy vertreten wird. 12 Es ist darauf hinzuweisen, dass sämtliche Theorien, die bis heute von Forsch‐ enden verschiedener Provenienz, wie Clifford Geertz (1926-2006), Jörn Rüsen, Bernhard Waldenfels oder Andreas Reckwitz entwickelt worden sind 13 , diesem 5.1. Eine kleine Geschichte der interkulturellen Kommunikation 79 <?page no="79"?> 14 Vgl. Jaeger, Friedrich u. a. (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, 2 und 3, 2001. essentialistischen Zugang zu Kulturen nachhängen. Selbst das dreibändige ›Handbuch der Kulturwissenschaften‹ 14 , in dem Grundlagen und Schlüsselbe‐ griffe kulturwissenschaftlicher Themenfelder behandelt werden, kann sich nur schwer von dem Vorwurf des Essentialismus befreien. Das Problematische bei diesem Handbuch und ähnlichen Projekten besteht in der ausschließlichen Ent‐ faltung eines innereuropäisch-westlichen Wissenschaftsdiskurses. Außereuro‐ päische Diskurse, die es in der Tat gibt, kommen darin kaum vor. Forschende und insbesondere Nachwuchswissenschaftler verinnerlichen strukturelle Pro‐ bleme, die sie als solches nicht wahrnehmen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie nur sich selbst in diesen Diskursen sehen und unbewusst annehmen, dass nur im Westen solche Diskurse entfaltet werden können. Ein interkulturell ausgerichtetes Handbuch, wie der Name schon sagt, sollte einen weltumgreifenden Charakter besitzen. Ist dies nicht der Fall, so muss ver‐ merkt werden, dass die Beschreibung des Sachverhaltes lediglich aus europä‐ isch-westlicher Perspektive erfolgt. Dadurch wird den Forschenden eine Mög‐ lichkeit eröffnet, sich dieses Themas anzunehmen und zu versuchen, durch eine kontextuelle Kommunikation die Sichtweise des jeweils anderen aus deren Sicht erzählen zu lassen. Dies bedeutet, dass nicht wir über andere Kulturräume be‐ richten, sondern die Forschenden dieser Kulturräume selbst zu Wort kommen lassen. Diesen Prozess bezeichne ich als ›Interkulturalisierung der Wissen‐ schaften‹, die nur im wechselseitigen Einvernehmen gedeihen und das Be‐ wusstsein der Forschenden und damit auch die Gesellschaft erweitern können. Mit Sicherheit kann auch darauf hingewiesen werden, dass Kommunikati‐ onstheorien, die auf essentialistischen Kulturbegriffen beruhen, zwangsläufig von Kategorien und Klassifizierungen ausgehen und Kulturstandards zugrunde legen, während eine Interkulturalisierung der Wissenschaften einen Beitrag dazu zu leisten vermag, den Blickwinkel paradigmatisch zu wechseln und da‐ durch eine wechselseitige Verständigung zu ermöglichen. 5.2. Logik und Hermeneutik der Kommunikation Erfolgreich zu kommunizieren ist der Wunsch eines jeden Menschen, insbe‐ sondere aber derjenigen, die geschäftlich unterwegs sind, ihren Urlaub im Aus‐ land verbringen möchten oder auch mit Menschen zusammenarbeiten, die einen Migrationshintergrund haben. Gelingen und Scheitern der Kommunikation 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 80 <?page no="80"?> hängt auf jedwedem Gebiet stets damit zusammen, wie wir denken und wahr‐ nehmen, wie wir Vergleiche anstellen, welche Ziele wir im Sinn haben und wessen Maßstäbe wir befolgen. Verständigung heißt in diesem Zusammenhang Offenheit und Aushalten von kulturell bedingten Differenzen. Sie bedeutet Mentalitäten wahrzunehmen und auf sie dialogisch zu reagieren. Wie ist ein solches Kommunizieren möglich? Worauf ist zu verzichten und/ oder zu achten? Wie können wir Menschen auf verschiedenen Ebenen des Lebens gerecht werden? Kommunikation bedeutet im engeren und weiteren Sinne Lernen. Lernen heißt, sich Wissen anzueignen, ein Wissen, das erforderlich ist, um Kommuni‐ kation in Gang zu bringen und aufrecht zu erhalten. Lernen heißt Erweiterung des Denk- und Erfahrungshorizontes, der eine tragende Funktion in der Kom‐ munikation erfüllt. Erhält die Kommunikation eine interkulturelle Dimension, so erweitert sich auch der Horizont der Lernenden. Insofern hängen interkul‐ turelles Lernen und interkulturelle Bildung zusammen. Lernen und Bilden setzen im interkulturellen Zusammenhang eine Umkehrung in der Wahrneh‐ mung voraus. Der erste Schritt ist das globale Denken, das über jeden Tellerrand hinaus reflektiert; ein Denken, das sich selbst bedenkt. Von diesem Denken aus wird der zugrunde gelegte Kulturbegriff betrachtet. Selbstreflexion wird hier als Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Geprägtheit, mit Normen und Werten begriffen. Dies führt zu einer vielschichtigen Erweiterung des herkömmlichen Lern- und Bildungsbegriffs, die eine Interaktion und Kommunikation mit Partnern aus anderen Herkunftskulturen ermöglichen, Symmetrie und Reziprozität zur po‐ sitiven Veränderung der Beziehungsmuster unter den Beteiligten herstellen und Gemeinsamkeiten und Differenzen als eine solide Grundlage betrachten. Dabei ist von Bedeutung, alle Formen von Monokulturalität aufzuheben und den Eth‐ nozentrismus zu überwinden. Fruchtbar scheint es auch, dialogische Toleranz zu üben und Offenheit zu praktizieren. Ein solches Zusammenwirken erweckt die Solidaritätssehnsucht, gemeinsame Ziele zu definieren und sich gegenseitig für eigene Belange durch aktive Anteilnahme einzusetzen. Im Zentrum meiner Überlegungen stehen zwei Fragenbereiche, die als Grundlage des vorliegenden Praxisbuches dienen. Was bedeutet Kommunika‐ tion und warum kommt das Konzept der Interkulturalität ohne Menschenwürde als ein tragfähiges Zwischen nicht aus? 5.2. Logik und Hermeneutik der Kommunikation 81 <?page no="81"?> 15 Luhmann, Niklas: Die gesellschaftliche Moral und ihre ethische Reflexion, 1990, S. 4. 52 solches Kommunizieren möglich? Worauf ist zu verzichten und/ oder zu achten? Wie können wir Menschen auf verschiedenen Ebenen des Lebens gerecht werden? Kommunikation bedeutet im engeren und weiteren Sinne Lernen. Lernen heißt, sich Wissen anzueignen, ein Wissen, das erforderlich ist, um Kommunikation in Gang zu bringen und aufrecht zu erhalten. Lernen heißt Erweiterung des Denk- und Erfahrungshorizontes, der eine tragende Funktion in der Kommunikation erfüllt. Erhält die Kommunikation eine interkulturelle Dimension, so erweitert sich auch der Horizont der Lernenden. Insofern hänge interkulturelles Lernen und interkulturelle Bildung zusammen. Lernen und Bilden setzen im interkulturellen Zusammenhang eine Umkehrung in der Wahrnehmung voraus. Der erste Schritt ist das globale Denken, das über jeden Tellerrand hinaus reflektiert; ein Denken, das sich selbst bedenkt. Von diesem Denken aus wird der zugrunde gelegte Kulturbegriff betrachtet. Selbstreflexion wird hier als Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Geprägtheit, mit Normen und Werten begriffen. Dies führt zu einer vielschichtigen Erweiterung des herkömmlichen Lern- und Bildungsbegriffs, die eine Interaktion und Kommunikation mit Partnern aus anderen Herkunftskulturen ermöglichen, Symmetrie und Reziprozität zur positiven Veränderung der Beziehungsmuster unter den Beteiligten herstellen und Gemeinsamkeiten und Differenzen als eine solide Grundlage betrachten. Dabei ist von Bedeutung, alle Formen von Monokulturalität aufzuheben und den Ethnozentrismus zu überwinden. Fruchtbar scheint es auch, dialogische Toleranz zu üben und Offenheit zu praktizieren. Ein solches Zusammenwirken erweckt die Solidaritätssehnsucht, gemeinsame Ziele zu definieren und sich gegenseitig für eigene Belange durch aktive Anteilnahme einzusetzen. Im Zentrum meiner Überlegungen stehen zwei Fragenbereiche, die als Grundlage des vorliegenden Praxisbuches dienen. Was bedeutet Kommunikation und warum kommt das Konzept der Interkulturalität ohne Menschenwürde als ein tragfähiges Zwischen nicht aus? Logik und Hermeneutik der Kommunikation Tragfähiges Zwischen Was bedeutet Kommunikation? Abbildung 5.1: Logik der Kommunikation Was bedeutet Logik und Hermeneutik der Kommunikation und welche Rolle kommt der Menschenwürde dabei zu? Grundsätzlich sind Logik und Hermeneutik zwei unverzichtbare Größen wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens. Fällt der Hermeneutik hierbei die Aufgabe zu, Verstehensprozesse zu ermöglichen, so verfügt sie über differente Dimensionen und Arbeitsbereiche. Im interkulturellen Dialog ist es ihr Hauptanliegen, als methodisches Regelwerk des Verstehens kulturelle Zeugnisse in jeweils unterschiedlichen Kontexten angemessen und würdigend zur Sprache zu bringen. Die Wahrung der Menschenwürde ist dabei eine elementare Größe von absoluter Wichtigkeit, die jede Form einer gelingenden Kommunikation berücksichtigen muss. So muss im Kontext historischer Ereignisse, insbesondere in der Erinnerungskultur von Kriegen und Menschenrechtsverbrechen eine achtsame Sensibilität gewahrt werden, um weder Betroffene noch Beschuldigte zusätzlich zu belasten. 5.2.1. Bedeutungsebenen der Kommunikation Der Mensch ist ein kommunikatives Wesen. Seiner Biologie nach ist er nicht für ein Leben ohne Gemeinschaft geschaffen: »Solange jemand an Kommunikation teilnimmt, nimmt er an der Abbildung 5.1: Logik der Kommunikation Was bedeutet Logik und Hermeneutik der Kommunikation und welche Rolle kommt der Menschenwürde dabei zu? Grundsätzlich sind Logik und Herme‐ neutik zwei unverzichtbare Größen wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens. Fällt der Hermeneutik hierbei die Aufgabe zu, Verstehensprozesse zu ermögli‐ chen, so verfügt sie über differente Dimensionen und Arbeitsbereiche. Im in‐ terkulturellen Dialog ist es ihr Hauptanliegen, als methodisches Regelwerk des Verstehens kulturelle Zeugnisse in jeweils unterschiedlichen Kontexten ange‐ messen und würdigend zur Sprache zu bringen. Die Wahrung der Menschen‐ würde ist dabei eine elementare Größe von absoluter Wichtigkeit, die jede Form einer gelingenden Kommunikation berücksichtigen muss. So muss im Kontext historischer Ereignisse, insbesondere in der Erinnerungskultur von Kriegen und Menschenrechtsverbrechen eine achtsame Sensibilität gewahrt werden, um weder Betroffene noch Beschuldigte zusätzlich zu belasten. 5.2.1. Bedeutungsebenen der Kommunikation Der Mensch ist ein kommunikatives Wesen. Seiner Biologie nach ist er nicht für ein Leben ohne Gemeinschaft geschaffen: »Solange jemand an Kommunikation teilnimmt, nimmt er an der Gesellschaft teil« 15 , schreibt Niklas Luhmann (1927-1998) zu Recht. Der Ausdruck ›Kommunikation‹ bedeutet ›Mitteilung‹, ›Verbindung‹ oder ›Beziehung‹ im Sinne von Teilnahme und Gemeinsamkeit sowie gegenseitiger Verständigung durch soziale Interaktionsprozesse. Der Ausdruck bedeutet also ›Wechselbeziehungen unter Menschen‹. Kommunika‐ tion heißt ›Suche nach dem Anderen‹, unendliche Suche nach Kompromiss. Kommunikation heißt begreifen unterschiedlicher Denkformen und Sinnsys‐ teme. Verschiedene Kommunikationsformen lassen sich voneinander unter‐ 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 82 <?page no="82"?> 16 Watzlawick, Paul: Anleitung zum Unglücklichsein, 2000, S. 37 f. scheiden: Plauderei, Unterhaltung, Unterredung, Besprechung und Diskussi‐ onen jeglicher Art. Der Sinn der Kommunikation ist in erster Linie Gedankenaustausch und Verständigung. Die folgende Erzählung ›Die Ge‐ schichte mit dem Hammer‹ von Paul Watzlawick (1921-2007) zeigt die existen‐ tielle Notwendigkeit der Kommunikation auf jedwedem Gebiet: »Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszu‐ borgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und da bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn ange‐ wiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich. - Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er ›Guten Tag‹ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: ›Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel! ‹« 16 Watzlawick zeigt mit seiner Parabel, wie Gedanken und Emotionen Vorurteile und vor allem Feindbilder entstehen lassen. Er demonstriert mit einfachen Aus‐ führungen, wie Gedankenwelten konstruiert werden, die eine Realität voraus‐ setzen, die es nicht gibt. Hier explizieren sich die konflikthaltigen Differenzen der Innen- und Außenwelt verschiedener Wirklichkeitsvorstellungen. Watzla‐ wick zeigt, dass es nicht Kulturen sind, die miteinander kommunizieren, sondern ausschließlich Individuen, die sich ihre Beziehungen aufgrund einer eigenen Wahrheitswirklichkeitskonstruktion zurechtlegen. Wie entstehen solche Haltungen und welche Rolle spielen das Eigene und das Andere dabei? Diese Haltung entsteht, wenn die Kommunizierenden oder wie in diesem Falle ein Gesprächspartner nicht bereit ist, dem Anderen ohne vor‐ gefasste Meinung entgegenzutreten. Das Ergebnis des Nicht-kommunizieren- Wollens ist in der Regel Gewalt, wenn auch eine theoretische. Dies sehen wir, wenn der Hammersuchende sich eine eigensinnige Wirklichkeit konstruiert und dann hinüber zum Nachbarn geht und mit ganzer Vehemenz sagt: ›Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel! ‹ Der Mensch ist, wie dieses Beispiel zeigt, ein emotionales Geschöpf mit vielen Dimensionen. Daher zeigen sich innere Bilder und Gefühle, welche durch die Aktivitäten von Zentren des limbischen Systems entstehen und bei jedem Men‐ 5.2. Logik und Hermeneutik der Kommunikation 83 <?page no="83"?> 17 Vgl. hierzu Bühler, Karl: Sprachtheorie, 1965 und Watzlawick, Paul: Die Möglichkeit des Andersseins, 2002. schen anders sind. Dies gilt für Temperament, Ärger, Jubel und Trauer, Liebe, Enttäuschung sowie Höflichkeit und Unhöflichkeit. Unterschiede lassen sich nicht gleichschalten, weil die Lebensdynamik des Menschen im Gegensatz zu Rechnern unergründlich ist. Deshalb empfiehlt es sich, von den alten traditio‐ nellen Kommunikationsmodellen Abschied zu nehmen, die Kulturen und nicht Denkformen für das Gelingen oder Scheitern der Begegnungen verantwortlich machen wollen. Bei der Meinungsbildung, wie Watzlawick hier beschreibt, kommen vier Komponenten zusammen, die stets wechselseitig aufeinander einwirken. Es handelt sich um die Wechselwirkung zwischen Denken und Empfinden sowie Gefühlen und Intuition. Weil diese Wechselwirkung im Geisteskarussell eines jeden Individuums unterschiedliche Beziehungen eingehen, so ist die Mei‐ nungsbildung bei jedem Menschen anders. Hinzu kommt auch die kulturelle, religiöse oder wissenschaftliche Einbettung der Denkformen die entscheidend sind für die Art und Weisen der Kommunikationssuche und Ergebnisse, die damit einhergehen. Kommunikation ist ein offener Aushandlungsprozess, in dem Menschen mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten miteinander ins Gespräch kommen. Es gibt eine Reihe von Kommunikationstheorien, die auf unterschiedlichem Wege bemüht sind, Probleme, Störungen sowie Möglichkeiten der Kommunikation herauszuarbeiten. 17 Gemeinsam ist allen Kommunikationsformen, ob verbal, nonverbal, symmetrisch, asymmetrisch oder komplementär, die methodische Verbesserung wechselseitiger Steuerungen und Kontrolle von Informationsver‐ lust. Kommunikation heißt, sich denkend und verstehend mitzuteilen. Sie hat, wie die Geschichte mit dem Hammer zeigt, zwei Ebenen: Eine sachlich-rationale und eine emotional-hermeneutische Ebene. Während Erstere Informationen trans‐ formiert, die sich verifizierend wahrnehmen und verstehen lassen, besitzt Letz‐ tere eine Dimension, bei der Körpersprache, Wortwahl und Beziehungsgrad der Kommunizierenden von Bedeutung sind. Was bei vielen traditionellen Kom‐ munikationsmodellen eine Einseitigkeit darstellt, ist, dass Kommunikation Kon‐ senssuche bzw. völlige Übereinstimmung der Meinungen und Überzeugungen bedeutet. Kommunikation geht in allen Richtungen und ist im Grund, wie mehr‐ fach erwähnt, ein Aushandlungsprozess, der zu allen Seiten offen ist und offen bleibt. Dies hängt mit der Tatsache zusammen, dass in einem offenen Diskurs die Macht und Überzeugungskraft der Kommunizierenden zu Modifikation oder 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 84 <?page no="84"?> Erweiterung des eigenen Wahrnehmungshorizontes führen kann. Das folgende Modell der Vielfalt zeigt die Vielseitigkeit der interkulturellen Kommunikation: 54 Bei der Meinungsbildung, wie Watzlawick hier beschreibt, kommen vier Komponenten zusammen, die stets wechselseitig aufeinander einwirken. Es handelt sich um die Wechselwirkung zwischen Denken und Empfinden sowie Gefühle und Intuition. Weil diese Wechselwirkung im Geisteskarussell eines jeden Individuums unterschiedliche Beziehungen eingehen, so ist die Meinungsbildung bei jedem Menschen anders. Hinzu kommt auch die kulturelle, religiöse oder wissenschaftliche Einbettung der Denkformen die entscheidend sind für die Art und Weisen der Kommunikationssuche und Ergebnisse, die damit einhergehen. Kommunikation ist ein offener Aushandlungsprozess, in dem Menschen mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten miteinander ins Gespräch kommen. Es gibt eine Reihe von Kommunikationstheorien, die auf unterschiedlichem Wege bemüht sind, Probleme, Störungen sowie Möglichkeiten der Kommunikation herauszuarbeiten. 17 Gemeinsam ist allen Kommunikationsformen, ob verbal, nonverbal, symmetrisch, asymmetrisch oder komplementär, die methodische Verbesserung wechselseitiger Steuerungen und Kontrolle von Informationsverlust. Kommunikation heißt sich denkend und verstehend mitzuteilen. Sie hat, wie die Geschichte mit dem Hammer zeigt, zwei Ebenen: Eine sachlich-rationale und eine emotional-hermeneutische Ebene. Während Erstere Informationen transformiert, die sich verifizierend wahrnehmen und verstehen lassen, besitzt Letztere eine Dimension, bei der Körpersprache, Wortwahl und Beziehungsgrad der Kommunizierenden von Bedeutung sind. Was bei vielen traditionellen Kommunikationsmodellen eine Einseitigkeit darstellt, ist, dass Kommunikation Konsenssuche bzw. völlige Übereinstimmung der Meinungen und Überzeugungen bedeutet. Kommunikation geht in allen Richtungen und ist im Grund, wie mehrfach erwähnt, ein Aushandlungsprozess, der zu allen Seiten offen ist und offen bleibt. Dies hängt mit der Tatsache zusammen, dass in einem offenen Diskurs die Macht und Überzeugungskraft der Kommunizierenden zu Modifikation oder Erweiterung des eigenen Wahrnehmungshorizontes führen kann. Das folgende Modell der Vielfalt zeigt die Vielseitigkeit der interkulturellen Kommunikation: A C B A C B A B C D B A C D Abbildung 5.2: Das Modell der Vielfalt Das Modell der Vielfalt zeigt unterschiedliche Formen des kulturellen Austauschs sowie einer anschaulich modellierten Offenheit. Verhalten sich etwa in der ersten Abbildung die Kommunizierenden A, B und C zueinander mit jeweils individuellen Kommunikationsmitteln, so zeigt sich anhand der gestrichelten, gepunkteten oder strichpunktartigen Linien die Diversität 17 Vgl. hierzu Bühler, Karl: Sprachtheorie, 1965 und Watzlawick, Paul: Die Möglichkeit des Andersseins, 2002. Abbildung 5.2: Das Modell der Vielfalt Das Modell der Vielfalt zeigt unterschiedliche Formen des kulturellen Aus‐ tauschs sowie einer anschaulich modellierten Offenheit. Verhalten sich etwa in der ersten Abbildung die Kommunizierenden A, B und C zueinander mit jeweils individuellen Kommunikationsmitteln, so zeigt sich anhand der gestrichelten, gepunkteten oder strichpunktartigen Linien die Diversität ihres Austauschs. Wechselwirkungen sowie argumentative Durchlässigkeit zu bestimmten Argu‐ menten eines der beteiligten Kommunikationspartner lassen sich anhand der vielschichtigen Beziehungen ebenso erkennen, wie die spezifischen Eigendy‐ namiken einer jeden Kommunikationssituation. Dasselbe gilt auch für meta‐ kommunikative Zusammenhänge und Prozesse, die von allen Beteiligten passiv wahrgenommen oder aktiv mitgestaltet werden. Weil es Individuen sind, die miteinander ins Gespräch kommen, ist jede Kom‐ munikation von Ich- und Du-Botschaften geprägt, die sie tragen. Ich-Bot‐ schaften sind ein Ausdruck dafür, wie sich die Handlungen des Anderen auf das subjektive Selbst auswirken und wie man sich dabei selbst fühlt. Hier teilt der Sprechende seine Gefühle mit. Dabei werden indirekt die Taten des Handelnden 5.2. Logik und Hermeneutik der Kommunikation 85 <?page no="85"?> 18 Vgl. Heringer, Hans Jürgen: Interkulturelle Kommunikation, 4 2017. kritisiert und nicht seine Person. A sagt z. B. zu sich: ›Meine Hose ist jetzt voller Flecken. Ich werde sie waschen müssen.‹ Du-Botschaften sind hingegen kon‐ fliktträchtig, weil sie nicht die Tat, sondern unmittelbar die Person angreifen. A würde hingegen vorwurfsvoll zu B sagen: ›Du kannst ja noch nicht mal anständig Saft eingießen. Was soll das? ‹ Es ist evident, dass die Du-Botschaften in der Regel antikommunikative Inhalte haben, die provozieren und letztlich zu kognitiven Dissonanzen führen. Interkulturelle Kommunikation ist im Vergleich zu traditionellen Diskurs‐ theorien völlig anders konstituiert. 18 Ihr geht es stets und überall darum, Kom‐ promisse zu suchen und Wege zur Annäherung zu ermöglichen. Kompromisse sind stets das Ergebnis einer langen und komplexen Bemühung zur gegensei‐ tigen Verständigung. Kompromisse führen nicht unmittelbar zu einer inneren Ausgeglichenheit der Kommunizierenden, bieten jedoch die Grundlage des Im-Gespräch-bleibens. Dabei streitet man sich, wägt ab und findet letztlich einen Kompromiss, der oftmals als bestmögliche Lösung in der jeweiligen Situation angesehen werden kann, ohne dabei eine der beiden wiederstreitenden Positi‐ onen gänzlich zu negieren. Ein solcher Kompromiss kann oftmals von Außen‐ stehenden als universaler Ansatz missverstanden werden, so dass eine klare Differenzierung zu universalistischen Relativierungstendenzen geleistet werden muss. Ihnen geht es oft um die vollständige Auflösung bestehender Ge‐ gensätze, ohne dabei Rücksicht auf das Grundanliegen der jeweiligen Dialog‐ parteien zu nehmen. Von einer solchen Gleichmachung ist die interkulturelle Kommunikation zu unterscheiden. Interkulturelle Kommunikation ist eine komplementäre Form der Dialogfüh‐ rung, in der auch Ich- und Du-Botschaften, direkte und indirekte sowie verbale oder nonverbale Gesprächsführungen grundlegend sind. In ihr beeinflussen der Austausch von Informationen sowie die Selbstwahrnehmung des Eigenen und des Anderen die Rahmenbedingungen der Verständigung erheblich. So gesehen kann Kommunikation Provokation bedeuten, eine Provokation, die den Gegen‐ über herausfordert oder dazu bewegt, eine bestimmte Richtung einzunehmen bzw. klare Position zu beziehen. Neben kulturell- und sozialisationsbedingten Unterschieden gibt es weitere Faktoren, die stets zu beachten sind. Diese sind in der Regel Augenkontakt und Händedruck, kurz Gestik und Mimik. Die Wesentlichkeit dieser Faktoren ist auch von den Neurowissenschaften erkannt worden, die sich als eine Erweite‐ rung und Ergänzung der Psychologie begreifen. Ziel solcher Betrachtungen ist, durch mikrosoziologisch bedingte Leistungen Sinn und Funktion interperso‐ 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 86 <?page no="86"?> naler Kommunikation zu bestimmen. Diese Untersuchungen zeigen, welche Be‐ reiche des Gehirns aktiviert werden, wenn sich Kommunizierende einen Ball zuwerfen oder ein bestimmtes gestisches oder mimisches Verhalten zeigen. Fakt ist, dass Sinn und Funktion von Gestik und Mimik von Individuum zu Indivi‐ duum konotativ wie denotativ anders sein können. Wissenschaftliche Feststel‐ lungen lassen sich insofern nicht generalisieren. Sie beschränken sich, wenn überhaupt, auf gewisse Kleingruppen, die man sich selektiv zusammensuchen kann. Denn jedes freundliche Lächeln, und jede Körpersprache können gespielt sein und nicht aus der Natürlichkeit der Person heraus entstehen. Eine zentrale Schwäche neurowissenschaftlicher Generalisierungsversuche, die diese geradezu unbrauchbar macht, ist die Bemühung, mit solchen Einzel‐ studien kulturübergreifende Merkmale erschließen zu wollen. Wie wir oben bei der Analyse von Nisbett und Ehlers‘ Geographisierungsthesen des Denkens ge‐ sehen haben, ist es ein schwieriges Unterfangen, kulturgeneralisierte Denk‐ formen zu konstruieren. Solche Studien bergen die Gefahr des Kulturessentia‐ lismus, nach dem eine bestimmte Handlung schematisch stereotypisiert wird. Nicht alle Deutschen oder Afrikaner zeigen ihren Zorn dadurch, dass sie ihre Ober- und Unterlippe aufeinanderpressen. Dies ist durchaus von Individuum zu Individuum anders zu betrachten. Freilich können Gestik und Mimik auch Zynismus, Arroganz oder ein Über‐ legenheitsgefühl transferieren und im Anderen diverse Gefühle und Reaktionen auslösen. Augen sind das Spiegelbild unserer Seele und sprechen je eine eigene Sprache. Unsere Blicke strahlen nicht nur Trauer oder Freude aus, sondern auch Sympathie, Antipathie oder gar Wut. Augen können bei jeweils anderen auch Zweifel oder Bedenken hervorrufen sowie bejahend oder verneinend wirken. Entgegen neurowissenschaftlicher Bemühungen, die der Meinung sind, dass es eine einheitliche Gestik-Mimik-Körpersprache gibt, ist zu betonen, dass diese von Individuum zu Individuum nicht nur unterschiedlich sein können, sondern auch mit unterschiedlichen Bedeutungen einhergehen. Freilich gibt es gewisse Ähnlichkeiten, die als Erwartungshaltung gut und fruchtbar sein können. Diese zu generalisieren, kann zu Einseitigkeiten führen. Offener Augenkontakt mit einem aufgeschlossenen und vor allem aufrich‐ tigen Lächeln ist, jenseits aller kulturellen Verschiedenheit, stets Sympathie er‐ weckend, während aufgesetztes Lächeln oder restriktive Haltung überall als störend wahrgenommen wird und Zurückhaltung erzeugt. Ob Kratzen am Kopf ein Zeichen von Unsicherheit ist und Reiben des Kinns Nachdenklichkeit dar‐ stellt, lässt sich nicht bedingungslos generalisieren. Es gibt eine Reihe von For‐ schern, die der Meinung sind, dass es so etwas wie kulturbedingte Universalien 5.2. Logik und Hermeneutik der Kommunikation 87 <?page no="87"?> und damit einhergehende Missverständnisse und Störungen gebe, die durch und durch nachvollziehbar seien. Es wird z. B. vermutet, dass ›Asiaten‹ die Individualität als Selbstisolation empfinden und eine zurückhaltende Körpersprache gemäß dieser Gesinnung dem Anderen gegenüber pflegen. In Bezug auf die orientalischen Kulturen wird ebenfalls unterstellt, diese seien, im Gegensatz zu den Asiaten, körperbetont, offensiv und bisweilen anschmiegsam. Im Hinblick auf die europäisch-westli‐ chen Völker wird wiederum eine distanzierte Körperhaltung dem Anderen ge‐ genüber unterstellt, die Nüchternheit ausstrahlt. Jenseits aller Typologisie‐ rungen kulturbedingter Handlungen, die durchweg theoretisch interessant sein mögen, erweisen sich solche Theorien in der Praxis interkultureller Kommuni‐ kation nur bedingt als nützlich. Es wäre verheerend, Kulturen auf Universalien wie Gestik und Mimik zu reduzieren und daraus Schlüsse zu ziehen. Die Praxis ist viel komplizierter als statistische Erhebungen oder bestimmte Beobach‐ tungen, die sich auf gewisse Individuen beziehen. Interkulturelle Kommunikation ist ein Modus wechselseitiger Selbstentfal‐ tung. Sie ist, recht verstanden, ein Ort kollektiver Bedürfniserfüllung, die stets eine soziokulturelle, religiöse und historische sowie individuelle Einbettung hat. Ziel einer derart orientierten Kommunikation ist Selbst- und Fremdverantwor‐ tung im Geiste wechselseitiger Akzeptanz. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die interkulturelle Kommunikation Modelle zu formulieren, Einstellungen und Überzeugungen in ein dialogisches Miteinander unter besonderer Berücksich‐ tigung der Unterschiede zu überführen. Aufgrund ihrer Anforderungen unter‐ scheidet sich interkulturelle Kommunikation von anderen Dialogformen da‐ durch, dass diverse kontextuell unterschiedliche Faktoren wie religiöskulturelle und soziologisch-ethnologische sowie sprachlich-gesellschaftliche Dimensionen bedeutsam sind. In dieser Begegnung entsteht eine hermeneuti‐ sche Situation, die dazu befähigt, Gemeinsamkeiten festzustellen, Unterschiede wahrzunehmen, Probleme zu präzisieren und Erwartungen zu formulieren, die den bisherigen Selbstverständlichkeiten diametral entgegengesetzt sein können. Die Verwirklichung der interkulturellen Kommunikation besteht aus einer Vielzahl emotionaler und sozialer Teilkompetenzen, wobei eine kultursensitive Haltung unter Kontextbeachtung unverzichtbar ist. Sie kann nur gedeihen, wenn die Kommunizierenden bereit sind, sich gegenseitig in die Gedankenwelt des jeweils Anderen hineinzuversetzen. Es handelt sich hier um die Praxis einer situativen und dem jeweiligen Kontext angemessenen Empathiefähigkeit. Im Seinshaushalt des Menschen existiert eine implizite Empathie, die ihn empfind‐ lich macht für seine Umgebung sowie die Belange und Empfindungen seiner Mitmenschen. Dies beobachten wir etwa, wenn ein Mensch sein Leid beklagt, 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 88 <?page no="88"?> in Tränen ausbricht und hilfebedürftig ist. In solchen Momenten äußert sich unsere implizite Empathie. Sie ist daher als eine wesensbestimmende Grunde‐ igenschaft des Menschen zu verstehen. Empathie baut eine Brücke und führt Mentalitäten zueinander. Sie erzeugt soziale Nähe und trägt zu kritischer, aber gleichsam dialogischer Kommunikation bei. Das folgende Drei-Komponenten- Modell der Individualität, Situativität und Kontextualität im Schaubild ist für eine solche Kommunikation von unverzichtbarer Bedeutung: 57 Kommunikation von anderen Dialogformen dadurch, dass diverse kontextuell unterschiedliche Faktoren wie religiös-kulturelle und soziologisch-ethnologische sowie sprachlich-gesellschaftliche Dimensionen bedeutsam sind. In dieser Begegnung entsteht eine hermeneutische Situation, die dazu befähigt, Gemeinsamkeiten festzustellen, Unterschiede wahrzunehmen, Probleme zu präzisieren und Erwartungen zu formulieren, die den bisherigen Selbstverständlichkeiten diametral entgegengesetzt sein können. Die Verwirklichung der interkulturellen Kommunikation besteht aus einer Vielzahl emotionaler und sozialer Teilkompetenzen, wobei eine kultursensitive Haltung unter Kontextbeachtung unverzichtbar ist. Sie kann nur gedeihen, wenn die Kommunizierenden bereit sind, sich gegenseitig in die Gedankenwelt des jeweils Anderen hineinzuversetzen. Es handelt sich hier um die Praxis einer situativen und dem jeweiligen Kontext angemessenen Empathiefähigkeit. Im Seinshaushalt des Menschen existiert eine implizite Empathie, die ihn empfindlich macht für seine Umgebung sowie die Belange und Empfindungen seiner Mitmenschen. Dies beobachten wir etwa, wenn ein Mensch sein Leid beklagt, in Tränen ausbricht und hilfebedürftig ist. In solchen Momenten äußert sich unsere implizite Empathie. Sie ist daher als eine wesensbestimmende Grundeigenschaft des Menschen zu verstehen. Empathie baut eine Brücke und führt Mentalitäten zueinander. Sie erzeugt soziale Nähe und trägt zu kritischer, aber gleichsam dialogischer Kommunikation bei. Das folgende Drei-Komponenten-Modell der Individualität, Situativität und Kontextualität im Schaubild ist für eine solche Kommunikation von unverzichtbarer Bedeutung: Individualität Kontextualität Worauf ist zu achten? Situativität Abbildung 5.3: Drei-Komponenten-Modell Wie das Schaubild zeigt, ist es folgerichtig nicht möglich, die hierin miteinander verschränkten Begriffe losgelöst und isoliert von ihren jeweiligen Zusammenhängen zu betrachten. Sie können somit lediglich in gegenseitiger Verbindung betrachtet werden, und konstituieren als solche eine jede Kommunikationssituation maßgeblich. Es sind ihre jeweiligen, individuellen Einflüsse, die Kommunikation rasch verändern und in bestimmte Richtungen verschieben können. Anhand ihrer Einflüsse können sich anfangs banale Unterschiede in kommunikative und hierarchische Kämpfe auswachsen, die selbst lediglich eine Abbildung bestehender Kampfplätze des Denkens sind. Aus diesem Grund ist es wichtig, den individuellen Komponenten einer jeden Kommunikationssituation besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Komponenten hängen mit den sieben miteinander verbundenen Begriffen zusammen, den Korrelatbegriffen interkultureller Kommunikation, auf die ich im nächsten Kapitel ausführlich zu sprechen kommen werde. Die Beachtung dieser Komponenten in der Kommunikation auf jedwedem Gebiet, hat unterschiedliche Gründe. Ein und derselbe Mensch kann in unterschiedlichen Situationen und Kontexten völlig anders reagieren, als seine übrigen Landsleute oder Menschen, mit denen er seit Jahrzehnten befreundet ist. Die Notwendigkeit der Beachtung dieses Drei-Komponenten-Modells hängt damit zusammen, dass die jeweiligen Situationen in der Regel komplex, die jeweils handelnden Personen verschieden und die kulturellen sowie traditionellen Kontexte von erheblicher Unterschiedlichkeit sein können. Abbildung 5.3: Drei-Komponenten-Modell Wie das Schaubild zeigt, ist es folgerichtig nicht möglich, die hierin miteinander verschränkten Begriffe losgelöst und isoliert von ihren jeweiligen Zusammen‐ hängen zu betrachten. Sie können somit lediglich in gegenseitiger Verbindung betrachtet werden, und konstituieren als solche eine jede Kommunikationssi‐ tuation maßgeblich. Es sind ihre jeweiligen, individuellen Einflüsse, die Kom‐ munikation rasch verändern und in bestimmte Richtungen verschieben können. Anhand ihrer Einflüsse können sich anfangs banale Unterschiede in kommu‐ nikative und hierarchische Kämpfe auswachsen, die selbst lediglich eine Abbil‐ dung bestehender Kampfplätze des Denkens sind. Aus diesem Grund ist es wichtig, den individuellen Komponenten einer jeden Kommunikationssituation besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Komponenten hängen mit den sieben miteinander verbundenen Be‐ griffen zusammen, den Korrelatbegriffen interkultureller Kommunikation, auf die ich im nächsten Kapitel ausführlich zu sprechen kommen werde. Die Be‐ achtung dieser Komponenten in der Kommunikation auf jedwedem Gebiet, hat unterschiedliche Gründe. Ein und derselbe Mensch kann in unterschiedlichen Situationen und Kontexten völlig anders reagieren, als seine übrigen Landsleute oder Menschen, mit denen er seit Jahrzehnten befreundet ist. 5.2. Logik und Hermeneutik der Kommunikation 89 <?page no="89"?> 19 Schütz, Klaus-Volker: Gruppenforschung und Gruppenarbeit, 1989, S. 86. Die Notwendigkeit der Beachtung dieses Drei-Komponenten-Modells hängt damit zusammen, dass die jeweiligen Situationen in der Regel komplex, die jeweils handelnden Personen verschieden und die kulturellen sowie tradi‐ tionellen Kontexte von erheblicher Unterschiedlichkeit sein können. In der Praxis der Kommunikation ist auf etwas Elementares hinzuweisen: Das Prinzip ›Heterogenität‹. Es beschreibt die Vielfalt, die in allen Kommunikati‐ onskontexten anzutreffen und zu beachten sind. Dies umfasst Bereiche der Po‐ litik, Wissenschaft, Gesellschaft und nicht zuletzt die Bildung. Im Sinne der Heterogenität haben wir also zu berücksichtigen, dass Homogenität als gegen‐ läufiges Strukturmerkmal zu sehen ist. Eine solche Ausdifferenzierung trägt dazu bei, dass in der Praxis Sach- und Beziehungsebene nicht miteinander ver‐ mischt werden sollten. Die Beachtung der Heterogenität steht somit im Gegen‐ satz zu einer mischungskonträren Homogenität, der es um die ›Reinheit‹ einer bestimmten Situation, eines Sachverhaltes oder gar einer kulturellen Eigen‐ schaft geht. Diese jedoch geht von der fälschlichen Annahme aus, dass alle In‐ dividuen einer jeweiligen Gesellschaft unweigerlich gleiche Charaktereigen‐ schaften in ähnlicher Konstellation besitzen. Wir haben stets zu berücksichtigen, dass jedes Individuum seine eigene Cha‐ rakterstruktur hat, die in der Kommunikation wirksam ist. Es gibt durchaus Menschen, die eine totalitäre, autoritäre, extrovertierte oder eine introvertierte Charakterstruktur haben. Es gibt auch Menschen, die mutig oder ängstlich sind. Zweifelsohne wirkt sich dies auf die zwischenmenschliche Kommunikation aus. Insofern sind menschliche Handlungsmotive nicht nur durch biologische Ge‐ gebenheiten, sondern vielmehr durch äußere Reize und vor allem ihre Lebens‐ geschichte / ihre Biographie bestimmt. Die humanistische Psychologie der Kommunikation umfasst das spezifische Wertesystem und die grundlegenden Prinzipien des Anderen ebenso intensiv wie der unmittelbare und authentische »Ausdruck der Person als Ganzheit, die Entfaltung von Kreativität […] und unverwechselbare Identität im lebendigen Kontakt mit anderen.« 19 Ein solches Vorgehen bietet den Kommunizierenden an, sich in Interaktion entfalten zu lernen. Weit darüber hinaus ermöglicht die humanbasierte Psychologie der Kommunikation den Raum, die sieben Korre‐ latbegriffe in einer verstehenden Interaktion frei und authentisch zu entfalten, zu korrigieren und ggf. zu erweitern. Auf diese Weise minimieren sich Hemm‐ schwellen und Barrieren. Sie tragen ferner dazu bei, dass die Kommunizierenden Individuen beachten und Kontexte mit Situationen nicht verwechseln. Dadurch 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 90 <?page no="90"?> erfahren Vorbehalte, Ressentiments und Vorurteile die nötige Transparenz, um gemeinsam beseitigt zu werden. An die Komponenten der Kontexte, Individuen und Situationen ist eine Spi‐ rale der Verständigung gekoppelt. Hierbei überprüft jeder sein Wissen über die jeweils Anderen und stellt sich selbst Fragen, die ich als die vier Kardinalfragen der dialogischen Selbstaufklärung bzw. Selbstarchäologie bezeichnen möchte: Wo sprechen wir? Worüber sprechen wir? Mit wem sprechen wir? Mit welcher Intention sprechen wir? Es geht um die selbstaufklärende Überprüfung, ob wir sprechen, um zu verstehen oder sprechen, um zu verunglimpfen oder um Vor‐ urteile zu verbreiten. Dies sind Fragen, die sich jeder zu stellen hat, wenn er einen echten Dialog sucht. Konkret fragen sich also die Kommunikationsteil‐ nehmenden selbstaufklärend, wie sie ihr Wissen über die Anderen erwerben, klassifizieren und bewerten; sie reflektieren auch darüber, welchen Nutzen sie sich davon erhoffen. Der Austausch von Antworten der Kommunizierenden bildet eine gute Grundlage wechselseitiger Korrektur des falschen, ungenauen oder vorurteilsbehafteten Wissens. Dies hängt damit zusammen, dass in uns Menschen ein egoistischer Mecha‐ nismus lebt, der uns dazu verleitet, durch die Abwertung der Anderen nach außen, Zusammengehörigkeitsgefühl und Aufwertung im Inneren zu erzeugen. Diese Mentalität erschwert echte Verständigungsbemühungen. Folgendes Bei‐ spiel soll dies verdeutlichen: Einer meiner Studenten namens Jonas berichtet von einer Situation, die er im Rahmen eines dreiwöchigen Aufenthaltes in China erlebt hat. Dabei werden ihm die drei Komponenten der Verständigung deutlich: »Ich verbrachte drei Wochen in einer chinesischen Familie. Abgesehen davon, dass wir uns nur mit Mühe sprachlich verständigen konnten, ist ihre Art, Wünsche oder Vor‐ schläge zu vermitteln, nahezu undurchschaubar. Eines Abends gehe ich mit meinem Austauschpartner durch Peking. Ich bin froh, die enge Wohnung im 21. Stock des Hochhauses verlassen zu können. Ich versuche ein Gespräch zu entwickeln, was nicht nur wegen besagter Sprachprobleme, sondern vor allem wegen seiner Schüchternheit sehr schwierig war. Irgendwann wird selbst ihm die Stille unangenehm und er erklärt mir, dass er jeden Tag, wenn er mit dem Bus zur Schule fährt, ein sehr hübsches Mädchen sähe. Schön und gut, denke ich mir. Dann wieder Schweigen. Nach einiger Zeit fragt er mich, ob ich dieses Mädchen mal sehen wolle. Mir doch egal, in meinen Augen sehen die Chinesen sowieso alle gleich aus. Er muss aber wohl irgendetwas anderes damit gemeint haben. 5.2. Logik und Hermeneutik der Kommunikation 91 <?page no="91"?> Nach einer Weile des Nachdenkens geht mir auf, dass die Sache mit dem ›hübschen Mädchen‹ der Versuch war zu entschuldigen, morgens mit dem Bus anstatt mit dem Taxi zur Schule zu fahren. Bisher hatten wir immer ein Taxi genommen. Natürlich hake ich noch einmal nach, um mich zu verge‐ wissern, ob meine Schlussfolgerung richtig sei. Dies ist ihm zwar offensicht‐ lich unangenehm, aber ich kann ja nichts dafür, wenn der Junge nicht einfach geradeheraus fragen kann.« Jonas wird nach seiner Rückkehr gebeten, einen Bericht über seine Reise zu schreiben. Ihm stehen im Allgemeinen zwei mögliche Varianten offen: Jonas findet erstens die Chinesen, dieses ›unverständliche Volk‹ einfach ›unerträglich‹ und ist heilfroh, dass die drei Wochen vorbei sind, da es für ihn sehr strapaziös war, die chinesische Mentalität zu verstehen. Jonas berücksichtigt zweitens die drei Komponenten: die Kontextualität, die Situativität und die Individualität. Wie könnte die Geschichte dann ausgehen? Jonas stehen mehrere Möglich‐ keiten zur Verfügung. Er kann von einer totalen Differenz der Kulturen aus‐ gehen und meinen, mit Chinesen sei nicht zu sprechen, weil sie nicht klar wie wir denken, reden und handeln. So betrachtet vergleicht er seine eigenen Ge‐ wohnheiten als Grundlage der Praxis der Chinesen. Die Konsequenz ist der Ab‐ bruch der Kommunikation. Jonas hat auch die Möglichkeit, seine Gewohnheiten abzulegen und zu versuchen, sich auf das Denken der chinesischen Individuen, mit denen er zusammenkommt, einzulassen und dementsprechend eine kom‐ munikative Beziehung aufzubauen. Dies wäre ein erster Schritt, den Denkhaus‐ halt und das Geisteskarussell der chinesischen Individuen so zu betrachten, wie sie sich selbst verstehen. 5.2.2. Das tragfähige Zwischen: Die Menschenwürde Die noch vorzustellende kontextuelle Kommunikationstheorie kann eine solide praktische Umsetzung erfahren, wenn sie von ›Etwas‹ getragen wird, was allen Individuen, die sich in unterschiedlichen Kulturräumen bewegen, verbindet. Dieses Etwas nenne ich ›das tragfähige Zwischen‹, das in jedem einzelnen Kon‐ text und in jeder Kommunikationssituation als unbedingt zu beachten ist. In diesem Etwas lebt etwas Grundlegendes, was jenseits aller Kulturmodelle und hegemonialer Weltansprüche erhaben ist. Dieses tragfähige Zwischen heißt, wie das folgende Schaubild zeigt, Menschenwürde, die nicht nur in Deutschland als unantastbar gilt, sondern auch in allen Verfassungen der Völker: 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 92 <?page no="92"?> 60 G F G V Tragfähiges Zwischen Abbildung 5.4: Menschenwürde Wie zu sehen ist, stellt die Menschenwürde als das tragfähige Zwischen zwar nach außen hin einen dynamischen und sich entwickelnden Prozess dar, bildet jedoch in ihrem nach innen gerichteten und für alle Verwendungen in unterschiedlichen Kontexten ein durchaus feststehendes und greifbares Instrumentarium ab. Dies ergibt sich nicht nur aus der Verhandlung einzelner Beteiligter Menschengruppen, Völker und Verfassungen, sondern stellt den obersten Wert dar, den der Mensch als absolut schützenswert betrachtet. Die nach außen hin mit durchlässigen Linien angedeuteten, offenen Grenzen zeigen, dass der Mensch kontinuierlich bestrebt ist, die Allgemeingültigkeit der Menschenwürde im ständigen Austausch mit anderen Kulturen, Völkern und Gemeinschaften begreiflich zu machen. Nur auf diese dialogische Weise können etwa europäisch-westliche Gesellschaften auf lange Sicht die Etablierung und Achtung der Menschenwürde weltweit erreichen. Die Annahme dieses tragfähigen Zwischens erfolgt ausschließlich durch einen kommunikativen Aushandlungsprozess. Wir können dementsprechend nicht, wie im Sinne der traditionellen Kommunikationsmodelle, von einer weltumspannenden Alpha-Kultur ausgehen, welche die Regel der Kommunikation von unten nach oben regelt und steuert. Aushandlungsprozess in diesem Zusammenhang heißt, dass alle Vertreter der Völker ihre Begründungen liefern, um letztlich einen Konsens zu finden. Auf diesen Konsens können dann weiter andere Aushandlungen erfolgen, die Kompromisse ermöglichen. Wer diesen Konsens des tragfähigen Zwischen annimmt, bekundet sein Interesse auch Kompromisse über Gemeinsamkeiten und Differenzen zu suchen. Das folgende Komplementaritätsmodell zeigt ein solches Vorgehen. Hierbei unterscheide ich zwischen ›angeborener‹ Menschenwürde und ›erworbenen‹ Menschenrechten: Erworbene Menschenrechte Interkulturelle Kommunikation Angeborene Menschenwürde Abbildung 5.5: Komplementaritätsmodell Angeborene Würde ist universell und liegt im menschlichen Wesen begründet. Selbstachtung, Autonomie sowie Überlebensinteresse sind Charakteristika dieser Würde, dies unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion und Nationalität. Erworbene Menschenrechte sind hingegen partikulär und werden dem Menschen durch Verfassungen zuerkannt, um die angeborene Würde Abbildung 5.4: Menschenwürde Wie zu sehen ist, stellt die Menschenwürde als das tragfähige Zwischen zwar nach außen hin einen dynamischen und sich entwickelnden Prozess dar, bildet jedoch in ihrem nach innen gerichteten und für alle Verwendungen in unter‐ schiedlichen Kontexten ein durchaus feststehendes und greifbares Instrumen‐ tarium ab. Dies ergibt sich nicht nur aus der Verhandlung einzelner Beteiligter Menschengruppen, Völker und Verfassungen, sondern stellt den obersten Wert dar, den der Mensch als absolut schützenswert betrachtet. Die nach außen hin mit durchlässigen Linien angedeuteten, offenen Grenzen zeigen, dass der Mensch kontinuierlich bestrebt ist, die Allgemeingültigkeit der Menschenwürde im ständigen Austausch mit anderen Kulturen, Völkern und Gemeinschaften begreiflich zu machen. Nur auf diese dialogische Weise können etwa europä‐ isch-westliche Gesellschaften auf lange Sicht die Etablierung und Achtung der Menschenwürde weltweit erreichen. Die Annahme dieses tragfähigen Zwischens erfolgt ausschließlich durch einen kommunikativen Aushandlungsprozess. Wir können dementsprechend nicht, wie im Sinne der traditionellen Kommunikationsmodelle, von einer welt‐ umspannenden Alpha-Kultur ausgehen, welche die Regel der Kommunikation von unten nach oben regelt und steuert. Aushandlungsprozess in diesem Zu‐ sammenhang heißt, dass alle Vertreter der Völker ihre Begründungen liefern, um letztlich einen Konsens zu finden. Auf diesen Konsens können dann weiter andere Aushandlungen erfolgen, die Kompromisse ermöglichen. Wer diesen Konsens des tragfähigen Zwischen annimmt, bekundet sein Interesse auch 5.2. Logik und Hermeneutik der Kommunikation 93 <?page no="93"?> 20 Yousefi, Hamid Reza: Menschenrechte im Weltkontext, 2013 und Interkulturalität, 2013. Kompromisse über Gemeinsamkeiten und Differenzen zu suchen. Das folgende Komplementaritätsmodell zeigt ein solches Vorgehen. Hierbei unterscheide ich zwischen ›angeborener‹ Menschenwürde und ›erworbenen‹ Menschenrechten: 60 G F G V Tragfähiges Zwischen Abbildung 5.4: Menschenwürde Wie zu sehen ist, stellt die Menschenwürde als das tragfähige Zwischen zwar nach außen hin einen dynamischen und sich entwickelnden Prozess dar, bildet jedoch in ihrem nach innen gerichteten und für alle Verwendungen in unterschiedlichen Kontexten ein durchaus feststehendes und greifbares Instrumentarium ab. Dies ergibt sich nicht nur aus der Verhandlung einzelner Beteiligter Menschengruppen, Völker und Verfassungen, sondern stellt den obersten Wert dar, den der Mensch als absolut schützenswert betrachtet. Die nach außen hin mit durchlässigen Linien angedeuteten, offenen Grenzen zeigen, dass der Mensch kontinuierlich bestrebt ist, die Allgemeingültigkeit der Menschenwürde im ständigen Austausch mit anderen Kulturen, Völkern und Gemeinschaften begreiflich zu machen. Nur auf diese dialogische Weise können etwa europäisch-westliche Gesellschaften auf lange Sicht die Etablierung und Achtung der Menschenwürde weltweit erreichen. Die Annahme dieses tragfähigen Zwischens erfolgt ausschließlich durch einen kommunikativen Aushandlungsprozess. Wir können dementsprechend nicht, wie im Sinne der traditionellen Kommunikationsmodelle, von einer weltumspannenden Alpha-Kultur ausgehen, welche die Regel der Kommunikation von unten nach oben regelt und steuert. Aushandlungsprozess in diesem Zusammenhang heißt, dass alle Vertreter der Völker ihre Begründungen liefern, um letztlich einen Konsens zu finden. Auf diesen Konsens können dann weiter andere Aushandlungen erfolgen, die Kompromisse ermöglichen. Wer diesen Konsens des tragfähigen Zwischen annimmt, bekundet sein Interesse auch Kompromisse über Gemeinsamkeiten und Differenzen zu suchen. Das folgende Komplementaritätsmodell zeigt ein solches Vorgehen. Hierbei unterscheide ich zwischen ›angeborener‹ Erworbene Menschenrechte Interkulturelle Kommunikation Angeborene Menschenwürde Angeborene Würde ist universell und liegt im menschlichen Wesen begründet. Selbstachtung, Autonomie sowie Überlebensinteresse sind Charakteristika dieser Würde, dies unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion und Nationalität. Erworbene Menschenrechte sind hingegen partikulär und werden dem Menschen durch Verfassungen zuerkannt, um die angeborene Würde Abbildung 5.5: Komplementaritätsmodell Angeborene Würde ist universell und liegt im menschlichen Wesen begründet. Selbstachtung, Autonomie sowie Überlebensinteresse sind Charakteristika dieser Würde, dies unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion und Natio‐ nalität. Erworbene Menschenrechte sind hingegen partikulär und werden dem Menschen durch Verfassungen zuerkannt, um die angeborene Würde zu schützen. 20 Aus der angeborenen Menschenwürde speisen sich die erworbenen Rechte wie der Rechtsanspruch auf Leben, Freiheit, Arbeit, soziale Sicherheit und Bildung. Dazu gehören ebenfalls Anspruch auf Gleichbehandlung und Mei‐ nungsfreiheit. Eine Aufgabe dialogischer Verständigung ist die Herstellung einer Balance zwischen der Universalität der Menschenwürde und pluralen Partikularität der Menschenrechte. Dies bedeutet, den Menschenrechtsmonismus und damit jede Form von einseitigen Universalitätskonzepten zu Gunsten eines Menschen‐ rechtspluralismus als Aushandlungsprozess, an dem alle Kulturen beteiligt sind, zu vermeiden lernen. Insofern sind Menschenrechte keine Prinzipien, sondern konkretisierte Regeln, deren Praxis teilweise kontextbedingt ist. Ist ein Men‐ schenrecht in einem Kontext einklagbar, so kann es durchaus sein, dass dies in einem anderen Kontext aufgrund kulturbedingter Gegebenheiten juristisch nicht erlangt werden kann oder anders zu betrachten ist. 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 94 <?page no="94"?> Universalitätskonzepte der Menschenrechte sind diejenigen Orientierungen, die auf eigenen Prämissen aufbauen und diese auch dem Anderen aufzwingen wollen. Mal durch Zuckerbrot, mal durch Peitsche. Hinzukommt, dass solche Konzepte in der Regel sich selbst das Recht herausnehmen, Menschenrechte zu verletzten ohne dies als solche zu deklarieren. In dieser Denkhaltung lebt eine Extremposition fort, die Kommunikationen empfindlich stört und zum Abbruch bringt, wenn die zu Sanktionierenden in Diktum nicht akzeptieren. Dialogische Verständigung heißt, im Gegensatz zu solchen Konzepten, Ursa‐ chen von möglichen Konflikten nicht nur in Bezug auf Menschenrechts‐ fragen, sondern auf jedwedem Gebiet denkend zu verstehen. Dies ist ein Im‐ perativ transkulturellen Denkens und interkulturellen Handelns. Das tragfähige Zwischen ermöglicht, zusammen mit anderen Kommunizier‐ enden, Leitbegriffe zu entfalten und das interkulturelle Handeln von transkul‐ turellem Denken leiten zu lassen. Wer versucht, dennoch nonverbal durch Ka‐ tegorien der Macht eine eigene Leitkultur als gemeinsamen Leitbegriff misszuverstehen, tut dem Dialog und der Begegnung der Individuen Gewalt an. Das folgende kontextuelle Kommunikationsmodell baut auf einem solchen trag‐ fähigen Zwischen auf, um eine wechselseitige Verständigung im Geiste der ge‐ genseitigen Wertschätzung zu ermöglichen. 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung Im vorangegangenen Kapitel ging es um die Klärung der Frage nach Kommu‐ nikation insgesamt und interkultureller Kommunikation insbesondere. Die dort formulierten Grundpositionen gelten für die weiteren Überlegungen dieser Studie. Sie stellen essentielle und ebenso notwendige Voraussetzungen für einen beweglichen Kommunikationsbegriff dar, der für die nachfolgenden Untersu‐ chungen ebenso unerlässlich ist, wie die Frage nach den Bedingungen zum er‐ folgreichen Gelingen einer jeden Kommunikationssituation. Ich halte fest, dass die herkömmlichen Kommunikationsmuster in der Regel auf der Ebene politi‐ scher, religiöser oder kultureller Einstellung und Überzeugung extremistische Tendenzen bzw. negative Fundamentalismen generieren können. Ihnen liegt zumeist ein dogmatisches bzw. differenzorientiertes Erziehungskonzept zu‐ grunde. Dies mag auf gewisse Egoismen zurückzuführen sein, die in uns Men‐ schen unterschiedlich wirksam sind, die im Rahmen unserer Primärsozialisation geschult werden. 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 95 <?page no="95"?> 21 Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Interkulturelle Kommunikation, 2013. 22 Vgl. Sartoscht: Die Gathas des Sartoscht, 2009. 11 Gatha, 54/ 1. Zwar ist der Mensch kontinuierlich bemüht, sich mit der ihn umgebenden Welt beständig in Beziehung zu setzen, um sie in ihrer Gesamtheit erfassen zu können, doch steht er dabei immer wieder vor einer Reihe von Herausforde‐ rungen. Ressentiments, Vorurteilsbelastung oder schlichtweg mangelndes Wissen, im Einzelfall hervorgerufen oder gefördert durch mangelnde Reflexion oder ein einseitig ausgeprägtes, unkritisch angeeignetes Wissen bilden die Vo‐ raussetzungen für eine Entgleisung kommunikativer Absichten. 21 Als elementar erweist sich hierbei die gegenseitige Bereitschaft zur Verständigung über eine bestimmte Sache oder bestimmte Themen. Ist diese nicht oder nur einschränkt vorhanden, so ist dies jedwedem theoretischen wie praktischen Ansatz kontex‐ tabhängiger Kommunikation abträglich. Diese Erkenntnis macht deutlich, dass wir eine völlig neue, praktische Kom‐ munikationstheorie benötigen, die ich als kontextuell bezeichne. Kontextuell zu verfahren bedeutet, in gegenseitiger Bereitschaft unterschiedliche Traditionen mit ihren jeweils eigenen Terminologien, Fragestellungen und Lösungsansätzen von ihren verschiedenen Positionen her zur Sprache kommen zu lassen. Kon‐ textuelle Betrachtung des Eigenen und des Anderen hilft uns, verschüttete Ge‐ meinsamkeiten zu entdecken und solide Verständigungsperspektiven zu entwi‐ ckeln. Transkulturell denken und interkulturell handeln bilden das Wesen eines solchen kontextsensitiven Ansatzes. Dies bedeutet, sich mit interkultureller Reflexivität in die Denk- und Erfah‐ rungswelt des Anderen hineinzuversetzen und die eigene Perspektive mit den Augen des Anderen wahrzunehmen. Eine angemessene Interpretation und Ana‐ lyse von Kommunikationsakten ist ohne eine solche sensitive Kontextualisie‐ rung kaum möglich. Die Vielschichtigkeit dieses Ansatzes gleicht derjenigen der Kommunikation. Jede Situation trägt ihre jeweils eigenen, spezifischen Bedin‐ gungen mit sich und beeinflusst auf diesem Wege das Gefüge der gesamten Konstellation, was eine bestimmte Kontextualität erforderlich macht. Kontex‐ tuell zu verfahren heißt, bestehende Divergenzen wahrnehmen und in rich‐ tungsweisende Konvergenzen überführen zu können. Mein Ansatz ist eine gewaltfreie Art zu denken, zu reden und zu handeln, im Sinne des altpersischen Philosophen Sartoschts, Zarathustras (2. Jhd. v. Chr.). Seine Gathas ›Himmlischen Gesänge‹ 22 , sind das Plädoyer für eine kosmische Harmonie, ein einfühlsames Mensch-Mensch-Verhältnis nach dem Vorbild der Natur, in der alles zusammenhängt und zusammenwächst: »So soll es sein, daß Freundschaft und Brüderlichkeit, welche unser aller Wunsch sind, zu uns ge‐ 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 96 <?page no="96"?> 23 Gatha, 54/ 1. 24 Vgl. Rorty, Richard: Eine Kultur ohne Zentrum, 1993, S. 10. langen […], damit jeder, der im Lichte der guten Gedanken und seiner Wahr‐ nehmung [handelt], zum Genuß der gerechten Belohnung kommt.« 23 Dies markiert zugleich eine essentielle Grundhaltung aller kommunikativen Theorien. Die Hypothese, die Kerndynamik Sartoschts auch auf alle Menschen außerhalb seiner Religionsgemeinschaft ausweiten zu können, sieht hierin ebenso ihre Bestätigung, gar ihre Notwendigkeit. Sartoschts Triade aus der Ver‐ bindung von gutem Denken, Sprechen und Handeln stellt somit eine kommu‐ nikative wie ethische Verhaltensnorm dar, die einen universalen Anspruch be‐ sitzt und als solche kategorisch vertreten werden sollte. Eine solche Handlungspraxis setzt die Umgestaltung unserer Selbstwahrnehmung voraus, die zur Folge hat, dass wir die Anderen durch eine andere Brille sehen. Es be‐ deutet darüber hinaus, sich mit der Denk- und Erfahrungswelt des Anderen sowie seiner Sichtweise auf die zu Grunde liegende Situation und das darin betrachtete Themengebiet zu befassen. Auf diese Weise sehen wir alles in einem neuen Licht und können angemessen handeln. Unsere angeborenen Fähigkeiten wirken stärker, wenn wir sie gezielt einsetzen und ihre Grenzen kennenlernen. Durch den Dialog und die Aneignung der Sichtweise des Anderen betrachten die Kommunizierenden ihr jeweiliges Gegenüber nicht nur als Gesprächs‐ partner, sondern auch als essentiellen Bestandteil der Kommunikation insge‐ samt, der nicht zuletzt ebenso dazu motiviert, im Sinne der Gathas zu denken, zu sprechen und zu handeln. Ebenso ist es möglich, auf diesem Wege die eigenen Fähigkeiten in dialogischer Form kennenzulernen und Perspektiven für die Po‐ tentiale des Eigenen wie des jeweiligen Anderen zu entwickeln. Etwa 2500 Jahre später formuliert Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) die These ›Zurück zur Natur‹. Er sieht uns, wie Sartoscht, in Gefahr und regt an, zu unserer wahren und einfühlsamen Natur zurückzufinden. Dies setzt prozess‐ hafte Anstrengungen voraus, die von Individuum zu Individuum anders ge‐ meistert werden können. Die immerwährende Selbsterforschung, die reflektiert ist und ihre Reinform erreicht hat, führt in der Regel zur Verminderung der negativen Tendenzen wie auch zur Zunahme echter Ehrfurcht vor allen Lebe‐ wesen und Anteilnahme am Leben des Anderen. Dadurch wird der psychologisch wie philosophisch verbreitete Ansatz be‐ günstigt, das eigene Selbst über das des Anderen zu definieren. 24 Dies zeigt nicht zuletzt die Notwendigkeit auf, den Anderen als Teil der eigenen Weltwahrneh‐ mung zu akzeptieren, wenngleich hieraus keine Verpflichtung zur bedingungs‐ losen Akzeptanz aller seiner Handlungen und Entscheidungen gefolgert werden 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 97 <?page no="97"?> 25 An anderer Stelle habe ich diese Korrelatbegriffe eingehend untersucht, worauf hier grundsätzlich verwiesen sei. Vgl. Yousefi, Hamid Reza und Ina Braun: Interkulturalität, 2011 und Yousefi, Hamid Reza: Interkulturelle Kommunikation, 2014. kann. Vielmehr dient dieser Prozess zur Wahrung und Erlangung einer würdi‐ genden Distanz zu denjenigen Verhaltensweisen, die mit dem jeweils eigenen Selbstverständnis sowie der eigenen Moralvorstellung kollidieren. Dieser Prozess der Selbstbefragung schafft eine solide Grundlage, auf der respektvolle Begegnung und empathisches Zuhören entfaltet werden können. Wer diese Dimension erreicht, unterstellt niemandem Fehlverhalten, sondern ist stets bemüht, lebensweltliche Bedürfnisbefriedigung und Wohlergehen des Anderen aktiv zu fördern, dies in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Dies bildet einen ersten, wesentlichen Schritt zur Grundlage einer gelingenden Kom‐ munikation. Eine kontextuelle Art zu kommunizieren fußt stets auf der ge‐ nannten Triade des Sartoscht, wohl zu denken, wohl zu reden und wohl zu han‐ deln, die gleichsam die Grundlage einer gewaltfreien Begegnung auf jedwedem Gebiet ist. Um eine solche Verständigung zu entfalten, können uns folgende sieben Schlüsselbegriffe nützlich sein, die ich an anderer Stelle als Korrelatbe‐ griffe bezeichnet und erläutert habe. 25 63 Wege die eigenen Fähigkeiten in dialogischer Form kennenzulernen und Perspektiven für die Potentiale des Eigenen wie des jeweiligen Anderen zu entwickeln. Etwa 2500 Jahre später formuliert Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) die These ›Zurück zur Natur‹. Er sieht uns, wie Sartoscht, in Gefahr und regt an, zu unserer wahren und einfühlsamen Natur zurückzufinden. Dies setzt prozesshafte Anstrengungen voraus, die von Individuum zu Individuum anders gemeistert werden können. Die immerwährende Selbsterforschung, die reflektiert ist und ihre Reinform erreicht hat, führt in der Regel zur Verminderung der negativen Tendenzen wie auch zur Zunahme echter Ehrfurcht vor allen Lebewesen und Anteilnahme am Leben des Anderen. Dadurch wird der psychologisch wie philosophisch verbreitete Ansatz begünstigt, das eigene Selbst über das des Anderen zu definieren. 24 Dies zeigt nicht zuletzt die Notwendigkeit auf, den Anderen als Teil der eigenen Weltwahrnehmung zu akzeptieren, wenngleich hieraus keine Verpflichtung zur bedingungslosen Akzeptanz aller seiner Handlungen und Entscheidungen gefolgert werden kann. Vielmehr dient dieser Prozess zur Wahrung und Erlangung einer würdigenden Distanz zu denjenigen Verhaltensweisen, die mit dem jeweils eigenen Selbstverständnis sowie der eigenen Moralvorstellung kollidieren. Dieser Prozess der Selbstbefragung schafft eine solide Grundlage, auf der respektvolle Begegnung und empathisches Zuhören entfaltet werden können. Wer diese Dimension erreicht, unterstellt niemandem Fehlverhalten, sondern ist stets bemüht, lebensweltliche Bedürfnisbefriedigung und Wohlergehen des Anderen aktiv zu fördern, dies in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Dies bildet einen ersten, wesentlichen Schritt zur Grundlage einer gelingenden Kommunikation. Eine kontextuelle Art zu kommunizieren fußt stets auf der genannten Triade des Sartoscht, wohl zu denken, wohl zu reden und wohl zu handeln, die gleichsam die Grundlage einer gewaltfreien Begegnung auf jedwedem Gebiet ist. Um eine solche Verständigung zu entfalten, können uns folgende sieben Schlüsselbegriffe nützlich sein, die ich an anderer Stelle als Kor und erläutert habe. 25 Interkulturelle Kompetenz Interkulturelle Toleranz Interkulturelle Hermeneutik Interkulturelle Semantik Interkulturelle Komparatistik Interkulturelle Ethik Das Eigene und das Andere Abbildung 5.6: Korrelatbegriffe der Kommunikation Wie das Schaubild veranschaulicht, besteht zwischen den hier vorgestellten sieben Korrelatbegriffen ein inhärenter Zusammenhang. Wie schon zuvor für die äußeren Einflussfaktoren auf kommunikative Situationen geschildert, lassen sich die hier vorgestellten Begriffe zwar unabhängig voneinander analysieren, jedoch entfaltet sich ihre wechselseitige Beeinflussung und gegenseitige Bedingtheit erst im freien Zusammenspiel. Ihre Berücksichtigung ist für jede Kommunikationssituation, insbesondere jedoch für solche, die zwischen Mitgliedern 24 Vgl. Rorty, Richard: Eine Kultur ohne Zentrum, 1993, S. 10. 25 An anderer Stelle habe ich diese Korrelatbegriffe eingehend untersucht, worauf hier grundsätzlich verwiesen sei. Vgl. Yousefi, Hamid Reza und Ina Braun: Interkulturalität, 2011 und Yousefi, Hamid Reza: Interkulturelle Kommunikation, 2014. Abbildung 5.6: Korrelatbegriffe der Kommunikation Wie das Schaubild veranschaulicht, besteht zwischen den hier vorgestellten sieben Korrelatbegriffen ein inhärenter Zusammenhang. Wie schon zuvor für die äußeren Einflussfaktoren auf kommunikative Situationen geschildert, lassen 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 98 <?page no="98"?> 26 Vgl. Yousefi, Hamid Reza und Ina Braun: Interkulturelles Handbuch der Kulturwissen‐ schaft, 2015, S. 297 f. 27 Rorty, Richard. Eine Kultur ohne Zentrum, 1993, S. 11. sich die hier vorgestellten Begriffe zwar unabhängig voneinander analysieren, jedoch entfaltet sich ihre wechselseitige Beeinflussung und gegenseitige Be‐ dingtheit erst im freien Zusammenspiel. Ihre Berücksichtigung ist für jede Kom‐ munikationssituation, insbesondere jedoch für solche, die zwischen Mitgliedern unterschiedlicher kultureller Herkunft entstehen, von essentieller Bedeutung für einen gelingenden und zukunftsweisenden Ausgang. Bei der Klärung dieser zusammenhängenden Korrelatbegriffe geht es um die Analyse folgender Fragen, auf die ich in diesem Kapitel ausführlich eingehen werde: Was heißt Identität? Was bedeutet kompetentes Verhalten? Warum sind Wortbedeutungen zu beachten? Wie verstehen sich das Eigene und das Andere? Wozu sind Vergleiche gut? Wie werden wir uns gegenseitig gerecht? Und schließlich: Warum brauchen wir Normen? Diese Orientierungsbereiche unterliegen zwei Prinzipien. Sie lassen sich ers‐ tens nicht schematisch in der einen oder anderen Disziplin fixieren, weil sie in allen Wissenschaftsbereichen, mit spezifischen Eigentümlichkeiten betrachtet und verwendet werden. Sie können zweitens etymologisch ebenfalls nicht durch eine einzige Sprachkultur durchbuchstabiert werden. Bei jeder Begriffserklärung ist stets dem Kontext angemessen zu verfahren. Dies bedeutet auch, die einen spezifischen Begriff umgebende historische wie pragmatische Herleitung zu berücksichtigen, wenn etwa strittige Begriffe ver‐ handelt oder neu interpretiert bzw. besetzt werden sollen. Insbesondere bei po‐ litisch-juristischen wie auch historisch-kritischen Begriffen ist besondere Sen‐ sibilität geboten. Nicht nur, dass bestimmte Kontexte im Laufe der Zeit verändert und mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert werden können, besteht darüber hinaus Grund zur Vorsicht durch die vielfach unkritische Über‐ nahme bestehender Deutungen. 26 Dies macht es notwendig, kulturspezifische Begriffe etwa auch mit demje‐ nigen Kontext zu versehen, in dem sie verwendet werden. Ebenso muss der Begriff selbst jedoch adäquat genug sein, ihn mit neuen, möglicherweise kon‐ textangemesseneren Bedeutungen zu füllen. So ist etwa vom Begriff Demokratie durchaus anzunehmen, dass er primär eine Staatsform definiere, doch ist es darüber hinaus möglich, Demokratie als »eine Metaphysik der Beziehung des Menschen zur Natur und seiner Naturerfahrung« 27 zu deuten. Darüber hinaus kann das Hinzufügen, Verändern oder Reduzieren eines bestimmten Begriffes wiederum dazu führen, den jeweiligen Kommunikationspartnern ein anderes Bild dessen zu vermitteln, was mit einem bestimmten Begriff normalerweise 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 99 <?page no="99"?> assoziiert wird. Aus diesem Grund ist eine deutliche, begriffliche Differenzie‐ rung essentiell, wenn auf kulturübergreifender oder disziplinübergreifender Basis kommuniziert wird. Bei all diesen Orientierungsfragen sind mindestens vier kontextbedingte Faktoren grundlegend: Formen des Menschenbildes und Wirklichkeitsverständnisses sowie des Wert- und Moralverständnisses. Das System der hier vorzustellenden Korrelatbegriffe versteht sich als ein Modell der kommunikativen Komplementarität. Komplementarität bedeutet in Theorie wie Praxis das Gemeinsame, das Verbindende und das Ergänzende zu suchen. Ein solches Verfahren bietet die Möglichkeit, in kommunikativem Ein‐ vernehmen jede Form von Schwarz-Weiß-Malerei zu vermeiden und offen über Differenzen zu sprechen. Wenn der komplementäre Weg nicht gegangen wird, gestaltet sich die Kommunikation in der Praxis zumeist differenzorientiert. Das hier mit Feindbildern wie ›Ost‹ und ›West‹ oder ›Islam‹ und ›Christentum‹ ge‐ arbeitet wird, ist nicht verwunderlich. Insofern will das vorliegende Korrelat‐ system der interkulturellen Kommunikation eine Stütze sein. 5.3.1. Modus der Identität In allen zwischenmenschlichen Begegnungen spielt das Selbstbild des Menschen eine entscheidende Rolle. Dieses Selbstbild definiert, wer ich bin, warum ich so bin und nicht anders sein kann. Wir finden keine Denkform, in der das Selbstsein keine spezifische Ausprägung erfährt. Denn: Die Art und Weise des Denkens ist wesensbestimmend für die Art und Weise des Selbstseins. Die Ausdrücke ›Heimat‹ und ›Beheimatung‹ besitzen eine derartige Prägekraft, mit denen jedes Individuum bestimmte Erfahrungen und Emotionen verbindet. In dem Aus‐ druck ›Heimat‹ steckt eine emotionale Welt, eine Art Sehnsucht, die uns im tiefsten Inneren bewegt und uns Orientierung gibt. Sie ruft in uns etwas Ver‐ trautes auf, wie es sich etwa in Kindheitserinnerungen äußert. Orte und Erfah‐ rungen, mit denen wir uns identifizieren, Lebenswege, in denen Sitten und Ge‐ bräuche, Ironie und Humor, Sprache und Musik sowie Religion und Tradition zusammenfließen und Identität stiften. Jeder kennt auf seine Weise das Gefühl des Heimwehs und Verlassenseins. Der Heimatbegriff ist darüber hinaus sinnstiftend für die eigene Identität. Er verbindet sich leicht mit dem Begriff der ›Sehnsucht‹ und verweist somit sowohl auf das von einem jeweiligen Menschen gewohnten Umfeld sowie die räumliche Umgebung, in der er sich zumeist aufhält. Damit verbindet sich jedoch nicht notwendigerweise ein konkreter, geographischer Ort, vielmehr ist hiermit ein situativer Ort gemeint, an dem sich ein Mensch ›zu Hause‹ fühlt. Dieses Gefühl 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 100 <?page no="100"?> 28 Vgl. Yousefi, Hamid Reza und Ina Braun: Interkulturelles Handbuch der Kulturwissen‐ schaft, 2015, S. 245. drückt eine schützende Komponente aus und kann als räumliche Verdichtung aller Aspekte der Persönlichkeit eines Menschen gedeutet werden. 28 Schon Kinder im Kindergarten sagen: ›Ich will heim.‹ Auch Patienten im Krankenhaus äußern stets den Wunsch, heimgehen zu wollen. Selbst im Urlaub sagen Erwachsene oder Kinder nach einiger Zeit: ›Ich will heim.‹ Dieser Aus‐ druck eines sehnsüchtigen Verlangens nach dem Ursprung begleitet den Men‐ schen während der gesamten Spanne seines Lebens. Er verweist auf eine we‐ sentliche Komponente der menschlichen Identität. Wir kennen das Theaterstück ›Andorra‹ von Max Frisch (1911-1991). Das Drama versetzt den Zuschauer bzw. Leser schrittweise in Angst und Schrecken, gibt ihm anderer‐ seits aber auch Hoffnung: Es geht um einen Jungen namens Andri, der von den Einwohnern Andorras diskriminiert wird. Die Dorfbewohner projizieren all ihre negativen Eigen‐ schaften auf diesen Jungen. Die Bedrohung durch die ›Schwarzen‹, also die Spanier, wächst in Andorra, einem Kleinstaat in den Pyrenäen zwischen Spanien und Frankreich, zuneh‐ mend. Ein Lehrer hat mit einer Spanierin ein Kind, was allerdings als schänd‐ lich in diesem Dorf angesehen wird. Aus Feigheit überlegt sich der Lehrer eine Lüge und gibt seinen eigenen Sohn Andri für einen Juden aus. Nie‐ mandem sagt er die Wahrheit, auch nicht seinem Sohn. Dies führt zu dessen Ausschluss bei den Dorfbewohnern, die ihn wegen seines angeblichen Judes‐ eins hänseln. Bald glaubt Andri selbst, ein Jude zu sein. Die Bewohner An‐ dorras begegnen ihm permanent mit Argwohn. Durch all dies ist er schließ‐ lich so geprägt, dass er, obschon er durch den Pfarrer erfährt, doch kein Jude zu sein, an der ihm zugewiesenen jüdischen Identität festhält und später er‐ mordet wird. Max Frisch führt uns vor Augen, wie lebensnotwendig Identität für den Men‐ schen ist. Der Mensch will wissen, auf welchem Boden er steht und welcher sozialen Umwelt er angehört. Andri leidet Zeit seines Lebens unter einer Iden‐ titätskrise. Er fühlt sich betrogen und seiner Identität beraubt. Max Frisch setzt der interkulturellen Reflexion ein Denkmal, nämlich der Frage, warum der Kommunikation stets die Klärung dessen vorausgeht, was Identität für das Ei‐ gene und das Andere bedeutet. In der Tat kann eine Identitätskrise zur Frage von Leben und Tod werden. Folgende Parabel möge dies noch vertiefen: 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 101 <?page no="101"?> Es geht um einen Jungen namens José. Er verliert seine Eltern, wird von einer Pflegefamilie weit außerhalb wohlwollend aufgenommen. Nach langen Jahren kehrt er in seinen Heimatort zurück. Voller Hoffnung und Freude, die Familie wiederzusehen, klingelt er. Seine Schwester, die er noch lebendig in Erinnerung zu haben glaubt, macht die Tür auf: ›Ich bin José, erinnerst du dich an mich? Hier in diesem Garten haben wir mit Melissa und anderen gespielt.‹ Sprachlos und kopfschüttelnd sagt die Schwester: ›Nein, ich kenne Sie nicht. Das muss eine Verwechselung sein.‹ Dem Jungen bricht eine Welt zusammen. Er macht in seiner Verzweifelung kehrt und geht weiter zu ehemaligen Spiel‐ kameraden, die er ebenfalls lebendig in Erinnerung zu haben glaubt. Diese meinen ebenfalls, sich an ihn nicht zu erinnern. Wie verhext! Keiner will sich an ihn erinnern. Verzweifelt irrt er umher. Allmählich verliert er den Boden unter seinen Füßen und fragt sich: ›Ich bin doch ich und niemand anderes; was ist bloß in mich gefahren. Vielleicht irre ich mich - aber nein, hier ist doch mein Heimatort. Ich halte das nicht länger aus, ich sehe keinen Ausweg mehr -.‹ Wie würden Sie Josés Geschichte weitererzählen? Diese tragische Begebenheit macht deutlich, dass Identität für Menschen existentiell ist. Identität hat in der Tat eine Innen- und eine Außenperspektive. Innenperspektive meint die Innen‐ welt des Menschen, während sich Außenperspektive darauf bezieht, wie er auf‐ tritt und wie er wahrgenommen wird. Dies zeigt sich in der unreduzierbaren Einbettung der Person in ihr Umfeld. In allen zwischenmenschlichen Begeg‐ nungen und Kommunikationen treffen Charaktere mit ihrer jeweiligen Erfah‐ rungswelt aufeinander. Diese können familiär, beruflich oder weltanschaulich geprägt sein. Das Eigene beschreibt das Vertraute und uns Bekannte, was um‐ gekehrt auch für das Andere gilt. Das Andere bedeutet, wie die beiden Beispiele vor Augen führen, meist Be‐ drohung eigener Identität und Störung der bestehenden Tradition. Andri und José heben uns ins Bewusstsein, wie unverzichtbar Heimat und Identität sind. Das Heimatgefühl als Teil der Identität ist eine anthropologische Wirklichkeit, die wir in allen Kulturen, Traditionen und Religionen beobachten können. Wer sich restlos von diesen Tatbeständen abkoppelt, gerät in der Regel, von Aus‐ nahmen abgesehen, in eine Identitätskrise. Die Frage nach der Identität lässt sich durch diverse psychologische, sozio‐ logische und ethnologische Zugänge mit verschiedenen Akzentuierungen be‐ trachten. Identitäten unterliegen einem Wandel und Prozess des Werdens. Die Veranlagung zum Ich bringt jedes Individuum mit sich in die Welt. Es ist die soziale Interaktion, die uns hilft, unsere Identität zu entfalten. 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 102 <?page no="102"?> Nimmt sich der Mensch denkend wahr, so entdeckt er Bewusstsein in sich. In ihm erwacht das Gefühl der Identität, eine unverwechselbare Selbigkeit. Identität des Menschen ist etwas Wandelbares, eine Art lebenslange Ich-Arbeit, die sich immer wieder neu entdeckend entfaltet. Sie lässt sich als eine Spirale der Selbstentfaltung begreifen, die durch soziale Interaktion Prägungsphasen durchläuft. Religion, Kultur, Sprache und Tradition, Familie, Schule und Gesell‐ schaft sowie weltanschauliche Kontexte sind für das Identitätsbild von Bedeu‐ tung, die auch auf eine Wechselwirkung zwischen dem Eigenen und dem An‐ deren verweisen. Erweckungserlebnisse können Einfluss nehmen auf das Gewordensein des Menschen. Konstante Identitäten, ob personale, kulturelle oder religiöse, gibt es in der Regel nicht. Ich unterscheide acht Identitätstypen: 67 Ich- Identität Typen der Identität Multiple Identität Identität im Übergang Narrative Identität Wir- Identität Misch- Identität Abbildung 5.7: Typenmodell der Identität Geschlechter Identität Nationale- Identität Die hier vorgestellten Typen von Identität verdeutlichen nochmals, dass Identität immer ein Aushandlungsprozess ist, der im Laufe des menschlichen Lebens immer neue Dimensionen hinzugewinnt und nie völlig abgeschlossen ist. Zweifellos ist eine gefestigte Identität eine wichtige und unverzichtbare Grundlage, die der Mensch bereits relativ früh in seinem Leben erreichen kann und sollte. Doch selbst eine solche, gefestigte Identität verändert sich im Laufe des menschlichen Lebens in ihren Randbereichen und einschneidende Erlebnisse besitzen das Potential, selbst Tiefenstrukturen der ansonsten festen Identität einer Person zu verändern, was durch die gestrichelten Linien im Schaubild nochmals verdeutlicht wird. Ich-Identität ist ein Ausdruck der Unverwechselbarkeit der Persönlichkeit eines Individuums. Sie reguliert unsere emotionale Welt und ist für die Art und Weise unseres Denkens und vor allem unserer Umwelt- und Weltbeziehung bestimmend. Die Ich-Identität umfasst die menschlichen Eigenschaften, welche seine Persönlichkeit ausmachen: Indem ich meine Identität bestimme, bestimme ich auch, wer ich bin, wie ich bin und woher ich komme. Man spricht auch von einer personalen Identität. Eine Ich-Identität zu besitzen bedeutet, sich selbst zu erkennen und die Anderen zu verstehen. Wir-Identität bezieht sich auf den Zusammenschluss einer Volksgruppe oder einer Gemeinschaft, wobei die personale Identität in den Hintergrund tritt. Als ein soziales Wesen kann der Mensch nur in Verbundenheit mit anderen Wesen existieren, da in der ›Wir-Identität‹ seine Wurzeln zu finden sind und die Geschichte seiner Herkunft liegt. Das ›Wir-Bild‹ ist folglich bedeutsam zur Schaffung einer Identifikationsmöglichkeit für den einzelnen Menschen. Narrative Identität ist mit dem Begriff der ›Wir-Identität‹ eng verbunden. Es geht um die Annahme, dass Menschen deshalb Geschichtenerzähler sind, um die eigene Wirklichkeit bzw. erzählende Antworten auf die Frage ›Wer bin ich? ‹ oder ›Wer bist Du? ‹ zu finden. 29 Der subjektive Sinn der Erzählung wird ganz im Sinne des Konstruktivismus auf die Gruppe, der ein Mensch angehört, in zweiter Linie auch auf die eigene Person konstruiert. Diese Form der narrativen Identität ist dabei nicht zu verwechseln mit derjenigen Form, die im Zuge wachsender Kritik an philosophischen Strömungen im 20. Jahrhundert etwa durch Richard Rorty (1931-2007) zum Ausdruck kommt. Rorty betrachtet den Menschen in Form einer narrativen Identität als ein standpunktbewegliches Lebewesen, dessen jeweiligen Erfahrungen, Erlebnisse sowie individuellen Eindrücke seine Beziehung zu Welt und Gesellschaft prägen. Verschiebt sich dieser narrative Schwerpunkt, so verschiebt sich auch seine Bedeutung für die eigene Identität, die sich als ein Bericht des eigenen Lebens auch als ›Lebensgeschichte‹ verstehen lässt. 30 Der Verlust kultureller Hintergrunderzählungen und die gesellschaftliche Dekonstruktion herkömmlicher Identitäten tragen dazu bei, dass Menschen ihre eigenen Erzählstränge erfinden, 29 Vgl. Kraus, Wolfgang: Das erzählte Selbst, 1996. 30 Rorty, Richard: Eine Kultur ohne Zentrum, 1993, S. 9. Abbildung 5.7: Typenmodell der Identität Die hier vorgestellten Typen von Identität verdeutlichen nochmals, dass Iden‐ tität immer ein Aushandlungsprozess ist, der im Laufe des menschlichen Lebens immer neue Dimensionen hinzugewinnt und nie völlig abgeschlossen ist. Zwei‐ fellos ist eine gefestigte Identität eine wichtige und unverzichtbare Grundlage, die der Mensch bereits relativ früh in seinem Leben erreichen kann und sollte. Doch selbst eine solche, gefestigte Identität verändert sich im Laufe des mensch‐ lichen Lebens in ihren Randbereichen und einschneidende Erlebnisse besitzen das Potential, selbst Tiefenstrukturen der ansonsten festen Identität einer Person zu verändern, was durch die gestrichelten Linien im Schaubild nochmals verdeutlicht wird. Ich-Identität ist ein Ausdruck der Unverwechselbarkeit der Persönlichkeit eines Individuums. Sie reguliert unsere emotionale Welt und ist für die Art und 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 103 <?page no="103"?> 29 Vgl. Kraus, Wolfgang: Das erzählte Selbst, 1996. 30 Rorty, Richard: Eine Kultur ohne Zentrum, 1993, S. 9. Weise unseres Denkens und vor allem unserer Umwelt- und Weltbeziehung be‐ stimmend. Die Ich-Identität umfasst die menschlichen Eigenschaften, welche seine Persönlichkeit ausmachen: Indem ich meine Identität bestimme, bestimme ich auch, wer ich bin, wie ich bin und woher ich komme. Man spricht auch von einer personalen Identität. Eine Ich-Identität zu besitzen bedeutet, sich selbst zu erkennen und die Anderen zu verstehen. Wir-Identität bezieht sich auf den Zusammenschluss einer Volksgruppe oder einer Gemeinschaft, wobei die personale Identität in den Hintergrund tritt. Als ein soziales Wesen kann der Mensch nur in Verbundenheit mit anderen Wesen existieren, da in der ›Wir-Identität‹ seine Wurzeln zu finden sind und die Ge‐ schichte seiner Herkunft liegt. Das ›Wir-Bild‹ ist folglich bedeutsam zur Schaf‐ fung einer Identifikationsmöglichkeit für den einzelnen Menschen. Narrative Identität ist mit dem Begriff der ›Wir-Identität‹ eng verbunden. Es geht um die Annahme, dass Menschen deshalb Geschichtenerzähler sind, um die eigene Wirklichkeit bzw. erzählende Antworten auf die Frage ›Wer bin ich? ‹ oder ›Wer bist Du? ‹ zu finden. 29 Der subjektive Sinn der Erzählung wird ganz im Sinne des Konstruktivismus auf die Gruppe, der ein Mensch angehört, in zweiter Linie auch auf die eigene Person konstruiert. Diese Form der narrativen Identität ist dabei nicht zu verwechseln mit derjenigen Form, die im Zuge wach‐ sender Kritik an philosophischen Strömungen im 20. Jahrhundert etwa durch Richard Rorty (1931-2007) zum Ausdruck kommt. Rorty betrachtet den Men‐ schen in Form einer narrativen Identität als ein standpunktbewegliches Lebe‐ wesen, dessen jeweiligen Erfahrungen, Erlebnisse sowie individuellen Ein‐ drücke seine Beziehung zu Welt und Gesellschaft prägen. Verschiebt sich dieser narrative Schwerpunkt, so verschiebt sich auch seine Bedeutung für die eigene Identität, die sich als ein Bericht des eigenen Lebens auch als ›Lebensgeschichte‹ verstehen lässt. 30 Der Verlust kultureller Hintergrunderzählungen und die gesellschaftliche Dekonstruktion herkömmlicher Identitäten tragen dazu bei, dass Menschen ihre eigenen Erzählstränge erfinden, um die verlorengegangene Identität zu er‐ setzen. Die narrative Identität läuft Gefahr, einen totalitären Charakter anzu‐ nehmen, da nicht auszuschließen ist, dass Individuen ihre eigene Erzählung verabsolutieren. Geschlechteridentität ist eine besondere Form der Selbstwahrnehmung, die sich nicht von anderen Formen der Identität absetzt. Es handelt sich hier um die Selbstwahrnehmung des Weiblichen, die sich zu der männlichen Identität kom‐ 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 104 <?page no="104"?> 31 Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, 2003, S. 171. plementär verhält. Diese Betonung der Geschlechteridentität erweist sich als besonders wichtig, damit jede Benachteiligung insbesondere von Frauen, bereits im Vorfeld auszuschließen ist. Die Geschlechteridentität, welche sich zunächst primär über das biologische Geschlecht definiert, steht hierbei nicht notwendi‐ gerweise im Konflikt mit dem sozialen Geschlecht, welches aufgrund be‐ stimmter Rollenverteilungen im Alltag abweichen kann. Geschlossene Identität ist eine extreme Form der Realisierung einer Wir-Iden‐ tität. Bei dieser Identitätsform geht es um eine totalitäre Haltung, die nur eine bestimmte Form der Identität akzeptiert, nämlich die eigene. Dies ist bei extre‐ mistischen Weltanschauungen, wie der nationalsozialistischen, zu beobachten, die von der Reinheit der Kultur und Rasse ausgehen. Auch Gesellschaftsformen, in denen alles per Dekret unifiziert wird, wie in der ehemaligen Sowjetunion, gehören, wenn auch in einer abgeschwächten Form, zu den Staaten mit ge‐ schlossener Identität. Identität im Übergang verweist auf die Situation des Menschen im postmo‐ dernen Zeitalter, in der sich Menschen im »ständigen Übergang zwischen un‐ terschiedlichen Lebensformen« befinden. Nach diesem Konzept befindet sich alles, damit auch die Identität, im Wandel. 31 Betrachten wir den Zeitgeist und die rasanten Veränderungen in gesellschaftlichen Prozessen, so beobachten wir den Verlust der allgemeinverbindlichen Hintergrunderzählungen, damit ver‐ bunden die Identitätsauflösung und variable Modelle des Übergangs zwischen verschiedenen Identitäten. Hier geht es um den Wandel menschlicher Identi‐ täten. Multiple Identität kann als eine gelungene Sozialisierung im Rahmen der Identität im Übergang bezeichnet werden. Sie besagt, dass sich ein Individuum mehreren ethnischen und zivilen Gemeinschaften zugehörig fühlen kann. Ali z. B. ist gebürtiger Türke, kommt aus Istanbul, lebt in seiner zweiten Heimat Deutschland, wohnt in Berlin, hat dort studiert. An der Universität Konstanz ist er Hochschullehrer, Philosoph, im Besonderen interkultureller Philosoph, zu Hause ist er Familienvater, gegenüber Bekannten ein Kumpel und im Kontakt mit Freunden ein enger Vertrauter. Vom Einfluss seines Elternhauses her ist er schiitisch geprägt und Befürworter der demokratischen Verantwortungsethik. An diesem Beispiel werden die offenen Grenzen zwischen Identität und Rollen ersichtlich, die ein Mensch Zeit seines Lebens spielt. Mischidentität ist eine typische Entwicklung, die in interkulturellen und sogar intrakulturellen Kontexten zu beobachten ist. Menschen, die sich in solchen Kontexten bewegen, erleben Auflösungen oder aber auch Erweiterungen be‐ 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 105 <?page no="105"?> 32 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation, 2005, S. 15 f. stehender Grenzen hautnah. Ali im obigen Beispiel zeigt diese gleichzeitigen Grenzüberschreitungen und Grenzbestimmungen, die für ihn psychische He‐ rausforderungen mit sich bringen, weil er in Deutschland von sämtlichen Über‐ zeugungen und Gewohnheiten beeinflusst wird, die sich wiederum auf sein Selbstbild auswirken. Das Ergebnis ist zumeist eine Mischidentität. Nationale Identität hingegen bildet einen strittigen Begriff ab, insofern der Begriff der Nation mit bestimmten Wirkungszusammenhängen versehen ist, die beinahe ausschließlich immateriell sind. So besteht der Begriff zur Bezeichnung sowohl eines Volkes, das sich eine bestimmte staatliche Verfassung gibt, die wiederum eng mit dem Begriff des Volkes sowie demjenigen der Kultur zusam‐ menhängt. Darüber hinaus ist die Nation jedoch auch ein bestimmtes Persön‐ lichkeits- und Kulturverständnis, das in seiner Gesamtheit höchstens als ›vor‐ gestellt‹, d. h. nur bedingt anhand konkreter, realer Abmessungen und Erhebungen veranschaulicht werden kann, jedoch in seiner vollumfänglichen Gänze nicht zu erfassen ist. 32 Mit Bezug auf die Identität bedeutet dies, dass eine bestimmte nationale Identität Teile jener nicht realisierbaren Konstruktion beinhaltet, die wiederum aus jeweiligen, gruppenspezifischen Strukturen und Eigenschaften besteht. Als derartiges Konstrukt verstanden besitzt auch die nationale Identität nur einen gewissen Grad tatsächlich realisierbarer Ausprägung und kann zudem als konstante Rückzugsmöglichkeit und Argument gegen kulturelle Annährungs- und Austauschversuche verwendet werden. Derartiger Chauvinismus wirkt sich als aggressive Form des Nationalismus sowie einer expansiven, nationalen Identität negativ gegenüber allen anderen Kulturen aus, die als potentiell un‐ terlegen gegenüber der eigenen Kultur betrachtet werden. Derartige hierarchi‐ sche Denkmuster bilden Hindernisse eines gelingenden Kommunikationsproz‐ esses auf kulturübergreifender Basis und führen rasch zu Überforderungen auf beiden Seiten. Überfordert sind in der Regel diejenigen Individuen, denen es nicht gelingt, sich in ihrem neuen Lebensumfeld eine Heimat zu schaffen. Menschen mit Mi‐ grationshintergrund sind in der Regel gezwungen, eine Mischidentität zu ent‐ wickeln. Solche Menschen wissen aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, grenzüberschreitend zu denken, zu reden und zu handeln. Hier treten alle ge‐ mäßigten und extremen Erscheinungsformen der Trans-, Multi- und Interkultu‐ ralität auf. Diesen acht erläuterten Identitätsformen ist gemeinsam, dass sie - mehr oder minder - unter dem Einfluss von verschiedenen Religionen, Kulturen, Traditi‐ 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 106 <?page no="106"?> onen und Zivilisationen sowie Geschlechtergruppen stehen. Diese Identitäts‐ formen nehmen ferner auch Einfluss auf die Art und Weise des Denkens der Individuen, deren Ergebnisse bestimmte Menschenbilder sind. Eine ausgewo‐ gene Balance zwischen der Ich- und der Wir-Identität kann als ein Idealzustand angesehen werden, in dem sich das Individuum am besten entfalten kann. Die Grundlage der Identität des Eigenen und des Anderen ist das Menschsein, das uns verbindet. Unterschiede und Gemeinsamkeiten unter den Menschen sind von menschlichen Faktoren abhängig. Weil all diese Identitäten innerhalb aller Kulturen der Völker zu beobachten sind, ist anzunehmen, dass ein Gefühl von ›Fremdheit‹ nicht außerhalb, sondern im Menschen selbst, in seiner eigenen Denkform und Wahrnehmung beginnt. Hier kommt dem jeweils individuell ausgeprägten Grad an Egoismus eine wesentliche Rolle zu. Ein starker Ausdruck, insbesondere der Wir-Identität zeigt sich in unter‐ schiedlichen Begrüßungsformen. Betrachten wir diese im Vergleich der Kul‐ turen und ihrer Kontexte, so grüßen sich einige mit Handschlag und Verbeu‐ gung; manche klopfen sich umarmend gegenseitig auf die Schultern. Es gibt aber auch Kontexte, in denen sich Menschen mit dem Blick auf den Boden oder in die Augen grüßen oder manche, die sich mit der Berührung ihrer Nase begrüßen. Auch die Begrüßung zwischen Männern, zwischen Frauen oder zwischen Män‐ nern und Frauen differieren. In manchen islamischen Kreisen küssen sich die Männer umarmend auf die Wangen. Das Gleiche gilt auch für Frauen. Diese Grußformen sind auch von semantisch-pragmatischer Relevanz, weil sie von Kulturraum zu Kulturraum unterschiedliche Emotionen hervorrufen. Dass ori‐ entalische Männer sich in der Regel umarmend auf die Wangen küssen, wird in Europa des Öfteren als ein Ausdruck der Homosexualität aufgefasst, was aus orientalischer Sicht als befremdlich angesehen werden kann. Auch hier sind Kultur- oder Individualegoismen virulent. Die existentielle Bedeutung der Identität kann sich jeder vor Augen führen, wenn er sich selbst die Frage stellt: ›Was gefällt mir an mir oder was nicht? ‹ oder ›Was gefällt mir an meiner Gruppe oder was nicht? ‹ In der offenen und vor allem aufrichtigen Antwort dieser Frage machen wir deutlich, womit wir uns identi‐ fizieren und wie wir uns von anderen unterscheiden oder abgrenzen. Die Auf‐ gabe der Kommunizierenden wird stets mit der Mühe verbunden sein, Eigenes im Anderen und Anderes im Eigenen denkend und verstehend zu suchen. Auf diese Weise kann der Begriff des ›Fremden‹, der meist mit abwertenden oder abwehrenden Tendenzen verbunden ist, überwunden werden. Die bloße Substitution durch den Begriff des ›Anderen‹ genügt hierbei nicht; die Bereit‐ schaft zum Umdenken ist eine essentielle Voraussetzung, anhaltenden Proz‐ essen der Stigmatisierung und kulturchauvinistischen Hierarchisierung entge‐ 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 107 <?page no="107"?> 33 Vgl. Yousefi und Ina Braun: Interkulturelles Handbuch der Kulturwissenschaften, 2016, S. 254 ff. genzuwirken. Diese Bereitschaft kann, wenngleich sie sich zu großen Teilen von gesellschaftlichen wie kulturellen Prozessen beeinflussen lässt, auch in der ei‐ genen Identität gefördert werden und drückt sich dort in vielschichtigen Per‐ sönlichkeitsmerkmalen wie Neugier, Hilfsbereitschaft oder Interesse aus. Mit dieser veränderten Grundeinstellung kann ein Zugehörigkeitsgefühl in einer oder sogar, im Falle von Migration oder Immigration, mehrerer Kultur verankert werden, ohne dass eine bestimmte Form der kulturellen Zugehörigkeit aufge‐ geben werden müsste. Miteinander konkurrierende Vorstellungen und Definitionsvorschläge zum komplexen Prozess der Identität lassen sich, wie leicht zu erkennen ist, als ebensolche Kampfplätze der Deutungen wie auch als Kampfplätze der Denk‐ systeme verstehen, auf denen unterschiedliche Identitätsmodelle mit ebenso differierenden Ansprüchen von Autorität und Geltung miteinander verhandelt werden oder einander zu eliminieren suchen. Derartige konkurrenzbetonte An‐ nährungen erweisen sich, abseits ihrer konfliktiven Orientierung zugleich auch als gezieltes Wirkungs- und Arbeitsfeld einer interkulturell ausgerichteten Iden‐ tität, die darum bemüht ist, Identität immer auch aus dem Gesamtgefüge der menschlichen Kulturen innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu betrachten und als Mischidentität zu betrachten. 33 Das mannigfaltige Typenmodell der Identität ist ein Hinweis darauf, dass die vielfältigen Identitätsmodelle miteinander beständig in Verhandlung treten und einander wechselseitig ergänzen können und müssen, um einer zuverlässigeren Beantwortung der Frage ›Was ist Identität? ‹ nahezukommen. Tritt hierbei ein Definitionsvorschlag oder eine standpunktbewegliche Definition in einen Aus‐ tausch mit gleichartigen Vorschlägen, so bildet dies eine Basis für eine gelin‐ gende Ergänzung sowie einen echten, fundierten Austausch. Auf diesem Wege verändern sich die darin angelegten Kampfplätze des Denkens zu offenen Räumen des Dialogs und der Verständigung. Die notwendige Bedingung hierfür ist es jedoch, dass die hieran beteiligten Seiten ein echtes Interesse an einer Verständigung sowie einem Austausch haben und darüber hinaus bereit sind, den eigenen Standpunkt möglicherweise in Gänze zu verlassen. Dies bildet nicht zuletzt auch eine wichtige Ausgangsbasis für die Bestim‐ mung einer mittelbaren, kulturellen Identität deren Aushandlungsprozess ebenso im ständigen Werden begriffen ist. Insbesondere die Zugehörigkeit zu mehr als einer Kultur kann für den Menschen zu einem Konflikt avancieren, in 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 108 <?page no="108"?> dessen Mittelpunkt er ständig bemüht ist, die eigene Identität gegenüber an‐ deren zu rechtfertigen. Rückkehr ohne Heimkehr Eine mehrfache Kulturzugehörigkeit kann somit im Kontext der Interkultura‐ lität auch zu einem Identitätsproblem werden. Dies trifft am ehesten auf Men‐ schen mit Migrationshintergrund zu. Man möge sich vorstellen, dass ein Türke in Deutschland geboren wird und, wie andere Einheimische auch, die Schule besucht und vollständig in dieser Gesellschaft sozialisiert wird, der aber auf‐ grund der Herkunft seiner Elternteile einen orientalisch klingenden Namen hat, unabhängig davon, dass sein Aussehen teilweise seinen Migrationshintergrund anzeigt. Wie wird ein solcher Mensch in die Gesellschaft aufgenommen, obwohl er wie alle anderen Deutschen sozialisiert ist? In Deutschland wird er, aufgrund seines Namens und bedingt durch sein Aussehen, als Ausländer angesehen, der gut Deutsch spreche bzw. sich gut der deutschen Kultur angepasst hätte, obwohl er sich selbst kaum als Ausländer wahrnimmt. Wenn er mit seinen Eltern in die Türkei reist, um dort seinen Urlaub zu verbringen, wird er von seinen türkischen Kameraden als Nicht-Türke betrachtet, obwohl er nicht als solcher wahrge‐ nommen werden will. Hier handelt es sich um eine Rückkehr ohne Heimkehr. Es entsteht ein Identitätsproblem. Fragen stellen sich, die den Menschen be‐ schäftigen und auf die er versucht, eine hinlängliche Antwort zu finden: ›Nun, wo gehöre ich denn hin? ‹ ›Bin ich Deutscher oder Türke? ‹ ›Zuhause in Deutsch‐ land werde ich merkwürdig beäugt, in der Türkei ebenso.‹ Ist dies nicht ein Grund, dass Menschen mit einem solchen Hintergrund geradezu prädestiniert sind, sich Kosmopoliten zu nennen? Wider den Ausdruck ›fremd‹ In unserem Wissenschaftsverständnis ist weitestgehend der Ausdruck ›fremd‹ als die Bezeichnung des Anderen etabliert worden. Es ist ersichtlich, dass un‐ terschiedliche Menschenbilder in der Regel miteinander in Konkurrenz treten. Dies belegt die Denkgeschichte der Kulturen. Unser Menschenbild ist grundle‐ gend für die Kommunikation, wenn wir Menschen oder Gruppen als ›Andere‹ oder ›Fremde‹ bezeichnen. Die Wahl dieser Ausdrücke bestimmt zugleich den Differenzierungsgrad des Eigenen dem jeweils Anderen gegenüber. Betrachten wir die bestehenden Nachschlagewerke wie das ›Handbuch der Kulturwissen‐ schaft‹ oder kleinere Fachwörterbücher sowie Monographien und Überblicks‐ werke, so finden wir dies bestätigt. 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 109 <?page no="109"?> Der Ausdruck ›fremd‹ verweist auf eine Auffassung, die Kulturen als ge‐ schlossene Kreise begreift, was heute jedoch unhaltbar geworden ist. Spätestens seit dem Ende der Kolonialzeit Mitte des 20. Jahrhunderts wird immer klarer, dass Kulturen stets von offenen Grenzen geprägt sind. Neben den ›gängigen‹ Formulierungen ›Fremdheit und Fremdartigkeit‹ finden auch weitere negative Ausdrücke Verwendung, wie ›Fremde als Eindringlinge‹ (Hans Magnus En‐ zensberger), ›Stachel des Fremden‹ (Bernhard Waldenfels) oder ›Fremde als Barbaren‹ ( Julia Kristeva). Bei einer Vergleichsanalyse des Begriffs des ›Fremden‹ zeigt sich, dass er in unterschiedlichen Sprachkulturen zumeist negativ besetzt ist. ›Fremd‹ bedeutet im Deutschen ›andersartig, ›fremdländisch‹ oder ›exotisch‹. Im Persischen heißt fremd ›gharibe‹, ein ›Nicht-Dazugehöriger‹, Eindringling, oder ›bigane‹, Ausländer, Besatzer, unerwünschte Person. Beide Ausdrücke besitzen im Deut‐ schen wie im Persischen einen stark abwertenden Charakter, mit dem Beiklang bedrohlich, während das Wort ›Andere‹ in beiden Sprachkulturen als ›ver‐ schieden‹ aufgefasst wird. Diese Wortbedeutung ist angemessener. Das Andere meint auch, auf Differenzen hinzuweisen, die zwischen dem Ei‐ genen, dem Bekannten und demjenigen bestehen, was wir in unserer gewohnten Umgebung kennen. Das Andere erscheint hierbei nicht alleinig als etwas grund‐ legend Unbekanntes, sondern besitzt bekannte Muster und Strukturen, die sich auf eine andere Art konzipieren, als es im eigenen Umfeld bekannt ist. So etwa kann der Begriff ›Familie‹ durch bestimmte Strukturen in einem abweichenden Verhältnis konstituiert sein, jedoch als solcher durchaus bekannte Parallelen zum eigenen Familienverhältnis aufweisen. Auf ähnliche Art können vergleich‐ bare Situationen durch einen bestimmten, situationsgemäßen Pragmatismus erläutert werden, in denen der Begriff des Anderen weniger für eine Abgren‐ zung, sondern für eine indifferente Spezifizierung einer bestimmten Gruppe von Personen stellvertretend genutzt wird. Wir könnten für gewöhnlich sagen: ›Ich gehe mit einigen Studenten essen, obwohl ich sie nicht kenne‹. Wir würden jedoch niemals sagen: ›Ich gehe mit Fremden essen‹. Wir sagen ›Ich fliege nach Kenia oder Deutschland‹ und nicht ›in die Fremde.‹ Wenn wir von dort aus mit Freunden telefonieren, klänge es absurd zu sagen: ›Ich bin in der Fremde.‹ Der Ausdruck ›fremd‹ erweist sich als ambivalent. Wenn ich z. B. sage: ›Das Verhalten von Ali ist mir fremd‹, so meine ich, dass ›Alis Verhalten mir persön‐ lich fremd ist, weil er anders ist und nicht, weil er ein Fremder ist‹. Hier bezieht sich der Behauptende auf seine eigene subjektive Einschätzung, die nicht ohne Weiteres generalisiert und verabsolutiert werden kann. Insofern hat die um‐ gangssprachliche Auswahl des ›Eigenen‹ und des ›Anderen‹ durchaus eine Be‐ 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 110 <?page no="110"?> 34 Vgl. Heinrichs, Hans-Jürgen: Das Fremde verstehen, 1999, S. 43. 35 Albrecht, Corinna: Der Begriff der, die, das Fremde, 1997, S. 92. rechtigung. Anders denken, handeln, fühlen oder gesinnt sein, beschreibt keinen Gegensatz zum kulturell oder religiös Anderen, sondern besagt: ›immer im Un‐ terschied zu etwas, wie im Beispiel: ›Ali ist anders als Philipp‹ oder ›Susanne ist anders als Ulrike‹ usw. Der Terminus ›Fremdgruppe‹ beschreibt eine Gemeinschaft, im Gegensatz zur ›Eigengruppe‹. Auch hier ist es sachlich angemessener von anderer und eigener Gruppe zu sprechen, damit keine hermetische Distanz zum Anderen entsteht oder aufgebaut wird. Derartige Ausdrücke wie ›das Eigene und das Fremde, der Europäer und der Fremde‹ sind Erfindungen und Projektionen sowie Identitätsfixierungen, Wunsch- und Negativbilder der Zivilisation. Ihnen wohnt die Eigenschaft inne, Menschen aus anderen Kultur- oder Gesellschafts‐ strukturen auf eine bestimmte Art zu beschreiben, die meist ungeachtet der Realität oder alleinig durch die Taten Einzelner Ableitungen für die Gesamtheit einer jeweiligen Personengruppe treffen und diese als statischen, unveränder‐ lichen Charakter betrachten. Nach diesem Vorverständnis wird der Andere »nicht einfach als der andere« gesehen, »sondern als der schlechtere« Mensch. »Wir sind die ›eigentlichen‹ Menschen«, schreibt Hans Jürgen Heinrichs (*1945), »die anderen sind Menschen nur in unzulänglicher, korrupter oder un‐ terentwickelter Weise.« Der erste Schritt zur Überwindung dieses Schemas wird darin bestehen, sich die europäische Geschichte der Feindbilder vor Augen zu führen. Diese Ge‐ schichte reicht weit hinter die Entstehung der Ethnologie zurück und bestimmt diese bis in die jüngste Vergangenheit.« 34 Corinna Albrecht argumentiert ähn‐ lich wie Heinrichs: »Wenn Menschen zu ›Wilden‹, zu ›Untermenschen‹, zu ›Unzivilisierten‹ erklärt werden, wird die Kategorie ›Fremder‹ für Herrschafts‐ zwecke instrumentalisiert. Die Grenzziehungen, die mittels Fremdheitskonst‐ ruktionen vollzogen werden, können nach der Logik der ihnen zugrunde lie‐ genden Ideologie auch Fremdstellungen inmitten der eigenen Kultur vornehmen.« 35 Auf ähnliche Weise erschließen akademische Betrachtungsweisen aus Lite‐ raturwissenschaft und Ethnologie etwa den Begriff des ›edlen Wilden‹, der als Beleg für die natürlich im Menschen ausgeprägte Moralität dient. Zugleich stellt dieses Begriffsbeispiel vor, auf welche archetypische Weise der Kontakt zweier Kulturen vollzogen wird und führt, vor dem Hintergrund kolonialistischer Be‐ trachtungen vor Augen, dass der als ›edel‹ bezeichnete zugleich kein Zivilisa‐ tionsmensch ist, er jedoch eine angemessene Anpassung leisten kann, die ihn 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 111 <?page no="111"?> 36 Vgl. hierzu Huth, Lutz und Michael Krzeminski: Repräsentation in Politik, Medien und Gesellschaft, 2007. 37 Heinrichs, Hans-Jürgen: Einleitung, 1977, S. 41. 38 Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, 1997, S. 74. 39 Vgl. Scheurmann, Erich: Der Papalagi, 1978, S. 13 ff. in Augen seiner Gegenüber als ›wohlgefällig‹ erscheinen lässt. Dieser strittige Begriff, der mitunter inzwischen als überholt gelten darf, ist zugleich noch immer ein oft genutztes Beispiel medialer Kulturpräsentation und tritt vor allem als kritischer und satirischer Begriff auf, um auf weiterhin bestehende Miss‐ stände und Vorurteile hinzuweisen. 36 Eine ausschließliche Orientierung an einem bestimmten Identitäts- oder Dif‐ ferenzmodell verhindert, Eigenes im Anderen und Anderes im Eigenen zu er‐ kennen und zu verstehen. Wer so verfährt, stigmatisiert das Andere unmittelbar zum Exoten, ohne sich dessen bewusst zu sein, von der anderen Seite selbst als Exot gesehen zu werden. Diesem Phänomen geht eine von endgültiger Identität und Differenz geleitete Einstellung voraus und stellt ein Wunschdenken dar. Diese Haltung ist seit ihren Anfängen »eine unauflösbare Vermischung von Vereinnahmung und Aufklärung des Anderen, von Fremd- und Selbstver‐ ständnis, von Beobachtung, Beschreibung, Reflexion und Projektion, von Phan‐ tasie und Modellbildung.« 37 Vernachlässigen wir alle wissenschaftlichen Theorien für einen Augenblick, so werden wir merken, dass viele von uns, in der Regel unterschwellig, ein kon‐ strukthaft-fixiertes Bild vom Eigenen und vom Anderen pflegen. Echte inter‐ kulturelle Kommunikation speist sich aber aus der Wechselwirkung beider. Die Kunst besteht darin, das Eigene und das Andere miteinander ins Gespräch zu bringen. Um dies praktisch umzusetzen, müssen wir, wie Bernhard Waldenfels (*1934) zu Recht bemerkt, »nicht nur Ethnologen einer anderen, sondern auch Ethnologen unserer eigenen Kultur werden.« 38 Der Samoa-Reisende Erich Scheurmann (1878-1957) unternimmt in seinem Werk ›Der Papalagi‹ einen solchen Versuch. Sein Protagonist, ein Südseehäupt‐ ling, kann den Wert der europäischen Errungenschaften nicht erkennen. Dieser sieht nur, dass sie den Menschen von seinem innersten Selbst entfernen, ihn unecht, unnatürlich und schlecht machen. Dabei deckt Scheurmann Diskre‐ panzen zwischen der sogenannten naturgebundenen polynesischen Lebensart und einer wissenschaftlich geprägten Kultur auf. Er beschreibt zwei Lebensent‐ würfe, die sich gegenseitig relativieren. 39 Das Eigene und das Andere sind nicht voneinander getrennt zu betrachten; es ist nur fruchtbar, dass diese sich ›von‐ einander beunruhigen lassen‹, ohne sich gegenseitig aufeinander zu reduzieren: 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 112 <?page no="112"?> Ohne ›Du‹ gibt es kein ›Ich‹ und das Eigene gibt es ebenfalls nicht ohne das Andere. Diese Erkenntnis ist wesentlich für die Identitätsbildung. Wer das Andere vergegenständlicht, reduziert es auf ein Objekt der For‐ schung. Dies sind Gründe, warum die Beschäftigung mit interkultureller Kom‐ munikation für die Frage nach der Identität des Eigenen und des Anderen un‐ abdingbare Voraussetzung ist. Alle acht skizzierten Identitätsformen haben einen hybriden Charakter; sie erzeugen nicht nur Stolz, Freude, Selbst- und Gruppenvertrauen, sondern können auch zur Überbetonung und zu radikalen Ab- und Ausgrenzungen führen, die oftmals in praktischer Gewalt gegen andere Identitäten enden. Die Gefahr einer solchen Entwicklung kann durch echte in‐ terkulturelle Verständigung im Vorfeld minimiert oder vermieden werden. In ihnen ist zugleich das Potential angelegt, sich gegenseitig zu überschneiden oder aber einander phasenweise auszuschließen bzw. zu ergänzen und einander abzulösen. Da die Identität des Menschen keine Konzeption ist, die einmalig auf Lebenszeit hin festgelegt erscheint, ist es nur verständlich, dass ihr wichtigstes Charaktermerkmal eine nach außen hin gerichtete, stete Wandelbarkeit ist. Diese kann von einer stabilen und in sich durchaus konsistenten Kernidentität getragen werden, lässt aber zugleich zu, entscheidende Entwicklungsstufen im menschlichen Leben sowie Einflüsse von außerhalb der eigenen Person als Ein‐ wirkung auf die Identität des Menschen zu berücksichtigen. Auf diese Art be‐ einflussen die jeweiligen Identitäten des Menschen die Gedanken, Handlungen und Entscheidungen und tragen zu einer jeweiligen Kommunikationssituation gemäß ihrer vielschichtigen Potentiale bei. Interkulturelle Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass jeder darum bemüht ist, die Gedanken des Anderen zu denken und dabei zu beobachten, wie das eigene Denken hierdurch beeinflusst wird. Sie sucht nicht danach, eine Person auf eine jeweilig festgelegte Weise zu definieren oder ihr zusprechen zu können, was sie als Person und Angehörigen einer jeweiligen Kulturgemein‐ schaft auszeichnet, sondern fragt nach den Zusammenhängen dieser Eigen‐ schaften innerhalb wie außerhalb einer jeweiligen Kulturgemeinschaft und ver‐ sucht, den Menschen in seiner besonderen Stellung im Kosmos sowie seine einzigartige Bedeutung zu verstehen. Ein derartiges Denken ohne Differenzen unter gleichzeitiger Wahrung der‐ selben vertritt keinen Absolutheitsanspruch, sondern sieht sich selbst als einen Vorschlag dafür, bestehende Denkstrukturen kritisch-würdigend in Frage zu stellen. Sie möchte auf diesem Wege dazu beitragen, Akte kulturübergreifender Kommunikation nicht als Kampfplätze unterschiedlicher und ausschließlich di‐ vergierender Werte- und Denksysteme zu betrachten, sondern als offener Raum der Verständigung fungieren, in dem bestehende Ressentiments und eindeutig 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 113 <?page no="113"?> erscheinende Charakterisierungen mit globalem Anspruch als revisionsbe‐ dürftig zu beurteilen. 5.3.2. Modus der Kompetenz Um das Sosein bzw. die Identität des Anderen in ihrer konkreten Form identi‐ fizieren und erfahren zu können, was für diese gut bzw. schlecht ist, brauchen wir bestimmte Handlungskriterien. Solche Kriterien schützen uns vor voreiligen Unterscheidungen und Identifikationen, die in aller Regel eine bestimmte Ab‐ grenzung des Anderen zur Folge haben. Daher erfordert jede Kommunikations‐ form ein gewisses Maß an Vorwissen oder Kompetenzen, ohne das eine erfolg‐ reiche Kommunikation nicht erwartet werden kann. Diese Kompetenzen sind Werkzeuge der zwischenmenschlichen Begeg‐ nungen, die eine Anwendung finden, wenn es um den Austausch von Mein‐ ungen, Überzeugungen sowie Menschen- und Weltbildern geht. Diese Tatsache begründet, warum der Ausdruck ›Kompetenz‹ mit guten Gründen zu den zent‐ ralen Begriffen der Kulturwissenschaften gehört. Sind wir geschäftlich oder privat unterwegs, so benötigen wir unbedingt Kompetenzen, also Fähigkeiten und praktische Fertigkeiten, um situations- und kontextangemessen handeln zu können. Auch in politischen Begegnungen auf internationaler Ebene brauchen wir Kompetenzen. Dieses Vermögen erstreckt sich auf interkulturelle, interre‐ ligiöse und wissenschaftliche Bereiche. Kompetenzen treten darüber hinaus in jeder Situation auf, die in der Kom‐ munikation mit anderen eine tragende Rolle spielt. Dies zeigen nicht zuletzt auch pädagogische, soziologische sowie ethische Studien auf jedwedem Gebiet. Dabei sind Kompetenzen jedoch keine statisch anmutenden Fähigkeiten, die notwendigerweise zu erlangen sind und deren Aneignung schematisch verläuft. Vielmehr sind sie vielschichtige Konzepte, deren Inhalte sowohl klar zu defi‐ nieren, als auch ausgesprochen variable erscheinen können. Insbesondere in‐ nerhalb pädagogischer Kontexte sind Kompetenzen zumeist zwar mit einem klar umrissenen Raster versehen, doch ihre jeweiligen individuellen Inhalte und Stufen weichen oftmals voneinander ab. Wer sich ausschließlich nach seinem Belieben in solchen Kontexten bewegt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit den gewünschten Erfolg nicht erzielen können. Eine wichtige Rolle bei all diesen Begegnungen spielt die Frage nach der Identität des Eigenen und des Anderen. Kontexte und Situationen, in denen sich Individuen bewegen, sind ebenfalls von Bedeutung. Daher ist es eine Not‐ wendigkeit, sich stets Kompetenzen anzueignen, um kulturell, religiös oder wissenschaftlich bedingte Differenzen positiv oder kritisch würdigend aufzu‐ 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 114 <?page no="114"?> 40 Vgl. hierzu Leisen, Josef: Lernaufgaben als Lernumgebung zur Steuerung von Lernproz‐ essen, 2010, S. 60-67. 41 Thomas, Alexander: Interkulturelle Kompetenz, 2003, S. 141. 42 Bolten, Jürgen: Interkulturelle Kompetenz, 2007, S. 112. 43 Vgl. Grein, Marion: Das Mixed Game Model in der interkulturellen Forschung, 2017. nehmen. Weiterhin tragen sie dazu bei, bestimmte Grundfertigkeiten in der Bil‐ dung und Ausbildung zu erlangen, die der Mensch Zeit seines Lebens benötigt. Lese-, Schreib-, Sozialsowie kommunikative Kompetenz sind nur einige we‐ nige Beispiele, welche die Bandbreite des Kompetenz-Rasters zeigen, das in dieser oder artverwandter Form in unterschiedlichen Bereichen zur Anwendung kommt. 40 Um neue Erkenntnisse für den Umgang mit dem Anderen zu gewinnen und dieses Wissen durch Trainingsmöglichkeiten in die Praxis umzusetzen, gibt es fachbezogene Kompetenzzentren. Neben interkulturellen Zentren gibt es auch netzwerkartige Zusammenschlüsse, um die erworbenen Fertigkeiten durch Austausch von Erfahrungen zu erweitern und institutionell zu etablieren. Letzten Endes geht es um situations- und kontextangemessenes Handeln durch die Aneignung von Fähigkeiten, die erforderlich werden, wenn unter‐ schiedliche Handlungsmuster, Weltanschauungen, Gesinnungen oder Mein‐ ungen miteinander unmittelbar in Berührung kommen. Damit sind auch Werte und Normen sowie begriffliche Bezugssysteme gemeint, die nicht immer offen ersichtlich sind. Konkret geht es um die Suche nach Möglichkeiten, die uns helfen, in Begegnungen Eigenheiten des Eigenen und des Anderen reflektierend kennen und respektieren zu lernen. Die Aneignung von Kompetenzen bzw. Fer‐ tigkeiten bedeutet, nach Alexander Thomas, »den interkulturellen Handlungs‐ prozess« so zu gestalten, dass Missverständnisse zunehmend vermieden und »gemeinsame Problemlösungen« 41 angestrebt werden können. Interkulturelle Kompetenz beschreibt demnach ein erworbenes Vermögen, »individuelle, soziale, fachliche und strategische Teilkompetenzen in ihrer best‐ möglichen Verknüpfung auf interkulturelle Handlungskontexte beziehen zu können.« 42 Marion Grein (*1966) diskutiert in diesem Sinne das Konzept der interkulturellen Kompetenz am Beispiel der weiter oben beschriebenen Multi‐ kollektivität. 43 Sie hat eine Innen- und eine Außenperspektive. Erstere be‐ schränkt sich nicht nur auf intrakulturelle, auf innergesellschaftliche Hand‐ lungskompetenzen, sondern vor allem auf unsere Gesinnung, Überzeugung und Individualität, während sich Letztere nicht nur auf interkulturelle Handlungs‐ kompetenzen bezieht. Hier sind die Grenzen zwischen Innen- und Außenper‐ spektive stets fließend. Hierbei handelt es sich auch um die Aneignung des in‐ terkulturell sensibilisierten Bewusstseins, dass das eigenkulturelle Sinn- und 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 115 <?page no="115"?> 44 Vgl. hierzu Erdem, Fatma: Interkulturelle Kompetenz in der Sozialarbeit, 2011. 45 Vgl. hierzu Bolten, Jürgen: Interkulturelle Kompetenz, 2006, S. 163 f. Orientierungssystem nur eines von vielen ist. Aus dieser konstruktiven Selbst‐ relativierung speist sich eine echte Verständigung. Dabei geht es keineswegs um eine Kommunikation, in der nur Gemeinsamkeiten als Grundlage der Kommu‐ nikation gesucht werden, sondern auch Unterschiede, die erhellend sind. Einen interkulturellen Kompetenzstandard gibt es nicht, weil Kulturen keine Fixpunkte darstellen. Interkulturelle Kompetenz ist stets als ein offener Aus‐ handlungsprozess zu begreifen, der beständig neue und neu zu verhandelnde Begriffe aufnimmt. Sie ist kein ›Werkzeugkasten‹ oder ›Kompetenzkatalog‹, der in jedem Fall anwendbar wäre. 44 Nicht nur weil Kulturen dynamisch und ver‐ änderbar sind, sondern auch weil in Situationen und Kontexten Menschen als Akteure auftreten, die sich und ihre Umwelt unterschiedlich wahrnehmen und unterschiedlich sozialisiert sind. Diese Mannigfaltigkeit erfordert die Anwen‐ dung von adäquaten Kompetenzen. Empathie ist grundlegend für die zwischen‐ menschliche Interaktion. Im Allgemeinen bedeutet sie, sich in die Situation des Anderen hineinzuversetzen. Sie ermöglicht den Kommunizierenden, die Welt aus einer jeweils anderen Perspektive betrachten zu lernen. Je tiefer sich die Kommunizierenden in ihre Lebenswelt hineinfühlen können, desto mehr er‐ fahren sie voneinander. Empathie hat zwei Seiten mit vielen Dimensionen. Sie beruht grundsätzlich auf Gegenseitigkeit. Wer Empathie gibt, darf auch Empathie erhalten. Ohne dieses Prinzip verfehlt jeder Versuch, ernsthaft kommunizieren zu wollen, sein Ziel. Echte Empathie bedeutet also respektvolles Verstehen der Erfahrungen und Erlebnisse anderer Menschen. Sie sucht weder Belehrung noch die Erteilung von direkten oder indirekten Ratschlägen. Insofern heißt Empathie verstehendes Zuhören und lernendes Verstehen. Zwei Kommunikationsmodelle sind vonei‐ nander zu unterscheiden: Listen- oder Strukturmodelle. Während Listenmodelle relevante Teilkompetenzen wie Empathie und Ähnliches enthalten, sind Struk‐ turmodelle hingegen eher systemisch-prozessual orientiert und ordnen Einzel‐ fähigkeiten bestimmten Dimensionen zu. 45 Schwerlich können wir Kataloge erstellen, in denen aufgelistet ist, wie Menschen aus unterschiedlichen Kultur‐ räumen denken, fühlen und handeln. Dies ist nur mit Einschränkung auf be‐ stimmte Individuen bezogen möglich. Solche Kataloge, die des Öfteren als we‐ sentlich betrachtet werden, sind praktisch jedoch unbrauchbar. Eine echte Verständigung des Eigenen und des Anderen ist ohne zureichende Kenntnis beidseitiger Gewohnheiten, Sitten und der anderen anthropologischen Faktoren illusorisch. 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 116 <?page no="116"?> 46 Vgl. hierzu Klemm, Michael: Verstehen und Verständigung aus medienwissenschaftlicher Sicht, 2013. Bei der Aneignung interkultureller Kompetenz spielen politische Bezie‐ hungen sowie Art und Weise der medialen Berichterstattungen in Zeitungen und Fernsehreportagen eine wichtige Rolle. Betrachten wir das in Deutschland medial erzeugte Bild über Länder wie die USA, den Iran oder China, so wird ersichtlich, wie tendenziös die Auslandsberichterstattung zumeist ist und uns erschwert, zwischen Wahrheit und Dichtung unterscheiden zu können. Die Notwendigkeit für einen interkulturell kompetenten Umgang mit Medienbe‐ richten begründet sich vor allem in Art und Weise der Auswertung derselben. Hierbei zeigt sich, dass oftmals eine unreflektierte und wenig kritische, einsei‐ tige Berichterstattung vorliegt, die Bilder und Vorstellungen erzeugt oder be‐ friedigt. Diese schüren Ängste, verfestigen Vorurteile und verhärten politische wie persönliche Fronten, indem Stigmatisierungen sowie medienwirksame und künstlich herbeigeführte Zuschreibungen bestimmter Eigenschaften das Bild prägen, welches der Medienrezipient von einer bestimmten Kulturgemein‐ schaft, abweichenden Sitten oder Gebräuchen erhält. Es gibt verschiedene Wege, sich trotz des medial aufgearbeiteten Bildes, die erforderlichen Kompetenzen anzueignen. Der beliebteste Weg führt über Se‐ kundärliteratur wie Reisebeschreibungen der Länder oder Einführungen über Land und Leute. Eine weitere Möglichkeit ist die Einsicht in Primärliteratur; in Bücher, die von Wissenschaftlern dieser Länder geschrieben sind und in Über‐ setzung vorliegen. Die vorhandenen Berichtsformen bilden zumeist die Grund‐ lage unserer Wahrnehmung. Wir müssen uns aber dessen bewusst werden, dass auch dann noch Informationen wegen mangelnder Kenntnis unstatthaft verall‐ gemeinert schief, übertrieben oder politisch motiviert sein können. 46 Hier ist die medienpädagogische Dimension im interkulturellen Vergleich von Bedeutung, weil viele unserer Erkenntnisse über die Anderen durch mediale Instanzen ge‐ wonnen werden. Worauf müssen wir achten, wenn wir mit Anderen eine Partnerschaft oder eine Geschäftsbeziehung eingehen möchten? Wir müssen uns nicht nur verge‐ genwärtigen, was im jeweiligen Falle das Eigene und das Andere ist. Aus dieser Erkenntnis heraus ergibt sich auch, was wir im Dialog hoffen dürfen und worauf wir zu verzichten haben. In einem nächsten Schritt werden wir unsere Wahr‐ nehmungen, Interpretationen und Gefühle, also die Welt des Eigenen, mit der Welt des Anderen in Beziehung setzen und daraus vorläufige Schlüsse für wei‐ tere Schritte ziehen. Auf diesem Wege sind mindestens drei Prozessschritte 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 117 <?page no="117"?> unter Berücksichtigung von drei Grundkompetenzen der Kommunikation zu beachten. Das folgende Korrelativmodell zeigt dieses Vorgehen: 77 Eigenkulturelle Kompetenz Interkulturelle Fach-Kompetenz Anderskulturelle Kompetenz Kontextualität — Situativität — Individualität Diese drei Grundkompetenzen umfassen weitere Kompetenzen, die wir benötigen, um situations- und kontextangemessen agieren zu können. Es handelt sich um folgende Kompetenzen: hermeneutische Kompetenz, um Gedankenwelten und Texte zu verstehen, spekulative Kompetenz, um den Blick des Anderen empathisch zu erfassen, analytische Kompetenz, um Terminologien entsprechend zu erschließen, und schließlich dialektische Kompetenz, um Konflikte auf der Grundlage der Überlappungen zu lösen. Solche handlungsorientierten Kompetenzen kommen zum Einsatz, wenn zwei Partner z. B. aus dem Orient und Okzident kommen. Die Verhandlungspartner werden sich zu vergegenwärtigen haben, dass sie zwei unterschiedlichen Kulturräumen und Religionen mit verschiedenen soziokulturellen und lebensweltlichen Hintergründen angehören, die nicht fundamental anders sind. Hier sind religions- und kulturpädagogische Dimensionen samt ihrer Kontextualitäten zu berücksichtigen. Die Partner müssen sich über Gebote und Verbote des Alltags informieren, wie Speisen und Getränke. Der Konsum von Alkohol ist in vielen arabisch-islamischen Ländern, wie dem Iran, sogar gesetzlich verboten. Hier ist die sozialpädagogische Dimension im interkulturellen Vergleich unverzichtbar. Die Gesprächspartner haben darüber hinaus auf das Zeitverständnis ihrer Gastländer zu achten. Das Verständnis von Pünktlichkeit oder Unpünktlichkeit lässt sich nicht generalisieren; es ist individuell unterschiedlich. Verschiedenheiten dürfen nicht als Affront gewertet werden, sondern als Bereicherung. Die Kommunizierenden müssen die Höflichkeits- und Begrüßungsformen der Gastländer unter Berücksichtigung der Individualitäten und Ausnahmen betrachten, ohne in Stereotype zu verfallen. Dies hängt damit zusammen, dass eine bestimmte Verhaltensform, die in einem Kulturkontext innerhalb oder außerhalb eines Kulturraumes erwartet wird, in einem anderen Kontext als völlig unangemessen empfunden werden kann. Es gibt Menschen, die, wie schon angeschnitten, kultur- und kontextunabhängig gewisse ritualisierte Begrüßungsformen pflegen, indem sie sich gegen die Faust schlagen oder sich ans Ohrläppchen fassen. In weiten Teilen Asiens gilt Verbeugung mit oder ohne Handschlag als Begrüßung. Es gibt auch lächelnd umarmende oder auf die Schulter klopfende Grußformen, die eine gewisse Freude zum Ausdruck bringen. In anderen Kulturgegenden wird mit Blick auf den Boden oder in die Augen gegrüßt. Diese Diversität der Begrüßungsformen verweist darauf, dass Kommunizierende die erwähnten Kontexte, Situationen und Individuen zu beachten haben. Keinesfalls dürfen die Verhältnisse nur durch die eigenkulturelle Brille gesehen, bewertet und generalisiert werden. Eine echte Verständigung bleibt ohne die Aneignung solcher Kernkompetenzen eine Wunschvorstellung. Die Kommunizierenden haben bei diesem Aneignungsprozess nicht nur Kulturgebundenheiten zu erkennen und Respekt zu entwickeln. Sie werden auch Verabsolutierungen vermeiden und Schnittmengen suchen. Das Ziel einer interkulturellen Abbildung 5.8: Korrelatives Modell Diese drei Grundkompetenzen umfassen weitere Kompetenzen, die wir benö‐ tigen, um situations- und kontextangemessen agieren zu können. Es handelt sich um folgende Kompetenzen: hermeneutische Kompetenz, um Gedanken‐ welten und Texte zu verstehen, spekulative Kompetenz, um den Blick des An‐ deren empathisch zu erfassen, analytische Kompetenz, um Terminologien ent‐ sprechend zu erschließen, und schließlich dialektische Kompetenz, um Konflikte auf der Grundlage der Überlappungen zu lösen. Solche handlungsorientierten Kompetenzen kommen zum Einsatz, wenn zwei Partner z. B. aus dem Orient und Okzident kommen. Die Verhandlungs‐ partner werden sich zu vergegenwärtigen haben, dass sie zwei unterschiedli‐ chen Kulturräumen und Religionen mit verschiedenen soziokulturellen und le‐ bensweltlichen Hintergründen angehören, die nicht fundamental anders sind. Hier sind religions- und kulturpädagogische Dimensionen samt ihrer Kontex‐ tualitäten zu berücksichtigen. Die Partner müssen sich über Gebote und Verbote des Alltags informieren, wie Speisen und Getränke. Der Konsum von Alkohol ist in vielen arabisch-islamischen Ländern, wie dem Iran, sogar gesetzlich ver‐ boten. Hier ist die sozialpädagogische Dimension im interkulturellen Vergleich unverzichtbar. Die Gesprächspartner haben darüber hinaus auf das Zeitver‐ ständnis ihrer Gastländer zu achten. Das Verständnis von Pünktlichkeit oder 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 118 <?page no="118"?> Unpünktlichkeit lässt sich nicht generalisieren; es ist individuell unterschied‐ lich. Verschiedenheiten dürfen nicht als Affront gewertet werden, sondern als Bereicherung. Die Kommunizierenden müssen die Höflichkeits- und Begrüßungsformen der Gastländer unter Berücksichtigung der Individualitäten und Ausnahmen betrachten, ohne in Stereotype zu verfallen. Dies hängt damit zusammen, dass eine bestimmte Verhaltensform, die in einem Kulturkontext innerhalb oder au‐ ßerhalb eines Kulturraumes erwartet wird, in einem anderen Kontext als völlig unangemessen empfunden werden kann. Es gibt Menschen, die, wie schon an‐ geschnitten, kultur- und kontextunabhängig gewisse ritualisierte Begrüßungs‐ formen pflegen, indem sie sich gegen die Faust schlagen oder sich ans Ohrläpp‐ chen fassen. In weiten Teilen Asiens gilt Verbeugung mit oder ohne Handschlag als Begrüßung. Es gibt auch lächelnd umarmende oder auf die Schulter klop‐ fende Grußformen, die eine gewisse Freude zum Ausdruck bringen. In anderen Kulturgegenden wird mit Blick auf den Boden oder in die Augen gegrüßt. Diese Diversität der Begrüßungsformen verweist darauf, dass Kommunizie‐ rende die erwähnten Kontexte, Situationen und Individuen zu beachten haben. Keinesfalls dürfen die Verhältnisse nur durch die eigenkulturelle Brille gesehen, bewertet und generalisiert werden. Eine echte Verständigung bleibt ohne die Aneignung solcher Kernkompetenzen eine Wunschvorstellung. Die Kommuni‐ zierenden haben bei diesem Aneignungsprozess nicht nur Kulturgebunden‐ heiten zu erkennen und Respekt zu entwickeln. Sie werden auch Verabsolutie‐ rungen vermeiden und Schnittmengen suchen. Das Ziel einer interkulturellen Kompetenz ist Verstehen-Wollen und Verstanden-werden-Wollen. Hierin liegt die Chance einer echten Verständigung. Der Bedarf an interkultureller Kompetenz zeigt sich, auf allen Ebenen der nationalen und internationalen Beziehungen. Bloßes Fachwissen hilft nur in seltenen Fällen. Erforderlich sind in der Regel persönliches Engagement und Geschick, mit einer feinfühligen Empathiefähigkeit. Wir können unsere Wir‐ kung auf das Andere einschätzen, wenn verstanden worden ist, wie kulturelle Prägung entsteht. Dies bedeutet auch, dass der Andere die Möglichkeit erhält, über seine jeweilige kulturelle Prägung hinauszuwachsen, oder diese gar zu de‐ mentieren, indem er kritisch dazu Stellung bezieht oder bisher bestehende, ge‐ neralisierend wirkende Urteile entkräftet. Folgendes ist kritisch anzumerken: In fast allen Einführungen in die inter‐ kulturelle Kompetenz wird betont, dass europäisch-westliche Geschäftspartner selbstbewusst auftreten, auf klare Kommunikation setzen, um Respekt zu er‐ zeugen, rational verhandeln und auf Pünktlichkeit großen Wert legen, während außereuropäischen Geschäftsleuten bescheinigt wird, traditions- und hierar‐ 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 119 <?page no="119"?> chiebewusst aufzutreten, sich nicht so sehr um Pünktlichkeit zu bemühen und alles auf harmonischer oder sogar freundlicher Ebene abwickeln zu wollen. Eine Tatsache entgeht diesen Einführungen; denn wo es um Geschäfte geht, geht es um theoretische und praktische Klugheit und weniger um Tradition und Hierarchie. Der Schein trügt: Hierarchisches Auftreten kann eine Taktik sein, in der der Partner bewusst unseren Vorurteilen entspricht. So werden sie für uns unberechenbar bleiben, weil wir oft den Fehler begehen, die Welt aus‐ schließlich durch unsere Brille zu betrachten und zu bewerten. Gut geschulte Führungspersonen wissen sehr genau, dass alle Geschäftsbe‐ ziehungen auf nationaler und internationaler Ebene auf Harmonie und vor allem auf guten Beziehungen gründen. Um eigene Ziele zu erreichen, werden unter‐ schiedliche Formen der Klugheit praktiziert. Insofern wäre es stets angebracht, nicht mit einem vorgefassten Bild das Andere zu sehen, sondern das Bezugs‐ system des Anderen durch die Brille des Anderen zu betrachten. Darin liegt der wahre Kern einer jeden reflektierten Art interkultureller Kompetenz. Interkulturelle Kompetenz in diesem Geiste bedeutet zu lernen, Verhaltens‐ weisen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und nachzuvollziehen. Auf diese Weise entwickeln wir ein gewisses Maß an kultursensitivem Bewusst‐ sein, um den Werten und Normen des Eigenen und des Anderen, wenn auch nur teilweise, gerecht zu werden. Sie gestattet mit einer weitgefassten Auswahl von Methoden versehen den kritischen Blick auf Entwicklungen innerhalb unter‐ schiedlicher Kulturen, die eine Förderung, Weiterbildung oder Verschärfung von Konkurrenz- oder Kampfplätzen des Denkens begünstigen und versucht, diese in ihrer argumentativen wie strukturellen Tragweite zu untergraben, um die Basis eines gelingenden Dialoges zwischen, innerhalb sowie über kulturelle Grenzen hinaus zu ermöglichen. Dies wäre jedoch ohne funktionierende Be‐ griffsapparate und Grundlagen nicht möglich. 5.3.3. Modus der Semantik Das Verhältnis zwischen Denken und Sprache wurde im ersten Kapitel einge‐ hend untersucht. Wir haben gesehen, dass der Gedanke als Essenz dessen, was gesagt wird, im sprachlichen Ausdruck seine Existenz begründet und dem laut‐ lichen Bild vorausgeht. Auf allen Kampfplätzen des Denkens können wir Sprachformen beobachten, die mit spezifischen Bedeutungen und Eigendyna‐ miken verknüpft sind. Sie beinhalten bestimmte geistige wie sprachliche Kon‐ zepte, die den Hintergrund diverser Begriffe ausfüllen, ohne deren Inhalte diese bloß leere Ausdrücke wären und als inhaltslose Platzhalter umherirren würden. 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 120 <?page no="120"?> Die Denk-Sprach-Relation sagt aus, dass wir in der Kommunikation stets be‐ müht zu sein haben, die Bedeutungsebenen des gedachten und ausgesprochenen Wortes des jeweils Anderen zu begreifen und miteinander zu korrelieren. Denn von diesem Begreifen hängen Verstehen und Verständigung der Kommunizier‐ enden ab. Daher gilt allgemein der Grundsatz: Wer ein Wort gebraucht, sollte wissen, was es bedeutet. Das ist der erste Schritt eines jeden wissenschaftlichen Denkens. Der Ausdruck ›Das war nicht so gemeint! ‹ bezieht sich auf eine solche Relation. Dieser Satz besagt, dass wir während des Gesprächs ein Wort oder eine Formulierung gewählt haben, ohne zu bedenken, welche Wirkung unsere Äu‐ ßerung auf den Gesprächspartner haben kann. Beim Reden ereignen sich solche Situationen häufiger als bei der Anfertigung eines Schriftstücks. Stellen wir uns einmal die folgende Situation vor: Sie fragen den Leiter einer Firma im Rahmen eines Vorstellungsgespräches, ob er mit Ihnen für die Vertiefung der gewonnenen Ergebnisse auch einen früheren Termin nennen könne als vereinbart. Der Leiter erwidert: ›Da müssen Sie aber meine Mädels fragen.‹ Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Äußerungen des Leiters zu inter‐ pretieren. Meint er vielleicht Mitarbeiterinnen, mit denen er ein intimes Ver‐ hältnis unterhält oder macht er vielleicht auf seinen flapsigen Umgang mit seinen Mitarbeitern aufmerksam. Sie können seine Art und Weise auch als mangelnde Wertschätzung des Leiters gegenüber seinen Mitarbeitern begreifen. Es gebe freilich auch die Möglichkeit, ihn zu fragen: ›Meinen Sie vielleicht Ihre Mitarbeiterinnen? ‹ Diese irritierende Gesprächssituation macht deutlich, dass wir mit unserer Sprache nicht gedankenlos umgehen dürfen. Jede Sprache eröffnet uns Zugang zu durchaus verschiedenen Welten. Eine unüberlegte Wortwahl kann für die zwischenmenschliche Beziehung dramatische Konsequenzen haben. Die Aus‐ sage des Politikers zu einer Reporterin ›Sie können ein Dirndl auch ausfüllen‹ ist ein weiteres Beispiel für Äußerungen, die unterschiedlich aufgefasst werden können. Wahrscheinlich wollte sich der Politiker, ähnlich wie der Firmenleiter, aus seiner höheren Position heraus ein witziges Kompliment erlauben. Die Wortwahl wird ihm jedoch zum Verhängnis, weil die Reporterin diesen Aus‐ druck aufgrund ihres eigenen Bezugssystems als sexistische Impertinenz ein‐ ordnete. Die Wortwahl der beiden Führungspersonen sagt stets etwas aus über ihre soziale Einstellung und Wertschätzung dem Anderen gegenüber. Diese Beispiele aus eigenkulturellem Umfeld können im Rahmen einer in‐ terkulturellen Begegnung noch erheblich gravierendere Folgen für die Ge‐ sprächspartner haben. In solchen Kontexten kommt die Mehrdeutigkeit von 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 121 <?page no="121"?> Begriffen zum Tragen. Die Äußerungen ›Da müssen Sie aber meine Mädels fragen‹ und ›Sie können ein Dirndl auch ausfüllen‹ können übersetzt in einer anderen Sprache derartige Missverständnisse erzeugen, dass sie womöglich zum völligen Abbruch der Kommunikation führen. Aus diesem Grund müssen insbesondere die jeweiligen, verwendeten Worte, die einen Sachverhalt beschrieben und klarstellen sollen, angemessen gewählt werden. Spezifische Kommunikations- oder Stilmittel, wie etwa die scherzhafte Ironie aus dem ersten Beispiel führen vor Augen, dass es ein spezifisches Kon‐ ventionswissen erfordert, diese zu entschlüsseln, gleichsam wie ein bestimmtes, situatives Element von Bedeutung ist, das sich aus dem Umfeld der Kommuni‐ kationssituation sowie der jeweiligen Dialogpartner heraus ergibt. Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind in einem orientalischen Land geschäftlich unterwegs und führen ein Gespräch mit einem Firmenleiter, der auf die gleiche Frage antwortet: ›Da müssen Sie meine Mädels fragen! ‹ Es kann durchaus sein, dass bei Ihnen der Eindruck entsteht, im Orient hätten Männer dieser Position alle ihren eigenen Harem. Sie könnten vermuten, dass Sie im Falle einer Ein‐ stellung ebenfalls zu seinen ›Mädels‹ gehören würden. ›Nein‹, würden Sie viel‐ leicht sagen, ›auf eine solche ›Mitarbeit‹ möchte ich gerne verzichten‹. Diese Beispiele machen deutlich, dass die Wortbedeutungen nicht nur intrakulturell, sondern gerade interkulturell Missverständnisse hervorbringen können, welche für die zwischenmenschliche Kommunikation von erheblicher Bedeutung sind. Das Gebiet, in dem diese Fragen diskutiert werden, ist die in‐ terkulturelle Semantik. Interkulturelle Semantik befasst sich mit allen Äußer‐ ungsformen kultureller und interkultureller Art, zu denen auch alle Textsorten gehören. Dies unabhängig von der Diversität von Aspekten und thematischen Schwerpunkten. Sie untersucht ihre Art und Weise sowie Entstehungen und Grundabsichten, die dahinter stehen. Von besonderer Wichtigkeit ist bei der interkulturellen Semantik ihre kom‐ munikative Funktion und inhaltlicher Anspruch. Auch hier sind Bezugsebenen der Äußerungsformen und Textsorten von Bedeutung, die politischer, religiöser, kultureller, wissenschaftlicher und historischer oder literarischer Natur sein können. Ferner können viele solcher Äußerungsformen geschriebener oder ge‐ sprochener Art sein. Demzufolge untersucht Semantik ebenfalls den Grund der Verbreitung und Normierung der verwendeten Ausdrucksformen und Text‐ sorten. Hier ist auch die Geschlechtsthematik zu beachten, wenn wir bspw. die Männer- oder Frauensprache über das jeweils andere Geschlecht hinzuziehen. Diese Überlegungen machen deutlich, dass die interkulturelle Semantik kon‐ textuell bedingte Äußerungsformen zum Gegenstand hat. Ihr Ziel ist es, inter‐ kulturell bedingte Störungen, Missverständnisse und Konflikte zu analysieren, 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 122 <?page no="122"?> 47 Koch, Peter u. a.: Neues aus Sankt Eiermark, 2 1997, S. 57 f. die durch einen kontextspezifischen Wortgebrauch verursacht werden bzw. verursacht werden könnten. Hierbei sind Bedeutung und Sinnebenen zu be‐ achten, die stets mit völlig unterschiedlichen Vorstellungen verknüpft sind. Auch ist die Distributionsanalyse, d. h. die Kontext- und Feldanalyse wesentlich. Das folgende Beispiel zeigt die Relevanz einer solchen Analyse 47 : Ein Cowboy und ein Indianer treffen sich in der Prärie. Der Indianer zeigt mit dem Zeigefinger auf den Cowboy. Der hebt als Antwort Zeigefinger und Mit‐ telfinger gespitzt hoch. Der Indianer faltet die Hände vor dem Gesicht. Da schüttelt der Cowboy locker seine rechte Hand. Beide reiten davon. Der Cowboy kommt heim zu seiner Frau und erzählt: »Stell’ dir vor, ich habe heute eine Rothaut getroffen. Sie hat mit dem Zeige‐ finger gedroht, mich zu erschießen. Da habe ich dem Indianer mit der Hand verdeutlicht, dass ich ihn zweimal erschießen würde. Und weil er mich prompt um Gnade gebeten hat, habe ich ihm zu verstehen gegeben, er solle verschwinden.« Einige Meilen westlich, im Wigwam, erzählt der Indianer seiner Squaw: »Stell’ dir vor, ich habe heute ein Bleichgesicht getroffen. Ich habe ihn gefragt: ›Wie heißt du? ‹ Da hat er mir geantwortet: ›Ziege‹. Da hab’ ich ihn gefragt: ›Bergziege? ‹ Und da hat er geantwortet: ›Nein, Flussziege‹.« Dieses Beispiel führt drastisch vor Augen, dass Bedeutung und Sinnebenen kontextuell mit unterschiedlichen Vorstellungen verbunden sind, die unver‐ meidlich Missverständnisse erzeugen und zu Abgrenzung und Feindseligkeit führen können. Diese Begegnung macht deutlich, dass die Interpretation des Denkens und Wahrnehmens anderer immer Deutung von Zeichen aller Art ist. Das Deutungsfeld ist daher stets ein Kampfplatz der Denkformen und Interpre‐ tationen. Problematisch sind in diesem Kontext auch Höflichkeits- und Grußfloskeln sowie Hotwords, heiße Wörter. Es handelt sich um Wörter, die je nach Situation und Kontext stark positive oder negative Emotionen hervorrufen. Das persische Wort ›Nazi‹ ist im interkulturellen Vergleich ein solches Hotword. Im Persischen bedeutet dieser Ausdruck ›Oh, wie süß‹ bzw. ›Du bist aber hübsch! ‹, während das Wort ›Nazi‹ im Deutschen mit Faschismus identifiziert wird. Wenn ein Iraner einem deutschen Mädchen auf Persisch ›Nazi‹ sagt, macht sich zunächst eine starke Irritation breit. Die Antwort dürfte klar sein: ›Ich bin kein Nazi‹. Während also dieses Wort im Persischen positive Emotionen hervorruft, ist es im Deutschen negativ besetzt. 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 123 <?page no="123"?> 48 Kühn, Peter: Interkulturelle Semantik, 2006, S. 26. Mit der Bezeichnung ›arisch‹ im Deutschen und Persischen verhält es sich ähnlich. Dieser Begriff bezeichnet ursprünglich einen der Stämme, die im Zuge der indoeuropäischen Wanderung in das Gebiet des heutigen Iran einwanderten. Die etymologische Wurzel des Wortes ›Iran‹ ist ›Eran‹, d. h. ›Das Land der Arier‹. Dieser Ausdruck ist im Persischen mit einer positiven Erinnerungskultur verbunden, während er im Deutschen mit der nationalsozialistischen Idee einer Reinheit der Rasse in Verbindung gebracht wird, die mit einer negativen Erin‐ nerungskultur verknüpft ist. Deshalb ist die Verwendung des Wortes ›arisch‹ im Deutschen problematisch. Besondere Beachtung verdienen unter anderem auch idiomatische Aus‐ drücke und spezifische Aussagen, die im Sprachgebrauch einer jeden Sprache vorhanden sind. Sie erzeugen oftmals Irritationen und werfen Fragen auf, die zu einem Hindernis in der Kommunikation führen können. So können etwa selbst gemeinhin bekannte Wendungen und Metaphern missverständlich auf‐ gefasst werden, wenn eine der beiden Kommunikationsparteien diesen nicht kennt. Wenn man etwa ›einen Zahn zulegen‹ solle, so ist jedem, der diesen Ausdruck kennt klar, ein höheres Arbeitstempo anzuschlagen, doch jemand der diese mittelalterliche Redewendung nicht kennt, dürfte sich zunächst fragen, was damit gemeint sei. Derartige Irritationen besitzen einen spezifischen, prag‐ matischen Zusammenhang, der sich aus einer jeweiligen Ausgangssituation speist und oftmals in eine neue, semantische wie kommunikative Umgebung überführt wird. Auf diese Weise erhält eine Redewendung möglicherweise im Laufe ihrer Verwendungsgeschichte etliche neue Dimensionen hinzu, wohin‐ gegen sie ihren ursprünglichen Bedeutungskontext vielleicht sogar vollständig verlassen kann. Es ist sinnvoll, die lautliche Übereinstimmung von Wörtern mit verschie‐ dener Bedeutung und Herkunft zu beachten und sich dafür zu sensibilisieren. Das Gleiche gilt auch für das Vorhandensein mehrerer Bedeutungen, die es für ein Wort gibt. Wer dies beachtet, kann effektiv dazu beitragen, dass Missvers‐ tändnisse korrigiert und Bedeutungen kontextuell erweitert oder richtiggestellt werden können. Interkulturelle Semantik birgt ein Missverständnispotenzial, »weil die Kom‐ munikationspartner in einer interkulturellen Kommunikationssituation die Wörter so gebrauchen, wie sie diese im Laufe ihrer Sozialisation in einem spe‐ zifischen kulturellen Kontext erlernt haben« 48 und wie sie für eine Sprach- und Kulturgemeinschaft gemeinhin in Wörterbüchern festgeschrieben sind. Seman‐ tisch bedingte Missverständnisse oder Konflikte treten auf, »wenn die Kom‐ 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 124 <?page no="124"?> 49 Ebenda, S. 9. 50 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 2010, S. 6 f. munikationsbeteiligten auf der Basis unterschiedlicher soziokulturell geprägter Bedeutungskonventionen miteinander interagieren, bzw. unterschiedliche Be‐ griffssysteme aufeinandertreffen.« 49 Betrachten wir die deutschen Wörterbücher, so wird zu beobachten sein, dass der Wortschatz darin selten kultursensitiv dargestellt wird, d. h. dass soziokul‐ turell eingespielte Einstellungen, Wertungen, Stereotype, Ideologien usw. kaum Erwähnung finden. In diesen Wörterbüchern gibt es keinen Hinweis auf ›Hot‐ words‹ wie Heimat, Moschee, Kopftuch oder Familie, die nicht leicht zu fassen und zu beschreiben sind. Eine zentrale Aufgabe interkultureller Semantik besteht darin, unter Berück‐ sichtigung verschiedener Wortbedeutungen im Vergleich der Sprachkulturen, eine offene und kontextsensibilisierte Verständigung zu fördern, die Kampf‐ plätzen des Denkens entgegenwirkt und auf leeren Argumentationen beruhende Denkmodelle zunehmend neutralisiert. 5.3.4. Modus der Hermeneutik Befragen wir Politiker, Wissenschaftler oder einfache Bürger auf der Straße, was das Ziel eines Gesprächs mit dem Anderen ist oder sein sollte, bekämen wir mit großer Wahrscheinlichkeit die Antwort: Verstehen und Verständigung. Wie kommt es aber, dass diese Bemühung oft das Gegenteil bewirkt? Auch hier scheint alles damit zusammenzuhängen, dass viele Menschen oft unter Verstehen und Verständigung die Durchsetzung der eigenen Meinung oder Überzeugung zu erblicken meinen. Dass diese individuell unterschiedlich ausgeprägte Mentalität Dialoge in Kampfplätze des Denkens umformt, scheint eine Folge dieser Fehltat zu sein, die alles aus eigener Perspektive und unifizieren will. Verstehen ist ein Schlüsselbegriff des menschlichen Lebens und damit auch ein Grundbegriff der Kommunikation überhaupt. Jeder Mensch ist auf seine Weise durchaus bemüht Sachverhalte zu ergründen, Texte zu erschließen, Spra‐ chen zu erlernen, Theorien zu analysieren und Haltungen oder Mentalitäten zu begreifen. In all diesen Bemühungen geht es letzten Endes um das Verstehen. Angemessenes Verstehen hat nicht nur eine sachlich-rationale, sondern auch eine emotionale Dimension. Max Weber (1864-1920) unterscheidet zwei Verstehenstypen, die rational oder irrational sein können: aktuelles und erklärendes Verstehen. Die Intention des Betrachters ist stets ausschlaggebend dafür, wie jeweils vorgegangen wird. 50 Das 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 125 <?page no="125"?> aktuelle Verstehen bezieht sich auf die deutende Erfassung des laufenden Hand‐ lungssinnes, während das erklärende Verstehen Gründe für dieses oder jenes spezifische Verhalten erfasst. Hierbei wird, um einen Ausdruck Webers zu ge‐ brauchen, ›motivationsmäßig‹ zu verstehen versucht, aus welchem Affekt he‐ raus gelacht, gestritten oder mit dem Auto statt mit der Straßenbahn gefahren wird. Dabei ist anzumerken, dass Interpretationen menschlicher Handlungen ebenfalls ›motivationsmäßig‹ erfolgen. Interkulturelles Verstehen ist über diese Verstehensform hinaus eine beson‐ dere Art des hermeneutischen Umganges mit dem Anderen. Dies hängt damit zusammen, dass sich die kommunizierenden Sachverhalte auch hier aus unter‐ schiedlichen Sinn-, Orientierungsund/ oder Symbolsystemen heraus er‐ schließen, analysieren oder ergründen. Interkulturelles Verstehen und interkul‐ turelle Hermeneutik gebrauche ich synonym. Sie beschreibt ursprünglich ein methodisches Regelwerk des Verstehens, der Auslegung und der Erklärung von Texten, Kunstwerken aber auch von Zusammenhängen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, in denen es um das Wechselverhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen geht. Wir kennen das berühmte Ente-Hase-Bild. Bei der Betrachtung dieses Kipp‐ bildes lässt sich von der rechten Seite her eine Ente und von der linken Seite her ein Hasenkopf wahrnehmen. Welche Sichtweise ist richtig und wer bestimmt dies? 82 5.3.4. Modus der Hermeneutik Befragen wir Politiker, Wissenschaftler oder einfache Bürger auf der Straße, was das Ziel eines Gesprächs mit dem Anderen ist oder sein sollte, bekämen wir mit großer Wahrscheinlichkeit die Antwort: Verstehen und Verständigung. Wie kommt es aber, dass diese Bemühung oft das Gegenteil bewirkt? Auch hier scheint alles damit zusammenzuhängen, dass viele Menschen oft unter Verstehen und Verständigung die Durchsetzung der eigenen Meinung oder Überzeugung zu erblicken meinen. Dass diese individuell unterschiedlich ausgeprägte Mentalität Dialoge in Kampfplätze des Denkens umformt, scheint eine Folge dieser Fehltat zu sein, die alles aus eigener Perspektive und unifizieren will. Verstehen ist ein Schlüsselbegriff des menschlichen Lebens und damit auch ein Grundbegriff der Kommunikation überhaupt. Jeder Mensch ist auf seine Weise durchaus bemüht Sachverhalte zu ergründen, Texte zu erschließen, Sprachen zu erlernen, Theorien zu analysieren und Haltungen oder Mentalitäten zu begreifen. In all diesen Bemühungen geht es letzten Endes um das Verstehen. Angemessenes Verstehen hat nicht nur eine sachlich-rationale, sondern auch eine emotionale Dimension. Max Weber (1864-1920) unterscheidet zwei Verstehenstypen, die rational oder irrational sein können: aktuelles und erklärendes Verstehen. Die Intention des Betrachters ist stets ausschlaggebend dafür, wie jeweils vorgegangen wird. 50 Das aktuelle Verstehen bezieht sich auf die deutende Erfassung des laufenden Handlungssinnes, während das erklärende Verstehen Gründe für dieses oder jenes spezifische Verhalten erfasst. Hierbei wird, um einen Ausdruck Webers zu gebrauchen, ›motivationsmäßig‹ zu verstehen versucht, aus welchem Affekt heraus gelacht, gestritten oder mit dem Auto statt mit der Straßenbahn gefahren wird. Dabei ist anzumerken, dass Interpretationen menschlicher Handlungen ebenfalls ›motivationsmäßig‹ erfolgen. Interkulturelles Verstehen ist über diese Verstehensform hinaus eine besondere Art des hermeneutischen Umganges mit dem Anderen. Dies hängt damit zusammen, dass sich die kommunizierenden Sachverhalte auch hier aus unterschiedlichen Sinn-, Orientierungsund/ oder Symbolsystemen heraus erschließen, analysieren oder ergründen. Interkulturelles Verstehen und interkulturelle Hermeneutik gebrauche ich synonym. Sie beschreibt ursprünglich ein methodisches Regelwerk des Verstehens, der Auslegung und der Erklärung von Texten, Kunstwerken aber auch von Zusammenhängen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, in denen es um das Wechselverhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen geht. Wir kennen das berühmte Ente-Hase-Bild. Bei der Betrachtung dieses Kippbildes lässt sich von der rechten Seite her eine Ente und von der linken Seite her ein Hasenkopf wahrnehmen. Welche Sichtweise ist richtig und wer bestimmt dies? Das Ente-Hase-Bild zeigt, dass Kommunikation immer auch eine individuelle, d.h. eine urteilsbildende sowie urteilsbenötigende Komponente beinhaltet. Die Entscheidung etwa, ob es 50 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 2010, S. 6 f. Abbildung 5.9: Ente-Hase-Bild Das Ente-Hase-Bild zeigt, dass Kommunikation immer auch eine individuelle, d. h. eine urteilsbildende sowie urteilsbenötigende Komponente beinhaltet. Die Entscheidung etwa, ob es sich nun um eine Ente oder einen Hasen handelt, trifft jeder Betrachter selbst. Und doch gibt es keine einvernehmliche Autorität, welche festlegen könnte, welche der beiden Figuren sich im Bild nun als ei‐ gentliche, zentrale Deutungsart herausstellt. Dies verdeutlicht, dass es verschie‐ dene Betrachtungsarten gibt. Es zeigt ebenfalls die Bedeutung der Hermeneutik für mögliche Interpretationen, Sachverhalte, Theorien oder Wahrnehmungen. 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 126 <?page no="126"?> Die zuvor diskutierte Parabel mit dem Hammer ist ein zusätzliches Beispiel für die Erklärung dessen, was Hermeneutik ist. Wir sehen, dass ein Mann vorhat, ein Bild in seinem Zimmer aufzuhängen. Ihm fehlt hierzu ein Hammer. Weil sein Nachbar einen hat, beschließt er, unverzüglich zu ihm zu gehen, um ihn um den Hammer zu bitten. Urplötzlich regen sich bei ihm Zweifel. Ihm geht die Frage durch den Kopf, was wäre, wenn der Nachbar ihm den Hammer doch nicht ausleihen würde. Seinen Zweifel verbindet er mit der Unterstellung, dieser habe ihn gestern ›nur flüchtig‹ gegrüßt. Er geht mit einem konstruierten Bild seines Nachbarn ins Gericht und urteilt: ›Er muss etwas gegen mich haben.‹ Dabei konstruiert sich der Hammersuchende eine Opferrolle und bildet sich in seinem stillen Kämmerlein gleichsam ein, er selbst würde jedem sein Werkzeug zur Verfügung stellen, wenn es jemand von ihm borgen wollte. Während er sich für gütig und hilfsbereit hält, erklärt er den Nachbarn für eine seltsame Person: ›Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben! ‹ Er geht in seiner Einseitigkeit so weit, dass er dem Nach‐ barn weiter unterstellt, dieser wisse doch, dass er gerade auf ihn angewiesen sei, aber weil bloß er im Besitz eines Hammers sei, wolle er ihn im Regen stehen lassen. Irgendwann hat der Mann es satt und sagt laut zu sich: ›Jetzt reicht es mir! ‹ Er rennt zum Nachbarn hinunter und klingelt. Der Nachbar öffnet, und er schreit ihn an: ›Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel! ‹ Hermeneutik kann, wie diese Parabel lebhaft vor Augen führt, auf den Horizont des Eigenen beschränkt bleiben oder den Horizont des Anderen einbeziehen, um eine Horizontüberlappung herbeizuführen. Bevor ich auf die Analyse dieser Parabel zu sprechen komme, unterscheide ich zwei Formen von Hermeneutik: apozyklische und enzyklische. Dies zeigt das untenstehende Verstehensmodell. 83 sich nun um eine Ente oder einen Hasen handelt, trifft jeder Betrachter selbst. Und doch gibt es keine einvernehmliche Autorität, welche festlegen könnte, welche der beiden Figuren sich im Bild nun als eigentliche, zentrale Deutungsart herausstellt. Dies verdeutlicht, dass es verschiedene Betrachtungsarten gibt. Es zeigt ebenfalls die Bedeutung der Hermeneutik für mögliche Interpretationen, Sachverhalte, Theorien oder Wahrnehmungen. Die zuvor diskutierte Parabel mit dem Hammer ist ein zusätzliches Beispiel für die Erklärung dessen, was Hermeneutik ist. Wir sehen, dass ein Mann vorhat, ein Bild in seinem Zimmer aufzuhängen. Ihm fehlt hierzu ein Hammer. Weil sein Nachbar einen hat, beschließt er, unverzüglich zu ihm zu gehen, um ihn um den Hammer zu bitten. Urplötzlich regen sich bei ihm Zweifel. Ihm geht die Frage durch den Kopf, was wäre, wenn der Nachbar ihm den Hammer doch nicht ausleihen würde. Seinen Zweifel verbindet er mit der Unterstellung, dieser habe ihn gestern ›nur flüchtig‹ gegrüßt. Er geht mit einem konstruierten Bild seines Nachbarn ins Gericht und urteilt: ›Er muss etwas gegen mich haben.‹ Dabei konstruiert sich der Hammersuchende eine Opferrolle und bildet sich in seinem stillen Kämmerlein gleichsam ein, er selbst würde jedem sein Werkzeug zur Verfügung stellen, wenn es jemand von ihm borgen wollte. Während er sich für gütig und hilfsbereit hält, erklärt er den Nachbarn für eine seltsame Person: ›Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben! ‹ Er geht in seiner Einseitigkeit so weit, dass er dem Nachbarn weiter unterstellt, dieser wisse doch, dass er gerade auf ihn angewiesen sei, aber weil bloß er im Besitz eines Hammers sei, wolle er ihn im Regen stehen lassen. Irgendwann hat der Mann es satt und sagt laut zu sich: ›Jetzt reicht es mir! ‹ Er rennt zum Nachbarn hinunter und klingelt. Der Nachbar öffnet, und er schreit ihn an: ›Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel! ‹ Hermeneutik kann, wie diese Parabel lebhaft vor Augen führt, auf den Horizont des Eigenen beschränkt bleiben oder den Horizont des Anderen einbeziehen, um eine Horizontüberlappung herbeizuführen. Bevor ich auf die Analyse dieser Parabel zu sprechen komme, unterscheide ich zwei Formen von Hermeneutik: apozyklische und enzyklische. Dies zeigt das untenstehende Verstehensmodell. Interkulturelle Kommunikation Apozyklische Hermeneutik Enzyklische Hermeneutik Abbildung 5.10: Verstehensmodell Apozyklische Hermeneutik beschreibt eine reduktive Form des Verstehens und beschränkt sich auf Selbsthermeneutik. Diese traditionelle Methode der Hermeneutik ist zweidimensional, weil die Kommunizierenden ausschließlich eigene Sichtweisen in den Vordergrund stellen. Eine reine apozyklische Identitätshermeneutik wird oft Alpha-Kultur bevorzugt, die alles der eigenen Denk- und Lebensform anpassen will, ist nicht tragfähig, weil sie darauf hinausläuft, dass sich die Kommunizierenden nur dann verstehen würden, wenn sie die gleichen Anschauungen hätten. Die reduktive Ausrichtung dieser Verstehensform zeigt sich in ihrer Einseitigkeit. Letzten Endes geht es darum, wie ich erstens meine eigene Denkform betrachte und wie ich zweitens die Einstellung des Anderen wahrnehme. Enzyklische Hermeneutik versteht sich hingegen als eine argumentative Methode, die darauf ausgerichtet ist, das beziehungslose Nebeneinander des Eigenen und des Anderen in ein interaktives Miteinander zu verwandeln. Sie sucht Schnittmengen und Übergänge in unterschiedlichen Kontexten um die Grundlage einer Verständigung gemeinsam herbeizuführen. Diese Verstehensform erweist sich als hilfreich, wenn Interesse an einer argumentativen und Abbildung 5.10: Verstehensmodell 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 127 <?page no="127"?> Apozyklische Hermeneutik beschreibt eine reduktive Form des Verstehens und beschränkt sich auf Selbsthermeneutik. Diese traditionelle Methode der Her‐ meneutik ist zweidimensional, weil die Kommunizierenden ausschließlich ei‐ gene Sichtweisen in den Vordergrund stellen. Eine reine apozyklische Identi‐ tätshermeneutik wird oft Alpha-Kultur bevorzugt, die alles der eigenen Denk- und Lebensform anpassen will, ist nicht tragfähig, weil sie darauf hinausläuft, dass sich die Kommunizierenden nur dann verstehen würden, wenn sie die gleichen Anschauungen hätten. Die reduktive Ausrichtung dieser Verstehens‐ form zeigt sich in ihrer Einseitigkeit. Letzten Endes geht es darum, wie ich erstens meine eigene Denkform betrachte und wie ich zweitens die Einstellung des An‐ deren wahrnehme. Enzyklische Hermeneutik versteht sich hingegen als eine argumentative Me‐ thode, die darauf ausgerichtet ist, das beziehungslose Nebeneinander des Ei‐ genen und des Anderen in ein interaktives Miteinander zu verwandeln. Sie sucht Schnittmengen und Übergänge in unterschiedlichen Kontexten um die Grund‐ lage einer Verständigung gemeinsam herbeizuführen. Diese Verstehensform er‐ weist sich als hilfreich, wenn Interesse an einer argumentativen und echten Verständigung auf gleicher Augenhöhe besteht. Besteht eine solche Neugier, so erweitert sich der Horizont des Verstehens. Es wird nicht nur gefragt: Wie be‐ trachte ich mich und die Anderen, sondern auch wie betrachten andere sich selbst und mich. Diese vierfache Offenheit enzyklischer Hermeneutik eröffnet einen Prozess mit vielen interdisziplinären Dimensionen, welche für die Be‐ schreibung, Analyse und Förderung einer ausgewogenen Kommunikationssi‐ tuation grundlegend sind. Enzyklische Hermeneutik geht deutlich über die Weltsicht einer globalisti‐ schen Alpha-Kultur hinaus und ermöglicht eine wertschätzende Annäherung verschiedener Denk- und Wahrnehmungsformen durch ein dialogisches Ver‐ stehensgleichgewicht der Kommunizierenden, während der apozyklischen Her‐ meneutik eine Selbstverliebtheit innewohnt, die jede Kommunikationsbemü‐ hung destruiert oder nur nach eigenen Maßstäben und eigener Regie, d. h. eigener Anleitung und Überwachung akzeptiert. Das Wort ›Verstehensgleich‐ gewicht‹ artikuliert ein Prozess, in dem Kontinuität und Differenz sowie ge‐ meinsame Suche nach Annäherung und Kompromiss ein Erfolgsquadrat bilden. Kriterien, Sehenslogik und individuelle Erfahrungen erschweren die Entfal‐ tung einer allgemeinverbindlichen Vorstellung von dem, was gemeinhin ›Richtig‹ oder ›Falsch‹ vorgestellt wird. Dies hängt damit zusammen, weil Men‐ schen unterschiedlich denken und fühlen sowie empfinden und intuieren, dar‐ über später mehr, kann unterstellt werden, dass jeder Mensch seine eigene Vor‐ stellung davon hat. Vergleichende Theorienfelder zeigen am deutlichsten diesen 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 128 <?page no="128"?> 51 Vgl. Meinhold, Marianne und Christian Matul: Qualitätsmanagement aus der Sicht der Sozialarbeit und Ökonomie, 2 2011, S. 17. Kampfplatz der Vorstellungen. 51 Das enzyklische Verstehensmodell verfährt in diesem Sinne inklusivistisch und zeigt, dass eine als interkulturell angelegte Hermeneutik immer darum bestrebt ist, bestehende Grenzen zu überwinden und als Zwischeninstanz zu fungieren, in deren Anwendungsbereiche Techniken und Verfahrenswege der enzyklischen Hermeneutik einfließen. Dabei geht es ihr nicht darum, bestehende Einzigartigkeiten aufzuheben oder gänzlich zu ne‐ gieren und sie in einem größeren, offenen Ganzen aufgehen zu lassen, sondern eher darum, jene einzigartigen und individuellen wie kulturellen Besonder‐ heiten zu wahren, um auf ihrer gegenseitigen Achtung und Erhaltung eine Basis zur gegenseitigen Verständigung zu entfalten. Die Parabel ist ein typisches Beispiel für die apozyklische Hermeneutik. Der Hammersuchende bildet, seinen eigenen Vorurteilen entsprechend, Vermu‐ tungen und Urteile, ohne mit dem Nachbarn ein Wort gesprochen zu haben. Das gesamte Szenario spielt sich bloß in seinem Kopf ab. Wichtig für ihn ist - das ist die Botschaft der Parabel - wie er sich selbst sieht und was er von seinem Nachbarn hält bzw. auf ihn projiziert. Diese Parabel verdeutlicht darüber hinaus, dass Kommunikationen oft scheitern, weil die Kommunizierenden nicht bereit sind, sich ihrer Vermutungen und Schlussfolgerungen gegenüber dem jeweils Anderen zu vergewissern. Hier haben Unterstellungen mitunter dramatische Folgen. Der Ausdruck ›Sie Rüpel! ‹ ist eine theoretische Gewalt, die durchaus auch in praktische Gewalt umschlagen kann. Eine enzyklische Hermeneutik, die im Ansatz darauf ausgerichtet ist, Denk- und Wahrnehmungshorizonte miteinander dialogisch und durchaus kritisch zu verknüpfen, würde dem Hammersuchenden helfen, den Hammer des Nachbarn, der ihn doch jeden Tag freundlich grüßt, zu bekommen, ohne ihm Bösartigkeiten zu unterstellen. Diese Beispiele mögen deutlich gemacht haben, was Verstehen ist und wie grundlegend umfassendes Verstehen-Wollen und Verstandenwerden-Wollen des Eigenen und des Anderen für die Verwirklichung der Kom‐ munikation ist. Das gilt auch und im Besonderen dann, wenn man mit etwas neuem konfrontiert wird und noch keine geeignete Zuordnung für eine be‐ stimmte Aussage, Redewendung oder Verhaltensweise gefunden werden kann. Erschwert jedoch wird diese Systematik vor allem durch die Vielfalt der Miss‐ verständnisse, sprachliche Barrieren sowie mangelnde kulturelle Sensibilität, die essentiell für eine gelingende Kommunikation sind. Insbesondere die Schaf‐ fung von geeigneten Grundlagen und Konzepten zur Erreichung dieses Ziels bilden praktische Aufgabenfelder der interkulturellen Hermeneutik. 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 129 <?page no="129"?> 52 Watzlawick, Paul u.a.: Menschliche Kommunikation, 11 2007, S. 51. Verstehen und Interpretieren wäre kaum möglich, wenn Differenzen signi‐ fikant und fundamental wären. Es wäre indes völlig irrelevant, wenn es keine Unterschiede gäbe. Zwischen diesen beiden Extrempositionen tritt ein Lern‐ prozess von Verstehen, Verständigung und Kritik ein, aus dem sich Begeg‐ nungen speisen. Zwischen diesen Extrempositionen liegt die Möglichkeit von Verstehen und Interpretieren. Letztlich gibt es keine absolute Möglichkeit des Verstehens oder des Interpretierens sondern bloß solche, die in einem jeweiligen Kontext als angemessen oder unangemessen bewertet und festgestellt werden können. Erst auf ihrer Basis ist es möglich den Kampf der Denksysteme auf ein angemessenes Maß zu reduzieren und darauf zu beschränken, bestehende Dif‐ ferenzen in ihrer Einzigartigkeit bestehen zu lassen sowie hierarchische Struk‐ turen verstehend zu durchblicken. Watzlawick bringt zusammenfassend die Psychologie des Mitteilungscha‐ rakters aller Formen der Kommunikation anschaulich zum Ausdruck: »Man kann sich nicht nicht verhalten. Wenn man also akzeptiert, dass alles Verhalten in einer zwischenpersönlichen Situation Mitteilungscharakter hat, d. h. Kom‐ munikation ist, so folgt daraus, dass man, wie immer man es auch versuchen mag, nicht nicht kommunizieren kann. Handeln oder nicht handeln. Worte oder Schweigen haben alle Mitteilungscharakter.« 52 Watzlawick verweist mit diesen Überlegungen schließlich auf etwas Wesentliches, was in vielerlei Hinsicht für Kommunikation auf jedwedem Gebiet charakteristisch ist. Diesen Feststellungen nach ist völlig widersprüchlich zu sagen: ›Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben‹. Störungen können hervorgerufen werden, wenn ich meinem Gesprächspartner unmittelbar ins Gesicht sage: ›Ich will nun meine Ruhe haben, davon will ich nichts mehr hören! ‹ Oder: ›Mir reicht es jetzt‹. Probleme entstehen, wenn einer der Kommunizierenden dem anderen das Wort abschneidet und sagt: ›Das war nicht so wichtig‹. Diese Mitteilungen artiku‐ lieren eine gewisse Unachtsamkeit und Lustlosigkeit dem anderen gegenüber, welche das Verhältnis der Kommunizierenden erheblich belasten oder sogar zum Kommunikationsbruch führen können. 5.3.5. Modus der Komparatistik Betrachten wir die Frage nach der Herausbildung der Identität, dem Aneignen von Kompetenzen und die Beachtung der Bedeutungsebenen sowie wechsel‐ seitiges Verstehen, so fällt auf, dass Vergleiche ein Grundproblem der zwischen‐ menschlichen Begegnungen darstellen. Die Problematik des Vergleichs hängt 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 130 <?page no="130"?> oft damit zusammen, dass eigene Erfahrungen sowie Welt- und Menschenbilder als Grundlage herangezogen werden. Liberale Denkstrukturen sehen die Welt aller Erfahrung nach anders als linke Politiker, die jedweden Liberalismus ab‐ lehnen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich auch ihre Vergleiche im Kontext der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik oft disparat zueinander ver‐ halten. Aus diesem Grund ist es von essentieller Bedeutung zu untersuchen, was Vergleiche bzw. Komparatistik bedeuten und welche Auswirkungen sie auf zwi‐ schenmenschliche Kommunikation besitzt. Komparatistik bzw. Vergleichsmethode ist der Name einer wissenschaftlichen Arbeitsweise, die in allen Disziplinen eine feste Verankerung besitzt. Gegen‐ stand der Komparatistik ist der Vergleich mindestens zweier Objekte, die mit‐ einander in Beziehung gesetzt werden. Dabei sind die Absichten des Betrachters grundlegend. Ziel eines jeden Vergleiches ist das Erkennen und Verstehen von ›was? ‹, ›wie? ‹, ›wo? ‹ und ›warum? ‹ eines Themas oder mehrerer Objekte. Der Bereich der Komparatistik ist die Welt der Objekte, zu denen auch Symbole, Vorbilder, Rituale und Werte gehören. Dabei dient der Vergleich nicht aus‐ schließlich der Schaffung einer eindeutigen Wertung, welche die miteinander verglichenen Objekte in ein hierarchisches Verhältnis ordnet, sondern vielmehr deren grundsätzlicher Kategorisierung und Analyse. Die folgenden zwei Bei‐ spiele vermögen zu zeigen, was Vergleiche sind und was sie erhellen können: Erstes Beispiel: Markus und Mehmet haben sich zufällig im Urlaub an der französischen Côte d’Azur kennengelernt und waren sich auf Anhieb sympathisch. Beide spre‐ chen Französisch und unterhalten sich über ihre jeweiligen Heimatländer. Markus mag die Türkei, obschon er sie nur aus den Erzählungen seiner Eltern kennt. Er ist der Sohn eines deutschen Ingenieurs, der einige türkische Pipe‐ lines mit konstruiert hat. Mehmet liebt Deutschland. Er ist der Sohn eines ehemaligen türkischen Gast‐ arbeiters, der allerdings aufgrund der frühen Scheidung seiner Eltern in der Türkei bei seiner Mutter aufwächst. Auch er kennt Deutschland nur aus den Erzählungen seines Vaters, der ihn ab und zu in der Türkei besucht. Mehmet kann kein Deutsch und Markus kein Türkisch. Nun soll sich dies ändern. Markus erzählt, sein Vater möge die Türken sehr. Neben der Arbeit hätten sie viel Zeit für Freundschaften, die sie häufig zu Seilschaften ausbauen würden. Insgesamt seien sie eher beziehungsorientiert und räumten dem Smalltalk viel Zeit ein, auch wenn sie geschäftlich unterwegs seien. Aller‐ dings seien die Türken unpünktlich und man wisse nicht immer, woran man bei ihnen sei, denn sie redeten indirekt miteinander und kämen nicht recht zur Sache. Von seinem Vater weiß Markus, dass die Türken es mit der Treue 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 131 <?page no="131"?> 53 Heidegger, Martin: Aufenthalte, 2000, S. 218 f. nicht so genau halten und Vielweiberei pflegen. Ihren Frauen verböten sie alles und selbst nähmen sie sich allerlei Freiheiten heraus. Für ihn ist die gesamte außereuropäische Welt solcherart chaotisch. Ihm scheint diese läs‐ sige Art wie ein Schlaraffenland, weil er sich ungern anstrengt. Mehmet sieht in den Deutschen in vielen Dingen das Gegenteil dessen, was sein Freund Markus über die Türken sagt. Deutschland sei das Land der Dichter und Denker; Pünktlichkeit sei für die Deutschen das Maß aller Dinge. Sie arbeiteten sehr planvoll und aufgabenorientiert, weil Zeit für sie Geld bedeute. Daher pflegen sie keine Freundschaften. Die Deutschen trennten Privatleben und Beruf; sie protokollierten alle Schritte ihrer Geschäfte und führen zuhause Tagebuch. Zudem seien sie immer zu ihren Partnern mensch‐ lich distanziert und kämen direkt zum Geschäft. Für Mehmet sind alle Euro‐ päer von solchen Charakteristika geprägt. Er findet diese Mentalität ideal und will alles tun, um Deutsch zu lernen, da er später in Deutschland leben und Karriere machen will, so wie es sein Vater früher - in bescheidenem Rahmen - ebenfalls getan hat. Zweites Beispiel: Der Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) unternimmt, wie er in seinem Tagebuch vermerkt, im Jahre 1962 mit dem Kreuzfahrtschiff ›Jugoslavija‹ eine Reise nach Griechenland: »Nach der zweiten Nachtfahrt zeigte sich früh am Morgen die Insel Korfu, das alte Kephallenia. Ob dies das Land der Phä‐ aken war? « Heidegger ist vom Anblick der Insel enttäuscht. Was er sieht, stimmt so gar nicht mit dem überein, was er im 6. Buch der Odyssee bei Homer gelesen hatte. Er zweifelt daran, ob seine Eindrücke authentisch sind und meint: »Aber Goethe erfuhr doch in Sizilien zum ersten Mal die Nähe des Griechischen.« 53 Aufgrund dieser ›Realitätsverunsicherung‹ entschließt er sich, nicht an Land zu gehen. Für die Bewertung solcher disparater Vorstellungswelten erweisen sich tradi‐ tionelle Methoden und Maßstäbe als weniger hilfreich, weil sie in der Regel einen dualen Charakter besitzen. Wir benötigen Methoden und Bewertungs‐ maßstäbe, die kontextangemessen sind. Mein Vorschlag wäre die Einführung einer interkulturellen Komparatistik. Sie ist eine Methode, Sachverhalte aus kulturell unterschiedlichen Kontexten miteinander in Beziehung zu setzen. Die vergleichende Beobachtung und Erklärung von Zusammenhängen kann von innen oder von außen erfolgen. Vergleichen von innen bedeutet, den Sachverhalt durch das Studium vor Ort zu verstehen, während vergleichen von außen besagt, 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 132 <?page no="132"?> den Sachverhalt durch Sekundärliteratur zu beschreiben. Ich unterscheide, wie das Komparatistikmodell zeigt, zwischen interkultureller und reduktiver Ver‐ gleichsanalyse: 87 Interkulturelle Kommunikation Reduktive Komparatistik Interkulturelle Komparatistik Abbildung 5.11: Komparatistikmodell Interkulturelle Komparatistik ist eng verbunden mit einer enzyklischen Form der Hermeneutik, die das Bezugsystem des Eigenen und des Anderen gleichermaßen in Betracht zieht. Diese Vorgehensweise vermeidet eine Generalisierung und geht, wie alle bisherigen Korrelatbegriffe, von Kulturen als offenen und dynamisch-veränderbaren Sinn- und Orientierungssystemen aus. Interkulturelle Komparatistik ist standpunktbeweglich, um das weise Maß treffen zu können. Sie bedeutet, so zu verfahren, dass die Anderen sich im eigenen Vergleich widergespiegelt sehen. Sie bedeutet auch, die eigene Perspektive nicht zu verabsolutieren oder den Anderen ausschließlich als Objekt der eigenen Forschung zu betrachten. Ihr Vergleichsmaßstab wird nicht ausschließlich in eigener Tradition verabsolutierend verankert. Die reduktive Komparatistik ist, wie die apozyklische Hermeneutik, methodisch und strukturell eindimensional. Sie reißt einen bestimmten Aspekt aus dem Zusammenhang heraus, variiert und vergleicht ihn und verallgemeinert ihn schließlich. Solche Vergleichsanalysen gehen zentristisch vor, indem sie alles vom eigenen Standpunkt heraus betrachten, bewerten und interpretieren. Sie verlieren dabei aus dem Auge, dass eine reine Fokussierung auf einen einzelnen Aspekt niemals die gesamte Bandbreite des zu untersuchenden Sachverhaltes abbilden kann und heben stellvertretend für alle seine Ausprägungen genau eine jeweilige Eigenschaft generalisierend hervor. Ein Vergleichsversuch von außen nach innen beruht in der Regel auf indirekten Quellen, wie z.B. dem bereits ausgeführten Reisebericht Heideggers. Probleme der interkulturellen Verständigung entstehen oft durch die Einordnung des Anderen nach eigenkulturellen Erwartungsstrukturen, wie der romantisierenden Konstruktion einer archaischen Vergangenheit. Eine solche reduktive Komparatistik geht immer, bewusst oder unbewusst, mit einer apozyklischen Hermeneutik einher, die wegen ihrer strukturellen Beschaffenheit hierarchisch verfahren muss. Eine Folge solcher Orientierungen sind in der Regel der Konflikt oder der Abbruch der Kommunikation. Diese Vorgehensweise hat einen stark generalisierenden Charakter, wobei der zugrunde gelegte Kulturbegriff ein geschlossener mit konstanten Merkmalen ist. Ein Problem der reduktiven Komparatistik besteht darin, in vielen Fällen die Praxis des Anderen mit der Theorie des Eigenen zu vergleichen. Daran entzünden sich Probleme, welche die Kommunikationsbemühungen im Keime ersticken können, weil der Vergleichsmaßstab ausschließlich in eigener Tradition verabsolutierend verankert wird. Nun möchte ich auf die Reise Heideggers nach Korfu und die Unterredung zwischen Markus und Mehmet zurückkommen. Zum ersten Beispiel: Hier treffen zwei Weltbilder aufeinander, die unterschiedliche Betrachtungen zulassen. Markus und Mehmet geben das Weltbild vieler Menschen in ihren Heimatländern mit dem jeweiligen ›Bild‹ von soziokultureller Mentalität der Deutschen und Türken wieder. Markus und Mehmet erträumen sich zwei Welten, die es in dieser Form nicht gibt. Die Türkei als ein Land, in dem Unpünktlichkeit und ein lässiges und zielloses Leben an der Tagesordnung sind, entspricht allen exotischen Klischees. Dass Markus ein solches Bild von der Türkei hat, ohne dieses Land je persönlich kennengelernt zu haben, zeigt, wie wirksam solche Vorurteile bzw. reduktionistischen Einseitigkeiten sind und den Vergleichssinn der Menschen Abbildung 5.11: Komparatistikmodell Interkulturelle Komparatistik ist eng verbunden mit einer enzyklischen Form der Hermeneutik, die das Bezugsystem des Eigenen und des Anderen gleicher‐ maßen in Betracht zieht. Diese Vorgehensweise vermeidet eine Generalisierung und geht, wie alle bisherigen Korrelatbegriffe, von Kulturen als offenen und dynamisch-veränderbaren Sinn- und Orientierungssystemen aus. Interkultu‐ relle Komparatistik ist standpunktbeweglich, um das weise Maß treffen zu können. Sie bedeutet, so zu verfahren, dass die Anderen sich im eigenen Ver‐ gleich widergespiegelt sehen. Sie bedeutet auch, die eigene Perspektive nicht zu verabsolutieren oder den Anderen ausschließlich als Objekt der eigenen For‐ schung zu betrachten. Ihr Vergleichsmaßstab wird nicht ausschließlich in ei‐ gener Tradition verabsolutierend verankert. Die reduktive Komparatistik ist, wie die apozyklische Hermeneutik, metho‐ disch und strukturell eindimensional. Sie reißt einen bestimmten Aspekt aus dem Zusammenhang heraus, variiert und vergleicht ihn und verallgemeinert ihn schließlich. Solche Vergleichsanalysen gehen zentristisch vor, indem sie alles vom eigenen Standpunkt heraus betrachten, bewerten und interpretieren. Sie verlieren dabei aus dem Auge, dass eine reine Fokussierung auf einen einzelnen Aspekt niemals die gesamte Bandbreite des zu untersuchenden Sachverhaltes abbilden kann und heben stellvertretend für alle seine Ausprägungen genau eine jeweilige Eigenschaft generalisierend hervor. Ein Vergleichsversuch von außen nach innen beruht in der Regel auf indi‐ rekten Quellen, wie z. B. dem bereits ausgeführten Reisebericht Heideggers. 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 133 <?page no="133"?> 54 An anderer Stelle habe ich diese Problematik eingehend untersucht und dokumentiert. Vgl. Yousefi, Hamid Reza und Ina Braun: Interkulturelles Denken oder Achse des Bösen, 2005. Probleme der interkulturellen Verständigung entstehen oft durch die Einord‐ nung des Anderen nach eigenkulturellen Erwartungsstrukturen, wie der ro‐ mantisierenden Konstruktion einer archaischen Vergangenheit. Eine solche re‐ duktive Komparatistik geht immer, bewusst oder unbewusst, mit einer apozyklischen Hermeneutik einher, die wegen ihrer strukturellen Beschaffen‐ heit hierarchisch verfahren muss. Eine Folge solcher Orientierungen sind in der Regel der Konflikt oder der Abbruch der Kommunikation. Diese Vorgehens‐ weise hat einen stark generalisierenden Charakter, wobei der zugrunde gelegte Kulturbegriff ein geschlossener mit konstanten Merkmalen ist. Ein Problem der reduktiven Komparatistik besteht darin, in vielen Fällen die Praxis des Anderen mit der Theorie des Eigenen zu vergleichen. Daran entzünden sich Probleme, welche die Kommunikationsbemühungen im Keime ersticken können, weil der Vergleichsmaßstab ausschließlich in eigener Tradition verabsolutierend veran‐ kert wird. Nun möchte ich auf die Reise Heideggers nach Korfu und die Unter‐ redung zwischen Markus und Mehmet zurückkommen. Zum ersten Beispiel: Hier treffen zwei Weltbilder aufeinander, die unter‐ schiedliche Betrachtungen zulassen. Markus und Mehmet geben das Weltbild vieler Menschen in ihren Heimatländern mit dem jeweiligen ›Bild‹ von sozio‐ kultureller Mentalität der Deutschen und Türken wieder. Markus und Mehmet erträumen sich zwei Welten, die es in dieser Form nicht gibt. Die Türkei als ein Land, in dem Unpünktlichkeit und ein lässiges und zielloses Leben an der Ta‐ gesordnung sind, entspricht allen exotischen Klischees. Dass Markus ein solches Bild von der Türkei hat, ohne dieses Land je persönlich kennengelernt zu haben, zeigt, wie wirksam solche Vorurteile bzw. reduktionistischen Einseitigkeiten sind und den Vergleichssinn der Menschen unmerklich negativ beeinflussen. Markus wird damit rechnen müssen, wahrscheinlich auf Widerstand zu stoßen, wenn er Derartiges seinen türkischen Freunden erzählt. Das Gleiche gilt für Mehmets verklärtes Deutschlandbild, das ebenfalls eine ›gute‹ Grundlage ist, um sich kulturell zu entfremden. Beide Beispiele zeugen von einer reduktiven Komparatistik. Häufig leisten Literatur oder mediale Information solcher Ein‐ seitigkeit Vorschub. 54 Markus und Mehmet sehen die Vielfalt weder innerhalb des eigenen Landes noch innerhalb des idealisierten Landes, weil sie nichts an‐ deres gelernt haben. Sie können sich offenbar nicht vorstellen, dass es auch in der Türkei viele Menschen gibt, die pünktlich sind und ein planvolles Leben führen. 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 134 <?page no="134"?> 55 Vgl. Holzbrecher, Alfred: Vielfalt als Herausforderung, 1999, S. 2. Zum zweiten Beispiel: Heideggers Reise nach Korfu ist ein Beispiel, wie die Literatur das Verhalten eines Menschen so weit beeinflussen kann, dass er sehr viel Zeit und Selbstüberwindung braucht, um dieses Gewand aus Vorurteilen abzulegen. Es ist bezeichnend, dass Heidegger, obwohl er mit der Realität kon‐ frontiert wird, zumindest in diesem Augenblick die Realität nicht wahrnehmen will. Heideggers Weigerung, sich auf das Andere, auf das Risiko des interkul‐ turellen Lernens einzulassen, lässt sich wohl mit seiner Angst erklären, sein »geprägtes und ›stimmiges‹ Bild in Frage stellen zu müssen.« Es ist die Angst, sich eingestehen zu müssen, dass einer Enttäuschung Täuschung vorausgeht. Es ist die Angst, dass sich unsere Bilder »als Konstruktionen« erweisen könnten, die mit der Realität nicht übereinstimmen. 55 Beide Beispiele sind wesensähnlich, weil beide subjektive Eindrücke eines Anderen sind, denen nicht nur Mehmet und Markus, sondern auch der Philo‐ soph Heidegger erliegen. Sie machen deutlich, dass reduktive Vergleiche ein Hindernis der Kommunikation darstellen. Weil der Mensch bewusst oder un‐ bewusst vergleicht, ist die Frage von Bedeutung, wann, wo, wie, was und warum wir vergleichen. In vielerlei Hinsicht ergeben sich nicht nur Unterschiede, son‐ dern auch verblüffende Schnittmengen, die mehr verbinden als trennen. Inso‐ fern scheint eine interkulturell ausgerichtete Komparatistik kontextangemessen in der Lage zu sein, die Sichtweisen des Eigenen und des Anderen miteinander dialogisch in Beziehung zu setzen, ohne sie gegeneinander auszuspielen oder reduktiv zu behandeln. Aus diesem Grund ist es umso wichtiger für eine gelingende interkulturell angelegte Kommunikation sowie einen weiteren Austausch, fehlerhafte An‐ nahmen und zuvor bestehende Bilder als Illusion zu betrachten, die nur wenig mit der Realität gemein haben. Auch medienwirksame Darstellungen anderer Länder oder Berichterstattungen können lediglich Ausschnitte des gesellschaft‐ lichen wie kulturellen Lebens abbilden und müssen daher notwendigerweise reflektiert und kritisch-würdigend betrachtet werden. So wäre es fatal, etwa Deutschland als ein reines, bürokratisch-konservatives Land abzubilden und den Iran etwa als Nation blühenden Terrors zu betrachten. Solche Stigmatisie‐ rungen heben oftmals nur einzelne Personen oder kleine Personengruppen hervor, die sinnbildlich für die Gesamtheit des Landes herausgestellt werden. Die Überwindung derartiger Vorurteile und Ressentiments kann nur ge‐ lingen, wenn die Bereitschaft vorhanden ist, welche Heidegger im Beispiel fehlte: Das bewusste ›sich auf das Andere einlassen wollen‹ und ›zulassen wollen‹, dass bestimmte, vorherrschende Bilder eines jeweiligen Landes, Volkes 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 135 <?page no="135"?> oder einer Kultur möglicherweise in der Realität von illusorischen Traum- (oder Albtraum)-gebilden abweichen und diese als nichtig anerkannt werden müssen. Dies erst bietet den Boden, auf dem eine verständigungsoffene und dialogaffine Toleranz hervorgebracht werden kann. Die zwischenmenschlichen Kommunikationen sind auf jedwedem Gebiet deshalb als Kampfplätze des Denkens zu betrachten, weil Lesarten als bestimm‐ enden Formen von Denkweisen, Denknutzungen und Denkleistungen aufein‐ andertreffen. Verstehen heißt in diesem Sinne kontextuell variierend, immer auch Verstehen von Denk- und Lesarten. Die Konflikthaftigkeit der Begeg‐ nungen hängt somit immer mit dem Falsch- oder Andersverstehen der Lesarten zusammen. In der Praxis der interkulturellen Kommunikation geht es um die Akzeptanz der Deutungspluralität. Aus diesem Grund treffen immer wieder Deutungsho‐ heiten und unterschiedliche Ansprüche absoluter Tatsächlichkeit und Faktizität aufeinander, was unweigerlich zu Konflikten führt. Ziel jedoch ist nicht etwa die Betonung, Erzeugung oder Vergrößerung derartiger Konflikte, sondern viel‐ mehr die Erlangung eines respektvollen Miteinander, welchem notwendiger‐ weise ein bestimmter, rahmengebender Toleranzbegriff zu Grunde liegt. 5.3.6. Modus der Toleranz Der Mensch ist ein kommunikatives Wesen, dementsprechend sucht er die Nähe des Anderen. Diese Nähe ist oft mit Selbstgefährdung und der Gefährdung an‐ derer verbunden. Selbstgefährdung, weil nicht auszuschließen ist, dass man ein Stück vom eigenen Selbst aufgibt oder vernachlässigen muss, damit diese Nähe entstehen kann. Sie wird zu einer Gefährdung anderer, wenn in der Begegnung Schwäche und Gleichgültigkeit artikuliert werden und Aggressionen entstehen. Dies besagt, dass die Rede über das Phänomen ›Toleranz‹ ein sensibles Terrain ist. Der Mensch hat sich deshalb in jedem Kontext bewusst zu sein, dass Toleranz kein frommes Alibi ist, sondern eine Notwendigkeit darstellt, die eine praktische Selbstüberwindung der Begegnenden voraussetzt. Von diesem Toleranzbegriff wird im Folgenden ausgegangen. Weil der Mensch seine Ungeduld nicht immer und überall beeinflussen und steuern kann, wird er es schwer haben seine Charaktereigenschaften, die dem Anderen Schmerz bereiten könnten, zu steuern. Diese Haltung des Menschen macht Toleranz geradezu notwendig. Es ist zudem die kulturelle und erst recht die interkulturelle Vielfalt, die Toleranz zu einer zivilgesellschaftlichen Not‐ wendigkeit werden lässt. 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 136 <?page no="136"?> Wir kennen die Geschichte des großen Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), der mit seinem klassischen Drama ›Nathan der Weise‹ bemüht ist, dieser Vielfalt gerecht zu werden. Ein Mann erhält von seinem Vater einen Ring, den jener selbst von seinen Großeltern geerbt hat. Dieser Ring soll in der Lage sein, Menschen beliebt zu machen. Nun steht der Vater vor einem Dilemma. Er hat nämlich drei Söhne, die er, wie er immer wieder beteuert, gleichermaßen liebt. Mit zunehmendem Alter macht er sich darüber Gedanken, wem er diesen Ring vererben soll, damit er die Tradition der Ahnen würdig vertrete. Nach langem Überlegen lässt sich der weise Vater eine Lösung einfallen. Er bittet seine Söhne einzeln zu sich und erzählt von seinem Plan, dass er der Sohn sei, dem er den Ring der Ahnen vererben wolle. Der Sohn müsse ihm aber versprechen, den anderen Brüdern diese Abmachung nicht zu verraten. Währenddessen lässt der schlaue Vater, der von seinen Eltern vermutlich ge‐ nauso behandelt worden ist, den Ring von einem Goldschmied noch zweimal anfertigen. Die Ähnlichkeit der Ringe ist so verblüffend, dass selbst der Vater nicht mehr zu unterscheiden weiß, welcher Ring nun das Original ist. Nach dem Tod des Vaters streiten sich die Brüder um den echten Ring, den sie jeweils im Geheimen vom Vater erhalten hatten. Jeder erhebt den An‐ spruch, über den wahren Ring zu verfügen. In diesem Moment stehen drei Brüder einander gegenüber mit drei Ringen in der Hand, die für sie die Wahrheit der Ahnen verkörpern. Sie bringen den Streit vor Gericht, aber auch der Richter kann den echten Ring nicht er‐ kennen. Den Brüdern erteilt er einen Rat. Er verweist auf die Wunderkraft des Ringes, der vor Gott und den Menschen angenehm mache und appelliert an die Vernunft der Brüder, weise zu versuchen, die Kraft des Steines in die Tat umzusetzen. Die Geschwister sollten nach den Maßstäben des Guten und des Wahrhaftigen leben und sich nicht auf die Wirksamkeit des Ringes ver‐ lassen, damit jeder sähe, wie gerecht der Besitzer sei. Die Brüder verfallen jedoch immer mehr in Egoismus, Habgier und Ignoranz. Lassen wir die Begegnung der Völker in ihrer kulturellen und religiösen Vielfalt Revue passieren, so werden wir feststellen, dass die Frage nach der Wahrheit immer ein Grund der Streitigkeit darstellt, während Toleranz ein regulierendes Instrument für das weise Maß im Leben der Völker sein will. Sie ist bestrebt, Gemüter zu beschwichtigen und Offenheit zu entfalten. Die großartige Erzäh‐ lung Lessings ist aus diesem geistigen Fenster heraus zu betrachten: Toleranz, weil Vielfalt. Toleranz ist ungebrochener Wille zur Kommunikation. 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 137 <?page no="137"?> ■ ■ ■ ■ Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, sind viele Theorien aus den Gebieten der Ethik, der Theologie, der Religions- und Kulturwissenschaft und der politi‐ schen Philosophie entwickelt worden. Auch die Sozial- und historischen Wis‐ senschaften forschen zunehmend über Toleranz in all ihren Formen und dem ihnen jeweils zugrunde liegenden menschlichen Handeln. All diese Theorien sind bestrebt, zu einem besseren Verständnis von Bedingungen, Störungen und einer normativen Basis der Toleranz beizutragen, um eine echte Verständigung zu ermöglichen. Hierzu lassen sich eine Reihe von Dimensionen voneinander unterscheiden: 90 des Wahrhaftigen leben und sich nicht auf die Wirksamkeit des Ringes verlassen, damit jeder sähe, wie gerecht der Besitzer sei. Die Brüder verfallen jedoch immer mehr in Egoismus, Habgier und Ignoranz. Lassen wir die Begegnung der Völker in ihrer kulturellen und religiösen Vielfalt Revue passieren, so werden wir feststellen, dass die Frage nach der Wahrheit immer ein Grund der Streitigkeit darstellt, während Toleranz ein regulierendes Instrument für das weise Maß im Leben der Völker sein will. Sie ist bestrebt, Gemüter zu beschwichtigen und Offenheit zu entfalten. Die großartige Erzählung Lessings ist aus diesem geistigen Fenster heraus zu betrachten: Toleranz, weil Vielfalt. Toleranz ist ungebrochener Wille zur Kommunikation. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, sind viele Theorien aus den Gebieten der Ethik, der Theologie, der Religions- und Kulturwissenschaft und der politischen Philosophie entwickelt worden. Auch die Sozial- und historischen Wissenschaften forschen zunehmend über Toleranz in all ihren Formen und dem ihnen jeweils zugrunde liegenden menschlichen Handeln. All diese Theorien sind bestrebt, zu einem besseren Verständnis von Bedingungen, Störungen und einer normativen Basis der Toleranz beizutragen, um eine echte Verständigung zu ermöglichen. Hierzu lassen sich eine Reihe von Dimensionen voneinander unterscheiden: Staatstheoretische Dimension Pragmatische Dimension Dimensionen der Toleranz Religionssoziologische Dimension Kultursoziologische Dimension Wissenschaftliche Dimension Anthropologische Dimension Abbildung 5.12: Toleranzdimensionen Diese Dimensionen der Toleranz hängen, wie die Abbildung zeigt, eng miteinander zusammen und verbinden verschiedene Perspektiven der Toleranz miteinander:  die anthropologische Dimension besagt, dass Menschen sich tolerieren, weil sie einsichtig und vernunftbegabt sind,  die staatstheoretische Dimension stellt die Frage nach der Bedeutung der Toleranz für die Vielfalt in der Gesellschaft,  die kultursoziologische Dimension untersucht Toleranz unter Berücksichtigung von Milieus und kultursoziologischen Faktoren,  die religionssoziologische Dimension analysiert religionsbedingte Unterschiede der Toleranzauffassung,  die wissenschaftliche Dimension diskutiert Toleranz im Rahmen der mannigfaltigen Diskurse nicht nur innerhalb verschiedener Wissenschaften, sondern auch zwischen ihnen,  die pragmatische Dimension stellt die Frage, warum es sinnstiftend ist, Toleranz als eine Maßnahme zur Gewaltprävention zu begreifen. Das Modell der Toleranzdimensionen zeigt, dass der hier formulierte Toleranzbegriff eine beständige Neuorientierung ebenso erfordert, wie eine Verbindung mit allen, hier exemplarisch aufgezeigten Dimensionen der Toleranz. So ist es nicht verwunderlich, dass eine interkulturell angelegte Dimension der Toleranz dazu beitragen möchte, die Auseinandersetzungen auf aktuellen Kampfplätzen des Denkens weitestgehend beizulegen und im Sinne einer kulturübergreifenden Verständigung zu einem gegenseitigen Dialog beizutragen. Interkulturelle Toleranz schließt alle diese Dimensionen in ihre Betrachtung ein. Sie ist eine aktive Haltung, Unterschiede und Schnittmengen im Verständnis der kulturellen Kontexte zu suchen, um gemeinsame Regeln für den Umgang miteinander auszuhandeln. Ihre Funktion ist die Abbildung 5.12: Toleranzdimensionen Diese Dimensionen der Toleranz hängen, wie die Abbildung zeigt, eng mitein‐ ander zusammen und verbinden verschiedene Perspektiven der Toleranz mit‐ einander: die anthropologische Dimension besagt, dass Menschen sich tolerieren, weil sie einsichtig und vernunftbegabt sind, die staatstheoretische Dimension stellt die Frage nach der Bedeutung der Toleranz für die Vielfalt in der Gesellschaft, die kultursoziologische Dimension untersucht Toleranz unter Berücksichti‐ gung von Milieus und kultursoziologischen Faktoren, die religionssoziologische Dimension analysiert religionsbedingte Unter‐ schiede der Toleranzauffassung, 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 138 <?page no="138"?> 56 Vgl. hierzu Yousefi, Hamid Reza und Harald Seubert: Toleranz im Weltkontext, 2013. ■ ■ die wissenschaftliche Dimension diskutiert Toleranz im Rahmen der man‐ nigfaltigen Diskurse nicht nur innerhalb verschiedener Wissenschaften, sondern auch zwischen ihnen, die pragmatische Dimension stellt die Frage, warum es sinnstiftend ist, To‐ leranz als eine Maßnahme zur Gewaltprävention zu begreifen. Das Modell der Toleranzdimensionen zeigt, dass der hier formulierte Toleranz‐ begriff eine beständige Neuorientierung ebenso erfordert, wie eine Verbindung mit allen, hier exemplarisch aufgezeigten Dimensionen der Toleranz. So ist es nicht verwunderlich, dass eine interkulturell angelegte Dimension der Toleranz dazu beitragen möchte, die Auseinandersetzungen auf aktuellen Kampfplätzen des Denkens weitestgehend beizulegen und im Sinne einer kulturübergreif‐ enden Verständigung zu einem gegenseitigen Dialog beizutragen. Interkulturelle Toleranz schließt alle diese Dimensionen in ihre Betrachtung ein. Sie ist eine aktive Haltung, Unterschiede und Schnittmengen im Verständnis der kulturellen Kontexte zu suchen, um gemeinsame Regeln für den Umgang miteinander auszuhandeln. Ihre Funktion ist die kritisch-dialogische Begegnung unterschiedlicher Denksysteme und Verhaltensregeln. In allen ihren Spielarten hat diese Form der Toleranz eine pädagogische Dimension. Es geht um eine praktische Pädagogik dialogischer Vermittlung, in der Verstehen-Wollen und Verstanden-werden-Wollen des Eigenen und des Anderen einen hermeneuti‐ schen Zugang zueinander finden. Heute ist ein solches Vorgehen eine Notwendigkeit, weil immer mehr Men‐ schen aus unterschiedlichen Hemisphären der Welt zusammenkommen, die ver‐ schieden sozialisiert und von unterschiedlichen Weltbildern geprägt sind. Es han‐ delt sich um Toleranzmentalitäten in afrikanischen, asiatischen und europäischen sowie orientalischen und lateinamerikanischen Traditionen 56 , die wir nicht in den Schatten einer Position stellen können, der wir in der Regel nur selbst anhängen. Betrachten wir allein das Ubuntu-Konzept, Mitmenschlichkeit in südafrikani‐ schen Traditionen, so stellen wir, was Toleranz und Harmonie anbelangt, eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit europäischen Konzepten der Toleranz fest. Ihr Unter‐ schied liegt in den jeweiligen Betonungen von Individuum und Gemeinschaft. Der Selbstwert des Menschen wird in afrikanischen Traditionen durch andere Men‐ schen gesehen: ›Ein Mensch ist ein Mensch durch andere Menschen.‹ Dieser Satz könnte als ein Leitmotiv und Gehalt einer globalen Toleranzpraxis gelten. Aus der egoistischen und selbstbezogenen Lebensweise tritt ein Mensch mit Hilfe von Ubuntu heraus, indem er sich selbst in anderen Menschen wiederer‐ 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 139 <?page no="139"?> 57 Vgl. Graneß, Anke: Toleranz in afrikanischen Traditionen, 2013. 58 Kerber, Walter: Wie tolerant ist der Islam? 1991, S. 79. 59 Vgl. hierzu Yousefi, Hamid Reza: Toleranz in orientalischen Traditionen, 2013. kennt, gleichzeitig den Anderen aber auch in seiner Gesamtheit wahrnimmt und als eigenständigen, denkenden Menschen anerkennt. Dabei achtet er dessen Existenz als universelles Band, das alle Menschen miteinander verbindet. Das Ubuntu-Konzept wird zum Sinnbild dieses Bündnisses, welches den Menschen als Teil einer heterogenen Einheit begreifen lässt. 57 Das Gleiche gilt neben den europäischen auch für andere Toleranztraditionen. Das folgende Beispiel scheint in diesem Zusammenhang erhellend zu sein: Walter Kerber (1926-2006) hält es für unmöglich, im Islam »einen autochthonen Begriff der Toleranz« aufzufinden. Kerber stellt sich die Frage: »Wie drückt man Toleranz im Persischen oder Arabischen aus? Der Begriff in dieser Form existiert dort nicht; er wurde bei uns geschaffen.« 58 Kerbers Unterstellung verdeutlicht, warum apozyklische Hermeneutiken bei der Bewertung einer Sache scheitern müssen. Er übersieht, dass die Ausdrücke ›Bordbari‹, ›Tahammol‹, ›Ravadari‹ oder ›Mosamehe‹ (persisch), ›Tasamoh‹ oder ›Tasahol‹ (arabisch), ›Hoşgörü‹, ›Müsamaha‹, oder ›Tahammül‹ (türkisch) begriffsgeschichtlich älter sind als ›tolerantia‹ im Lateinischen. 59 Interkulturelle Toleranz bzw. Betrachtung der Toleranz in einem kulturüber‐ greifenden Kontext bedeutet paradigmatisch, dass es mehr als ein Toleranzmo‐ dell gibt. Eine solche Annahme erkennt Situativität, Kontextualität und Indivi‐ dualität als konstitutive Bestandteile einer jeden zwischenmenschlichen Kommunikation. Es ist durchaus möglich und auch verständlich, dass eine Person den gleichen Sachverhalt in verschiedenen Kontexten und Situationen unterschiedlich thematisiert und zu anderen Ergebnissen kommt. Nach diesem Toleranzverständnis hätten nur Ansichten und Absichten das Recht, sich zu bilden und nach außen hin zu vertreten, welchen die Achtung der Menschen‐ würde inhärent ist. Toleranz lässt somit Haltungen zu, solange sie nicht den Anspruch erheben, objektiv, endgültig und absolut zu sein. Wer eine eigene Auffassung von Toleranz entwickelt und andere zwingt, ihre Handlungen danach zu richten, hält seine eigene Toleranzauffassung direkt oder indirekt für alleinseligmachend. Hier werden, wie das Schaubild zeigt, zwei Gehäusemodelle voneinander unterschieden, die häufig miteinander verwech‐ selt werden: Gehäusebzw. Scheintoleranz mit echter Toleranz. Gehäusetole‐ ranz geht stets mit einem Gehäusedialog einher: 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 140 <?page no="140"?> 92 unterschieden, die häufig miteinander verwechselt werden: Gehäusebzw. Scheintoleranz mit echter Toleranz. Interkulturelle Kommunikation Gehäuse- Toleranz Gehäuse- Dialog Abbildung 5.13: Gehäusemodelle Die im Schaubild angezeigten Gehäusemodelle verweisen auf ein strukturelles Problem, Kommunikation als in sich geschlossenen und lediglich durch bestimmte Partner geführten Austausch zu verstehen, in den lediglich diejenigen eingreifen dürfen und zur Teilnahme berechtigt sind, die ihre Ausgangsbasis mitgestaltet haben. Dabei propagieren die meisten vorgestellten Kommunikationsmodelle eben das genaue Gegenteil und laden dazu ein, sich zu beteiligen, statt sich hinter Deutungshoheiten oder hierarchischen Strukturen zu verstecken. Gehäusetoleranz und -dialog bilden zwei, mit dem Wesen der interkulturellen Toleranz nicht zu vereinbarende Schwerpunkte, die oftmals eine echte, dialogische Auseinandersetzung mit bestimmten Themengebieten erschweren oder sogar unmöglich machen können. Die prinzipielle Offenheit interkultureller Toleranz, die darum bestrebt ist, individuelle Standpunkte zu berücksichtigen, geht hierbei nicht mit der hermetisch anmutenden Geschlossenheit einer gehäuseartigen Dialogführung sowie eines ebensolchen Toleranzbegriffes konform. Während echte Toleranz offenes und kritisches Denken voraussetzt, ist Gehäusetoleranz eine Haltung, die Insidern gegenüber nur tolerant ist, solange sie sich dem Diktat des Gehäuses beugen. Ein Gehäuse ist eine schutzbietende Gemeinschaft, die einen Sachverhalt vor einer gefährlichen Einwirkung von außen schützt. Eine Kommunikation wird für relevant gehalten, wenn andere ausschließlich der eigenen Gehäuseauffassung entsprechen. Dialoge, die auf der Grundlage dieser Toleranzform beruhen, dürfen daher Gehäusedialoge genannt werden: Gehäusedialog ist ein Scheindialog, der auch von vornherein eine verabsolutierte Meinung pflegt und letzten Endes die eigene Auffassung von Dialog durchsetzen will. Solche Formen der Toleranzvorstellung können den Verdacht nicht von sich weisen, Unterordnungsappelle der Machtcliquen zu sein und deren ideologischen Interessen zu verbergen. 60 Gehäusetoleranz und Gehäusedialog können in politischen, wissenschaftlichen oder weltanschaulichen Kontexten beobachtet werden, die in unterschiedlichem Maße einen Absolutheitsanspruch erheben und sich für universal halten. Um dem Eigenen in der Vielfalt sein Recht zuzusprechen und dies verteidigen zu dürfen, ergeben sich auch Grenzen der Toleranz. Diese Grenzen können durch die Anwendung der enzyklischen Hermeneutik im Rahmen eines argumentativen Dialogs festgesetzt werden. Hier werden das Welt- und Menschenbild, die historische Bedingtheit vieler Gepflogenheiten und die religiösen Vorstellungen eines Volkes, unter Beachtung der Kontextualitäten, berücksichtigt, um die Verständigung angemessen fördern zu können. Dabei ist ebenfalls zu beachten, dass alle Toleranzgrenzen im Politischen, Wissenschaftlichen oder Weltanschaulichen untrennbar mit den bestehenden Machtverhältnissen verbunden sind. 60 Vgl. Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz, 1988, S. 11. Abbildung 5.13: Gehäusemodelle Die im Schaubild angezeigten Gehäusemodelle verweisen auf ein strukturelles Problem, Kommunikation als in sich geschlossenen und lediglich durch be‐ stimmte Partner geführten Austausch zu verstehen, in den lediglich diejenigen eingreifen dürfen und zur Teilnahme berechtigt sind, die ihre Ausgangsbasis mitgestaltet haben. Dabei propagieren die meisten vorgestellten Kommunika‐ tionsmodelle eben das genaue Gegenteil und laden dazu ein, sich zu beteiligen, statt sich hinter Deutungshoheiten oder hierarchischen Strukturen zu verste‐ cken. Gehäusetoleranz und -dialog bilden zwei, mit dem Wesen der interkultu‐ rellen Toleranz nicht zu vereinbarende Schwerpunkte, die oftmals eine echte, dialogische Auseinandersetzung mit bestimmten Themengebieten erschweren oder sogar unmöglich machen können. Die prinzipielle Offenheit interkultu‐ reller Toleranz, die darum bestrebt ist, individuelle Standpunkte zu berücksich‐ tigen, geht hierbei nicht mit der hermetisch anmutenden Geschlossenheit einer gehäuseartigen Dialogführung sowie eines ebensolchen Toleranzbegriffes kon‐ form. Während echte Toleranz offenes und kritisches Denken voraussetzt, ist Geh‐ äusetoleranz eine Haltung, die Insidern gegenüber nur tolerant ist, solange sie sich dem Diktat des Gehäuses beugen. Ein Gehäuse ist eine schutzbietende Ge‐ meinschaft, die einen Sachverhalt vor einer gefährlichen Einwirkung von außen schützt. Eine Kommunikation wird für relevant gehalten, wenn andere aus‐ schließlich der eigenen Gehäuseauffassung entsprechen. Dialoge, die auf der Grundlage dieser Toleranzform beruhen, dürfen daher Gehäusedialoge genannt werden: Gehäusedialog ist ein Scheindialog, der auch von vornherein eine ver‐ absolutierte Meinung pflegt und letzten Endes die eigene Auffassung von Dialog durchsetzen will. 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 141 <?page no="141"?> 60 Vgl. Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz, 1988, S. 11. 61 Vgl. Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion, 2 1966, S. 18. 62 Ebenda, S. 18. Solche Formen der Toleranzvorstellung können den Verdacht nicht von sich weisen, Unterordnungsappelle der Machtcliquen zu sein und deren ideologi‐ schen Interessen zu verbergen. 60 Gehäusetoleranz und Gehäusedialog können in politischen, wissenschaftlichen oder weltanschaulichen Kontexten beo‐ bachtet werden, die in unterschiedlichem Maße einen Absolutheitsanspruch er‐ heben und sich für universal halten. Um dem Eigenen in der Vielfalt sein Recht zuzusprechen und dies verteidigen zu dürfen, ergeben sich auch Grenzen der Toleranz. Diese Grenzen können durch die Anwendung der enzyklischen Her‐ meneutik im Rahmen eines argumentativen Dialogs festgesetzt werden. Hier werden das Welt- und Menschenbild, die historische Bedingtheit vieler Gepflo‐ genheiten und die religiösen Vorstellungen eines Volkes, unter Beachtung der Kontextualitäten, berücksichtigt, um die Verständigung angemessen fördern zu können. Dabei ist ebenfalls zu beachten, dass alle Toleranzgrenzen im Politi‐ schen, Wissenschaftlichen oder Weltanschaulichen untrennbar mit den beste‐ henden Machtverhältnissen verbunden sind. Die religiöse Toleranztheorie von Gustav Mensching (1901-1978) steht dem Ansatz der interkulturellen Toleranz sehr nahe, obgleich sie christozentrisch ausgerichtet ist. Mensching unterscheidet vier Gegensatzpaare der Toleranz, auf die ich kurz eingehen möchte 61 : Formale Toleranz und Intoleranz, inhaltliche Toleranz und Intoleranz, äußere Toleranz und Intoleranz sowie innere Toleranz und Intoleranz. Im Folgenden konzentriere ich mich auf formale und inhaltliche Toleranz mit ihren Gegenbegriffen der formalen und inhaltlichen Intoleranz: Formale Toleranz bedeutet »das bloße Unangetastetlassen fremder Glau‐ bensüberzeugungen«. 62 Eine derartige Haltung kann aus verschiedenen Gründen eingenommen werden, z. B. aus Gleichgültigkeit. Ein Beispiel für for‐ male Toleranz ist die Gewährung von Glaubensfreiheit in einem Staat, der ver‐ schiedene Glaubensformen nebeneinander bestehen lässt. Sie kommt in Orga‐ nisationsformen vor, wie Staaten oder Kirchen, in denen formale Toleranz geübt wird, solange diese Organisationsformen durch eine andere Religion nicht ge‐ fährdet werden. Ist dies aber zu befürchten, dann schlägt formale Toleranz in formale Intoleranz um. Formale Toleranz ist in vielen Verfassungen als staatlich garantierte Glaubensfreiheit verankert: In Art. 55c der Charta der Vereinten Nationen von 1945 oder in Art. 18 der Menschenrechtserklärung der UNO von 1948; so auch in Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes von 1949. Formale Intoleranz hebt hingegen die Religionsfreiheit auf, weil diese durch eine abweichende Haltung die Einheit des Staates gefährden könnte. Sie ersetzt 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 142 <?page no="142"?> 63 Ebenda, S. 18. 64 Mensching, Gustav: Duldsamkeit, 1929, S. 88. Gewissensfreiheit durch mehr oder minder deutlichen Staatszwang. Metin Ka‐ plan (*1952), bekannt als ›Kalif von Köln‹, genoss trotz seiner theoretisch radi‐ kalen Predigten in Deutschland so lange Religionsfreiheit, bis er mit dem Ausruf eines ›Gottesstaates in Deutschland‹ verfassungswidrig handelte und dadurch die Einheit des Staates gefährdete. Kaplans Abschiebung ist die Folge des Um‐ schlagens von formaler Toleranz in formale Intoleranz. Inhaltliche Toleranz beschränkt sich nicht auf das bloße Unangetastetlassen anderer Religionen, sondern bedeutet ihre Anerkennung als echte und berech‐ tigte »religiöse Möglichkeit der Begegnung mit dem Heiligen.« 63 Mensching unterscheidet zwischen »Toleranz echter Religiosität« und »Toleranz der Auf‐ klärung.« 64 Während Toleranz der Aufklärung, wie sie von Lessing vertreten wird, auf eine Vernunftreligion hinausläuft, setzt Mensching auf echte Religio‐ sität, die ihre Kulmination in der inhaltlichen Toleranz erfährt. Der Mittelweg einer interkulturellen Orientierung der Toleranz wäre die Versöhnung der transzendenzverschlossenen und transzendenzsuchenden Konzepte oder Indi‐ viduen. Hier sind Extrempositionen zu vermeiden, wobei es ein Allversöh‐ nungskonzept nicht gibt. Inhaltliche Intoleranz verträgt sich mit einer solchen dialogischen Mentalität nicht. Sie bekämpft andere Überzeugungen um der eigenen vermeintlichen Wahrheit willen oder im Namen einer bestimmten Ideologie. In diesem Kontext erscheinen die Inhalte der anderen Religion als unwahr und abwegig und werden abgelehnt, bekämpft oder verfolgt. Intoleranz formaler oder inhaltlicher Art erscheint in der Religionsgeschichte, z. B. als Inquisition, Zwangsbekehrung oder Verfolgung. Helmut ist z. B. ein Christ, der zwar das Christentum für die einzig wahre Religion hält, der aber zugleich bemüht ist, dem Islam gegenüber aktiv offen zu sein, indem er ihn als eine andere mögliche Form des Glaubens akzeptiert und anerkennt. Dieser Maxime nach ist Helmut dem Islam gegenüber inhaltlich tolerant. Eine Ablehnung wäre demnach ein Beispiel für inhaltliche Intoleranz. Nun komme ich auf mein Lessing-Beispiel zurück. Wer verfügt nun über den echten und damit wahren Ring? Lessing hebt eine ungelöste Frage des mensch‐ lichen Lebens ins Bewusstsein: Die gottgewollte Pluralität und sehnsuchtsvolle Wahrheitssuche. Gott als Maßstab von absolutem Gutsein und schrankenloser Gnade offenbart sich in vielen Weisen. In der islamischen Mystik wird Wahrheit als ein zerborstener Spiegel betrachtet. Jeder, der ein Teilchen des Spiegels in der Hand hält, geht davon aus, dass er über die endgültige Wahrheit in ihrer 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 143 <?page no="143"?> Vollständigkeit verfügt. Ist Lessing nicht bestrebt, uns gerade über diesen zer‐ borstenen Spiegel darauf zu verweisen, dass die göttliche Wahrheit niemandes Alleinbesitz ist? Jeder hat auf seine Weise nur eine kleine Scherbe davon. Lessing zeigt, dass die Suche nach dem Ganzen uns verbinden kann und letztlich sinnstiftend ist. Er lädt ein, in einen liebevollen Wettstreit miteinander zu treten. Für die drei Brüder hat er eine Lösung. Er lässt uns durch die Worte des Richters meisterhaft daran erinnern, dass der echte Ring verloren gegangen sein könnte. Daher ist für Lessing notwendig, dass Menschen sich denkend und verstehend zu tolerieren lernen, um die Spiegelscherben zusammenzusetzen. Liegt gerade Sinn und Zweck unserer Existenz nicht darin, bei unserer Sinn‐ suche die Scherben wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen? Lessings Pa‐ rabel ist kein Plädoyer für Beliebigkeit, sondern mahnt die Erkenntnis der ei‐ genen Unvollkommenheit an. Seine Parabel ist das Plädoyer für eine neue Selbstarchäologie des Eigenen und des Anderen auf der Grundlage einer neuen Phänomenologie der Begegnung. Der Wahlspruch einer interkulturellen Tole‐ ranz lautet in diesem Zusammenhang: Ersetze die Belehrungskultur durch eine gemeinsame Lernkultur! An diesem hermeneutischen Ort ergänzen sich das Ei‐ gene und das Andere, ohne sich preisgeben zu müssen. Interkulturelle Toleranz bedeutet nicht die Preisgabe eigener Auffassungen, Aufhebung von Differenzen oder Assimilierung in Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr die Anerkennung von Anderssein. In dieser generellen Offenheit mit prinzipiellen Grenzen liegt das praktische Ziel interkultureller Toleranz. Ich schlage die Praxis einer ablehnenden bzw. kritischen Anerkennung vor. Sie be‐ deutet, allgemein dem Andersdenkenden die Möglichkeit einzuräumen, sich seine Lebensweise, Überzeugung oder Einstellung selbst zu gestalten und sich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Diese Form der Anerkennung heißt, den Anderen als Person und als Teil der Gesellschaft unter Bewahrung seiner Würde anzuerkennen, ohne damit die Pflicht zu verbinden, seine Ein‐ stellungen und Überzeugungen mit einzuschließen. Dies entspricht der augus‐ tinischen Formulierung: »Die Sünde hasse, den Sünder liebe! « Ablehnende An‐ erkennung ist in diesem Sinne kein Alibi des Relativismus, sondern sie ist darauf ausgerichtet, die Diskursteilnehmer bei der Wahrheitssuche zu unterstützen. Bei einer ablehnenden Anerkennung kann mir Helmut sagen: Ich toleriere den Heilsweg und den Anspruch des Judentums und des Islams, obwohl ich diese Religionen für mich ablehne. Und ich muss den Anhängern dieser Religionen die Möglichkeit einräumen, dass sie für sich ihren Heilsweg als absolut be‐ haupten und meine Anschauung als Christ ablehnen. Ablehnende Anerkennung ist in diesem Sinne das Erreichen eines Verhältnisses zum interkulturell An‐ dersdenkenden und Anderserzogenen. Dies bedeutet, dass wir uns gleich be‐ 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 144 <?page no="144"?> 65 Eirmbter-Stolbrink, Eva und Claudia König-Fuchs: Ideen zur interkulturellen Pädagogik - abgeleitet aus der Erziehungswissenschaft, 2008, S. 19. handeln, obschon wir nicht gleich sind. Diese ablehnende Form der Anerken‐ nung erreicht ihre Grenze dort, wo die Würde des Menschen mittelbar oder unmittelbar verletzt wird. Im Fall von Metin Kaplan, der sich ohne Berücksich‐ tigung des Rechtes der Anderen kategorisch zum ›Kalifen von Köln‹ ernannte, zeigt sich, dass eine bedingungslose Anerkennung die zivilgesellschaftlichen Ordnungen sprengt. Ablehnende Anerkennung bedeutet anzuerkennen, dass Menschen ver‐ schieden sind. Die reziproke »Anerkennung der wechselseitigen Unverfügbar‐ keit ist das normative Prinzip, das für den rationalen Interkulturalitätsdiskurs bestimmend ist« 65 , und darf nicht als Leugnung von Verschiedenheiten be‐ trachtet werden. Dabei gilt die Bewahrung der eigenen Identität und Wert‐ schätzung anderer Identitäten als eine wichtige Voraussetzung für eine argu‐ mentative Kommunikation im Geiste der interkulturellen Toleranz. Toleranz bedeutet einander mit besten Absichten tragen, sich aus jeweils eigener Per‐ spektive fördernd zu Wort kommen zu lassen. Echte Kommunikation heißt, das Eigene im Anderen und das Andere im Ei‐ genen zu suchen, ohne restlos ineinander aufzugehen. Verständigung in diesem Sinne bedeutet den Versuch zu wagen, zusammen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu reflektieren. Nur durch wechselseitige Förderung können wir echte Integration und Verständigung entfalten. Ich nenne diese Haltung ›Mini‐ malmoral‹ der Toleranz. Dies schließt ein, die eingangs zur Sprache gebrachten Kampfplätze der Denksysteme und Thesen als Verhandlungsorte zu verstehen. Dies hat zwei entscheidende Konsequenzen: Erstens erscheint es notwendig, Orte der Verständigung und Verhandlung miteinander konkurrierender Denksysteme, Überzeugungen und/ oder Thesen als Räume des offenen und toleranten Dialoges zu betrachten. Nicht wegzuden‐ kende Stütze muss hierbei jedoch die wechselseitige Einsicht eigener Fehler, Thesenbrüche sowie Irrtümer sein sowie die Bereitschaft, diese durch andere konstruktiv korrigieren zu lassen. Dieses angestrebte Idealbild lässt sich zwar im kleinen Rahmen partiell erreichen, scheitert im öffentlichen Diskurs jedoch einerseits an der Vielfalt vorherrschender meinungsbildender Tendenzen, die oftmals gänzlich andere Ziele verfolgen, als es eine fachkundige, berechtigte Kritik tut; sie dienen oftmals zur medialen Inszenierung, Diffamierung oder Entschärfung durchaus problematischer Thesen, die durch eine derartige ›ge‐ spielte‹ Diskussion reingewaschen werden sollen. Mit kritischen Begriffen, his‐ torischen Ereignissen oder faktischen Sachlagen wird auf diese Weise eine Art 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 145 <?page no="145"?> gesellschaftlich-medialer Ablasshandel betrieben, der dazu dient, eine heile Welt der Harmonie zu konstruieren. An zweiter Stelle sind derartige Harmonisierungsbestrebungen meist ideali‐ sierte, stummes Zeugnis eines komplexen und undurchsichtig erscheinenden, negativen Machtbegriffes abzulegen, der sich in monetären, politischen, öko‐ nomischen wie autoritären Interessen äußert, die einem bestimmten Anliegen grundgelegt sind. So wird sich vordergründig zumeist um die idealistische Her‐ stellung eines harmonischen Miteinander bemüht, dessen Realisierung, wie zu sehen ist, schier unmöglich zu erreichen ist. Hintergründig jedoch dient diese angebliche Konsensorientierung nur dazu, die miteinander verhandelten Thesen zu entkräften, ihre Urheber zu diffamieren und den eigenen Standpunkt künstlich aufzuwerten. Die Aufwertung des Eigenen auf Kosten des Anderen ist hierbei Kernelement aller Anstrengungen, dem ein echter Toleranzbegriff keinen Raum bieten kann. Der Toleranzgedanke ist im Sinne von ›Leben und Leben lassen‹ unter ge‐ meinsamer Bewahrung der Menschenwürde ein geeignetes Strukturmodell in‐ terkultureller Kommunikation. Weder der Differenznoch der Konvergenzge‐ danke dürfen hier alleine den Ton angeben, sondern stets eine Mischung aus beiden. Ein ausschließlicher Differenzgedanke ist genauso problematisch wie eine ausschließliche Suche von Schnittmengen, ohne die Berücksichtigung von Differenzen. Noch einmal: Es geht nicht um die Bereinigung von Differenzen bis zu deren vollständiger Aufhebung oder das bloße Ignorieren derartiger Andersartig‐ keiten. Vielmehr steht die Erlangung einer toleranten, d. h. für andere als zu akzeptierende Auffassung im Mittelpunkt, ohne dass diese missionarisch ver‐ langt, nur dann toleriert zu werden, wenn man sich ihr selbst anschließt. Aus diesem Grund kann auch mit dem Begriff der ablehnenden Toleranz ein ver‐ meintlich antagonistisches Begriffspaar miteinander verknüpft werden, um eine inhaltliche wie begriffliche Differenz zu schaffen. Somit wird keine der im kon‐ kreten Falle im Streit befindlichen Sichtweisen vollständig annulliert, sondern expansive Gedanken werden nur dort in ihre Grenzen verwiesen, wo sie dabei sind, andere Auffassungen ihren jeweiligen Spielraum zu rauben oder die Rechte anderer aktiv gefährdet werden. In einem derartigen Spannungsfeld zeigt sich, dass Toleranz derjenige Schlüs‐ selbegriff und diejenige Eigenschaft darstellt, welche den Kampf der Denksys‐ teme in einen offenen, austauschaffinen Dialog umsetzt, der auf argumenta‐ tivem Wege darum bemüht ist, sich ohne Absolutheitsanspruch wahrzunehmen und bestehende Differenzen in bestehenden Denksystemen anzuerkennen, ohne sie ersetzen und einander unterordnen zu wollen. 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 146 <?page no="146"?> 66 Es gibt eine Reihe Ethikkonzepte wie ›Elementarethik, Tugendethik, Egoistische Ethik, Pluralistische Ethik, Mitleidsethik und Diskursethik, Utilitaristische Ethik, Kommuni‐ taristische Ethik und Rationale Ethik‹ die an anderer Stelle behandelt wurden. Vgl. hierzu Düsing, Klaus: Fundamente der Ethik, 2005. Toleranz lässt sich zusammenfassend betrachten als eine Eistellung zur Welt und zu sich selbst. Toleranz wird zu einer Denknotwendigkeit, wenn die Kom‐ munizierenden die eigene Begrenztheit zu spüren und auszusprechen lernen. Durch eine so verstandene Toleranz können sie neue Welten und Weltinhalte erschließen. Wer sich dem Anderen fragend und verstehend annähern will, wird bereit sein, zuzuhören, sich korrigieren und vor allem in Frage stellen zu lassen. Dies ist möglich, wenn wir verinnerlichen: Ohne echte Bereitschaft keine echte Verständigung; ohne echte Verständigung kein echtes Verstehen Anderer; ohne echtes Verstehen der Anderen keine echte Toleranz und ohne echte Toleranz kein echter Friede. 5.3.7. Modus der Ethik Betrachten wir alle Kampfplätze des Denkens, die in der Literatur oftmals als ›Kampf der Kulturen‹ unterstellt werden, fällt uns etwas auf: Es wird ersichtlich, dass alle Äußerungen im Hinblick auf die Frage nach Identität, Kompetenz, Se‐ mantik und Hermeneutik sowie Komparatistik und Toleranz weitreichende, ethische Komponenten besitzt. Es geht hier, wie bei allen anderen Korrelatbe‐ griffen darum, das eigene Bewusstsein von Ethik und Moral in allen Kontexten der Wissenschaft, Politik und Gesellschaft bis hin zu Religion als alleinseligma‐ chend zu universalisieren. Oft werden eigene verlockende Norm- und Wertvor‐ stellungen zur Entwaffnung des Gegenspielers herangezogen, was auf den Kampfplätzen des Denkens eine gängige Praxis darstellt. Wer sich an einem See aufhält und beobachtet, wie jemand zu ertrinken droht, ist zur Hilfe verpflichtet. In diesem Moment denkt der oder die Helfende nicht darüber nach, ob er oder sie selbst dabei Schaden nehmen könnte. Wichtig ist die Hilfeleistung. Nur wer Gefahr läuft, sich selbst durch die Hilfeleistung in eine ähnlich gefährliche Lage zu bringen, ist davon befreit. Die Ethik als eine Wissenschaft des Handelns befasst sich mit solchen Fragestellungen, die nicht nur mit Leben und Tod zu tun haben, sondern auch mit Normen, die sich völlig disparat zueinander verhalten. Es erscheint daher eine kurze Darstellung der Frage erwünscht, welche exis‐ tentielle Bedeutung ethisch-moralisches Verhalten in allen Kulturen der Völker erfährt. Woran messe ich den moralischen Wert einer Handlung? Gibt es eine ›absolute‹ Ethik? 66 Was macht den ethischen Kerngedanken der Weltreligionen 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 147 <?page no="147"?> aus? Ethische Normen beruhen auf Eigenschaften, die allen Menschen gleich inhärent sind, sie werden aber unterschiedlich begründet, weil die Menschen von ihren Anlagen her unterschiedlich sind und weil sie verschiedene Biogra‐ phien haben. Meinem Ansatz liegt eine transzendenzoffene Theorie der Ethik zugrunde, weil Werte und Traditionen der Völker in der Regel religiös fundiert sind. Im Zentrum der buddhistischen Ethik steht z. B. das Mitgefühl und Bescheidenheit, während im Judentum die ›Halacha‹, also Gebote und Verbote für eine fromme Lebensführung, grundlegend sind. Das Herzstück der christlichen Ethik ist das Prinzip ›Nächstenliebe‹. Im Islam bilden der ›Djihad‹, also Anstrengung zum Erreichen des Guten, die ›Scharia‹, als Weg der Reinwerdung und die ›Hadith‹, die Überlieferungen, die Grundlage der Ethik. Die ureigene Absicht dieser Religionen und ihrer jeweiligen Ethik ist, Hoff‐ nung, Zuversicht und Geborgenheit zu geben und letztlich den menschlichen Geist zu veredeln und eine friedliche Koexistenz zwischen Menschen zu errei‐ chen. Es geht um eine verantwortungsvolle und sittlich angemessene Lebens‐ führung. Wir können nicht vernachlässigen, dass Menschen in unterschiedli‐ chen Werte- und Normengemeinschaften aufwachsen. Ethik ist in der Tat immer strittig, weil es unterschiedliche Auffassungen von ›Gut‹ und ›Böse‹ sowie Ge‐ botenem und Verbotenem gibt. Nicht nur interreligiöse, sondern auch interkul‐ turelle Verschiedenheiten fordern dazu heraus, nach einem Maßstab der ethi‐ schen Beurteilung zu suchen. Die Vielfalt der Fragestellungen zeigt, dass eine allgemeinverbindliche Theorie der Ethik nicht problemlos praktiziert werden kann. Wir benötigen eine neue Theorie der Ethik, die ich als eine kontextuelle bzw. interkulturelle be‐ zeichne. Der Maßstab dieses Ethikansatzes ist die Universalität der Menschen‐ würde. Innerhalb der Debatte um eine genaue Ortsbestimmung der Ethik ist stets kontextuell zu verfahren. Das bedeutet, wie weiter oben erläutert, unter‐ schiedliche Traditionen mit ihren jeweils eigenen Terminologien, Fragestel‐ lungen und Lösungsansätzen von ihren verschiedenen Positionen her zur Sprache kommen zu lassen. Mein Ansatz ist von einer dialogischen Art zu denken, zu reden und zu handeln geprägt. Eine kontextuelle Betrachtung des eigenen und vertrauten Ethikansatzes im Gegensatz zum Unvertrauten hilft uns, verschüttete Gemeinsamkeiten zu entdecken und solide Verständigungsper‐ spektiven zu entwickeln. Freilich hilft ein solcher dialogorientierter Ansatz nicht, um Menschen, die als letzte Konsequenz zur Erlangung von Aufmerksamkeit im medialen, gesell‐ schaftlichen wie politischen Sinne bereit sind, Gewalt als Instrument ihrer Aus‐ drucksweise zu wählen, von ihrem Weg abzubringen. Diejenigen, die bereit sind, 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 148 <?page no="148"?> aus fehlgeleiteten Überzeugung und Fanatismus heraus Menschen zu töten und Zerstörung zu verbreiten, stehen weitgehend außerhalb einer solchen dialog‐ ischen Suche nach Konzepten der Verständigung. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch, die Gewalt solcher Gruppierungen politisch nicht mit Gegengewalt, sondern mit einem bewussten, kritischen Hinterfragen zu beantworten und in‐ nerhalb der gegebenen Strukturen, Gesellschaften sowie Kontexte nach jewei‐ ligen Ursachen zu fragen, ohne damit die verwerflichen und menschenverach‐ tenden Taten der Täter zu rechtfertigen oder gar aufwerten zu wollen. Zielführend ist hierbei ausschließlich die Frage nach den Gründen. Nach dieser Elementarethik hat der Mensch die selbstaufzuerlegende Pflicht, sich und Anderen gegenüber die Maxime gut zu denken, gut zu reden und gut zu handeln zur Grundlage seines Lebens zu machen. Eine solche Elementarethik lebt mehr oder weniger in allen Religionen und sogar in säkularen Ethiken, wie dem Humanismus und Sozialismus. Schon im Kindesalter lernen wir zu unter‐ scheiden zwischen dem Gebotenen, ›du sollst …‹, dem Erlaubten, ›du darfst …‹ und dem Verbotenen, ›du darfst nicht …‹. Solche Regeln behalten und pflegen wir Zeit unseres Lebens. Im Zentrum der Ethik steht im Geiste dieses Bewusstseins die Frage: Wozu ist eine Handlung gut? Das Gutsein erstreckt sich, wie das Schaubild zeigt, auf mehrere Ebenen: 97 und Verbote für eine fromme Lebensführung, grundlegend sind. Das Herzstück der christlichen Ethik ist das Prinzip ›Nächstenliebe‹. Im Islam bilden der ›Djihad‹, also Anstrengung zum Erreichen des Guten, die ›Scharia‹, als Weg der Reinwerdung und die ›Hadith‹, die Überlieferungen, die Grundlage der Ethik. Die ureigene Absicht dieser Religionen und ihrer jeweiligen Ethik ist, Hoffnung, Zuversicht und Geborgenheit zu geben und letztlich den menschlichen Geist zu veredeln und eine friedliche Koexistenz zwischen Menschen zu erreichen. Es geht um eine verantwortungsvolle und sittlich angemessene Lebensführung. Wir können nicht vernachlässigen, dass Menschen in unterschiedlichen Werte- und Normengemeinschaften aufwachsen. Ethik ist in der Tat immer strittig, weil es unterschiedliche Auffassungen von ›Gut‹ und ›Böse‹ sowie Gebotenem und Verbotenem gibt. Nicht nur interreligiöse, sondern auch interkulturelle Verschiedenheiten fordern dazu heraus, nach einem Maßstab der ethischen Beurteilung zu suchen. Die Vielfalt der Fragestellungen zeigt, dass eine allgemeinverbindliche Theorie der Ethik nicht problemlos praktiziert werden kann. Wir benötigen eine neue Theorie der Ethik, die ich als eine kontextuelle bzw. interkulturelle bezeichne. Der Maßstab dieses Ethikansatzes ist die Universalität der Menschenwürde. Innerhalb der Debatte um eine genaue Ortsbestimmung der Ethik ist stets kontextuell zu verfahren. Das bedeutet, wie weiter oben erläutert, unterschiedliche Traditionen mit ihren jeweils eigenen Terminologien, Fragestellungen und Lösungsansätzen von ihren verschiedenen Positionen her zur Sprache kommen zu lassen. Mein Ansatz ist von einer dialogischen Art zu denken, zu reden und zu handeln geprägt. Eine kontextuelle Betrachtung des eigenen und vertrauten Ethikansatzes im Gegensatz zum Unvertrauten hilft uns, verschüttete Gemeinsamkeiten zu entdecken und solide Verständigungsperspektiven zu entwickeln. Freilich hilft ein solcher dialogorientierter Ansatz nicht, um Menschen, die als letzte Konsequenz zur Erlangung von Aufmerksamkeit im medialen, gesellschaftlichen wie politischen Sinne bereit sind, Gewalt als Instrument ihrer Ausdrucksweise zu wählen, von ihrem Weg abzubringen. Diejenigen, die bereit sind, aus fehlgeleiteten Überzeugung und Fanatismus heraus Menschen zu töten und Zerstörung zu verbreiten, stehen weitgehend außerhalb einer solchen dialogischen Suche nach Konzepten der Verständigung. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch, die Gewalt solcher Gruppierungen politisch nicht mit Gegengewalt, sondern mit einem bewussten, kritischen Hinterfragen zu beantworten und innerhalb der gegebenen Strukturen, Gesellschaften sowie Kontexte nach jeweiligen Ursachen zu fragen, ohne damit die verwerflichen und menschenverachtenden Taten der Täter zu rechtfertigen oder gar aufwerten zu wollen. Zielführend ist hierbei ausschließlich die Frage nach den Gründen. Nach dieser Elementarethik hat der Mensch die selbstaufzuerlegende Pflicht, sich und Anderen gegenüber die Maxime gut zu denken, gut zu reden und gut zu handeln zur Grundlage seines Lebens zu machen. Eine solche Elementarethik lebt mehr oder weniger in allen Religionen und sogar in säkularen Ethiken, wie dem Humanismus und Sozialismus. Schon im Kindesalter lernen wir zu unterscheiden zwischen dem Gebotenen, ›du sollst …‹, dem Erlaubten, ›du darfst …‹ und dem Verbotenen, ›du darfst nicht …‹. Solche Regeln behalten und pflegen wir Zeit unseres Lebens. Im Zentrum der Ethik steht im Geiste dieses Bewusstseins die Frage: Wozu ist eine Handlung gut? Das Gutsei Pragmatisch bzw. zweckrational Motive des Handelns Moralische Orientierung Abbildung 5.14: Motivmodell Abbildung 5.14: Motivmodell Das Motivmodell zeigt Probleme, die in der Praxis der Kommunikation auftreten können, wenn bestimmte, zueinander divergierende moralische wie pragmati‐ sche Orientierungen des Menschen die Interaktion mit anderen Menschen auf kommunikativer wie praktischer Basis beeinflussen. Dabei besteht ein Unter‐ schied zwischen dem, was praktisch richtig oder falsch und dem, was moralisch richtig oder falsch ist. So kann es pragmatisch betrachtet richtig sein, einem Obdachlosen kein Geld zu geben, was moralisch jedoch zumeist als verwerflich 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 149 <?page no="149"?> gilt. Umgekehrt ist es pragmatisch betrachtet ein zusätzlicher Mehraufwand, demselben Obdachlosen im nächsten Lebensmitteldiscounter etwas zu Essen zu kaufen, was als moralisch gute Tat bewertet werden dürfte. Wie das Beispiel zeigt, ist die Durchlässigkeit, die das Schaubild zwischen pragmatischen Zweck‐ relationen und moralischer Orientierung besitzt, ebendiejenige Spanne, die als Motive für das jeweilige Handeln zu Grunde gelegt werden kann. Wir halten zumeist etwas für gut, weil es aus pragmatischen bzw. zweckrati‐ onalen Gründen gut ist. Sich dem Freund gegenüber freundlich zu verhalten, mag aus pragmatischen Gründen gut sein, wenn man bestrebt ist, von ihm eine Hilfe zu erhalten. Wir halten etwas ebenfalls für gut, weil es einen moralischen Wert hat und für jeden gut ist. Ist der Freund seinem Kumpel gegenüber freund‐ lich, ohne eigennützige Hintergedanken zu hegen, so hat seine Handlung einen moralischen Wert. Ein solcher Freund tut dies nicht nur aus Pflichtgründen, sondern auch aus Vernunftgründen heraus. In der Ethik geht es, wie diese Bei‐ spiele zeigen, letzten Endes um die Begründung des Gutseins einer Handlung. Woran messe ich den moralischen Wert einer Handlung? Die folgenden Beispiele mögen verdeutlichen, worum es bei der ethisch-mo‐ ralischen Verantwortbarkeit eines Sachverhaltes geht: Erstes Beispiel: Es geht um die Gesinnung des griechischen Philosophen Sokrates im Ange‐ sicht seines Todesurteils. Die Sophisten werfen Sokrates vor, die Jugend von Athen zu verderben. Sokrates spricht stets die Jugendlichen auf offener Straße an und animiert sie, selbst zu denken: Erkenne dich selbst! In einem Ge‐ richtsverfahren wird Sokrates nach langer Verhandlung zum Tode verurteilt. Obgleich er sich sicher ist, dass seine Verurteilung nicht gerechtfertigt ist, akzeptiert er dieses Urteil. Er wird abgeführt und wartet im Gefängnis auf den Moment, in dem er den Schierlingsbecher austrinken muss. Sein Freund Kriton besticht die Wache und bittet Sokrates, seinen Fluchtvorschlag anzu‐ nehmen, weil auch er mit bestem Wissen und Gewissen weiß, dass dieses Urteil ungerecht ist. Sokrates schlägt Kritons Hilfe zur Flucht dankend aus, weil er nicht dazu bereit ist, seine persönlichen Interessen über die Achtung des Gesetzes zu stellen, auch wenn er weiß, dass dies falsch sei. Zweites Beispiel: Hier handelt es sich um die Verantwortung von Max Brod gegenüber seinem Freund, dem Schriftsteller Franz Kafka, und dessen Werk. Diese Handlung hat im Gegensatz zum ersten Beispiel einen anderen Charakter, obgleich auch hier moralisch gutes Handeln im Vordergrund steht. Kafka und Brod treffen eine Vereinbarung über den literarischen Nachlass Kafkas. Brod ist von der 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 150 <?page no="150"?> die Zeit überdauernden Qualität der Texte Kafkas so überzeugt, dass er ihn dazu bewegen will, seine Arbeiten zu veröffentlichen, was Kafka überhaupt nicht möchte. Jener verfügt testamentarisch, dass seine Werke unter keinen Umständen posthum erscheinen dürfen. Brod, der ihm versprochen hat, dies zu unterlassen, entscheidet sich dennoch, nach Kafkas Tod für die Veröffent‐ lichung der Schriftstücke. In eigener Verantwortung für Kafkas Werk stellte er seine Entscheidung über den letzten persönlichen Willen des Freundes und verantwortet sogar eine erste Kafka-Gesamtausgabe. Die beiden Beispiele verdeutlichen, dass Sokrates und Brod zwei völlig ver‐ schiedene Lebens- und Moralphilosophien vertreten. Während Sokrates nach den Prinzipien der Gesinnungsethik handelt, geht Brod von einer Verantwor‐ tungsethik aus. Immanuel Kant und Max Weber unterscheiden sich in gleicher Weise. Ihr Verständnis von Ethik haben sie detailliert niedergelegt. 99 Interkulturelle Kommunikation Gesinnungs- Ethik Verantwortungs- Ethik Abbildung 5.15: Ethikmodell Dieses Ethikmodell veranschaulicht, Kommunikation als offenen Raum zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik zu betrachten, die einerseits eine moralische Verpflichtung gegenüber dem eigenen Selbst sowie der Treue zu den eigenen Prinzipien festsetzt, andererseits dazu auffordert und anhält, für Andere eine ebensolche Verantwortung zu übernehmen, wie für das gesamte, eigene Tun. Ebenso, wie in eine Kommunikationssituation Entscheidungen einfließen, die sich wiederum aus dem jeweils eigenen Verantwortungsbewusstsein bedingen, so handelt der Mensch ebenso oft aus einer moralischen Überzeugung heraus, die im Wesen seiner Gesinnung angelegt ist. Die Gesinnungsethik Kants sucht die Begründung von Handlungen, gemäß des Kategorischen Imperativs. Der Mensch müsse so handeln, dass seine Handlung allgemeine Gesetzgebung werden könne. Es kommt hier auf das Motiv der Handlung an, das ausschließlich aus Vernunftgründen gut sein muss. Dies wird zum Prinzip des eigenen Handelns erhoben, das, wie Kant insistiert, jederzeit generalisierbar sein muss. Verantwortungsethik geht hingegen von der individuellen Selbstverantwortung des Handelns aus. Das Individuum legt selbst Ziele und Maßstäbe seines Handelns fest. Gemeinsam ist beiden Ethikkonzepten die Rückschau in die Vergangenheit, die Jetztschau der Situation und die Vorschau des Zukünftigen. Die Konzepte der Gesinnungs- und Verantwortungsethik stellen dennoch die Frage nach dem moralisch guten Handeln vor große Herausforderungen. Es ist erstaunlich, wie Sokrates, der offensichtlich wusste, dass er zu Unrecht verurteilt worden ist, dennoch Gesetzestreue an den Tag legte und bereit war, die Untreue des Staates oder seiner Widersacher mit seiner Gesetzestreue selbstlos zu entschuldigen. Kant würde sagen, Sokrates sei diejenige Person, die mit Leib und Seele wollen könne, dass die Maxime seiner Handlung zu allgemeinem Gesetz werde. Kant verteufelt nicht nur menschliche Neigungen und Interessen, sondern erblickt auch in Handlungen, die aus ihnen resultieren, die Quelle der bösen Maximen bzw. des radikal Bösen. Er will sie im Gehäuse der Hörigkeit einer Vernunft, die er verabsolutiert, gefangen halten. Brod geht zwar einige Schritte mit einer Gesinnungsethik konform und verspricht seinem Freund Kafka, dessen Werke, die er, Brod, für Weltliteratur hält, zu verbrennen. Er distanziert sich jedoch von der Gesinnungsethik an dem Punkt, wo er sein Gewissen fragt, ob er verantworten könne, dass seine Handlung zu allgemeinem Gesetz werde. Seine Antwort ist im Gegensatz zu Sokrates ein klares ›Nein‹. Er will, dass die Nachwelt an der Genialität Kafkas teilhat. Dies bestärkt ihn, sich über die testamentarische Verfügung des Freundes letztlich zu erheben. Nun stellt sich die Frage, wie eine verbindliche Regel erzielt werden kann und wie eine gewaltfreie Lösung ethischer Begründungsformen, trotz Unterschieden, auszuhandeln ist? Die Ethik begründet zwar ihre Normen, aber Entscheidung und Verantwortung liegen letzten Endes beim Einzelnen. Ich unterscheide drei völlig disparate Standpunkte voneinander: [1] Alle sollten ausschließlich nach eigenen Moralprinzipien tun und lassen, was sie wollen (Anarchismus). [2] Alle sollten ausschließlich den herrschenden Moralprinzipien in ihren Gesellschaften folgen (Konformismus). Abbildung 5.15: Ethikmodell Dieses Ethikmodell veranschaulicht, Kommunikation als offenen Raum zwi‐ schen Verantwortungs- und Gesinnungsethik zu betrachten, die einerseits eine moralische Verpflichtung gegenüber dem eigenen Selbst sowie der Treue zu den eigenen Prinzipien festsetzt, andererseits dazu auffordert und anhält, für Andere eine ebensolche Verantwortung zu übernehmen, wie für das gesamte, eigene Tun. Ebenso, wie in eine Kommunikationssituation Entscheidungen einfließen, die sich wiederum aus dem jeweils eigenen Verantwortungsbewusstsein be‐ dingen, so handelt der Mensch ebenso oft aus einer moralischen Überzeugung heraus, die im Wesen seiner Gesinnung angelegt ist. Die Gesinnungsethik Kants sucht die Begründung von Handlungen, gemäß des Kategorischen Imperativs. Der Mensch müsse so handeln, dass seine Hand‐ 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 151 <?page no="151"?> lung allgemeine Gesetzgebung werden könne. Es kommt hier auf das Motiv der Handlung an, das ausschließlich aus Vernunftgründen gut sein muss. Dies wird zum Prinzip des eigenen Handelns erhoben, das, wie Kant insistiert, jederzeit generalisierbar sein muss. Verantwortungsethik geht hingegen von der indivi‐ duellen Selbstverantwortung des Handelns aus. Das Individuum legt selbst Ziele und Maßstäbe seines Handelns fest. Gemeinsam ist beiden Ethikkonzepten die Rückschau in die Vergangenheit, die Jetztschau der Situation und die Vorschau des Zukünftigen. Die Konzepte der Gesinnungs- und Verantwortungsethik stellen dennoch die Frage nach dem moralisch guten Handeln vor große Herausforderungen. Es ist erstaunlich, wie Sokrates, der offensichtlich wusste, dass er zu Unrecht verurteilt worden ist, dennoch Gesetzestreue an den Tag legte und bereit war, die Untreue des Staates oder seiner Widersacher mit seiner Gesetzestreue selbstlos zu entschuldigen. Kant würde sagen, Sokrates sei diejenige Person, die mit Leib und Seele wollen könne, dass die Maxime seiner Handlung zu allgemeinem Gesetz werde. Kant verteufelt nicht nur menschliche Neigungen und Interessen, sondern erblickt auch in Handlungen, die aus ihnen resultieren, die Quelle der bösen Maximen bzw. des radikal Bösen. Er will sie im Gehäuse der Hörigkeit einer Vernunft, die er verabsolutiert, gefangen halten. Brod geht zwar einige Schritte mit einer Gesinnungsethik konform und ver‐ spricht seinem Freund Kafka, dessen Werke, die er, Brod, für Weltliteratur hält, zu verbrennen. Er distanziert sich jedoch von der Gesinnungsethik an dem Punkt, wo er sein Gewissen fragt, ob er verantworten könne, dass seine Hand‐ lung zu allgemeinem Gesetz werde. Seine Antwort ist im Gegensatz zu Sokrates ein klares ›Nein‹. Er will, dass die Nachwelt an der Genialität Kafkas teilhat. Dies bestärkt ihn, sich über die testamentarische Verfügung des Freundes letzt‐ lich zu erheben. Nun stellt sich die Frage, wie eine verbindliche Regel erzielt werden kann und wie eine gewaltfreie Lösung ethischer Begründungsformen, trotz Unterschieden, auszuhandeln ist? Die Ethik begründet zwar ihre Normen, aber Entscheidung und Verantwor‐ tung liegen letzten Endes beim Einzelnen. Ich unterscheide drei völlig disparate Standpunkte voneinander: 1. Alle sollten ausschließlich nach eigenen Moralprinzipien tun und lassen, was sie wollen (Anarchismus). 2. Alle sollten ausschließlich den herrschenden Moralprinzipien in ihren Gesellschaften folgen (Konformismus). 3. Alle formulieren kulturübergreifend gemeinsam Moralprinzipien, ohne Ausgrenzung bestimmter Akteure (Interkulturalität). 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 152 <?page no="152"?> Die ersten zwei Varianten sind problematisch, weil sie beliebig relativistisch und dogmatisch ausgerichtet werden können. Beide Ansätze schließen Gewalt und Intoleranz nicht aus, während Erstere radikal egoismusgesteuert ist. Die dritte Variante, die ich als interkulturell bezeichne, entspricht der demokratischen Vielfalt. Die Basis der ausgehandelten Moralprinzipien auf jedwedem Gebiet ist auch hier die Menschenwürde. Diejenigen, die sich diesen Prinzipien vertraglich unterwerfen, müssen sie mitformuliert haben. Die interkulturelle bzw. kontex‐ tuelle Begründung einer solchen Ethik beruht auf einer Haltung, für die Allge‐ meinverbindlichkeit verlangt werden darf. Das Zusammentreffen diverser Kul‐ turen und Religionen sowie Buchstabierungen der Welt machen einen solchen Ansatz geradezu erforderlich. Nun möchte ich das bereits angeschnittene Thema ›Gut und Böse‹ erneut aufgreifen und mit einem Beispiel vertiefen. Es geht nicht um die Frage nach Gesinnungs- und Verantwortungsethik, sondern um die grundsätzliche Über‐ legung, warum sich der Mensch oft zwischen ethischem und nicht-ethischem Verhalten bewegt. Folgende Geschichte mag diesen Sachverhalt verdeutlichen: Weiße Feder ist ein nachdenklicher Junge. Er hat eine Entdeckung gemacht, die ihn sehr beschäftigt. Mit Sorge in der Brust geht er zu Stillem Wasser und stellt folgende Frage: »Wie kommt es, dass Menschen meistens freundlich und lieb sind, aber oft auch böse und gemein sein können? Wie kommt es, dass ein und derselbe Mensch nicht nur lieben kann, sondern auch dazu fähig ist, Liebe zu heu‐ cheln? Wie kommt es, dass Menschen sich betrügen? « Stilles Wasser überlegt lange, wie er das am besten erklären kann. Schließlich erwidert er: »Folgendes musst du unbedingt wissen, das darfst du nie ver‐ gessen: ›In jedem von uns Menschen leben Ungeheuer und Engel! Engel haben weiße Flügel und wünschen dir das Beste, während Ungeheuer ein dunkles Fell haben. Engel mögen keine Kriege, sie suchen Frieden und Harmonie. Mit den Ungeheuern ist es aber anders. Wenn sie nicht schlafen, dann bekämpfen sie sich gegenseitig und messen ihre Kräfte. Oft verbeißen sie sich ineinander und einer will den anderen zwingen, sich zu ergeben. So geht das immerzu! « Weiße Feder fragt wie ein Erleuchteter: »Aber kommt es denn vor, dass einer von beiden Sieger bleibt und am Ende alles bestimmt? « Stilles Wasser erwidert: »Ja! - es kommt darauf an, welches Ungeheuer du fütterst oder mit welchem Engel du dich anfreundest! « - »Und was passiert mit den Engeln, bekämpfen sie die Ungeheuer? «, fragt Weiße Feder. »Sie tun nichts«, erwidert Stilles Wasser, »sie ziehen sich zurück und hoffen das Beste! « 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 153 <?page no="153"?> Die Fragen, die dieses Beispiel aufwirft, können unter verschiedenen Aspekten, soziologisch, psychologisch, oder auch anthropologisch, diskutiert werden. Im Menschen vollzieht sich ein permanenter Kampf, Entscheidungen zu treffen, die das Verhältnis zu seiner Umwelt mitbestimmen. Stilles Wasser verweist auf die egoistischen Mechanismen im Menschen, die ihn zu destruktiven Entschei‐ dungen verleiten, ohne zu leugnen, dass es auch positive Egoismen gibt, die das Überleben der Menschen sichern. Negative bzw. krankhafte oder weltanschau‐ liche Egoismen, die er als ›Ungeheuer‹ bezeichnet, sind Gründe, Konflikte zu verursachen und jede Kommunikationsmöglichkeit im Keime zu ersticken. Im menschlichen Leben besteht ein praktischer Sinn von Normen darin, durch positiv ausformulierte Egoismen die negativen nicht überhandnehmen zu lassen. Der Wille des Menschen zur Macht überwiegt indes häufig und bewegt Menschen dazu, ihre Ungeheuer zu füttern und die Engel verkommen zu lassen. Dieses Beispiel belegt aussagekräftig, dass eine interkulturell angelegte Ethik immer auch die Grundlage der für den Menschen als löblich oder verwerflich zu betrachtende Taten und Eigenschaften setzt, die universelle Gültigkeit jenseits aller kulturell, politisch oder religiös bedingten Kontexte besitzt. Darüber hinaus steht fest, dass eine jede solche Orientierung eine gesetzte, d. h. eine ebenso un‐ greifbar vorgestellte Instanz ist, wie es etwa die Begriffe ›Nation‹, ›Staat‹ oder ›Freiheit‹ sind. Damit bildet sich ab, dass eine Ethik, die interkulturell verfahren möchte, eine Ablösung von ethischen Begriffen leisten muss, die in der Verhaf‐ tung in bestimmten, letztlich individuellen Kontexten verbleiben wollen oder darin definiert sind. Zwar darf sie sich nicht als universalistischer und somit ent‐ differenzierter Begriffsapparat verstehen, in dem keinerlei Individualität mehr vorhanden ist, doch ihre Aufgabe wurzelt, wie bereits angesprochen darin, jen‐ seits aller Strukturen moderner Gesellschaften verbindliche Regeln und Werte zu finden, die für alle Menschen, gleich ihrer Herkunft gelten. Diese anthropologische Konstante ist in allen Kulturen der Völker anzu‐ treffen. In interkulturellen Studien, in denen es um Grundfragen der Ethik geht, sollen gerade diese Konstanten beachtet werden. Was sind Dimensionen von Moral und Ethik? Die Begriffe ›Ethik‹ und ›Moral‹ werden, interkulturell betrachtet, unterschiedlich verwendet. In der islamischen Ethik sind sie gleichbedeutend gebraucht und werden als eine Wissenschaft verstanden, die begründet, was eine Handlung ist und wozu Handlungen gut sind. Was bedeuten diese Begriffe in interkultureller Absicht? 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 154 <?page no="154"?> 67 Waal, Frans de: Der Turm der Moral, 2008, S. 179 f. 68 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, 1930. 101 gesetzte, d.h. eine ebenso ungreifbar vorgestellte Instanz ist, wie es etwa die Begriffe ›Nation‹, ›Staat‹ oder ›Freiheit‹ sind. Damit bildet sich ab, dass eine Ethik, die interkulturell verfahren möchte, eine Ablösung von ethischen Begriffen leisten muss, die in der Verhaftung in bestimmten, letztlich individuellen Kontexten verbleiben wollen oder darin definiert sind. Zwar darf sie sich nicht als universalistischer und somit entdifferenzierter Begriffsapparat verstehen, in dem keinerlei Individualität mehr vorhanden ist, doch ihre Aufgabe wurzelt, wie bereits angesprochen darin, jenseits aller Strukturen moderner Gesellschaften verbindliche Regeln und Werte zu finden, die für alle Menschen, gleich ihrer Herkunft gelten. Diese anthropologische Konstante ist in allen Kulturen der Völker anzutreffen. In interkulturellen Studien, in denen es um Grundfragen der Ethik geht, sollen gerade diese Konstanten beachtet werden. Was sind Dimensionen von Moral und Ethik? Die Begriffe ›Ethik‹ und ›Moral‹ werden, interkulturell betrachtet, unterschiedlich verwendet. In der islamischen Ethik sind sie gleichbedeutend gebraucht und werden als eine Wissenschaft verstanden, die begründet, was Handlung ist und wozu Handlungen gut sind. Was bedeuten diese Begriffe in interkultureller Absicht? Was ist Ethik? Dimensionen von Moral und Ethik Was ist Moral? Was bedeutet interkulturelle Ethik? Abbildung 5.16: Moral-Ethik-Modell Moral ist ein System von Verhaltensweisen, die sich in diversen intra- oder interkulturellen Kontexten unterschiedlich vollziehen und die das Handeln des Menschen als gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen bestimmen sollen. Ethik ist die Begründung moralischer Normen. Sie analysiert die Herkunft von Werten und ihren geschichtlichen Geltungsanspruch. Theoretiker wie Frans de Waal (*1948) halten Moral für ein »gruppenorientiertes Phänomen, das aus der Tatsache entspringt, dass wir zum Überleben ein Unterstützungssystem brauchen. Ein einzelner Mensch hätte keinen Bedarf an Moral, auch nicht ein Mensch, der ohne wechselseitige Abhängigkeit mit anderen zusammenlebt.« 67 Diese Überlegung weist auf eine moralphilosophische Tatsache hin, die schwer zu entkräften ist. Jedoch steht dabei fest, dass Moral im Definitionsverständnis dieser verkürzten Darstellung de Waals ein ausschließlich auf den Menschen anwendbarer Begriff scheint. Würde der einzelne Mensch jedoch in seinem eremitischen Dasein etwa ein besonderes, moralisches Verhalten gegenüber einer bestimmten Gruppe von Lebewesen zeigen, so tritt selbst wieder der Begriff der Moral in Kraft; sie lässt sich also nur schwerlich in einem rein auf den Menschen gerichteten Sinne beschränken, wohl aber zeigt sie sich in der Interaktion zweier oder mehrerer Menschen am deutlichsten. Zöge sich jeder Mensch wie ein Eremit in seine Klause zurück, so benötigten wir in der Tat keine Ethik, kein Ordnungssystem und keine Institutionen mehr. Einerseits bescheren sie uns Vorteile, wie Sigmund Freud feststellt, andererseits beschränken sie uns auch. 68 Jedes Individuum könnte sich in seiner Klause völlig selbst bestimmen, ohne soziale Schranken oder moralische Verhaltensweisen entwickeln zu müssen. Verließen die Individuen ihre Klause und träten 67 Waal, Frans de: Der Turm der Moral, 2008, S. 179 f. 68 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, 1930. Abbildung 5.16: Moral-Ethik-Modell Moral ist ein System von Verhaltensweisen, die sich in diversen intra- oder interkulturellen Kontexten unterschiedlich vollziehen und die das Handeln des Menschen als gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen bestimmen sollen. Ethik ist die Begründung moralischer Normen. Sie analysiert die Her‐ kunft von Werten und ihren geschichtlichen Geltungsanspruch. Theoretiker wie Frans de Waal (*1948) halten Moral für ein »gruppenorien‐ tiertes Phänomen, das aus der Tatsache entspringt, dass wir zum Überleben ein Unterstützungssystem brauchen. Ein einzelner Mensch hätte keinen Bedarf an Moral, auch nicht ein Mensch, der ohne wechselseitige Abhängigkeit mit an‐ deren zusammenlebt.« 67 Diese Überlegung weist auf eine moralphilosophische Tatsache hin, die schwer zu entkräften ist. Jedoch steht dabei fest, dass Moral im Definitionsverständnis dieser verkürzten Darstellung de Waals ein aus‐ schließlich auf den Menschen anwendbarer Begriff scheint. Würde der einzelne Mensch jedoch in seinem eremitischen Dasein etwa ein besonderes, moralisches Verhalten gegenüber einer bestimmten Gruppe von Lebewesen zeigen, so tritt selbst wieder der Begriff der Moral in Kraft; sie lässt sich also nur schwerlich in einem rein auf den Menschen gerichteten Sinne beschränken, wohl aber zeigt sie sich in der Interaktion zweier oder mehrerer Menschen am deutlichsten. Zöge sich jeder Mensch wie ein Eremit in seine Klause zurück, so benötigten wir in der Tat keine Ethik, kein Ordnungssystem und keine Institutionen mehr. Einerseits bescheren sie uns Vorteile, wie Sigmund Freud feststellt, andererseits beschränken sie uns auch. 68 Jedes Individuum könnte sich in seiner Klause völlig selbst bestimmen, ohne soziale Schranken oder moralische Verhaltensweisen 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 155 <?page no="155"?> entwickeln zu müssen. Verließen die Individuen ihre Klause und träten mitein‐ ander in Kontakt, so würden sie legitimerweise ihre Identität vertreten wollen. Hier treffen wiederum das Eigene und das Andere aufeinander. Die Konfronta‐ tion der Interessen erhebt die Moral, wie De Waal annimmt, zu einer orientie‐ rungsgebenden Instanz, um dem willkürlichen und in Folge destruktiven Ver‐ halten Grenzen zu setzen. Den Trägern unterschiedlicher Interessen ermöglicht sie, miteinander auszukommen. Interkulturelle Ethik macht uns in diesem Sinne einsichtig, wozu eine Hand‐ lung gut ist und zu welchen Konsequenzen sie führen kann. Sie verfährt plura‐ listisch und begründet eine Theorie, in welcher Neigungen, Wünsche und Be‐ dürfnisse des Einzelnen, jenseits seiner kulturellen Zugehörigkeit, Berücksichtigung finden. Dieser Ansatz erklärt wann, wo und unter welchen Voraussetzungen eine menschliche Handlung als gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen beurteilt wird. Beschreibend untersucht sie Gründe, die In‐ dividuen zu bestimmten Handlungen motivieren. Ferner umfasst sie die Be‐ gründung kulturell bedingter Besonderheiten in Sitten, Gebräuchen, Gepflo‐ genheiten, Traditionen und Kulturen oder Rechtssystemen. Hier denke ich an Kontroversen wie die ›Beschneidung von Knaben‹, die grundsätzlich unter‐ schiedlich gesehen und beurteilt wird. Auch unterschiedliche Riten der Begrü‐ ßung lassen sich durch die Bedeutungsdimension interkultureller Ethik im Dis‐ kurs erklären. Es könnte durchaus sein, dass man einen Deutschen im Iran mit dem Schlachten eines Lammes durch traditionelles Schächten als Ausdruck des ›herzlichen Willkommens‹ empfängt. Iraner werden in Deutschland ge‐ wöhnlich mit einem Glas Sekt willkommen geheißen. Beides ist in den je‐ weiligen Heimatkulturen selbstverständlich. Diese Unterschiede der Sitten könnten aber Anlass zu Irritationen werden. Schächten als betäubungsloses Schlachten wird in manchen europäisch-westlichen Kreisen als Tierquälerei empfunden, während der Genuss von Alkohol, wegen seiner enthemmenden Wirkung, gegen ein islamisches religiöses Gebot verstößt. Die Herausforderung besteht darin, die ethischen Grundlagen und Eigenheiten des Gastvolkes durch die Aneignung interkultureller und interreligiöser Kom‐ petenz nachzuvollziehen. Eine solche Kompetenz ist, wie weiter oben dargelegt, ein Prozess der verstehenden Aneignung von Informationen und Verhaltens‐ weisen. Sie verhilft uns dazu, eine Aufgabe zu meistern und einer Herausfor‐ derung zu begegnen. Die Aneignung von Kompetenzen ist erforderlich, wenn unterschiedliche Denkformen, Handlungsmuster oder Lebensentwürfe mitein‐ ander in Berührung kommen. Damit sind auch Werte- und Normenorientierung 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 156 <?page no="156"?> sowie begriffliche und theoretische Bezugssysteme gemeint, deren Unter‐ schiede nicht immer offensichtlich sind. Die Deutschen werden nach diesem Modell lernen zu verstehen, dass das Schächten auch ein Ritual in Erinnerung an die Opfergeschichte Abrahams und Isaaks ist und von daher gut geheißen wird. Der zeremonielle Empfang mit einem edlen Getränk wie Sekt gilt hingegen in Deutschland als Ausdruck be‐ sonderer Herzlichkeit, dem religiöse Gebote nicht entgegenstehen. Beide Zere‐ monien sind folglich aus ihren kontextuellen Verankerungen heraus nachvoll‐ ziehbar. Sie schneiden sich daher notwendigerweise in bestimmten Aspekten mit vorherrschenden, konventionalisierten Moralvorstellungen, wobei hierbei besonderes Schwergewicht darauf zu legen ist, dass aktuelle Thesen und Sicht‐ weisen historische überlagern, bewerten und kritisieren. Dies kann, je nach Sachverhalt, zu Missverständnissen und Fehlbeurteilungen führen. Dabei darf die kritische Perspektive jedoch nicht verloren gehen, jedoch nicht zu einer Verurteilung vergangener Ereignisse aufgrund heute vorherrschender Normen verkommen. Diese Gratwanderung erweist sich als schwierig. Interkulturelle Ethik fasst Kulturen weder essentialistisch auf noch erhebt sie einen Universalitätsanspruch. Kulturen werden als offene und dynamisch ver‐ änderbare Sinn- und Orientierungssysteme verstanden. In der interkulturellen Ethik geht es um den Versuch, die Stimme des Anderen in dessen Bezugssystem verbleibend als einen Diskursbeitrag, theoretisch wie praktisch, zu Wort kommen zu lassen. In der interkulturellen Ethik sind, wie erwähnt, Momente der multi- und transkulturellen Ethiken stets wirksam. Interkulturelle Ethik be‐ trachtet alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe, kulturellen und religiösen Zugehörigkeit, als gleichberechtigte Exemplare der Gattung Mensch. Dies impliziert die Unverfügbarkeit des Individuums, nach der kein Mensch einen Anderen beliebig instrumentalisieren darf. Insofern bildet Ge‐ rechtigkeit die Grundlage dieser Form der Ethik. Interkulturelle Ethik bezieht sich auch auf das moralische ›Wie‹, ›Was‹ und ›Warum‹ der kontextuellen Völkerbeziehungen und die Mannigfaltigkeit ihrer Begründung. Sie will weder eine Weltanschauungslehre noch ein Religionser‐ satz sein. In diesem Sinn unterscheide ich zwischen der Partikularität und der Universalität der Ethik: Partikularität der Ethik bedeutet, dass jedes Volk ge‐ wisse traditionsgebundene Wertvorstellungen hat, die gepflegt werden. Uni‐ versalität der Ethik bedeutet, dass es über die kulturgebundenen Wert- und Normsysteme hinaus gewisse ethisch-moralische Verankerungen anthropolo‐ gischer Natur gibt, die allgemein verbindlich sind. Interkulturelle Ethik setzt nicht nur kulturelle und interkulturelle Bildung voraus, sondern auch das Studium von Religionen, Kulturen, Traditionen und 5.3. Korrelatbegriffe der Verständigung 157 <?page no="157"?> Zivilisationen. Grundlage bleibt immer die Menschenwürde. Sie stellt keine Wertung zwischen unterschiedlichen Denksystemen mit ihrem jeweils indivi‐ duellen Geltungs- und Einflussbereich auf, sondern ist kontinuierlich darum bemüht, diese miteinander ins Gespräch zu bringen, um aus diesem selbst ge‐ meinsame Lösungsansätze zu erarbeiten, welche dabei helfen können den zuvor propagierten Kampf der Denksysteme in seiner Folgenschwere, Reichweite sowie Zielsetzung einschränken zu können. Es ist festzuhalten, dass das Gelingen eines kulturübergreifenden Dialogs die Einsicht voraussetzt, sich dem Wohlergehen des Anderen gegenüber ver‐ pflichtet zu fühlen. Wir benötigen nicht nur eine neue Ethnologie der Kommu‐ nikation, sondern auch den Prozess einer dialogischen Selbstarchäologie des Eigenen und des Anderen. Dies kann nicht mehr gelingen, wenn sich ein belie‐ biges Denksystem dazu ermächtigt sieht, einen Absolutheitsanspruch zu ver‐ treten, der andere Theorien, Thesen oder Vermutungen konsequent ausschließt. Dies gilt auch für das hier vorgestellte Kommunikationsmodell, welches auf den bisher vorgestellten Korrelatbegriffen basiert. Denn der Anspruch, keine allei‐ nige Deutungshoheit zu besitzen, legitimiert sich nur dann, wenn der kritische, d. h. selbstkritische Blick für das Eigene nicht verlorengeht. Die Folge wäre es, das nahezu jede These von sich behaupten könnte, sie hielte die einzig wahre und unumstößliche Erkenntnis in Händen, was den Prozesscharakter echter Wissenschaft zum erliegen bringen und sie somit selbst negieren würde. Letztbegründungen, Absolutheitsansprüche sowie Aporien des Denkens, die sich mit einer beliebigen These verknüpfen, stellen elementare Hindernisse in jedem Kommunikationsprozess, innerhalb sowie außerhalb wissenschaftlicher wie alltäglicher Kommunikationsakte dar. Zumeist werden diese mit Beispielen zu belegen versucht, deren Eindringlichkeit und Unbezweifelbarkeit für uns so tatsächlich gegeben erscheinen, dass es schwerfällt, diese zu bezweifeln oder gar anfechten zu wollen. Doch eben darum geht es im Kern allen wissenschaftlichen Anliegens - dasjenige zu bezweifeln, was aufgrund einer oder sehr weniger Thesen als unumstößliche Allwahrheit gilt. Für eine echte, kommunikativ offene und standpunktbewegliche Wissenschaft ist dies ein endgültiger Weg, der in thesengebundenem Solipsismus und alleiniger Deutungshoheit, letztlich in Ig‐ noranz und Intoleranz mündet. Diese Folgerung bringt uns dazu, über derartige Hindernisse genauer nachzudenken. Jede Globalisierung des eigenen Wertesystems provoziert unweigerlich einen Kampf der Denkformen, mit dem Kommunikationsbruch und in bestimmten Fällen Kriege ausgelöst werden können. Daher ist es von grundlegender Be‐ deutung, das tragende Zwischen, nämlich die Menschenwürde, als eine ge‐ meinsame Basis wahrzunehmen, um Verstehen und Verständigung im Geiste 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 158 <?page no="158"?> des gegenseitigen Respektes zu ermöglichen. Echte Kommunikation heißt in diesem Sinne bereit zu sein, eigenes Versagen im Bild des Anderen wahrzu‐ nehmen und es auszusprechen. Bei allen Korrelatbegriffen der Verständigung, nämlich Identität, Kompetenz, Semantik, Hermeneutik und Toleranz sowie Ethik in interkultureller Absicht, sollte man darauf achten, dass hier nicht von einem geschlossenen Kulturbegriff ausgegangen wird. Es handelt sich lediglich um gewisse kulturumgebungsbe‐ dingte Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Ziel ist bei all diesen Modi ist die Hervorhebung einer inklusiven Interkulturalität, die das Prinzip der Heteroge‐ nität und Komplementarität in sich trägt. 5.4. Methoden der interkulturellen Kommunikation Das Unternehmen der interkulturellen Kommunikation umfasst unterschied‐ liche Facetten, die eng miteinander verzahnt sind. In ihr fließen biographische Zusammenhänge, soziokulturelle Hintergründe, Erziehungsweisen primärer und sekundärer Art, religiöse Weltbilder sowie individuelle Persönlichkeits‐ struktur zusammen. Diese sind einige wichtige Elemente, die in einer jeden Kommunikation, ob interkulturell oder weniger interkulturell, zusammen‐ fließen und zumeist die Stoßrichtung und Hindernisse der Kommunikation be‐ stimmen. Je genauer diese Elemente erfasst und beschreibbar sind, desto einfa‐ cher kann eine Beziehung gemeistert werden. Um eine praktische Durchführbarkeit dieses Unternehmens zu gewährleisten, braucht das gesamte Konzept der interkulturellen Kommunikation eine fundierte Methode. 5.4.1. Das Modell des Methodenpluralismus Methodisches Vorgehen hilft, das Unternehmen zu zerlegen, um es genauer durch nachvollziehbare Schritte zu analysieren. Methoden bilden daher die Grundlage einer jeden wissenschaftlichen Tätigkeit. Weil ein umfassendes Un‐ ternehmen wie das der interkulturellen Kommunikation viele Disziplinen, wie Ethnologie, Psychologie, Pädagogik und Sprachwissenschaften umfasst, ist das ›Prinzip Interdisziplinarität‹ geradezu eine Denknotwendigkeit. Methodisches Vorgehen bildet die Grundlage einer jeden ernstzunehmenden wissenschaftlichen Untersuchung. Sie hilft eine transparente Korrespondenz zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in Gang zu setzen. Auf diesem Wege beanspruchen in der Regel fast alle Forschenden objektiv vorzugehen, was nur ein erstrebenswertes Ziel sein dürfte. Diese Tatsache hängt damit zusammen, 5.4. Methoden der interkulturellen Kommunikation 159 <?page no="159"?> dass die forschende Person und ihre Lesarten im ganzen Prozess der Untersu‐ chung emotional wie mental involviert ist. Deshalb konnte man im Kontext der interkulturellen Kommunikation, ausgehend von einem Methodenpluralismus annehmen, dass es eine allgemein verbindliche Gültigkeit der Methode nicht gibt. Das Gleiche gilt auch für alle Formen von Objektivitätsansprüchen. Die drei unten zu beschreibenden Orientierungsbereiche im Kontext der of‐ fenen Interdisziplinarität umfassen eine Reihe von Methoden, um die erwähnten biographischen Zusammenhänge, soziokulturellen Hintergründe, Erziehungs‐ weisen primärer und sekundärer Art, religiösen Weltbilder und individuellen Persönlichkeitsstrukturen detailreich zu erschließen. Die methodische Be‐ schreibung dieser Facetten ist von grundlegender Bedeutung für eine sinnstif‐ tende und ergebnisorientierte Kommunikation. Die methodische Erschließung dieser Komponenten kann, je nach Kontext, Situation und Themenfeld, völlig unterschiedlich ausfallen. Das anzuwendende Verfahren im vorliegenden Sinne versteht sich, wie das untenstehende Schaubild zeigt, als ein methodenpluralistisches Quadrat, als ein Werkzeugkoffer mit einer empirischen, einer hermeneutischen, einer norma‐ tiven und einer deskriptiven Ebene: 105 Hermeneutische Orientierung Methodenpluralistisches Quadrat Empirische Orientierung Normative Orientierung Deskriptive Orientierung Empirisch zu verfahren bedeutet, das Untersuchungsobjekt gedanklich in seine Bestandteile zu zerlegen, um es zu verstehen. Vordergründig sind Fakten und keine Vorurteile, stereotypisierte Einstellungen, welche die Kommunikation erschweren oder belasten können. Hermeneutisch zu verfahren heißt bemüht zu sein, Fragestellungen und auftretende Probleme des Gegenübers umfassend zu begreifen zu versuchen. Normativ zu verfahren besagt, den Untersuchungsgegenstand vor dem Hintergrund der Wertvorstellungen zu untersuchen, auf denen er beruht. Die Zulassung von Verfahren der Normativität hängt damit zusammen, dass interkulturelle Kommunikation den Kampfplatz des Denkens nicht einem reinen szientistischen Ansatz überlassen will, der die emotionalen und affektiven Aspekte der Kommunikation nicht angemessen erschließen kann. Deskriptiv zu verfahren beinhaltet, Normen- und Wertesysteme sowie Verhalten, Moral verschiedener menschlicher Gruppen und kulturelle Kontexte so wertneutral wie möglich zu beschreiben. Dabei berücksichtigt sie klimatische, geographische, kulturelle, religiöse und andere Faktoren, die mittelbar oder unmittelbar auf die Kommunikation Einfluss nehmen könnten. In diesem Zusammenhang ist auf die Interdisziplinarität als einer bereichernden, weiterführenden und kollektiven Methode zu verweisen. 5.4.2. Das Konzept der Interdisziplinarität Die Einheitsidee der Wissenschaft ist heute aufgrund des unaufhaltsamen Voranschreitens der Spezialisierungen nicht mehr tragbar. Die Entwicklung von Nischen und Zweigen sowie das Voranschreiten in den Wissenschaften macht die unverzichtbare Denknotwendigkeit einer dialogischen Praxis einer vielseitigen Interdisziplinarität aus. Disziplinäre Arbeiten sind erkenntnisbegrenzend und nicht in der Lage, über den Tellerrand der eigenen Forschungen hinaus zu interagieren. Dies ist ein Grund, warum das Interesse am fundierten und zuverlässigen Erkenntnisgewinn bei allen wissenschaftlichen Arbeitsfeldern das Überschreiten der etablierten Handhabungen erforderlich macht. Hier wird unmittelbar das Feld der Interdisziplinarität angesprochen. Sie beschreibt die gemeinsame praktische Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen, bei der Vertreter verschiedener Disziplinen zusammenwirken. Interdisziplinarität ist diesem Prinzip nach eine Einladung zur institutionellen »Integration der Wissenschaften«. 69 Jede Disziplin beschränkt sich in der Regel auf Teilaspekte des Themas und greift damit zu kurz. Interkulturelle Arbeit auf den Feldern der Kommunikation ist ein Plädoyer für die Öffnung von Wissenschaftskulturen, die sich wie spezialisierte Gärtner nur für die eigenen Pflanzen interessieren, diese kultivieren und gleichsam alle anderen als Unkraut wahrnehmen und jäten wollen. Diese Kultur hat sich in den letzten 100 Jahren immer intensiver herausgebildet, sodass daraus Kampfplätze der Denkformen und Wahrnehmungswelten hervorgegangen sind. Ein ergebnisinteressiertes Unternehmen hat hingegen ein praktisches Interesse daran, jenseits eigendisziplinärer 69 Schelsky, Helmut: Einsamkeit und Freiheit, 2 1971, S. 208. Abbildung 5.18: Methodenmodell Empirisch zu verfahren bedeutet, das Untersuchungsobjekt gedanklich in seine Bestandteile zu zerlegen, um es zu verstehen. Vordergründig sind Fakten und keine Vorurteile, stereotypisierte Einstellungen, welche die Kommunikation er‐ schweren oder belasten können. Hermeneutisch zu verfahren heißt bemüht zu sein, Fragestellungen und auftretende Probleme des Gegenübers umfassend zu begreifen zu versuchen. Normativ zu verfahren besagt, den Untersuchungsge‐ 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 160 <?page no="160"?> 69 Schelsky, Helmut: Einsamkeit und Freiheit, 2 1971, S. 208. genstand vor dem Hintergrund der Wertvorstellungen zu untersuchen, auf denen er beruht. Die Zulassung von Verfahren der Normativität hängt damit zusammen, dass interkulturelle Kommunikation den Kampfplatz des Denkens nicht einem reinen szientistischen Ansatz überlassen will, der die emotionalen und affektiven Aspekte der Kommunikation nicht angemessen erschließen kann. Deskriptiv zu verfahren beinhaltet, Normen- und Wertesysteme sowie Verhalten, Moral verschiedener menschlicher Gruppen und kulturelle Kontexte so wertneutral wie möglich zu beschreiben. Dabei berücksichtigt sie klimati‐ sche, geographische, kulturelle, religiöse und andere Faktoren, die mittelbar oder unmittelbar auf die Kommunikation Einfluss nehmen könnten. In diesem Zusammenhang ist auf die Interdisziplinarität als einer bereichernden, weiter‐ führenden und kollektiven Methode zu verweisen. 5.4.2. Das Konzept der Interdisziplinarität Die Einheitsidee der Wissenschaft ist heute aufgrund des unaufhaltsamen Vo‐ ranschreitens der Spezialisierungen nicht mehr tragbar. Die Entwicklung von Nischen und Zweigen sowie das Voranschreiten in den Wissenschaften macht die unverzichtbare Denknotwendigkeit einer dialogischen Praxis einer vielsei‐ tigen Interdisziplinarität aus. Disziplinäre Arbeiten sind erkenntnisbegrenzend und nicht in der Lage, über den Tellerrand der eigenen Forschungen hinaus zu interagieren. Dies ist ein Grund, warum das Interesse am fundierten und zuverlässigen Erkenntnisgewinn bei allen wissenschaftlichen Arbeitsfeldern das Über‐ schreiten der etablierten Handhabungen erforderlich macht. Hier wird unmit‐ telbar das Feld der Interdisziplinarität angesprochen. Sie beschreibt die gemein‐ same praktische Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen, bei der Vertreter verschiedener Disziplinen zusammenwirken. Interdisziplinarität ist diesem Prinzip nach eine Einladung zur institutionellen »Integration der Wis‐ senschaften«. 69 Jede Disziplin beschränkt sich in der Regel auf Teilaspekte des Themas und greift damit zu kurz. Interkulturelle Arbeit auf den Feldern der Kommunikation ist ein Plädoyer für die Öffnung von Wissenschaftskulturen, die sich wie spe‐ zialisierte Gärtner nur für die eigenen Pflanzen interessieren, diese kultivieren und gleichsam alle anderen als Unkraut wahrnehmen und jäten wollen. Diese Kultur hat sich in den letzten 100 Jahren immer intensiver herausgebildet, sodass daraus Kampfplätze der Denkformen und Wahrnehmungswelten hervorge‐ 5.4. Methoden der interkulturellen Kommunikation 161 <?page no="161"?> 70 Vgl. Falkinger, Josef: Kreativität und Sensibilität versus Interdisziplinarität, 1988, S. 7 f. 71 Mittelstraß, Jürgen: Die Stunde der Interdisziplinarität? 1982, S. 156. gangen sind. Ein ergebnisinteressiertes Unternehmen hat hingegen ein prakti‐ sches Interesse daran, jenseits eigendisziplinärer Chauvinismen eine Öffnung an den Tag zu legen und die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen als wech‐ selseitige Bereicherung zu betrachten. Interdisziplinarität hat insofern eine Kor‐ rektur- und Erweiterungsfunktion des Wissensstandes, der alle Bereiche des zu untersuchenden Themas umfasst. Das Prinzip der Interdisziplinarität erhält hier einen Sonderstatus bei allen Formen der Erkenntnisgewinnung. Sie leistet Abhilfe, ohne andere Disziplinen stufentheoretisch zu betrachten. Sie legt scheinbare Selbstverständlichkeiten offen, erhöht die Arbeitsleistung und gewährleistet Nachhaltigkeit. Ferner trägt Interdisziplinarität zu begrifflicher Differenzierung, nachvollziehbarerer Be‐ gründung der Thematik und theoretischer Fundierung bei, um wissenschaft‐ liche Tätigkeiten praxistauglicher zu gestalten. Interdisziplinäre Teamarbeit auf den Feldern der interkulturellen Kommuni‐ kation fördert die sensible und kreative Gesprächsführung. Sie trägt zu Denk- und Verhaltensveränderungen, zunächst bei den Forschenden, bei, indem Teile anderer Disziplinen für die Analyse des eigenen Forschungsgegenstandes über‐ nommen werden. Diese Veränderung hat für eine verantwortungsvolle Lehr‐ person praktische Konsequenzen. Sie wird mit derselben kreativen Sensibilität in der Praxis arbeiten und ihr Anliegen an ihren Adressaten richten. 70 Im Allgemeinen lassen sich mindestens drei Formen der Disziplinarität von‐ einander unterscheiden. Während Pluridisziplinarität und Multidisziplinarität diverse Bereiche der Zusammenarbeit abdecken, umfasst Transdisziplinarität auch lebensweltliche Hintergründe. In diesem Geiste verweist Jürgen Mittel‐ straß (*1936) darauf, dass »Interdisziplinarität […] vielmehr Transkulturalität« 71 ist. Eine so verstandene Interdisziplinarität setzt voraus, sich im Denken neu zu orientieren und fächerübergreifende Kooperation als wechselseitige Bereiche‐ rung zu begreifen, ohne Differenzen nivellieren zu wollen. Die im vorliegenden Sinne verstandene Interdisziplinarität integriert alle Be‐ deutungsebenen dieser drei Formen, um einen besseren Erkenntnisgewinn zu ermöglichen und eine systematische Horizonterweiterung zu erreichen, wobei dem Konzept der Transkulturalität, weil sie kulturübergreifend ist, besondere Bedeutung zukommt. Weil zumeist ein reger Kampf zwischen den einzelnen Disziplinen besteht, ist eine interdisziplinäre Kooperation in der Regel mit Hin‐ dernissen theoretischer wie praktischer Art verbunden. Daher ist eine prakti‐ sche Möglichkeit, das Ganze als ein Pilotprojekt zu begreifen und sich Wissen 5. Grundstruktur einer Praxis der interkulturellen Kommunikation 162 <?page no="162"?> und Kompetenzen aus allen zur Debatte stehenden Fachbereichen wie Päda‐ gogik, Psychologie und Sprachwissenschaften anzueignen. Eine so verstandene Interdisziplinarität umfasst, wie das folgende Schaubild visualisiert, drei Orien‐ tierungsbereiche, wie die systematische, die historische und die vergleichende. Sie fließen ineinander und bauen aufeinander auf: 106 Chauvinismen eine Öffnung an den Tag zu legen und die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen als wechselseitige Bereicherung zu betrachten. Interdisziplinarität hat insofern eine Korrektur- und Erweiterungsfunktion des Wissensstandes, der alle Bereiche des zu untersuchenden Themas umfasst. Das Prinzip der Interdisziplinarität erhält hier einen Sonderstatus bei allen Formen der Erkenntnisgewinnung. Sie leistet Abhilfe, ohne andere Disziplinen stufentheoretisch zu betrachten. Sie legt scheinbare Selbstverständlichkeiten offen, erhöht die Arbeitsleistung und gewährleistet Nachhaltigkeit. Ferner trägt Interdisziplinarität zu begrifflicher Differenzierung, nachvollziehbarerer Begründung der Thematik und theoretischer Fundierung bei, um wissenschaftliche Tätigkeiten praxistauglicher zu gestalten. Interdisziplinäre Teamarbeit auf den Feldern der interkulturellen Kommunikation fördert die sensible und kreative Gesprächsführung. Sie trägt zu Denk- und Verhaltensveränderungen, zunächst bei den Forschenden, bei, indem Teile anderer Disziplinen für die Analyse des eigenen Forschungsgegenstandes übernommen werden. Diese Veränderung hat für eine verantwortungsvolle Lehrperson praktische Konsequenzen. Sie wird mit derselben kreativen Sensibilität in der Praxis arbeiten und ihr Anliegen an ihren Adressaten richten. 70 Im Allgemeinen lassen sich mindestens drei Formen der Disziplinarität voneinander unterscheiden. Während Pluridisziplinarität und Multidisziplinarität diverse Bereiche der Zusammenarbeit abdecken, umfasst Transdisziplinarität auch lebensweltliche Hintergründe. In diesem Geiste verweist Jürgen Mittelstraß (*1936) darauf, dass »Interdisziplinarität […] vielmehr Transkulturalität« 71 ist. Eine so verstandene Interdisziplinarität setzt voraus, sich im Denken neu zu orientieren und fächerübergreifende Kooperation als wechselseitige Bereicherung zu begreifen, ohne Differenzen nivellieren zu wollen. Die im vorliegenden Sinne verstandene Interdisziplinarität integriert alle Bedeutungsebenen dieser drei Formen, um einen besseren Erkenntnisgewinn zu ermöglichen und eine systematische Horizonterweiterung zu erreichen, wobei dem Konzept der Transkulturalität, weil sie kulturübergreifend ist, besondere Bedeutung zukommt. Weil zumeist ein reger Kampf zwischen den einzelnen Disziplinen besteht, ist eine interdisziplinäre Kooperation in der Regel mit Hindernissen theoretischer wie praktischer Art verbunden. Daher ist eine praktische Möglichkeit, das Ganze als ein Pilotprojekt zu begreifen und sich Wissen und Kompetenzen aus allen zur Debatte stehenden Fachbereichen wie Pädagogik, Psychologie und Sprachwissenschaften anzueignen. Eine so verstandene Interdisziplinarität umfasst, wie das folgende Schaubild visualisiert, drei Orientierungsbereiche, wie die systematische, die historische und die vergleichende. Sie fließen ineinander und bauen aufeinander auf: Historische Orientierung Orientierungsbereiche der interkulturellen Kommunikation Systematische Orientierung Vergleichende Orientierung Abbildung 5.17: Orientierungsmodell Diese Orientierungsbereiche tragen dazu bei, den Sachverhalt, das Problem oder die Herausforderungen in der Kommunikation besser und nachvollziehbarer zu überblicken: 70 Vgl. Falkinger, Josef: Kreativität und Sensibilität versus Interdisziplinarität, 1988, S. 7 f. 71 Mittelstraß, Jürgen: Die Stunde der Interdisziplinarität? 1982, S. 156. Abbildung 5.17: Orientierungsmodell Diese Orientierungsbereiche tragen dazu bei, den Sachverhalt, das Problem oder die Herausforderungen in der Kommunikation besser und nachvollziehbarer zu überblicken: Systematisch zu arbeiten heißt, die thematischen wie methodischen Leitparadigmen, Probleme, Terminologien sowie Grundüberlegungen und -an‐ nahmen ersichtlich werden zu lassen, die sich bei der Thematisierung philoso‐ phischer Reflexionen ergeben. Historisch vorzugehen bedeutet, zur Darstellung zu bringen, was dem Thema nach, zu unterschiedlichen Zeiten, von diversen Autoren, unter verschiedenen Bedingungen, jeweils entworfen worden ist. Ver‐ gleichend zu verfahren bedeutet, Sachverhalte, Probleme, Begriffe oder Fragen, die es gibt oder in der Kommunikation vorkommen unter Berücksichtigung der Kontexte miteinander in Beziehung zu setzen, ohne diese reduktionistisch oder stufentheoretisch zu betrachten. 5.4. Methoden der interkulturellen Kommunikation 163 <?page no="163"?> 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation In den vorangehenden Kapiteln wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass der Mensch von der Sehnsucht erfüllt sei und Verständigung herzuführen ge‐ willt ist. Es erscheint daher geradezu paradox, dass er sich selbst, gewollt oder ungewollt, Hindernisse schafft, die das Erreichen seiner Urabsicht erschweren oder verunmöglichen können. Man kann diesen inneren Vorgang, den ›Willen zur Macht‹ oder impliziten Alleinherrschaftsanspruch nennen. In der Tat geht es auf den Kampfplätzen des Denkens auch um die Praxis solcherlei Tendenzen. Es gibt wenige Menschen, die in der Lage sind, von derartigen Ansprüchen durch Selbstkontrolle und bewusste Willenshemmung weitgehend Abstand zu nehmen. Im Folgenden geht es darum, Phänomene zu diskutieren, die je nach indivi‐ dueller Mentalität der Kommunizierenden zur Beeinträchtigung oder gar zum Abbruch einer jeden Kommunikationssituation führen können. Das Thema, dem ich mich nun zuwenden möchte, behandelt, wie die vorstehende Abbildung zeigt, Hindernisse der Verständigung, die stets zusammenhängen. 108 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation In den vorangehenden Kapiteln wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass der Mensch von der Sehnsucht erfüllt sei und Verständigung herzuführen gewillt ist. Es erscheint daher geradezu paradox, dass er sich selbst, gewollt oder ungewollt, Hindernisse schafft, die das Erreichen seiner Urabsicht erschweren oder verunmöglichen können. Man kann diesen inneren Vorgang, den ›Willen zur Macht‹ oder impliziten Alleinherrschaftsanspruch nennen. In der Tat geht es auf den Kampfplätzen des Denkens auch um die Praxis solcherlei Tendenzen. Es gibt wenige Menschen, die in der Lage sind, von derartigen Ansprüchen durch Selbstkontrolle und bewusste Willenshemmung weitgehend Abstand zu nehmen. Im Folgenden geht es darum, Phänomene zu diskutieren, die je nach individueller Mentalität der Kommunizierenden zur Beeinträchtigung oder gar zum Abbruch einer jeden Kommunikationssituation führen können. Das Thema, dem ich mich nun zuwenden möchte, behandelt, wie die vorstehende Abbildung zeigt, Hindernisse der Verständigung, die stets zusammenhängen. Dimensionen der Macht Hindernisse der Kommunikation Wahrheits- und Absolutheitsanspruch Vorurteile und Stereotype Kulturelle Eigenlogik Dimensionen des Egoismus Abbildung 6.1: Aporiemodell Dabei geht es um die Beantwortung folgender Reflexionsfelder: Ist der Absolutheitsanspruch notwendig? Wie wirken Vorurteile und Stereotype? Warum ist Macht von Bedeutung? Und schließlich: Ist Egoismus dem Dialog abträglich? Eine Antwort auf diese Fragen hängt unweigerlich mit den zuvor ausgedeuteten, miteinander beständig konkurrierenden Denkrichtungen und -systemen zusammen, die einander im theoretischen wie praktischen Kampf der Denksysteme wechselseitig auszuschließen, widerlegen oder vollständig auszutilgen suchen. Auf diese Weise wird das jeweils eigene System aufgewertet, wohingegen dasjenige, mit welchem gerade in unmittelbarer Konkurrenz gerungen wird, eine künstliche Abwertung erfährt. Eine solche Abwertung geht, im theoretischen Kontext, nicht mehr inhaltlich vor, um konstruktive Kritik an einem Denksystem zu äußern, dass Lücken offenlegt oder bestimmte Schwächen auf theoretischer wie diskursiver Ebene zeigt, die es zu beheben gilt. Vielmehr wird über die Ablehnung einer bestimmten These die systematische Verachtung derjenigen Person propagiert, die diese These vertritt und ein jeweiliges Denksystem vorstellt. Aus fachlicher wie sachlich-hilfreicher Kritik erwächst somit Ablehnung und persönliche Diffamierung, die die Person und ihre jeweiligen Denkwege herabwürdigt. Auf derartigen, weit um sich greifenden Kampfplätzen werden etliche durchaus sachdienliche Gedankenexperimente, Thesen sowie Verfahren auf eine persönliche und individuelle Ebene gezerrt, auf der sie zusammen mit denjenigen Menschen, die sie hervorgebracht haben, vernichtet werden, um einem beliebigen Absolutheitsanspruch einer vorherrschenden Strömung Genüge zu tun und Totalität zuzugestehen. Abbildung 6.1: Aporiemodell Dabei geht es um die Beantwortung folgender Reflexionsfelder: Ist der Absolu‐ theitsanspruch notwendig? Wie wirken Vorurteile und Stereotype? Warum ist <?page no="164"?> Macht von Bedeutung? Und schließlich: Ist Egoismus dem Dialog abträglich? Eine Antwort auf diese Fragen hängt unweigerlich mit den zuvor ausgedeuteten, miteinander beständig konkurrierenden Denkrichtungen und -systemen zu‐ sammen, die einander im theoretischen wie praktischen Kampf der Denksys‐ teme wechselseitig auszuschließen, widerlegen oder vollständig auszutilgen su‐ chen. Auf diese Weise wird das jeweils eigene System aufgewertet, wohingegen dasjenige, mit welchem gerade in unmittelbarer Konkurrenz gerungen wird, eine künstliche Abwertung erfährt. Eine solche Abwertung geht, im theoreti‐ schen Kontext, nicht mehr inhaltlich vor, um konstruktive Kritik an einem Denksystem zu äußern, dass Lücken offenlegt oder bestimmte Schwächen auf theoretischer wie diskursiver Ebene zeigt, die es zu beheben gilt. Vielmehr wird über die Ablehnung einer bestimmten These die systematische Verachtung derjenigen Person propagiert, die diese These vertritt und ein je‐ weiliges Denksystem vorstellt. Aus fachlicher wie sachlich-hilfreicher Kritik erwächst somit Ablehnung und persönliche Diffamierung, die die Person und ihre jeweiligen Denkwege herabwürdigt. Auf derartigen, weit um sich greif‐ enden Kampfplätzen werden etliche durchaus sachdienliche Gedankenexperi‐ mente, Thesen sowie Verfahren auf eine persönliche und individuelle Ebene gezerrt, auf der sie zusammen mit denjenigen Menschen, die sie hervorgebracht haben, vernichtet werden, um einem beliebigen Absolutheitsanspruch einer vorherrschenden Strömung Genüge zu tun und Totalität zuzugestehen. Das Aporiemodell macht deutlich, dass Kommunikationen scheitern, wenn die in ihm enthaltenen Dimensionen der Macht, des Egoismus sowie der kultu‐ rellen Eigenlogik in Kombination oder einzeln neben dem Hang zu absoluten Wahrheitsansprüchen oder Vorurteilen und Stigmatisierungen darum bemüht sind, sich in ihrem jeweiligen Ansinnen durchzusetzen. Tendenzen der Stereo‐ typenbildung sowie die unbedingte Durchsetzung eines Absolutheitsanspru‐ ches sind mit ihrer jeweiligen, forcierten Entschlossenheit nicht nur Hindernisse einer gelingenden Kommunikation, sondern stellen eine essentielle Erschwernis in jedwedem Kontext der Interaktion zwischen Menschen als Individuen oder sogar als Personengruppen und Gesellschaften dar. Ihre direkte Verantwort‐ lichkeit für das Herausbilden und die Ausweitung von Kampfplätzen des Den‐ kens sollten diese und weitere Hinderungsmechanismen zu zentralen Diskus‐ sionspunkten innerhalb der interkulturellen Kommunikation machen, da ihre Auswirkungen unmittelbar und umso schwerwiegender ausfallen. 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 165 <?page no="165"?> 6.1. Rigidität des Absolutheitsanspruchs Das Studium der Kampfplätze des Denkens auf jedwedem Gebiet macht deutlich, dass der Wahrheits- und Absolutheitsanspruch auf den eigenen Standpunkt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, alle Diskurse dominiert. Diese Dominanz ist gleichsam eine Barriere bzw. ein entscheidendes Hindernis der Kommunikation. Eine Folge derartiger Ansprüche ist die Herausbildung von Parteien, Fraktionen und Interessengruppen die sich feindlich gegenüberstehen und einander wech‐ selseitig bekämpfen. Solcherlei Konstellationen erblickt man in Ost-West- Denken und Freund-Feind-Denken, in denen die Welt in freie und unfreie Men‐ schengruppen dividiert wird. Dieses ein- und ausschließende Denken besitzt unmittelbare Folgen für alle Arten der zwischenmenschlichen Begegnungen. Die in der Kulturwissenschaft verwendeten Begriffe von Inklusivität und Ex‐ klusivität artikulieren eine solche Dualität. Sie sind zwei entgegengesetzte Aus‐ drücke, die mit dem erwähnten Wahrheits- und Absolutheitsanspruch zusam‐ menhängen. Es geht um die Beantwortung der Frage, wie inklusive oder exklusive Haltungen Konflikte verursachen oder begünstigen und inwiefern sie ein Hindernis für interkulturelle Kommunikation darstellen. Über die Entste‐ hung der Welt und die Stellung des Menschen im Kosmos gibt es viele Theorien. Die zwei bekanntesten sind die theologischen Schöpfungstheorien abrahami‐ scher Religionen und die darwinistische Evolutionstheorie. Nach theologischen Schöpfungstheorien wird die menschliche Existenz auf einen göttlichen Ur‐ sprung zurückgeführt, wohingegen der Mensch nach darwinistischen Theorien im Prinzip vom Affen abstammt. Die meisten Menschen wollen für sich und für andere in einem guten Licht erscheinen. Zu diesem Zweck, schustert sich jeder seine eigene Wahrheit zu‐ recht. Hier stehen kontradiktorische Theorien einander gegenüber, die nicht nur einen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, sondern auch einen universellen Geltungsanspruch erheben. Beide werfen sich gegenseitig Naivität und reali‐ tätsfernen Illusionismus vor. Der Dreh- und Angelpunkt ist der missionarische Eifer der Vertreter dieser Richtungen. Bevor ich diesen Sachverhalt diskutiere, ist wesentlich zu betrachten, was Wahrheits- und Absolutheitsanspruch be‐ deuten. Ich beginne mit der Klärung von Inklusion und Exklusion. 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 166 <?page no="166"?> 110 Interkulturelle Kommunikation Exklusion bzw. Exklusivität Inklusion bzw. Inklusivität Abbildung 6.2: Ein- und Ausschlussmodell Inklusivität heißt Einschließen und unterstreicht die Zugehörigkeit des Menschen und dies ohne Berücksichtigung seiner Hautfarbe, seiner Sprache und seiner Herkunft. Sie schließt jede Form von Behinderung ein. Alle lernen nach diesem Konzept zusammen und sind quasi gemeinsam verschieden. Das inklusive an der Inklusion ist, dass sich alle gegenseitig als Menschen mit unterschiedlichen Denkformen sowie Selbst- und Weltverhältnissen akzeptieren. Sie beschreibt die reziproke Art und Weise, in der Menschen aufeinander einwirken und gemeinsame Wege gestalten. Der inklusive Wahrheits- und Absolutheitsanspruch richtet sich in die Tiefe der eigenen Überzeugung, nicht aber in die Weite. Dies bedeutet, dass meine religiöse oder nicht religiöse Meinung für mich persönlich absolut ist, ohne dass ich den Gedanken hege, diese anderen Menschen aufzuzwingen. Exklusivität bedeutet hingegen Ausschließlichkeit und ist stets mit einem Wahrheits- und Absolutheitsanspruch verbunden, der je nach Kontext auch strategisch eingesetzt werden kann. Der exklusive Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, der zumeist von der Alpha-Kultur bevorzugt wird, richtet sich dementsprechend nicht nur in die Tiefe der eigenen Meinung. Der Vertreter dieser Haltung hält seine Überzeugung zumeist für eine objektive Wahrheit, erhebt einen Universalitätsanspruch und ist bestrebt, diesen weltumfassend durchzusetzen. Auf das obige Beispiel bezogen, gibt es zumindest zwei Möglichkeiten, mit diesem Sachverhalt umzugehen. Die Vertreter der evolutionistischen und theologischen Schöpfungstheorien werden sich gegenseitig gelten lassen, ohne sich missionarisch bekehren zu wollen. Sie können aber auch, das ist die zweite Möglichkeit, auf einem Alleingültigkeitsanspruch beharren und sich gegenseitig zurückweisen oder sogar praktisch bekämpfen. Orte der Wahrheitssuche sind zumeist Begegnungsorte der sich widerstreitenden Denkformen im Vergleich und Verständnis der Individuen. Im ersten Fall haben wir es mit einem inklusivistischen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch zu tun, der pluralistisch ist und verschiedene Meinungen zulässt, während Letzterer ein deutlicher Ausdruck exklusivistischen Wahrheits- und Absolutheitsanspruches wäre, der andere Ansätze nicht toleriert. Christliche Kreuzzüge und Inquisition sowie Eroberungszüge der Moslems sind Beispiele dieser Art. Für den interkulturellen Dialog sowie die damit verbundenen Ansprüche der Offenheit und Toleranz erweist sich der Begriff einer inklusivistischen Begriffspluralität als nutzbar, derjenige, welcher exklusivistisch verfährt, jedoch nicht. Dies liegt nicht an religiösen Überzeugungen, die meist mit einem exklusivistischen Wahrheitsanspruch einhergehen, sondern vielmehr an der absoluten Ausschließlichkeit, mit welcher dieser Anspruch gegenüber Außenstehenden vertreten wird. Dies haftet jedoch der Religion selbst in ihrer Ursprungsgestalt meist nicht an. Es ist eine Unterstellung, dass Religion per se die Menschen zur Gewalt auffordert. Religion, verstanden als sichtbar gewordene Ur-Sehnsucht des Menschen, ist immer auch mit anthropomorphen Unzulänglichkeiten behaftet, sobald sie durch Institutionalisierung in Menschenhand gerät. Dies zeigen nicht nur organisatorische und politische Ausprägungen innerhalb der Religionsgemeinschaften, sondern auch ökonomische Interessen, die aus der Abbildung 6.2: Ein- und Ausschlussmodell Inklusivität heißt Einschließen und unterstreicht die Zugehörigkeit des Men‐ schen und dies ohne Berücksichtigung seiner Hautfarbe, seiner Sprache und seiner Herkunft. Sie schließt jede Form von Behinderung ein. Alle lernen nach diesem Konzept zusammen und sind quasi gemeinsam verschieden. Das inklu‐ sive an der Inklusion ist, dass sich alle gegenseitig als Menschen mit unter‐ schiedlichen Denkformen sowie Selbst- und Weltverhältnissen akzeptieren. Sie beschreibt die reziproke Art und Weise, in der Menschen aufeinander einwirken und gemeinsame Wege gestalten. Der inklusive Wahrheits- und Absolutheits‐ anspruch richtet sich in die Tiefe der eigenen Überzeugung, nicht aber in die Weite. Dies bedeutet, dass meine religiöse oder nicht religiöse Meinung für mich persönlich absolut ist, ohne dass ich den Gedanken hege, diese anderen Men‐ schen aufzuzwingen. Exklusivität bedeutet hingegen Ausschließlichkeit und ist stets mit einem Wahrheits- und Absolutheitsanspruch verbunden, der je nach Kontext auch strategisch eingesetzt werden kann. Der exklusive Wahrheits- und Absolutheits‐ anspruch, der zumeist von der Alpha-Kultur bevorzugt wird, richtet sich dem‐ entsprechend nicht nur in die Tiefe der eigenen Meinung. Der Vertreter dieser Haltung hält seine Überzeugung zumeist für eine objektive Wahrheit, erhebt einen Universalitätsanspruch und ist bestrebt, diesen weltumfassend durchzu‐ setzen. Auf das obige Beispiel bezogen, gibt es zumindest zwei Möglichkeiten, mit diesem Sachverhalt umzugehen. Die Vertreter der evolutionistischen und theologischen Schöpfungstheorien werden sich gegenseitig gelten lassen, ohne sich missionarisch bekehren zu wollen. Sie können aber auch, das ist die zweite Möglichkeit, auf einem Alleingültigkeitsanspruch beharren und sich gegenseitig 6.1. Rigidität des Absolutheitsanspruchs 167 <?page no="167"?> zurückweisen oder sogar praktisch bekämpfen. Orte der Wahrheitssuche sind zumeist Begegnungsorte der sich widerstreitenden Denkformen im Vergleich und Verständnis der Individuen. Im ersten Fall haben wir es mit einem inklusivistischen Wahrheits- und Ab‐ solutheitsanspruch zu tun, der pluralistisch ist und verschiedene Meinungen zulässt, während Letzterer ein deutlicher Ausdruck exklusivistischen Wahr‐ heits- und Absolutheitsanspruches wäre, der andere Ansätze nicht toleriert. Christliche Kreuzzüge und Inquisition sowie Eroberungszüge der Moslems sind Beispiele dieser Art. Für den interkulturellen Dialog sowie die damit verbun‐ denen Ansprüche der Offenheit und Toleranz erweist sich der Begriff einer in‐ klusivistischen Begriffspluralität als nutzbar, derjenige, welcher exklusivistisch verfährt, jedoch nicht. Dies liegt nicht an religiösen Überzeugungen, die meist mit einem exklusivistischen Wahrheitsanspruch einhergehen, sondern vielmehr an der absoluten Ausschließlichkeit, mit welcher dieser Anspruch gegenüber Außenstehenden vertreten wird. Dies haftet jedoch der Religion selbst in ihrer Ursprungsgestalt meist nicht an. Es ist eine Unterstellung, dass Religion per se die Menschen zur Gewalt auf‐ fordert. Religion, verstanden als sichtbar gewordene Ur-Sehnsucht des Men‐ schen, ist immer auch mit anthropomorphen Unzulänglichkeiten behaftet, so‐ bald sie durch Institutionalisierung in Menschenhand gerät. Dies zeigen nicht nur organisatorische und politische Ausprägungen innerhalb der Religionsge‐ meinschaften, sondern auch ökonomische Interessen, die aus der Religion in rasanter Geschwindigkeit einen selbstversorgenden Wirtschaftsapparat konzi‐ pieren. Ähnlich verhält es sich mit militanten, d. h. durch aggressiven Expansi‐ onsdrang motivierte Untergruppierungen, die im Namen einer eigenen Ausle‐ gung der Ursprungsreligion Kriege beginnen, Menschen unterdrücken und die Religion zu ihrer Antriebsquelle erheben. Dies bringt die jeweilige Religions‐ gemeinschaft als Ganze in Verruf. Die ureigene Aufgabe einer jeden Religion ist aber immer die Veredelung der Seele und die verantwortungsethische Erziehung des Menschen. Sie sorgt sich um das menschliche Seelenheil und sucht nicht nach Wegen, ihn zu Handlungen zu motivieren, die ihren ureigenen Grundsätzen von friedlichem Miteinander zuwiderhandeln. Dass die Unterscheidung von wahrem und falschem Glauben unterschiedlich ausgeprägte Gewaltformen hervorbringt, hat nichts mit der Re‐ ligion an sich zu tun, sondern mit der Veranlagung des Menschen, wie er Glauben auffasst und wie er damit umgeht. Wenn wir erkennen, dass wir nicht in der Lage sind und sein werden, in unserem endlichen Dasein des Unendlichen innezuwerden, so werden wir bescheidener uns selbst und anderen gegenüber. 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 168 <?page no="168"?> Glaube muss nicht zwingend Religion bedeuten; alle wissenschaftlichen oder weltanschaulichen Positionen, die eine bestimmte Einstellung oder Überzeu‐ gung verabsolutieren, sind profane Glaubensformen. Exklusivität ist somit Teil des Kompasses menschlicher Orientierung, der ihn oft irreführt, ohne dass er sich dessen bewusst ist, dass hier nicht die Religion, sondern ihm seine eigene Mentalität zum Verhängnis wird und ihm praktisch im Wege steht. Gewalt ist insofern ein Teil unseres Menschseins, die auch kulturelle, religiöse oder wis‐ senschaftliche Färbungen bekommt, die uns auffordert oder gar zwingt, An‐ dersdenkende als Feinde wahrzunehmen, Vorurteile zu hegen und Stereotype zu formulieren. Aus diesem Grund ist es die Sache des Menschen als Angehörigem einer je‐ weiligen Religions- oder Glaubensgemeinschaft, sich zur friedlichen Koexistenz mit allen Mitmenschen - oder je nach Religion auch allen Lebewesen - zu ver‐ pflichten und die eigentlichen Grundsätze einer solchen Gemeinschaft nicht aus menschlichen, oftmals nicht ganz uneigennützigen Motiven zu verdrehen, um persönliche, politische oder weltliche Macht zu erlangen. Ein solcher Gedanke ist, im Kern seiner Erscheinung, nahezu jeder Religionsgemeinschaft fremd, die die Interaktion mit Andersgläubigen in ihren Grundsätzen behandelt. Die drei abrahamischen Religionen etwa, Judentum, Christentum und Islam, bilden Beispiele dazu aus, dass eine solche, harmonische Konvergenz trotz ihrer jeweils eigenen Grundlagen, nur schwerlich zu erreichen ist, sobald menschliche Interessen sowie vereinfachte Gut-Böse-Relationen zu dominanten Denkstruk‐ turen innerhalb der Religionsgemeinschaft werden. Der Wahrheits- und Abso‐ lutheitsanspruch und die damit verbundene Gewalt sind in allen Bereichen des menschlichen Lebens zu beobachten. Wir alle kennen aus eigener Erfahrung, wie sich viele von uns verhalten, wenn sie meinen, Recht haben zu müssen. Dass auch der Andere Recht haben kann, dem wird häufig kein Gewicht beigemessen. Daher gehören solche ausschließlichen Einstellungen beinahe zu den unaus‐ räumbaren Hindernissen einer jeden Kommunikation. Überzeugungen verleihen dem Leben der Einzelnen Sinn und Bedeutung. Dies ist ein Grund, warum wechselseitige Achtung das Bindeglied von Über‐ zeugung ist. Hinter der Triade ›Wohl zu denken, zu reden und zu handeln‹ steht der Gedanke, dass wir Wünsche, Bedürfnisse und Überzeugungen der Anderen berücksichtigen und fördern sollen. Wer sich vornimmt, jede Form von Wahr‐ heits- und Absolutheitsanspruch konsequent zu vermeiden oder gar gänzlich abzulegen, hat zunächst sich selbst zu überwinden. Aus diesem Grund können fehlgeleitete Überzeugungen oftmals verheerende Folgen für das Miteinander mit anderen Menschen mit sich führen, wenn durch sie etwa bestimmten Radi‐ kalisierungen vorgenommen werden, welche die Verbreitung von Gewalt för‐ 6.1. Rigidität des Absolutheitsanspruchs 169 <?page no="169"?> dern oder Gewalttaten zum kommunikativen Mittel erheben. Dies zeigt sich etwa daran, wenn Mitglieder einer beliebigen Religionsgemeinschaft aktiv dazu aufrufen, die Mitglieder jeder anderen als der eigenen Konfession als Ketzer zu betrachten und zu vernichten, um ihren eigenen Absolutheitsanspruch durch‐ zusetzen. Diese auf die Kampfplätze des Denkens zurückzuführenden Handlungen stellen nicht nur rechtliche, sondern vor allem ethisch-moralische Ausartungen und Perversionen fehlgeleiteter Überzeugungen dar, die Menschen aufgrund bestimmter Stigmatisierungen zu Feindbildern verklären und zum Ziel von An‐ feindungen und Gewalt erklären. Aus den theoretisch erwachsenen Kampf‐ plätzen des Denkens werden hier beängstigend reale Kampfplätze struktureller wie tätlicher Gewalt, die die systematische Vernichtung von Menschen und ihren individuellen Überzeugungen zum Ziel hat. Eine solche Radikalisierung beginnt, wie es sich nicht minder mit allen moralisch bedenklichen Verhaltens‐ weisen ereignet, bereits in wesentlich kleinerem und nahezu alltäglichem Rahmen, namentlich in Stereotypen und Vorurteilen. Mit den Begriffen ›Inklusion‹ und ›Exklusion‹ gehen ›Segregation‹ und ›In‐ tegration‹ zusammen. Während Segregation aussondern aus der Gesellschaft bedeutet, besagt Integration ein einladendes Dazu-Gehören-Wollen des An‐ deren. Um die Inklusion praktisch umsetzbar zu gestalten, muss darüber reflek‐ tiert werden, dass es aufzuhebende Barrieren und Vorurteile in der Gesellschaft gibt, welche allen Formen der Vielfalt entgegenwirken können. Auf diesem Wege können dialogische Kulturen geschaffen, institutionelle Strukturen ge‐ bildet und umsetzbare Praktiken entwickelt werden. Inklusion ist in allen ge‐ sellschaftlichen Zusammenhängen als ein offener Prozess zu begreifen, in Selbstreflexion unterwegs zu sein. Was damit ausgesagt wird, ist, dass Inklusion ein Bürgerrecht darstellt. Inklusives Denken bildet eine gute und praktische Grundlage der interkulturellen Kommunikation, weil dabei Wertschätzung der Diversität und der praktischen Empathie deutlich zum Tragen kommt. 6.2. Sackgasse der Vorurteile und Stereotype Eine Folge des erhobenen Wahrheits- und Absolutheitsanspruchs ist die Ab‐ wertung bzw. Herabsetzung des Anderen, der mit konfliktivem Denken und dem Denken in Klischees eng verbunden ist. Es handelt sich um Vorurteile und Ste‐ reotype, die über den Anderen hereinbrechen und ihm eine jeweilige bestimmte Rolle zuweisen, in der er wahrgenommen wird. Das Phänomen ›Vorurteil‹ fällt nicht aus heiterem Himmel. Es gehört zu unserem Alltag. Vorurteile sind nicht 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 170 <?page no="170"?> 1 Vgl. hierzu Ahlheim, Klaus: Die Gewalt des Vorurteils, 2007. 2 Vgl. Yousefi, Hamid Reza und Matthias Langenbahn: Anatomie der Islamophobie, 2018. 3 Vgl. Cottler, J. und Jaffe, H.: David Livingstone, 1950, S. 8. genetisch verankert, sondern sie werden von Menschen immer erneuert und in unterschiedlicher Weise produziert oder reproduziert. 1 Antisemitismus und Is‐ lamophobie sind zwei klassische Formen des Vorurteils, die mit schwerwie‐ genden Folgen einhergehen. 2 Mit Vorurteilen wird Politik gemacht, dies ohne Unterschied an Stammtischen wie in Plenarsälen. Vorurteile sind bequeme Hal‐ tungen, welche für die zwischenmenschliche Kommunikation von grundleg‐ ender Bedeutung sind. Vorurteile haben unterschiedliche Facetten, die positiv oder negativ sein können. Im Allgemeinen sind sie vorgefasste Meinungen, die in Politik, Wis‐ senschaft, Gesellschaft und vor allem in den Medien zu beobachten sind. Im Rahmen einer jeden Kommunikation, jenseits aller Kontextualitäten, müssen wir uns vergegenwärtigen, was Stereotype und Vorurteile sind, warum wir sie brauchen und verwenden, wie sie zustande kommen, wie wir sie erkennen, Strategien entwickeln und wie wir schließlich damit umgehen. Der schottische Arzt und Missionar David Livingstone (1813-1873) geht vor etwa 200 Jahren nach Afrika, um in verschiedenen Stammesgebieten missi‐ onarisch zu wirken. Dabei besucht er eine Reihe von Stämmen. Zunächst besucht er die Khoikhoi. Als er nach einer Weile zu den Betschuanen weiterwandern will, weisen ihn die Khoikhoi darauf hin, dass diese nicht so friedlich seien wie sie. Livingstone entgegnet: Ihr kennt die Betschuanen nicht. Es könnte sein, dass ihr sie deshalb fürchtet? Ihr solltet vielleicht eure Nachbarn kennenlernen und mit ihnen sprechen. Livingstone lässt sich von seinem Vorhaben nicht abbringen und siehe da! Er wird von den Betschuanen freundlich aufgenommen. Als er zu den Zulus weiterwandern will, wird er, diesmal von den Betschuanen gewarnt, die Zulus wüssten nicht, wie friedfertig wir sind. Livingstone entgegnet auch hier: Ihr fürchtet die Zulus, weil ihr sie nicht kennt. Geht hin und lernt sie kennen! 3 Die Geschichte geht weiter und Livingstone erfährt immer wieder ähnliche Aussagen. Aus unserem Alltag kennen wir vergleichbare Situationen. Der Rei‐ sebericht Livingstones will uns vor Augen führen, wie voreingenommen der Mensch sein kann. Er legt die Selbstwahrnehmung des Eigenen und des Anderen sowie Feindbilder offen, die uns beherrschen. Livingstone demonstriert die So‐ ziologie des Unvermögens, mit dem Andersdenkenden zu sprechen. Er lässt uns 6.2. Sackgasse der Vorurteile und Stereotype 171 <?page no="171"?> Einblick nehmen in Egozentrik und Ethnologie des Gruppenegoismus, die Feindseligkeiten hervorrufen und Kriege verursachen können. Dieses Beispiel verdeutlicht ferner, dass Vorurteile das Ergebnis einer Diffe‐ renzerziehung sind, die in allen Kulturen der Völker in unterschiedlicher Form anzutreffen ist. Kinder werden gewarnt, sich den Anderen, auch Nachbarn, zu nähern, indem unterstellt wird, so etwas gehöre sich nicht, so etwas mache man nicht. ›Lass das bloß sein! ‹ Diese Differenzerziehung bestimmt das Verhalten des Kindes. Kinder neigen in der Regel dazu, elterliche Vorurteile oder die ihrer Bezugspersonen völlig unkritisch zu übernehmen. Dass angeblich ›Zigeuner‹ stehlen, ›Afrikaner‹ stinken oder ›Deutsche‹ Egoisten sind, wird kritiklos über‐ nommen, ohne zu merken, dass es sich um eine unreflektierte Unterstellung handelt. Derartige Unterstellungen sind es, die das Bild einer bestimmten Per‐ sonengruppe, Nationalität oder Kulturgemeinschaft beeinflussen oder prägen und ihre Verankerung im Bewusstsein der meisten Menschen ist deutlich stärker, als Thesen, die der Entkräftung eines derartigen Feindbildes dienen. Dafür liegt derartigen Bildern eine lange und tiefgreifende Entwicklungsge‐ schichte zu Grunde. Aus diesem Grund müssen Bemühungen, die zu einer allmählichen Neutra‐ lisierung derartiger Vorurteile und Ressentiments beitragen wollen, die Struk‐ turen und Ursachen verstehen, die zu solchen Bildern führen. Statt also bloß symptomatische Bereinigungen vorzunehmen, ist es vielmehr die Aufgabe aller als interkulturell angelegter Dialogformen in diesem Feld, nach Gründen und Herkunft derartiger Formen von Ablehnung zu fragen. Ich denke, dass ver‐ ständliche Angst vor Überfremdung und Verlust der Ich- und Wir-Identität un‐ mittelbar und nachhaltig Einfluss auf die Erziehung unserer Kinder nehmen können, insbesondere, wenn dieser nicht durch eine sensible und zukunftswei‐ sende Haltung der Offenheit und Toleranz begegnet wird, die darum bemüht ist, derartige Verhandlungsräume kulturellen Austausches von latenten Formen rassistischer und diffamierender Denkweisen zu befreien. Die Wurzel einer solchen Einstellung liegt in der Differenzerziehung be‐ gründet. Dies sehen wir, wenn die Betschuanen, Khoikhoi oder die Zulus bereits als Kinder von ihren Eltern gezeigt und vorgelebt bekommen, dass die Anderen unberechenbar und gefährlich sind. Die mit den Ausdrücken ›der/ die/ das Fremde‹ verbundenen Konnotationen wie ›Bedrohung‹ oder ›Exoten‹ sind Er‐ gebnisse solcher Erziehungsformen. In Bezug auf unsere Gesellschaft verhält es sich nicht anders. Auch unsere Kinder genießen, von Ausnahmen abgesehen, eine Differenzerziehung, die gleichsam einen Nährboden für internen Rassismus bildet, ohne sich dessen bewusst zu sein, so zu handeln. Vorurteile haben somit eine unreflektierte Ebene und erfahren ihre jeweilige Entfaltung in der Diffe‐ 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 172 <?page no="172"?> renzerziehung. Das Gleiche gilt auch für Erziehungsformen, die Gleichmacherei zugrunde legen. Dadurch entstehen entweder zu weite oder zu enge Grenzen, die der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht förderlich sind. Was aber sind Vorurteile? Ich unterscheide Vorurteile von Vor-Urteilen. 114 anders. Auch unsere Kinder genießen, von Ausnahmen abgesehen, eine Differenzerziehung, die gleichsam einen Nährboden für internen Rassismus bildet, ohne sich dessen bewusst zu sein, so zu handeln. Vorurteile haben somit eine unreflektierte Ebene und erfahren ihre jeweilige Entfaltung in der Differenzerziehung. Das Gleiche gilt auch für Erziehungsformen, die Gleichmacherei zugrunde legen. Dadurch entstehen entweder zu weite oder zu enge Grenzen, die der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht förderlich sind. Was aber sind Vorurteile? Ich unterscheide Vorurteile von Vor-Urteilen. Was sind Stereotype? Interkulturelle Kommunikation Was ist ein Vorurteil? Abbildung 6.3: Vorurteilsmodell Alle Formen von Vorurteilen sind persönlich-negative, ablehnende Beurteilungen oder persönlich-positive, aufwertende Beurteilungen, die einem Menschen, einer Menschengruppe oder einem Sachverhalt gegenüber gepflegt werden. Hier lassen sich befreundete Länder, Gruppen oder Interessengemeinschaften gegenseitig in einem positiven Licht erscheinen, auch wenn dies nicht den Tatsachen entspricht. Durch diese künstliche Aufwertung einer bestimmten Gruppe von Entitäten, Nationen oder Gefügen werden andere, die außerhalb dieser Strukturen stehen, abgewertet. Die ausgesprochenen Vor-Urteile hingegen beschreiben im Sinne einer Vorab-Beurteilung eine revidierbare Erwartungshaltung. Es handelt sich dabei stets um eine vorläufige Meinung, die positiv oder negativ sein kann. Solche Vor-Urteile sind notwendig, weil sich der Mensch stets eine Vorstellung davon macht, wie eine Sache zu beurteilen ist. Er ist bemüht, die Welt auf ein handliches Format zu bringen, um ein gewisses Vorverständnis zu entwickeln. Ob er dabei apozyklisch oder enzyklisch verfährt und die Kontextualitäten sowie Situativitäten und Individualitäten beachtet, hängt mit seiner Einstellung und Intention zusammen. Alexander Thomas gehört zu den wenigen Forschern, die sich mit Vorurteilsformen und Dimensionen der sozialen Einstellung im interkulturellen Kontext beschäftigen. Er analysiert und beschreibt die Bedeutung sowie Funktion sozialer Vorurteile und Stereotypen für die interkulturelle Zusammenarbeit. Dabei charakterisiert er sechs wesentliche Funktionen des Vorurteils, die dem Urteilenden Halt geben und für ihn positiv zu bewerten sind: die Orientierungs-, Anpassungs-, Abwehr-, Selbstdarstellungs-, Abgrenzungs- und Identitätsfunktion; ferner die Steuerungs- und Rechtfertigungsfunktion. 4 Für Thomas stehen, wie die Abbildung zeigt, Kognition, Emotion und Verhalten in einem reziproken Zusammenhang. Aus diesem Zusammenhang heraus entstehen zunächst Vorurteile, die sich dann zu Stereotypen entwickeln. In diesem Stadium folgen drei Schritte aufeinander: Typisiertes Wissen: Andere sind ungebildet, kriminell und aggressiv. Typisierte Emotion: Andere werden abgelehnt, verachtet und bemitleidet. Typisiertes Verhalten: Andere beschuldigen, meiden oder dulden. 4 Vgl. Thomas, Alexander: Bedeutung und Funktion sozialer Stereotype und Vorurteile für die interkulturelle Kooperation, 2000, S. 16 f. Abbildung 6.3: Vorurteilsmodell Alle Formen von Vorurteilen sind persönlich-negative, ablehnende Beurtei‐ lungen oder persönlich-positive, aufwertende Beurteilungen, die einem Men‐ schen, einer Menschengruppe oder einem Sachverhalt gegenüber gepflegt werden. Hier lassen sich befreundete Länder, Gruppen oder Interessengemein‐ schaften gegenseitig in einem positiven Licht erscheinen, auch wenn dies nicht den Tatsachen entspricht. Durch diese künstliche Aufwertung einer bestimmten Gruppe von Entitäten, Nationen oder Gefügen werden andere, die außerhalb dieser Strukturen stehen, abgewertet. Die ausgesprochenen Vor-Urteile hingegen beschreiben im Sinne einer Vorab-Beurteilung eine revidierbare Erwartungshaltung. Es handelt sich dabei stets um eine vorläufige Meinung, die positiv oder negativ sein kann. Solche Vor-Urteile sind notwendig, weil sich der Mensch stets eine Vorstellung davon macht, wie eine Sache zu beurteilen ist. Er ist bemüht, die Welt auf ein handliches Format zu bringen, um ein gewisses Vorverständnis zu entwickeln. Ob er dabei apozyklisch oder enzyklisch verfährt und die Kontextualitäten sowie Situativi‐ täten und Individualitäten beachtet, hängt mit seiner Einstellung und Intention zusammen. Alexander Thomas gehört zu den wenigen Forschern, die sich mit Vorur‐ teilsformen und Dimensionen der sozialen Einstellung im interkulturellen Kon‐ text beschäftigen. Er analysiert und beschreibt die Bedeutung sowie Funktion sozialer Vorurteile und Stereotypen für die interkulturelle Zusammenarbeit. Dabei charakterisiert er sechs wesentliche Funktionen des Vorurteils, die dem Urteilenden Halt geben und für ihn positiv zu bewerten sind: die Orientierungs-, 6.2. Sackgasse der Vorurteile und Stereotype 173 <?page no="173"?> 4 Vgl. Thomas, Alexander: Bedeutung und Funktion sozialer Stereotype und Vorurteile für die interkulturelle Kooperation, 2000, S. 16 f. Anpassungs-, Abwehr-, Selbstdarstellungs-, Abgrenzungs- und Identitätsfunk‐ tion; ferner die Steuerungs- und Rechtfertigungsfunktion. 4 Für Thomas stehen, wie die Abbildung zeigt, Kognition, Emotion und Verhalten in einem reziproken Zusammenhang. Aus diesem Zusammenhang heraus entstehen zunächst Vor‐ urteile, die sich dann zu Stereotypen entwickeln. In diesem Stadium folgen drei Schritte aufeinander: Typisiertes Wissen: Andere sind ungebildet, kriminell und aggressiv. Typisierte Emotion: Andere werden abgelehnt, verachtet und bemit‐ leidet. Typisiertes Verhalten: Andere beschuldigen, meiden oder dulden. 115 Typisiertes Verhalten Kommunikative Folgen von Vorurteilen Typisiertes Wissen Typisierte Emotion Abbildung 6.4: Vorurteilstypologie Stereotype sind generalisierte Vorurteile, die einen ablehnenden oder aufwertenden Charakter haben. Die generalisierenden Vorurteile, welche die Khokhoi, Betschuanen und Zulus gegenseitig pflegen, sind Stereotype, die bedenkliche Feindseligkeiten und Abwehrmechanismen institutionalisieren. Die folgende Erfahrung der Literaturwissenschaftlerin Dubravka Ugrešić (*1949) zeigt einige Stereotype: »Ich hatte eine interessante Kindheit, umgeben von Slowenen, die geizig waren, […] Mazedoniern, die Paprika fraßen, Bosniern, die dumm waren, Albanern, die nicht zu den Menschen zählten, Muslimen, die sechs Zehen hatten [und] Italienern, die lebende Katzen fraßen.« Bei der Auflösung Jugoslawiens dachte die Autorin, solchen Vorurteilen endlich zu entkommen, aber ihre Erwartungen wurden enttäuscht. Auch im vereinten Europa war sie umgeben von »arroganten Franzosen, knickrigen Holländern, Engländern, die nichts verstehen, dreisten Türken [und] Marokkanern, die stehlen wie die Raben.« 5 Alle Formen von Vorurteilen und Stereotypen beschreiben bestimmte Arten von Kampfplätzen der Denkformen, die unterschiedliche Ressentiments und bewusste sowie unbewusste Feindbilder zum Ausdruck bringen. Zu den bekanntesten Feindbildern dieser Art gehören Judophobie, Islamophobie und Fremdenhass. Es ist durchaus möglich, durch die Aneignung der Korrelatbegriffe der Verständigung diese Kampfplätze in ein dialogisches Einvernehmen zu überführen. Die Basis eines solchen Unternehmens ist der immerwährende Versuch, ein wechselseitiges Verstehen in Gang bringen und aufrechterhalten zu wollen. In einem kommunikativen Aushandlungsprozess kann möglich gemacht werden, die Betroffenheit des Anderen internalisierend zu begreifen. Es ist zu empfehlen, sich einen spiegelverkehrten Fall vorzustellen und zu überlegen, wie man sich selbst in einer solchen Situation fühlte, wenn man so angesprochen würde. Diese Spiegelung ist eine dialogische Methode, um das eigene Verhalten und seine Auswirkung auf den Anderen zu reflektieren. Wenn ich sage: ›Die Orientalen neigen zum Fundamentalismus‹, so kann ich dieses Urteil dadurch überprüfen, dass ich die Frage umgekehrt an mich herantrage und die Aussage formuliere: ›Alle Europäer neigen zum Fundamentalismus.‹ In einem solchen spiegelbildlichen Fall wird mir deutlich bewusster, wie sich das Andere durch die Generalisierung meiner Aussage fühlt. Dies bezeichne ich als ästhetische Oberflächlichkeit, indem alles auf eine intellektuelle Ebene diversifiziert wird. Selbst wenn hierbei eine Umkehrung der Perspektive nicht abschließend geleistet wird, wie das gespiegelte Beispiel zeigt, so führt doch die Auseinandersetzung mit der Aussage ›Alle Europäer neigen zum Fundamentalismus‹ unweigerlich zu der Frage, wie Menschen aus anderen als der eigenen Kultur die europäische Kultur sehen, die ebenso gut Ziel derartiger anschuldigender Stigmatisierungen werden könnte. Die diskutierten Beispiele machen deutlich, dass die Frage nach Vorurteilen ein im Menschen tief sitzendes Phänomen darstellt. Vorurteile sind Folgen kultureller Konditionierungen, die 5 Ugrešić, Dubravka: Arrogante Franzosen, knickrige Holländer, in: Die Zeit, Nr. 30 vom 17.07.2003, S. 11. Abbildung 6.4: Vorurteilstypologie Stereotype sind generalisierte Vorurteile, die einen ablehnenden oder aufwer‐ tenden Charakter haben. Die generalisierenden Vorurteile, welche die Khokhoi, Betschuanen und Zulus gegenseitig pflegen, sind Stereotype, die bedenkliche Feindseligkeiten und Abwehrmechanismen institutionalisieren. Die folgende Erfahrung der Literaturwissenschaftlerin Dubravka Ugrešić (*1949) zeigt einige Stereotype: »Ich hatte eine interessante Kindheit, umgeben von Slowenen, die geizig waren, […] Mazedoniern, die Paprika fraßen, Bosniern, die dumm waren, Albanern, die nicht zu den Menschen zählten, Muslimen, die sechs Zehen hatten [und] Italienern, die lebende Katzen fraßen.« Bei der Auflösung Jugoslawiens dachte die Autorin, solchen Vorur‐ teilen endlich zu entkommen, aber ihre Erwartungen wurden enttäuscht. Auch im 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 174 <?page no="174"?> 5 Ugrešić, Dubravka: Arrogante Franzosen, knickrige Holländer, in: Die Zeit, Nr. 30 vom 17.07.2003, S. 11. vereinten Europa war sie umgeben von »arroganten Franzosen, knickrigen Hollän‐ dern, Engländern, die nichts verstehen, dreisten Türken [und] Marokkanern, die stehlen wie die Raben.« 5 Alle Formen von Vorurteilen und Stereotypen beschreiben bestimmte Arten von Kampfplätzen der Denkformen, die unterschiedliche Ressentiments und be‐ wusste sowie unbewusste Feindbilder zum Ausdruck bringen. Zu den bekannt‐ esten Feindbildern dieser Art gehören Judophobie, Islamophobie und Fremden‐ hass. Es ist durchaus möglich, durch die Aneignung der Korrelatbegriffe der Verständigung diese Kampfplätze in ein dialogisches Einvernehmen zu über‐ führen. Die Basis eines solchen Unternehmens ist der immerwährende Versuch, ein wechselseitiges Verstehen in Gang bringen und aufrechterhalten zu wollen. In einem kommunikativen Aushandlungsprozess kann möglich gemacht werden, die Betroffenheit des Anderen internalisierend zu begreifen. Es ist zu empfehlen, sich einen spiegelverkehrten Fall vorzustellen und zu überlegen, wie man sich selbst in einer solchen Situation fühlte, wenn man so angesprochen würde. Diese Spiegelung ist eine dialogische Methode, um das eigene Verhalten und seine Auswirkung auf den Anderen zu reflektieren. Wenn ich sage: ›Die Ori‐ entalen neigen zum Fundamentalismus‹, so kann ich dieses Urteil dadurch über‐ prüfen, dass ich die Frage umgekehrt an mich herantrage und die Aussage for‐ muliere: ›Alle Europäer neigen zum Fundamentalismus.‹ In einem solchen spiegelbildlichen Fall wird mir deutlich bewusster, wie sich das Andere durch die Generalisierung meiner Aussage fühlt. Dies bezeichne ich als ästhetische Oberflächlichkeit, indem alles auf eine intellektuelle Ebene diversifiziert wird. Selbst wenn hierbei eine Umkehrung der Perspektive nicht abschließend ge‐ leistet wird, wie das gespiegelte Beispiel zeigt, so führt doch die Auseinander‐ setzung mit der Aussage ›Alle Europäer neigen zum Fundamentalismus‹ un‐ weigerlich zu der Frage, wie Menschen aus anderen als der eigenen Kultur die europäische Kultur sehen, die ebenso gut Ziel derartiger anschuldigender Stig‐ matisierungen werden könnte. Die diskutierten Beispiele machen deutlich, dass die Frage nach Vorurteilen ein im Menschen tief sitzendes Phänomen darstellt. Vorurteile sind Folgen kul‐ tureller Konditionierungen, die Menschen bereits in der Primärsozialisation durchleben, in der Menschen in Objekte unterteilt werden, mit denen Kinder gemäß der Wünsche ihrer Bezugspersonen umgehen. Hier bilden sich Funda‐ mente für die noch ausstehende Lebensgestaltung des Menschen in der Welt. 6.2. Sackgasse der Vorurteile und Stereotype 175 <?page no="175"?> Die Sekundärsozialisation setzt diese erzieherische Konditionierung durch po‐ litisch geförderten Mainstream fort. Im Erwachsenenalter ist es nicht leicht, sich von diesen nun festgefahrenen Konditionierungen zu befreien und die abge‐ storbene Liebe zum Nächsten und das Interesse für das Andere durch die Brille der Wertschätzung wieder lebendig werden zu lassen. Das Phänomen ›Vorurteil‹ und die damit einhergehende Stereotypenbildung erfüllen diverse Funktionen, die für das Scheitern oder Gelingen der Kommu‐ nikation von grundlegender Bedeutung sind. Vorurteile und Stereotype haben eine Orientierungsfunktion, die dem Eigenen eine prinzipielle Stoßrichtung vorgibt. Eine Identitätsfunktion, die den Platz des Eigenen innerhalb der Kom‐ munikation und weit darüber hinaus bestimmt. Eine Abgrenzungsfunktion, die dem Anderen einen Platz aus eigener Sicht zuweist. Eine Selbstdarstellungs‐ funktion, in der die eigene Allianz, Fraktion oder Interessengruppe künstlich glorifiziert wird. Eine Rechtfertigungsfunktion, die folgerichtig bestimmte Sanktionen dem Anderen gegenüber legitimiert. Derartige Funktionen übersehen in ihrem Selbstverwirklichungswahn die eigene Destruktivität. Sie drücken innerhalb der Kampfplätze des Denkens spe‐ zifische Standpunkte und Mechanismen aus, die das Eigene immer unter dem Stern der Profilierung und das Andere mit dem Vorzeichen der Abwertung ver‐ sehen. In diesem Kontext werden Kulturen, Denksysteme und Theorien miss‐ braucht, um jeweilige Wahrheits- und Absolutheitsansprüche mit weitrei‐ chendem Einfluss zu etablieren. 6.3. Macht und Kommunikation Es ist eine grundlegende Sehnsucht des Menschen, immer gut dastehen zu wollen. Der Gemüsehändler will auf dem Markt den besten Standplatz erhalten, der Tänzer will auf der Bühne der Beste sein, der Spitzensportler die Goldme‐ daille erhalten, die Führungsperson will das bestmögliche Kosten-Nutzen-Er‐ gebnis erzielen und seine Mitarbeiter als etablierte Fachkräfte darstellen, der Autohändler das niedrigwertige Fahrzeug als hochwertig verkaufen, der Poli‐ tiker will im Vorfeld von Wahlen als intelligenter und innovativer Mensch ge‐ feiert werden und ein Kriegsherr beteuert immer wieder seine militärische Machtmaschinerie sowie seine inhärente Friedfertigkeit. Wie diese Beispiele verdeutlichen, lebt im Menschen eine Sehnsucht, erfolg‐ reich zu sein, akzeptiert zu werden und als einzigartig wahrgenommen zu werden. Freilich verbirgt sich hinter dieser Sehnsucht ein versteckter Wille zur Machtausübung. Damit betritt der Mensch ein sensibles Terrain, das jederzeit 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 176 <?page no="176"?> 6 Mehlig, Johannes: Weisheit des alten Indien, 1987, S. 347 f. Eskalationen verursachen kann. Hier besteht fortwährend die Gefahr, dass das Denken auf eine spezifische Weise instrumentalisiert wird. In diesem empfind‐ lichen Gefüge verdeutlichen sich Tendenzen, Anwendungs- und Wirkungsbe‐ reiche sowie Begriffe unterschiedlicher Macht. Es ist deshalb nicht unbegründet zu behaupten, dass auf den Kampfplätzen des Denkens die Erlangung oder die Ersetzung der Macht des Anderen durch das Eigene eine Grundintention darstellt. Diese intrinsische Motivation verführt den Menschen oft zum Vollzug von rigiden und extremen Handlungen, die Hass und Krieg schüren und verursachen können. Im Grunde geht es um unter‐ schiedliche Interessen, die miteinander konkurrieren und sich gegenseitig zu untergraben suchen. Diese Interessen können politischer, ökonomischer, ge‐ sellschaftlicher oder religiöser sowie wissenschaftlicher Art sein und stellen zu‐ gleich den Anspruch der alleinigen Bedeutsamkeit einer Gruppe oder eines ein‐ zelnen Individuums gegenüber dem Rest der Welt dar, der global zum Ausdruck gebracht werden möchte. Diese Eigenschaft ist seine Stärke und Schwäche zu‐ gleich. Stärke, weil er stets bemüht ist, Herr der Natur und übrigen Lebewesen zu werden, was ihm ein gutes Leben ermöglicht. Schwäche, weil er gegen seine Natur aggressiv, unberechenbar und destruktiv auftreten soll. Macht ist somit ein Bestandteil menschlicher Existenz. Sie potenziert die Wirksamkeit des Menschen, dies unabhängig davon, ob sie förderlich oder ver‐ letzend, verbindend oder trennend ausgeübt wird. Das Gespräch zwischen dem griechisch-baktrischen König Menandros und dem buddhistischen Mönchphi‐ losophen Nagasena verdeutlicht die Grenzbereiche der Macht: Der König sprach: »Ehrwürdiger Nagasena, wirst du weiter mit mir diskutieren? « »Wenn du, großer König, in der Sprache eines Gelehrten diskutieren wirst, dann werde ich mit dir diskutieren. Wenn du aber in der Sprache des Königs diskutieren wirst, dann werde ich nicht mit dir diskutieren.« »Wie, ehrwürdiger Nagasena, diskutieren denn die Weisen? « »Bei einer Diskussion unter Weisen, großer König, findet ein Aufwinden und ein Ab‐ winden statt, ein Überzeugen und ein Zugestehen; eine Unterscheidung und eine Ge‐ genunterscheidung werden gemacht. Und doch geraten die Weisen nicht darüber in Zorn. So, großer König, diskutieren die Weisen miteinander.« »Wie aber, Ehrwürdiger, diskutieren die Könige? « »Wenn Könige während einer Diskussion eine Behauptung aufstellen und irgendeiner diese Behauptung widerlegt, dann geben sie den Befehl, diesen Menschen mit Strafe zu belegen. Auf diese Weise diskutieren die Könige.« […] »Ich werde in der Sprache der Weisen diskutieren«, antwortete der König. 6 6.3. Macht und Kommunikation 177 <?page no="177"?> 7 Molla Sadra: Das philosophische System von Schirazi, 1913, S. 107. 8 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 2010, S. 38. Der Analyse dieser Unterredung, worauf ich noch zu sprechen komme, möchte ich die Erklärung voranstellen, was Macht ist. Nach Molla Sadra (1571-1640) ist »Macht eine dispositio des Lebewesens, durch deren Vermittlung eine Handlung aus ihm hervorgehen kann, wenn es will. Ihr Gegenteil ist die Machtlosigkeit. Nach den verschiedenen Handlungen ist die Verschiedenheit der Arten der Macht zu bemessen. Letztere ist eine Eigenschaft, die in ihrem Wesen eine Po‐ tentialität ausdrückt und sich zum Handeln oder Nichthandeln indifferent ver‐ hält. Der Wille hebt diese Indifferenz auf, wenn er von außen hinzutritt. Die Macht aber, die identisch mit der Erkenntnis des Guten ist, ist frei von Poten‐ zialität für das Handeln.« 7 Molla Sadra zeigt, dass der Mensch über das nötige Vermögen verfügt, sich für das Gute oder das Schlechte zu entscheiden, das er in sich trägt. Es ist der freie Wille, der ihm die Möglichkeit gibt, sich für das Eine oder das Andere zu entscheiden. Der Mensch hat folglich die Möglichkeit, von seiner naturgegebenen Macht positiven oder negativen Gebrauch zu machen. Macht bedeutet für Max Weber in diesem Sinne »jene Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« 8 Macht wird hier als eine Fähigkeit verstanden, den eigenen Willen situations- und kontextbedingt, notfalls auch gegen den Willen des Anderen, argumentativ oder gewaltsam durchzusetzen, wobei Gewalt eine theoretische und eine praktische Dimension hat. In jeder Kommunikation wird stets Gewalt in Form von Machtverhältnissen ausgeübt. Diese Form der Machtausübung lässt sich im sozialen, politischen oder wissen‐ schaftlichen Kontext unterschiedlich beobachten. Nach diesem Vorverständnis hat der Machthabende alle Fäden in der Hand: Er kann nach seinem Belieben verteufeln, belohnen oder versklaven, muss es aber nicht. Der Machthabende kann somit eigenmächtig bestimmen, ob und inwieweit er von seiner Macht Gebrauch machen will. Die Frage nach der Aus‐ übung der Macht ist stets in einem kontextuellen Zusammenhang zu betrachten. Hat ein Mensch in einem Kontext keine Macht, so kann er in einem anderen Kontext mächtiger als die übrigen sein. Betrachtet man einen Schüler, der aufgrund seiner geringen Körpergröße gehänselt wird und sich nicht recht verteidigen kann, der aber gleichzeitig der führende Schachspieler seiner Schule, seiner Stadt oder seines Landes ist, so wird ersichtlich, dass er zwar in einem Kontext keine Macht besitzt, aber sich in anderen Kontexten als überlegen erweist. Jeder Mensch, der die Macht in sich entdeckt, wird irgendwie, gemäß seiner inneren Ressourcen und soziokultu‐ 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 178 <?page no="178"?> 9 Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie, 1982, S. 159. 10 Vgl. Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 1991. rellen Hintergründe, zum Pokerspieler seiner selbst, und er spielt oft mit seiner Existenz. »Macht wählt aus«, schreibt Karl Jaspers (1883-1969), »verwirft, lässt vergessen, ruft wieder in Erinnerung. Der Vorrang der Sieger hat die Folge, dass der Besiegte nicht nur seinen Lebensraum, sondern auch sein Wort verliert.« 9 Dies bestärkt nicht zuletzt im politisch-historischen wie gesellschaftlichen Kon‐ text die These, dass die Geschichte immer nur eine Geschichte der Sieger ist. Um sich von einer derartigen Festsetzung zu befreien und die Sichtweisen aller jeweiligen Beteiligten zuzulassen, ist es erforderlich, den Machtbegriff genauer zu analysieren und seine Tragweite sowie Funktionen differenziert darzustellen. Um verschiedene Dimensionen der Macht zu beleuchten, unterscheide ich zwi‐ schen negativer und positiver Macht: 118 kann somit eigenmächtig bestimmen, ob und inwieweit er von seiner Macht Gebrauch machen will. Die Frage nach der Ausübung der Macht ist stets in einem kontextuellen Zusammenhang zu betrachten. Hat ein Mensch in einem Kontext keine Macht, so kann er in einem anderen Kontext mächtiger als die übrigen sein. Betrachtet man einen Schüler, der aufgrund seiner geringen Körpergröße gehänselt wird und sich nicht recht verteidigen kann, der aber gleichzeitig der führende Schachspieler seiner Schule, seiner Stadt oder seines Landes ist, so wird ersichtlich, dass er zwar in einem Kontext keine Macht besitzt, aber sich in anderen Kontexten als überlegen erweist. Jeder Mensch, der die Macht in sich entdeckt, wird irgendwie, gemäß seiner inneren Ressourcen und soziokulturellen Hintergründe, zum Pokerspieler seiner selbst, und er spielt oft mit seiner Existenz. »Macht wählt aus«, schreibt Karl Jaspers (1883-1969), »verwirft, lässt vergessen, ruft wieder in Erinnerung. Der Vorrang der Sieger hat die Folge, dass der Besiegte nicht nur seinen Lebensraum, sondern auch sein Wort verliert.« 9 Dies bestärkt nicht zuletzt im politisch-historischen wie gesellschaftlichen Kontext die These, dass die Geschichte immer nur eine Geschichte der Sieger ist. Um sich von einer derartigen Festsetzung zu befreien und die Sichtweisen aller jeweiligen Beteiligten zuzulassen, ist es erforderlich, den Machtbegriff genauer zu analysieren und seine Tragweite sowie Funktionen differenziert darzustellen. Um verschiedene Dimensionen der Macht zu beleuchten, unterscheide ich zwischen negativer und positiver Macht: Positive Macht Typen der Macht Negative Macht Abbildung 6.5: Typenmodell der Macht Negative Macht ist eine Fähigkeit, die darauf ausgerichtet ist, alles nach einer apodiktischen Selbstgesetzgebung, ohne Rücksicht auf die Interessen des Anderen, zu beherrschen, dies in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. Negative Macht verfährt zentristisch und ihre zugrundeliegende Denkform ist instrumentell. Universalitätskonzepte beruhen auf eine solche instrumentelle Vernunft; eine Denkform, welche im Sinne des radikalen Positivismus nicht die Ziele, sondern ausschließlich die Mittel des Handelns reflektiert. Vordergründlich ist die technische Beherrschung und Unterwerfung von Welt und Natur. 10 Negative Macht ist in der Regel theoretisch wie praktisch gewalttätig. Viele Konflikte und Kriege fußen auf einem solchen Machtbegriff, der nur so verstanden werden will: Die Macht des Eigenen strebt die faktische Ohnmacht des Anderen an. Eine solche ›Hermeneutik der Macht‹ agiert auf der Basis eines ›doppelten Menschenbildes‹: Eines Menschenbildes erster Ordnung, das sich auf das Eigene bezieht und von diesem aus sein Verhältnis zum Anderen definiert. Das Menschenbild zweiter Ordnung ist dem Ersten untergeordnet, so untergliedert sich die Menschheit in Menschen erster und zweiter Klasse. Negative Macht, die oft von Alpha-Kultur ausgeübt wird, verfährt stets verabsolutierend und zentristisch. Dabei geht es um Sicherung eigener Hegemonie durch asymmetrische Dialogführung sowie theoretische und praktische Gewalt. Sie verlangt vom 9 Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie, 1982, S. 159. 10 Vgl. Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 1991. Abbildung 6.5: Typenmodell der Macht Negative Macht ist eine Fähigkeit, die darauf ausgerichtet ist, alles nach einer apodiktischen Selbstgesetzgebung, ohne Rücksicht auf die Interessen des An‐ deren, zu beherrschen, dies in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. Negative Macht verfährt zentristisch und ihre zugrundeliegende Denkform ist instru‐ mentell. Universalitätskonzepte beruhen auf einer solchen instrumentellen Ver‐ nunft; eine Denkform, welche im Sinne des radikalen Positivismus nicht die Ziele, sondern ausschließlich die Mittel des Handelns reflektiert. Vordergründig ist die technische Beherrschung und Unterwerfung von Welt und Natur. 10 6.3. Macht und Kommunikation 179 <?page no="179"?> Negative Macht ist in der Regel theoretisch wie praktisch gewalttätig. Viele Konflikte und Kriege fußen auf einem solchen Machtbegriff, der nur so ver‐ standen werden will: Die Macht des Eigenen strebt die faktische Ohnmacht des Anderen an. Eine solche ›Hermeneutik der Macht‹ agiert auf der Basis eines ›doppelten Menschenbildes‹: Eines Menschenbildes erster Ordnung, das sich auf das Eigene bezieht und von diesem aus sein Verhältnis zum Anderen definiert. Das Menschenbild zweiter Ordnung ist dem Ersten untergeordnet, so unterglie‐ dert sich die Menschheit in Menschen erster und zweiter Klasse. Negative Macht, die oft von Alpha-Kultur ausgeübt wird, verfährt stets verabsolutierend und zentristisch. Dabei geht es um Sicherung eigener Hegemonie durch asym‐ metrische Dialogführung sowie theoretische und praktische Gewalt. Sie ver‐ langt vom Anderen seinen Standpunkt und seine Sicht der Dinge aufzugeben. Er wäre per Dekret verpflichtet, sich dem oder den Machthabenden zu unter‐ werfen. Positive Macht ist hingegen eine Fähigkeit, die darauf ausgerichtet ist, alle möglichen Machtformen einzusetzen, um eine gleichheits- oder gerechtigkeits‐ orientierte Kommunikation zwischen unterschiedlichen Formen des Denkens und Handelns zu ermöglichen, dies in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. Diese Machtform verfährt pluralistisch. Hier werden Kontrollmechanismen ge‐ meinsam erarbeitet und getragen. Sie ist theoretisch wie auch praktisch kom‐ munikativ. Positive Macht befähigt dazu, etwas im Sinn der Gemeinschaft zu verändern und zu gestalten, ohne dem Anderen seinen Freiheitsspielraum zu nehmen. Hier verliert die Vorstellung von der Macht im Zentrum und der Ohnmacht an der Peripherie ihren Boden. Positive Macht erreicht ihre Grenzen dort, wo die Würde des Menschen mittelbar oder unmittelbar verletzt wird. Geleitet ist sie von symmetrischer Dialogführung sowie von theoretischer und praktischer Gewaltlosigkeit. Sie sucht das argumentative Denken und eine dialogische Ho‐ rizontüberlappung. Denn Macht und Gewalt spiegeln nicht das wahre Wesen des Menschen, weil er von Natur aus auch ein Gewissen und Mitmenschlich‐ keitsgefühl hat. Gewalt ist die Folge äußerer Erscheinungen wie Macht und In‐ teresse. Das bereits angeführte Gespräch zwischen Menandros und Nagasena dürfte die Problematik des negativen und positiven Machtgebrauchs verdeutlicht haben. Dieses Beispiel macht deutlich, wann, wo und mit welchen Methoden Machtkonstellationen Diskurse determinieren. Menandros ist ein König, der je‐ derzeit von seiner Macht positiven oder negativen Gebrauch machen kann. Na‐ gasena verfügt jedoch nicht über diese Variabilität der Möglichkeiten. Er kann ausschließlich auf positive Macht setzen, weil der König nach seinem Belieben 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 180 <?page no="180"?> belohnen und bestrafen kann. Macht, wie sie Menandros besitzt, kann Hand‐ lungsregeln definieren und sie eigenständig für allgemeinverbindlich erklären. Das Beispiel von Menandros und Nagasena verdeutlicht letztlich, dass Macht eine konstruktiv-positive und eine destruktiv-negative Dimension besitzt. Wäh‐ rend positive Macht beschützend ist, sucht negative Macht Beherrschung. Drei Gewaltformen können in diesem Zusammenhang auf intra- und inter‐ kultureller Ebene voneinander unterschieden werden, die oft im Diskurs als Konfliktlösungsmethoden zum Einsatz kommen: 1) theoretische Gewalt, durch immerwährende angedrohte Sanktionen und Ausübung von Gruppendruck, 2) strukturell-indirekte Gewalt, durch die Verhinderung der Entwicklung eigener Potentiale und 3) konkret-praktische Gewalt, durch Invasion und Krieg aus‐ geübt. Freilich steckt hinter all diesen drei angeblichen Konfliktlösungen ›Dialog durch Erpressung‹ ein massiver Kampf um Macht, Interessen und Res‐ sourcen, die in vielen Formen auftreten. Weil es bei allen zwischenmenschlichen Konflikten, auch wenn in unter‐ schiedlichen Formen und Intensitäten, um ebendiese drei Kategorien geht, so stehen Gewalt und Kommunikation in einem unterschwelligen Wirkungszu‐ sammenhang, mit denen die Psychologie der Gewaltanwendung verstehbar wird. Gewalt ist eine bestimmte und bestimmende Handlungssteuerung im Kommunikationsprozess. Positive Gewalt im Sinne der positiven Machtaus‐ übung kann beflügeln, während die negativer Art im Sinne der negativen Macht verletzend wirkt und jede wechselseitige Akzeptanz- und Respektebene zu zer‐ stören vermag. Die negative Machtausübung zwingt Individuen in bestimmte Richtungen, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Es ist unübersehbar, dass die immer mehr voranschreitende Technik indirekt Macht auf das Bewusstsein der Zeit sowie unser Welt- und Menschenbild ausübt. Menschen können häufig nicht mehr zwischen Wahrheit und Fiktion unterscheiden. Sie leben im Glauben, über einen großen Bekanntenkreis zu verfügen, haben zahlreiche Internetbekanntschaften, mit denen sie aber im realen Leben kaum etwas zu tun haben. Es handelt sich um eine virtuelle Welt, in die sich viele Individuen hineinbegeben. Auch das Bedürfnis, in Gesprächen immer dabei zu sein, eine Art ›digitaler Gruppen‐ zwang‹, verleitet dazu, dass viele zwar mit ihren Smartphones kommunizieren, Menschen sich aber kaum mehr von Angesicht zu Angesicht unterhalten. Einige Beispiele sollen diese Wirkungskonstellation belegen, die wir in der kommunikativen Praxis immer wieder beobachten können. Hier ist die im Wachsen begriffene Anonymisierung im Zuge der digitalen Identität zu nennen, bei der etwa Menschen durch ihnen persönlich unbekannte Personen zum Ziel von Unterstellungen, Diffamierung oder öffentlicher Diskriminierung werden. 6.3. Macht und Kommunikation 181 <?page no="181"?> Die Möglichkeit, hinter einer beliebigen, pseudonymen Identität verborgen, in eigenem Ermessen die Meinungen, Interessen oder Sichtweisen eines anderen ohne Konsequenzen diskreditieren zu können, schafft auf vielfältige Weise Raum für das Fortbestehen von Anfeindungen, die in letzter Instanz eine be‐ trächtliche Reduktion des Verantwortungsbewusstseins für sich und andere zur Folge hat. Nicht mehr daran gebunden, für eigene Aussagen und Fehler, Kritik oder Versäumnisse verantwortlich zu sein, da man sich nach Belieben hinter einer oder mehrerer pseudonymer Identitäten verbergen kann, so entzieht man sich auf diesem Wege rasch jeder Verantwortung und lässt Aufrichtigkeit und Charakterstärke zu Randerscheinungen in der Gesellschaft verkommen, über deren Vorhandensein im öffentlichen Raum oft nur reines Erstaunen die einzige Reaktion bleibt. Auch Mode ist Ausdruck einer latenten Machtausübung, denn hier sind be‐ stimmte Konzerne, die in einem harten Kampf entscheiden, was ›in‹, also mo‐ dern ist und was als ›altmodisch‹ gilt. Dadurch entsteht auch ein interkultureller Machtstreit, um Vormachtstellung und Gewinnmaximierung in den Märkten. Hier kommen unvermeidlich die Fragen auf: Befinden wir uns nicht im Zeitalter einer ›digitalen Sklaverei‹, die unsere Wahrnehmung beeinflusst? Ist diese Ent‐ wicklung nicht auf eine latente Macht der Konzerne und Medien zurückzu‐ führen? Es ist und bleibt eine zentrale Aufgabe interkultureller Kommunikation, durch die Anwendung positiver Macht die negative Macht und den krankhaften Egoismus zu zügeln. Bestimmend sind moralische Vorstellung, aufgeklärtes Handeln und standpunktbewegliche Denkweise der Individuen. Sie wirken einer Verhärtung jeweiliger vorherrschender Ansprüche entgegen und können dazu dienen, die destruktive Komponente im Kampf der Denksysteme, die letzt‐ lich den Menschen wie auch seine Ideen, Theorien und Thesen schädigen, zu‐ rückweisen oder vernichten, abzuschwächen und in sachbezogene Bahnen zu lenken. Es ist festzuhalten: Der Begriff der negativen Macht kennt ebenso wie der positive Machtbegriff unterschiedliche Ausprägungen in einer jeweils diffe‐ renten Form von Intensität. Nur allzu leicht verfallen insbesondere Menschen in Verantwortungs- und Führungspositionen im öffentlichen, gesellschaftli‐ chen, wissenschaftlichen wie politischem Raume hierbei in bestimmte Formen von tyrannischer Egozentrik, wobei die ihnen eigene Position gestärkt und die anderer kategorisch erniedrigt wird. Derartige Fälle von Machtmissbrauch stellen Extrembeispiele gesellschaftlicher Schädigungsprozesse dar, die sich oft‐ mals mit weitreichenden Konsequenzen verbinden lassen. In einem solchen ge‐ schädigten Umfeld ist es nur noch schwerlich möglich, eine gemeinsame Ver‐ 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 182 <?page no="182"?> handlung zu einem zufriedenstellenden Lösungsprozess aufzunehmen, da oft eine der beiden Seiten nur noch wenig bereit ist, sich noch auf die jeweils andere einzulassen. Für den Begriff der positiven Macht verhält es sich ähnlich, indem eine Situ‐ ation ohne bestehende hierarchische Verhältnisse hierbei ebenso leicht zu einer Form der Aufhebung von geltenden Regeln und Umgangsformen vor kommu‐ nikativem Hintergrund gesehen werden kann. Diese anarchistischen Tendenzen laden oftmals dazu ein, einen machtbereinigten Raum erreichen zu wollen, der sich jedoch durch bestimmte Eigendynamiken unweigerlich wieder zu einem irgendwie gearteten hierarchischen Strukturmodell entwickeln wird. Das Typenmodell der Macht zeigt, dass Kommunikation in Beziehung zu un‐ terschiedlichen Machtbegriffen immer der Gefahr des Scheiterns unterliegt, so‐ fern der jeweilige, situative Machtbegriff nicht in gründlicher, d. h. bereinigten Form vorliegt. Der Begriff der positiven Macht ist hierbei eine mögliche Aus‐ gangsbasis für die Etablierung eines solchen, bereinigten Raumes. Hierbei ist jedoch, wie erwähnt, zu berücksichtigen, dass dem Begriff der positiven Macht anhaftet, nahezu unweigerlich in anarchische und schließlich erneut hierarchi‐ sche Strukturen zu zerfallen. Eine weitere Schwierigkeit hierbei ist es, dass ein solcher, angestrebter hierarchieloser Raum unweigerlich voraussetzt, dass die Kommunikationsbeteiligten einander kundig genug sind, sich selbst insofern zurückzunehmen oder aber genügend situative Spontanität verfügen, jenen an‐ fänglichen, hierarchielosen Zustand insofern zu bewahren, dass Redeanteil und Themenfestigkeit einander fließend abwechseln. Dies alles unterliegt dabei je‐ doch dem notwendigen Imperativ der maßvollen Zurücknahme zweier weiterer, kommunikationsbeeinflussender Größen: Egoismus und eigenes Geltungsbe‐ dürfnis. 6.4. Egoismus und Kommunikation In der menschlichen Natur liegt eine implizite Selbstwertschätzung, die erzie‐ hungsbedingt wie durch äußere Umstände negative Züge entwickeln kann. Habsucht und Egozentrismus sind zwei Auswüchse einer solchen Entgleisung. Es ist in psychologischer Hinsicht zwar wichtig, einen gesunden Egoismus zu entwickeln, um den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Chance zu geben. Problematisch wird dies aber, wenn mit dem eigenen Lebensentwurf und Selbst‐ bild ein Wahrheits- und Absolutheitsanspruch erhoben wird. Deshalb ist es fraglich zu unterstellen, dass der Mensch von Natur aus auf eine bösartige Weise egoistisch ist und ihm dies in den Genen steckt. Es ist schwer zu bestimmen, ob 6.4. Egoismus und Kommunikation 183 <?page no="183"?> es Altruismus ist oder Egoismus, der ihm sein Überleben sichert. Das Gleiche gilt auch für die unterstellte Erbsünde, die es auch in dieser Form nicht gibt. Unter ethischen Gesichtspunkten sind Egoismus und Altruismus für die zwi‐ schenmenschliche Kommunikation grundlegend und ebenso unverzichtbar für das Überleben. Während egoistische Theorien den Menschen von Natur aus für böse halten, der rücksichtslos auf seinen Vorteil bedacht ist und sich selbst als der schlechthinnige Maßstab des Handelns betrachtet, begreifen altruistische Ansätze Menschen als von Natur aus gute Wesen, die sich selbstlos für die An‐ deren einsetzen und die Interessen des Gemeinwohls als Maßstab des Handelns bevorzugen. Die übertriebenen Formen von Altruismus und Egoismus werden als Gefahren der menschlichen Begegnungen betrachtet, wenn wir diese in Übermaß, Untermaß und das weise Maß unterteilen. Die Rede vom Altruismus schließt immer die Frage nach dem Egoismus mit ein. Was ist aber dieser Ego‐ ismus? Das Phänomen ›Egoismus‹ kennt, wie der ›Altruismus‹, viele Erscheinungs‐ formen und spielt bei jeder Kommunikation und in ihren Kontexten eine domi‐ nante Rolle, wobei er nicht per se abzulehnen ist. Durch die differenzorientierte Erziehung und das von Egoismus gesteuerte Gesellschaftssystem entdeckt der Mensch in sich eine Haltung, Ellenbogen und Zähne zu zeigen und andere für seine Belange zu instrumentalisieren. Die Art und Weise, wie wir denken lernen, wie wir kommunizieren lernen oder wie wir handeln lernen, ist stets mit diesem latenten Egoismus verbunden. Auch der Umgang mit Macht und Eigeninteresse liegt tief in diesem Erziehungskonzept und erlernten Egoismus. Der Grad an Egoismus ist in jedem Menschen unterschiedlich. Ein Politiker will, dass die Bürger ihn wählen, ein Gemüsehändler will, dass man seine Waren kauft, ein Lehrer will im Vergleich zu anderen Kollegen besser dastehen als sie, ein Priester erhofft sich zumindest durch seine Wohltätigkeit einen Platz im Himmel, Autoverkäufer oder Wirtschaftsunternehmer setzen alles daran, Ge‐ winne zu machen. Es ist z. B. durchaus legitim, wenn Albert Schweitzer (1875-1965) als ein humaner und helfender Mensch mit 30 Jahren ein Medizin‐ studium beginnt und von da an im afrikanischen Urwald Menschen heilt, ihnen dabei aber in missionarischer Absicht das Evangelium verkündet. Auch wenn Partnerschaften geschlossen werden, so ist Egoismus im Spiel, um z. B. eigene Einsamkeit zu überwinden. Es gibt also keine menschliche Handlung ohne Ei‐ gennutz. Egoismus kennt eine konstruktiv lebensnotwendige Dimension und eine destruktive Seite. Um ein differenziertes Bild dieses Begriffs zu ermögli‐ chen, unterteile ich Egoismus in sechs Typen: 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 184 <?page no="184"?> 122 afrikanischen Urwald Menschen heilt, ihnen dabei aber in missionarischer Absicht das Evangelium verkündet. Auch wenn Partnerschaften geschlossen werden, so ist Egoismus im Spiel, um z. B. eigene Einsamkeit zu überwinden. Es gibt also keine menschliche Handlung ohne Eigennutz. Egoismus kennt eine konstruktiv lebensnotwendige Dimension und eine destruktive Seite. Um ein differenziertes Bild dieses Begriffs zu ermöglichen, unterteile ich Egoismus in sechs Typen: Gesunder Egoismus Strategischer Egoismus Typen des Egoismus Konzentrischer Egoismus Weltanschaulicher Egoismus Gezähmter Egoismus Kranker Egoismus Abbildung 6.6: Typenmodell des Egoismus Wir bezahlen an der Kasse, wir warten bei roter Ampel, wir geben uns Regeln oder lassen uns welche auferlegen. Wir beachten Recht und Gesetz. Dieser gezähmte Egoismus ist eine Egoismusform mit Spielregeln, an die wir uns Zeit unseres Lebens per Gesellschaftsvertrag halten, solange wir am sozialen Leben teilhaben möchten. Wir sind innerhalb einer Gruppe gezähmt egoistisch und sogar solidarisch, nach außen sind wir hingegen gemeinsam gruppenegoistisch. Dementsprechend sind wir unserer Familie, unserem Stadtteil, unserem Land gegenüber zwar solidarisch, den jeweils anderen Gruppen gegenüber aber egoistisch, weil wir gemeinsam mehr erreichen und für uns sichern können. Durch diese jeweilige Identifikation sagen wir dann mit Stolz ›Made in Japan‹ oder ›Made in USA‹ usw. Diese Form ist Egoismus in konzentrischen Kreisen. Wir schmieden Pläne, besuchen Schulungen und lernen Tricks, um besser als andere dazustehen und unsere Ziel schneller zu realisieren. Deshalb bauen wir bewusst und clever kalkuliert das Image des Vertrauenswürdigen auf, taktieren langfristig und setzen auf Partnerschaft und Kooperation. Diese Denkart ist eine strategische Form des Egoismus. Dementsprechend wird es sogar für ethisch verpflichtend betrachtet, seinen Nutzen zu maximieren. Jeder Mensch hat sein eigenes Welt- und Menschenbild, das ihm seine Art zu denken, zu reden und zu handeln bestimmt. Die Verabsolutierung des eigenen Welt- und Menschenbildes artikuliert eine Art weltanschaulicher Egoismus, der jedem echten und offenen Dialog abträglich ist. Das Ergebnis solcher Haltungen ist in der Regel ein Kommunikationsabbruch und ein Streit der Weltanschauungen im Namen eines bestimmten Denkgehäuses. Wir machen in der Regel einen Zaun um unser Grundstück, wir kaufen ein, wo es am billigsten ist usw. Dieser Typ des gesunden Egoismus stellt eine Notwendigkeit im menschlichen Leben dar. Wir benötigen ihn, um im Leben bestehen zu können. Jeder von uns hat den Wunsch, im Vergleich zu anderen ein gutes Examen zu bestehen, Direktor einer Firma zu werden, mehrere Sprachen zu erlernen und im Leben, im Vergleich zu anderen, eine Position zu haben. Das sind wichtige Ziele im menschlichen Leben. Die Frage ist aber stets, wie man diese Ziele erreicht. In uns Menschen lebt auch, wie erwähnt, eine destruktive Form des Egoismus, eine ichsüchtige Eigennützigkeit. Die unersättliche Habsucht und Gier verlangen nach Macht und Dominanz in allen Bereichen des Lebens. Diese Form des Egoismus nenne ich kranker Egoismus, aus dem Kriege und organisierte Gewalt erwachsen. Abbildung 6.6: Typenmodell des Egoismus Wir bezahlen an der Kasse, wir warten an der roten Ampel, wir geben uns Regeln oder lassen uns welche auferlegen. Wir beachten Recht und Gesetz. Dieser ge‐ zähmte Egoismus ist eine Egoismusform mit Spielregeln, an die wir uns Zeit unseres Lebens per Gesellschaftsvertrag halten, solange wir am sozialen Leben teilhaben möchten. Wir sind innerhalb einer Gruppe gezähmt egoistisch und sogar solidarisch, nach außen sind wir hingegen gemeinsam gruppenegoistisch. Dementspre‐ chend sind wir unserer Familie, unserem Stadtteil, unserem Land gegenüber zwar solidarisch, den jeweils anderen Gruppen gegenüber aber egoistisch, weil wir gemeinsam mehr erreichen und für uns sichern können. Durch diese je‐ weilige Identifikation sagen wir dann mit Stolz ›Made in Japan‹ oder ›Made in USA‹ usw. Diese Form ist Egoismus in konzentrischen Kreisen. Wir schmieden Pläne, besuchen Schulungen und lernen Tricks, um besser als andere dazustehen und unsere Ziel schneller zu realisieren. Deshalb bauen wir bewusst und clever kalkuliert das Image des Vertrauenswürdigen auf, taktieren langfristig und setzen auf Partnerschaft und Kooperation. Diese Denkart ist eine strategische Form des Egoismus. Dementsprechend wird es sogar für ethisch verpflichtend betrachtet, seinen Nutzen zu maximieren. Jeder Mensch hat sein eigenes Welt- und Menschenbild, das ihm seine Art zu denken, zu reden und zu handeln bestimmt. Die Verabsolutierung des eigenen Welt- und Menschenbildes artikuliert eine Art weltanschaulicher Egoismus, der jedem echten und offenen Dialog abträglich ist. Das Ergebnis solcher Haltungen 6.4. Egoismus und Kommunikation 185 <?page no="185"?> ist in der Regel ein Kommunikationsabbruch und ein Streit der Weltanschau‐ ungen im Namen eines bestimmten Denkgehäuses. Wir machen in der Regel einen Zaun um unser Grundstück, wir kaufen ein, wo es am billigsten ist usw. Dieser Typ des gesunden Egoismus stellt eine Not‐ wendigkeit im menschlichen Leben dar. Wir benötigen ihn, um im Leben be‐ stehen zu können. Jeder von uns hat den Wunsch, im Vergleich zu anderen ein gutes Examen zu bestehen, Direktor einer Firma zu werden, mehrere Sprachen zu erlernen und im Leben, im Vergleich zu anderen, eine Position zu haben. Das sind wichtige Ziele im menschlichen Leben. Die Frage ist aber stets, wie man diese Ziele erreicht. In uns Menschen lebt auch, wie erwähnt, eine destruktive Form des Egoismus, eine ichsüchtige Eigennützigkeit. Die unersättliche Habsucht und Gier ver‐ langen nach Macht und Dominanz in allen Bereichen des Lebens. Diese Form des Egoismus nenne ich kranker Egoismus, aus dem Kriege und organisierte Gewalt erwachsen. Das Typenmodell des Egoismus zeigt, dass Kommunikation und Egoismus miteinander verbunden sind. Überwiegt das Egoistische in zwischenmenschli‐ chen Begegnungen, so setzt sich dieser Einfluss markant in typischen Erschei‐ nungsformen wie unbeweglicher und starrer Kommunikation durch, in der die auf ihrem Standpunkt beharrende Partei weder auf Kompromissnoch alterna‐ tive Lösungsangebote oder eine rein faktische Klärung eines Sachverhaltes ein‐ geht. Es verdeutlicht sich, dass die hier dargestellten, unterschiedlichen Formen des Egoismus in gemeinsamer Übereinstimmung oder als singulär auftretende Erscheinung das Potential besitzen, jede Kommunikationssituation zu er‐ schweren oder gar zum Scheitern zu verurteilen, sofern der selbstbezogenen Ausrichtung der Absichten der Kommunikanten kein Einhalt geboten wird. Somit verhärten sich die Bedingungen auf den Kampfplätzen des Denkens und tragen, statt zu ihrem Regress und Reduktion zu ihrem Ausbau und ihrer wei‐ teren Ausprägung bei. Weil der Egoismus und seine Erscheinungsformen eine menschliche Kon‐ stante darstellen, ist von Bedeutung, dass Kommunikation eine empathische und damit eine den Egoismus beruhigende Dimension haben sollte, weil wir kaum von anderen erwarten können, ihre eigenen Interessen total in den Hintergrund zu stellen und völlig selbstlos zu handeln. Im Diskurs betrachten und hinter‐ fragen wir diese und ähnliche Formen des Egoismus, die in Gesellschaft, Wis‐ senschaft und Politik anzutreffen sind. Gefühle offenbaren unsere innere Welt, die Wünsche und virulente Bedürfnisse artikulieren. Deshalb ist es wichtig, Kommunikationen so auszurichten, dass eine gemeinsame Bedürfniserfüllung und ein wechselseitiges Wohlergehen der Kommunizierenden gewährleistet 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 186 <?page no="186"?> sind. Hierbei darf durchaus eine Mischung aus angestrebtem Altruismus und gesundem Egoismus zum Tragen kommen. Dies hilft Extrempositionen zu ver‐ meiden. Dadurch kann es gelingen, negative Dimensionen kultureller Konditi‐ onierungen zu minimieren und im Idealfall zu überwinden. 123 Das Typenmodell des Egoismus zeigt, dass Kommunikation und Egoismus miteinander verbunden sind. Überwiegt das Egoistische in zwischenmenschlichen Begegnungen, so setzt sich dieser Einfluss markant in typischen Erscheinungsformen wie unbeweglicher und starrer Kommunikation durch, in der die auf ihrem Standpunkt beharrende Partei weder auf Kompromissnoch alternative Lösungsangebote oder eine rein faktische Klärung eines Sachverhaltes eingeht. Es verdeutlicht sich, dass die hier dargestellten, unterschiedlichen Formen des Egoismus in gemeinsamer Übereinstimmung oder als singulär auftretende Erscheinung das Potential besitzen, jede Kommunikationssituation zu erschweren oder gar zum Scheitern zu verurteilen, sofern der selbstbezogenen Ausrichtung der Absichten der Kommunikanten kein Einhalt geboten wird. Somit verhärten sich die Bedingungen auf den Kampfplätzen des Denkens und tragen, statt zu ihrem Regress und Reduktion zu ihrem Ausbau und ihrer weiteren Ausprägung bei. Weil der Egoismus und seine Erscheinungsformen eine menschliche Konstante darstellen, ist von Bedeutung, dass Kommunikation eine empathische und damit eine den Egoismus beruhigende Dimension haben sollte, weil wir kaum von anderen erwarten können, ihre eigenen Interessen total in den Hintergrund zu stellen und völlig selbstlos zu handeln. Im Diskurs betrachten und hinterfragen wir diese und ähnliche Formen des Egoismus, die in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik anzutreffen sind. Gefühle offenbaren unsere innere Welt, die Wünsche und virulente Bedürfnisse artikulieren. Deshalb ist es wichtig, Kommunikationen so auszurichten, dass eine gemeinsame Bedürfniserfüllung und ein wechselseitiges Wohlergehen der Kommunizierenden gewährleistet sind. Hierbei darf durchaus eine Mischung aus angestrebtem Altruismus und gesundem Egoismus zum Tragen kommen. Dies hilft Extrempositionen zu vermeiden. Dadurch kann es gelingen, negative Dimensionen kultureller Konditionierungen zu minimieren und im Idealfall zu überwinden. Gesunder Egoismus Wechselseitige Bedürfniserfüllung Gesunder Altruismus Gewaltfreie Kommunikation Abbildung 6.7: Zweckmodell Das Zweckmodell ruft ins Gedächtnis, dass Kommunikation, wie auch das tragfähige Zwischen eines respektvollen Miteinander eine labile und schwerlich in immergleiche Bahnen zu haltende, freie Korrespondenz bilden, die einer Vielzahl von Einflussfaktoren ausgesetzt ist und sich mannigfaltig zu präsentieren in der Lage ist. Gleiches gilt für die aus ihrem Scheitern sowie ihrem missgünstigen Verlauf heraus konstituierten Kampfplätze des Denkens, auf denen Ideologien, Ansichten, Thesen und Überzeugungen einander beständig bekämpfen, um das Bestehen und letztendliche Beherrschen einer gegenüber anderen gleichartigen Form zu gewährleisten. Dabei ist es die Mischung aus gesundem Egoismus, dem Streben nach gewaltfreier Kommunikation, gesundem Altruismus sowie einer wechselseitigen Bedürfniserfüllung, die das Gelingen oder Scheitern einer Kommunikationssituation maßgeblich trägt. Abbildung 6.7: Zweckmodell Das Zweckmodell ruft ins Gedächtnis, dass Kommunikation, wie auch das trag‐ fähige Zwischen eines respektvollen Miteinanders eine labile und schwerlich in immergleiche Bahnen zu haltende, freie Korrespondenz bilden, die einer Viel‐ zahl von Einflussfaktoren ausgesetzt ist und sich mannigfaltig zu präsentieren in der Lage ist. Gleiches gilt für die aus ihrem Scheitern sowie ihrem missgüns‐ tigen Verlauf heraus konstituierten Kampfplätze des Denkens, auf denen Ideo‐ logien, Ansichten, Thesen und Überzeugungen einander beständig bekämpfen, um das Bestehen und letztendliche Beherrschen einer gegenüber anderen gleichartigen Form zu gewährleisten. Dabei ist es die Mischung aus gesundem Egoismus, dem Streben nach gewaltfreier Kommunikation, gesundem Altru‐ ismus sowie einer wechselseitigen Bedürfniserfüllung, die das Gelingen oder Scheitern einer Kommunikationssituation maßgeblich trägt. In allen Formen der Kommunikation fließen mehr oder minder Egoismen zusammen. Freilich artikulieren sich die genannten Ausprägungen des Ego‐ 6.4. Egoismus und Kommunikation 187 <?page no="187"?> ismus bei jedem Individuum anders, das sich in diversen Kontexten und Situa‐ tionen unterschiedlich verhält. Echte Kommunikation setzt in diesem Zusam‐ menhang eine Selbstbeherrschung voraus. Dieses wiederum spiegelt zugleich die Notwendigkeit wieder, Kommunikationsakte, unter Berücksichtigung der bisher erarbeiteten und zusammengetragenen Begriffe und Kategorien als ste‐ tigen Prozess des Wandels zu begreifen, der selbst von individueller Situation zu Situation vielfältig verschiebbar und veränderlich ist. Doch ebendiese Be‐ rücksichtigung lässt durchblicken, dass eine Kommunikation ebenso Mecha‐ nismen der Macht beinhaltet, die ihre einzelnen Komponenten verschieben, be‐ einflussen und verändern, gleichsam wie die Akteure selbst durch bestimmte Faktoren der Macht auf unterschiedlichen Ebenen miteinander kommunizieren können und somit hierarchischen Anfälligkeiten ausgesetzt sind. Wie wir sehen: Alle Aktivitäten des Zwischenmenschlichen hängen mit der Art und Weise des Denkens des Menschen zusammen. Die Komplexität, welche eine jede Situation, in der zwei oder mehrere Mit‐ glieder unterschiedlicher Kulturgemeinschaften miteinander sprechen, tritt dabei deutlich hervor und veranschaulicht sich nicht zuletzt, indem wir das hier vorgestellte Orientierungsmuster der darin eingebetteten sieben Schlüsselbe‐ griffe betrachten. Alle diese Begriffe zeigen einen jeweiligen, individuellen An‐ wendungsbereich, bilden jedoch gemeinsam Orientierungsbereiche einer inter‐ kulturellen Praxis ab, deren Anspruch es ist, echte Verständigung zwischen den Kulturen zu schaffen und abseits einer rein theoretisch-gedanklichen Konzep‐ tion wirksam zu sein. 6. Praktische Barrieren der interkulturellen Kommunikation 188 <?page no="188"?> 1 Kuhl, Julius: Was bedeutet Selbststeuerung und wie kann man sie entwickeln? 2004, S. 22. 7. Psychologie der praktischen Kommunikation Die Psychologie der zwischenmenschlichen Kommunikation und Gründe ihres Scheiterns sind weniger beachtet worden. Im Folgenden geht es darum, auf dieses Desiderat einzugehen und zu untersuchen, welche Funktion das indivi‐ duelle Bewusstsein des Menschen innerhalb der Kommunikation spielt und spielen kann. Gründe für unterschiedliche Bewusstseinsfunktionen sind nicht nur soziokulturell und milieugeschichtlich bedingt, sondern rühren in erster Linie von der individuellen Persönlichkeitsstruktur her: »Der Begriff Persön‐ lichkeit beschreibt charakteristische Formen des Zusammenspiels von kogni‐ tiven, emotionalen und motivationalen Prozessen.« 1 Verhaltensweisen und Er‐ lebnisformen des Menschen können durch Beobachtungstechniken der Psychologie beschrieben und charakterisiert werden. Eine grundlegende Frage an dieser Nahtstelle ist, wie sich Bewusstseinsfunktionen beobachten und ana‐ lysieren lassen. Mit folgenden Überlegungen ist der Versuch verbunden, das Wechselverhältnis zwischen Bewusstseinsfunktionen und Selbststeuerungs‐ techniken am Beispiel der analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs und der differenziellen Psychologie von Julius Kuhl (*1947) zu ergründen. Dies vergegenwärtigt sich, wenn zwei Personen aus unterschiedlichen kul‐ turellen Kontexten, sozialen Milieus, gesellschaftlichen Schichten oder indivi‐ duellen Gegebenheiten miteinander ins Gespräch kommen. So avanciert eine jede Kommunikationssituation rasch zu einem repräsentationsfähigen Mikro‐ kosmos, in dem sich die gleichen Erkenntnisse, wie sie in tiefenpsychologischen oder psychopraktischen Studien aufgeschlüsselt werden, wiederfinden lassen. So geschieht es nicht selten, dass Kommunikationssituationen zwischen zwei oder mehreren Teilnehmern immer eine bestimmte Art von Struktur aufweisen, doch dies muss kein Hinderungsgrund für ihren Fortbestand oder ihr Gelingen sein. Vielmehr können bestimmte Strukturelemente in jeweiligen Situationen dazu beitragen, das Gespräch in sinnbringende Bahnen zu lenken oder diesem eine fundierte, nutzbringende Basis zu geben. Dies verdeutlicht sich auch und insbe‐ sondere dann, wenn sich die Kommunizierenden selbst und ihrem jeweiligen Einzelstandpunkt gegenüber eine inhärente Argumentations- und Standpunkt‐ <?page no="189"?> 2 Langenbahn, Matthias: Skepsis als Lebensform, 2017, S. 109. 3 Ebenda, S. 107 beweglichkeit bewahren, die dazu genutzt werden kann, mit einer selbstkriti‐ schen, d. h. skeptischen Sichtweise die eigene Gesprächsstruktur zu analysieren und kritisch zu hinterfragen. Skeptisch heißt in diesem Falle einerseits ›Umschau halten‹ und ›betrachten‹, andererseits ›dahinter spähen‹ und ›infragestellen‹. 2 Ein solcher, neuartiger Skepsisbegriff sieht sich selbst als Methode sowie Modus der Verständigung, dem es darum geht, sowohl fremdkritisch als auch selbstkritisch zu verfahren und gegenüber vorherrschenden Strukturen, Theo‐ rien sowie Argumentationen eine skeptische Distanz zu wahren, die es ihm ge‐ stattet, eine eigene Position zu beziehen. Diese wiederum fußt nicht, im Sinne einer vorwiegend europäisch geprägten, griechisch-antiken Skepsis auf einer bloß erkenntnistheoretischen Analyse, sondern auf ebenjener zuvor erwähnten Standpunktbeweglichkeit. 3 Mit diesem skeptischen Blick als Ausgangsbasis, können Auseinanderset‐ zungen auf den Kampfplätzen des Denkens prinzipielle Deutungsoffenheit sowie Argumentationsaffinität zeigen, die in traditionsverhafteten und festge‐ fahrenen Hierarchiemustern nicht zu erreichen wäre. Das Gleiche gilt auch für säkularistische Extremisten, die ihre Position über alle anderen stellen. Derar‐ tige Kämpfe lassen sich sowohl in Bildungsprozessen als auch in der alltäglichen Lebenswelt der Menschen wiederfinden. Ein solcher prozesshafter Ansatz zeigt sich mit einem zentralen Begriff der Persönlichkeitspsychologie Carl Gustav Jungs, der mit dem an Blaise Pascal (1623-1662) angelehnten Begriff ›être en route‹, das ›Unterwegs-Sein‹ der Entwicklung der menschlichen Identität, Psyche und Person eine Verschränkung sowie die fortwährende Prozessstruktur eines im Wandel befindlichen Seins zugesteht, das niemals aufhört, sich durch seine Erfahrungen zu entwickeln. 7.1. Das Bewusstseinskonzept von Carl Gustav Jung Im Zentrum von Jungs Denkgebäude steht die praktische Strukturanalyse der menschlichen Psyche. Um die Dynamik der Psyche zu ergründen, zieht sich Jung immer wieder in seine eigene Denk- und Phantasiewelt zurück, ohne den Rea‐ litätsbezug aus den Augen zu verlieren. Ihm geht es darum, die Totalität der Psyche zu verstehen und begreifbar zu machen. Die Psyche besteht, seiner Vor‐ stellung nach, aus zwei Dimensionen, die in einem Interdependenzverhältnis stehen: die Sphäre des Bewussten und des Unbewussten. 7. Psychologie der praktischen Kommunikation 190 <?page no="190"?> 4 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen, 10 1960, S. 471. 5 Ebenda. 6 Ebenda, S. 527. Das Bindeglied der beiden Dimensionen ist das Ich. Unter ›Ich‹ versteht Jung »einen Komplex von Vorstellungen« 4 , der ihm das Zentrum seines »Bewusst‐ seinsfeldes ausmacht« und ihm »von hoher Kontinuität und Identität mit sich selber zu sein scheint«. 5 Die eigentliche Funktion des Bewusstseins ist dabei die Pflege der psychischen Inhalte mit dem Ich, die ein Verhältnis unterhalten. Eine individuelle Konstitution des Menschen ist für seinen Umgang mit der sozialen Umwelt von grundlegender Bedeutung, die Jung unter dem Begriff ›Persona‹ zusammenfasst. Sie stellt im Grunde einen Ausschnitt aus dem Ich dar. Das Konzept der kognitiven Systeme Alle Beziehungen, die das Ich nicht als solche wahrnimmt und empfindet, sind nach Jung unbewusst. Das persönlich Unbewusste beschreibt das Vergessene, Verdrängte oder unterschwellig Wahrgenommene oder Gedachte aller Art. Das kollektive Unbewusste umfasst Inhalte aus der ererbten Möglichkeit des psy‐ chischen Funktionierens bzw. der ererbten Hirnstruktur. In seinem psychologi‐ schen Modell bestimmt Jung, neben dem beschriebenen Ich und Bewusstsein, auch das persönlich Unbewusste und das kollektiv Unbewusste. 6 Nach diesem Strukturmodell der Psyche bestimmt Jung die vierfachen Bewusstseinsfunkti‐ onen, Denken und Fühlen sowie Intuieren und Empfinden, wie das Schaubild visualisiert: Empfinden Denken Intuieren Fühlen Das kognitive Systeme Abbildung 7.1: Das Bewusstseinssystem 7.1. Das Bewusstseinskonzept von Carl Gustav Jung 191 <?page no="191"?> 7 Ebenda, S. 457, S. 667, S. 463 und S. 480. Diese Bewusstseinsfunktionen sind im psychischen System eines jeden Indivi‐ duums vorhanden, auch wenn sie bei jedem Menschen unterschiedlich zum Tragen kommen. Sie bestimmen mittelbar und unmittelbar das Kommunikati‐ onsbewusstsein der Individuen sowohl nach innen wie nach außen. Während Denken und Empfinden in der linken Hirnhälfte beheimatet sind, befinden sich Gefühle und Intuition in der rechten Seite des Gehirns. Es ist verschiedentlich zu betrachten, dass Persönlichkeitstypen oder -charaktere von diesen Hemi‐ sphären unterschiedlichen Gebrauch machen. Die linke Hemisphäre des Ge‐ hirns unterstützt mehr die sequentiell-analytische Verarbeitung bei Sprech- und anderen Leistungen, während die rechte Hemisphäre mehr die ganzheitlich-pa‐ rallele Verarbeitung unterstützt. Das Zusammenfließen dieser Bewusstseinsfunktionen bildet das Selbst- und Weltverhältnis der Individuen. ›Denken‹ ist eine psychologische Funktion, mit der wir Vorstellungsinhalte nicht nur verbal, sondern auch begrifflich in Zu‐ sammenhang bringen. Ob dieses Denken aktiv, passiv, assoziativ oder intuitiv ist, hängt mit der Persönlichkeitsstruktur der Individuen zusammen. Ein Mensch mit extrovertierter Persönlichkeitsstruktur benutzt sein Denken anders als ein ängstlicher Mensch. ›Fühlen‹ findet zwischen dem Ich und einem gege‐ benen Inhalt der Außenwelt statt. Im Fühlen schwingt ein Wert mit, der An‐ nehmen oder Zurückweisen in Form von Lust oder Unlust artikuliert. Das Emp‐ finden ist vom Gefühl zu unterscheiden. Es vermittelt physische Reize der Wahrnehmung und ist mit ihm gleichgesetzt. ›Empfinden‹ ist irrational, es be‐ zieht sich nicht nur auf den äußeren physischen Reiz, sondern auch auf die Veränderung der inneren Organe. ›Intuition‹ als eine Art instinktives bzw. ebenfalls irrationales Erfassen vermittelt Wahrnehmungen auf unbewusstem Wege. Der Gegenstand dieser Wahrnehmung umfasst sowohl äußere und innere Objekte oder deren Zusammenhänge. 7 Diesem Sachverhalt nach unterscheidet Jung im Allgemeinen zwei Persön‐ lichkeitstypen: den rationalen Typ, der mit den Polen ›Denken‹ und ›Fühlen‹ arbeitet und eine Erkenntnis als wahr oder falsch bzw. vom Standpunkt der Lust oder Unlust her bewertet. Der irrationale Typ verlässt sich hingegen auf die Pole ›Empfindung‹ und ›Intuition‹. Er urteilt nicht, sondern verlässt sich auf seine Wahrnehmungen. Würde man beide Typen in einem Frühlingsgarten nach ihren Wahrnehmungen befragen, so würde der rationale Typ sich die Blumen, Bäume, die Einstrahlung der Sonne oder die Wirkung des Himmels merken, während der irrationale Typ empfänglich wäre für die positive Gesamtstimmung des Gartens im Frühling. Es wäre hier zu kurz gegriffen, wenn wir - wie Jung dies 7. Psychologie der praktischen Kommunikation 192 <?page no="192"?> 8 Ebenda, S. 1. tut - die Bewusstseinsfunktionen auf zwei Typen des Rationalen und Irratio‐ nalen beschränken würden. Hier sollte jede Form von Stereotypisierung und Reduktion der Vielfalt und Heterogentität vermieden werden. Jung kreuzt die vier kognitiven Typen und verweist dabei im Geiste der ›Praktischen Psychologie‹ darauf, dass es neben vielen individuellen Verschie‐ denheiten der menschlichen Psyche auch »typische Unterschiede gibt«, die er als »Introversions- und Extraversionstyp« 8 bezeichnet. Denken und Fühlen sowie Empfinden und Intuieren seien bei diesen Persönlichkeitstypen unter‐ schiedlich. Jung identifiziert den Denktyp mit dem Introvertierten und den Fühltyp mit dem Extravertierten. Während sich der introvertierte abstrahierend verhält, reagiert der Extrovertierte positiv zum Objekt. Das extravertierte Denken komme dadurch zustande, dass die objektive Ori‐ entierung Übergewicht bekommt. Ein Problem dabei bestehe darin, dass der Extravertierte sich nicht nur in Objekten, sondern auch den Überblick verliere. Der extravertierte Fühltyp unterdrücke zudem auch am meisten sein Denken, weil Fühlen das Denken stören könne. Auch das Empfinden werde hier gehemmt und verdrängt. Die Interaktion richte sich auf äußere Objekte. Anders verhalte es sich beim introvertierten Typ, der sich im Denken in erster Linie an subjek‐ tiven Faktoren orientiere, sein Gefühlsausdruck bleibe spärlich. Das Empfinden gründe sich vorwiegend auf den subjektiven Anteil der Wahrnehmung, wäh‐ rend sich die Intuition auf innere Objekte richte. Alles bleibe bei solchen Per‐ sönlichkeitstypen eine Frage der Innerlichkeit. Das weite Feld der Bewusst‐ seinsfunktionen lässt sich auch hier nicht auf Introvertiertheit oder Extrovertiertheit reduzieren. Dies hängt damit zusammen, dass die vier Funk‐ tionen des Bewusstseins bei jedem Menschen gemäß seiner Sozialisation und seinem sozialen Umfeld unterschiedlich zum Tragen kommen. Emotionen und Kommunikation bilden in zwischenmenschlichen Begeg‐ nungen ein Ganzes. Fühlen und Empfinden beschreiben, als psychologische Grundfunktionen und seelische Regungen des Menschen, den inneren Zustand bzw. die innere Wahrnehmung einer Person in Bezug auf etwas. Dieses Etwas kann eine Person sein, eine Meinung, eine Beziehung oder gar der Ausdruck eines Selbst- und Weltverhältnisses. Wenn bspw. Person A etwas Wahres oder Unwahres ausdrückt, sagt Person B: ›Er sagt die Wahrheit oder die Unwahrheit, ich fühle es‹. Ausdruck und Eindruck gehen Hand in Hand und bestimmen das Wechselverhältnis der Kommunizierenden. Bewusstseinsleistungen und die damit einhergehenden Handlungen des Menschen sind daher ohne Emotionen nicht denkbar. 7.1. Das Bewusstseinskonzept von Carl Gustav Jung 193 <?page no="193"?> 9 Vgl. Fromm, Erich: Anatomie der menschlichen Destruktivität, 1978, S. 366 ff. Anatomie der menschlichen Destruktivität Die Bewusstseinstheorie Jungs kann mit der folgenden Frage eine Erweiterung erfahren: Wie entsteht Gewalt? Ist sie ein endogenes oder psychogenes Phä‐ nomen? Die endogene Gewalt ist eine körperlich begründete Erkrankung. Was das psychogene, d. h. durch äußere Reize oder Beobachtung entstandene Ge‐ waltphänomen anbelangt, so ist folgendes festzustellen: Wo der Mensch spricht und Handlungen vollzieht, begleiten ihn auch seine situationsbedingten Emo‐ tionen und Aggressionen, die stets bestimmte Reaktionen im Geisteskarussell des Gegenübers auslösen und die Richtung der Kommunikation mitbestimmen können. In den kommunikativen Live-Begegnungen spricht das Ganze des Men‐ schen. Dabei drücken sich Emotionen und Aggressionen bei jedem unterschied‐ lich aus, sei es durch verbale Äußerungen oder Gestik und Mimik. Das Anstreben von Vorteilen liegt in der Natur des Menschen, was situationskontext- und individuumsbedingt Entgleisungen verursachen kann. Die oben im ersten Kapitel beschriebene Frage nach Dienst und Verrat am Denken lässt sich, um zwei Begriffe von Erich Fromm zu verwenden, mit ›Biophilie‹ und ›Nekrophilie‹ erklären. 9 Der Mensch ist biologisch, so sagt Fromm, mit der Fä‐ higkeit zur Biophilie ausgestattet, psychologisch aber hat er als Alternativlösung das Potential zur Nekrophilie, die, wie ich meine, erfahrungsabhängig ist, immer von krankhaften Zwängen abgesehen. Beide Begriffe beschreiben gewisse Charakterstrukturen, die bei jedem Men‐ schen kontext-, situations- und individuumsbedingt vorzufinden sind. Biophilie ist die leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen. Der biophile Mensch würdigt das Leben, fördert den Gemeinschaftssinn und Entfaltungs‐ möglichkeiten des Menschen. Er will mehr sein, statt mehr zu haben. Diejenigen, die nach den Prinzipien des Sein-Menschen handeln, tun Gutes, was dem Leben dient. Ein solcher Mensch hat Ehrfurcht vor dem Leben. Nekrophilie beschreibt hingegen eine Leidenschaft, von allem angezogen sein, was tot, vermodert, ver‐ west und krank ist. Es geht um die leidenschaftliche Neigung, das Leben in Un-Leben umzuwandeln. Um eigene leidenschaftliche Egoismen zu stillen und ihren Willen zur Macht zu bestätigen, nehmen nekrophile Menschen jede Form von Zerstörung in Kauf. Ein Haben-Mensch nimmt alles in Kauf, was das Leben erstickt und einengt. Der Haben-Mensch erstellt leicht Kategorien und Setzungen, um andere zu beherrschen. Er entwickelt Totalitarismen, denen alle bedingungslos zu folgen haben. Eine solche globalistische Mentalität finden wir in allen Bereichen der 7. Psychologie der praktischen Kommunikation 194 <?page no="194"?> 10 Vgl. Scherer, Klaus R.: Der aggressive Mensch, 1979, S. 69 ff. 11 Wahl, Klaus: Aggression und Gewalt, 2009, S. 10. 12 Wahl, Klaus: Aggression und Gewalt, 2009, S. 13. Politik, Wissenschaft und Wirtschaft sowie Gesellschaft wieder. Dienst und Verrat am Denken, oder wie Fromm sie nennt, Biophilie und Nekrophilie, sind keine menschlichen Einzigartigkeiten, solange sie nicht als eine Anomalie vor‐ handen sind, sondern Charakterstrukturen, die gebildet werden, wenn der Wille zur Macht jede Destruktivität in Kauf nimmt oder erzeugt. Die Erfolgserwartung verleitet Menschen häufig zum aggressiven Verhalten, sich auch gegen den Willen des anderen durchsetzen. 10 Gerechtigkeit, Men‐ schenrechte und Freiheit, also drei Grundwerte der Demokratie, werden dabei nicht beachtet oder als eine Möglichkeit ausgenutzt, eigene Aggression zu über‐ tünchen oder legitim zu rechtfertigen. Aggression und Gewalt bedingen sich gegenseitig. Sie können verbal wie Beschimpfung und Stichelei oder nonverbal wie Schweigen sowie Arroganz oder Ignoranz sein. Aggression beschreibt eine Verhaltensweise, die im Gegenüber erwidernde Reaktion auslöst. Sie ist eine Mischung aus endogenen und soziogenen Erfah‐ rungen, die sich von Individuum zu Individuum anders äußert: »Form und Stärke der Aggression werden durch die genetische Ausstattung des Indivi‐ duums, seine Sozialisation und gesellschaftliche Umstände gestaltet, aktiviert oder gehemmt« 11 , während Gewalt eine Teilmenge von Aggression darstellt und in der Regel in eine Hierarchie eingebettet ist: »Je nach Situation gibt es gebo‐ tene, gewünschte, geduldete oder geächtete Formen von Gewalt.« 12 Aggression und Gewalt lassen sich nicht rein additiv als biologische Phänomene begründen, weil es in der Natur des Menschen sowohl aggressionshemmenden als auch -fördernden Fähigkeiten und Dispositionen vorhanden sind. Die Psychologie der erwähnten Erfolgserwartung liegt in den früheren Er‐ fahrungen begründet. Lerntheoretisch wissen wir, dass es sich lohnt, da und dort aggressiv zu sein, um bestimmte Ziele zu erreichen. Wer diese Erfolgserfahrung beobachtet, lernt auch, dass es möglich ist, sich ähnlich zu verhalten, um eigene Zwecke zu erfüllen. Diese Tatsache zeigt, dass Aggression nicht kulturbedingt ist und dass wir in keinem Zusammenhang eine kulturbedingte Gewalt be‐ gründen können, ohne rassistisch zu werden. Gewalt und Aggression sind, ob endogen oder psychogen, zutiefst menschlich, und ihr Erlernen ist ebenfalls menschlich. Die Heranwachsenden lernen durch kontextuell variierende Er‐ fahrungen von ihren Bezugspersonen oder einfach in der Gesellschaft be‐ stimmte Handlungsweisen, die sie bei Bedarf auf andere Objekte übertragen können. Wenn sie bspw. sehen, dass es ein Handgemenge gibt und sich jemand 7.1. Das Bewusstseinskonzept von Carl Gustav Jung 195 <?page no="195"?> 13 Kuhl, Julius: Was bedeutet Selbststeuerung und wie kann man sie entwickeln? 2004, S. 30. dabei durchsetzt und dabei etwas geltend macht, so lernen sie, dass sie sich genauso verhalten können. Wenn Menschen sich, um nur ein Beispiel zu nennen, mit dem Helden eines Filmes identifizieren, dann imitieren sie ihn, kleiden sich wie er, reden wie er und wollen wie er das Leben meistern, so meinen sie jedenfalls. Filmtheoretische Studien aus psychologischer Sicht zeigen, dass eine nachgeahmte Kriminalität auf die bereits vorgeführten Ereignisse im Film zurückzuführen sind. Das Gleiche gilt auch für Spielkonsolen, mit denen sich Heranwachsende oder Er‐ wachsene identifizieren und genau diese Figuren sein wollen. Bei solchen Filmen oder Spielen lernt und verinnerlicht der Mensch verschiedene Formen von Gewalt, die ihr Bewusstsein verändern können. Alle Formen der Gewalt sind ein Verrat am Denken. Gewalt findet Befürworter, weil sie vermeintlich Macht und Interesse hervorbringt, das Selbstwertgefühl erhöht und das Selbst‐ vertrauen nachhaltig zu stärken vermag. Bei diesem Vorgang artikulieren sich Denken und Fühlen sowie Empfinden und Intuieren bei jedem anders, worauf stets zu achten ist. Gelingendes Kommunizieren heißt in diesem Sinne richtiges Dekodieren der vier Bewusstseinsfunktionen, die in Begegnungen unter‐ schwellig hin- und her transformiert werden. 7.2. Das Selbststeuerungskonzept von Julius Kuhl Im Zentrum der Überlegungen von Julius Kuhl steht der Begriff der »Selbst‐ steuerung«, mit dem die Fähigkeit einhergeht, »Entscheidungen zu treffen, ei‐ gene Ziele zu bilden und sie gegen innere und äußere Widerstände umzu‐ setzen.« 13 Dabei geht es Kuhl um den Nachweis moderner experimenteller Methoden. Auch hier spielen die Extroversion und Introversion eine Rolle, von der Jung ausgeht. Das Selbst bedeutet im Denken Kuhls ein rechtshemisphärisch unterstütztes System, das eigene Erfahrungen simultan in ein umfassendes System integriert. Dieser denkpsychologische Vorgang vollziehe sich zwar un‐ bewusst, könne aber jederzeit bewusst gemacht werden, während bewusste Ziele stärker durch die linke Hemisphäre des Hirns verwaltet würden. Mit der Selbststeuerung verweist Kuhl auf die zentrale Exekutive, eine Art ›Führungszentrale‹, die mit Hilfe einer ganzen Reihe von Teilfunktionen Infor‐ mationen aus allen Teilen der Persönlichkeit aufnimmt. Die Selbststeuerung, die Kuhl mit ›Willensstärke‹ und ›Selbstdisziplin‹ gleichbedeutend verwendet, kann auf dreifache Weise gefördert werden: Durch Selbstmotivierung, wenn ein 7. Psychologie der praktischen Kommunikation 196 <?page no="196"?> Motivationstief auftritt, durch Emotionsregulation, um handlungsfähig zu bleiben und durch Erregungsregulation, um in bedrohlichen Situationen die Fassung nicht zu verlieren. Eine effiziente Möglichkeit, um die Selbstwahrneh‐ mung zu verbessern, ist nach Kuhl der Selbstausdruck, der von Mensch zu Mensch anders artikuliert wird. Es gibt durchaus Menschen, die ihre Meinungen oder Gefühle verbergen, weil sie befürchten, andere könnten diese Offenheit ausnutzen. Es gibt aber auch Menschen, die solche Befürchtungen weniger oder gar nicht haben. Die zielgerichtete und ressourcenorientierte Entwicklung des Selbstmanage‐ ments in einem korrelativen Zusammenhang mit Selbstregulation und Selbst‐ hemmung sowie Willenshemmung und Selbstkontrolle bilden die solide Grund‐ lage der Stärken-und-Schwächen-Analyse der individuell unterschiedlichen Selbststeuerung. Mit dieser Programmatik will Kuhl das innere Gleichgewicht‐ spotential umfassend in ein Wechselspiel bringen. Diesem Konzept nach zerlegt er die Selbststeuerung, die das folgende Schaubild visualisiert, in zwei verschie‐ dene Analysestufen in ihrer Funktion: 130 Fühlen sowie Empfinden und Intuieren bei jedem anders, worauf stets zu achten ist. Gelingendes Kommunizieren heißt in diesem Sinne richtiges Dekodieren der vier Bewusstseinsfunktionen, die in Begegnungen unterschwellig hin- und her transformiert werden. 7.2. Das Selbststeuerungskonzept von Julius Kuhl Im Zentrum der Überlegungen von Julius Kuhl steht der Begriff der »Selbststeuerung«, mit dem die Fähigkeit einhergeht, »Entscheidungen zu treffen, eigene Ziele zu bilden und sie gegen innere und äußere Widerstände umzusetzen.« 13 Dabei geht es Kuhl um den Nachweis moderner experimenteller Methoden. Auch hier spielen die Extroversion und Introversion eine Rolle, von der Jung ausgeht. Das Selbst bedeutet im Denken Kuhls ein rechtshemisphärisch unterstütztes System, das eigene Erfahrungen simultan in ein umfassendes System integriert. Dieser denkpsychologische Vorgang vollziehe sich zwar unbewusst, könne aber jederzeit bewusst gemacht werden, während bewusste Ziele stärker durch die linke Hemisphäre des Hirns verwaltet würden. Mit der Selbststeuerung verweist Kuhl auf die zentrale Exekutive, eine Art ›Führungszentrale‹, die mit Hilfe einer ganzen Reihe von Teilfunktionen Informationen aus allen Teilen der Persönlichkeit aufnimmt. Die Selbststeuerung, die Kuhl mit ›Willensstärke‹ und ›Selbstdisziplin‹ gleichbedeutend verwendet, kann auf dreifache Weise gefördert werden: Durch Selbstmotivierung, wenn ein Motivationstief auftritt, durch Emotionsregulation, um handlungsfähig zu bleiben und durch Erregungsregulation, um in bedrohlichen Situationen die Fassung nicht zu verlieren. Eine effiziente Möglichkeit, um die Selbstwahrnehmung zu verbessern, ist nach Kuhl der Selbstausdruck, der von Mensch zu Mensch anders artikuliert wird. Es gibt durchaus Menschen, die ihre Meinungen oder Gefühle verbergen, weil sie befürchten, andere könnten diese Offenheit ausnutzen. Es gibt aber auch Menschen, die solche Befürchtungen weniger oder gar nicht haben. Die zielgerichtete und ressourcenorientierte Entwicklung des Selbstmanagements in einem korrelativen Zusammenhang mit Selbstregulation und Selbsthemmung sowie Willenshemmung und Selbstkontrolle bilden die solide Grundlage der Stärken-und-Schwächen-Analyse der individuell unterschiedlichen Selbststeuerung. Mit dieser Programmatik will Kuhl das innere Gleichgewichtspotential umfassend in ein Wechselspiel bringen. Diesem Konzept nach zerlegt er die Selbststeuerung, die das folgende Schaubild visualisiert, in zwei verschiedene Analysestufen in ihrer Funktion: Selbstregulation Selbsthemmung Willenshemmung Selbstkontrolle Selbststeuerung 13 Kuhl, Julius: Was bedeutet Selbststeuerung und wie kann man sie entwickeln? 2004, S. 30. Abbildung 7.2: Das Steuerungssytem Auf der ersten Stufe unterscheidet Kuhl vier Formen der Selbststeuerung, die nicht für den beruflichen und privaten Alltag von Bedeutung sind, sondern auch für die zwischenmenschliche Kommunikation auf jedwedem Gebiet. 7.2. Das Selbststeuerungskonzept von Julius Kuhl 197 <?page no="197"?> 14 Kuhl, Julius: Was bedeutet Selbststeuerung und wie kann man sie entwickeln? 2004, S. 377 f. Selbstregulation und Selbstkontrolle Selbstregulation lässt sich nach Kuhl als eine Form der zentralen Koordination begreifen, die wie das Oberhaupt eines demokratisch geführten Unternehmens oder Landes möglichst viele Stimmen integriert, um zu Entscheidungen und Handlungsabsichten zu kommen. In einer entwicklungspsychologischen Un‐ tersuchung zeigen Kinder mit hoher Ich-Resilienz eine besondere soziale und moralische Intelligenz. Heute kann man nach Kuhl die als Ich-Resilienz be‐ zeichnete Kompetenz mit dem Begriff der ›Selbst-Regulation‹ viel detaillierter als früher beschreiben. Die Idee des ›Inneren Teams‹ von Schulz von Thun (*1944) zeigt auf anschauliche Weise diese innere Führungszentrale 14 , wobei auch das innere Team bei jedem Individuum gemäß seiner Verinnerlichung seiner Bewusstseinsfunktionen völlig anders konstituiert sein kann. Es handelt sich hier um eine Vielfalt, welche für die Praxis einer jeden Form von Kommu‐ nikation schicksalhaft sein kann. Die Selbstregulation umfasst die Fähigkeit, eigene Wünsche und Werte wahr‐ zunehmen und selbstkongruente Ziele zu formulieren, die dem eigenen Weltbild entsprechen. Selbstregulation gilt daher als wesentliche Voraussetzung dafür, dass der Wille, ›richtige‹ Ziele verfolgt, mit denen sich der Betroffene identifi‐ zieren kann. Störungen liegen erst dann vor, wenn der Betroffene viele Ziele formuliert, hinter denen er nicht mit Leib und Seele steht. Zu den Komponenten der Selbstregulation gehört nach Kuhl vor allem die Selbstbestimmung. Mit falschem Selbstvertrauen oder gar positivem Denken kann man nicht immer »richtige Ziele« bilden. Positives und einseitiges Denken führt oft zu einer oberflächlichen und leicht erschütternden Form des Selbstwertgefühls. Die Selbstkontrolle ist die Fähigkeit, Ziele durch Willensstärke und Selbst‐ disziplin auch gegen innere und äußere Widerstände zu verfolgen. Effektive und nachhaltige Selbstkontrolle ist gefordert, wenn beim Verfolgen der Ziele eine Verzichtleistung durch das Zurückstellen eigener Wünsche und Bedürfnisse und kontextbedingt auch eigener Vorstellungen erbracht wird. Selbstdisziplin er‐ möglicht eine Impulskontrolle und unterdrückt dabei diejenigen Systeme im Gehirn, welche die Selbstwahrnehmung und Selbstregulation beeinflussen können. Ein Übermaß bzw. ein Übereifrigsein an Selbstkontrolle und Zielverfolgung, Zielvergegenwärtigung und Selbstdisziplin können Willenshemmungen er‐ zeugen. Allein das Nachdenken über unerledigte Ziele nimmt den Schwung und 7. Psychologie der praktischen Kommunikation 198 <?page no="198"?> 15 Ebenda, S. 35. minimiert den Leistungsumsatz entsprechend. Daher ist grundlegend »ein Gleichgewicht zwischen Selbstkontrolle und Selbstregulation, d. h. zwischen Selbstdisziplin und Selbstwahrnehmung zu erzielen« 15 , um eine gesunde Selbst‐ steuerung entwickeln zu können. Diese Harmonie ist von Bedeutung, weil da‐ durch auch eine Harmonie in der Interaktion der Kommunizierenden herbei‐ geführt werden kann. Willenshemmung und Selbsthemmung Willensstärke erweist sich in vielen Situationen darin, mit dem Handeln zu warten, bis eine günstige Gelegenheit eintritt. Der Ausführungsaufschub einer Handlungsabsicht erfordert geradezu eine Willenshemmung. Besonders wichtig ist diese bei der interpersonalen Kommunikation. Denn ein offener und wert‐ schätzender Dialog mit der Person X, die völlig anders denkt, redet und handelt, erfordert innere Zurückhaltung. Hier muss das Wechselverhältnis zwischen dem eigenen Anspruch und Dialogziel gut kontrolliert und gesteuert werden. Dabei werden Handlungsimpulse unterbunden. Indem man zwar unliebsame Verzichtleistungen erbringt, ebnet man den Weg zu einem dialogischen Wech‐ selverhältnis. Die Willenshemmung ist dementsprechend nicht immer eine Beeinträchti‐ gung der Selbststeuerung, wobei die Hemmung eine besondere Leistung der Selbststeuerung darstellt. Willenshemmung kann entstehen, wenn auf eine pe‐ netrante Art und Weise über unerledigte Ziele nachgedacht und übermäßige Selbstbeherrschung geübt wird. Dadurch besteht unmittelbar die Gefahr, dass die Energie zum Handeln verloren geht. Die Selbsthemmung spielt bei der Selbststeuerung eine grundlegende Rolle. Sie ist eine Fähigkeit, Ziele auch dann nicht aus den Augen zu verlieren, wenn Herausforderungen auftreten. Die Unterdrückung der Selbstwahrnehmung, d. h. Selbsthemmung fördert in erster Linie die Selbstkontrolle und Selbstdisziplin. Dabei geht man in allen Zusammenhängen sowohl mit sich selbst als auch mit anderen Menschen streng um, um Ziele trotz unangenehmer Begleiterschei‐ nungen unnachgiebig zu verfolgen. Die Kehrseite einer übertriebenen Selbst‐ hemmung äußert sich häufig in einer Neigung zum Grübeln oder Beeinträchti‐ gungen der Spontaneität, Schlagfertigkeit oder Kreativität. Die Selbsthemmung hilft, schwierige Pflichten und unangenehme Tätig‐ keiten kontrollierend zu erledigen. Dabei ist nicht auszuschließen, dass ein Übermaß an Selbsthemmung zu Entfremdung von den eigenen Gefühlen, Inte‐ ressen und Werten führt. Das unterdrückte Selbst versucht sich nur noch im 7.2. Das Selbststeuerungskonzept von Julius Kuhl 199 <?page no="199"?> 16 Ebenda, S. 32. 17 Ebenda, S. 319. 18 Ebenda, S. 319. 19 Ebenda, S. 35. lähmenden Grübeln über vergangene Erlebnisse und Erfahrungen. Um Situati‐ onen gut zu meistern, schlägt Kuhl die kontinuierliche Verbesserung des Gleich‐ gewichtspotentials zwischen Selbsthemmung und Selbstbehauptung vor. Sind Werte und Überzeugungen auf dieser Skala der Selbstbestimmung zu niedrig, so können »erhebliche Motivationsdefizite, psychosomatische Beschwerden oder […] Depressionen und andere psychische Erkrankungen auftreten«. 16 Um derartige Defizite zu verringern, schlägt Kuhl Selbstmotivierungsübungen vor, um handlungsfähig zu bleiben und Erregungsregulation, um in bedrohlichen Situationen nicht den Verstand zu verlieren. Eine solche Regulation ist für die Praxis der Kommunikation von Bedeutung. Jede Form von Überkompensation kann zum Scheitern der Kommunikation führen. Wie Kuhl zu Recht erkennt, berücksichtigt Jung in seiner Bewusstseinsthe‐ orie sowohl das logische Denken als auch das ganzheitliche Fühlen, moniert aber gleichsam, dass Jung ihre Wechselwirkung nicht berücksichtige. Kuhl er‐ klärt weiter, Denktypen nach Jung interpretierten die Geschehnisse nach logi‐ schen Gesichtspunkten und Fühltypen nach persönlichem Wert, während sich die Empfindungstypen auf unparteiische Beurteilung konkreter Wahrneh‐ mungen bezögen und Intuitionstypen ohne bewusste Wahrnehmung oder Kon‐ trolle arbeiteten. Kuhl insistiert dabei, dass Empfinden und Intuition heute, im Gegensatz zu Jungs Zeit, »als elementare kognitive Leistungen« 17 , aufgefasst werden, »während Fühlen und Denken höhere kognitive Prozesse be‐ zeichnen.« 18 Wenn gegenüber die individuell unterschiedlichen Intuitionsgaben in Betracht gezogen würden, so könne keine Kommunikation bestehen. Intui‐ tion unterliegt nämlich dem Prinzip der immerwährenden Wandelbarkeit und Spontaneität. Kuhl verweist mit seinen Überlegungen darauf, der situationsangemessene Wechsel »zwischen verschiedenen Formen der Selbststeuerung« 19 trage dazu bei, die eigene Fähigkeit zur Steuerung nicht nur zu erhalten, sondern auch weiterzuentwickeln. Eine solche dynamische Kontinuität erhalte eine Unter‐ stützung durch die Zielvergegenwärtigung der Individuen. Ein Vergleich der Typologie der Bewusstseinsfunktionen Jungs und des persönlichkeitspsycho‐ logischen Selbststeuerungskonzepts Kuhls zeigt, dass Jung eher erlebnisorien‐ tiert arbeitet, während Kuhl sowohl erlebnisals auch handlungsorientiert ver‐ fährt. Kuhl geht es um die handlungssteuernde Wirkung von Emotionen und nicht mehr um eine einseitige Erlebnisorientierung. Beide fassen Individuation 7. Psychologie der praktischen Kommunikation 200 <?page no="200"?> 20 Ebenda, S. 320. 21 Goldberg, Philip: Die Kraft der Intuition, 1995. 22 Kuhl, Julius: Was bedeutet Selbststeuerung und wie kann man sie entwickeln? 2004, S. 115. 23 Ebenda, S. 22. in ihren Theorien als die Entwicklung eines Menschen zu einer unverwechsel‐ baren Persönlichkeit auf, die sich auf das ganze Leben erstreckt. 20 Bei all diesen Komponenten der Selbststeuerung kommen Denken und Emp‐ finden sowie Gefühle und Intuition im Sinne Jungs unterschiedlich zum Tragen. Dies zeigt das Selbststeuerungskonzept Kuhls. Intuition arbeitet nach Kuhl, im Unterschied zum logischen Denken, weniger genau und ist unbewusst, d. h. ohne bewusste Wahrnehmung oder Kontrolle. Sie ereignet sich zwar spontan, ist aber robuster als analytisches Denken, das mit lückenhaften Informationen entweder lahmgelegt wird oder lähmend umgeht. Intuition kann viele Informa‐ tionen gleichzeitig miteinander vernetzen und berücksichtigen. 21 Hier ist darauf hinzuweisen, dass die Intuition wichtiger ist als unberechenbares Denkkalkül. Intuition ist flexibel und entspricht auch der Beweglichkeit der menschlichen Psyche. Individuelle Verhaltenssteuerung ist im Grunde ganzheitlich, also holistisch, und funktioniert neben ihrer Spontaneität und unbewussten Wahrnehmung oder Kontrolle nicht nur anreizunabhängig und flexibel, sondern arbeitet sen‐ somotorisch, d.h., Bewegungstätigkeiten korrelieren mit Sinnesrückmeldungen. Rituale als feste Verhaltensroutinen, die in allen Kulturen der Völker unter‐ schiedlich verwurzelt sind und praktiziert werden, sind Beispiele individueller Wahrnehmung. Jungs und Kuhls Ansichten treffen sich hier, weil sie in ihren Ansätzen Rituale als kontextbildende Zwänge und Urbilder des Lebens be‐ trachten. 22 Unterschiede lassen sich also aufgrund unterschiedlicher Bewusst‐ seinsdynamiken nicht gleichschalten, weil die Lebensdynamik des Menschen im Gegensatz zu Rechnern unergründlich ist. Die ›Differentielle Psychologie‹ geht ebenfalls ansatzweise in diese Richtung. Sie untersucht individuelle Un‐ terschiede in kognitiven, emotionalen oder motivationalen Prozessen, die für die Persönlichkeit relevant sind.« 23 Genau diese differentielle Betrachtung des Bewusstseins kann fruchtbar gemacht werden für die Ausgestaltung der Praxis kommunikativen Handelns. Kuhl moniert, Jung habe zwar das analytische Denken und ganzheitliche Fühlen systematisch thematisiert, allerdings arbeite er nicht das Zusammen‐ wirken heraus bzw. die Wechselwirkung der beiden rationalen Funktionen, die im Zentrum der bestehenden Bewusstseinstheorie steht. Nicht elaboriert würden in seiner Typentheorie die Art und Weise des Informationsaustausches 7.2. Das Selbststeuerungskonzept von Julius Kuhl 201 <?page no="201"?> 24 Ebenda, S. 319. 25 Ebenda, S. 339. zwischen höherem Denken und Fühlen und elementaren Erkenntnisformen. 24 Zu nennen ist auch George Kelly (1905-1967), der eine Persönlichkeitstheorie entwickelt, in der kognitive Prozesse konsequenter als die Typologie Jungs be‐ rücksichtigt wird. Vordergründig sind für Kelly Inhalte kognitiver Konstrukte und die Betonung der explizierbaren Erkenntnisformen der Menschen, denn Konstruktbildung des Menschen sagt immer etwas über ihre Ziele, Interpreta‐ tionen der Geschehnisse und ihr emotionales Reagieren in der Interaktion auf sie aus. Wechselwirkung von Motivationen und Emotionen Motive und Motivationen spielen bei menschlichen Weltbetrachtungen eine in Kombination außerordentlich wichtige Rolle. Motive haben ihre Entstehungs‐ geschichte mit dem Selbst gemeinsam. Sie beruhen auf der Auswertung diverser Erfahrungen, die im autobiographischen Gedächtnis des Menschen verfügbar sind oder waren. Handlungstendierende und bedürfnisfreundliche Funktionen erhält das Selbst stets durch die Integration von Motiven. Kuhl unterscheidet zwischen Motiv, Ziel und Absicht, welche für die Praxis der Kommunikation zu beachten sind. Diese sind »emotionale und kognitive Prozesse, die helfen, Schwierigkeiten zu überwinden, welche bei der Befriedi‐ gung von Bedürfnissen auftauchen.« 25 Die drei Begriffe sind extrinsisch und intrinsisch. Sie stehen mit Denken und Gefühlen sowie Empfindung und Intu‐ ition in Dauerkorrespondenz und stellen eine Brücke zwischen dem Inneren des Individuums mit seiner äußeren Welt dar. Hier spielen nicht nur Introversion und Extraversion der Persönlichkeit eine Rolle, insbesondere, wenn wir das ganze Denkkonzept Jungs mit der Selbststeuerungsidee Kuhls zusammen‐ denken. Motivprägung geschieht dadurch, dass Bedürfnisse mit motivationalen Erfahrungen assoziiert werden. Die am Motivationsgeschehen beteiligten Emo‐ tionen können dadurch bewusst und verbalisierbar sein, wenn sich bspw. das Gelobt-werden für sportliche Leistungen mit dem Bedürfnis nach Entwicklung eigener Fähigkeiten, also dem Leitmotiv verknüpfen. Mit seinem ›operaten Motivtest‹ (OMT) unternimmt Kuhl den Versuch, auch die höchste Ebene der Selbstentwicklung bei der Motivmessung zu berücksich‐ tigen. Der OMT schließt theoretische Fortschritte, die sich aus der Integration selbstregulatorischer Prozesse in der Motivationstheorie ergeben, ein. Zudem gibt es im OMT vier Formen verhaltensbahnender Motive: Kodierung, ob nicht nur eines der drei Hauptmotive, nämlich Anschluss, Leistung und Motiv vor‐ 7. Psychologie der praktischen Kommunikation 202 <?page no="202"?> 26 Ebenda, S. 410. 27 Ebenda, S. 412. 28 Ebenda, S. 378. liegt, sondern auch, ob eine verhaltensbahnende oder eine verhaltenshemmende Form vorhanden ist. 26 Zu betonen ist, dass der OMT zusätzliche Funktions‐ merkmale des Leistungsmotivs wie die Vernetzung mit selbstregulatorischen Kompetenzen misst. Auf diesem Wege sollten ganzheitliche und analytische Er‐ kenntnis nicht getrennt betrachtet werden, mag ihre Trennung auch für die Erkenntnisdynamik des Bewusstseins und die Selbstentwicklung noch so wichtig sein. Sobald diese aber dazu führen sollte, dass Menschen ihre Ziele nicht mehr mit dem inneren Netzwerk bzw. dem inneren Team eigener Motive ab‐ gleichen, scheint das Risiko psychischer Störungen zu steigen. 27 Dies ist ein Grund, warum der Korrumpierungseffekt bei der Frage nach Mo‐ tivationsmessung eine wesentliche Rolle spielt. Dieser beschreibt das Phä‐ nomen, dass die intrinsische, also die aus der Seele kommende Freude an einer Tätigkeit verloren gehen kann, wenn man für ihre Ausführung belohnt wird. Die Vertreter der Selbstbestimmungstheorie sind der Ansicht, der Korrumpie‐ rungseffekt beruhe auf Fremdbestimmung, die fast jede Belohnung, wenn auch auf subtile Weise, mit sich bringe, denn damit werde das Bedürfnis nach Selbst‐ bestimmung verletzt. Personen mit hoher Furcht vor Machtverlust reagieren entsprechend auf Situationen, die den Verlust der freien Selbstbestimmung er‐ warten lassen. Machtmotivation besteht demnach darin, sich das eigentliche Bedürfnis nach Freiheit durch eigene Willensanstrengung zu erfüllen. Funktionalität des Selbststeuerungskonzeptes Im Folgenden wird der Versuch unternommen, das Selbststeuerungskonzept Kuhls in seiner konkreten Funktionalität zu beleuchten. Selbstkontrolle ist durch den Anschluss vom Ziel ablenkender Kräfte charakterisiert. Sie lässt sich mit der Disziplin des expliziten Ich vergleichen, das Gedanken, Gefühle oder Handlungstendenzen ausfiltert oder sogar unterdrückt, welche die Ausführung der aktuellen Intention gefährden. Darin liegt ein möglicher Grund, dass die intrinsische Freude an einer Tätigkeit gerade dann verloren gehen kann, wenn die Person durch innere oder äußere Kontrollmaßnahmen zur Ausführung ver‐ anlasst wird. 28 Die autoritäre Steuerungsform kann aktiviert werden, wenn Belohnung als Druckmittel aufgefasst wird. Selbstkontrolle verengt in diesem Moment das in‐ nere Erleben auf diejenigen Aspekte, die belohnt werden. Wenn die Selbstkon‐ trolle in diesem Zusammenhang gegen konkurrierende Emotionen und Hand‐ lungstendenzen arbeitet, statt sie einzubringen, sollte Selbstkontrolle 7.2. Das Selbststeuerungskonzept von Julius Kuhl 203 <?page no="203"?> 29 Ebenda, S. 406. anstrengender und ermüdender sein als andere Formen der Selbststeuerung. Experimentelle Versuche zeigen also, dass »Personen mit einer starken Selbst‐ kontrolle […] unter der Belohnungsbedingung sogar weniger an ihren Vorsätzen« umsetzen »als unter der Selbststeuerungsbedingung.« 29 Intrinsisch orientierte Motivation ist letztlich stabiler und wirkungsmächtiger als eine extrinsische oder auf reiner Belohnung beruhende Motivation. Die Bewusstseinsfunktionen Jungs und das Selbststeuerungskonzept Kuhls können unter Berücksichtigung von Individualität, Kontextualität und Situati‐ vität für die Praxis der Kommunikation fruchtbar gemacht werden. Dies hängt damit zusammen, dass Individuen unterschiedlich mit den vier Bewusstseins‐ funktionen umgehen und dementsprechend eine völlig andere Selbststeuerung bevorzugen als die anderen. Von besonderer Wichtigkeit ist hier eine kommu‐ nikative Korrelation zwischen Selbstkontrolle und Selbstregulation sowie Selbsthemmung und Willenshemmung auf den Kampfplätzen des Denkens. 7.3. Kommunikation und Erziehung Einen langen Erkenntnisweg haben wir zurückgelegt. Absicht war bei all diesen Erkenntniswegen zu zeigen, wie eng Denken und Kommunikation im Haushalt der menschlichen Aktivitäten und Beziehungsformen zusammenhängen. Ge‐ zeigt wurde auch, dass Macht und Interesse auf bestimmte Denkweisen zurück‐ zuführen sind, die wiederum mit einer Praxis diverser Denknutzungen einher‐ gehen. Dies begründet, warum im Rahmen der zwischenmenschlichen Kommunikationen auf jedwedem Gebiet von Kampfplätzen des Denkens die Rede sein kann. Am deutlichsten zeigt dieses Verhältnis die Geschichte des Hammersuchenden von Watzlawick. Der Mensch verfügt über ein autobiographisches Gedächtnis, mit dem die Gestaltung und Verfestigung seiner Identität eng verbunden ist. Menschen ent‐ wickeln sich im Zuge ihrer Zivilisation ein konkretes Selbstbild, das wichtig ist für das Erkennen und Abgrenzen von anderen Selbstbildern. Eine wesentliche Funktion der Identität besteht dabei in der Interpretation und Legitimation ei‐ gener Handlungen in allen Kontexten des Lebens. Soziale Interaktionen beruhen demzufolge auf der intentionalen Deutung menschlichen Handelns, das stets mit Zielen, Absichten, Wünschen oder Plänen verbunden ist. Folgende Beispiele mögen dies verdeutlichen: Ein Politiker unterstellt seinem Gegner Böses und 7. Psychologie der praktischen Kommunikation 204 <?page no="204"?> 30 Ghazali, Abu Hamed: Der Erretter aus dem Irrtum, 1988, S. 5. versucht, ihn zu verunglimpfen, um selbst gut zur Geltung zu kommen. Ein Student lernt intensiv und nachhaltig, um einen guten Abschluss zu erzielen. Diese und ähnliche Handlungen als Produkte des Zusammenflusses der er‐ wähnten vier Bewusstseinsfunktionen gehen mit dem Willen einher, etwas zu erlangen. Dieses Etwas kann auf Macht und Interesse auf allen menschlichen Ebenen bezogen sein. Diese Denkhaltung macht aus dem Feld der möglichen dialogischen Kommunikation ein Konfliktplatz der Denkformen und Lesarten. Persönlichkeit und individuelle Charaktere des Menschen und damit auch die Grundstrukturen seiner Selbst- und Weltbeziehung gestalten sich biographisch sehr früh und erhalten immer mehr Konturen im Verlauf der Sekundärsoziali‐ sation. Persönlichkeit und Charakter des Menschen gehen also eine Mischung von genetischen Zügen und sozialisationsbedingten Bezügen ein, denen wir Beachtung schenken müssen, wenn wir über die Gründe des Scheiterns und Gelingens zwischenmenschlicher Kommunikation nachdenken wollen. Es ist also das Denken, das die Kommunikationsgestaltung und ihre Praxis erheblich bestimmt. Betrachten wir alleine die sieben diskutierten Korrelatbe‐ griffe der Kommunikation so zeigt sich auch die enge Korrespondenz und In‐ terdependenz zwischen Denken und Kommunikation. Auch im Hinblick auf die Hindernisse der Kommunikation sowie Vorurteils- und Stereotypenbildung ent‐ stammen bestimmten Denkweisen und Denknutzungen, die folgerichtig Denk‐ leistungen hervorbringen, die für das zwischenmenschliche Kommunizieren schicksalhaft sein können. Nun stellt sich die Frage, wie Denkformen im Haushalt des menschlichen Lebens entstehen können. Der Entstehungsgrund aller Denkformen liegt in der Erziehung. Bereits Ghazali hat auf das symbiotische Wechselverhältnis zwi‐ schen Erziehung und Denkformen hingewiesen: »Jedes Kind«, schreibt er, »wird in seiner natürlichen Beschaffenheit geboren. Es sind seine Eltern, die ihn zum Juden, zum Christen […] machen.« 30 Diese 1300 Jahre alte Feststellung des Philosophen hat kaum an Aktualität eingebüßt. Ghazali verweist in der Tat auf Erziehung, die als Kampfmittel der zwischen‐ menschlichen Begegnungen eingesetzt werden kann. Wie wir dies beim Er‐ kenntnismodell bei Jean Piaget gesehen haben, beginnt die Erkenntnisbildung bei Heranwachsenden bereits in den ersten Lebensjahren und hört nie auf, grundlegende Umwälzungen im menschlichen Geisteskarussell herbeizuführen. Hierbei spielen die vier Bewusstseinsfunktionen eine grundlegende Rolle, welche für die Selbststeuerung der Individuen richtungsweisend sind. Der Ge‐ hirnforscher Wolf Singer (*1943) verweist auf die Überlegungen von Ghazali und 7.3. Kommunikation und Erziehung 205 <?page no="205"?> 31 Singer, Wolf: Was kann der Mensch wann lernen, 2000, S. 179. Piaget. Singer geht es um das Wechselverhältnis zwischen Genetik und indivi‐ duellen unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen im Erziehungskonzept: »Da die grundlegenden Merkmale der Persönlichkeit, die kognitiven Leis‐ tungen, die Art des Sich-in-der-Welt-Fühlens, der Kommunikationsfähigkeit und der Kompetenz sehr früh festgelegt werden, hängt das In-der-Welt-Sein des Menschen in hohem Maße nicht nur von der genetischen Ausstattung, sondern auch von den Erfahrungen mit der Welt und von Erziehung ab.« 31 Entwicklungspsychologisch betrachtet, übt die soziale Umwelt einen erheb‐ lichen Einfluss auf das Selbst- und Weltverhältnis der Heranwachsenden aus. Gemeint sind Menschen aus unterschiedlichen Milieus, die sich gegenseitig be‐ einflussen. Ein besonders wichtiger Einflussfaktor dabei ist die kulturelle Ein‐ bettung, in der diese Milieus entstehen. Die dominierende Rolle spielt aber nicht die Kultur an sich, sondern die Art und Weise der Erziehung, die sich vorwiegend zu Hause ereignet. Das Elternhaus bestimmt in hohem Maße den Bereich der Erfahrungen und Ergebnisse, die dem Kind geboten werden. Das Kind bemüht sich dementsprechend, in einem unbewussten Vorgang, sein Verhalten danach auszurichten. In jedem Elternhaus herrscht, obgleich sich alle innerhalb einer kulturellen Einbettung entwickeln, vor allem wegen unterschiedlicher Bildungskonstella‐ tionen der Elternteile, gewisse Eigentümlichkeiten, wie Lebensauffassung, Wer‐ tesysteme und Verhaltensweisen, wie dem selbständigen Lösen von Problemen, der Unabhängigkeit vom eigenen Elternhaus oder der Suche nach einem ange‐ messenen Beruf. Unterschiede im Erziehungsstil, so z. B. Selbständigkeit und Selbstvertrauen oder Befehle, Drohungen, körperliche Züchtigung, Entzug von Taschengeld oder Vergnügen sowie strenge Bestrafung, nehmen Einfluss auf die Persönlichkeitsstruktur der Heranwachsenden und damit auch auf die Begeg‐ nung und Kommunikation mit anderen. Diesem Konzept nach verweist Singer auf etwas Elementares. Man möge sich vorstellen, dass die Eltern ihre Kinder, aufgrund eigener Erziehungsdefizite oder erzeugt durch bestimmte soziokulturelle Faktoren autoritär, antiautoritär, reli‐ giös, antireligiös oder permissiv erziehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit nimmt dieser Erziehungsstil Einfluss auf Denken und Denkweisen des zu Erziehenden. Ein Heranwachsender, der Zeit seines Lebens unter Unerwünschtheit, Ach‐ tungslosigkeit leidet oder sexualisierter und häuslicher Gewalt ausgesetzt ist, kann in der Regel weniger Empathiefähigkeit entwickeln als Heranwachsende, die in klaren, auch mit Grenzen versehenen Erziehungsformen aufwachsen. 7. Psychologie der praktischen Kommunikation 206 <?page no="206"?> 32 Vgl. Müller-Rolli, Sebastian: Erziehung und Kommunikation, 2013. 33 Vgl. Beaugrand, Andreas: Lehr- und Lernmethoden im dualen Studium, 2017, S. 29 f. 34 Vgl. Koller, Hans-Christoph: Bildung anders denken, 2018, S. 162 ff. Der Mensch ist von Geburt an unbeholfen und den Zwängen der Natur aus‐ gesetzt. Ohne Hilfe der Elternteile und Bezugspersonen ist er, wie Ghazali her‐ vorhebt, kaum in der Lage, überlebensfähig zu sein. Dies zeigt, dass der gesamte Werdegang des Menschen mit etwas zusammenhängt, was man gemeinhin ›Er‐ ziehung‹ nennt. Erziehung vermag aus Menschen das zu machen, was sie sind und was sie nicht sind. Erziehung ist diejenige Instanz, die Menschen Sinn und Orientierung im Leben vermittelt. Sie befreit den Menschen aus seiner ursprün‐ glichen Rohheit und vermittelt ihm Gemeinschaftssinn. 32 Die Techniken der Er‐ ziehenden sind für die Reifung des menschlichen Geisteskarussells von exis‐ tentieller Bedeutung. Dies hängt damit zusammen, dass die Art und Weise der Erziehung auch die Art und Weise des Denkens beeinflusst. Das Denken der Erziehenden über Verhaltensprobleme ist also entscheidend. Wenn uns Menschen an einem praktisch gangbaren Weg zur Kommunikation liegt, müssen wir uns gemäß dem interkulturellen Imperativ auferlegen, die Heranwachsenden wie eine würdevolle Leihgabe zu behandeln, die uns anver‐ traut worden ist. Daher besteht die Aufgabe der Bezugspersonen, Erziehenden und nicht zuletzt der Eltern darin, die Heranwachsenden zum Frieden, zu Tole‐ ranz, zu Vielfalt und zu wechselseitiger Akzeptanz der eigenen Stärken und Schwächen zu erziehen. Ohne eine solche tugendhafte Bemühung von Seiten der Erziehenden werden auch die schönsten und tragfähigsten Theorien der Kommunikation scheitern. Hilfreich kann hier das Konzept des Konstruktivismus sein, nach dem die Individualität und Eigenwilligkeit der Lernenden vordergründig ist. Dies hängt damit zusammen, dass jeder seine eigene Wirklichkeit konstruiert, dekonstru‐ iert und jederzeit rekonstruieren kann. Die Kommunizierenden praktizieren in‐ klusives Denken, erkennen die Vielfalt an und verinnerlichen durch den Prozess der Selbstreflexion, dass sie in ihren Begegnungen nicht mit vorgefassten und festgefahrenen Einstellungen bestehen können. 33 Ein solches Vorverständnis ist für die Praxis der interkulturellen Kommunikation von Bedeutung. Auf diesem Weg müssen wir grundlegend anders denken lernen. Das ständige Regulieren zwischen Tradition und Erneuerung bildet alle Mo‐ mente eines solchen Lernens. Eine wesentliche Erweiterung der Perspektive kann durch die empirische Erfassung von Selbst- und Weltverhältnis der Kom‐ munizierenden erreicht werden. Hier benötigen wir einen dialogischen Bil‐ dungsprozess und eine offene Didaktik in Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und in der Schule, die dem Prinzip ›Heterogenität‹ folgt. 34 Zur Vervollständi‐ 7.3. Kommunikation und Erziehung 207 <?page no="207"?> 35 Vgl. Göppel, Rolf: Gehirn, Psyche, Bildung, 2014, S. 148 ff. gung dieses Prinzips ist es hilfreich, eine Verschränkung aus psychologischen Verfahren und pädagogischen Methoden heranzuziehen, um die Praxis der Kommunikation dialogisch gestalten zu können. 35 Das künftige Modell der Er‐ ziehung wird ein transkulturelles und die damit einhergehende Kommunikation ein interkulturelles sein müssen. Dies bedeutet in der Praxis: Transkulturell zu denken und interkulturell zu handeln. 7. Psychologie der praktischen Kommunikation 208 <?page no="208"?> Schlussfolgerungen Das Ziel des vorliegenden Praxisbuches ist mit der Absicht verbunden, in die Grundstruktur der interkulturellen Kommunikation einzuführen, ihre Orien‐ tierungsbereiche zu analysieren und potentielle Hindernisse zu beschreiben. Das Denken wurde dabei zur zentralen Ausgangsposition der Kulturbetrach‐ tung. Mit dieser Neubegründung verbinden sich neue Wahrnehmungswege, um die zwischenmenschliche Kommunikation nicht nur kontextangemessen, son‐ dern auch individuenkonzentriert zu gestalten. Drei Momente sind hierbei zu‐ sammen zu denken: Situativität, Individualität und Kontextualität. Dies hängt damit zusammen, dass die jeweiligen Situationen in der Regel hochgradig kom‐ plex, die jeweils handelnden Personen singulär und die kulturellen Kontexte von erheblicher Unterschiedlichkeit sein können. Eine grundlegende Substitution der Kultur durch das Denken kann den Kom‐ munizierenden helfen, sich in ihren Kommunikationen nicht wie bisher pau‐ schal und generalisierend auszudrücken, sondern ihren Adressaten präziser zu benennen. Denn wenn wir beispielsweise von einem Dialog der Kulturen spre‐ chen, so müssen wir uns diese zwangsweise monolithisch vorstellen und ihre Akteure als Wesen so begreifen, dass sie das Gleiche denken und sagen. Dadurch entgehen uns die damit verbundene Pluralität und die kognitiven Dissonanzen innerhalb der Kultur. Warum es diverse Parteien wie SPD, FDP, CDU/ CSU, Grüne, AfD oder die Linke in Deutschland gibt, lässt sich als Ausdruck eben dieser kulturinternen Pluralität verstehen. Folgerichtig gibt es eine unüberschaubare Vielzahl von Ver‐ einen und Gesellschaften wissenschaftlicher, kultureller, religiöser wie politi‐ scher Natur, die sich ebenfalls voneinander differenzieren und sich manchmal, wie etwa die AfD, diametral entgegenentwickeln. Aus diesem Grund ist es schwierig zu sagen, dass es sich deutschlandweit um eine Einheitskultur han‐ dele, die mit Einheitskulturen innerhalb und außerhalb Europas kommuniziere. Weitaus mehr Sinn würde es daher machen, wenn von ›europäisch-westli‐ chen‹ sowie ›iranisch-asiatischen‹ Kulturen in der ganzen Breite ihrer jewei‐ ligen Denkformen gesprochen würde, damit bereits im Vorfeld klar ist, dass es sich nicht um einen Dialog zwischen Kulturen als geschlossene Monolithe oder Blöcke handelt. Die handelnden Individuen hätten in einem solchen Falle nur die Möglichkeit, sich ausschließlich in ihrer jeweiligen Rolle als ›amerikanisch-west‐ liche Kriegstreiber‹ oder ›orientalisch-islamische Extremisten‹ wahrzunehmen <?page no="209"?> und nicht als Einzelindividuen oder Gruppen, die bestimmte Denk- und Hand‐ lungsarten im Namen der ›islamischen Kultur‹ oder ›amerikanischen Kultur‹ an den Tag legen, die wir generalisierend als ›islamisch‹ oder ›amerikanisch‹ stig‐ matisieren. Solcherlei Stereotypisierungen machen deutlich, dass hartnäckige Universalitätskonzepte, die eine Gleichmacherei auf der Weltebene anstreben, Hindernisse einer jeden offenen Kommunikation im Geiste wechselseitiger Wertschätzung sind. Kulturen sind offene und dynamisch-veränderbare Sinn- und Orientierungs‐ systeme, die sich gegenseitig beeinflussen. Daher ist es vielversprechend, den Kulturbegriff in einem interkulturellen Kontext stets vom Anderen aus zu durchdenken, um uns seine Faszination zu vergegenwärtigen. Kommunikation setzt im Sinne dieses Kulturbegriffs auf jedwedem Gebiet die Fähigkeit voraus, aktive Zustände des Anderen angemessen zu erkennen und situationsadäquat zu benennen. Diese Einstellung räumt den Kommunizierenden die Möglichkeit ein, Rolle und Perspektiven des Anderen zu übernehmen und das wahrgenom‐ mene Gefühl, je nach Kontext, teilen zu können. Kommunikation ist in allen Kontexten ein Aushandlungsprozess, ein emp‐ findliches Feld, auf dem eine ebenso empfindsame und empathische Einfühl‐ samkeit eine grundlegende Voraussetzung darstellt. Störungen können auf‐ treten, wenn die Bereitschaft nicht vorhanden ist, ernstlich miteinander zu kommunizieren, wenn Kulturen als geschlossene Einheiten dargestellt werden, wenn nicht die Bereitschaft zur Revision von Vorurteilen besteht und negative Macht die kommunikativen Rahmenbedingungen und Ergebnisse im Vorfeld durch Zuckerbrot und Peitsche bestimmt. Dies sind Gründe, warum es not‐ wendig ist, sich nicht nur die Welt neu betrachten, sondern auch die als uni‐ versalistisch diktierten Wertkonzepte in eine kommunikative Begegnung der bestehenden Denkformen zu überführen. Sprache zeigt dabei ihren Entlarvung‐ scharakter. Sie offenbart alle verabsolutierenden Formationen des Denkens. Sie offenbart auch die Hinterlist des Denkens in allen soziokulturellen, politischen und wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Kontexten. Sie expliziert ferner Absichten des Denkens, die im Inneren der Individuenwelten wirken. In allen Ich-Du-Beziehungen stehen diese Formationen des Denkens einander gegen‐ über, die sich gegenseitig entlarven, ergänzen, korrigieren oder verwerfen können. Die Formationen des Denkens machen deutlich, dass Anwesenheitsorte des Menschen Kampfplätze der Denkarten darstellen, die sich auch versöhnen, an‐ freunden und/ oder gemeinsame Wege und Ziele in den Blick nehmen können. Sprache verändert die Wirklichkeitsbilder der Kommunizierenden und ist die‐ jenige Instanz, die zwischen labyrinthischen Denkformen vermittelt und Ver‐ Schlussfolgerungen 210 <?page no="210"?> ständigung ermöglicht. Eine gemeinsame Grundlage der praktischen Kommu‐ nikation kann trotz der überall anzutreffenden kognitiven Dissonanzen entwickelt werden, wenn die Kommunizierenden bereit sind, zu lernen, sich gegenseitig im Geiste wechselseitiger Wertschätzung und Toleranz zu akzep‐ tieren. Das Primat des Denkens vor der Kultur bildet die Grundlage aller Formen der Kommunikation. Jedes Denken konstruiert eigene identitätsstiftende Ordnung, die vielfältig ist und weitreichenden Einfluss auf Kommunikation innerhalb und zwischen allen Kulturkontexten der Menschheit ausübt. Jean Piaget mit seiner gesamtmenschheitlichen Theorie der kognitiven Entfaltung der Heranwach‐ senden und Carl Gustav Jungs mit seinen ebenfalls gesamtmenschheitlichen Bewusstseinsfunktionen, zeigen dass die Entwicklung des menschlichen Denk‐ apparates kulturunabhängig ist. Jede Behauptung in den Fächern der kultur‐ vergleichenden Ethnologie, Anthropologie, Soziologie oder Psychologie, um die unbedingte Wechselwirkung von Kultur und Kognition sowie Rationalität und Nicht-Rationalität der Völker erweist sich letztlich als unfruchtbar und gar ras‐ sistisch, wenn daraus eine Stufentheorie der völligen Differenz oder totalen Identität erwachsen sollte. In uns Menschen lebt etwas, das ich Sehnsuchtssolidarität nennen möchte. Sie ermöglicht eine praktische Erziehung zur Solidarität mit weniger physischer und psychischer Gewalt. Ur-Sehnsucht ist die alles bewegende Antriebsquelle, die uns Menschen, jenseits aller Differenzen kultureller und religiöser Art, ver‐ bindet. Ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl dient dazu, unserer Ängste zu überwinden, den Anderen nicht als eine Bedrohung wahrzunehmen und un‐ nötig infrage zu stellen. Die Sehnsuchtssolidarität ermöglicht uns jederzeit und überall kulturübergreifend zu denken und interkulturell zu handeln. Auf diesem Wege benötigen wir eine völlig neue Kultur der dialogischen Vernunft, ver‐ standen als ein unvollendeter und unabschließbarer Prozess. Schlussfolgerungen 211 <?page no="211"?> Literaturverzeichnis Ahlheim, Klaus (Hrsg.): Die Gewalt des Vorurteils. Eine Textsammlung, Schwalbach/ Ts. 2007. Albrecht, Corinna: Der Begriff der, die, das Fremde. Zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Thema Fremde: ein Beitrag zur Klärung einer Kategorie, In: Vom Umgang mit dem Fremden. Hintergrund - Definitionen - Vorschläge, hrsg. v. Yves Bizeul u. a., Basel 1997 (80-93). Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/ Main 2005. Anderson, John R.: Rules of the mind, Hillsdale 1993. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, In: Die Nikomachische Ethik, hrsg. v. O. Gigon, München 1986. Arnold, Rolf: Interkulturelle Berufspädagogik, Oldenburg 1991. Avenarius, Richard: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. 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Literaturverzeichnis 220 <?page no="220"?> Abbildungsverzeichnis Abbildung 1.1: Menschenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Abbildung 1.1: Geographie des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Abbildung 3.1: Geistige Entwicklungslinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Abbildung 3.1: Dichotomie-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Abbildung 3.2: Kampfplätze des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Abbildung 3.3: Dominanzanspruch der Alpha-Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Abbildung 4.1: Interdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Abbildung 5.1: Logik der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Abbildung 5.2: Das Modell der Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Abbildung 5.3: Drei-Komponenten-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Abbildung 5.4: Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Abbildung 5.5: Komplementaritätsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Abbildung 5.6: Korrelatbegriffe der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Abbildung 5.7: Typenmodell der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Abbildung 5.8: Korrelatives Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Abbildung 5.9: Ente-Hase-Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Abbildung 5.10: Verstehensmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Abbildung 5.11: Komparatistikmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Abbildung 5.12: Toleranzdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Abbildung 5.13: Gehäusemodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Abbildung 5.14: Motivmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Abbildung 5.15: Ethikmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Abbildung 5.16: Moral-Ethik-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Abbildung 5.18: Methodenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Abbildung 5.17: Orientierungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Abbildung 6.1: Aporiemodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Abbildung 6.2: Ein- und Ausschlussmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Abbildung 6.3: Vorurteilsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Abbildung 6.4: Vorurteilstypologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Abbildung 6.5: Typenmodell der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Abbildung 6.6: Typenmodell des Egoismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Abbildung 6.7: Zweckmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Abbildung 7.1: Das Bewusstseinssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Abbildung 7.2: Das Steuerungssytem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 <?page no="221"?> www.uvk.de Der Einfluss der Kirche auf die Wirtschaft Ökonomie und Kirche - das ist kein Widerspruch. Klöster häuften früher durch geschicktes Handeln ein gewaltiges Vermögen an. Heute finden religiöse Werte durch den Corporate-Governance-Kodex Eingang in die Geschäftswelt und christliche Parteien prägen die Wirtschaftspolitik. Auf das Spannungsfeld zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gehen Päpste durch Sozialenzykliken seit dem 19. Jahrhundert ein: Leo XIII. forderte 1891 Lohngerechtigkeit sowie Arbeitnehmerrechte und gab damit der Sozialpolitik in Europa Aufwind. Weitere Sozialenzykliken folgten, wenn das freie Spiel der Marktkräfte zu sozialen Problemen führte. 2009 verwies Benedikt XVI. nach der Finanzkrise darauf, dass Globalisierung von einer »Kultur der Liebe« beseelt sein müsse. Damit brachte er die Globalisierung mit Verteilungsgerechtigkeit und Gemeinwohl in Zusammenhang. Auf die Sozialenzykliken der Päpste gehen die Autoren im Detail ein: Sie beleuchten den geschichtlichen Kontext ebenso wie deren Auswirkungen auf Wirtschaft und Politik. So skizzieren sie einen dritten Weg der Päpste - ein alternatives Wirtschaftskonzept zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Hans Frambach, Daniel Eissrich Der dritte Weg der Päpste Die Wirtschaftsideen des Vatikans 2015, 283 Seiten, Flexcover ISBN 978-3-86764-600-0 19,99 € <?page no="222"?> www.uvk.de Als Lester Sternberg eines Morgens in die Arbeit kommt, ist nichts mehr so, wie es einmal war. Denn er steht unter dringendem Tatverdacht seinen Chef, Professor van Slyke, ermordet zu haben. Um seine Unschuld zu beweisen sucht er auf eigene Faust nach dem wahren Täter. Hilfe erhält er von der Studentin Milena - und die kann er sehr gut gebrauchen, denn der Mörder seines Doktorvaters ist nun hinter ihm her. Ist der Grund seine wissenschaftliche Arbeit über die Kritik am Bankensystem? Aber wer würde deshalb töten? Eine rasante Verfolgungsjagd durch Europa beginnt, bei der einige Banken und ein internationales Forschungsinstitut verwickelt sind. Licht ins Dunkle könnten dabei bekannte Ökonomen bringen. Die sind längst verstorben, aber ihre Ideen sind wichtiger als je zuvor! Stell dir vor, dein Prof wurde ermordet und du bist der Hauptverdächtige. Was würdest DU tun? Johann Graf Lambsdorff, Björn Frank Geldgerinnung Ein Wirtschaftskrimi 2017, 180 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-812-7 DER Krimi für alle WiWi-Studenten <?page no="223"?> Moderne www.uvk.de Die Epoche der Moderne wurde inzwischen durch das digitale Zeitalter abgelöst. Nun ist es an der Zeit Bilanz zu ziehen: Wie kann die Moderne in ihrer Gesamtheit dargelegt werden? Welche Errungenschaften hat sie hervorgebracht? Sind die Werte, Ziele und Normen der Moderne im digitalen Zeitalter nun obsolet? Werner Heinrichs liefert die Antworten. Er beleuchtet alle kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen Aspekte der Epoche auf spannende Weise. Damit unterscheidet sich der Ansatz dieses Buches deutlich von einschlägigen Kulturgeschichten des 20. Jahrhunderts, die die Moderne nur als eine Zeit der Entwicklung der Künste und gesellschaftspolitischer Veränderungen wahrnehmen. Es beinhaltet außerdem viele originelle und spannende Zitate berühmter Persönlichkeiten. Dieses Buch richtet sich an Studierende wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Studiengänge und eignet sich ebenfalls als Nachschlagewerk für Leser mit kulturellem und geschichtlichem Interesse. Werner Heinrichs Die Moderne Bilanz einer Epoche 2017, 510 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-808-0 Bilanz einer Epoche