Grundwissen Europarecht
0910
2018
978-3-8385-5043-5
978-3-8252-5043-0
UTB
Mike Wienbracke
Der Autor konnzentriert sich in diesem Buch auf den gemeinsamen Pflichtstoff des Europarechts in den Juristenausbildungsgesetzen der einzelnen Bundesländer.
Behandelt werden unter anderem die Rechtsnatur und die Organe der EU, die Verfahren der EU-Rechtssetzung, der Vollzug des EU-Rechts, das Rechtsschutzsystem der EU sowie ausführlich die Rechtsquellen des EU-Rechts.
<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 5 0 43 <?page no="4"?> Nach den Juristenausbildungsgesetzen bzw. Juristenausbildungs- und Prüfungsordnungen der einzelnen Bundesländer gehören die Grundzüge des Rechts der Europäischen Union zu den Pflicht ächern in beiden juristischen (Staats-)Prüfungen, siehe etwa § 18 Abs. 2 Nr. 6 und § 58 Abs. 2 Nr. 1 bay. JAPO. Wenngleich die diesbezüglichen Konkretisierungen im Detail von Bundesland zu Bundesland divergieren, so dürften sich in Bezug auf das Referendarexamen wohl dennoch im Wesentlichen die nachfolgend ange ührten Themenbereiche als übergreifender Prüfungsstoff der Pflichtfachprüfung im Europarecht identifizieren lassen: Entwicklung und Rechtsnatur der EU, Rechtsquellen des EU-Rechts und dessen Verhältnis zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten, Organe der EU, EU-Rechtsetzungskompetenzen und -verfahren, Vollzug des EU-Rechts und Rechtsschutzsystem der EU, Europäische Grundfreiheiten und Grundrechte sowie mitunter im Überblick noch das EU-Beihilfenrecht, vgl. nur § 8 Abs. 2 Nr. 11 JAPrO BW, § 18 Abs. 2 Nr. 6 bay. JAPO, § 1 Abs. 3 Nr. 5 PrüfungsgegenständeVO Hbg. und § 11 Abs. 2 Nr. 1 JAG NRW. Zudem wird von Musil/ Burchard (Klausurenkurs im Europarecht, 4. Aufl. 2016) noch die unionsrechtliche Staatshaftung als weiterer Gegenstand des Pflichtfachexamens benannt. Auf die Behandlung exklusiv dieser Inhalte ist das hier vorgelegte Werk bewusst konzentriert - wodurch es sich von der Mehrzahl der etablierten Lehrbücher zum Europarecht unterscheidet, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Ausrichtung ebenfalls auf Studierende des Schwerpunktbereichs mittlerweile häufig einen nachgerade einschüchternd wirkenden Umfang angenommen haben. Lediglich Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV sind vorliegend zusätzlich mit aufgenommen worden, werden das darin normierte allgemeine Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger bzw. das allgemeine Diskriminierungsverbot doch nach teilweise vertretener Auffassung ebenfalls unter den Oberbegriff „Grundfreiheiten“ gefasst bzw. sind beide jedenfalls der Sache nach eng mit diesen verzahnt. Die Abhandlung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der deutschen EU-Integration ist schließlich der sämtlichen vorgenannten Juristenausbildungsgesetzen gemeinen Regelung geschuldet, wonach zu den übrigen Pflicht ächern (konkret: Staatsrecht) ebenfalls deren europarechtlichen Bezüge gehören. Über die Themenauswahl hinaus setzt sich der diesem Buch zugrundliegende Ansatz einer möglichst kompakten Darstellung auf inhaltlicher Ebene fort. Um in Anbetracht der Stoff ülle den sprichwörtlichen roten <?page no="5"?> Faden nicht aus den Augen zu verlieren, sollen vorliegend primär die - vom politischen Tagesgeschäft losgelösten - Grundstrukturen der hier angesprochenen Bereiche des Europarechts (i.e.S.) aufgezeigt und anhand von optisch hervorgehobenen Beispiels ällen aus der Praxis illustriert werden; nähere Erläuterungen und Hinweise auf Parallelen im deutschen Staats- und Verwaltungsrecht sowie auf weiter ührende Rechtsprechung und Literatur finden sich im Fußnotenapparat. Im Bereich der Grundfreiheiten (und der Unionsgrundrechte) hat dieser Ansatz dazu ge ührt, dass der hier zur Ver ügung stehende Rahmen einzig deren Allgemeinen Lehren gewidmet wurde - werden doch immerhin auch in Klausuren insoweit regelmäßig nicht vertiefte Detailkenntnisse verlangt, sondern ist vielmehr wichtig, „dass Studenten die Grundfreiheiten in ihren übergreifenden Strukturen verstanden haben“ (Sauer, JuS 2017, S. 310 [311]). Deren Erkenntnis wiederum mag durch die diesbezüglichen Abbildungen erleichtert werden, welche zusammen mit zahlreichen anderen dieses Lehrbuch durchziehen. Gemeinsam mit weiteren didaktischen Elementen in Gestalt von Hinweis- und Definitionskästen möchte dieses sowohl den mit dem Unionsrecht erstmals befassten Studenten (insbesondere der Rechtswissenschaft) und Praktikern eine systematische Orientierungshilfe beim Einstieg in die Materie bieten als auch Examenskandidaten eine solide Grundlage zur Wiederholung der Kernbereiche des Europarechts an die Hand geben. Allen Lesern gleichermaßen sei abschießend empfohlen, die im Text angegebenen Rechtsnormen sorg ältig nachzulesen - auch wenn sich deren genauer Bedeutungsgehalt nicht selten erst aus der zu ihnen ergangenen EuGH-Rechtsprechung erschließt. Bezüglich der verwendeten Abkürzungen wird auf Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 7. Au age, Berlin 2013, verwiesen. Die im Text genannten Internetseiten wurden letztmalig am 14. Juni 2018 aufgerufen. Mein besonderer Dank gilt Dr. Jürgen Schechler ür die Aufnahme dieses Titels in das UTB-Verlagsprogramm. Gewidmet ist das Buch meinem Sohn Brian. Coesfeld, im Sommer 2018 Mike Wienbracke <?page no="6"?> Vorwort..........................................................................................................................5 Literaturverzeichnis..................................................................................................11 1 Einführung .................................................................................................13 1.1 Entwicklung ...................................................................................................13 1.2 Mitgliedschaft ................................................................................................15 1.2.1 Beitritt .............................................................................................................15 1.2.2 Austritt ............................................................................................................18 1.2.3 Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten; kein Ausschluss...........20 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen .................................................. 22 2.1 Struktursicherungsklausel..........................................................................24 2.2 Subsidiarität ...................................................................................................25 2.3 Vergleichbarer Grundrechtsschutz...........................................................27 3 Rechtsnatur der EU .................................................................................28 3.1 Völkervertragsrechtlicher Ausgangspunkt ............................................28 3.2 Supranationalität der EU ............................................................................29 3.3 EU als Staatenverbund.................................................................................31 1 Rechtsquellen des EU-Rechts ............................................................. 33 1.1 Primärrecht ....................................................................................................36 1.1.1 EUV und AEUV.............................................................................................37 1.1.2 EU-Grundrechtecharta ................................................................................38 1.1.3 Allgemeine Rechtsgrundsätze des EU-Rechts .......................................38 1.2 Völkerrechtliche Verträge der EU.............................................................41 1.3 Sekundärrecht ...............................................................................................42 1.3.1 Verordnungen................................................................................................43 1.3.2 Richtlinien ......................................................................................................45 <?page no="7"?> 1.3.3 Beschlüsse ......................................................................................................53 1.4 Exkurs: Auslegung des EU-Rechts............................................................54 2 Verhältnis des EU-Rechts zum nationalen Recht ...................... 57 2.1 Anwendungsvorrang ...................................................................................57 2.2 Vorbehalte? ....................................................................................................60 2.2.1 BVerfG.............................................................................................................60 2.2.2 EuGH ...............................................................................................................65 2.3 Haftung der Mitgliedstaaten ür EU-Rechtsverstöße ..........................66 3 Organe der EU ........................................................................................... 68 3.1 Europäisches Parlament..............................................................................73 3.2 Europäischer Rat...........................................................................................77 3.3 Rat ....................................................................................................................79 3.4 Kommission ...................................................................................................83 3.5 Gerichtshof der Europäischen Union ......................................................87 4 EU-Rechtsetzung ...................................................................................... 91 4.1 Zuständigkeit.................................................................................................91 4.1.1 Kompetenzverteilungsregeln .....................................................................94 4.1.2 Kompetenzarten............................................................................................98 4.1.3 Kompetenzausübungsregeln ................................................................... 101 4.2 Verfahren ..................................................................................................... 103 4.2.1 Rechtsakte mit Gesetzescharakter......................................................... 104 4.2.2 Rechtsakte ohne Gesetzescharakter...................................................... 107 5 Vollzug des EU-Rechts .........................................................................109 5.1 Direkter Vollzug......................................................................................... 110 5.2 Indirekter Vollzug...................................................................................... 113 6 Rechtsschutzsystem der EU...............................................................120 6.1 Vertragsverletzungsklage ........................................................................ 122 6.2 Nichtigkeitsklage ....................................................................................... 124 6.3 Untätigkeitsklage ....................................................................................... 129 6.4 Amtshaftungsbzw. Schadensersatzklage........................................... 129 6.5 Vorabentscheidungsverfahren................................................................ 131 <?page no="8"?> 1 Grundfreiheiten......................................................................................139 1.1 Grundlagen.................................................................................................. 139 1.1.1 Hintergrund: EU-Binnenmarkt .............................................................. 139 1.1.2 Begriff „Grundfreiheiten“ ........................................................................ 141 1.1.3 Konvergenz der Grundfreiheiten ........................................................... 142 1.1.4 Unmittelbare Geltung bzw. Wirkung; (Anwendungs-)Vorrang..... 145 1.1.5 Unmittelbare Anwendbarkeit; subjektives Recht .............................. 146 1.1.6 Abgrenzung zu den Unionsgrundrechten ........................................... 147 1.2 Anwendbarkeit........................................................................................... 149 1.2.1 Kein wirksames und abschließendes Sekundärrecht ........................ 149 1.2.2 Kein spezielleres Primärrecht ................................................................. 152 1.2.3 Keine Bereichsausnahme ......................................................................... 154 1.3 Schutzbereich.............................................................................................. 157 1.3.1 Persönlicher Schutzbereich ..................................................................... 157 1.3.2 Sachlicher Schutzbereich ......................................................................... 163 1.3.3 Räumlicher Schutzbereich ....................................................................... 181 1.3.4 Zeitlicher Schutzbereich .......................................................................... 182 1.4 Eingriff ......................................................................................................... 183 1.4.1 Verpflichtungsadressaten ........................................................................ 184 1.4.2 Eingriffsformen .......................................................................................... 189 1.5 Rechtfertigung............................................................................................ 201 1.5.1 Schranken .................................................................................................... 201 1.5.2 Schranken-Schranken............................................................................... 209 2 Unionsbürgerschaft ..............................................................................215 2.1 Allgemeines Freizügigkeitsrecht............................................................ 218 2.1.1 Anwendbarkeit........................................................................................... 218 2.1.2 Schutzbereich.............................................................................................. 221 2.1.3 Eingriff ......................................................................................................... 224 2.1.4 Rechtfertigung............................................................................................ 226 2.2 Allgemeines Diskriminierungsverbot................................................... 232 2.2.1 Anwendbarkeit........................................................................................... 232 2.2.2 Schutzbereich.............................................................................................. 234 <?page no="9"?> 2.2.3 Eingriff ......................................................................................................... 239 2.2.4 Rechtfertigung............................................................................................ 245 3 Unionsgrundrechte ...............................................................................248 3.1 Grundlagen ................................................................................................. 248 3.1.1 Hintergrund: Schutz vor der Hoheitsgewalt der EU......................... 248 3.1.2 Begriff „Unionsgrundrechte“ .................................................................. 249 3.1.3 Konvergenz der Unionsgrundrechte..................................................... 251 3.1.4 Unmittelbare Geltung bzw. Wirkung; (Anwendungs-)Vorrang.... 253 3.1.5 Unmittelbare Anwendbarkeit; subjektives Recht .............................. 254 3.1.6 Abgrenzungen ............................................................................................ 255 3.2 Anwendbarkeit........................................................................................... 259 3.2.1 Umfassende Bindung der EU .................................................................. 259 3.2.2 Eingeschränkte Bindung der Mitgliedstaaten .................................... 261 3.2.3 Unmittelbare Bindung Privater? ............................................................ 264 3.3 Schutzbereich ............................................................................................. 265 3.3.1 Persönlicher Schutzbereich ..................................................................... 266 3.3.2 Sachlicher Schutzbereich ......................................................................... 268 3.4 Eingriff ......................................................................................................... 272 3.5 Rechtfertigung............................................................................................ 274 3.5.1 Schranken .................................................................................................... 274 3.5.2 Schranken-Schranken............................................................................... 277 4 EU-Wettbewerbsrecht ..........................................................................284 4.1 „Beihilfen“-Tatbestand ............................................................................. 285 4.1.1 Begünstigung.............................................................................................. 286 4.1.2 Bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige .......................... 289 4.1.3 Staatlich oder aus staatlichen Mitteln gewährt.................................. 290 4.1.4 Wettbewerb ver älschen oder zu ver älschen drohen ...................... 292 4.1.5 Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen ........................... 293 4.2 Beihilfenverbot und -aufsicht ................................................................. 295 4.2.1 Beihilfenverbot........................................................................................... 295 4.2.2 Beihilfenaufsicht ........................................................................................ 297 Index.........................................................................................................................30 <?page no="10"?> Arndt, H.-W./ Fischer, K./ Fetzer, T.: Europarecht, C.F. Müller, 11. Aufl. 2015 Bieber, R./ Epiney, A./ Haag, M./ Kotzur, M.: Europarecht, Nomos, 12. Aufl. 2016 Borchardt, K.-D.: Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, UTB, 6. Aufl. 2015 Calliess, C./ Ruffert, M.: EUV/ AEUV, C.H. Beck, 5. Aufl. 2016 Dittert, D.: Europarecht, C.H. Beck, 5. Aufl. 2017 Ehlers, D.: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, De Gruyter, 4. Aufl. 2014 Frenz, W.: Handbuch Europarecht, Band 1: Europäische Grundfreiheiten, Springer, 2. Aufl. 2012 ders.: Europarecht, Springer, 2. Aufl. 2016 Geiger, R./ Khan, D.-E./ Kotzur, M.: EUV/ AEUV, C.H. Beck, 6. Aufl. 2017 Grabitz, E./ Hilf, M./ Nettesheim, M.: Das Recht der Europäischen Union, C.H. Beck, Stand: 63. EL Dezember 2017 von der Groeben, H./ Schwarze, J./ Hatje, A.: Europäisches Unionsrecht, Nomos, 7. Aufl. 2015 Haltern, U.: Europarecht, Band I, Mohr Siebeck, 3. Aufl. 2017 ders.: Europarecht, Band II, Mohr Siebeck, 3. Aufl. 2017 Haratsch, A./ Koenig, C./ Pechstein, M.: Europarecht, Mohr Siebeck, 10. Aufl. 2016 Herdegen, M.: Europarecht, C.H. Beck, 18. Aufl. 2016 Hobe, S.: Europarecht, Vahlen, 8. Aufl. 2014 Jarass, H. D.: Charta der Grundrechte der EU, C.H. Beck, 3. Aufl. 2016 Jochum, G.: Europarecht, W. Kohlhammer, 2. Aufl. 2012 Lenz, C. O./ Borchardt, K.-D.: EU-Verträge Kommentar, Bundesanzeiger Verlag, 6. Aufl. 2012 Meyer, J.: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Nomos, 4. Aufl. 2014 Oppermann, T./ Classen, C. D./ Nettesheim, M.: Europarecht, C.H. Beck, 7. Aufl. 2016 <?page no="11"?> Schroeder, W.: Grundkurs Europarecht, C.H. Beck, 4. Aufl. 2015 Schwarze, J.: EU-Kommentar, Nomos, 3. Aufl. 2012 Streinz, R.: EUV/ AEUV, C.H. Beck, 2. Aufl. 2012 ders.: Europarecht, C.F. Müller, 10. Aufl. 2016 Wienbracke, M.: Juristische Methodenlehre, C.F. Müller, 2013 ders.: Ein ührung in die Grundrechte, SpringerGabler, 2013 ders.: Verwaltungsprozessrecht, C.F. Müller, 2. Aufl. 2014 ders.: Allgemeines Verwaltungsrecht, C.F. Müller, 4. Aufl. 2015 ders.: Staatsorganisationsrecht, SpringerGabler, 2017 <?page no="12"?> Die heutige Europäische Union (EU) ist hervorgegangen aus der Europäischen Gemeinschaft ür Kohle und Stahl (EGKS) sowie der - nachfolgend mit den Römischen Verträgen vom 25. März 1957 gegründeten - Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG bzw. EURATOM). 1 Nachdem es bereits nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (1914-1918) Initiativen zur Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ gegeben hatte, insbesondere in Gestalt der privaten, von Graf Coudenhove-Kalergi gegründeten Paneuropäischen Bewegung, und dieser Gedanke der Schaffung der „United States of Europe“ kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) von Winston Churchill in dessen Züricher Rede vom 19. September 1946 wieder aufgegriffen wurde, haben Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande am 18. April 1951 in Paris die EGKS gegründet. 2 Diese auch sog. Montanunion geht ihrerseits zurück auf Pläne des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman und seinem Mitarbeiter Jean Monnet. 3 Danach sollten die nationalen Hoheitsrechte der früheren „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich bezüglich der kriegsrelevanten Schwerindustrie zugunsten einer gemeinsamen Aufsicht aufgegeben und den Nachbarländern der Beitritt hierzu ermöglicht werden. 4 Dementsprechend fand denn auch der „Weltfrieden“ als erster Erwägungsgrund des EGKS-Vertrags ausdrücklich Erwähnung (heute siehe Art. 3 Abs. 1 EUV 5 ) und hieß es in dessen Art. 9 Abs. 6, dass die „Hohe Behörde“ (als Vorläufer der heutigen EU-Kommission), deren „Entscheidun- 1 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 11, 15. 2 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 5 f., 7 f.; Herdegen, Europarecht, § 4 Rn. 1. Die Idee eines vereinten Europas ist freilich ungleich älter, vgl. Arnd/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 14. 3 Streinz, Europarecht, § 2 Rn. 17, 19. 4 Hobe, Europarecht, § 2 Rn. 15 ff. 5 Die EU wurde im Jahr 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. <?page no="13"?> gen […] in allen ihren Teilen verbindlich“ waren (Art. 14 Abs. 2 EGKS- Vertrag; heute vgl. Art. 288 Abs. 4 S. 1 AEUV), „überstaatlichen“, d.h. supranationalen ( 1. Teil 3.2), Charakter besaß. Und auch der ür die europäische Integration charakteristische funktionalistische Ansatz der Politik der kleinen Schritte, wonach eine institutionalisierte Zusammenarbeit zunächst nur in bestimmten Teilbereichen (Wirtschaft) langfristig zu einem Überschwappen in die Politik (sog. spill over- Effekt) und damit zu „einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 Abs. 2 EUV) - womöglich dem vorgenannten europäischen Bundesstaat ( 1. Teil 3.3) - ühren soll (sog. Monnet-Methode), kommt bereits in der Präambel des EGKS-Vertrags zum Ausdruck. 6 So hat denn die durch den EGKS-Vertrag bewirkte Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft in der Tat den ersten Grundstein ür eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter den Völkern Europas gelegt: Ausgehend von der sektoralen Teilintegration der sechs vorgenannten Gründerstaaten der EGKS im Bereich Kohle und Stahl ist einem jahrzehntelangen, freilich keinesfalls immer geradlinig verlaufenen 7 und ergebnisoffenen Einigungsprozess mit zahlreichen Reformen (Fusionsvertrag, Einheitliche Europäische Akte [EEA], Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon 8 ) und geografischen Erweiterungsrunden die nunmehrige EU mit aktuell 28 9 Mitgliedstaaten (vgl. Art. 52 Abs. 1 EUV) entstanden, deren Ziele weit über den ökonomischen Bereich (dazu siehe Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1, Abs. 4 EUV 3. Teil 1.1.1 und 4) hinausgehen, vgl. nur die in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 bis UAbs. 4 EUV u.a. genannten sozialen, ökologischen und kulturellen Zielsetzungen der EU. 10 6 Vgl. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 2 Rn. 3 ff. 7 Rückschläge waren z.B. das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Jahr 1954 - und damit zugleich der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) -, des Europäischen Verfassungsvertrags (VVE) im Jahr 2005 sowie der - aktuell noch nicht vollzogene - BREXIT ( 1. Teil 1.2.2). 8 Deren Text ist abrufbar unter europa.eu/ european-union/ law/ treaties_de. Zur hier nicht näher thematisierten Vertragsänderung siehe Art. 48 EUV. 9 Nach Vollzug des BREXIT und vorbehaltlich etwaiger neuer EU-Beitritte (zu den aktuellen Beitrittskandidaten siehe europa.eu/ newsroom/ highlights/ special-coverage/ enlargement_de): 27 Mitgliedstaaten. 10 Bieber/ Kotzur, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 1 Rn. 1 f., 35 ff.; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 2 Rn. 15, § 3 Rn. 25; Streinz, Europarecht, Rn. 21 ff.; Wienbracke, VR 2017, S. 374 (378) m.w.N. <?page no="14"?> Ein geschichtlicher Abriss der EU ist abrufbar unter www.consili um.europa.eu/ de/ history/ . Die Kenntnis zumindest der Grundzüge dieses historischen Prozesses ist ür das Verständnis des Europarechts unerlässlich. 11 Die nach Art. 3 Abs. 1 EUV zu ördernden Werte, auf die sich die EU gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie ( 2. Teil 3.1), Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit ( 2. Teil 1.1.3) und die Wahrung der Menschenrechte ( 3. Teil 3) einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, siehe Art. 2 S. 1 EUV. Gem. Art. 2 S. 2 EUV sind diese Werte allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet. Vor dem Hintergrund, dass Rechtsgrundlagen der EU die von ihren (bisherigen) Mitgliedstaaten - jeweils aus freiem Entschluss 12 - abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge sind ( 1. Teil 3.1), bestimmt Art. 49 Abs. 2 S. 1 EUV, dass der Beitritt 13 eines neuen Mitgliedstaats zur EU durch ein Abkommen, d.h. einen völkerrechtlichen Vertrag 14 zwischen den bisherigen Mitgliedstaaten und dem antragstellenden Staat erfolgt, worin die Aufnahmebedingungen und die durch die Aufnahme erforderlich werdenden Anpassungen 15 der Verträge, auf denen die EU beruht (aktuell: EUV und AEUV, siehe Art. 1 Abs. 3 EUV), geregelt werden. Dieses Beitrittsabkommen bedarf nach Art. 49 Abs. 2 S. 2 EUV der Ratifikation, d.h. der einseitigen völkerrechtsverbindlichen Erklärung der Bindung an den Bei- 11 Jochum, Europarecht, Rn. 9. 12 Hierauf hinweisend: Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 328. 13 Zur Assoziierung als „Form der Kooperation unterhalb der Schwelle des förmlichen Beitritts“ (Hobe, Europarecht, Rn. 129) vgl. Art. 8 EUV und Art. 198 ff., 217 AEUV. 14 Ohler, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 49 EUV Rn. 11. 15 Art. 49 EUV ist gegenüber der Vertragsänderungsklausel des Art. 48 EUV lex specialis, siehe Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 2 Rn. 35. <?page no="15"?> trittsvertrag, 16 durch alle bisherigen und den neuen Vertragsstaat(en) gemäß ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. Im Ergebnis wird hierdurch jedem einzelnen der bisherigen Mitgliedstaaten ein Vetorecht gegen die Aufnahme des betreffenden neuen Mitgliedstaats verschafft. 17 Zusätzlich zu diesem völkerrechtlichen Teil des Beitrittsverfahrens 18 besteht dieses ferner aus einem unionsrechtlichen. 19 Dieser wiederum beginnt mit dem an den Rat (Art. 49 Abs. 1 S. 3 Hs. 1 EUV) zu richtenden Antrag des beitrittswilligen Staates nach Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV; dazu, dass ein solcher gestellt wird, fordert Absatz 9 der Präambel des AEUV die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel der Wahrung und Festigung des Friedens und der Freiheit bekennen, nachgerade auf. Gem. Art. 49 Abs. 1 S. 2 EUV werden das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente über diesen Antrag unterrichtet. Über den Beitrittsantrag beschließt der Rat einstimmig nach Anhörung der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, das mit der Mehrheit seiner Mitglieder beschließt, siehe Art. 49 Abs. 1 S. 3 Hs. 2 EUV. Die materiellen Maßstäbe ür die Entscheidung über den Beitrittsantrag ergeben sich zum einen aus Art. 49 Abs. 1 EUV. Danach kann jeder europäische 20 Staat, der die in Art. 2 EUV genannten Werte achtet und sich ür ihre Förderung einsetzt, beantragen, Mitglied der EU zu werden. Zum anderen werden nach Art. 49 Abs. 1 S. 4 EUV die vom Europäischen Rat vereinbarten (sog. Kopenhagen-)Kriterien 21 berücksichtigt. Diesen zufolge muss der Beitrittskandidat als Voraussetzung ür die Mitgliedschaft kumulativ Folgendes er üllen: 16 Ohler, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 49 EUV Rn. 38. Dort (Rn. 13) auch zur umstrittenen Frage, ob aus deutscher Sicht insoweit neben Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG auch Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG zur Anwendung gelangt ( 1. Teil 2). 17 Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 5. 18 Ergänzend zum Folgenden siehe den Beschluss des Rates vom 9.6.1970 über das bei den Beitrittsverhandlungen anzuwendende Verfahren, EA 1970, D 350. 19 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 99. 20 Einzelheiten bzgl. dieses Merkmals sind streitig, siehe den Überblick bei Jochum, Europarecht, Rn. 68. Hierzu vgl. auch Absatz 3 der Präambel des EUV („Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents“). 21 Europäischer Rat Kopenhagen, 21.-22.6.1993, Schlussfolgerungen des Vorsitzenden, SN 180/ 1/ 93, S. 13. Zu deren Gliederung in die drei nachfolgend genannten Kriterien siehe etwa Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 7. <?page no="16"?> „politisches Kriterium“: Verwirklichung einer institutionellen Stabilität als Garantie ür demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, ür die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten; „wirtschaftliches Kriterium“: eine funktions ähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten; „Acquis-Kriterium“: der einzelne Beitrittskandidat muss die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen (dazu sogleich) und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 3 Abs. 4 EUV, Art. 119 ff. AEUV) zu eigen machen können. Hinsichtlich der Frage, ob die nach dem Vorstehenden für einen EU- Beitritt notwendigen materiellen Voraussetzungen in Bezug auf den jeweils in Rede stehenden Beitrittskandidaten vorliegen, verfügen die hiermit befassten Organe der EU und der Mitgliedstaaten über einen Beurteilungsspielraum; der Beitritt zur EU ist eine politische Entscheidung. 22 Selbst wenn im konkreten Fall sämtliche dieser Anforderungen erfüllt sind, existiert dennoch kein Rechtsanspruch auf einen EU-Beitritt - bei dem es sich folglich nicht um eine gebundene, sondern vielmehr um eine Ermessensentscheidung handelt. 23 Ist der Beitritt zur EU erfolgt, so wird der in diese neu aufgenommene Mitgliedstaat Adressat derselben Rechte und Pflichten wie die bisherigen Mitgliedstaaten auch. 24 Vorbehaltlich der in der Praxis häufig vereinbarten Übergangsregelungen ( 3. Teil 1.3.4) akzeptiert der neu beigetretene Mitgliedgliedstaat mit seiner Mitgliedschaft vorbehaltlos die Verträge und ihre politischen Zielsetzungen, die seit Inkrafttreten der Verträge gefassten Beschlüsse jeglicher Art, d.h. das gesamte EU-Recht in seiner Auslegung durch den EuGH, sowie die hinsichtlich des Ausbaus und der Stärkung der EU getroffenen Optionen, sog. unionaler (früher: gemeinschaftlicher) Besitzstand (franz.: acquis communautaire). 25 22 Vgl. Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 101; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 42 Rn. 5. 23 Vgl. Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 101. 24 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 105. 25 EuGH, ECLI: EU: C: 1982: 422, Rn. 8; dass., ECLI: EU: C: 2016: 820, Rn. 68; Kommission, Stellungnahme vom 19.1.1972, ABl. EG L 73 vom 27.3.1972, S. 3; Dittert, Europarecht, S. 13; Jochum, Europarecht, Rn. 69. <?page no="17"?> Ebenso wie der Beitritt zur EU auf dem freien Entschluss der einzelnen Mitgliedstaaten beruht ( 1. Teil 1.2.1), entscheiden diese als „Herren der Verträge“ auch jeweils autonom über den actus contrarius hierzu, d.h. ihren etwaigen Austritt aus dieser. 26 Entsprechend ist der EU-Austritt in dem insoweit einschlägigen Art. 50 EUV 27 unionsrechtlich an keine materiellen Voraussetzungen geknüpft und somit insbesondere ohne Angabe von Gründen möglich; 28 der in Art. 50 Abs. 1 EUV enthaltene Verweis auf die „verfassungsrechtlichen Vorschriften“ des austrittswilligen Mitgliedstaats (aus deutscher Sicht: Art. 23 Abs. 1 GG 29 1. Teil 2) ist richtigerweise rein deklaratorisch. 30 Vielmehr verlangt das EU-Recht im Hinblick auf einen Austritt lediglich die Einhaltung des durch Art. 50 Abs. 2 EUV geordneten Austrittsverfahrens. 31 Dieses beginnt nach Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV mit der Mitteilung der Austrittsabsicht durch den betreffenden Mitgliedstaat gegenüber dem Europäischen Rat. Sodann handelt die EU auf der Grundlage der Leitlinien 32 des Europäischen Rates mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen ür die künftigen Beziehungen dieses Staates zur EU berücksichtigt wird, siehe Art. 50 Abs. 2 S. 2 EUV. Gem. Art. 50 Abs. 2 S. 3 EUV wird das Abkommen 26 Vgl. BVerfG, BVerfGE 89, 155 (190); dass., BVerfGE 123, 267 (350); Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 329. Zur Frage der Zulässigkeit eines Austritts nur aus der Eurozone siehe Hobe, Europarecht, Rn. 173. 27 Zu den vor dessen durch den Vertrag von Lissabon erfolgten Einfügung insoweit diskutierten Art. 56 und Art. 62 der Wiener Vertragsrechtskonvention siehe Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 2 Rn. 36. Gegenüber diesen sei der nunmehrige Art. 50 EUV lex specialis, siehe Streinz, Europarecht, Rn. 106. Zu dessen Verhältnis zu Art. 53 EUV und Art. 356 AEUV siehe Calliess, in: ders./ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 50 EUV Rn. 9 ff. Zur Frage eines Rechts zur Auflösung der EU siehe Hobe, Europarecht, Rn. 174 f. 28 Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 9; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 42 Rn. 39. 29 Näher zu einem potentiellen Austritt Deutschlands (DEXIT) aus der EU: Wienbracke, EU-Austritt: Dexit und Bayxit wären verfassungswidrig (24.8. 2016), abrufbar unter www.lto.de. 30 Ebenso: Meng, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 50 EUV Rn. 8. 31 Vgl. Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 50 EUV Rn. 3. 32 Speziell zum BREXIT siehe Europäischer Rat, Leitlinien vom 29.4.2017, EU- CO XT 20004/ 17. <?page no="18"?> nach Art. 218 Abs. 3 AEUV ausgehandelt. Es wird nach Art. 50 Abs. 2 S. 4 EUV vom Rat im Namen der EU geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit (i.S.v. Art. 238 Abs. 3 lit. b) AEUV, siehe Art. 50 Abs. 4 UAbs. 2 EUV) nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. Für die Zwecke von Art. 50 Abs. 2 EUV nimmt das Mitglied des Europäischen Rates und des Rates, das den austretenden Mitgliedstaat vertritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der entsprechenden Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates teil, siehe Art. 50 Abs. 4 UAbs. 1 EUV. Die Verträge, d.h. der EUV und der AEUV (siehe Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV) - und damit denknotwendig ebenfalls das gesamte auf diesen beruhende bzw. von ihnen abgeleitete sonstige EU-Recht ( 2. Teil 1) 33 -, finden nach Art. 50 Abs. 3 Alt. 1 EUV auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat (ohne das den austretenden Mitgliedstaat vertretende Mitglied, Art. 50 Abs. 4 UAbs. 1 EUV) beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern. Alternativ zum vorgenannten Regelfall des Abschlusses eines Austrittsabkommens (v.a. im Fall von dessen Nichtzustandekommen) finden der EUV und der AEUV nach Art. 50 Abs. 3 Alt. 2 EUV auf den betroffenen Staat ebenfalls dann keine Anwendung mehr, wenn - vorbehaltlich der o.g., auch vorliegend möglichen Fristverlängerung - zwei Jahre nach der Austrittsmitteilung (Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV) verstrichen sind, sog. sunset clause 34 . Ist ein Abkommen nach Art. 50 Abs. 2 EUV mithin keinesfalls notwendige Voraussetzung ür einen EU-Austritt, so kommt in dem demnach einseitigen Austrittsrecht vielmehr die fortbestehende Souveränität der Mitgliedstaaten ( 1. Teil 3.3) zum Ausdruck. 35 Art. 50 Abs. 5 EUV zufolge muss ein Staat, der aus der EU ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, diesen Wiedereintritt nach dem Verfahren des Art. 49 EUV beantragen. Eine Wartezeit hier ür ist zwar 33 Die aufgrund EU-rechtlicher Vorgaben (z.B. Richtlinien 2. Teil 1.3.2) erlassenen nationalen Rechtsvorschriften bleiben hiervon unberührt, ihre Änderung bzw. Aufhebung steht dem Gesetzgeber des ausgetretenen Mitgliedstaats freilich offen, siehe Dörr, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 50 EUV Rn. 41. 34 Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 50 EUV Rn. 3; ders., Europarecht, Rn. 106. 35 Vgl. Calliess, in: ders./ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 50 EUV Rn. 5; Dittert, Europarecht, S. 13. <?page no="19"?> nicht vorgesehen, allerdings auch keine Erleichterungen im Vergleich zu solchen Staaten, die zuvor noch nicht EU-Mitglied gewesen sind. 36 Nach dem dortigen diesbezüglichen Referendum vom 23. Juni 2016 hat Großbritannien 37 (Britain) am 29. März 2017 dem Europäischen Rat seine Absicht, aus der EU auszutreten (exit), d.h. den sog. BREXIT (= Britain + Exit), unterrichtet. 38 Besteht die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden - den Kern- oder Wesensgehalt betreffenden - Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat, so kann nach Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EUV auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission der Rat dies mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, sog. Vorfeldmaßnahme. 39 Hat der Europäische Rat auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments sowie nach vorheriger Aufforderung des betroffenen Mitgliedstaats zur Stellungnahme einstimmig festgestellt, dass eine schwerwiegende und anhaltende - d.h. nicht nur einmalige oder kurzfristige - Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, so kann gem. Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat, sog. Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten. 40 Die sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen des 36 Hierauf hinweisend: Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 109. 37 Zu Grönland siehe Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 51. 38 Dittert, Europarecht, S. 13. Dort auch zu den verschiedenen Modellen für die Gestaltung des zukünftigen Verhältnisses zwischen der EU und Großbritannien nach vollzogenem BREXIT: norwegisches, Schweizer, türkisches und Drittstaats-Modell (letzteres als sog. „harter BREXIT“ mit dem WTO-Recht als „fall back position“). 39 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 113, 115. 40 ebd., Rn. 113. <?page no="20"?> betroffenen Mitgliedstaats sind ür diesen nach Art. 7 Abs. 3 UAbs. 2 EUV auf jeden Fall weiterhin verbindlich. Für Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit eines nach Art. 7 EUV erlassenen Rechtsakts ist nach Art. 269 AEUV der Gerichtshof zuständig, allerdings lediglich im Hinblick auf die Einhaltung der in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrensbestimmungen ( 2. Teil 3.5). In Ergänzung zu dem in Art. 7 EUV vorgesehenen Mechanismus hat die Kommission am 11. März 2014 41 einen neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips ür diejenigen Problem älle mitgeteilt, die mangels Zuwiderhandlung gegen EU-Recht zwar nicht als Vertragsverletzung i.S.v. Art. 258 AEUV angesehen werden können, aber dennoch eine systemische Ge ährdung der Rechtsstaatlichkeit darstellen. Dieses (informelle) sog. Rechtsstaatsverfahren ist erstmals im Jahr 2016 - und zwar gegen den Mitgliedstaat Polen im Hinblick auf die dortige Justizreform - eingeleitet worden. 42 Ob über die im Primärrecht ausdrücklich vorgesehenen Sanktionsmechanismen der Verhängung eines Pauschalbetrags und/ oder Zwangsgelds nach Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 bzw. Abs. 3 UAbs. 2 AEUV ( 2. Teil 6.1) sowie der Aussetzung von bestimmten Mitgliedschaftsrechten nach Art. 7 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV hinaus ein Mitgliedstaat gegen seinen Willen aus der EU 43 ausgeschlossen werden kann, ist mangels diesbezüglicher expliziter Regelung im EUV/ AEUV umstritten; nach Art. 48 Abs. 4 UAbs. 2 EUV bedarf eine Vertragsänderung der Ratifizierung in allen Mitgliedstaaten. 44 Teilweise wird diese Frage unter Hinweis auf Art. 60 Abs. 2 lit. a) Ziff. i) der Wiener Vertragsrechtskonvention bejaht, wonach bei einer erheblichen Verletzung eines mehrseitigen Vertrags durch eine Vertragspartei die anderen Vertragsparteien dazu berechtigt sind, einvernehmlich den Vertrag im Verhältnis zwischen ihnen und dem vertragsbrüchigen Staat ganz oder teilweise zu suspendieren oder ihn zu beenden. 45 Anderer Auffassung zufolge sei ein Rückgriff auf diese allgemeine völkervertragsrechtliche 41 COM(2014) 158 final. 42 Dittert, Europarecht, S. 14. Nachfolgend hat die Kommission das sog. Art. 7- Verfahren ausgelöst, siehe ec.europa.eu. 43 Zur Frage eines Ausschlusses aus der Eurozone siehe Hobe, Europarecht, Rn. 176. 44 Hierauf hinweisend: Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 110; Hobe, Europarecht, Rn. 176. 45 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 110; Streinz, Europarecht, Rn. 107, allerdings jeweils erst als ultima ratio gegenüber den o.g. unionsrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten. Bei Letzterem (a.a.O.) siehe auch zur clausula rebus sic stantibus des Art. 62 der Wiener Vertragsrechtskonvention. <?page no="21"?> Vorschrift im vorliegenden Zusammenhang hingegen ausgeschlossen und ein zwangsweiser EU-Ausschluss folglich nicht möglich; die o.g. unionsrechtlichen Bestimmungen träfen nämlich eine abschließende Regelung im Hinblick auf die im Fall einer Vertragsverletzung möglichen Sanktionen und die Mitgliedstaaten haben sich in Art. 344 AEUV dazu verpflichtet, Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als in diesen vorgesehen zu regeln. 46 Nach der in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG enthaltenen Staatszielbestimmung 48 soll die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der EU mitwirken. Steht die Beteiligung an der europäischen Integration mithin keinesfalls etwa im politischen Belieben der deutschen Staatsorgane, so ist die zur Er üllung dieses Verfassungsauftrags notwendige Ermächtigung des Gesetzgebers zur Übertragung von Hoheitsrechten (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG 49 ) freilich auch nicht schrankenlos. Vielmehr ist diese an die nachfolgend genannten Bedingungen geknüpft, welche sich aus dem sog. Europa- Artikel des Art. 23 GG ergeben: formell: zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) - in den Fällen des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG mit qualifizierter Mehrheit i.S.v. Art. 79 Abs. 2 GG -, in dem die Hoheitsrechtsübertragung auf die EU nach der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 123, 267) zudem „hinreichend bestimmt“ und „prinzipiell widerruflich“ erfolgen muss; materiell: die EU muss nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und öderativen Grundsätzen (sog. Struktursicherungsklausel 2. Teil 2.1) und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sein ( 2. Teil 2.2), sowie 46 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 2 Rn. 71; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 2 Rn. 38 f. 47 Dieses Kapitel beruht auf Wienbracke, DVP 2013, S. 227 ff. und S. 315 ff. m.w.N. 48 Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 18 m.w.N. 49 Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ist lex specialis gegenüber Art. 59 Abs. 2 GG. Zum Erfordernis eines Gesetzes nach der erstgenannten Vorschrift auch bei Vertragsänderungen (z.B. nach der allgemeinen Brückenklausel [franz.: „passerelle“] des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 1 S. 1 EUV) siehe nunmehr das IntVG und Wienbracke, DVP 2013, S. 227 (229) m.w.N. Dort (S. 229 f.) auch zu diesbezüglichen Anwendung von Art. 79 Abs. 2 GG. <?page no="22"?> einen dem deutschen GG im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten ( 2. Teil 2.3). Ferner bildet nach der sog. Bestandssicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG der in der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommende, unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität eine absolute Integrationsschranke i.d.S., dass die verfasste Staatsgewalt (pouvoir constitué) die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht preisgeben darf. Solange die verfassungsgebende Gewalt (pouvoir constituant), der allein eine solche Entscheidung vorbehalten ist (Art. 146 GG 1. Teil 3.3), diese aber nicht getroffen hat, muss gewährleistet sein, dass die nationalen Verfassungsorgane (v.a. der Deutsche Bundestag) weiterhin über einen gestaltenden Einfluss auf die politische Entwicklung in Deutschland ver ügen (z.B. hinreichende Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischen Gewicht 50 ). Wäre das deutsche Zustimmungsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG zu den europäischen Verträgen (derzeit: EUV und AEUV) mit den vorstehenden grundgesetzlichen Anforderungen unvereinbar und würde es deshalb vom BVerfG ür nichtig erklärt, so würde es in Bezug auf den Hoheitsbe-reich der Bundesrepublik Deutschland an einem Rechtsanwendungsbefehl ür die Geltung des auf diesem Gesetz beruhenden EU-Rechts fehlen mit der Folge, dass dieses insoweit nicht anwendbar wäre (zur zugrundeliegenden sog. Brückentheorie 1. Teil 3.2). Streng zu unterscheiden von der in Art. 23 Abs. 1 GG allein geregelten Thematik der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU sind die Fragestellungen nach dem ungleich praxisrelevanteren Erlass von Sekundärrecht durch die EU-Organe ( 2. Teil 2.2 und 4) - die deutsche Mitwirkung hieran richtet sich nach Art. 23 Abs. 2 bis 7 GG - sowie der hierzu ggf. ergehenden innerstaatlichen Durchführungsrechtsakte (z.B. deutsches Gesetz zur Umsetzung einer EU-Richtlinie 2. Teil 1.3.2.1 und 2.2). 50 Als besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates gelten dem BVerfG (BVerfGE 123, 267 [359]) zufolge „seit jeher Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht (1), die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen (2), die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und - gerade auch sozialpolitisch motivierte - Ausgaben der öffentlichen Hand (3), die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen (4) sowie kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften (5)“. <?page no="23"?> Obwohl die o.g. Struktursicherungsklausel dazu dient, das Grundge üge des GG davor zu schützen, dass dieses im Wege der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG aufgegeben wird, so wäre es dennoch verfehlt, die innerstaatlich insoweit geltenden verfassungsstaatlichen Anforderungen ohne Weiteres auf die supranationale Ebene zu übertragen und die EU auf die uneingeschränkte Verwirklichung derselben Vorgaben zu verpflichten, welche Art. 20 Abs. 1 GG ür den Bund und die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG ür die Länder vorschreibt. Vielmehr richten sich die konkreten Anforderungen nach dem jeweils erreichten Integrationsstand, d.h. Status und Funktion der EU. Aktuell wird dem durch Art. 2 S. 1 EUV Rechnung getragen - auch den demokratischen Grundsätzen, trotz des auf EU-Ebene auszumachenden Demokratiedefizits ( 2. Teil 3.1). Mit dem Ziel, die Stabilität des Euro-Währungsgebiets zu wahren, beschloss der Rat „Wirtschaft und Finanzen“ (ECOFIN, Art. 16 EUV), eine auf zwischenstaatlicher Vereinbarung beruhende europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) zu errichten, die Darlehen an finanziell notleidende Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets vergibt. Um die Voraussetzungen hier ür auf nationaler Ebene zu schaffen, verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Gesetz, wonach das Bundesministerium der Finanzen ermächtigt wird, ür EFSF-Kredite Gewährleistungen i.H.v. bis zu 123 Mrd. Euro zu übernehmen. Ist der deutsche Staatsangehörige S, der hiergegen Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erhoben hat, beschwerdebefugt nach § 90 Abs. 1 BVerfGG? Ja, denn es besteht die Möglichkeit, dass S durch das Gesetz in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verletzt wird. Dieses gewährt nicht nur das Recht auf Teilnahme an der Bundestagswahl, d.h. auf bloß formale Legitimation der Staatsgewalt auf Bundesebene. Vielmehr umfasst dieses Recht ebenfalls eine materiell wirksame Volksherrschaft - die jedoch hin ällig wäre, wenn das volksgewählte Parlament aufgrund weitreichender Kompetenzübertragungen Kernbestandteile seiner politischen Selbstbestimmung aufgäbe und damit dem Bürger dauerhaft dessen demokratischen Einflussmöglichkeiten entzöge. Die im hiesigen Gesetz vorgesehene Gewährleistungsermächtigung birgt aber gerade eine solche Gefahr. Weil der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt letztlich in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert ist und zu den durch Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG unveränderbar festgelegten Grundsätzen des deutschen Verfassungsrechts gehört, ist der Deutsche <?page no="24"?> Bundestag hieran gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG ebenfalls bei der Eingehung völkervertraglicher Bindungen, die im institutionellen Zusammenhang mit der supranationalen EU stehen, gebunden. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG verweist lediglich auf Art. 79 Abs. 2 und 3 GG, nicht hingegen auch auf Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG. Die durch Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG bewirkten Verfassungsänderungen lassen sich daher allein aus dem Text des GG nicht entnehmen; vielmehr ergibt sich ein zutreffendes Bild namentlich über die Kompetenzverteilung ( 2. Teil 4.1) erst aus den vertraglichen Grundlagen der EU. So läuft beispielsweise Art. 105 Abs. 1 GG, wonach der Bund - und nicht die Bundesländer - die ausschließliche Gesetzgebung über die Zölle hat, wegen des Verbots von Binnenzöllen (Art. 30 AEUV) und der ausschließlichen Zuständigkeit der EU ür den Gemeinsamen Zolltarif im Verhältnis zu Drittländern (Art. 3 Abs. 1 lit. a), e) i.V.m. Art. 31 bzw. Art. 207 AEUV) leer. 51 Der aus der katholischen Soziallehre stammende Gedanke der Subsidiarität besagt, dass der kleineren Einheit - nach Maßgabe ihrer Leistungs ähigkeit - Handlungsvorrang gegenüber der größeren Einheit zukommt. 52 Aus deutscher Perspektive soll durch die Verankerung dieses Grundsatzes in Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 EUV verhindert werden, dass das bundesstaatliche Prinzip des GG (Art. 20 Abs. 1 GG) durch Kompetenzverlagerungen auf die EU ausgehöhlt wird - vermag der Bund nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG doch auch innerstaatlich den Ländern zugewiesene Hoheitsrechte auf die EU zu übertragen. EU-Mitglied ist aus deutscher Sicht allein der Bund (Art. 52 Abs. 1 EUV), nicht dagegen auch die einzelnen Bundesländer, sog. Länderblindheit der EU. Gleichwohl sind auch diese an das EU-Recht gebunden ( 2. Teil 5.2 und 3. Teil 1.4.1.1) 51 Zum Ganzen: Schweitzer/ Dederer, Staatsrecht III, 11. Aufl. 2016, Rn. 146. 52 Wienbracke, DVP 2013, S. 315 (Fn. 8) m.w.N. <?page no="25"?> Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen (dazu: Art. 2 Abs. 1 AEUV 2. Teil 4.1.2), nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind, siehe Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV. Durch diese Kompetenzausübungsschranke soll im Interesse der Erhaltung kultureller, traditioneller und historischer Unterschiede den Mitgliedstaaten und ihren Untergliederungen (wie eben z.B. den deutschen Bundesländern) ein weitestgehend breiter Handlungsspielraum zur Wahrung der jeweiligen nationalen Identität belassen und auf diese Weise der Gefahr eines europäischen Zentralismus entgegengewirkt werden ( 2. Teil 4.1.3). Gem. Art. 5 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 und Art. 12 lit. b) EUV ist es Aufgabe der nationalen Parlamente, auf die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes nach dem im Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (EUSubsidProt 53 ) 54 vorgesehenen Verfahren zu achten. Zu diesem Zweck können sie, ebenso wie ihre „Kammern“ (z.B. Deutscher Bundestag und Bundesrat), nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EUSubsidProt bereits im laufenden EU-Rechtsetzungsverfahren eine begründete Stellungnahme dazu abgeben, weshalb der betreffende europäische Gesetzesentwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist, sog. ex ante-Kontrolle bzw. Frühwarnsystem; innerstaatlich siehe hierzu § 11 IntVG. Wird der Gesetzgebungsakt trotzdem verabschiedet - die vorgenannte sog. Subsidiaritätsrüge hat nach Art. 7 EUSubsid- Prot allenfalls aufschiebende Wirkung -, so kann dessen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip gem. Art. 8 EUSubsidProt mittels der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV vor dem Gerichtshof der EU geltend gemacht werden, sog. ex-post-Kontrolle; innerstaatlich siehe zu dieser sog. Subsidiaritätsklage Art. 23 Abs. 1a GG und § 12 IntVG. Um die Reaktions ähigkeit bei etwaigen zukünftigen Finanzkrisen zu verbessern, legte die Kommission einen auf die Vorgängernorm des heutigen Art. 53 Abs. 1 AEUV gestützten Richtlinienvorschlag vor, nach dem sich sämtliche Kreditinstitute in der EU einem Einlagensicherungssystem mit einer festen Deckungssumme i.H.v. 100.000 Euro anzuschließen haben. 53 ABl. EU C 115 vom 9.5.2008, S. 206. 54 Die Protokolle und Anhänge der Verträge sind nach Art. 51 EUV Bestandteil der Verträge, d.h. des EUV und des AEUV. <?page no="26"?> Mit Blick auf die in der Bundesrepublik Deutschland bereits bestehenden institutssichernden Systeme (etwa ür Sparkassen) war der Deutsche Bundestag der Ansicht, dass der vorgelegte Entwurf den unionsrechtlichen Subsidiaritätsgrundsatz verletze. Weil sich der vom Deutschen Bundestag daraufhin erhobenen Subsidiaritätsrüge allerdings nur zwei weitere Parlamente angeschlossen hatten, musste der Richtlinienentwurf nicht gem. Art. 7 EUSubsidProt überprüft werden. Da die von der EU ausgeübte Hoheitsgewalt die Grundrechtsberechtigten in Deutschland betrifft, 55 hat das BVerfG (BVerfGE 73, 339) bereits zu Art. 24 Abs. 1 GG a.F. erkannt, dass gegenüber den auf europäischer Ebene erlassenen Rechtsetzungsakten ein wirksamer Grundrechtsschutz generell gewährleistet sein muss, der dem vom GG als unabdingbar gebotenen im Wesentlichen gleich zu achten ist. Hieran knüpft der nunmehrige Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG an. Ein deckungsgleicher Schutz in den einzelnen Grundrechtsbereichen des GG durch das EU-Recht und die darauf fußende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist damit dem BVerfG (BVerfGE 102, 147) zufolge allerdings nicht gefordert. Vielmehr sind nach dieser Rechtsprechung die grundrechtsbezogenen Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG erst dann nicht mehr er üllt, wenn - anders als gegenwärtig der Fall - ein Vergleich des bundesdeutschen Grundrechtsschutzes mit demjenigen auf EU-Ebene ( 3. Teil 3) ergibt, dass dort (1) der unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz (2) generell nicht gewährleistet ist. Während Letzteres erst dann zu bejahen ist, wenn in Bezug auf die EU ein flächendeckender Ausfall des gebotenen Grundrechtsschutzes zu verzeichnen sein sollte (und nicht schon bei „Ausreißern“ im Einzelfall), so ist in Bezug auf die erstgenannte Voraussetzung umstritten, ob insoweit Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 GG oder vielmehr die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG maßstäblich ist. 56 Nach einer EU-Verordnung dürfen abweichend von der bis zu ihrem Inkrafttreten in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechtslage Bananen aus Drittstaaten grundsätzlich nur noch im Rahmen eines bestimmten Kontingents zollfrei einge ührt werden. Der deutsche Bananen- 55 Näher hierzu: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 112 ff. m.w.N. 56 Näher zu beiden: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 104 f., 211 ff. m.w.N. <?page no="27"?> importeur I mit Sitz in Hamburg meint, diese Regelung verstoße gegen sein Grundrecht auf Berufsfreiheit. Prüfungsmaßstab ür die Frage nach der Vereinbarkeit der vorgenannten EU-Verordnung gegen das Grundrecht des I auf Berufsbzw. unternehmerische Freiheit sind die Art. 15 f. der EU-GrCh (zu Art. 12 Abs. 1 GG 2. Teil 2.2.1). An diese Vorschriften sind die EU-Organe beim Erlass von Sekundärrecht (Art. 288 AEUV) nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 EU- GrCh gebunden ( 3. Teil 3.2.1). Rechtsgrundlagen der EU sind die von ihren Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge, d.h. aktuell der Vertrag über die EU (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV), vgl. Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV und Art. 1 Abs. 2 AEUV. Als internationale Übereinkünfte gelten völkerrechtliche Verträge im Ausgangspunkt allerdings nur zwischen den jeweils vertragsschließenden Staaten (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. a) der Wiener Vertragsrechtskonvention), nach der vom BVerfG (BVerfGE 111, 307) vertretenen Theorie vom dualistischen Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen (deutschen) Recht als zweier unterschiedlicher Rechtskreise nicht hingegen auch unmittelbar in diesem, d.h. im Verhältnis zum einzelnen Bürger, vgl. Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG. Hier ür bedarf es vielmehr eines innerstaatlichen Übernahmebzw. Transformationsakts, der bei Verträgen, welche die (hoch-)politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der (Bundes-)Gesetzgebung beziehen, gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG die Gestalt eines örmlichen Bundesgesetzes hat (BVerfG, BVerfGE 1, 372). Wegen Bedrohung des Weltfriedens (vgl. Art. 1 Nr. 1, Art. 39 UN- Charta) beschließt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Handelsembargo nach Art. 41 UN-Charta gegen den Schurkenstaat X. Dieser Beschluss bindet allein die Mitglieder der auf völkervertraglicher Grundlage geschaffenen internationalen Organisation „Vereinte Nationen“, d.h. die Staaten i.S.v. Art. 3 f. UN-Charta. Diese haben den Embargobeschluss erst noch durchzu ühren, siehe Art. 25 und Art. 48 Abs. 2 UN-Charta. Nach § 12 AWG erfolgt die Umsetzung der Resolutionen des 57 Dieses Kapitel beruht auf Wienbracke, DVP 2013, S. 59 ff. m.w.N. <?page no="28"?> Sicherheitsrats der Vereinten Nationen in der Bundesrepublik Deutschland durch den Erlass einer Rechtsverordnung, mit der gem. § 4 Abs. 2 Nr. 3 AWG Rechtsgeschäfte und Handlungen im Außenwirtschaftsverkehr beschränkt werden. Weil nach dem Vorstehenden völkerrechtliche Verträge innerhalb der deutschen Rechtsordnung im Rang eines einfachen Bundesgesetzes stehen, hat das BVerfG (BVerfGE 141, 1 m. Anm. Wienbracke, EWiR 2016, S. 205) ausdrücklich klargestellt, dass der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht daran gehindert ist, durch den Erlass eines normhierarchisch gleichrangigen, nach dem lex posterior-Grundsatz 58 jedoch vorrangigen späteren Gesetzes vom völkervertragsrechtlich Vereinbarten einseitig (unilateral) wieder abzuweichen, d.h. dieses zu „brechen“, sog. treaty override. Im Verhältnis zum gegenüber dem nationalen Recht höherrangigen EU-Recht gelangt diese Konkurrenzregel - ebenso wie der lex specialis-Grundsatz 59 - hingegen nicht zur Anwendung (daher u.a. kein directive override); insoweit greift vielmehr der Kollisionsgrundsatz lex superior derogat legi inferiori ( 2. Teil 2.1). Allerdings unterscheiden sich die Unionsverträge dem EuGH zufolge von gewöhnlichen internationalen Verträgen dadurch, dass sie eine eigene Rechtsordnung geschaffen haben. Denn durch die Gründung einer Union ür unbegrenzte Zeit (Art. 53 EUV, Art. 356 AEUV), die mit eigenen Organen (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV), mit Rechts- und Geschäfts ähigkeit (Art. 335 AEUV), mit internationaler Handlungs ähigkeit (vgl. z.B. Art. 47 EUV, Art. 216 ff. AEUV) und insbesondere mit wirklichen, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die EU herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist ( 1. Teil 2), haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet (Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV), ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der ür 58 Lat.: „Das spätere Gesetz verdrängt das frühere Gesetz“. Dazu: Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 71 m.w.N. 59 Lat.: „Das spezielle Gesetz verdrängt das allgemeine Gesetz“. Dazu: Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 64 ff. m.w.N. <?page no="29"?> ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist (zum Ganzen: das noch zum EWG-Vertrag ergangene Costa ./ . E.N.E.L.-Urteil des EuGH, ECLI: EU: C: 1964: 66). In einer jüngeren Entscheidung formuliert der EuGH (ECLI: EU: C: 2018: 158), dass das EU-Recht einer autonomen Quelle, nämlich den Verträgen, entspringt bzw. sowohl als Teil des in jedem Mitgliedstaat geltenden Rechts als auch als einem internationalen Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten entsprungen anzusehen ist. Das wohl bedeutendste Kennzeichen der grundsätzlich 60 supranationalen, d.h. überstaatlichen, Unionsrechtsordnung ist neben der Möglichkeit der EU, einzelne Mitgliedstaaten auch ohne deren Zustimmung (durch unabhängige EU-Organe) bzw. im Wege der Mehrheitsabstimmung sogar gegen ihren Willen (siehe z.B. Art. 16 Abs. 3 EUV, Art. 238 AEUV) rechtlich verpflichten zu können, sowie dem Vorrang des EU-Rechts vor diesem widersprechenden nationalen Recht der Mitgliedstaaten ( 2. Teil 2.1), die unmittelbare Geltung bzw. Wirkung 61 zahlreicher 62 ür ihre Staatsangehörigen und ür sie selbst geltender Bestimmungen (z.B. gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV Verordnungen 2. Teil 1.3.1). Unmittelbare Geltung bzw. Wirkung einer EU-rechtlichen Bestimmung bedeutet deren volle Wirkung einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an (Art. 54 Abs. 2 EUV, Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3 S. 2, Art. 357 Abs. 2 AEUV) und während der gesamten Dauer ihrer Gültigkeit als unmittelbare Quelle von Rechten und Pflichten ür alle diejenigen, die sie betreffen - einerlei, ob es sich um die Mitgliedstaaten oder um solche Einzelpersonen handelt, die an Rechtsverhältnissen beteiligt sind, welche dem EU- Recht unterliegen (EuGH, ECLI: EU: C: 1978: 49). Während der EuGH im Urteil van Gend & Loos (ECLI: EU: C: 1963: 1) die unmittelbare Geltung bzw. Wirkung aus dem gegenüber seinen völkervertraglichen Wurzeln verselbstständigten EU-Recht abgeleitet hat, begründet das BVerfG (BVerfGE 58, 1; 73, 339; 89, 155) diese mit dem deutschen Zustimmungsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG als „inner- 60 Ausnahme: Bereich der (intergouvernementalen) GASP, Art. 23 ff. EUV. 61 Zur hiervon zu unterscheidenden „unmittelbaren Anwendbarkeit“ des EU- Rechts 2. Teil 1.1.1. 62 Ausnahme: z.B. Richtlinien als nicht-supranationales EU-Recht, siehe Art. 288 Abs. 3 AEUV ( 2. Teil 1.3.2). <?page no="30"?> staatlichem Rechtsanwendungsbefehl“ hierzu, sog. Brückentheorie ( 1. Teil 2). Zu rechtspraktischen Konsequenzen ühren diese dogmatischen Differenzen in puncto „Verhältnis des EU-Rechts zum nationalen Recht“: Obgleich EuGH und BVerfG insoweit zum einhelligen Ergebnis des Anwendungsvorrangs des unmittelbar anwendbaren EU- Rechts vor entgegenstehendem nationalen (auch Verfassungs-)Recht gelangen, so ist die vom BVerfG gegenüber dem Sekundärrecht praktizierte Ultra-vires- und (Verfassungs-)Identitätskontrolle sowie der diesbezügliche Solange II-Vorbehalt doch allein auf Grundlage der o.g. Brückentheorie denkbar ( 2. Teil 2.2.1) - ebenso wie sich umgekehrt die seitens des EuGH im Foto-Frost-Urteil (ECLI: EU: C: 1987: 452) erfolgte strikte Zurückweisung jeglicher Kompetenz der nationalen Gerichte, Handlungen der EU-Organe ür ungültig zu erklären, als Folge der von diesem vorgenommenen Qualifizierung des EU-Rechts als eigenständige Rechtsquelle erklärt ( 2. Teil 2.2.2). Nachdem sich die Mitgliedstaaten im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) auf ein Handelsembargo gegen den Schurkenstaat Y geeinigt hatten, erließ der Rat eine entsprechende Verordnung nach Art. 215 Abs. 1 AEUV. Weil diese gem. Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, ergibt sich das Verbot, an unter das gegen den Schurkenstaat Y verhängte Embargo fallenden Handelsgeschäften mitzuwirken, ür die einzelnen Unternehmen der Mitgliedstaaten bereits aus der Verordnung selbst - ohne dass hier ür noch ein Umsetzungsakt durch die Mitgliedstaaten notwendig wäre. Obgleich die EU somit mehr ist als ein bloßer Staatenbund 63 (wie etwa der Deutsche Bund von 1815-1866), so er üllt sie beim gegenwärtigen Integrationsstand dennoch nicht die Merkmale eines (europäischen Bundes-)Staates ( 1. Teil 1.1) i.S.d. Drei-Elemente-Lehre 64 nach Georg Jellinek: Bereits ihrem Selbstverständnis nach ver ügt die EU nicht über ein eigenes europäisches Staatsvolk (vgl. den Plural in Art. 1 Abs. 2 EUV: 63 Mit diesem Begriff wird „eine Verbindung von Staaten bezeichnet […], die ihre Beziehungen zwar vertraglich koordinieren, aber keine wesentlichen Entscheidungsbefugnisse an die Zentralgewalt abtreten“, Doerfert, Europarecht, 5. Aufl. 2012, Rn. 21. 64 Zu dieser siehe Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 1 f. m.w.N. <?page no="31"?> „Union der Völker Europas“) 65 und nach dem in Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV verankerten Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ebenfalls nicht über eine originäre Herrschaftsmacht (Staatsgewalt). 66 Vielmehr leitet die EU ihre Herrschaftsgewalt von den Mitgliedstaaten als den „Herren der Verträge“ ab und ver ügt keinesfalls über die Befugnis, aus eigener Macht weitere Zuständigkeiten ür sich zu begründen (keine sog. „Kompetenz-Kompetenz“ 2. Teil 4.1). Für Letzteres bleibt die EU nach Art. 48 EUV auf Vertragsänderungen angewiesen, die von den Mitgliedstaaten auf Grundlage ihres jeweiligen nationalen Verfassungsrechts vorgenommen werden (in Deutschland: Art. 23 GG 1. Teil 2). Aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts dürfte die EU gegenwärtig auch gar kein (Bundes-)Staat sein (keine „Vereinigte Staaten von Europa“ 1. Teil 1.1). Dies hat das BVerfG im Lissabon-Urteil (BVerfGE 123, 267) mit Blick auf Art. 23 und Art. 79 Abs. 3 GG ausdrücklich entschieden. Denn danach ermächtigt das GG die ür Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen europäischen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Vielmehr ist dieser Schritt hiernach wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten, vgl. Art. 146 GG ( 1. Teil 2). Weil sich die EU demnach keiner der bis dato etablierten Kategorien von Staatenverbindungen zuordnen lässt, hat das BVerfG im Maastricht-Urteil (BVerfGE 89, 155) zu ihrer Kennzeichnung als Rechtsordnung eigener Art (sui generis) - zwischen Völkerrecht und nationalem Recht - den Begriff „Staatenverbund“ geschaffen, worunter es eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten versteht, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Ver ügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker, d.h. die staatsangehörigen Bürger, der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben (BVerfG, BVerfGE 123, 267 2. Teil 3). 65 Auch aus den Vorschriften über die Unionsbürgerschaft ergibt sich nichts anderes, knüpft diese doch an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats an und tritt zu dieser hinzu, ersetzt diese aber nicht ( 3. Teil 2). 66 Zum Merkmal „Staatsgebiet“ in Bezug auf die EU vgl. Oppermann, in: ders./ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 4 Rn. 19. <?page no="32"?> Rechtsquellen des EU-Rechts sind das Primärrecht ( 2. Teil 1.1), die völkerrechtlichen Verträge der EU ( 2. Teil 1.2), das von den EU-Organen geschaffene Sekundärrecht ( 2. Teil 1.3) und das von diesen auf dessen Grundlage erlassene Tertiärrecht, d.h. sog. delegierte Rechtsakte gem. Art. 290 AEUV und Durch ührungsrechtsakte gem. Art. 291 Abs. 2 AEUV ( 2. Teil 4.2.2 bzw. 2. Teil 5.2). 68 Vom EU-Recht als Europarecht i.e.S. zu unterscheiden ist das Europarecht i.w.S., d.h. das Recht aller sonstigen Formen institutionalisierter Zusammenarbeit in Europa wie dem Europarat mit der EMRK ( 3. Teil 3), der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA 3. Teil 1.4.2), dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR 3. Teil 1.3.1) und der Organisation ür Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Ebenso wie im Hinblick auf die Normen des deutschen Rechts der Fall, existiert ebenfalls in Bezug auf die vorgenannten EU-Rechtsquellen ein Stufenbau der Rechtsnormen: An der Spitze dieser unionsrechtlichen Normenpyramide steht das Primärrecht. Es ist die (Ermächtigungs-) Grundlage und Grenze des von ihm abgeleiteten und damit nachrangigen Sekundärrecht als Art einfache Gesetzesebene sowie zugleich Maßstab ür die Beurteilung von dessen Rechtmäßigkeit bzw. Gültigkeit, vgl. Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, Art. 13 Abs. 2 EUV und Art. 2 Abs. 6 AEUV. Wegen dieses Vorrangs ist namentlich das Sekundärrecht, das seinerseits als Basisrechtsakt zu dem ihm gegenüber nachrangigen Tertiärrecht fun- 67 Dieses Kapitel beruht auf Wienbracke, DVP 2014, S. 416 ff. und S. 487 ff. m.w.N. 68 Das Tertiärrecht ist im Rahmen der juristischen Ausbildung von eher untergeordneter Bedeutung und wird hier nicht näher behandelt. <?page no="33"?> giert (vgl. Art. 290 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV 2. Teil 4.2.2), nach Möglichkeit primärrechtskonform auszulegen. Die völkerrechtlichen Verträge der EU schließlich befinden sich im Rang unter dem Primärrecht (vgl. Art. 218 Abs. 11 AEUV) und über dem Sekundärrecht, vgl. Art. 216 Abs. 2 AEUV. Gegenüber dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten haben sämtliche EU- Rechtsquellen Vorrang. Nach Art. 12a Abs. 4 S. 2 GG a.F. durften Frauen in der Bundeswehr auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten. Entsprechend hieß es in den einschlägigen einfach-gesetzlichen Vorschriften des Soldatengesetzes und der Soldatenlaufbahnverordnung, dass Frauen nur aufgrund freiwilliger Verpflichtung und nur in Laufbahnen des Sanitäts- und Militärmusikdienstes eingestellt werden durften. Unter Hinweis hierauf wurde die Bewerbung von Tanja Kreil, einer ausgebildeten Elektronikerin, ür den freiwilligen Dienst in der Bundeswehr mit dem Verwendungswunsch Instandsetzung (Elektronik) vom dortigen Personalstammamt abgelehnt. Frau Kreil meinte, dies verstoße gegen das Unionsgrundrecht der Gleichbehandlung von Männern und Frauen. Hieran ändere sich auch nichts durch Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 76/ 207/ EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen 69 , wonach diese Richtlinie nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegensteht, solche beruflichen Tätigkeiten, ür die das Geschlecht auf Grund ihrer Art oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen. Hierzu hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2000: 2) entschieden, dass der Ausschluss von Frauen ür nahezu alle militärischen Verwendungen in der Bundeswehr nicht als eine Ausnahmemaßnahme angesehen werden kann, die durch Art. 2 Abs. 2 der vorgenannten Richtlinie gerechtfertigt wäre. Denn diese Bestimmung betrifft nur spezifische Tätigkeiten, nicht aber den vollständigen Ausschluss von Frauen vom Dienst mit der Waffe. Auf die diesbezügliche Vorlagefrage des mit dem vorgenannten Ausgangsrechtsstreit befassten deutschen Gerichts hat der EuGH daher geantwortet, dass die obige Richtlinie (Sekundärrechtsakt) der Anwendung mitgliedstaatlicher Bestimmungen wie Art. 12a Abs. 4 S. 2 GG a.F. (nationales Verfassungsrecht) entgegensteht, die Frauen allgemein vom Dienst mit der Waffe ausschließen. 69 ABl. EG L 39 vom 14.2.1976, S. 40. <?page no="34"?> Abb. 1: Normenpyramide 70 Sofern eine rangniedere EU-Rechtsnorm 71 (z.B. des Sekundärrechts) nicht derart ausgelegt werden kann, dass sie in Einklang mit dem höherrangigen EU-Recht (z.B. Primärrecht) steht, d.h. eine primärrechtskonforme Interpretation nicht möglich ist ( 2. Teil 1.4), ist sie nach dem auch auf europäischer Ebene geltenden lex superior-Grundsatz 72 nichtig. 73 Dieser Geltungsvorrang greift aufgrund der vom EuGH aufgestellten Vermutung der Gültigkeit von EU-Rechtsakten allerdings erst dann Platz, wenn diese aufgehoben, auf eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV hin ür nichtig ( 2. Teil 6.2) oder im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV ür ungültig erklärt worden sind ( 2. Teil 6.5). Bis dahin sind sie dagegen ebenfalls von den mitgliedstaatlichen Behörden und Ge- 70 In dieser (nach Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 49 m.w.N.) ist das Tertiärrecht ausgespart. Vgl. auch Abb. 4 ( 3. Teil 1.2.1). 71 Zu den Folgen des Verstoßes einer Norm des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten gegen eine solche des EU-Rechts (Anwendungsvorrang) 2. Teil 2.1. 72 Lat.: „die höherrangige Norm verdrängt die niederrangige Norm“. Dazu: Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 50 ff. m.w.N. 73 Riesenhuber, in: ders., Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 10 Rn. 29 . Primärrecht völkerrechtliche Verträge der EU Sekundärrecht nationales Recht der Mitgliedstaaten - EUV und AEUV - EU-GrCh - Allgemeine Rechtsgrundsätze des EU-Rechts - Verordnungen - Richtlinien - Beschlüsse u.a. GG <?page no="35"?> richten grundsätzlich 74 als wirksam zu behandeln. Die Annahme einer rechtlichen Inexistenz kommt nur bei offenkundigem Vorliegen eines schwerwiegenden, unionsrechtlich nicht tolerierbaren Fehlers in Betracht. 75 Weil der Unionsgesetzgeber mit der sog. Vorratsdatenspeicherungs- Richtlinie 2006/ 24/ EG 76 gegen die Unionsgrundrechte des Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und des Art. 8 EU-GrCh (Schutz personenbezogener Daten) verstoßen hat, wurde sie vom EuGH (ECLI: EU: C: 2014: 238) im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV ür ungültig erklärt. Im Verhältnis zueinander sind die jeweils auf derselben Stufe der unionsrechtlichen Normenhierarchie befindlichen EU-Rechtsnormen gleichrangig, siehe z.B. Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV und Art. 1 Abs. 2 S. 2 AEUV sowie Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Hs. 2 EUV. Zur Auflösung von insoweit ggf. auftretenden Normenkonkurrenzen ist auf die allgemeinen juristischen Regeln des lex specialis- 77 und des lex posterior 78 -Grundsatzes zurückzugreifen. Wird das betreffende normative Spannungsverhältnis auch hierdurch nicht beseitigt, so ist im konkreten Fall ein möglichst schonender Ausgleich zwischen den miteinander konfligierenden, ranggleichen Rechten herzustellen, sog. praktische Konkordanz 79 ( 3. Teil 1.1.6, 1.2.2, 1.4.1, 1.5.2.1, 3.2.2 und 3.5.2.1). Das Primärrecht der EU besteht aus dem EUV und dem AEUV ( 2. Teil 1.1.1), einschließlich nachfolgender Änderungen und Beitrittsverträge (Art. 48 f. EUV) sowie der Protokolle und Anhänge (Art. 51 EUV), 74 Ausnahme: Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, siehe Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 575 m.w.N. 75 Zum Ganzen: Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 27, 50; Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 84. 76 ABl. EU L 105 vom 13.4.2006, S. 54. 77 Lat.: „Das spezielle Gesetz verdrängt das allgemeine Gesetz“. Dazu: Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 64 ff. m.w.N. 78 Lat.: „Das spätere Gesetz verdrängt das frühere Gesetz“. Dazu: Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 71 m.w.N. 79 Dazu vgl. in Bezug auf das GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 86, 153, 511 m.w.N. <?page no="36"?> der Charta der Grundrechte der EU (EU-GrCh 2. Teil 1.1.2), und den (ungeschriebenen) allgemeinen Rechtsgrundsätzen des EU-Rechts ( 2. Teil 1.1.3). 80 Funktionell bilden der EUV und der AEUV die „Verfassungsurkunde“ der EU (zu deren derzeit freilich fehlender Staatsqualität 1. Teil 3.3). Ob die in diesen Verträgen enthaltenen Bestimmungen, die aufgrund der Supranationalität des EU-Rechts innerhalb der nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten prinzipiell unmittelbar gelten bzw. wirken ( 1. Teil 3.2) auch im Verhältnis Mitgliedstaat-Bürger 81 unmittelbar anwendbar sind, d.h. der Rechtsanwender (z.B. Gericht, Behörde) ihnen im konkreten Fall ohne Weiteres Rechtsfolgen entnehmen kann (Subsumtions ähigkeit), ist nach der EuGH-Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 1966: 34) insoweit zu bejahen, als sie eine klare und unbedingte Verpflichtung begründen und zu ihrer Durch ührung keiner weiteren Maßnahmen der EU-Organe oder der Mitgliedstaaten bedürfen (so aber z.B. das Beihilfenverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV 3. Teil 4.2.1). I.d.S. „rechtlich vollkommen“ sind v.a. die Grundfreiheiten ( 3. Teil 1.1.5), das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 2), das unionsbürgerliche Freizügigkeitsrecht des Art. 21 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 2) sowie das beihilfenrechtliche Durch ührungsverbot des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV ( 3. Teil 4.2.2). Auf den Verstoß gegen eine solche Vorschrift kann sich der Einzelne allerdings nur dann mit Erfolg berufen, wenn deren Auslegung ergibt, dass sie zusätzlich auch noch ein subjektives Recht ür diesen begründet (so z.B. in Bezug auf sämtliche vorgenannten Primärrechtsnormen der Fall). Um die Staatsfinanzen aufzubessern, ührt Mitgliedstaaten M einen Einfuhrzoll auf den Import von Kaffee aus dem EU-Ausland ein. Das diese Regelung beinhaltende nationale Gesetz von M ist wegen Verstoßes gegen den ohne weiteren Transformationsakt unmittelbar geltenden bzw. wirkenden Art. 30 AEUV nicht anwendbar. Weil diese zudem klare und unbedingte Verbotsvorschrift auch von keinen weiteren 80 Das ebenfalls nicht positivierte Gewohnheitsrecht der EU hat keine große praktische Bedeutung. Zu einem Beispiel hierfür s.u. Fn. 185. 81 Zur horizontalen Wirkung im Verhältnis der Bürger untereinander 3. Teil 1.4.1.3, 2.1.3.1 und 2.2.3.1. <?page no="37"?> Maßnahmen abhängig ist und ein subjektives Recht der Unionsbürger begründet, können diese sich hierauf gegenüber den Behörden und Gerichten von M mit Erfolg berufen. Die ür die EU gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Hs. 1 EUV verbindliche Charta der Grundrechte der EU (EU-GrCh) ist nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Hs. 2 EUV rechtlich gleichrangig mit den Verträgen, d.h. dem EUV und dem AEUV und gehört damit ebenfalls zum Primärrecht. Die in dieser Charta verbürgten Rechte, Freiheiten und Grundsätze schützen nach ihrem Art. 51 Abs. 1 S. 1 den Einzelnen vorrangig vor dem Handeln der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union. Für die Mitgliedstaaten gilt die Charta gemäß der vorgenannten Vorschrift ausschließlich bei der „Durch ührung des Rechts der Union“ (näher 3. Teil 3). Eine Bindung der europäischen Hoheitsgewalt an die mitgliedstaatlichen Grundrechte (z.B. des deutschen GG) wird dagegen vom EuGH in ständiger Rechtsprechung verneint ( vgl. 2. Teil 2.2.2); zur diesbezüglichen Rechtsprechung des BVerfG 2. Teil 2.2.1. Den in Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 340 Abs. 2 AEUV ausdrücklich erwähnten allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts kommt angesichts der sich noch immer im Aufbau befindlichen und damit in Teilen denknotwendig unvollständigen EU-Rechtsordnung eine lückenschließende Funktion zu. Immer dann, wenn sich im geschriebenen EU-Recht keine Regelung zur Beantwortung des sich jeweils stellenden Rechtsproblems findet, ist der Frage nach der Existenz eines diesbezüglichen ungeschriebenen allgemeinen Unionsrechtsgrundsatzes nachzugehen. Soweit dieser seinem Inhalt nach in diesen Rang einzustufen ist, gehört er dem Primärrecht an. Gegenüber dessen geschriebenen Bestandteilen sind die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Rechts subsidiär und eine sie (ggf. einschränkende) Positivierung ist jederzeit möglich, siehe z.B. Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EUV ( 2. Teil 4.1.3) und Art. 52 Abs. 1 S. 2 EU- GrCh ( 3. Teil 3.5.2.1) zum ursprünglich als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Rechts entwickelten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Noch zu Letzterem heißt es in EuGH, ECLI: EU: C: 1989: 303, dass nach dem zu den allgemeinen Grundsätzen des nunmehrigen EU-Rechts gehörenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Maßnahmen, durch welche den Wirtschaftsteilnehmern <?page no="38"?> finanzielle Belastungen auferlegt werden, nur rechtmäßig sind, wenn sie zur Erreichung der zulässigerweise mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Dabei ist nach dieser Rechtsprechung, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen dieser zufolge die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen. Nach der einschlägigen Richtlinienbestimmung steht es den Mitgliedstaaten frei, ob sie die Einräumung eines Nießbrauchrechts an einem Grundstück der Mehrwertsteuer (MwSt) unterwerfen oder nicht. In Mitgliedstaat M unterlag dieser Vorgang zunächst nicht der MwSt. Am 31.3. erklärte die Regierung von M jedoch in einer Pressemitteilung, dass sie den Entwurf eines Gesetzes in das Parlament eingebracht habe, welches die Bestellung eines Nießbrauchrechts an einem Grundstück der MwSt unterwirft. Das Parlament von M verabschiedete erst am 29.12. das noch am gleichen Tag veröffentlichte Gesetz. Aufgrund der Be ürchtung, dass es zwischen dem 31.3. und dem 29.12. in großem Stil zu einem Leerlaufen der Neuregelung durch Ausnutzung der bisherigen Rechtslage kommen würde, trat das Gesetz allerdings nicht erst am 29.12., sondern rückwirkend bereits zum 31.3. in Kraft. Unternehmer U, der noch am 28.12. ein Nießbrauchrecht an einem Grundstück bestellt hatte, ist der Auffassung, dass das EU-Recht eine solche belastende Rückwirkung verbiete. Stimmt das? Nach der EuGH-Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 2005: 251) gehören die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Vertrauensschutzes 82 und der Rechtssicherheit zur EU-Rechtsordnung. 83 Als solche sind sie nicht nur von den EU-Organen, sondern ebenfalls von den Mitgliedstaaten zu beachten, wenn diese - wie hier bei der Ausübung der ihnen durch eine Richtlinie eingeräumten Spielräume der Fall - ein Gesetz erlassen, das unter das EU-Recht ällt. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es i.d.R, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts (hier: 31.3.) auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung (hier: 29.12.) zu legen. Ausnahmsweise kann dies aber dann anders sein, wenn ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel diese Gesetzgebungstechnik verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist. Vorlie- 82 Grundlegend dazu: EuGH, ECLI: EU: C: 1988: 213, Rn. 21 ff. 83 Zur Rückwirkungsthematik in Bezug auf das GG siehe Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 13 f., und in Bezug auf das US-Recht ders. ZVglRWiss 2015, S. 337 ff., jeweils m.w.N. <?page no="39"?> gend besteht der Grund ür die Rückwirkung des Änderungsgesetzes in der Be ürchtung, dass es zwischen dem Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Regierungspläne zur Gesetzesänderung (am 31.3.) und deren Verabschiedung durch das Parlament von M (am 29.12.) in großem Ausmaß zu den o.g. Ankündigungsbzw. Mitnahmeeffekten kommen könnte. Entsprechenden Konstruktionen vorzubeugen, kann ein das rückwirkende Inkrafttreten eines belastenden Gesetzes rechtfertigendes Allgemeininteresse darstellen. Die Kompetenz ür die Gewinnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Rechts als Akt der Rechtsfortbildung liegt gem. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV beim EuGH ( 2. Teil 3.5), wonach dieser die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge sichert. Aus dem Charakter der EU als Rechtsgemeinschaft wurde schon früh abgeleitet, dass in ihrem Zuständigkeitsbereich bestimmte rechtsstaatliche Grundsätze gelten müssen, auch wenn sie nicht oder noch nicht schriftlich niedergelegt sind (GA Kokott, ECLI: EU: C: 2010: 229). Zu den vorrangig im Verhältnis der EU, jedenfalls beim unmittelbaren indirekten Vollzug ( 2. Teil 5.2), aber auch der Mitgliedstaaten zu den Unionsbürgern unmittelbar anwendbaren und den Einzelnen subjektive Rechte verschaffenden allgemeinen Rechtsgrundsätzen des EU-Rechts gehört neben den o.g. Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sowie der Haftung der Mitgliedstaaten ür Unionsrechtsverstöße ( 2. Teil 2.3) und dem Verbot des Rechtsmissbrauchs ( 3. Teil 1.3.2.1 und 3.3.2.1) auch der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 84 . Aufgrund der bislang nicht vorhandenen Kodifikation des EU-Verwaltungsverfahrensrechts bilden u.a. die vorstehenden Grundsätze das den direkten Vollzug des EU-Rechts regelnde Allgemeine Verwaltungsrecht der EU ( 2. Teil 5.1). 84 Dazu in Bezug auf das deutsche Recht: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 8 ff. m.w.N. <?page no="40"?> Die von der EU - nicht: den Mitgliedstaaten 85 - als eigenständigem Völkerrechtssubjekt (vgl. Art. 47 EUV) geschlossenen völkerrechtlichen Verträge gehören mit ihrem Inkrafttreten 86 zur EU-Rechtsordnung - ohne, dass es hier ür noch eines Transformationsakts bedürfte. Die Bindung an diese Abkommen, Übereinkünfte bzw. Vereinbarungen ergibt sich ür die EU bereits aus dem allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz pacta sunt servanda 87 (vgl. Art. 26 der Wiener Vertragsrechtskonvention), ür die Mitgliedstaaten hingegen erst aufgrund von Art. 216 Abs. 2 AEUV und dies auch lediglich im Verhältnis zur EU. Ob ein von der EU mit einem Drittstaat abgeschlossener völkerrechtlicher Vertrag über seine mithin bestehende unmittelbare Wirkung hinaus zudem unmittelbar anwendbar ist und dem Einzelnen subjektive Rechte vermittelt, richtet sich nach den o.g. Maßstäben ( 2. Teil 1.1.1). So bejaht der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit von Assoziierungsabkommen nach Art. 217 AEUV (z.B. mit der Türkei 88 ), während er sie in Bezug auf das WTO-Recht (v.a. GATT) grundsätzlich verneint. Folglich ist Letzteres weder von den nationalen Behörden und Gerichten unmittelbar anzuwenden noch als Prüfungsmaßstab gegenüber dem Sekundärrecht heranzuziehen. Um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt es sich ebenfalls bei der EMRK, welcher die EU nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV beitreten soll ( 3. Teil 3.1.2; vgl. auch Art. 218 Abs. 6 UAbs. 2 lit. a) Ziff. ii), Abs. 8 UAbs. 2 AEUV und Art. 59 Abs. 2 EMRK). Sobald die EU diesen Auftrag er üllt hat, 89 kommt der EMRK aus deutscher Sicht nicht - wie bislang der Fall - lediglich der Rang von einfachem Bundesrecht 85 Zu gemischten Abkommen, die neben der EU auch die Mitgliedstaaten als Vertragsparteien unterzeichnen, und zu völkerrechtlichen Verträgen nur der Mitgliedstaaten siehe Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 447, 451 ff.; zu Altverträgen siehe Art. 351 AEUV. 86 Zur Gültigkeit internationaler Übereinkünfte siehe EuGH, ECLI: EU: C: 2018: 118. 87 Lat.: „Verträge sind einzuhalten“. 88 ABl. EG L 217 vom 29.12.1964, S. 3687. 89 Einen diesbezüglichen Vertragsentwurf hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2014: 2454) in einem Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV allerdings für unionsrechtswidrig erachtet; vgl. auch zuvor bereits EuGH, ECLI: EU: C: 1996: 140. <?page no="41"?> zu, 90 sondern wird sie als sodann Teil des EU-Rechtsquellensystems vielmehr Vorrang vor dem gesamten innerstaatlichen Recht entfalten ( 2. Teil 2.1). Nach der nicht abschließenden (str.) Aufzählung in Art. 288 Abs. 1 AEUV besteht das Sekundärrecht der EU vornehmlich aus den folgenden, von den EU-Organen auf Grundlage des EUV und AEUV erlassenen Handlungsformen: Verordnungen ( 2. Teil 1.3.1), Richtlinien ( 2. Teil 1.3.2), Beschlüsse ( 2. Teil 1.3.3) sowie Empfehlungen und Stellungnahmen - wobei die beiden Letztgenannten nach Art. 288 Abs. 5 AEUV allerdings jeweils nicht rechtsverbindlich sind. 91 Für die Qualifizierung der Maßnahme eines EU-Organs als Verordnung, Richtlinie etc. kommt es auf deren materiellen Gegenstand und Inhalt an, nicht dagegen auf ihre formelle Bezeichnung. Diese gibt zudem auch keine Auskunft darüber, ob der jeweilige Rechtsakt i.S.v. Art. 288 AEUV in einem (ordentlichen oder besonderen) Gesetzgebungsverfahren (vgl. Art. 289 Abs. 1, 2 und Art. 294 AEUV) als „Gesetzgebungsakt“ (Art. 289 Abs. 3 AEUV) oder vielmehr als Rechtsakt ohne Gesetzgebungscharakter in einem sonstigen Rechtsetzungsverfahren ergangen ist; maßgeblich hier ür ist vielmehr die jeweilige Kompetenznorm ( 2. Teil 4.2). Sofern diese die Art des Rechtsaktes nicht näher vorgibt (so z.B. Art. 114 Abs. 1 S. 2 AEUV: „Maßnahmen“), entscheiden nach Art. 296 Abs. 1 AEUV die betreffenden EU-Organe darüber von Fall zu Fall unter Einhaltung der geltenden Verfahren und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ( 2. Teil 4.1 und 4.1.3). Aus Sicht der Mitgliedstaaten erweist sich die Richtlinie gegenüber der Verordnung als souveränitätsschonender und damit als das insoweit 90 Gleichwohl zieht das BVerfG die EMRK als Hilfe bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des GG heran, siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 8 m.w.N. Zu den Grenzen einer konventionsfreundlichen Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des GG („Rezeptionshemmnis“) siehe BVerfGE 137, 273 (320 f.). 91 Folglich werden Empfehlungen und Stellungnahmen hier nicht näher thematisiert. <?page no="42"?> mildere Mittel ( 2. Teil 4.1.3). Dementsprechend sind im EUV und AEUV die Kompetenzen zum Erlass von Richtlinien denn auch vornehmlich in solchen Bereichen wie etwa dem Binnenmarkt vorgesehen (siehe z.B. Art. 115 AEUV), in denen es nicht um Rechtsvereinheitlichung, sondern vielmehr um Rechtsangleichung (sog. Harmonisierung) unter Wahrung der Eigenheiten der nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geht. Gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV hat die Verordnung allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Aus der abstrakt-generellen Wirkung („allgemeine Geltung“, Art. 288 Abs. 2 S. 1 AEUV) der Verordnung folgt i.V.m. der Verbindlichkeit „in allen ihren Teilen“ (Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV) ihre Rechtsnormqualität als „europäisches Gesetz“ (Art-I-33 Abs. 1 UAbs. 2 des gescheiterten VVE 92 ) im materiellen Sinn. Die (EU-)Verordnung i.S.v. Art. 288 Abs. 2 AEUV ist streng zu unterscheiden von Rechtsverordnungen der Mitgliedstaaten (z.B. gem. Art. 80 GG 93 ). Aufgrund der nach Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV zudem bestehenden Geltung bzw. Wirkung „unmittelbar in jedem Mitgliedstaat“ wird die Verordnung mit ihrem Inkrafttreten (Art. 297 AEUV 2. Teil 4.2) Bestandteil von dessen Rechtsordnung („Gesetz“ i.S.v. Art. 2 EGBGB). M.a.W.: Sie entfaltet in diesem regelmäßig Rechtswirkungen, ohne dass es hier ür noch irgendwelcher Maßnahmen zur Umwandlung in nationales Recht bedürfte (wie z.B. eine innerstaatliche Umsetzung bzw. Transformation durch die Legislativorgane der Mitgliedstaaten oder eine Bekanntgabe nach deren Recht; anders dagegen z.B. Art. 84 Abs. 1 S. 1 DSGVO 94 ). Diese Durchgriffswirkung ist Ausdruck der supranationalen Rechtsnatur der EU ( 1. Teil 3.2) und hat namentlich zur Folge, dass deutsche Behörden und Gerichte Verordnungen der EU ohne Weiteres genauso anzuwenden haben 92 ABl. EU C 310 vom 16.12.2004, S. 1. 93 Dazu: Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 40 f. m.w.N. 94 ABl. EU L 119 vom 4.5.2016, S. 1. <?page no="43"?> wie innerstaatliche Gesetze auch bzw. Letztere unabhängig von ihrem Erlasszeitpunkt wegen des Vorrangs des EU-Rechts insoweit nicht anwenden dürfen, als sie in Widerspruch zu Ersteren stehen ( 2. Teil 2.1). Rechtswirkung entfalten können Verordnungen nicht nur (vertikal) im Verhältnis „Mitgliedstaat-Bürger“, sondern auch (horizontal) im Verhältnis der Bürger untereinander, sog. Drittwirkung im Privatrecht. Zudem vermögen Verordnungen subjektive Rechte des Einzelnen zu begründen, deren Beachtung im Wege eines Zivilprozesses durchgesetzt werden kann, der beispielsweise von einem Wirtschaftsteilnehmer gegen einen anderen anstrengt wird. Ob beides, d.h. unmittelbare Anwendbarkeit und Einräumung subjektiver Rechte, jeweils der Fall ist, ist angesichts der Existenz auch von unvollständigen („hinkenden“) Basisbzw. Grundverordnungen, die namentlich noch mitgliedstaatlicher Durch ührungsmaßnahmen bedürfen (vgl. Art. 291 Abs. 1 AEUV), ür jede Verordnungsbestimmung gesondert zu ermitteln (zu den Maßstäben 2. Teil 1.1.1). Fluggast G hat beim Luftfahrtunternehmen L einen Flug von Frankfurt a.M. über Amsterdam nach Aruba und zurück gebucht. Gut zwei Stunden vor dem Hinflug von Frankfurt a.M. nach Amsterdam zog L den Flugschein ein und gab stattdessen Flugscheine ür den nächsten Tag aus, weshalb F einen Tag später als geplant in Aruba ankam. Wegen der Annullierung des Fluges von Frankfurt a.M. nach Amsterdam hat F gegen L unabhängig vom nationalen Recht einen Anspruch auf Ausgleichszahlung i.H.v. 600 Euro direkt aus Art. 5 Abs. 1 lit. c) i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. c) der sog. Fluggastrechte-Verordnung 95 . Diese Vorschriften gelten nach der Schlussformel dieser Verordnung sowie nach Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV nicht nur unmittelbar in jedem Mitgliedstaat, sondern sind zudem ebenfalls im Privatrecht unmittelbar anwendbar und räumen Fluggästen wie F einen entsprechenden Anspruch gegen das jeweils aus ührende Luftfahrtunternehmen (hier: L) ein. Sofern L die Zahlung verweigert, hat das von F daraufhin angerufene deutsche Amtsgericht die o.g. Bestimmungen der Fluggastrechte- Verordnung unabhängig davon anzuwenden, ob F sich auf diese Bestimmungen ausdrücklich beruft oder nicht. 95 ABl. EU L 46 vom 17.2.2004, S. 1. <?page no="44"?> Die Richtlinie ist nach Art. 288 Abs. 3 AEUV ür jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Weil eine Richtlinie nicht wie die Verordnung „unmittelbar in jedem Mitgliedstaat“ gilt (Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV), sondern gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV nur „ ür jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird“, verbindlich ist, erschöpft sich ihr rechtlicher Gehalt in der Pflicht der Mitgliedstaaten als alleinige Adressaten, die jeweilige Richtlinie durch Erlass eines entsprechenden innerstaatlichen Rechtsakts in nationales Recht umzusetzen. Aufgrund dieses mithin zweistufigen Rechtsetzungsverfahrens - (1) zuständige EU-Organe erlassen eine Richtlinie, (2) die von den Mitgliedstaaten jeweils durch Erlass eines nationalen Rechtsakts umgesetzt wird - gehören Richtlinien zum nicht-supranationalen Teil des EU-Rechts ( 1. Teil 3.2) und haben daher in den Mitgliedstaaten grundsätzlich keine unmittelbare Geltung bzw. Wirkung (und sind folglich auch nicht unmittelbar anwendbar). Vielmehr entfalten sie als indirektes Rechtsetzungsinstrument ihre Rechtsfolgen grundsätzlich erst mittelbar über den jeweiligen mitgliedstaatlichen Transformationsakt (zur Ausnahme 2. Teil 1.3.2.2). Richtlinien der EU, die als eigentümlicher Rechtsakt des EU-Rechts im deutschen Recht keine Entsprechung haben, dürfen nicht verwechselt werden mit ebenso bezeichneten nationalen Verwaltungsvorschriften. 96 Aber auch ür die Mitgliedstaaten ist eine Richtlinie nach Art. 288 Abs. 3 AEUV lediglich hinsichtlich des zu erreichenden Ziels 97 verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Als Mittel zur Umsetzung speziell von solchen Richtlinien, die auf eine Berechtigung oder Verpflichtung von Privatpersonen abzielen, kommen aufgrund des Gebots der praktischen Wirksamkeit (sog. effet utile, vgl. Art. 96 Zu diesen: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 238 ff. m.w.N. 97 Dieses lässt sich i.d.R. anhand der einleitenden Bestimmungen und der Begründung (Art. 296 Abs. 2 AEUV) ermitteln ( 2. Teil 1.4). <?page no="45"?> 4 Abs. 3 EUV 2. Teil 1.4) allein rechtsverbindliche Normen mit Außenwirkung - wie z.B. nationale (Parlaments-)Gesetze oder Rechtsverordnungen -, aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit nicht dagegen auch Verwaltungsvorschriften (keine Richtlinienumsetzung durch Richtlinien i.S.v. Verwaltungsvorschriften) oder gar eine schlichte innerstaatliche Rechtsprechungsbzw. Verwaltungs-Praxis in Betracht. Hat ein Mitgliedstaat einen Umsetzungsakt einmal erlassen, so darf dieser während der Geltungsdauer der betreffenden Richtlinie weder aufgehoben noch dieser widersprechendes neues nationales Recht geschaffen werden. Soweit hingegen das innerstaatliche Recht den Anforderungen einer Richtlinie bereits entspricht, bedarf es keines gesonderten Umsetzungsakts mehr. An einer über die Mindestbestimmungen einer Richtlinie hinausgehenden (überschießenden) „Umsetzung“ werden die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber durch diese freilich nicht gehindert; zur vom BVerfG insoweit praktizierten Grundrechtsprüfung 2. Teil 2.2.1. Darüber hinaus sind aufgrund von Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 288 Abs. 3 AEUV mit Ablauf der Umsetzungsfrist der betreffenden Richtlinie alle Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten (Behörden und Gerichte) im Rahmen der in diesen jeweils anerkannten juristischen Methoden verpflichtet, das gesamte nationale Recht so auszulegen bzw. fortzubilden (Analogie), dass das mit der betreffenden Richtlinie verfolgte Ziel erreicht wird. Begrenzt wird diese Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung bzw. Fortbildung des nationalen Rechts ( 2. Teil 2.1) allerdings durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Rechts, insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit sowie das Rückwirkungsverbot ( 2. Teil 1.1.3), und darf keinesfalls als Grundlage ür eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen. 98 Ob ein deutsches (Bundes-)Gesetz der Umsetzung einer Richtlinie der EU dient und damit nach Möglichkeit richtlinienkonform auszulegen bzw. fortzubilden ist, lässt sich mitunter bereits aus dessen Bezeichnung (z.B. „Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur […]“), im Übrigen aus dem hierauf unmittelbaren folgenden amtlichen Fußnotenhinweis (z.B. „Dieses Gesetz dient der Umsetzung 98 Hierzu vgl. Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 169 f. m.w.N. <?page no="46"?> der Richtlinie[n]…“) bzw. der Gesetzesbegründung (z.B. BT-Drucksache) entnehmen. T hat evangelische Theologie studiert und hält Trauerreden. In seinen Umsatzsteuererklärungen erklärte er die Vortragsumsätze mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz, während das Finanzamt die Umsätze mit dem Regelsteuersatz erfasste. Zur Begründung ührte es an, dass nach § 12 Abs. 1 UStG die Steuer ür jeden steuerpflichtigen Umsatz 19% der Bemessungsgrundlage beträgt und die Voraussetzungen ür eine Steuerermäßigung auf 7% nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 lit. a) UStG nicht vorlägen. Denn bei den von T gehaltenen Trauerreden gehe es nicht um die in dieser Ausnahmevorschrift genannten „Eintrittsberechtigung[en] ür Theater, Konzerte und Museen sowie die den Theatervor ührungen und Konzerten vergleichbaren Darbietungen ausübender Künstler“. Ist diese Auffassung des Finanzamts zutreffend, wenn es sich bei T um einen „ausübende[n] Künstler“ i.S.v. § 12 Abs. 2 Nr. 7 lit. a) UStG handelt und diese Vorschrift der Umsetzung von Art. 98 Anhang III der sog. Mehrwertsteuer-System-Richtlinie 2006/ 112 99 dient? Im dortigen Verzeichnis der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, auf die ermäßigte MwSt-Sätze gemäß Artikel 98 angewandt werden können, heißt es in: Nr. 7: Eintrittsberechtigung ür Veranstaltungen, Theater, Zirkus, Jahrmärkte, Vergnügungsparks, Konzerte, Museen, Tierparks, Kinos und Ausstellungen sowie ähnliche kulturelle Ereignisse und Einrichtungen; Nr. 9: Dienstleistungen von Schriftstellern, Komponisten und ausübenden Künstlern sowie diesen geschuldete urheberrechtliche Vergütungen. Die Auffassung des Finanzamts trifft nicht zu. Denn Art. 98 Anhang III der o.g. Richtlinienbestimmung unterscheidet zwischen der Ermäßigung der Umsatzsteuer in Nr. 7 ür die „Eintrittsberechtigung“ ür Veranstaltungen, Theater, Zirkus etc. und in Nr. 9 ür „Dienstleistungen von […] ausübenden Künstlern“, ohne dabei jedoch Letztere - im Gegensatz zu den Fällen der Nr. 7 - von einer „Eintrittsberechtigung“ abhängig zu machen. In richtlinienkonformer Auslegung ist die nationale Umsetzungsvorschrift des § 12 Abs. 2 Nr. 7 lit. a) UStG deshalb so zu verstehen, dass sich das im Hinblick auf die von T gehaltenen Trauerreden 99 ABl. EU L 347 vom 11.12.2006, S. 1. <?page no="47"?> zweifelsohne nicht er üllte Tatbestandsmerkmal „Eintrittsberechtigung“ nur auf den ersten Halbsatz dieser Vorschrift, d.h. „Theater, Konzerte und Museen“ bezieht, nicht jedoch auch auf die hier in Bezug auf die Trauerreden des T einschlägige „Darbietung […] ausübender Künstler“ i.S.d. zweiten Halbsatzes von § 12 Abs. 2 Nr. 7 lit. a) UStG (zum Ganzen: BFHE 252, 177). Zudem entfaltet eine Richtlinie nach Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3 S. 2, Abs. 2 UAbs. 2 S. 2 bzw. UAbs. 3 AEUV bereits mit ihrer Veröffentlichung bzw. Bekanntgabe dahingehend Rechtswirkungen, dass sämtliche Träger öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten auch vor Ablauf der jeweiligen Umsetzungsfrist aufgrund von Art. 4 Abs. 3 EUV i.V.m. Art. 288 Abs. 3 AEUV sowie der betreffenden Richtlinie selbst verpflichtet sind, während dieser Frist den Erlass von solchen Vorschriften zu unterlassen, die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgegebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen, sog. Vorwirkung i.S.e. Verbots der Schaffung von vollendeten Tatsachen (vgl. auch das sog. Frustrationsverbot des Art. 18 der Wiener Vertragsrechtskonvention). Zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen hat die EU am 1. Januar 01 eine Richtlinie erlassen, wonach die Mitgliedstaaten bis zum 1. Januar 05 Maßnahmen zu treffen haben, um die in dieser Richtlinie näher bezeichneten, ökologisch besonders schützenswerte Gebiete dauerhaft zu erhalten. Durch eine dieser Flächen soll nach den Planungen des Bundes allerdings eine neue Fernstraße ühren. Würde deren Errichtung und Fertigstellung noch in 04 gegen die Richtlinie verstoßen? Im Hinblick auf einen ähnlich gelagerten Sachverhalt hat der EuGH (ECLI: EU: C: 1997: 628) erkannt, dass die Mitgliedstaaten gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV verpflichtet sind, alle zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Ziels erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Da die gemäß einer gängigen Praxis auch im hiesigen Fall erfolgte Setzung einer Frist zur Umsetzung der Richtlinie den Mitgliedstaaten die ür den Erlass entsprechender Maßnahmen notwendige Zeit geben soll, kann ihnen kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie die Richtlinie nicht vor Ablauf der Frist in ihre Rechtsordnung umsetzen. Doch entfalten Richtlinien auch vor Fristablauf, nämlich bereits vom Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe an, Rechtswirkungen. Schon während der Umsetzungsfrist müssen die Mitgliedstaaten daher wegen Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV alle Maßnahmen unterlassen, die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen. Ebenso daher das BVerwG <?page no="48"?> (BVerwGE 107, 1): Ein Mitgliedstaat ist bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist einer Richtlinie verpflichtet, deren Ziele nicht zu unterlaufen und durch eigenes Verhalten gleichsam vollendete Tatsachen zu schaffen, die ihm später die Er üllung der ihm aus der Beachtung der Richtlinie erwachsenen Vertragspflichten unmöglich macht. Diese Pflicht resultiert aus dem Gebot der Vertragstreue. I.d.S. kann den Mitgliedstaat mithin sehr wohl eine vorgezogene Stillhaltepflicht zur Vermeidung von Widersprüchen mit den Zielsetzungen der Richtlinie treffen. Diese Vorwirkung ebenfalls der hier in Rede stehenden Richtlinien hat zur Folge, dass nach dieser schutzwürdige Gebiete weder zerstört noch anderweitig beeinträchtigt werden dürfen, auch bevor sie - spätestens am 1. Januar 05 - nach nationalem Recht unter Schutz gestellt werden. Die Errichtung und Fertigstellung der vom Bund auf eben dieser Fläche geplanten Fernstraße noch in 04 würde daher gegen die Richtlinie verstoßen. Verstößt ein Mitgliedstaat gegen seine sich aus Art. 288 Abs. 3 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV und der betreffenden Richtlinie selbst ergebende, von der Kommission überwachte (Art. 17 Abs. 1 S. 2 f. EUV 2. Teil 3.4) Umsetzungspflicht, d.h. kommt er dieser innerhalb der hierzu in der jeweiligen Richtlinie normierten Frist durch Inkraftsetzen eines i.d.R. materiellen Gesetzes nicht nach, so begründet dies eine Vertragsverletzung i.S.v. Art. 258 f. AEUV ( 2. Teil 6.1) und kann zu einem als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Rechts anerkannten unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat ühren ( 2. Teil 2.3). Praktische interne Probleme eines Mitgliedstaats (z.B. dessen Bundesstaatlichkeit, Art. 20 Abs. 1 GG), befreien aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts auch vor dem nationalen Verfassungsrecht ( 2. Teil 1, 2.1 und 2.2.2) nicht von der Pflicht zur frist- und ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie, ebenso wenig wie der Hinweis auf den etwaigen Verstoß eines anderen Mitgliedstaats hiergegen; der völkerrechtliche Reziprozitätsgrundsatz gilt im EU-Recht nicht. Die Umsetzungsbedürftigkeit von Richtlinien ist aus Unionssicht freilich mit dem Nachteil verbunden, dass sowohl im Fall der vollständigen Nichtumsetzung einer Richtlinie als auch ihrer verspäteten bzw. inhaltlich unzureichenden Transformation durch einen oder mehrere Mitgliedstaaten die Einheitlichkeit des EU-Rechts nicht mehr gewährleistet wäre. Hätten es die Mitgliedstaaten somit in der Hand, den Eintritt der von einer Richtlinie beabsichtigten Rechtswirkungen durch bloße Untätigkeit vollständig zu vereiteln, so würde dieser trotz ihrer nach Art. 288 Abs. 3 AEUV <?page no="49"?> bestehenden Zielverbindlichkeit unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV die praktische Wirksamkeit (effet utile) genommen. Um dies zu verhindern, erkennt der EuGH in einem vom BVerfG (BVerfGE 75, 223) wegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV akzeptierten „Stück Rechtsfortbildung“ einer einzelnen Richtlinienbestimmung ausnahmsweise dann unmittelbare Wirkung zu, wenn diese trotz Fristablaufs nicht ordnungsgemäß, d.h. vollständig und richtig, in nationales Recht umgesetzt wurde, unbedingt ist, d.h. eine Verpflichtung enthält, die weder mit einem Vorbehalt noch mit einer Bedingung versehen ist und ihrem Wesen nach keiner weiteren Maßnahmen der EU-Organe oder der Mitgliedstaaten bedarf und inhaltlich hinreichend genau bestimmt ist, so dass sich bereits aus ihr selbst, d.h. ohne innerstaatlichen Umsetzungsakt, eine eindeutige Verpflichtung der Mitgliedstaaten bzw. korrespondierende Rechte des Einzelnen ergeben. M.a.W.: Die betreffende Richtlinienbestimmung muss i.d.S. rechtlich vollkommen sein, dass sie sich zur unmittelbaren Anwendung durch die nationalen Behörden und Gerichte im konkreten Einzelfall eignet. Dies wiederum ist zu bejahen, wenn sich aus ihr namentlich Anspruchsinhaber, -inhalt und -gegner ergeben. Sind alle diese Voraussetzungen er üllt und betrifft der Regelungsgegenstand der jeweiligen Richtlinienbestimmung zudem das (vertikale) Verhältnis „Mitgliedstaat-Bürger“, so kann Ersterer dem Zweitgenannten nach dem Rechtsgedanken venire contra factum prorium 100 nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass er seine Verpflichtung zur frist- und ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung nicht er üllt hat. Vielmehr vermag sich in einem solchen Fall der Einzelne gegenüber dem jeweiligen Mitgliedstaat unmittelbar auf die begünstigende Richtlinienbestimmung zu berufen, welche den fehlenden nationalen Umsetzungsakt ersetzt. Mit dem Ziel, Arbeitnehmern einen Mindestschutz im Fall der Zahlungsun ähigkeit ihres Arbeitgebers zu verschaffen, hat die EU eine entsprechende Richtlinie erlassen, in der es u.a. heißt: Art. 1: (1) Diese Richtlinie gilt ür Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen […] gegen Arbeitgeber, die zahlungsun ähig […] sind; Art. 3: (1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit […] Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nichter üllten 100 Lat.: „widersprüchliches Verhalten“ (verkürzt). <?page no="50"?> Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen […], die das Arbeitsentgelt ür den vor einem bestimmten Zeitpunkt liegenden Zeitraum betreffen, sicherstellen. (2) Der in Absatz 1 genannte Zeitpunkt ist nach Wahl der Mitgliedstaaten entweder der Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsun ähigkeit des Arbeitgebers, - oder der Zeitpunkt der Kündigung zwecks Entlassung des betreffenden Arbeitnehmers wegen Zahlungsun ähigkeit des Arbeitgebers […]; Art. 5: Die Mitgliedstaaten legen die Einzelheiten […] der Mittelaufbringung […] der Garantieeinrichtungen fest, wobei sie […] folgende Grundsätze beachten […]: Die Arbeitgeber müssen zur Mittelaufbringung beitragen, es sei denn, daß diese in vollem Umfang durch die öffentliche Hand gewährleistet ist. Arbeitnehmer AN war in Mitgliedstaat M bei Arbeitgeber AG zu einem Monatslohn i.H.v. 3.000 Euro beschäftigt. Nachdem AG am 1. März 02 die Lohnzahlung an AN eingestellt hatte, wurde er am 1. Juni 02 insolvent und kündigte daher das mit AN bestehende Arbeitsverhältnis am 1. September 02. AN, der bis zu diesem Zeitpunkt weiter ür AG tätig gewesen war, erhob daraufhin Klage vor dem nationalen Arbeitsgericht gegen AG, das diesen zur Zahlung des ür die Zeit vom 1. März bis 1. September 02 noch ausstehenden Lohns i.H.v. insgesamt 18.000 Euro an AN verurteilte. Da M trotz Fristablaufs in 01 die o.g. Richtlinie allerdings nicht umgesetzt hatte, war das Urteil ür AN aufgrund der Zahlungsun ähigkeit des AG wertlos. Hat AN einen Anspruch gegen M auf Zahlung der 18.000 Euro unter dem Aspekt der ausnahmsweisen unmittelbaren Wirkung begünstigender Richtlinien (zum unionsrechtlichen Schadensersatzanspruch 2. Teil 2.3)? Nein, denn die Voraussetzungen hier ür sind vorliegend nicht er üllt. So ist zwar Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie unbedingt und inhaltlich hinreichend genau bestimmt; das nationale Gericht kann feststellen, ob jemand (hier: AN) zu dem Personenkreis gehört, dem die Richtlinie zugutekommen soll. Dies gilt trotz des den Mitgliedstaaten durch Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie eingeräumten Wahlrechts bezüglich des Garantiezeitpunkts auch im Hinblick auf den Inhalt der Garantie. Denn aus dieser Bestimmung folgt jedenfalls eine Mindestgarantie: Weil der dort genannte Zeitpunkt der Kündigung wegen Zahlungsun ähigkeit (hier: 1. September 02) denknotwendig später liegt als derjenige der Zahlungsun ähigkeit selbst (hier: 1. Juni 02), muss zumindest ür den durch diese begrenzten Zeitraum (hier: 1. März bis 1. Juni 02) die Befriedigung der <?page no="51"?> Ansprüche (hier: 3 x 3.000 Euro = 9.000 Euro) sichergestellt werden. Allerdings ver ügen die Mitgliedstaaten nach Art. 5 der Richtlinie über einen Gestaltungsspielraum in Bezug auf die Person des Schuldners des Garantieanspruchs. Die zahlungsverpflichtete Garantieeinrichtung kann entweder durch die Arbeitgeber oder aber die öffentliche Hand finanziert werden (zum Ganzen vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1991: 428). Von vornherein keine unmittelbare Wirkung entfalten können dagegen solche Richtlinienbestimmungen, die den Einzelnen belasten. Denn würde sich gegenüber diesem der im Hinblick auf die Umsetzung einer solchen Richtlinienbestimmung säumige Mitgliedstaat berufen können, so würde Letzterer ür sein unionsrechtswidriges Verhalten andernfalls noch belohnt werden (keine unmittelbare vertikale Wirkung von den Einzelnen belastenden Richtlinienbestimmungen im Verhältnis „Mitgliedstaat-Bürger“); ein anderer Privater (z.B. ein Verbraucher gegenüber einem Unternehmer) auf die im betreffenden Mitgliedstaat nicht umgesetzte Richtlinienbestimmung berufen können, so würde dies bedeuten, der EU die Befugnis zuzuerkennen, mit unmittelbarer Wirkung zu Lasten Privater Verpflichtungen anzuordnen - obwohl sie dies nach Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV nur dort darf, wo ihr beispielsweise die Befugnis zum Erlass einer Verordnung zugewiesen wird, vgl. Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV ( 2. Teil 4.1 und 4.1.3). Diese daher fehlende unmittelbare horizontale Drittwirkung von Richtlinien zwischen Privaten gilt sogar ür solche Richtlinienbestimmungen, die klar, genau und unbedingt sind und dem Einzelnen Rechte gewähren oder Verpflichtungen auferlegen (EuGH, ECLI: EU: C: 2014: 2). Ggf. besteht aber ein Schadensersatzanspruch des anderen Privaten gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat ( 2. Teil 2.3). Die gegenüber der unmittelbaren Richtlinienwirkung vorrangige und nicht von einem Umsetzungsakt abhängige richtlinienkonforme Rechtsfindung hat dagegen losgelöst von den o.g. Voraussetzungen der ausnahmsweisen unmittelbaren Wirkung bestimmter Richtlinienbestimmungen zu erfolgen. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass die richtlinienkonforme Auslegung bzw. Fortbildung das nationalen Rechts betrifft ( 2. Teil 2.1), das anders als eine Richtlinie dem Einzelnen sehr wohl entgegengehalten werden kann - sei es im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Unionsbürgern (sog. mittelbare horizontale Drittwirkung von Richtlinien <?page no="52"?> zwischen Privaten) oder sei es, dass ein Privater dadurch belastet wird, dass ein Mitgliedstaat seine sich aus einer von ihm nicht fristgemäß umgesetzten Richtlinie ergebenden Pflichten auf Basis des bereits vorhandenen nationalen Rechts er üllt, sog. objektive unmittelbare Richtlinienwirkung. Zudem muss im Fall der ausnahmsweise bestehenden unmittelbaren Wirkung einer Richtlinienbestimmung ein privater Dritter (z.B. Konkurrent) diejenige Belastung hinnehmen, die sich zugunsten eines anderen Privaten (z.B. zunächst unterlegener Bieter im Vergabeverfahren) als Reflex aus dessen Begünstigung ergibt. Beschlüsse sind gem. Art. 288 Abs. 4 AEUV in allen ihren Teilen verbindlich. Sind sie an bestimmte Adressaten gerichtet, so sind sie nur ür diese verbindlich. Durch ihre Geltung entweder gegenüber bestimmten Individuen, d.h. natürliche und juristische Personen (z.B. nach Art. Art. 23 Abs. 2 lit. a) Verordnung Nr. 1/ 2003/ EG 101 ; sog. individualgerichtete Beschlüsse), oder Mitgliedstaaten (z.B. gem. Art. 108 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV 3. Teil 4.2.2; sog. staatengerichtete Beschlüsse) unterscheiden sich die sog. adressatengerichteten Beschlüsse i.S.v. Art. 288 Abs. 4 S. 2 AEUV von den ür eine unbestimmte Vielzahl von Personen geltenden Verordnungen nach Art. 288 Abs. 2 AEUV und sind mit dem Verwaltungsakt 102 des deutschen Rechts (§ 35 S. 1 VwVfG) vergleichbar. Ein staatengerichteter Beschluss kann unter denselben Voraussetzungen wie Richtlinien unmittelbare Wirkung auch zugunsten einzelner Personen erzeugen ( 2. Teil 1.3.2.2). Hingegen kann sich ein Einzelner gegenüber einem anderen Privaten nicht mit Erfolg auf einen staatengerichteten Beschluss berufen, da diesem - wie Richtlinien - keine horizontale Wirkung zukommt, ebenso wenig wie eine umgekehrt vertikale Wirkung zu Lasten eines Einzelnen ( 2. Teil 1.3.2.2). Im Gegensatz zu den vorstehenden, typischerweise der Regelung eines konkret-individuellen (Einzel-)Falls dienenden, Beschlüssen erfasst Art. 288 Abs. 4 S. 1 AEUV auch adressatenlose Beschlüsse, die normativen 101 ABl. EG L 1 vom 4.1.2003, S. 1. 102 Ausführlich zu diesem: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 39 ff. m.w.N. <?page no="53"?> Charakter haben und - im Gegensatz zu Verordnungen - allein ür die Einrichtungen der EU, d.h. unionsintern, unmittelbar bindend sind (z.B. Geschäftsordnungen, vgl. Art. 232 Abs. 1, Art. 240 Abs. 3 und Art. 249 Abs. 1 AEUV). Der Bedeutungsgehalt einer Rechtsnorm ist nach dem nicht nur innerhalb des nationalen Rechts, 104 sondern auch in Bezug auf das EU-Recht maßgeblichen Kanon juristischer Auslegungskriterien anhand von Grammatik, Systematik, Historie und Telos zu ermitteln (EuGH, ECLI: EU: C: 2018: 257), wobei der Wortlaut - und insoweit wiederum der gewöhnliche Sprachgebrauch (EuGH, ECLI: EU: C: 2017: 814) - den Ausgangspunkt bildet. Vorbehaltlich einer abweichenden Regelung zugrunde zu legen ist insofern freilich schon aus normhierarchischen Gründen ein autonom unionsrechtliches, d.h. von den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten losgelöstes, Begriffsverständnis (EuGH, ECLI: EU: C: 2016: 917 3. Teil 1.2.3, 1.3.2.1, 1.5.1.1, 3.3.2.1 und 3.5.1). Dessen Ermittlung wiederum ist allerdings mit dem Problem verbunden, dass nicht nur in Bezug auf den EUV und den AEUV, 105 sondern gem. Art. 4 der Verordnung Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage ür die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 106 auch im Hinblick auf Verordnungen und andere Schriftstücke von allgemeiner Geltung die derzeit 24 in Art. 55 Abs. 1 Hs. 1 EUV (ggf. i.V.m. Art. 358 AEUV) und Art. 1 der vorgenannten Verordnung jeweils genannten Sprachfassungen bzw. Amts- und Arbeitssprachen gleichermaßen verbindlich sind. Zur Beantwortung der zollrechtlich relevanten Frage nach dem Warenursprung stellte Art. 4 Abs. 2 lit. ) der Verordnung Nr. 802/ 68 107 in seiner deutschen Fassung ür Erzeugnisse der Seefischerei und andere Meereserzeugnisse u.a. darauf ab, dass diese von bestimmten Schiffen aus „gefangen“ wurden. Demgegenüber hieß es in der englischen Fassung insoweit „taken from the sea“, worunter die vollständige Entfernung aus dem Wasser zu verstehen ist. Im Hinblick auf den konkreten 103 Dieses Unterkapitel beruht auf Wienbracke, ZEuS 2013, S. 1 ff.; ders., Juristische Methodenlehre, Rn. 142, 191, 206, jeweils m.w.N. 104 Dazu siehe Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 136 ff. m.w.N. 105 Dazu siehe beispielsweise auch Fn. 173. 106 ABl. EG P 17 vom 6.10.1958, S. 385. 107 ABl. EG L 148 vom 28.6.1968, S. 1. <?page no="54"?> Fall, in dem Fischer aus der EU leere Netze auswarfen, die von Booten aus Drittstaaten übernommen und nach Abschluss des von diesen gegen Entgelt durchge ührten Fangvorgangs wieder an die EU-Fischer zurückgegeben und auf deren Schiffe gehievt wurden, gelangte der EuGH in Bezug auf den Wortlaut zu dem Auslegungsteilergebnis, dass die vergleichende Untersuchung der verschiedenen sprachlichen Fassungen der o.g. Verordnung aufgrund ihrer Abweichungen voneinander keine Schlussfolgerung zugunsten einer bestimmten Rechtsansicht zuließ (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1985: 155). Im Rahmen der systematischen Auslegung wird versucht, aus der Stellung einer Vorschrift im gesamten Normenge üge einen Rückschluss auf ihren Aussagegehalt zu gewinnen (z.B. sind sekundärrechtliche Normen primärrechtskonform auszulegen 2. Teil 1). Nach Art. 45 Abs. 1 AEUV ist innerhalb der EU die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet. Dies gilt nach Art. 45 Abs. 4 AEUV nicht ür die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung. Angesichts dieses Regel-Ausnahme-Verhältnisses interpretiert der EuGH den Begriff „Arbeitnehmer“ i.S.v. Art. 45 Abs. 1 AEUV weit - und subsumiert z.B. auch Beamte darunter - sowie den der „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ i.S.v. Art. 45 Abs. 4 AEUV eng - weshalb z.B. Lehrer nicht hierunter fallen (zum Ganzen: Wienbracke, EuR 2012, S. 483 ff. m.w.N. und 3. Teil 1.2.3 sowie 1.3.2.1). Die historische Interpretation stellt auf die Entstehungsgeschichte der jeweiligen Norm ab, wobei zur Ermittlung des Willens des historischen EU-Gesetzgebers bei von Art. 296 Abs. 2 AEUV erfassten Rechtsakten mitunter 108 auf die nach dieser Vorschrift verpflichtend beizu ügende Begründung verwiesen wird ( 2. Teil 5.1). Gem. Art. 5 Abs. 1 lit. c) der Fluggastrechte-Verordnung Nr. 261/ 2004 109 wird bei Annullierung eines Fluges den betroffenen Fluggästen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen eingeräumt. Schuldner dieses An- 108 So z.B. Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 9 Rn. 15. A.A. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 402, der in den Begründungserwägungen i.d.R. nicht die Wiedergabe des Willens des EU-Gesetzgebers, sondern vielmehr der mit dem betreffenden Rechtsakt verfolgten Ziele sieht und die Begründungserwägung daher erst im Rahmen der teleologischen Auslegung (s.u.) fruchtbar macht. 109 ABl. EU L 46 vom 17.2.2004, S. 1. <?page no="55"?> spruchs ist das „aus ührende Luftfahrtunternehmen“ (engl.: operating air carrier), worunter nach der in Art. 2 lit. b) dieser Verordnung enthaltenen Legaldefinition dasjenige Luftfahrtunternehmen zu verstehen ist, das den Flug „durch ührt“ (engl.: perform). Dass dies im Fall einer sog. Wet-Lease-Vereinbarung nicht dasjenige (vermietende) Luftfahrtunternehmen ist, dessen Flugzeug und Besatzung tatsächlich eingesetzt werden, sondern vielmehr grundsätzlich das beides mietende Luftfahrtunternehmen, bei dem der jeweilige Flug gebucht wurde, folgt u.a. aus der englischsprachigen Fassung des 7. Erwägungsgrundes der o.g. Verordnung. Dort heißt es ausdrücklich: In order to ensure the effective application of this Regulation, the obligations that it creates should rest with the operating air carrier who performs […] a flight […] under […] wet lease (zum Ganzen: BGH, NJW 2018, 1251). Für die teleologische Auslegung, innerhalb derer der EuGH häufig auf den topos der praktischen Wirksamkeit (sog. effet utile 2. Teil 5.2) rekurriert, ist schließlich der (objektive) Sinn und Zweck der jeweils zu interpretierenden Bestimmung maßgeblich. Sofern dieser - wie beispielsweise bei den Grundfreiheiten der Fall ( 3. Teil 1.1.1) - in der Verfolgung ökonomischer Ziele besteht, ist eine Auslegung der jeweils in Rede stehenden Bestimmung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten vorzunehmen ( 3. Teil 1.3.2.4). 110 Das in Art. 34 AEUV u.a. enthaltene Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen dient als Instrument zur Verwirklichung des in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV vorgegebenen Ziels der Errichtung eines europäischen Binnenmarkts, d.h. eines Raums ohne Binnengrenzen, in dem u.a. der freie Verkehr von Waren gewährleistet ist, siehe Art. 26 Abs. 2 AEUV. Folglich hat der EuGH in seiner Keck-Rechtsprechung erkannt, dass Maßnahmen eines Mitgliedstaats, die lediglich die Modalitäten des Verkaufs einer in diesen aus dem EU-Ausland bereits einge ührten Ware betreffen (z.B. Ladenschlusszeiten), nicht i.S.v. Art. 34 AEUV als Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen zu qualifizieren sind. Sie wirken sich nicht nachteilig auf das „Ob“ des von der Warenverkehrsfreiheit zu schützen gesuchten Zugangs zum Markt des Import- Mitgliedstaats aus, sondern regeln bloß das „Wie“ des dortigen Verhal- 110 Vgl. Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 206 m.w.N. zur ökonomischen Analyse des Rechts. <?page no="56"?> tens (zum Ganzen: Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 206 m.w.N. und 3. Teil 1.4.2.2). Obwohl weder im EUV noch im AEUV ausdrücklich so geregelt, steht nach der insoweit einhelligen Rechtsprechung des EuGH (grundlegend: ECLI: EU: C: 1964: 66) und des BVerfG (etwa: BVerfGE 129, 78) das gesamte EU- Recht im Rang über dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten - und zwar einschließlich des jeweiligen Verfassungsrechts, d.h. in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland das GG ( 2. Teil 1). 112 Abweichend von der Rechtsfolge, die nach dem lex superior-Grundsatz 113 eintritt, wenn entweder innerhalb des EU-Rechts ( 2. Teil 1) oder innerhalb der deutschen Rechtsordnung eine niederrangige Vorschrift einer jeweils höherrangigen widerspricht - nämlich grundsätzlich die Nichtigkeit bzw. Ungültig-/ Unwirksamkeit der rangniederen Norm (sog. Geltungsvorrang) -, tritt diese Konsequenz im Fall der Unvereinbarkeit einer mitgliedstaatlichen Vorschrift (z.B. des deutschen Rechts) mit einer solchen des EU-Rechts gerade nicht ein. Vielmehr lässt dessen Vorrang vor dem ihm widersprechenden nationalen Recht der Mitgliedstaaten ( 1. Teil 3.2) dieses in seinem Geltungsanspruch, d.h. seiner Gültigkeit bzw. Wirksamkeit, unberührt und ührt „nur“ dazu, dass es insoweit nicht anwendbar ist, als die entsprechende unionsrechtliche Regelung eine solche Konsequenz verlangt, sog. Anwendungsvorrang. Im Übrigen, d.h. außerhalb der vom EU-Recht erfassten Fallgestaltungen (so ggf. bei rein innerstaatlichen und bei Drittstaatssachverhalten der Fall; zur sog. Inländerdiskriminierung 3. Teil 1.3.2.2 und 2.2.2.2), gelangt das trotz seiner EU- Rechtswidrigkeit fortgeltende nationale Recht hingegen weiterhin zur 111 Dieses Unterkapitel beruht auf Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 45, 50 f., 57 m.w.N. 112 I.d.S. auch Erklärung Nr. 17 zur Schlussakte der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon, ABl. EU 2007 C 306, S. 256; Europäisches Parlament, EuZW 1998, S. 165. 113 Lat.: „die höherrangige Norm verdrängt die niederrangige Norm“. Dazu: Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 50 ff. m.w.N. <?page no="57"?> Anwendung (so z.B. das jedenfalls Art. 18 Abs. 1 AEUV widersprechende „Inlands“-Erfordernis des Art. 19 Abs. 3 GG [s.u.] auf juristische Personen aus dem Nicht-EU-Ausland, d.h. einem Drittstaat). 114 Hierin kommt die im Alltag der Rechtsanwendung im Übrigen häufig nicht zu praktischen Unterschieden ührende Differenz zwischen Geltungs- und Anwendungsvorrang klar zum Ausdruck. 115 „Bildlich gesprochen verhindert das EU-Recht die Anwendung einer ihm widersprechenden nationalen Vorschrift dadurch, dass es sich im konkreten Fall vor diese schiebt. Derart verdeckt ist der Rechtsanwender daran gehindert, auf sie zur Lösung der jeweiligen Fragestellung zuzugreifen (Behandlung des Symptoms ,Normwiderspruch‘). Demgegenüber ührt eine Normenkollision innerhalb der deutschen Rechtsordnung i.d.R. dazu, dass die unterrangige Rechtsnorm, die im Widerspruch zu einer höherrangigen steht, vernichtet wird und somit auf gar keinen Sachverhalt mehr Anwendung findet (Beseitigung der Ursache des Normwiderspruchs) […]. In Fort ührung des von Schwacke bemühten Vergleichs, dass eine nach dem Anwendungsvorrang lediglich ,verdrängte‘ Rechtsnorm auf die ,Reservebank‘ muss und beim Ausfall der sie verdrängenden Vorschrift wieder zum Einsatz kommt, 116 hat das Eingreifen des Geltungsvorrangs zur Konsequenz, dass die hiervon betroffene Vorschrift auf Dauer ür sämtliche Spiele aus ällt. Zur Frage, wer der ,Schiedsrichter‘ ist, der hierüber entscheidet“ 117 2. Teil 2.2. Bevor eine mitgliedstaatliche Vorschrift wegen Verstoßes gegen das ihr gegenüber höherrangige EU-Recht im konkreten Fall ür unanwendbar erklärt wird, ist freilich zunächst der Versuch ihrer europarechtskonformen Auslegung zu unternehmen. Insoweit obliegt es nach der EuGH- Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 1988: 62) dem betreffenden nationalen Gericht bzw. der jeweiligen nationalen Behörde, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung desjenigen Spielraums, den ihm das nationale Recht (konkret: die danach maßgebliche juristische Methodik 118 ) einräumt, 114 Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 41 f. m.w.N. 115 Vgl. BVerfG, BVerfGE 123, 267 (398). 116 Vgl. Schwacke, Juristische Methodik, 5. Aufl. 2011, S. 19. 117 Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 51, 58 m.w.N. 118 In Bezug auf das deutsche Recht siehe Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 120 ff. m.w.N. <?page no="58"?> in Übereinstimmung mit den Anforderungen des EU-Rechts - z.B. richtlinienkonform ( 2. Teil 1.3.2.1) - auszulegen bzw. fortzubilden. Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte des GG auch ür juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Einschränkend heißt es in Art. 19 Abs. 3 GG allerdings weiter, dass dies nur ür „inländische“ juristische Personen gilt. Letzteres steht in Widerspruch zum höherrangigen EU-Recht, nämlich jedenfalls dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 2.2; zu den Grundfreiheiten 3. Teil 1.1.4). Dieser Normwiderspruch lässt sich aufgrund des eindeutigen Wortlauts von Art. 19 Abs. 3 GG auch nicht etwa im Wege der europarechtskonformen Auslegung dieser Vorschrift beheben. Denn es würde den Wortlaut als - nach deutscher juristischer Methodik anerkannter - Grenze jeder Auslegung übersteigen, wollte man das Merkmal „inländische“ als „deutsche einschließlich europäische“ juristische Personen interpretieren. Folglich greift der Anwendungsvorrang des EU-Rechts Platz, d.h. das in Art. 19 Abs. 3 GG enthaltene Tatbestandsmerkmal „inländisch“ ist insoweit unanwendbar, als dadurch juristische Personen aus dem EU- Ausland benachteiligt werden (zu juristischen Personen aus dem Nicht- EU-Ausland, d.h. Drittstaaten, s.o.). Da sich aus der unveränderten Beibehaltung einer gegen eine Vorschrift des EU-Rechts verstoßenden Bestimmung in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, selbst wenn diese EU-Vorschrift in der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbar gilt, Unklarheiten tatsächlicher Art ergeben, weil die betroffenen Normadressaten bezüglich der ihnen eröffneten Möglichkeiten, sich auf das EU-Recht zu berufen, in einem Zustand der Ungewissheit gelassen werden, lässt sich die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem EU- Recht letztlich nur durch verbindliche nationale Bestimmungen ausräumen, die denselben rechtlichen Rang haben wie die zu ändernden Bestimmungen (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2000: 410). <?page no="59"?> Auf Basis der o.g. Brückentheorie ( 1. Teil 3.2) hängen die Geltung und Anwendung des EU-Rechts in Deutschland vom Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ab, welcher die deutsche Rechtsordnung ür das EU-Recht nicht nur öffnet, sondern zugleich begrenzt. Demgemäß hat das BVerfG im Lissabon-Urteil (BVerfGE 123, 267) unter Hinweis auf die fortbestehende Souveränität der Mitgliedstaaten nochmals seine Auffassung bekräftigt, wonach es auch im Hinblick auf die von den EU-Organen erlassenen Rechtsakte zur dahingehenden Prüfung befugt sei, ob die in Art. 23 Abs. 1 GG genannten Voraussetzungen ( 1. Teil 2) er üllt sind, d.h. ob diese Akte sich in den Grenzen der der EU im Wege der begrenzten Einzelermächtigung ( 2. Teil 4.1) auf Grundlage von Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG eingeräumten Hoheitsrechte halten - oder nicht vielmehr als ausbrechende Rechtsakte „ersichtlich“ außerhalb der ihr übertragenen Kompetenzen ergangen sind, sog. Ultra-vires-Kontrolle; Im vorstehenden Sinn „ersichtlich“ ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn der Kompetenzverstoß hinreichend qualifiziert ist. Das wiederum bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzge üge zwischen Mitgliedstaaten und EU im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht ällt, sog. Anspruch auf Fehlertoleranz (zum Ganzen: BVerfG, BVerfGE 126, 286). Im sog. OMT-Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) vom 6. September 2012 über Technical features of Outright Monetary Transactions ist vorgesehen, dass Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe aufgekauft werden können, wenn und solange diese zugleich an einem mit der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) oder dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) vereinbarten Reformprogramm teilnehmen. 119 Dieses Unterkapitel beruht auf Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 45 ff.; ders., DVP 2013, S. 315. Vgl. auch ders., Einführung in die Grundrechte, Rn. 112, jeweils m.w.N. <?page no="60"?> Nach (ursprünglicher 120 ) Auffassung des BVerfG in BVerfGE 134, 366 verstößt der OMT-Beschluss u.a. gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV und bewegt sich damit außerhalb der dem EU-Organ „EZB“ nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV 2. Teil 4.1) eingeräumten Zuständigkeit. Denn das in Art. 123 Abs. 1 AEUV normierte Verbot des unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln der Mitgliedstaaten durch die EZB am Primärmarkt dürfe nicht durch funktional äquivalente Maßnahmen umgangen werden. Gerade hierauf ziele das o.g. Ankaufprogramm am Sekundärmarkt jedoch ab und verstoße damit gegen das in dieser Vorschrift verankerte Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung. Dieser Verstoß sei sowohl offensichtlich, weil Art. 123 Abs. 1 AEUV Kompetenzen der EZB in Bezug auf die monetäre Haushaltsfinanzierung der Mitgliedstaaten zweifelsfrei ausschließe, als auch strukturell bedeutsam. Denn das geltende Integrationsprogramm gestalte die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft aus. Dies sei wesentliche Grundlage ür die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der Währungsunion. Deren Charakter als Stabilitätsunion werde wiederum durch das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung als eine der zentralen Regeln ür die Ausgestaltung der Währungsunion gewährleistet, das daneben auch die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages absichere. den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des GG nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG wahren, sog. Identitätskontrolle. 121 Der US-amerikanische Staatsangehörige S war von einem italienischen Gericht rechtskräftig in Abwesenheit wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie der Einfuhr und des Besitzes von Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt worden. Nachfolgend ist S aufgrund eines Auslieferungsersuchens der Italienischen Republik in Deutschland festgenommen worden. Das zuständige deutsche OLG erklärte die Auslieferung im Vollzug des Rahmenbeschlusses 2002/ 584/ JI über den Europäischen Haftbefehl 122 ür zulässig, weil nach den einschlägigen italienischen Rechtsvorschriften jedenfalls nicht ausge- 120 Nachfolgend siehe hingegen BVerfG, BVerfGE 142, 123 in Reaktion auf EuGH, ECLI: EU: C: 2015: 400 (zu beiden: s.u.). 121 „Als abwägungsfähiger Belang […] genügt die nach Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV gebotene Achtung der nationalen Identität nicht dem Anspruch auf [absoluten] Schutz des unantastbaren und nicht abwägungsfähigen Kernbestands des GG i.S.v. Art. 79 Abs. 3 GG“, BVerfG, BVerfGE 134, 366 (386). 122 ABl. EU L 190 vom 18.7.2002, S. 1. <?page no="61"?> schlossen sei, dass in der Sache eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfindet. Mit seiner hiergegen erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt S eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG. Mit Erfolg? Ja. Die Verfassungsbeschwerde des S ist zulässig. Wird nämlich wie hier ein Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie geltend gemacht, so prüft das BVerfG - ungeachtet seiner Solange II-Rechtsprechung (dazu sogleich) - einen solchen schwerwiegenden Grundrechtsverstoß im Rahmen der Identitätskontrolle. Zudem ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. Denn die angegriffene Entscheidung verletzt S in seinem Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG. Der Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl betrifft das Schuldprinzip, das in der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelt und mithin Teil der nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG unver ügbaren Verfassungsidentität des GG ist. Die Verwirklichung des Schuldgrundsatzes ist aber gerade dann ge ährdet, wenn wie bei der hier in Rede stehenden Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils die Ermittlung des wahren Sachverhalts nicht sichergestellt ist, sondern es lediglich nicht ausgeschlossen ist, dass nach dem maßgeblichen ausländischen Prozessrecht eine erneute Beweisaufnahme stattfindet (zum Ganzen siehe die sog. Solange III-Entscheidung des BVerfG, BVerfGE 140, 317 123 ). Was den von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG schließlich noch verlangten Grundrechtsschutz anbelangt ( 1. Teil 2.3), so hat das BVerfG im Maastricht- Urteil (BVerfGE 89, 155) zwar ein funktionales Verständnis des Begriffs der „öffentlichen Gewalt“ i.S.v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und § 90 Abs. 1 BVerf- GG - und damit letztlich auch von Art. 1 Abs. 3 GG - zugrunde gelegt, d.h. materiell-rechtlich eine Bindung ebenfalls der EU-Organe an die Grundrechte des deutschen GG bejaht (str. 124 ). Allerdings übt das BVerfG nach dem Solange II-Beschluss (BVerfGE 73, 339) seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem EU-(Sekundär-)Recht, das als Rechtsgrundlage ür ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr aus und überprüft dieses mithin nicht mehr am Maßstab der 123 Nachfolgend siehe aber EuGH, ECLI: EU: C: 2016: 198, wonach Art. 1 Abs. 3, Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses so auszulegen sind, dass die vollstreckende Justizbehörde u.U. wegen i.S.v. Art. 4 EU-GrCh unmenschlicher oder erniedrigender Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat über die Beendigung des Übergabeverfahrens zu entscheiden hat. 124 Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 113 m.w.N. <?page no="62"?> der Grundrechte des GG, solange die EU, insbesondere die Rechtsprechung des EuGH, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der EU generell gewährleistet, der dem vom GG als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, sog. Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH. Diese Voraussetzungen sind gegenwärtig er üllt ( 3. Teil 3). Die Folgen dieser Rechtsprechung hat das BVerfG im Bananenmarkt- Beschluss aufgezeigt (BVerfGE 102, 147): Verfassungsbeschwerden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) und Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG sind von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange II-Entscheidung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei. 125 Im Beispielsfall des Bananenimporteurs I ( 1. Teil 2.3) wäre eine von diesem gegen die EU-Verordnung wegen Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG erhobene Verfassungsbeschwerde zum BVerfG unzulässig. Zwar handelt es sich bei der EU-Verordnung nach dem Maastricht-Urteil des BVerfG um einen tauglichen Beschwerdegegenstand i.S.v. § 90 Abs. 1 BVerfGG. Allerdings gelangt hier Art. 12 Abs. 1 GG - ebenso wie alle anderen Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte des deutschen GG - nach dem Solange II-Beschluss des BVerfG in Anbetracht des derzeitigen Niveaus des Grundrechtsschutzes auf EU-Ebene nicht als Prüfungsmaßstab zur Anwendung. Mithin fehlt es I an der nach § 90 Abs. 1 BVerfGG notwendigen Beschwerdebefugnis. Denn weil Art. 12 Abs. 1 GG vorliegend bereits nicht anwendbar ist, ist auch die Möglichkeit seiner Verletzung durch die EU-Verordnung offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen. Gilt Entsprechendes, d.h. Unterbleiben der Grundrechtsprüfung durch das BVerfG, ebenfalls ür nationale Rechtsakte (z.B. Gesetze), soweit diese zwingende Vorgaben des EU-Rechts (z.B. Richtlinie) umsetzen bzw. vollzie- 125 Ferner siehe Wienbracke, DVP 2013, S. 315 (319) m.w.N. zur Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde mit der gerügt wird, dass eine nationale Vorschrift zwar auf einer zwingenden Richtlinienbestimmung beruht, für die es aber an einer primärrechtlichen Kompetenzgrundlage fehle (Ultra-vires- Akt). <?page no="63"?> hen, so erscheint eine Inanspruchnahme der vorgenannten sog. Reservekompetenz des BVerfG angesichts des gegenwärtig erreichten Stands der Unionsgrundrechte ( 3. Teil 3) freilich eher als rein theoretische Möglichkeit 126 - müsste der EuGH hier ür doch gleich in einer ganzen Reihe von Entscheidungen drastisch unter das Niveau des den deutschen Grundrechten im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes fallen ( 2. Teil 2.3). Demgegenüber kann eine Norm des deutschen Rechts, durch die der nationale Gesetzgeber die Vorgaben einer europäischen Richtlinie in eigener Regelungskompetenz konkretisiert hat oder über solche Vorgaben hinausgegangen ist, d.h. soweit er über Gestaltungsfreiheit bei der „Umsetzung“ von EU-Recht ver ügt und mithin nicht von diesem determiniert ist, nach den Entscheidungen des BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung (BVerfGE 121, 1 und 125, 260) sehr wohl zulässigerweise mit einer Verfassungsbeschwerde angegriffen werden ( 2. Teil 1.3.2.1). Im Ergebnis kann der Solange II-Vorbehalt, ebenso wie die Ultra-vires- Kontrolle und die Verfassungsidentitäts-Prüfung, dazu ühren, dass EU- Recht in Deutschland in eng begrenzten Einzel ällen für unanwendbar erklärt werden muss. Um jedoch zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne Weiteres über den Geltungsanspruch des EU- Rechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung der diesbezüglichen GG-Normen zum Schutz der Funktions ähigkeit der unionalen Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aber, dass diese Feststellung dem BVerfG vorbehalten bleibt (zum Ganzen: BVerfG, BVerfGE 140, 317). Darüber hinaus setzt eine solche aufgrund der Europarechtsfreundlichkeit des GG nach der Honeywell-Entscheidung (BVerfGE 126, 286) voraus, dass zuvor dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV ( 2. Teil 6.5) die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und Auslegung des jeweils in Rede stehenden EU-Rechtsakts gegeben wurde. Mit seiner o.g. Entscheidung zum OMT-Beschluss vom 14. Januar 2014 (BVerfGE 134, 366) hat das BVerfG das (Verfassungsbeschwerde- / Organstreit-)Verfahren ausgesetzt und gem. Art. 267 Abs. 1 AEUV dem EuGH u.a. folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist der Beschluss des Rates der EZB vom 6. September 2012 über Technical fea- 126 Anders noch zur Zeit des Solange I-Beschlusses des BVerfG (BVerfGE 37, 271). Zum „Reservisten“-Bild vgl. auch Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 38 a.E. <?page no="64"?> tures of Outright Monetary Transactions mit dem in Art. 123 Abs. 1 AEUV verankerten Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung unvereinbar? Auf dieses Vorabentscheidungsersuchen hin hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2015: 400) mit Urteil vom 16. Juni 2015 u.a. entschieden, dass Art. 123 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) dazu ermächtigt, ein Programm ür den Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten wie das angekündigte zu beschließen. Denn dieses bewirke nicht, dass den betreffenden Mitgliedstaaten der Anreiz genommen würde, eine gesunde Haushaltspolitik zu verfolgen. Unter diesen Voraussetzungen komme dem Tätigwerden des ESZB nicht die gleiche Wirkung zu wie dem unmittelbaren Erwerb von Staatsanleihen der Mitgliedstaaten. In dieser Auslegung verstoßen der Grundsatzbeschluss über die technischen Rahmenbedingungen des OMT-Programms und dessen mögliche Durch ührung auch dem BVerfG (BVerfGE 142, 123) zufolge nicht offensichtlich gegen das in Art. 123 Abs. 1 AEUV niedergelegte Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, weshalb es mit Urteil vom 21. Juni 2016 die diesbezüglichen Verfassungsbeschwerden und Anträge im Organstreitverfahren - soweit jeweils nicht bereits unzulässig - als unbegründet zurückgewiesen hat. Dem EuGH zufolge ist der Anwendungsvorrang des EU-Rechts vor diesem widersprechenden nationalen Recht der Mitgliedstaaten dagegen i.d.S. absolut, dass die nationalen Gerichte nicht dazu befugt sind, Handlungen der EU-Organe für ungültig zu erklären (EuGH, ECLI: EU: C: 1987: 452). Denn die einheitliche Geltung des EU-Rechts würde beeinträchtigt, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der EU-Organe Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden. Die Gültigkeit solcher Handlungen kann nur nach dem EU-Recht beurteilt werden, denn dem von den Verträgen geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden EU-Recht ( 1. Teil 3.2) können wegen seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen, wenn ihm nicht sein Charakter als Unionsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der EU selbst in Frage gestellt werden soll. Daher kann es die Gültigkeit einer EU- Rechtshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt ( 3. Teil 3.1.6). Es ist jedoch zu prüfen, ob nicht eine entsprechende EU-rechtliche Garantie, d.h. namentlich <?page no="65"?> ein Unionsgrundrecht ( 3. Teil 3), verkannt worden ist (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1970: 114). 127 Vom Vorstehenden Abweichendes ergibt sich richtigerweise auch nicht etwa aus dem M.A.S.&M.B.bzw. Taricco II-Urteil des EuGH (ECLI: EU: C: 2017: 936). 128 Dass die verfassungsrechtliche ( 2. Teil 2.2.1) und die unionsrechtliche Perspektive mithin nicht vollständig harmonieren („unvermeidliche Spannungslage“), ist dem BVerfG (BVerfGE 126, 286) zufolge dem Umstand geschuldet, dass die Mitgliedstaaten auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Herren der Verträge geblieben sind und die EU die Schwelle zum Bundesstaat bislang nicht überschritten hat ( 1. Teil 3.3). 129 Verstoßen die Mitgliedstaaten gegen EU-Recht, so haften sie hier ür nach dem insoweit vom EuGH im Francovich-Urteil (ECLI: EU: C: 1991: 428) entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsatz des EU-Rechts ( 2. Teil 1.1.3; zur Haftung der EU 2. Teil 6.4). Danach sind die Mitgliedstaaten zum Ersatz derjenigen Schäden verpflichtet, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das EU-Recht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind. Tatbestandliche Voraussetzungen ür diesen Entschädigungsanspruch sind nach der EuGH-Entscheidung in Sachen Brasserie du pêcheur (ECLI: EU: C: 1996: 79), dass die verletzte EU-Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen ein (subjektives) Recht zu verleihen, der Verstoß gegen diese EU-Rechtsnorm hinreichend qualifiziert ist und 127 I.d.S. auch Europäisches Parlament, EuZW 1998, S. 165. 128 Vgl. Pilz, NJW 2018, S. 217 (221). 129 Zum Vorschlag der Einrichtung eines dem EuGH übergeordneten, aus nationalen und europäischen Richtern besetzten „Europäischen Kompetenzgerichts“ siehe Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 13 Rn. 16. 130 Dieses Unterkapitel beruht auf Wienbracke, VR 2018, S. 25 (29 f.) m.w.N. <?page no="66"?> zwischen dem EU-Rechtsverstoß sowie dem der geschädigten Person entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang existiert. Ein im o.g. Sinn „hinreichend qualifizierter Verstoß“ gegen das EU-Recht setzt nach der EuGH-Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 2007: 56) voraus, dass der Mitgliedstaat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat, wobei zu den insoweit zu berücksichtigenden Gesichtspunkten insbesondere das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift sowie der Umfang des Ermessensspielraums gehören, den die verletzte Vorschrift den nationalen Behörden belässt. Sofern jedoch der Mitgliedstaat keine Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten hatte und über einen erheblich verringerten oder gar auf Null reduzierten Ermessensspielraum ver ügte, kann die bloße Verletzung des EU- Rechts genügen, um einen „hinreichend qualifizierten Verstoß“ zu statuieren. Im Verhältnis zum Staatshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG ergibt sich aus der EuGH-Rechtsprechung 131 im Fall Danske Slagterier (ECLI: EU: C: 2009: 178), dass es in Ermangelung einer EU-rechtlichen Regelung Sache der nationalen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die zuständigen Gerichte zu bestimmen (aus deutscher Sicht siehe Art. 34 S. 3 GG, § 40 Abs. 2 S. 1 VwGO und § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG) und das Verfahren ür diejenigen Klagen auszugestalten, die den vollen Schutz der sich aus dem EU-Recht ür den Einzelnen ergebenden Rechte gewährleisten sollen (nach § 195 BGB beträgt die Verjährungsfrist 3 Jahre 132 ). Folglich hat jeder Mitgliedstaat die Rechtsfolgen des entstandenen Schadens im Rahmen seines nationalen Haftungsrechts zu beheben (aus deutscher Sicht siehe §§ 249 ff. BGB). Die darin normierten formellen und materiellen Voraussetzungen dürfen allerdings weder ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die allein das nationale Recht betreffen (Äquivalenzgebot 2. Teil 5.2), noch so ausgestaltet sein, dass sie die Erlangung der Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivi- 131 Dagegen prüft der BGH (BGHZ 134, 30) den Staatshaftungsanspruch gem. § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG selbstständig neben dem aus dem EU-Recht folgenden. 132 Nach deutschem Verständnis betrifft die Verjährung (§ 194 Abs. 1 BGB) einzig den materiell-rechtlichen Anspruch, nicht hingegen das prozessuale Klagerecht; siehe Grote, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2015, § 194 BGB Rn. 2. <?page no="67"?> tätsgebot 2. Teil 5.2). Der in § 839 Abs. 3 BGB geregelte Vorrang des Primärrechtsschutzes entspricht diesen Anforderungen. Ein prominenter Anwendungsfall des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs ist die fehlerhafte Richtlinienumsetzung durch die Mitgliedstaaten. Zusammenfassend hierzu siehe BVerfG, 2 BvR 444/ 17, juris: Gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV sind die Mitgliedstaaten Adressat einer Richtlinie. Ihnen obliegt es, das in der Richtlinie jeweils vorgesehene Ziel fristgemäß, vollständig und übereinstimmend mit ihren inhaltlichen Vorgaben in der nationalen Rechtsordnung umzusetzen. Verstößt ein Mitgliedstaat gegen diese Verpflichtung, alle erforderlichen Maßnahmen zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Ziels zu erlassen, so kann dies einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch begründen. Demgegenüber sind die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet, EU-Recht auch jenseits des Integrationsprogramms einer Richtlinie zur Anwendung zu bringen ( 2. Teil 1.3.2.1). Im obigen Beispielsfall des Arbeitnehmers AN ( 2. Teil 1.3.2.2) hat Mitgliedstaat M dadurch gegen das EU-Recht verstoßen, dass er die dort genannte Richtlinie nicht fristgemäß umgesetzt hat. Das durch diese Richtlinie vorgeschriebene Ziel beinhaltet die Begründung eines Rechts der Arbeitnehmer auf eine Garantie ür die Befriedigung ihrer nicht er üllten Ansprüche auf Arbeitsentgelt. Der Inhalt dieses Rechts lässt sich - wie oben gezeigt - auf der Grundlage der Richtlinie bestimmen. Unter diesen Umständen ist nach der EuGH-Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 1991: 428) im Rahmen des nationalen Haftungsrechts das Recht der Arbeitnehmer wie AN auf Ersatz derjenigen Schäden sicherzustellen, die ihnen dadurch entstehen, dass die genannte Richtlinie nicht umgesetzt worden ist. Ebenso wie etwa der Bund als juristische Person (des öffentlichen Rechts) zwar rechts ähig, d.h. Träger von Rechten und Pflichten, aber nicht handlungs ähig ist - hier ür bedarf er vielmehr (Staats-)Organe, die ür ihn agieren 133 -, ver ügt auch die EU, die ebenfalls Rechtspersönlichkeit (Art. 133 Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 49; ders., Staatsorganisationsrecht, S. 19, jeweils m.w.N. <?page no="68"?> 47 EUV) bzw. die Rechts- und Geschäfts ähigkeit einer juristischen Person (Art. 335 AEUV) besitzt, über einen institutionellen Rahmen, der zum Zweck hat, ihren Werten (Art. 2 EUV) Geltung zu verschaffen, ihre Ziele (Art. 3 EUV) zu verfolgen, ihren Interessen, denen ihrer Bürgerinnen und Bürger und denen der Mitgliedstaaten zu dienen sowie die Kohärenz, Effizienz und Kontinuität ihrer Politik und ihrer Maßnahmen sicherzustellen, siehe Art. 13 Abs. 1 UAbs. 1 EUV. Konkret sind Organe der EU, deren Entscheidungen der EU als Rechtsträger zugerechnet werden, 134 nach Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV das Europäische Parlament ( 2. Teil 3.1), der Europäische Rat ( 2. Teil 3.2), der Rat ( 2. Teil 3.3), die Europäische Kommission (kurz: „Kommission“ 2. Teil 3.4), der Gerichtshof der EU, d.h. der Gerichtshof, das Gericht und die Fachgerichte, siehe Art. 19 Abs. 1 S. 1 EUV ( 2. Teil 3.5), die Europäische Zentralbank (EZB) und der Rechnungshof. Neben den vorgenannten Hauptorganen existieren mit dem in Art. 13 Abs. 4 EUV jeweils ausdrücklich erwähnten Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie dem Ausschuss der Regionen noch weitere sog. Hilfsbzw. Nebenorgane der EU. 135 Bei diesen - ebenso wie beim Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 18 EUV 2. Teil 3.4) - handelt es sich mangels expliziter Nennung in der abschließenden Aufzählung (numerus clausus) des Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV richtigerweise allerdings nicht um „Organe“ der EU (etwa i.S.v. Art. 265 Abs. 1 AEUV), sondern ausweislich der Kapitelüberschrift vor den Art. 300 ff. AEUV lediglich um beratende Einrichtungen. 136 Letztere werden neben sonstigen Stellen der EU (z.B. Ämter und Agenturen) beispielsweise in Art. 9 S. 1 EUV und Art. 263 Abs. 1 S. 2, Abs. 5 AEUV erwähnt; deren Schaffung ist - im Gegensatz zu derjenigen von weiteren EU-Organen - mithin zulässig. 137 Die Voraussetzungen ür die Errichtung derart vertrags- 134 Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 3. Aus dem deutschen Recht vgl. § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Dazu: Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 283 ff. m.w.N. 135 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 269; Hobe, Europarecht, Rn. 233; Jochum, Europarecht, Rn. 232. 136 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 69; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 11; Streinz, Europarecht, Rn. 266. 137 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 11; Streinz, Europarecht, Rn. 266. <?page no="69"?> fremder Einrichtungen hat der EuGH in seiner Meroni-Doktrin (ECLI: EU: C: 1958: 7) benannt. Die Bestimmungen über die EZB und den Rechnungshof sowie die detaillierten Bestimmungen über die übrigen Organe der EU sind nach dem diesbezüglichen Hinweis in Art. 13 Abs. 3 EUV im AEUV (konkret: dessen Art. 223 ff.) enthalten. Hieraus ergibt sich unter Einbeziehung der allgemeinen Bestimmungen der Art. 14 ff. EUV folgende Übersicht: EU-Organ Vertragsbestimmungen Europäisches Parlament Art. 14 EUV, Art. 223 ff. AEUV Europäischer Rat Art. 15 EUV, Art. 235 f. AEUV Rat Art. 16 EUV, Art. 237 ff. AEUV Kommission Art. 17 EUV, Art. 244 ff. AEUV Gerichtshof der EU Art. 19 EUV, Art. 251 ff. AEUV EZB Art. 282 ff. AEUV Rechnungshof Art. 285 ff. AEUV Der Sitz der EU-Organe wird nach Art. 341 AEUV im Einvernehmen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten bestimmt. Erfolgt ist dies im Protokoll über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der EU 138 . Entsprechende Ortsangaben finden sich in den nachfolgenden Unterkapiteln zu den einzelnen EU-Organen. Die Regelung der Sprachenfrage ür die EU-Organe wird gem. Art. 342 AEUV unbeschadet der Satzung des Gerichtshofs der EU vom Rat einstimmig durch Verordnungen getroffen ( 2. Teil 1.4). Auch wenn es sich bei der EU nach dem derzeitigen Integrationsstand nicht um einen Staat handelt ( 1. Teil 3.3), so gilt ür die Ausübung der ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Hoheitsgewalt gleichwohl der in Art. 13 Abs. 2 S. 1 EUV verankerte Grundsatz der Gewaltenteilung (checks and balances 139 ), der ausgehend vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ( 2. Teil 4.1) die Beziehungen zwischen den verschiedenen EU- 138 ABl. EU C 326 vom 26.10.2012, S. 265. 139 Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 19. Aus deutscher Sicht siehe Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG. Dazu: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 1; ders., Staatsorganisationsrecht, S. 32, jeweils m.w.N. <?page no="70"?> Organen regelt und damit das institutionelle Gleichgewicht sichert. 140 Gemäß dieser horizontalen Kompetenzabgrenzungsbzw. Organkompetenz-Regel (zur vorgelagerten Frage der EU-Verbandskompetenz nach Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV 2. Teil 4.1) handelt jedes EU-Organ nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Bedingungen und Zielen, die in den Verträgen festgelegt sind. 141 Zudem verpflichtet Art. 13 Abs. 2 S. 2 EUV die EU-Organe auf eine loyale Zusammenarbeit; vgl. ferner Art. 295 und Art. 324 AEUV betreffend bestimmte interinstitutionelle Vereinbarungen. Abb. 2: Gewaltenteilung und demokratische Legitimation auf EU-Ebene (ohne Berücksichtigung des Europäischen Rates) 140 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 156, 160, 202 ff. Zu Vorsicht im Umgang mit dem Begriff „institutionelles Gleichgewicht“ (dazu: EuGH, ECLI: EU: C: 1980: 249, Rn. 33) mahnt Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 3. 141 EuGH, ECLI: EU: C: 2013: 246, Rn. 16; Dittert, Europarecht, S. 87; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 156, 202 f. „Ein [EU-]Organ darf […] nur im Bereich der Verbandskompetenz der EU und im Bereich seiner Organkompetenzen handeln“, Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 13 EUV Rn. 85. <?page no="71"?> Ebenso wie im deutschen Recht die Exekutive nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung einer legislativen Ermächtigungsgrundlage bedarf, um gegenüber dem Bürger (belastend) tätig werden zu dürfen, 142 schreibt auch Art. 13 Abs. 2 S. 1 EUV im Hinblick auf die EU-Organe das Gebot der Vertragsmäßigkeit ihres Handelns fest. 143 U.a. damit beinhaltet das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ( 2. Teil 4.1) folglich Elemente, die sich im deutschen Recht aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben. 144 Insgesamt betrachtet ist das institutionelle System der EU komplex. 145 Vermag dieses nachfolgend lediglich in seinen Grundzügen skizziert zu werden, so sei vorab auf folgende Ausgangslage hingewiesen: Im Staatenverbund „EU“, deren Arbeitsweise nach Art. 10 Abs. 1 EUV auf der repräsentativen Demokratie beruht, bleiben weitgehend die Völker der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation (BVerfG, BVerfGE 123, 267 1. Teil 3.3): Nach Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2 EUV werden die Mitgliedstaaten im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen. Unmittelbar vertreten sind die Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene hingegen im Europäischen Parlament (Art. 10 Abs. 2 UAbs. 1 EUV), das wiederum den Präsidenten der Kommission wählt (Art. 14 Abs. 1 S. 3, Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 2 und 3 EUV) und deren Mitglieder sich als Kollegium dem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen, Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 EUV. Dementsprechend sind Letzteres sowie die Kommission (Art. 17 Abs. 1 EUV) als genuin europäische bzw. supranationale Organe denn auch allein dem EU-Interesse verpflichtet, wohingegen über den Europäischen Rat und den Rat die mitgliedstaatlichen Interessen in die politische Willensbildung der EU einfließen. 146 Namentlich Letzterem kommt insoweit eine Scharnierfunktion zu. 147 142 Dazu siehe Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 8 ff., 123 ff. m.w.N. 143 Bieber/ Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 4 Rn. 8. 144 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 160. 145 Herdegen, Europarecht, § 7 Rn. 1. 146 Herdegen, Europarecht, § 7 Rn. 4; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 95; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 16; Streinz, Europarecht, Rn. 389. 147 Herdegen, Europarecht, § 7 Rn. 17. Zum nachfolgenden Schema vgl. auch ders., a.a.O., § 7 Rn. 7. <?page no="72"?> Das Europäische Parlament mit Sitz in Straßburg 148 hat nach Art. 14 Abs. 1 EUV folgende Aufgaben und Befugnisse i.S.v. Art. 13 Abs. 2 S. 1 EUV: 149 Gesetzgebung (gemeinsam mit dem Rat 2. Teil 3.3 und 4.2.1), Ausübung der Haushaltsbefugnisse der EU (gemeinsam mit dem Rat, siehe Art. 310 Abs. 1 UAbs. 2, Abs. 2 i.V.m. Art. 314 bzw. Art. 322 AEUV sowie Art. 311 Abs. 3 AEUV), politische Kontrolle (siehe v.a. das Recht zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nach Art 226 AEUV, das Interpellationsrecht gegenüber der Kommission nach Art. 230 Abs. 2 AEUV und das mögliche Misstrauensvotum dieser gegenüber nach Art. 234 AEUV, die gem. Art. 17 Abs. 8 S. 1 EUV als Kollegium dem Europäischen Parlament verantwortlich ist; vgl. ferner etwa Art. 218 Abs. 11, Art. 263 Abs. 2 sowie Art. 265 Abs. 1 AEUV) und Beratung (Fälle der Anhörung des Europäischen Parlaments 150 2. Teil 4.2.1) sowie Wahl des Präsidenten der Kommission (siehe Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 2 und 3 EUV; vgl. ferner Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 EUV). Was seine Zusammensetzung anbelangt, so bestimmt Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV, dass das Europäische Parlament aus Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger besteht. Ihre Anzahl darf gem. Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EUV 750 nicht überschreiten, zuzüglich des Präsidenten (insgesamt also 751). Dabei sind nach Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3 und 4 EUV die Bürgerinnen und Bürger im Europäischen Parlament degressiv proportional, d.h. bei zunehmender Bevölkerungszahl mit sinkender Anzahl zusätzlicher Sitze, 151 vertreten - mindestens jedoch mit sechs Mitgliedern je Mitgliedstaat und kein Mitgliedstaat erhält mehr als 96 Sitze. Die konkrete Anzahl der Mitglieder je Mitgliedstaat ergibt sich gem. Art. 14 148 Zusätzliche Plenartagungen finden in Brüssel statt. Das Generalsekretariat des Europäischen Parlaments und dessen Dienststellen befinden sich in Luxemburg. 149 Zur Terminologie: Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 223. 150 Streinz, Europarecht, Rn. 313 ff. 151 Frenz, Europarecht, Rn. 495. Zur Maßgeblichkeit der Bevölkerungszahl und nicht der Anzahl der Staatsangehörigen siehe Streinz, Europarecht, Rn. 305. Die degressiv-proportionale Zusammensetzung „steht zwischen dem völkerrechtlichen Prinzip der Staatengleichheit [,ein Staat eine Stimme‘] und dem staatlichen Prinzip der Wahlrechtsgleichheit“, BVerfG, BVerfGE 123, 267 (374). <?page no="73"?> Abs. 2 UAbs. 2 EUV aus dem jeweiligen Beschluss über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, der nach dieser Vorschrift vom Europäischen Rat einstimmig auf Initiative des Europäischen Parlaments und mit dessen Zustimmung erlassen wird. Danach ver ügt in der Wahlperiode 2014-2019 beispielsweise Deutschland über 96 Sitze und Malta über 6. 152 Hinsichtlich der Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments (MdEP) ordnet Art. 14 Abs. 3 EUV an, dass diese allgemein, unmittelbar, frei und geheim erfolgen muss und die Amtszeit ünf Jahre beträgt; vgl. ferner Art. 20 Abs. 2 S. 2 lit. b), Art. 22 Abs. 2 AEUV und Art. 39 EU-GrCh. Bis ein einheitliches Wahlverfahren nach Art. 223 Abs. 1 AEUV erlassen ist, 153 richtet sich das Verfahren der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments nach den diesbezüglichen mitgliedstaatlichen Vorschriften (in Deutschland: EuWG 154 und EuWO). Die Rechtsstellung der Mitglieder des Europäischen Parlaments ist im auf Art. 223 Abs. 2 AEUV basierenden Beschluss des Europäischen Parlaments vom 28. September 2005 zur Annahme des Abgeordnetenstatuts des Europäischen Parlaments 155 (das u.a. deren Unabhängigkeit garantiert) sowie im in Art. 343 S. 1 AEUV genannten Protokoll vom 8. April 1965 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union 156 (das ihnen u.a. Indemnität und Immunität gewährt) geregelt. 157 Soweit die Verträge nicht etwas anderes bestimmen (so aber z.B. Art. 48 Abs. 7 UAbs. 4 EUV: [absolute] Mehrheit der Mitglieder, also 376 Stim- 152 Beschluss des Europäischen Rates vom 28.6.2013 über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, ABl. EU L 181 vom 29.6.2013, S. 57. 153 Bisher siehe nur den Beschluss und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments vom 20.9.1976, ABl. EG L 278 vom 8.10.1976, S. 5, nach dessen Art. 8 Abs. 1 sich vorbehaltlich der Vorschriften dieses sog. „Direktwahl“-Akts das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften bestimmt. 154 Die darin zunächst enthaltene 5%-Sperrklausel hat das BVerfG (BVerfGE 129, 300 entgegen BVerfGE 51, 222) ebenso wie die spätere 3%-Sperrklausel (BVerfGE 135, 259) als unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 21 Abs. 1 GG erachtet. Demgegenüber siehe Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 20 m.w.N. zur 5%-Sperrklausel des § 6 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 BWahlG bei der deutschen Bundestagswahl. 155 ABl. EU L 262 vom 7.10.2005, S. 1. 156 ABl. EG P 152 vom 13.7.1967, S. 13. 157 ABl. EU C 326 vom 26.10.2012, S. 266. In Bezug auf das GG siehe dessen Art. 38 Abs. 1 S. 2, Art. 46 Abs. 1 und 2. <?page no="74"?> men), beschließt das Europäische Parlament gem. Art. 231 Abs. 1 AEUV - ebenso wie der Deutsche Bundestag nach Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG 158 - mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, d.h. mit einfacher bzw. relativer Mehrheit. Nach Art. 231 Abs. 2 EUV legt die Geschäftsordnung 159 (Art. 232 Abs. 1 AEUV) die Beschluss ähigkeit fest, dazu siehe deren Art. 155. Intern ist das Europäische Parlament - abermals wie der Deutsche Bundestag (siehe Art. 45, 45a und 45c GG, § 10 ff., § 54 ff. GOBT 160 ) - nach thematischen (Ausschüsse, siehe Art. 183 ff. GOEP) und parteipolitischen (Fraktionen, siehe Art. 30 ff. GOEP) Aspekten gegliedert. Gem. Art. 14 Abs. 4 EUV wählt das Europäische Parlament aus seiner Mitte seinen Präsidenten und sein Präsidium. Zu den politischen Parteien auf europäischer Ebene siehe Art. 10 Abs. 4 EUV und Art. 224 AEUV. Das Europäische Parlament ist das einzige unmittelbar von den Unionsbürgern gewählte und mithin legitimierte EU-Organ. 161 Gleichwohl - und trotz seiner Bezeichnung als „Parlament“ sowie Art. 2 S. 1 EUV („Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die […] Demokratie“) - ist seine Stellung innerhalb der EU deutlich schwächer ausgestaltet als diejenige der nationalen Parlamente in den Mitgliedstaaten, namentlich des Deutschen Bundestags: 162 So werden anders als dessen Abgeordnete (siehe Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG 163 ) die Mitglieder des Europäischen Parlaments nach Art. 14 Abs. 3 EUV gerade nicht auch in einer (erfolgswert-)gleichen Wahl gewählt. 164 Vielmehr ührt der degressive Verteilungsschlüssel des Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3 EUV dazu, dass das Gewicht der Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsschwachen Mitgliedstaats (z.B. Malta mit ca. 415.000 Einwohnern) in etwa das Zwölffache des Gewichts der Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsstarken Mitgliedstaats (z.B. Deutschland mit ca. 80 Mio. Einwohnern) betragen kann; während ein in Deutschland gewählter Abgeordneter ca. 857.000 158 Dazu siehe Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 23 m.w.N. 159 ABl. EU L 116 vom 5.11.2011, S. 1. 160 Dazu siehe Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 23 m.w.N. 161 Hierauf hinweisend: Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 207. 162 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 125, 139. 163 Dazu siehe Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 19 ff. m.w.N. 164 Hierauf hinweisend: Herdegen, Europarecht, § 7 Rn. 73; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 212. <?page no="75"?> Unionsbürger vertritt, sind es bei Malta lediglich etwa 67.000 (zum Ganzen: BVerfG, BVerfGE 123, 267). Zudem ver ügt das Europäische Parlament in dem einem Parlament ureigenen Bereich der Gesetzgebung - anders als der Deutsche Bundestag (vgl. Art. 76 Abs. 1 GG 165 ) - grundsätzlich über kein Initiativrecht ( 2. Teil 4.2.1) und - abermals abweichend von diesem (vgl. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG) - im besonderen Gesetzgebungsverfahren mitunter sogar nur über ein bloßes Anhörungsrecht ( 2. Teil 4.2.1). Vielmehr ist Hauptlegislativorgan der EU weiterhin der aus den mitgliedstaatlichen Regierungsvertretern, d.h. der nationalen Exekutive, zusammengesetzte Rat ( 2. Teil 3.3 und 4.2.1). 166 Trotz dieser - gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen - mithin bestehenden demokratischen Defizite der europäischen Hoheitsgewalt hat das BVerfG das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon noch als in Einklang stehend mit den grundgesetzlichen Demokratieanforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 GG erachtet ( 1. Teil 2.1 und 2. Teil 2.2.1); da und soweit die EU nur abgeleitete Hoheitsgewalt ausübt, muss ihre Demokratie nicht staatsanalog ausgestaltet sein (BVerfG, BVerfGE 123, 267). Im Staatenverbund der EU erfolgt die demokratische Legitimation notwendig durch die Rückkoppelung des Handelns der EU-Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten (BVerfG, BVerfGE 89, 155 1. Teil 3.3); dazu siehe aus deutscher Sicht den Parlamentsvorbehalt des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG (i.V.m. dem IntVG) sowie Art. 23 Abs. 2, 3 GG mit dem EUZBBG (ferner siehe Art. 23 Abs. 4 bis 6 GG und das EUZBLG zur Wahrung der Länderinteressen/ -rechte). Vom Europäischen Parlament geht beim derzeitigen Integrationsstand dagegen eine lediglich ergänzende demokratische Abstützung der Politik der EU aus (BVerfG, NJW 1995, S. 2216 speziell zur Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament nach dem o.g. ponderierten Schlüssel). 165 Dazu siehe Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 37 m.w.N. 166 Streinz, Europarecht, § 3 Rn. 43. <?page no="76"?> Der Europäische Rat (Art. 15 EUV) ist vom Rat (Art. 16 EUV 2. Teil 3.3) zu unterscheiden, bei denen es sich jeweils um unterschiedliche Organe der EU handelt, siehe Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV. Demgegenüber besteht zwischen dieser und der am 5. Mai 1949 gegründeten internationalen Organisation Europarat mit Sitz in Straßburg keine institutionelle Verbindung. Zur terminologischen Erhellung nicht bei trägt schließlich, dass vertraglich mitunter auf die „Regierungen der Mitgliedstaaten“ Bezug genommen wird (z.B. in Art. 341 AEUV). Wenngleich insoweit dieselben Personen wie im Rat entscheiden, so doch nicht als EU-Organ, sondern „mit ,anderem Hut‘“ 167 völkerrechtlich als Konferenz der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten; deren sog. uneigentliche Ratsbeschlüsse sind folglich den Mitgliedstaaten - und nicht der EU - zuzurechnen. 168 Die Aufgabe des Europäischen Rats besteht nach Art. 15 Abs. 1 S. 1 EUV vorrangig darin, der EU die ür ihre Entwicklung erforderlichen Impulse zu geben und die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hier ür festzulegen; ein diese fachspezifisch aus ührendes Organ ist der Rat, dem gegenüber der Europäische Rat außerhalb vertraglich angeordneter Bindungs älle allerdings keine Weisungsbefugnisse hat. 169 In dieser Funktion als politisches Leitorgan (vgl. Art. 26 Abs. 1 EUV, Art. 68 AEUV) kommt den betreffenden sog. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates keine rechtliche Bindungswirkung zu. 170 Während Art. 15 Abs. 1 S. 2 167 Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 92. 168 Zum Ganzen vgl. Bieber/ Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 4 Rn. 61; Herdegen, Europarecht, § 7 Rn. 18; Jochum, Europarecht, Rn. 238. 169 Frenz, Europarecht, Rn. 558; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 250; Streinz, Europarecht, Rn. 294. Zur innerstaatlichen Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nach Art. 65 S. 1 GG gegenüber den Bundesministern, die Deutschland jeweils im Rat vertreten, siehe Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 26 m.w.N. 170 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 75; Bieber/ Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 4 Rn. 8; Frenz, Europarecht, Rn. 533, 538. Zur Ergänzung der supranationalen Rechtsetzung im Wege der klassischen „Gemeinschaftsmethode“ durch ein koordinierendes Handeln der Mitglied- <?page no="77"?> EUV 171 dem Europäischen Rat ebenfalls eine Befugnis zur gesetzgeberischen Tätigkeit ausdrücklich verwehrt - weshalb es sich bei seinen Beschlüssen nicht um Gesetzgebungsakte i.S.v. Art. 289 Abs. 3 AEUV ( 2. Teil 4.2.1) handelt -, sind ihm im Übrigen durchaus verbindliche Entscheidungs- und Ernennungsrechte zugewiesen, die er i.d.R. in Form von Beschlüssen i.S.v. Art. 288 Abs. 4 AEUV ausübt. 172 Insoweit zu nennen sind neben beispielsweise Art. 7 Abs. 2, Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 und Art. 48 Abs. 3 EUV insbesondere Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 1 EUV (Vorschlagsrecht des Kandidaten ür das Amt des Präsidenten der Kommission), Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 S. 2 EUV (Ernennung der Kommission), Art. 18 Abs. 1 EUV (Ernennung des Hohen Vertreters der Union ür Außen- und Sicherheitspolitik und Beendigung seiner Amtszeit, jeweils mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten), Art. 48 Abs. 6 f. EUV (Beschlussfassungen im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren) sowie Art. 283 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV (Auswahl und Ernennung der Mitglieder des Direktoriums der EZB). Nach Art. 15 Abs. 2 EUV setzt sich der regelmäßig zweimal pro Halbjahr in sog. EU-Gipfeltreffen (Art. 15 Abs. 3 S. 1 Hs. 1 EUV; Ausnahme: Sondergipfel nach Art. 15 Abs. 3 S. 3 EUV) zusammentretende Europäische Rat aus den Staats- oder 173 Regierungschefs der Mitgliedstaaten (Deutschland wird durch den Bundeskanzler vertreten) sowie dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Kommission zusammen, wobei der Hohe Vertreter der Union ür Außen- und Sicherheitspolitik an den Arbeiten teilnimmt. 174 Wenn es die Tagesordnung erfordert, können nach Art. 15 Abs. 3 S. 2 EUV die Mitglieder des Europäischen Rates beschließen, sich jeweils von einem Minister oder - im Fall des Präsidenten der Kommission - von einem Mitglied der Kommission unterstützen zu lassen. Soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist (so z.B. in Art. 48 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV: „einfache Mehrheit“), entscheidet der Europäische Rat staaten im Europäischen Rat (sog. „Unionsmethode“) siehe Calliess, in: ders./ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 15 EUV Rn. 9. 171 Siehe aber Art. 82 Abs. 3 UAbs. 1 S. 3, Art. 83 Abs. 3 UAbs. 1 S. 3, Art. 86 Abs. 1 UAbs. 2 S. 3, Abs. 4 AEUV im Kapitel über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und Art. 87 Abs. 3 UAbs. 2 S. 3 AEUV in demjenigen über die polizeiliche Zusammenarbeit. 172 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 240; Herdegen, Europarecht, § 7 Rn. 15; Hobe, Europarecht, Rn. 257; Streinz, Europarecht, Rn. 298. 173 Die deutsche Fassung („und“) weicht insoweit von der englischen („or“) und französischen („ou“) ab. Dazu 2. Teil 1.4. 174 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 237; Jochum, Europarecht, Rn. 235; Lenski, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 50 EUV Rn. 11, 17. <?page no="78"?> gem. Art. 15 Abs. 4 EUV im Konsens (Einvernehmen), d.h. es wird solange verhandelt, bis kein Mitgliedstaat mehr Einwände erhebt (keine Abstimmung! ). 175 Beschließt der Europäische Rat hingegen mit qualifizierter Mehrheit (z.B. gem. Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 1 Hs. 1 EUV), so gelten ür ihn Art. 16 Abs. 4 EUV und Art. 238 Abs. 2 AEUV ( 2. Teil 3.3), siehe Art. 235 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV. An rechtsverbindlichen 176 Abstimmungen im Europäischen Rat nehmen dessen Präsident und der Präsident der Kommission nach Art. 235 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 EUV nicht teil. Die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern steht gem. Art. 235 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV dem Zustandekommen von Beschlüssen des Europäischen Rates, zu denen Einstimmigkeit, d.h. die positive Zustimmung aller, 177 erforderlich ist (so z.B. nach Art. 31 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EUV), nicht entgegen. Die Beschluss ähigkeit ist in Art. 6 Abs. 3 der Geschäftsordnung 178 (Art. 235 Abs. 3 EUV) geregelt. Vorgaben (Parlamentsvorbehalt nach Art. 23 Abs. 1 GG 1. Teil 2) in Bezug auf das Abstimmungsverhalten des deutschen Vertreters im Europäischen Rat bei Änderungen des Primärrechts (z.B. nach Art. 48 Abs. 6 UAbs. 2 und 3 EUV) ergeben sich aus dem IntVG (z.B. dessen § 2). Zum (ständigen) Präsidenten des Europäischen Rats - hierbei handelt es sich um ein europäisches und nicht ein nationales Mandat - siehe Art. 15 Abs. 5 f. EUV. 179 Dieser bildet gemeinsam mit dem Kommissionspräsidenten das „Gesicht der Union“, wobei Letzterer ür die supranationale Ebene und Ersterer ür die intergouvernementale Ebene der EU steht, vgl. auch Art. 15 Abs. 6 UAbs. 2 EUV. 180 Aufgaben des (sog. Minister-)Rates (der EU) mit Sitz in Brüssel 181 als nach wie vor wichtigstem 182 EU-Organ sind gem. Art. 16 Abs. 1 EUV: 175 Frenz, Europarecht, Rn. 550; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 32. 176 Vgl. Hobe, Europarecht, Rn. 261. 177 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 241. 178 ABl. EU L 315 vom 2.12.2009, S. 51. 179 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 273; Jochum, Europarecht, Rn. 235. 180 Frenz, Europarecht, Rn. 543 f. 181 In den Monaten April, Juni und Oktober hält der Rat seine Tagungen in Luxemburg ab. 182 Ebenso: Jochum, Europarecht, Rn. 238; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 33. <?page no="79"?> Gesetzgebung (gemeinsam mit dem Europäischen Parlament 2. Teil 3.1 und 4.2.1), Ausübung der Haushaltsbefugnisse der EU (gemeinsam mit dem Europäischen Parlament, siehe Art. 310 Abs. 1 UAbs. 2, Abs. 2 i.V.m. Art. 314 bzw. Art. 322 AEUV sowie Art. 311 Abs. 3 AEUV) und Festlegung der Politik und Koordinierung nach Maßgabe der Verträge (z.B. der Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik nach Art. 121 Abs. 2, Art. 136 Abs. 1 bzw. Art. 146 Abs. 2 AEUV), sog. Gubernativfunktionen 183 . Allerdings ist diese Aufgabenbeschreibung unvollständig, wie beispielsweise die des Weiteren bestehenden Exekutivbefugnisse des Rats belegen (z.B. nach Art. 108 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV im Bereich der Beihilfenaufsicht, nach Art. 215 Abs. 2 AEUV betreffend Embargo-Beschlüsse und nach Art. 126 Abs. 11 AEUV bei übermäßigen öffentlichen Defiziten eines Mitgliedstaats). 184 Zudem etwa schließt der Rat nach Art. 218 Abs. 2 AEUV die internationalen Übereinkünfte der EU mit Drittländern sowie internationalen Organisationen und ernennt ferner die Mitglieder des Rechnungshofs (Art. 286 Abs. 2 S. 2 AEUV), des Wirtschafts- und Sozialausschusses (Art. 301 Abs. 2, Art. 302 Abs. 1 S. 2 AEUV) sowie des Ausschusses der Regionen (Art. 305 Abs. 2, Abs. 3 S. 3 AEUV). Auch nimmt der Rat nach Art. 17 Abs. 7 UAbs. 2 EUV, im Einvernehmen mit dem gewählten Kommissionspräsidenten, die Liste der anderen Persönlichkeiten an, die er als Mitglieder der Kommission vorschlägt. Hinsichtlich seiner Zusammensetzung bestimmt Art. 16 Abs. 2 EUV, dass der Rat aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene besteht, der befugt ist, ür die Regierung des von ihm vertretenen Mitgliedstaats verbindlich zu handeln und das Stimmrecht auszuüben. 185 Diese 183 Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 82: Rat als „politisches Steuerungsorgan“ - auf fachpolitischer Ebene, wohingegen die „allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten“, d.h. die Grundsatzentscheidungen (Dittert, Europarecht, S. 34) nach Art. 15 Abs. 1 S. 1 EUV vom Europäischen Rat festgelegt werden ( 2. Teil 3.2); hierauf hinweisend: Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 250. 184 Hierauf hinweisend: Bieber/ Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 4 Rn. 46; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 34. 185 Obwohl kein Minister, ist die Vertretung durch einen Staatssekretär gewohnheitsrechtlich (dazu s.o. Fn. 80) anerkannt, siehe Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 41. „Auf der europäischen Ebene ist der Rat anders als im Bundesstaat keine zweite Kammer, sondern das Vertretungsorgan der Herren der Verträge und dementsprechend nicht proportional repräsenta- <?page no="80"?> (Fach-)Minister tagen auf Einberufung des Ratspräsidenten (Art. 237 AEUV) gem. Art. 16 Abs. 6 UAbs. 1 EUV in Abhängigkeit vom jeweils zu erörternden Thema in verschiedenen Zusammensetzungen (so z.B. gehören dem in Art. 18 Abs. 3 EUV genannten Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ die Außenminister aller Mitgliedstaaten an), 186 wobei die Liste dieser Zusammensetzungen nach Art. 236 lit. a) AEUV grundsätzlich vom Europäischen Rat festgelegt wird. Danach existieren neben den beiden in Art. 16 Abs. 6 UAbs. 2 und 3 EUV ausdrücklich genannten Ratsformationen „Allgemeine Angelegenheiten“ und „Auswärtige Angelegenheiten“ noch acht weitere, u.a. der Rat „Wirtschaft und Finanzen“ einschließlich Haushalt (ECOFIN). 187 Ein Ausschuss der Ständigen Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (COREPER) ist gem. Art. 16 Abs. 7 EUV ür die Vorbereitung der Arbeiten des Rates verantwortlich, vgl. auch Art. 240 Abs. 1 AEUV; ferner siehe Art. 38 EUV zum Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee sowie Art. 71 AEUV zum Ständigen Ausschuss „Innere Sicherheit“. Im Hinblick auf den deutschen Ratsvertreter bestimmt Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG, dass wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind, die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der EU zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen werden. In diesen Fällen erfolgt die Vertretung mithin ausnahmsweise nicht durch einen der Richtlinienkompetenz 188 des Bundeskanzlers (Art. 65 S. 1 GG) unterworfenen Bundesminister (Art. 62 und 64 GG), sondern gem. § 6 Abs. 2 S. 2 EUZBLG ein Mitglied einer Landesregierung im Ministerrang, d.h. tiv, sondern nach dem Bild der Staatengleichheit verfasst“, BVerfG, BVerf- GE 123, 267 (368). 186 Vgl. Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 81. 187 Beschluss des Europäischen Rates vom 16.9.2010 zur Änderung der Liste der Zusammensetzungen des Rates (2009/ 878/ EU), ABl. EU L 263 vom 6.10.2010, S. 12; Anhang I („Liste der Ratsformationen“) zur Geschäftsordnung des Rates. Zu den hiervon zu unterscheidenden informellen Ministertreffen siehe § 3 Abs. 3 S. 1 EUZBBG und zur „Euro-Gruppe“ auch Art. 137 AEUV. 188 Dazu siehe Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 26 m.w.N. Ein etwaiger Verstoß gegen eine derartige mitgliedstaatliche Vorgabe berührt freilich nicht die Unionsrechtmäßigkeit des betreffenden Ratsbeschlusses, vgl. Frenz, Europarecht, Rn. 597. <?page no="81"?> einen Landesminister. 189 Da dieser im Rat allerdings nicht nur an der Ausübung der Hoheitsgewalt der EU teilnimmt, sondern gleichzeitig als deutsches Staatsorgan handelt (Doppelfunktion), stellt sich die Frage nach der GG- und v.a. Grundrechts-Bindung des deutschen Vertreters im Rat bei dortigen Abstimmungen. 190 Dem Grunde nach ist diese wegen Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG richtigerweise zu bejahen, inhaltlich jedoch mit Blick auf die andernfalls etwaig ge ährdete Staatszielbestimmung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG auf das absolute Mindestniveau des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG reduziert - namentlich bei der Setzung von Sekundärrecht ( 1. Teil 2 und 2. Teil 2.2 und 4.1.1). 191 Soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist (so aber z.B. in Art. 247 AEUV: „einfache Mehrheit“ i.S.v. Art. 238 Abs. 1 AEUV und in Art. 352 Abs. 1 AEUV: „einstimmig“, dem nach Art. 238 Abs. 4 AEUV die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern nicht entgegensteht), beschließt der Rat nach Art. 16 Abs. 3 EUV mit qualifizierter Mehrheit i.S.v. Art. 16 Abs. 4 EUV und Art. 238 AEUV. 192 Nach Art. 3 Abs. 6 der Geschäftsordnung des Rates (GORat 193 ; Art. 240 Abs. 3 AEUV) besteht die (vorläufige) Tagesordnung aus den Teilen „Beratungen über Gesetzgebungsakte” und „Nicht die Gesetzgebung betreffende Tätigkeiten”, wobei in beiden Teilen jeweils eine Binnengliederung in sog. A- Punkte, die der Rat ohne Aussprache annehmen kann, und sog. B-Punkte erfolgt. Mit Ausnahme des Rats „Auswärtige Angelegenheiten” (dazu siehe Art. 18 Abs. 3, Art. 27 Abs. 1 EUV) wird der Vorsitz im Rat (die sog. EU- 189 Vgl. BT-Drucks. 12/ 3338, S. 9; 12/ 6000, S. 23; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 278. 190 Näher dazu: Frenz, Europarecht, Rn. 595 ff.; Herdegen, Europarecht, § 7 Rn. 35 ff. 191 Vgl. Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 113 (Fn. 283) m.w.N.; Ziegenhorn, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 16 EUV Rn. 17 ff. 192 Zur Aufhebung des Mehrheitsprinzips aufgrund des Einstimmigkeitserfordernisses nach dem „Luxemburger Kompromiss“ aus dem Jahr 1966 siehe Streinz, Europarecht, Rn. 363 ff. Dort (Rn. 367) auch zum aus dem „Kompromiss von Ioannina“ (Beschluss des Rates vom 29.3.1994, ABl. EG 1994 C 105 vom 13.4.1994, S. 1) hervorgegangenen „Ioannina-Mechanismus“ (Beschluss 2009/ 857/ EU, ABl. EU L 314 vom 1.12.2009, S. 73) betreffend Neuverhandlungen wegen einer Sperrminorität. 193 ABl. EU L 325 vom 11.12.2009, S. 35. Zu deren umstrittener Rechtsnatur siehe Herdegen, Europarecht, § 7 Rn. 23. <?page no="82"?> Ratspräsidentschaft 194 ) in allen übrigen Zusammensetzungen nach Art. 16 Abs. 9 EUV von den Vertretern der Mitgliedstaaten im Rat unter Bedingungen, die gem. Art. 236 lit. b) AEUV vom Europäischen Rat festgelegt werden, nach einem System der gleichberechtigten Rotation durch eine sog. Troika 195 wahrgenommen. Nach Art. 16 Abs. 8 EUV tagt der Rat öffentlich, wenn er über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät und abstimmt - weshalb nach dieser Vorschrift jede Ratstagung in zwei Teile unterteilt wird, von denen der eine den Beratungen über die Gesetzgebungsakte der EU und der andere den nicht die Gesetzgebung betreffenden Tätigkeiten gewidmet ist. Zum (Umlauf-)Verfahren der stillschweigenden Zustimmung siehe Art. 12 Abs. 2 GORat. Art. 17 Abs. 1 EUV benennt in nicht abschließender Weise die wesentlichen Aufgaben und Befugnisse der Kommission mit Sitz in Brüssel 196 wie folgt (ferner siehe z.B. Art. 106 Abs. 3 AEUV; zu Art. 290 AEUV 2. Teil 4.2.2): 197 Sie ördert die allgemeinen Interessen der EU und ergreift als „Motor der Integration“ 198 geeignete Initiativen zu diesem Zweck (z.B. durch sog. Grünbücher als Diskussionsgrundlage, vgl. Art. 288 Abs. 5 AEUV). 199 Insbesondere darf nach Art. 17 Abs. 2 S. 1 EUV, soweit in den Verträgen, d.h. im EUV und im AEUV, nichts anderes festgelegt ist, ein Gesetzgebungsakt der EU nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden, sog. Initiativmonopol 200 ( 2. Teil 4.2.1). Andere Rechtsakte werden gem. Art. 17 Abs. 2 S. 2 EUV auf der Grundlage eines Kommissionsvorschlags erlassen, wenn dies in den Verträgen vorgesehen ist (so z.B. in Art. 123 Abs. 6 AEUV); 194 Zur Terminologie: Frenz, Europarecht, Rn. 574. 195 Dittert, Europarecht, S. 33. 196 Bestimmte Dienststellen sind in Luxemburg untergebracht. 197 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 109; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 53. 198 Streinz, Europarecht, Rn. 394. 199 Frenz, Europarecht, Rn. 603; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 125. 200 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 280. <?page no="83"?> sorgt als „Hüterin der Verträge“ 201 ür deren Anwendung sowie der von den EU-Organen kraft der Verträge erlassenen Maßnahmen (namentlich: Sekundärrecht) und überwacht die Anwendung des Unionsrechts unter der Kontrolle des Gerichtshofs der EU. Hier ür kann sie nach Art. 337 Hs. 1 AEUV alle erforderlichen Auskünfte einholen und alle erforderlichen Nachprüfungen vornehmen (vgl. auch Art. 4 Abs. 3 EUV), um daraufhin ggf. ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV einzuleiten ( 2. Teil 6.1 ). 202 Zudem kann die Kommission nach Art. 263 Abs. 2 AEUV Nichtigkeitsklage und nach Art. 265 Abs. 1 AEUV Untätigkeitsklage erheben ( 2. Teil 6.2 und 6.3 ). 203 Die Rechtsakte der Kommission sind gegenüber den Mitgliedstaaten nicht vollstreckbar, siehe Art. 299 Abs. 1 Hs. 2 AEUV; ührt den Haushaltsplan aus (näher: Art. 317 bis 319 AEUV) und verwaltet die Programme; übt als - mit Rat und Europäischem Rat geteilte ( 2. Teil 3.2 und 3.3) - „europäische Regierung“ (BVerfG, BVerfGE 123, 267) nach Maßgabe der Verträge Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen ( 2. Teil 5.1) aus; nimmt außer in der GASP und den übrigen in den Verträgen vorgesehenen Fällen die Vertretung der EU nach außen wahr (siehe z.B. Art. 207 Abs. 3, Art. 220 Abs. 2, Art. 335 S. 2 AEUV) und leitet die jährliche und die mehrjährige Programmplanung der EU (sog. Leitlinien 204 ) mit dem Ziel ein, interinstitutionelle Vereinbarungen zu erreichen. Die Zusammensetzung der Kommission richtet ür die Zeit ab dem 1. November 2014 nach Art. 17 Abs. 5 UAbs. 1 EUV. Danach besteht die Kommission, einschließlich ihres Präsidenten und des Hohen Vertreters der Union ür Außen- und Sicherheitspolitik, an sich aus einer Anzahl von Mitgliedern, die zwei Dritteln der Zahl der Mitgliedstaaten entspricht. Gem. Art. 17 Abs. 5 UAbs. 2 S. 1 EUV werden die Mitglieder der Kommission unter den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in einem System der strikt gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten so ausge- 201 Frenz, Europarecht, Rn. 598. 202 Hierauf hinweisend: Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 111; Jochum, Europarecht, Rn. 262. Zur umstrittenen Frage, ob sie hierzu ggf. verpflichtet ist, siehe Streinz, Europarecht, Rn. 397 ff. 203 Hierauf hinweisend: Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 57. 204 Martenczuk, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 17 EUV Rn. 48. <?page no="84"?> wählt, dass das demografische und geografische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt. Dieses System wird vom Europäischen Rat nach Artikel 244 AEUV einstimmig festgelegt, siehe Art. 17 Abs. 5 UAbs. 2 S. 2 EUV. Allerdings hat der Europäische Rat von der in Art. 17 Abs. 5 UAbs. 1 EUV a.E. vorgesehenen Änderungsmöglichkeit mit Beschluss vom 22. Mai 2013 (2013/ 272/ EU) 205 Gebrauch gemacht, weshalb die Anzahl der Kommissionsmitglieder weiterhin derjenigen der Mitgliedstaaten entspricht. Ausgewählt werden die Mitglieder der Kommission gem. Art. 17 Abs. 3 UAbs. 2 EUV aufgrund ihrer allgemeinen Be ähigung und ihres Einsatzes ür Europa unter Persönlichkeiten, die volle Gewähr ür ihre Unabhängigkeit bieten. Nach Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 1 EUV schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten ür das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament, sog. Spitzenkandidaten-Konzept 206 . Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder, siehe Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 2 EUV. Erhält dieser Kandidat nicht die Mehrheit, so schlägt gem. Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 3 EUV der Europäische Rat dem Europäischen Parlament innerhalb eines Monats mit qualifizierter Mehrheit einen neuen Kandidaten vor, ür dessen Wahl das Europäische Parlament dasselbe Verfahren anwendet. Nach Art. 17 Abs. 7 UAbs. 2 S. 1 EUV nimmt der Rat, im Einvernehmen mit dem gewählten Präsidenten, die Liste der anderen Persönlichkeiten an, die er als Mitglieder der Kommission vorschlägt. Diese werden gem. Art. 17 Abs. 7 UAbs. 2 S. 2 EUV auf der Grundlage der Vorschläge der Mitgliedstaaten entsprechend den Kriterien nach Art. 17 Abs. 3 UAbs. 2 und Abs. 5 UAbs. 2 EUV ausgewählt. Der Präsident, der Hohe Vertreter der Union ür Außen- und Sicherheitspolitik und die übrigen Mitglieder der Kommission stellen sich nach Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 S. 1 EUV als Kollegium einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments. Auf der Grundlage dieser Zustimmung wird die Kommission vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit auf ünf Jahre (Art. 17 Abs. 3 UAbs. 1 EUV) ernannt, siehe Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 S. 2 EUV. Gem. Art. 17 Abs. 6 UAbs. 2 S. 1 EUV legt ein Mitglied der Kommission sein Amt nieder, wenn es vom Präsidenten dazu aufgefordert wird; Entsprechendes gilt ür den Hohen Vertreter der Union ür Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Verfahren des Art. 18 Abs. 1 EUV, siehe Art. 17 Abs. 6 UAbs. 2 S. 2 EUV. Nach Art. 17 Abs. 8 S. 2 und 3 EUV muss dieser 205 ABl. EU L 165 vom 18.6.2013, S. 98. 206 Streinz, Europarecht, Rn. 390. <?page no="85"?> sein im Rahmen der Kommission ausgeübtes Amt und müssen die Mitglieder der Kommission geschlossen ihr Amt niederlegen, wenn das Europäische Parlament nach Art. 234 AEUV einen Misstrauensantrag gegen die Kommission annimmt ( 2. Teil 3.1). Diese ist gem. Art. 17 Abs. 8 S. 1 EUV als Kollegium gegenüber dem Europäischen Parlament verantwortlich. Ferner siehe Art. 246 AEUV (Neubesetzung u.a. wegen Rücktritts oder Todesfalls) und Art. 247 AEUV (Amtsenthebung durch den Gerichtsho ). Die Beschlüsse der Kommission werden nach Art. 250 Abs. 1 AEUV mit der Mehrheit ihrer Mitglieder gefasst (sog. Kollegialprinzip 207 ), wobei es nach Art. 8 Abs. 3 der Geschäftsordnung 208 der Kommission (GOKomm, Art. 249 Abs. 1 AEUV) auf die im Vertrag vorgesehene Zahl der Mitglieder ankommt (absolute Mehrheit); entsprechend Art. 250 Abs. 2 AEUV ist die Beschluss ähigkeit der Kommission ebenfalls in deren Geschäftsordnung festgelegt, siehe den dortigen Art. 7. Ihre Tätigkeit übt die Kommission gem. Art. 17 Abs. 3 UAbs. 3 S. 1 EUV in voller Unabhängigkeit aus, siehe auch Art. 245 Abs. 1 S. 2 AEUV. Die Mitglieder der Kommission dürfen unbeschadet des Art. 18 Abs. 2 EUV Weisungen von einer Regierung, einem Organ, einer Einrichtung oder jeder anderen Stelle weder einholen noch entgegennehmen, siehe Art. 17 Abs. 3 UAbs. 3 S. 2 EUV. Sie enthalten sich nach Art. 17 Abs. 3 UAbs. 3 S. 3 EUV jeder Handlung, die mit ihrem Amt oder der Er üllung ihrer Aufgaben unvereinbar ist, vgl. auch Art. 245 Abs. 1 S. 1 AEUV sowie ferner Art. 245 Abs. 2 AEUV. Der dem Europäischen Rat angehörende (Art. 15 Abs. 2 S. 1 EUV 2. Teil 3.2) Präsident der Kommission legt die Leitlinien fest, nach denen die Kommission ihre Aufgaben ausübt (sog. Richtlinienkompetenz 209 gem. Art. 17 Abs. 6 UAbs. 1 lit. a) EUV; vgl. auch Art. 248 S. 3 AEUV), beschließt über die interne Organisation der Kommission (sog. Organisationsgewalt 210 ), d.h. v.a. die Zahl und den Zuschnitt der Generaldirektorate (Abteilungen, vgl. Art. 248 S. 1 und 2 AEUV), 211 um die Kohärenz, die Effizienz und das Kollegialitätsprinzip im Rahmen ihrer Tätigkeit sicherzustellen (Art. 17 Abs. 6 UAbs. 1 lit. b) EUV) und ernennt, mit Ausnahme des mit seiner Zustimmung vom Europäischen Rat ernannten (Art. 18 Abs. 1 S. 1 EUV) Hohen Vertreters der Union ür Außen- und Sicherheitspolitik, der bereits kraft 207 Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 105. 208 ABl. EG L 308 vom 8.12.2000, S. 26. 209 Herdegen, Europarecht, § 7 Rn. 58. Aus deutscher Sicht vgl. Art. 65 S. 1 GG. Dazu siehe Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 26 m.w.N. 210 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 349. 211 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 105, 108. <?page no="86"?> Amtes nach Art. 18 Abs. 4 S. 1 EUV einer der Vizepräsidenten der Kommission ist, die (weiteren) Vizepräsidenten aus dem Kreis der Mitglieder der Kommission (Art. 17 Abs. 6 UAbs. 1 lit. c) EUV). Nach Art. 19 Abs. 1 S. 1 EUV umfasst der - nicht mit dem ür die Einhaltung der sich aus der EMRK ergebenden Verpflichtungen zuständigen Europäischen Gerichtshof ür Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg zu verwechselnde - Gerichtshof der Europäischen Union mehrere Teilorgane, 212 nämlich den Gerichtshof (EuGH), das Gericht (EuG; vormals: Gericht erster Instanz) und die Fachgerichte. Nach Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 AEUV ist das Gericht ür Entscheidungen im ersten Rechtszug über die in den Art. 263, 265, 268, 270 und 272 AEUV genannten Klagen zuständig, mit Ausnahme derjenigen Klagen, die einem nach Art. 257 AEUV gebildeten Fachgericht übertragen werden, und der Klagen, die gemäß (Art. 51) der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union 213 (Art. 281 AEUV) dem Gerichtshof vorbehalten sind. Gem. Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 AEUV kann in der Satzung vorgesehen werden, dass das Gericht ür andere Kategorien von Klagen zuständig ist; speziell zu in besonderen in der Satzung festgelegten Sachgebieten ür Vorabentscheidungen nach Art. 267 AEUV ( 2. Teil 6.5) siehe Art. 256 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV. Gegen die Entscheidungen des Gerichts aufgrund Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV kann nach Maßgabe der Bedingungen und innerhalb der Grenzen, die in der Satzung vorgesehen sind, beim Gerichtshof ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel eingelegt werden, siehe Art. 256 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV. Das durch Beschluss 2004/ 752/ EG vom 2. November 2004 214 errichtete und ür alle Streitsachen zwischen der EU und deren Bediensteten (Art. 270 AEUV) zuständige Gericht ür den öffentlichen Dienst der EU (EuGöD) als bis dahin einzigem Fachgericht wurde am 1. September 2016 aufgelöst und mit Verordnung 2016/ 1192/ EU vom 6. Juli 2016 215 in das Gericht eingegliedert. 212 Hierauf hinweisend: Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 288 f., 300. 213 ABl. EG C 80 vom 10.3.2001, S. 53. 214 ABl. EU L 333 vom 9.11.2004, S. 7. 215 ABl. EU L 200 vom 26.7.2016, S. 137. <?page no="87"?> Die Aufgaben und Befugnisse des Gerichtshofs der EU (Sitz: Luxemburg) bestehen gem. Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV darin, die Wahrung des gesamten EU-Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge, d.h. des EUV und des AEUV, zu sichern, wozu auch die Rechtsfortbildung (Analogie) gehört ( 2. Teil 1.1.3 und 1.3.2.2). 216 „Auslegung ist die Ermittlung des Inhalts (Tatbestand und Rechtsfolge einschließlich deren konditionaler Verknüpfung) einer Norm.“ Demgegenüber besteht die „Anwendung des Rechts […] in der Prüfung, ob ein konkreter Sachverhalt die Tatbestandsmerkmale einer Rechtsnorm er üllt (Subsumtion).“ 217 Damit ist der Gerichtshofs der EU neben der Kommission (Art. 17 Abs. 1 S. 3 EUV 2. Teil 3.4) ebenfalls „Hüter der Verträge“ 218 - und aufgrund seiner Rechtsprechung (etwa zum Vorrang des EU-Rechts 2. Teil 2.1) auch weiterer „Motor der Integration“ 219 . 220 Nach Maßgabe der Verträge entscheidet der Gerichtshof der EU über Klagen eines Mitgliedstaats, eines Organs oder natürlicher oder juristischer Personen (Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV), im Wege der Vorabentscheidung auf Antrag der einzelstaatlichen Gerichte über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit der Handlungen der Organe (Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV) und in allen anderen in den Verträgen vorgesehenen Fällen (Art. 19 Abs. 3 lit. c) EUV, z.B. Gutachtenverfahren nach Art. 218 Abs. 11 AEUV; näher zum Rechtsschutzsystem der EU 2. Teil 6). M.a.W.: Der Gerichtshof der EU ist nicht etwa generalklauselartig ür alle unionsrechtlichen Streitigkeiten zuständig, sondern nur in den vertraglich 221 abschließend aufge ührten Fällen (sog. Enumerationsprinzip nach Art des Art. 93 Abs. 3 GG, § 13 BVerfGG 222 ), vgl. auch 216 Vgl. Dittert, Europarecht, S. 49; Frenz, Europarecht, Rn. 639; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 471; Jochum, Europarecht, Rn. 397; Wienbracke, EuZW 2016, S. 51 (54) m.w.N. 217 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 474. 218 Vgl. Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 13 Rn. 9. 219 Streinz, Europarecht, Rn. 621. 220 Herdegen, Europarecht, § 7 Rn. 98. 221 Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV selbst begründet als bloße Aufgabenzuweisungsnorm keine Zuständigkeiten, siehe Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 9 Rn. 5. 222 Dazu: Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 30. Im Gegensatz dazu vgl. etwa die Generalklausel des § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Zu dieser: Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 68 ff., jeweils m.w.N. <?page no="88"?> Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV und Art. 274 AEUV ( 2. Teil 6.4). 223 Außerhalb dieser schaffen gem. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom EU-Recht erfassten Bereichen gewährleistet ist (so z.B. bei vom EU-Recht beherrschten Streitigkeit zwischen einer mitgliedstaatlichen Behörde und einem Privaten 224 ). Insoweit handelt es sich bei den mitgliedstaatlichen Gerichten mithin um funktionelle Unionsgerichte. 225 So sind nach Maßgabe von Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV und Art. 275 AEUV die Bestimmungen der GASP sowie gem. Art. 276 AEUV die Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats und die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten ür die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit ausdrücklich von der Zuständigkeit des Gerichtshofs der EU ausgenommen. Ebenfalls nicht dessen Jurisdiktionsgewalt unterliegen Maßnahmen der Mitgliedstaaten außerhalb des EU-Rechts sowie die Gültigkeit und Auslegung von deren nationalem Recht (insoweit besteht keine Normverwerfungskompetenz) - auch nicht im Vorabentscheidungsverfahren ( 2. Teil 6.5); mitgliedstaatliche Vertragsverletzungen kann der EuGH lediglich feststellen ( 2. Teil 6.1). 226 Umgekehrt sind nach dessen Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 1987: 452) die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten nicht dazu befugt, Handlungen der EU-Organe ür ungültig zu erklären (zur diesbezüglichen BVerfG-Rechtsprechung 2. Teil 2.2.1). 223 Vgl. Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 146, 248; Dittert, Europarecht, S. 49, 125 f.; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 63. Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge sind nach Art. 344 AEUV nicht anders als hierin vorgesehen zu regeln; dazu siehe Art. 259 und vgl. Art. 273 AEUV. 224 Dittert, Europarecht, S. 128. Dort auch der weitere Hinweis, dass unionsrechtliche Vorschriften sowohl vor den deutschen Zivilals auch Arbeits-, Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichten relevant werden können. Ferner siehe Jochum, Europarecht, Rn. 394 zum regelmäßig fehlenden unmittelbaren Zugang Einzelner zum EuGH mit dem Ziel, Sekundärrechtsnormen am Maßstab des Primärrechts überprüfen zu lassen (vgl. auch 2. Teil 6.2). 225 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 147. Dazu vgl. Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 260, 405, 543, 575, 609 m.w.N. 226 EuGH, ECLI: EU: C: 2017: 129, Rn. 23; Hobe, Europarecht, Rn. 482; Jochum, Europarecht, Rn. 391, 397; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 134, 150. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs für Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit eines nach Art. 7 EUV erlassenen Rechtsakts 1. Teil 1.2.3. <?page no="89"?> In Bezug auf die Zusammensetzung bestimmt Art. 19 Abs. 2 UAbs. 1 EUV, dass der Gerichtshof aus einem Richter je Mitgliedstaat besteht und nach Art. 252 Abs. 1 S. 1 AEUV an sich von acht, aufgrund einer gem. Art. 252 Abs. 1 S. 2 AEUV erfolgten Erhöhung durch den Rat 227 seit dem 7. Oktober 2015 jedoch von elf Generalanwälten (GA) unterstützt wird. Diese haben gem. Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach (Art. 20 Abs. 4 und 5 sowie Art. 23a Abs. 2) der Satzung seine Mitwirkung erforderlich ist. Wenngleich die Richter den Schlussanträgen in der Praxis häufig folgen, so sind sie rechtlich an diese freilich nicht gebunden. 228 Das Gericht besteht nach Art. 19 Abs. 2 UAbs. 2 EUV aus mindestens einem Richter je Mitgliedstaat. Als Richter und Generalanwälte des Gerichtshofs und als Richter des Gerichts sind Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr ür ihre Unabhängigkeit bieten und die Voraussetzungen des Art. 253 bzw. Art. 254 AEUV er üllen, siehe Art. 19 Abs. 2 UAbs. 3 S. 1 EUV. Sie werden gem. Art. 19 Abs. 2 UAbs. 3 S. 2 EUV von den Regierungen der Mitgliedstaaten (aus deutscher Sicht: § 1 Abs. 3 RiWahlG) im gegenseitigen Einvernehmen nach Anhörung des sog. Bewerber-Ausschusses (Art. 255 AEUV, siehe Art. 253 Abs. 1 Hs. 2 AEUV) ür eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt. Die Wiederernennung ausscheidender Richter und Generalanwälte ist nach Art. 19 Abs. 2 UAbs. 3 S. 3 EUV und Art. 253 Abs. 4 AEUV zulässig. Gem. Art. 253 Abs. 2 AEUV findet alle drei Jahre nach Maßgabe der Satzung eine teilweise Neubesetzung der Stellen der Richter und Generalanwälte statt. Der Gerichtshof tagt in Kammern oder als Große Kammer entsprechend den hier ür in (Art. 16 Abs. 1 bis 3) der Satzung vorgesehenen Regeln, siehe Art. 251 Abs. 1 AEUV. Wenn die Satzung es vorsieht (so deren Art. 16 Abs. 4 und 5), kann der Gerichtshof nach Art. 251 Abs. 2 AEUV auch als Plenum tagen. Gem. Art. 253 Abs. 3 S. 1 AEUV wählen die Richter aus ihrer Mitte den Präsidenten des Gerichtshofs ür die Dauer von drei Jahren, wobei nach Art. 253 Abs. 3 S. 2 AEUV Wiederwahl zulässig ist. Der Gerichtshof ernennt nach Art. 253 Abs. 5 AEUV seinen Kanzler und bestimmt dessen Stellung. Ferner erlässt der Gerichtshof seine Verfahrensordnung 229 , die der Genehmigung des Rates bedarf, siehe Art. 253 Abs. 6 AEUV. Zu den 227 Beschluss des Rates (2013/ 336/ EU) vom 25.6.2013, ABl. EU L 179 vom 29.6.2013, S. 92. Dazu siehe auch Erklärung Nr. 38 zur Schlussakte der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon, ABl. EU 2007 C 306, S. 262. 228 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 142; Bieber/ Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 4 Rn. 88. 229 ABl. EU L 265 vom 29.9.2012, S. 1. <?page no="90"?> Generalanwälten s.o.; ein Erster Generalanwalt wird vom Gerichtshof nach Anhörung der Generalanwälte ür die Dauer eines Jahres bestimmt, siehe Art. 14 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. Die - nach Eingabe etwa des European Case Law Identifier (ECLI) - unter curia.europa.eu jeweils abrufbaren Rechtssachen des EuGH werden mit „C“ ( ür franz. Cour), die des Gerichts mit „T“ ( ür franz. Tribunal) und Rechtsmittelverfahren gegen dessen Entscheidungen mit dem Nachsatz „P“ ( ür franz. Pourvoi) gekennzeichnet. 230 Die Rechtsetzung in der EU betrifft neben dem Primärnamentlich das Sekundärrecht. Während das Primärrecht nach seiner völkervertraglichen Schaffung durch die Mitgliedstaaten ( 1. Teil 3.1) von diesen gem. Art. 48 EUV wieder geändert werden kann, wird das Sekundärrecht ( 2. Teil 1.3) von der EU - bzw. deren Organen - geschaffen. 231 Aufgrund ihrer nach dem bisherigen Integrationsstand fehlenden Staatsqualität ver ügt die EU nicht über eine allumfassende Hoheitsgewalt - insbesondere nicht über die Befugnis, aus eigener Macht Zuständigkeiten ür sich zu begründen (keine Selbstermächtigung bzw. „Kompetenz-Kompetenz“ 1. Teil 3.3). 232 Vielmehr leitet sie als supranationale Organisation ihre Herrschaftsgewalt von den Mitgliedstaaten als den „Herren der [völkerrechtlichen] Verträge“ ab, auf denen die EU beruht, d.h. derzeit dem EUV und dem AEUV ( 1. Teil 3.1). 233 Demgemäß heißt es in Art. 5 Abs. 2 S. 1 EUV, dass die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig 230 Hierauf hinweisend: Streinz, Europarecht, Rn. 423. 231 Zum Ganzen: Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 212 ff. 232 Dittert, Europarecht. S. 87; Hobe, Europarecht, Rn. 183; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 3. 233 Vgl. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 464; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 155. <?page no="91"?> wird, welche die Mitgliedstaaten ihr in den beiden vorgenannten Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben, sog. Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 EUV). Alle der EU nicht in diesen Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben dagegen nach der in Art. 5 Abs. 2 S. 2 EUV enthaltenen Kompetenzvermutung zugunsten der Mitgliedstaaten bei diesen (siehe auch Art. 4 Abs. 1 EUV), d.h. fallen in deren ausschließliche Zuständigkeit. 234 M.a.W.: Die vertikale Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten (die sog. Verbandskompetenz) richtet sich nach dem die mitgliedstaatliche Souveränität schützenden Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (zur Organkompetenz nach Art. 13 Abs. 2 S. 1 EUV 2. Teil 3), das aufgrund seiner systematischen Verortung in Art. 5 EUV und damit in Abschnitt I des EUV unter der amtlichen Überschrift „Gemeinsame Bestimmungen“ ür sämtliche Tätigkeiten der EU gilt, also ür den Erlass von Rechtsakten durch die EU ebenso wie ür den Vollzug des EU-Rechts ( 2. Teil 5.1) und die Rechtsprechung durch die Unionsgerichte ( 2. Teil 6). 235 Und auch die Art des zu erlassenden Rechtsakts richtet sich gem. Art. 296 Abs. 1 AEUV in erster Linie nach der etwaigen diesbezüglichen Vertragsvorgabe (z.B. Art. Art. 45 Abs. 3 lit. d) AEUV: „Verordnungen“ und Art. 53 Abs. 1 AEUV: „Richtlinien“). Bei Art. 288 AEUV, nach dessen Abs. 1 ür die Ausübung der Zuständigkeiten der EU deren Organe Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen annehmen, handelt es sich selbst freilich nicht um eine Ermächtigungsgrundlage. 236 Ebenso wenig wie beispielsweise im deutschen Verwaltungsrecht von der gesetzlichen Zuweisung einer bestimmten Aufgabe an eine Behörde auf deren Befugnis geschlossen werden darf, alle zur Er üllung dieser Aufgabe nötigen Maßnahmen zu ergreifen (hier ür bedarf es vielmehr einer entsprechenden Ermächtigungsgrundlage), erteilen auch weder der EUV noch der AEUV der EU eine generelle Befugnis zum Erlass aller zur Verwirklichung der in ihnen genannten Ziele notwendigen Maßnahmen. 237 M.a.W.: Auch im Bereich des EU-Rechts darf nicht von der vertraglichen Zuweisung eines Ziels an die EU 234 Hobe, Europarecht, Rn. 223; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 7 Rn. 10. 235 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 462; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 160; Langguth, in: Lenz/ Borchardt, EU-Verträge Kommentar, Art. 5 EUV Rn. 10 f.; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 7 Rn. 3, 5. 236 Dittert, Europarecht, S. 87. 237 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 464; Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 123 m.w.N. <?page no="92"?> bzw. einer Aufgabe an ein EU-Organ ohne Weiteres auf eine entsprechende Rechtsetzungskompetenz geschlossen werden, vgl. auch Art. 3 Abs. 6 EUV. 238 Muss sich jeder Sekundärrechtsakt mithin auf eine primärrechtliche Rechtsgrundlage des als dessen Grundlage, Rahmen und Grenze zurück ühren lassen können (EuGH, ECLI: EU: C: 1978: 172 2. Teil 1), so ist deren Angabe dem EuGH (ECLI: EU: C: 2009: 590) zufolge grundsätzlich 239 Teil der Begründungspflicht nach Art. 296 Abs. 2 AEUV, damit dieser seine gerichtliche Kontrollfunktion ausüben kann. Neben dieser verfassungsrechtlichen Relevanz hat die Angabe der Rechtsgrundlage danach zudem Bedeutung ür die Wahrung der Rechte der durch das Verfahren ür den Erlass des betreffenden Rechtsakts betroffenen EU-Organe ( 2. Teil 4.2). 239a Haben diese einen Rechtsakt erlassen, obwohl die EU nicht die Kompetenz ür diesen besitzt, so ist er vom Gerichtshof der EU auf eine entsprechende Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV hin ür „nichtig“ (Art. 264 Abs. 1 AEUV 2. Teil 6.2) bzw. im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV ür „ungültig“ (vgl. dessen Abs. 1 lit. b) 2. Teil 6.5) zu erklären; im Fall einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung kann ausnahmsweise auch ein sog. Nicht-Akt vorliegen. 239b Weil die EU nach dem damaligen Stand des Primärrechts nicht über die Kompetenz ver ügte, eine allgemeine Regelung zum Verbot der Werbung und des Sponsoring ür Tabakerzeugnisse zu erlassen, wurde die ein solches aber gerade enthaltene Richtlinie 98/ 43/ EG 240 vom EuGH (ECLI: EU: C: 2000: 544) ür nichtig erklärt. Ist der ausbrechende Rechtsakt ersichtlich außerhalb der der EU übertragenen Kompetenzen ergangen, so ührt die insoweit vom BVerfG prakti- 238 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 222. Vgl. auch Bieber/ Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 4 Rn. 8. Siehe allerdings auch 2. Teil 4.1.1. 239 Ausnahmsweise kann es sich bei der Unterlassung der Bezugnahme auf eine bestimmte Vertragsvorschrift dem EuGH (ECLI: EU: C: 2009: 590, Rn. 56) zufolge dann nicht um einen wesentlichen Fehler handeln, wenn die Rechtsgrundlage eines Akts anhand dessen anderer Bestandteile ermittelt werden kann. Eine ausdrückliche Bezugnahme ist danach indessen erforderlich, wenn die Betroffenen und der Gerichtshof ohne sie über die genaue Rechtsgrundlage im Unklaren gelassen würden. 239a Zum Ganzen: Dittert, Europarecht, S. 87 f. 239b ebd. 240 ABl. EG L 213 vom 30.7.1998, S. 9. <?page no="93"?> zierte Ultra-vires-Kontrolle zur Erklärung des Rechtsakts ür in Deutschland unanwendbar - vorausgesetzt, der EuGH wurde zuvor im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV mit dieser Fragestellung befasst ( 2. Teil 2.2.1). 241 Da Art. 5 EUV und die Art. 2 ff. AEUV zwischen der (kategorisierten) Zuteilung einer Zuständigkeit an die EU einerseits ( 2. Teil 4.1.1 und 4.1.2) und den Regeln betreffend die Art und Weise der Ausübung dieser Kompetenz ( 2. Teil 4.1.3) differenzieren, 242 sind auch die nachfolgenden Aus ührungen hierzu entsprechend gegliedert. Der Umfang der Zuständigkeiten der EU und die Einzelheiten ihrer Ausübung ergeben sich aus den Bestimmungen der Verträge zu den einzelnen Bereichen (Art 2 Abs. 6 AEUV), d.h. aus den über den EUV und AEUV „verstreuten“ Kompetenzgrundlagen. 243 In aus Sicht eines deutschen Juristen eher ungewohnten Weise erfolgt in diesen Vertragsbestimmungen die Zuweisung der Verbandskompetenz allerdings nicht stets ür bestimmte Sachmaterien (so aber z.B. in Art. 48 AEUV), sondern teilweise - wie etwa in Art. 114 AEUV als wohl bedeutendster Kompetenzzuweisung an die EU - rein funktional über die Angabe des zu erreichenden Ziels (mitunter auch in einer Kombination von beiden, so z.B. in Art. 153 AEUV). 244 Um Letzteres jeweils effektiv verwirklichen zu können, interpretiert der EuGH die vertraglichen Kompetenzvorschriften unter Berufung auf den effet utile (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV) im Wege der teleologischen Auslegung häufig weit ( 2. Teil 1.4). 245 Trotz der nach Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV nur enumerativen Zuständigkeit der EU hat der EuGH unter Berücksichtigung der Dynamik, die den konstitutionellen Grundlagen der Unionsrechtsordnung innewohnt, anerkannt, dass die Zuweisung von Kompetenzen an die EU nicht nur aus ausdrücklichen Bestimmungen des EUV und AEUV folgen, sondern auch 241 Zum Ganzen: Dittert, Europarecht, S. 87 f. Dort auch zur Forderung nach einem „Europäischen Kompetenzgericht“ (s.o. Fn. 129). 242 Hierauf hinweisend: Bieber/ Kotzur, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 3 Rn. 30. 243 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 148. 244 Dittert, Europarecht, S. 88. 245 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 225; Dittert, Europarecht, S. 88; Jochum, Europarecht, Rn. 318; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 7. <?page no="94"?> implizit aus diesen Verträgen abgeleitet werden kann. Die Anerkennung dieser auf das US-amerikanische Verfassungsrecht zurückgehenden sog. implied powers bedeutet, dass die EU auch über solche (ungeschriebenen) Befugnisse ver ügt, die ür die Durch ührung der ihr durch die Verträge (ausdrücklich) übertragenen Aufgaben erforderlich sind. 246 Diese auch als Auslegungsregel 247 bzw. Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs 248 charakterisierte Doktrin hat in der Vergangenheit namentlich im Bereich der Außenbeziehungen der EU Anwendung gefunden, wenn die Intervention in Beziehungen mit Drittstaaten ür die Anwendung der explizit nur intern vorgesehenen EU-Befugnisse notwendig war. 249 Nach Ein ührung der dies nunmehr positivierenden Art. 3 Abs. 2 und Art. 216 Abs. 1 AEUV verbleibt ür die vom BVerfG als Teil des vom GG gewollten Integrationsauftrags anerkannte implied powers-Doktrin hingegen kaum noch ein Anwendungsbereich. 250 Fehlt im EUV/ AEUV sowohl eine explizite als auch eine implizite detaillierte Befugnis der EU, so ist zu prüfen, ob diese sich aus der subsidiären Vertragsabrundungsklausel des Art. 352 AEUV ergibt. 251 Diese Generalklausel ermächtigt in ihrem Absatz 1 S. 1 die EU auch dann zum Tätigwerden im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche, wenn im EUV und AEUV die hier ür erforderlichen Befugnisse zwar nicht vorgesehen sind, dies aber erforderlich erscheint, um eines der Ziele dieser Verträge zu verwirklichen (mit Ausnahme der GASP, siehe Art. 352 Abs. 4 246 Zum Ganzen: GA Ruiz-Jarabo, ECLI: EU: C: 2000: 498, Rn. 34 (Fn. 31); Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 163. Vgl. auch IGH, Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Advisory Opinion vom 11.4.1949, ICJ Reports 1949, S. 174 (182 ff.). 247 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 163. 248 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 462; Jochum, Europarecht, Rn. 317. A.A. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 7 Rn. 6: „Annexkompetenz“. Wiederum a.A. Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 12, der die beiden vorgenannten Kompetenzarten sowie diejenige aus der „Natur der Sache“ als Unterkategorien der „implied powers“ ansieht. Zu allen drei Arten vgl. in Bezug auf das deutsche Verfassungsrecht: Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 36 m.w.N. 249 Zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1971: 32, Rn. 12 ff.; GA Ruiz-Jarabo, ECLI: EU: C: 2000: 498, Rn. 34 (Fn. 31). 250 BVerfG, BVerfGE 123, 267 (351 f.); Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 67 f. 251 EuGH, ECLI: EU: C: 1996: 140, Rn. 29; Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 69; Hobe, Europarecht, Rn. 201. <?page no="95"?> AEUV 252 ). M.a.W.: Aus den Vertragszielen werden - ausnahmsweise ( 2. Teil 4.1) - Handlungsbefugnisse der EU abgeleitet. 253 Weil das BVerfG 254 hierin eine Auflockerung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung sieht, hat es im Lissabon-Urteil in Anbetracht der Unbestimmtheit möglicher Anwendungs älle dieser Flexibilitätsklausel erkannt, dass ihre Inanspruchnahme verfassungsrechtlich die Ratifikation durch den Deutschen Bundestag und den Bundesrat auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 S. 2 und S. 3 GG voraussetzt ( 1. Teil 2). Der deutsche Vertreter im Rat darf danach die örmliche Zustimmung zu einem entsprechenden Rechtsetzungsvorschlag der Kommission ür die Bundesrepublik Deutschland nicht erklären, solange diese verfassungsrechtlich gebotenen Voraussetzungen nicht er üllt sind ( 2. Teil 3.3). Aufgrund dieser Vorgabe, die nachfolgend in § 8 IntVG nahezu wortgleich umgesetzt worden ist, dürfte die praktische Bedeutung der auch sog. Lückenschließungsbzw. Vertragsergänzungsklausel des Art. 352 AEUV im Zusammenspiel mit dem in ihrem Absatz 1 Satz 2 AEUV vorgesehenen Einstimmigkeitserfordernis im Rat allerdings deutlich gemindert sein. 255 Zudem enthalten die Verträge mittlerweile zahlreiche spezielle Kompetenzzuweisungen. 256 Dem Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb 257 zufolge wird die EU zum Zweck des Schutzes des Binnenmarkts vor Wettbewerbsver älschungen erforderlichenfalls nach Art. 352 AEUV tätig. Reicht eine Vertragsbestimmung allein nicht aus, um sämtliche im fraglichen Rechtsakt enthaltenen Regelungen zu stützen - weil die mehreren Zielsetzungen oder Komponenten untrennbar miteinander verbunden sind, ohne dass die eine gegenüber der anderen nebensächlich ist -, so 252 Ferner siehe Art. 352 Abs. 3 AEUV, wonach die auf diesem Artikel beruhenden Maßnahmen keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den Fällen beinhalten dürfen, in denen die Verträge eine solche Harmonisierung ausschließen. 253 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 480. 254 BVerfG, BVerfGE 123, 267 (394 f.). Vgl. auch dass., BVerfGE 89, 155 (210) zur Vorgängervorschrift. A.A. Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 162, denen zufolge Art. 352 AEUV keine Kompetenz-Kompetenz begründet. I.d.S. zu Art. 235 EWG-Vertrag ebenfalls EuGH, ECLI: EU: C: 1996: 140, Rn. 30: „nicht […] Rechtsgrundlage für […] eine Vertragsänderung“, die nunmehr in Art. 48 EUV geregelt ist. 255 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 545. 256 Hierauf hinweisend: Jochum, Europarecht, Rn. 315. 257 ABl. EU C 115 vom 9.5.2008, S. 309. <?page no="96"?> muss dieser grundsätzlich auf Grundlage aller hierzu notwendigen Bestimmungen erlassen werden. 258 Abweichend von dieser Wahl der doppelten Rechtsgrundlage ist jedoch dann zu prüfen, welche der im konkreten Fall in Betracht kommenden Bestimmungen die allein geeignete Rechtsgrundlage ür den in Rede stehenden Rechtsakt darstellt, wenn (1) die Beantwortung dieser Frage nicht bloß formale Bedeutung hat, weil die verschiedenen Rechtsgrundlagen unterschiedliche, nicht miteinander vereinbare Verfahren vorsehen (z.B. einerseits Einstimmigkeit im Rat und andererseits nur qualifizierte Mehrheit dort) und/ oder durch die Verbindung der Rechtsgrundlagen die Rechte des Europäischen Parlaments beeinträchtigen würde (wegen unterschiedlicher Mitwirkungsrechte 2. Teil 4.2) oder (2) sich von den zwei Zielsetzungen bzw. Komponenten des Rechtsakts eine als die hauptsächliche ausmachen lässt, während der anderen nur nebensächliche Bedeutung zukommt. 259 Insoweit maßgeblich ist der Schwerpunkt des betreffenden Rechtsakts. 260 Zu dessen Herausarbeitung wiederum ist weder allein auf die Überzeugung des jeweiligen EU-Organs bezüglich des angestrebten Ziels noch auf die ständige Praxis abzustellen (nicht auf die ür den Erlass anderer EU-Handlungen, die ggf. ähnliche Merkmale aufweisen, herangezogene Rechtsgrundlage), sondern vielmehr auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände wie insbesondere das sich aus dem Wortlaut des fraglichen Rechtsakts ergebende Ziel und dessen ebenso zu ermittelnder Inhalt (der materielle Gehalt von dessen Bestimmungen 2. Teil 1.4). 261 Im Übrigen ist der betreffende Rechtsakt dann, wenn der Vertrag eine speziellere Bestimmung enthält, die als Rechtsgrundlage ür ihn dienen kann, auf diese Bestimmung zu stützen. 262 258 EuGH, ECLI: EU: C: 1988: 458, Rn. 11 ff.; dass., ECLI: EU: C: 2008: 605, Rn. 36; Dittert, Europarecht, S. 87. 259 EuGH, ECLI: EU: C: 1988: 85, Rn. 6; dass., ECLI: EU: C: 1991: 244, Rn. 17 ff.; dass., ECLI: EU: C: 2002: 761, Rn. 33 ff.; dass., ECLI: EU: C: 2006: 4, Rn. 41 ff.; dass., E- CLI: EU: C: 2008: 605, Rn. 34 ff.; dass., ECLI: EU: C: 2012: 472, Rn. 42 ff.; Dittert, Europarecht, S. 89; Streinz, Europarecht, Rn. 563. In Bezug auf das deutsche Verfassungsrecht vgl. BVerfG, BVerfG 97, 228 (251 f.); dass., BVerfGE 106, 62 (114); dass. BVerfGE 121, 30 (47 f.). 260 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 159. 261 EuGH, ECLI: EU: C: 1987: 163, Rn. 11; dass., ECLI: EU: C: 1988: 85, Rn. 24; dass., ECLI: EU: C: 1991: 373, Rn. 9; dass., ECLI: EU: C: 1999: 81, Rn. 36; dass., EuGH, ECLI: EU: C: 2008: 605, Rn. 34 ff.; dass., ECLI: EU: C: 2009: 68, Rn. 60. 262 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 2008: 605, Rn. 43. <?page no="97"?> Einteilen lassen sich die vorgenannten Kompetenzzuweisungsnormen in verschiedene, jeweils mit unterschiedlichen rechtlichen Konsequenzen ür die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten verbundene Kategorien - freilich ohne, dass Erstere die Letztgenannte jeweils ausdrücklich bezeichnen würden. 263 Während die in Art. 2 AEUV genannten Kompetenzarten abschließend sind, sind es die Auflistungen in den Art. 3 ff. AEUV dagegen nicht, welche zudem keine kompetenzbegründende Wirkung haben. 264 Im letztgenannten Punkt unterscheiden sich mithin die bloßen Kompetenzkategorisierungsnormen des AEUV trotz mitunter identischer Terminologie von den Kompetenzkonstituierungsnormen der Art. 70 ff. GG. 265 Bei den Art. 3 bis 6 AEUV handelt es sich nicht um einen Katalog von Rechtsetzungsbefugnissen, sondern vielmehr um eine bloße Gliederung der anderweitig begründeten EU-Zuständigkeiten ( 2. Teil 4.1.1) in verschiedene Typen. 266 Übertragen die Verträge der EU ür einen bestimmten Bereich ausnahmsweise eine ausschließliche Zuständigkeit, so kann einzig die EU gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen, sog. Sperrwirkung; die Mitgliedstaaten dürfen in einem solchen Fall nur dann tätig werden, wenn sie von der EU hierzu ermächtigt werden, oder um deren Rechtsakte durchzu ühren, siehe Art. 2 Abs. 1 AEUV. 267 Bleibt das zuständige EU-Organ allerdings untätig, d.h. mangelt es an einem geeigneten Vorgehen seitens der EU (sog. Gesetzgebungsnotstand 268 ), so dürfen die Mitgliedstaaten als Sachwalter des gemeinsamen Interesses nach der EuGH-Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 1981: 93) aus- 263 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 148; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 13; Streinz, Europarecht, Rn. 152. 264 Frenz, Europarecht, Rn. 47; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 148, 150; Streinz, Europarecht, Rn. 152. 265 Frenz, Europarecht, Rn. 48. Zu den Art. 70 ff. GG: Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 35 f. m.w.N. 266 Vgl. Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 148. 267 Dittert, Europarecht, S. 91; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 14. Eine „verstärkte Zusammenarbeit“ (Art. 326 ff. AEUV) von einem Teil der Mitgliedstaaten untereinander (sog. Europa der zwei Geschwindigkeiten), ist nach Art. 20 Abs. 1 EUV nur im Rahmen der nicht ausschließlichen Zuständigkeiten der EU möglich. 268 Streinz, Europarecht, Rn. 155. <?page no="98"?> nahmsweise auch auf dem Gebiet der exklusiven EU-Kompetenz im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Kommission vorläufige Erhaltungsmaßnahmen treffen. Nach Art. 3 Abs. 1 AEUV hat die EU die ausschließliche Zuständigkeit in folgenden Bereichen: a) Zollunion, b) Festlegung der ür das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln, c) Währungspolitik ür die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, d) Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik und e) gemeinsame Handelspolitik. Art. 3 Abs. 2 AEUV zufolge hat die EU ferner die ausschließliche Zuständigkeit ür den Abschluss internationaler Übereinkünfte, wenn der Abschluss einer solchen Übereinkunft in einem Gesetzgebungsakt der EU vorgesehen ist, wenn er notwendig ist, damit sie ihre interne Zuständigkeit ausüben kann, oder soweit er gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte. Zum Typ der ausschließlichen Unionskompetenz gehören etwa Art. 31 (Zollunion) sowie Art. 103 und Art. 109 AEUV (Wettbewerbsregeln). Übertragen die Verträge der EU ür einen bestimmten Bereich eine mit den Mitgliedstaaten geteilte (konkurrierende 269 ) Zuständigkeit, so können gem. Art. 2 Abs. 2 AEUV die EU und die Mitgliedstaaten in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Die Mitgliedstaaten nehmen nach dieser Vorschrift ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die EU ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat (sog. Sperrwirkung 270 ), bzw. erneut wahr, sofern und soweit die EU entschieden hat, ihre Zuständigkeit nicht mehr auszuüben. Nach dem Protokoll (Nr. 25) über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit 271 erstreckt sich im Fall eines erfolgten Tätigwerdens der EU in einem bestimmten Bereich i.S.d. Art. 2 Abs. 2 AEUV die Ausübung der Zuständigkeit nur auf die durch den entsprechenden Rechtsakt der EU geregelten Elemente und nicht auf den gesamten Bereich. 272 Die geteilte Zuständigkeit, welche nach dem Auffangtatbestand des Art. 4 Abs. 1 AEUV den Regelfall darstellt, 273 erstreckt sich nach Art. 4 Abs. 2 269 Frenz, Europarecht, Rn. 54. 270 Hobe, Europarecht, Rn. 220. 271 ABl. EU C 115 vom 9.5.2008, S. 307. 272 Zu Art. 72 Abs. 1 GG vgl. BVerfGE 138, 261 (280). 273 Streinz, Europarecht, Rn. 157. Weil Art. 352 AEUV nicht in Art. 3 AEUV genannt ist, wird er von Hobe, Europarecht, Rn. 201 der geteilten Zustän- <?page no="99"?> AEUV auf die folgenden Hauptbereiche: a) Binnenmarkt, b) Sozialpolitik hinsichtlich der im AEUV genannten Aspekte, c) wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt, d) Landwirtschaft und Fischerei, ausgenommen die Erhaltung der biologischen Meeresschätze, e) Umwelt, ) Verbraucherschutz, g) Verkehr, h) transeuropäische Netze, i) Energie, j) Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und k) gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit hinsichtlich der im AEUV genannten Aspekte. In die Kategorie der geteilten Zuständigkeit ällt insbesondere Art. 114 AEUV (Binnenmarkt). Eine Sonderform der geteilten Zuständigkeit bildet die parallele Zuständigkeit von EU und Mitgliedstaaten, die insbesondere auch insoweit den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV) zu achten haben. 274 Wenngleich in den hierzu gehörenden Sachbereichen beide Verbände nebeneinander Rechtsnormen erlassen dürfen, so doch jeweils nur ür unterschiedliche Aspekte. 275 So erstreckt sich nach Art. 4 Abs. 3 AEUV in den Bereichen Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt die Zuständigkeit der EU darauf, Maßnahmen zu treffen, insbesondere Programme zu erstellen und durchzu ühren, ohne dass die Ausübung dieser Zuständigkeit die Mitgliedstaaten hindert, ihre Zuständigkeit auszuüben. In den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe erstreckt sich die Zuständigkeit der EU gem. Art. 4 Abs. 4 AEUV darauf, Maßnahmen zu treffen und eine gemeinsame Politik zu verfolgen, ohne dass die Ausübung dieser Zuständigkeit die Mitgliedstaaten hindert, ihre Zuständigkeit auszuüben. Vgl. auch Art. 3 Abs. 2 S. 1 der Verordnung Nr. 1/ 2003/ EG 276 , wonach die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts nicht zum Verbot von solchen Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen ühren darf, welche zwar dazu geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, aber den Wettbewerb i.S.v. Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht einschränken. digkeit zugeordnet. A.A. Frenz, Europarecht, Rn. 85, wonach Art. 352 AEUV an der Kategorie des jeweiligen Vertragsziels bzw. Politikbereichs teilnehme. 274 Hierauf hinweisend: Frenz, Europarecht, Rn. 69. 275 Zum Ganzen: Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 7 Rn. 15. 276 ABl. EG L 1 vom 4.1.2003, S. 1. <?page no="100"?> Die Art. 179 ff. AEUV sind dem Bereich „Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt“ zugeordnet und die Art. 208 ff. AEUV dem Bereich „Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe“. Schließlich ist die EU gem. Art. 2 Abs. 5 UAbs. 1 AEUV in bestimmten Bereichen nach Maßgabe der Verträge da ür zuständig, Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung 277 oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten durchzu ühren, ohne dass dadurch die Zuständigkeit der EU ür diese Bereiche an die Stelle der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten tritt. Die verbindlichen Rechtsakte der EU, die aufgrund der diese Bereiche betreffenden Bestimmungen der Verträge erlassen werden, dürfen nach Art. 2 Abs. 5 UAbs. 2 AEUV keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten beinhalten. Hierzu bestimmt Art. 6 AEUV, dass die EU ür die Durch ührung von Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten zuständig ist, wobei diese Maßnahmen mit europäischer Zielsetzung in folgenden Bereichen getroffen werden können: a) Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit, b) Industrie, c) Kultur, d) Tourismus, e) allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport, ) Katastrophenschutz und g) Verwaltungszusammenarbeit. Zu dieser mitunter auch sog. Beitragskompetenz 278 gehören u.a. Art. 165 f. AEUV (allgemeine und berufliche Bildung), Art. 167 AEUV (Kultur), Art. 168 AEUV (Gesundheitsschutz) und Art. 173 AEUV (Industrie). Ist die Zuständigkeit der EU nach einer der o.g. Kompetenzverteilungsregeln ( 2. Teil 4.1.1) zu bejahen, so wird sie in deren Ausübung in jedem Fall durch das Gebot zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 2 EUV), den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) sowie nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUV durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 4 EUV 2. Teil 1.1.3) und in den Bereichen, die nicht in die ausschließliche EU-Zuständigkeit fallen (Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV 2. Teil 4.1.2), zusätzlich durch das Subsidiaritätsprinzip ( 1. Teil 2.2) als weiterer sog. Kompetenzbzw. Zustän- 277 Zur umstrittenen Einordnung von Art. 2 Abs. 3, Art. 5 AEUV betreffend die Koordinierung der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik siehe Bandilla, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 5 EUV Rn. 8 ff. Zur GASP siehe Art. 2 Abs. 4 AEUV. 278 Streinz, Europarecht, Rn. 159. <?page no="101"?> digkeitsausübungsregel beschränkt. 279 Während das Subsidiaritätsprinzip das „Ob“ einer EU-Maßnahme betrifft, bezieht sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf deren „Wie“. 280 Anders als bei den Grundfreiheiten, bei Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV sowie bei den Unionsgrundrechten der Fall, schützt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im vorliegenden Zusammenhang nicht vorrangig den Einzelnen vor übermäßigen Eingriffen in seine vorgenannten Rechte, sondern vielmehr die Mitgliedstaaten vor unverhältnismäßigen Kompetenzausübungen durch die EU. 281 Wenngleich Art. 5 Abs. 4 UAbs. 1 EUV mit der Vorgabe, dass die Maßnahmen der EU inhaltlich, d.h. nach ihrer Regelungsbreite, wie formal, d.h. nach ihrer Rechtsbzw. Handlungsform (dazu sogleich), nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen, nur einen Teilaspekt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich anordnet, so steht gleichwohl außer Streit, dass die Geeignetheit vor dieser Erforderlichkeit und nach dieser die Angemessenheit des jeweiligen Mittels zu dem mit diesem verfolgten Ziel zu prüfen ist. 282 Der vorstehend skizzierte kompetenzrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EUV betreffend die Beziehung der EU zu den Mitgliedstaaten ist von demjenigen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu unterscheiden, der als (ungeschriebener) allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Rechts ( 2. Teil 1.1.3) immer dann zu prüfen ist, wenn in materielle Rechte eines Einzelnen (z.B. aus den Grundfreiheiten, aus Art. 18 Abs. 1 bzw. Art. 21 Abs. 1 AEUV oder den Unionsgrundrechten) eingegriffen wird ( 3. Teil 1.5.2.3, 2.1.4.2, 2.2.4.2 und 3.5.2.1). 283 Sofern speziell die Art des zu erlassenden Rechtsakts (Verordnung, Richtlinie etc., siehe Art 288 AEUV) in der betreffenden Vertragsbestimmung nicht vorgegeben wird (so z.B. in Art. 114 Abs. 1 S. 2 AEUV: „Maßnahmen“; anders dagegen z.B. Art. Art. 45 Abs. 3 lit. d) AEUV: „Verordnungen“ und Art. 53 Abs. 1 AEUV: „Richtlinien“), so entscheiden die EU- 279 BVerfG, BVerfGE 126, 267 (383). Zur Terminologie: Dittert, Europarecht, S. 93; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 166. 280 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 164. 281 Vgl. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 7 Rn. 23. 282 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 175 f.; Hobe, Europarecht, Rn. 200. 283 Vgl. Dittert, Europarecht, S. 94. <?page no="102"?> Organe darüber nach Art. 296 Abs. 1 AEUV von Fall zu Fall unter Einhaltung der geltenden Verfahren und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. In Ziff. 6 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zum Vertrag von Amsterdam 284 hieß es noch ausdrücklich, dass ür Maßnahmen der (damaligen) Gemeinschaft (heute: Union) eine möglichst einfache Form zu wählen ist, wobei darauf geachtet werden muss, dass das Ziel der Maßnahme in zufriedenstellender Weise erreicht wird und die Maßnahme tatsächlich zur Anwendung gelangt. Die Rechtsetzungstätigkeit sollte über das erforderliche Maß nicht hinausgehen. Dementsprechend wäre unter sonst gleichen Gegebenheiten eine Richtlinie einer Verordnung vorzuziehen. Richtlinien, die ür jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet sind, nach Art. 288 Abs. 3 AEUV nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind, überlassen nämlich den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel ( 2. Teil 1.3.2). Enthält das Primärrecht eine Rechtsgrundlage, aus der die (Verbands-) Kompetenz der EU ür den Erlass des jeweiligen Rechtsakts resultiert ( 2. Teil 4.1.1), so gibt diese primärrechtliche Einzelermächtigung nicht nur mitunter die Art des Rechtsakts vor ( 2. Teil 4.1.3 a.E.), sondern bestimmt ebenfalls, durch welche EU-Organe ( 2. Teil 3; sog. Organkompetenz) nach welchem Verfahren dieser zu erlassen ist. 285 Dessen Produkt ist namentlich das sekundäre EU-Recht ( 2. Teil 1.3). 286 Dieses wird im Fall der Befassung hiermit vom Gerichtshof der EU i.d.R. ür nichtig erklärt, wenn die jeweiligen Verfahrensvorschriften nicht eingehalten worden sind ( 2. Teil 6.2). 287 Nach der amtlichen Überschrift vor Art. 288 AEUV sind „Rechtsakte der Union“ die in Absatz 1 dieser Vorschrift explizit genannten Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen - die 284 ABl. EG C 340 vom 10.11.1997, S. 105. 285 Dittert, Europarecht. S. 87; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 3. 286 Vgl. Frenz, Europarecht, Rn. 89. Zum Verfahren zum Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags siehe Art. 218 AEUV sowie ferner Art. 207 und Art. 219 AEUV. 287 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 227. <?page no="103"?> beiden Letztgenannten trotz ihrer nach Art. 288 Abs. 5 AEUV jeweils fehlenden Rechtsverbindlichkeit. 288 Wird ein EU-Rechtsakt gemäß einem Gesetzgebungsverfahren angenommen, so wird er nach Art. 289 Abs. 3 AEUV als „Gesetzgebungsakt“ bezeichnet. Im Bereich der GASP ist der Erlass von Gesetzgebungsakten ausgeschlossen, siehe Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 3 EUV. Arten von Gesetzgebungsverfahren gibt es im AEUV zwei: Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren als Regelfall der EU-Gesetzgebung und das besondere Gesetzgebungsverfahren als Ausnahme hiervon. 289 Welche von diesen beiden Verfahrensarten im konkreten Fall zur Anwendung gelangt, richtet sich nach der jeweils einschlägigen Kompetenznorm ( 2. Teil 4.1.1). 290 Allerdings kann in Fällen, in denen nach Maßgabe des AEUV Gesetzgebungsakte vom Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden müssen, der Europäische Rat einen Beschluss erlassen, wonach die Gesetzgebungsakte gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden können, siehe die sog. Brückenklausel des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 2 EUV (dazu wiederum: § 4 Abs. 1 IntVG 2. Teil 3.2). Das in Art. 294 AEUV näher festgelegte ordentliche Gesetzgebungsverfahren besteht nach Art. 289 Abs. 1 S. 1 AEUV in der gemeinsamen Annahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch das Europäische Parlament und den Rat auf Vorschlag der Kommission ( 2. Teil 3.4). Gesetzgebungsakte, die gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen wurden, werden nach Art. 297 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV vom Präsidenten des Europäischen Parlaments und vom Präsidenten des Rates unterzeichnet. Nach Art. 294 Abs. 1 AEUV gilt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren dann, wenn in den Verträgen auf dieses Bezug genommen wird. Das ist beispielsweise in Art. 46 AEUV der Fall, wonach das Europäische 288 Vgl. Gellermann, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 296 AEUV Rn. 4. 289 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 229; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 7 Rn. 28; Frenz, Europarecht, Rn. 90, 92. 290 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 229. Ferner siehe die Geschäftsordnungen des Europäischen Parlaments (GOEP) und des Rats (GORat) betreffend die jeweiligen internen Beratungsabläufe (hierzu: Frenz, Europarecht, Rn. 94) sowie die auf Art. 295 AEUV basierenden interinstitutionellen Vereinbarungen. <?page no="104"?> Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses durch Richtlinien oder Verordnungen alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer i.S.d. Art. 45 AEUV herzustellen. Alternativ zum Vorstehenden erfolgt nach Art. 289 Abs. 2 AEUV in bestimmten, in den Verträgen (EUV und AEUV) vorgesehenen Fällen als besonderes Gesetzgebungsverfahren die Annahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch das Europäische Parlament mit Beteiligung des Rates oder durch den Rat mit Beteiligung des Europäischen Parlaments. Abweichend vom ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ist das besondere Gesetzgebungsverfahren nicht einheitlich in einer mit Art. 294 AEUV vergleichbaren Norm geregelt, sondern richtet sich vielmehr nach den jeweils eigenen Vorgaben der diese Gesetzgebungsverfahrensart anordnenden Zuständigkeitsvorschrift. 291 M.a.W.: Bei der Bezeichnung „besonderes Gesetzgebungsverfahren“ handelt es sich um einen Sammelbegriff unterschiedlicher Verfahren (es gibt nicht „das eine“ besondere Gesetzgebungsverfahren), innerhalb dessen je nach Ausgestaltung der vorgenannten Beteiligung noch zwischen Anhörungs- (siehe z.B. Art. 21 Abs. 3, Art. 113 und Art. 115 AEUV) und Zustimmungsverfahren (siehe z.B. Art. 19 Abs. 1 AEUV und Art. 223 Abs. 2 AEUV) unterschieden werden kann. 292 Während im letzten Fall durch Verweigerung der Zustimmung die Annahme des betreffenden Rechtsakts verhindert - nicht aber wie im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren inhaltlich gestaltet - werden kann (Vetorecht), besteht diese Möglichkeit im ersten Fall als der schwächsten Form parlamentarischer Mitwirkung nicht. 293 Wird allerdings das Anhörungsrecht des Europäischen Parlaments missachtet, so stellt dies die Verletzung einer i.S.v. Art. 263 Abs. 2 AEUV „wesentlichen Formvorschrift“ dar ( 2. Teil 6.2). 294 Gesetzgebungsakte, die gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen wurden, werden nach Art. 297 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV vom Präsidenten desjenigen Organs unterzeichnet, das sie erlassen hat. 291 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 337. 292 Bieber, in: ders./ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 7 Rn. 2; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 339; Jochum, Europarecht, Rn. 336. 293 Dittert, Europarecht, S. 41, 101; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 342; Jochum, Europarecht, Rn. 340. 294 EuGH, ECLI: EU: C: 1980: 249, Rn: 33; Jochum, Europarecht, Rn. 337; Streinz, Europarecht, Rn. 314 f., 561. <?page no="105"?> Während gem. Art. 22 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 AEUV das Wahlrecht bei Kommunalwahlen vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt wird, die vom Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments festgelegt werden, erlässt nach Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften, wenn ein Tätigwerden der EU im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich erscheint, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, in diesen die hier ür erforderlichen Befugnisse aber nicht vorgesehen sind. Art. 226 Abs. 3 AE- UV schließlich ordnet an, dass die Einzelheiten der Ausübung des Untersuchungsrechts vom Europäischen Parlament festgelegt werden, das aus eigener Initiative gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnungen nach Zustimmung des Rates und der Kommission beschließt. Gem. Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3 S. 1 AEUV werden die Gesetzgebungsakte im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Sie treten entweder zu dem durch sie festgelegten Zeitpunkt oder anderenfalls am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft, siehe Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3 S. 2 AEUV. Die in ihren sämtlichen Einzelheiten hier nicht darstellbaren, komplizierten Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene sind mitunter nur schwer zu durchschauen. 295 Folgende Grundlinien lassen sich jedoch ausmachen: Gesetzgebungsakte der EU dürfen nach Art. 17 Abs. 2 S. 1 AEUV grundsätzlich nur auf - gem. Art. 293 AEUV abänderbaren - Vorschlag (Initiative) der Kommission erlassen werden, vgl. auch Art. 289 Abs. 1 S. 1 und Art. 294 Abs. 2 AEUV ( 2. Teil 3.4); zu dessen Unterbreitung können das Europäische Parlament (Art. 225 S. 1 AEUV), der Rat (Art. 241 S. 1 AEUV) und in den Fällen des Art. 135 AEUV die Mitgliedstaaten sowie unter den Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 4 UAbs. 1 EUV (vgl. auch Art. 24 Abs. 1 AEUV) eine europäische Bürgerinitiative sie lediglich auffordern. Ausnahmen von diesem Initiativmonopol der Kommission existieren nur in bestimmten, in den Verträgen vorgesehenen Fällen, siehe Art. 289 Abs. 4 und vgl. Art. 294 Abs. 15 UAbs. 1 AEUV. 295 Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 75 a.E.; Streinz, Europarecht, Rn. 556. <?page no="106"?> Die Rolle des „Gesetzgebers“ weisen Art. 14 Abs. 1 S. 1 und Art. 16 Abs. 1 S. 1 EUV (vgl. auch Art. 289 Abs. 1 AEUV) dem Europäischen Parlament und dem Rat gemeinsam zu ( 2. Teil 3.1 und 3.2). Wirklich gleichberechtigt neben Letzterem ist Ersteres jedoch nur im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, wo es über ein echtes Vetorecht ver ügt, vgl. Art. 294 Abs. 7 lit. b), Abs. 12 und Abs. 13 AEUV. 296 Im besonderen Gesetzgebungsverfahren hingegen kommt die weiterbestehende Rolle des Rats als Hauptrechtsetzungsorgan auf EU-Ebene klar zum Ausdruck, ist insoweit neben diesem das teilweise sogar nur mit einem bloßen Anhörungsrecht ausgestattete Europäische Parlament doch gerade nicht gleichberechtigt ( 2. Teil 3.1). 297 Ist ür die Zuordnung eines Rechtsakts zur Gesetzgebung nach dem Vorstehenden mithin einzig das Verfahren seines Erlasses entscheidend, nicht hingegen sein Typ oder gar seine Bezeichnung, so existieren demgemäß auch Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse, die als Rechtsakte ohne Gesetzescharakter erlassen werden (z.B. nach Art. 108 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV 3. Teil 4.2.2), siehe Art. 297 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV. 298 So bestimmt Art. 290 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 AEUV, dass in Gesetzgebungsakten der Kommission die Befugnis übertragen werden kann, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen. Diese sog. delegierten Rechtsakte insbesondere im Bereich technischer Vorgaben sind nach Art. 290 Abs. 3 AEUV in ihrem Titel ausdrücklich als solche zu bezeichnen. In den diesem auch sog. Tertiärrecht 299 zugrundeliegenden Basisrechtsbzw. Gesetzgebungsakten sind gem. Art. 290 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 AEUV die Ziele, der Inhalt, der Geltungsbereich und die Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich 296 Dittert, Europarecht, S. 41, 98 f.; Streinz, Europarecht, Rn. 547. Die Mitgliedstaaten können gem. Art. 48 Abs. 2 S. 2, Art. 82 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 und Art. 83 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 AEUV jeweils eine Aussetzung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens bewirken. Zu diesem sog. Notbremsemechanismus siehe aus deutscher Sicht § 9 IntVG. 297 Dittert, Europarecht, S. 97; Hobe, Europarecht, Rn. 417, 429. 298 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 6 Rn. 559; Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 76; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 7 Rn. 25, 33. 299 Zur Terminologie: Streinz, Europarecht, Rn. 567. <?page no="107"?> festzulegen (aus dem deutschen Recht vgl. Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG 300 ). 301 Nach Art. 290 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV sind die wesentlichen Aspekte eines Bereichs dem Gesetzgebungsakt vorbehalten und eine Befugnisübertragung ist ür sie deshalb ausgeschlossen. 302 Art. 290 Abs. 2 AEUV zufolge werden die Bedingungen, unter denen die Übertragung erfolgt, in Gesetzgebungsakten ausdrücklich festgelegt, wobei folgende Möglichkeiten bestehen: a) Das Europäische Parlament oder der Rat kann beschließen, die Übertragung zu widerrufen; b) Der delegierte Rechtsakt kann nur in Kraft treten, wenn das Europäische Parlament oder der Rat innerhalb der im Gesetzgebungsakt festgelegten Frist keine Einwände erhebt. Für die Zwecke der Buchstaben a) und b) beschließt das Europäische Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder ( 2. Teil 3.1) und der Rat mit qualifizierter Mehrheit ( 2. Teil 3.3). Während der Erlass von nach Art. 290 AEUV delegierten Rechtsakten die legislative Gewalt betrifft, gehört die Durch ührung der verbindlichen Rechtsakte der EU nach Art. 291 AEUV, d.h. die Konkretisierung allgemeiner EU-Rechtsakte durch Vollzugsakte im Einzelfall ( 2. Teil 5), zur exekutiven Gewalt. 303 In beiden Fällen handelt es sich um Rechtsakte ohne Gesetzescharakter. 304 Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, die als Verordnung, Richtlinie oder Beschluss, der an keinen bestimmten Adressaten gerichtet ist, erlassen wurden, werden nach Art. 297 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV vom Präsidenten des Organs unterzeichnet, das sie erlassen hat. Verordnungen, Richtlinien, die an alle Mitgliedstaaten gerichtet sind, sowie Beschlüsse, die an keinen bestimmten Adressaten gerichtet sind, werden gem. Art. 297 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 AEUV im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Sie treten nach Art. 297 300 Hierauf hinweisend: Streinz, Europarecht, Rn. 567. Zu Rechtsverordnungen nach Art. 80 Abs. 1 GG: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 16 m.w.N. 301 Hobe, Europarecht, Rn. 272. 302 Diese Regelung trägt dem Demokratieprinzip ( 1. Teil 1.1) und der Gewaltenteilung ( 2. Teil 3) Rechnung, siehe Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 6 Rn. 564. In Bezug auf das deutsche Verfassungsrecht vgl. Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 14 m.w.N. zum Parlamentsvorbehalt und zur Wesentlichkeitstheorie. 303 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 6 Rn. 561; Schroeder, Grundkurs Europarecht, Rn. 38. 304 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 343. <?page no="108"?> Abs. 2 UAbs. 2 S. 2 AEUV entweder zu dem durch sie festgelegten Zeitpunkt oder anderenfalls am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft. Die anderen Richtlinien sowie die Beschlüsse, die an einen bestimmten Adressaten gerichtet sind, werden Art. 297 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV zufolge denjenigen, ür die sie bestimmt sind, bekannt gegeben und durch diese Bekanntgabe wirksam. Der Vollzug 305 des materiellen EU-Rechts, d.h. die verwaltungsmäßige Anwendung von dessen abstrakt-generellen Vorgaben auf den konkretindividuellen Einzelfall durch Rechtsbzw. Realakt, erfolgt mitunter unmittelbar durch die hier ür zuständigen EU-Organe (sog. direkter Vollzug 2. Teil 5.1), im Übrigen dagegen durch die Behörden der Mitgliedstaaten, sog. indirekter Vollzug ( 2. Teil 5.2). 306 Kann im ersten Fall noch weiter zwischen dem unionsinternen direkten Vollzug (z.B. in Personalangelegenheiten) und dem unionsexternen direkten Vollzug gegenüber Bürgern, Unternehmen und Mitgliedstaaten differenziert werden, so ist im letzten Fall zwischen dem mitgliedstaatlichen Vollzug von einerseits unmittelbar anwendbarem EU-Recht (z.B. von Verordnungen; sog. unmittelbarer indirekter Vollzug) und andererseits von nationalem Recht, welches EU-Recht umsetzt (z.B. eine Richtlinie; sog. mittelbarer indirekter Vollzug), zu unterscheiden - und dabei jeweils die Frage nach dem maßgeblichen Organisations- und Verfahrensrecht zu beantworten. 307 305 Die Befugnis zur zwangsweisen Durchsetzung von vollstreckbaren Titeln, d.h. die Vollstreckungsgewalt, liegt allein bei den Mitgliedstaaten, siehe Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 50 ff. Speziell zu Rechtsakten des Rates, der Kommission und der EZB, die eine Zahlung auferlegen, siehe Art. 299 AEUV. 306 Vgl. Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 236; Dittert, Europarecht, S. 114; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 8 Rn. 2, 7; Herdegen, Europarecht, § 10 Rn. 35; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 8 Rn. 2 f. 307 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 455 f.; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 9; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 8 Rn. 2 f. Dort auch zur dritten Kategorie des gemischten Vollzugs, der auf EU-Ebene gerade nicht verboten ist, siehe Kahl, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 4 EUV Rn. 46. Zum Europäischen Verwaltungsverbund siehe Streinz, Europarecht, Rn. 590. <?page no="109"?> Nach dem ebenfalls im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung 308 des Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV ( 2. Teil 4.1) ist die EU zur unmittelbaren Aus ührung des von ihr gesetzten Rechts ( 2. Teil 4) nur insoweit zuständig, als die Mitgliedstaaten ihr die Zuständigkeiten hier ür in den Verträgen übertragen haben - sei es durch Anordnung dieses Vollzugstyps im EUV und AEUV (im unionsexternen 309 Bereich z.B. in Art. 108 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV 3. Teil 4.2.2) oder der dortigen Verankerung einer Ermächtigung zum Erlass von entsprechendem Sekundärrecht. 310 Weil dies nur in sehr begrenztem Umfang erfolgt ist, stellt der direkte Vollzug des EU-Rechts durch die (Organe der) EU selbst (sog. EU-Eigenverwaltung) - i.d.R.: die Kommission (vgl. Art. 17 Abs. 1 S. 5 EUV 2. Teil 3.4) durch Beschlüsse (z.B. nach Art. 108 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV 3. Teil 4.2.2) - die absolute Ausnahme dar. 311 Besteht die Aufgabe der EU-Institutionen vielmehr vorrangig im Regieren und nicht im Administrieren, so ver ügt die europäische Verwaltung (Art. 298 Abs. 1 AEUV) derzeit denn auch über keinen flächendeckenden Verwaltungsunterbau, sondern hat - in Relation zu den ca. 500 Mio. Unionsbürgern - nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von einigen 10.000 Mitarbeitern. 312 308 Zudem gilt auch der Grundsatz der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV 2. Teil 4.1.3), siehe Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 462. 309 Die Kompetenz der EU für den unionsinternen Bereich, d.h. die interne Organisation ihrer Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen ( 2. Teil 3), folgt aus den diesbezüglichen (ungeschriebenen) implied powers ( 2. Teil 4.1.1), siehe Dittert, Europarecht, S. 114; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 8 Rn. 7. 310 Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 6; Streinz, Europarecht, Rn. 583. Zum Komitologieverfahren nach der auf Art. 291 Abs. 3 AEUV basierenden Verordnung (EU) Nr. 182/ 2011 (ABl. EU L 55 vom 28.2.2011, S. 13) siehe Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 346. 311 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 237; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 8 Rn. 7; Hobe, Europarecht, Rn. 468; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 7, 9, 17; Streinz, Europarecht, Rn. 587. 312 Vgl. Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 455; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 106, § 12 Rn. 7 f.; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 8 Rn. 6. <?page no="110"?> Gestützt auf den seinerseits auf Art. 103 AEUV beruhenden Art. 23 Abs. 2 lit. a) Verordnung Nr. 1/ 2003/ EG 313 hat die Kommission am 27. Juni 2017 einen Beschluss 314 an Google Inc. und seine Muttergesellschaft gerichtet, in dem eine Geldbuße i.H.v. über 2 Mrd. EUR wegen Verstoßes gegen das Verbot der missbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt (Art. 102 AEUV) verhängt wurde. Geschriebene allgemeine Vorschriften über das Verfahren des direkten Vollzugs des EU-Rechts existieren bislang kaum (sachgebietsspezifisch siehe dagegen z.B. die Beihilfenverfahrens-Verordnung 3. Teil 4.2.2). 315 Insoweit zu nennen sind neben dem in Art. 4 Abs. 3 Abs. 1 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit lediglich Art. 296 Abs. 2 AEUV: Begründungspflicht von Rechtsakten, der i.d.R. durch die jeweiligen Erwägungsgründe nachgekommen wird ( 2. Teil 1.4), 316 Art. 297 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV: Wirksamwerden von individualgerichteten Beschlüssen ( 2. Teil 4.2.2), Art. 299 Abs. 1 AEUV: Rechtsakte als vollstreckbare Titel ( 2. Teil 5.2), Art. 335 AEUV: Rechts- und Geschäftsfähigkeit der EU ( 2. Teil 3), Art. 337 AEUV: Auskunfts- und Nachprüfungsrecht der Kommission sowie Art. 339 AEUV: Geheimhaltungspflicht. 317 Um den Anforderungen des Art. 296 Abs. 2 AEUV zu genügen, muss die Begründung die Überlegungen der Unionsbehörde, die den betreffenden Rechtsakt erlassen hat, so klar und unzweideutig wiedergeben, dass es dem Betroffenen möglich ist, zur Wahrnehmung seiner Rechte Kenntnis 313 ABl. EG L 1 vom 4.1.2003, S. 1. 314 Vgl. ABl. EU C 9 vom 12.1.2018, S. 11. 315 Ebenso der Befund von Dittert, Europarecht, S. 114. Eine Aufforderung des Parlaments an die Kommission nach Art. 225 AEUV ( 2. Teil 4.2.1), diesbezüglich einen Vorschlag zu unterbreiten, datiert vom 15.1.2013 (EuZW 2013, S. 124). Ferner siehe den vom Research Network on EU Administrative Law (ReNEUAL) vorgelegten Musterentwurf für ein EU-Verwaltungsverfahrensrecht. Zu Art. 298 AEUV als Grundlage hierfür siehe Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 8 Rn. 8. 316 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 7 Rn. 42. 317 Hierauf hinweisend: Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 8 Rn. 4, 7. <?page no="111"?> von den tragenden Gründen ür die Maßnahme zu erlangen, und dass der Gerichtshof seine Kontrolle ausüben kann (EuGH, ECLI: EU: C: 1991: 438). Zudem ist nach dieser Entscheidung dem Recht auf Anhörung in einem Verwaltungsverfahren nur dann genügt, wenn der Betroffene die Gelegenheit erhält, in dem Verfahren selbst Stellung zu nehmen und sich zur Relevanz der Sachumstände sowie ggf. zu den Unterlagen in sachdienlicher Weise zu äußern, auf die das EU-Organ zurückgreift. Ferner bestimmt Art. 41 EU-GrCh unter der amtlichen Überschrift „Recht auf eine gute Verwaltung“ in seinem Absatz 1, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden. Dieses Recht umfasst nach Art. 41 Abs. 2 EU-GrCh insbesondere a) das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine ür sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird, b) das Recht jeder Person auf Zugang zu den sie betreffenden Akten unter Wahrung des berechtigten Interesses der Vertraulichkeit sowie des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses und c) die Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen. Zudem kann sich Art. 41 Abs. 4 EU-GrCh zufolge jede Person in einer der Sprachen der Verträge an die EU-Organe wenden und muss eine Antwort in derselben Sprache erhalten ( 2. Teil 1.4). Wenngleich kein rechtsverbindliches Instrument, so doch immerhin ein Hilfsmittel ür die praktische Umsetzung des Grundsatzes der guten Verwaltung ist der durch das Europäische Parlament am 6. September 2001 angenommene 318 und vom Europäischen Bürgerbeauftragten (Art. 228 AEUV, Art. 43 EU-GrCh) regelmäßig aktualisierte Europäische Kodex für gute Verwaltungspraxis (abrufbar unter: www.ombudsman.europa.eu). Danach verbleibende Lücken im Allgemeinen Verwaltungsrecht der EU sind durch Rückgriff namentlich auf die diesbezüglich vom EuGH entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Rechts zu schließen ( 2. Teil 1.1.3). 319 Verstößt ein EU-Organ beim direkten Vollzug des EU-Rechts gegen eine diesen beherrschende Verfahrensregel, so kann dies bei zu bejahender Entscheidungsrelevanz bzw. Wesentlichkeit des jeweiligen Verfahrensfeh- 318 ABl. EG C 72E vom 21.3.2002, S. 331. 319 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 237. <?page no="112"?> lers zur Nichtigkeitserklärung der betreffenden Maßnahme (z.B. Beschluss) durch den Gerichtshof der EU nach Art. 264 Abs. 1 AEUV ühren ( 2. Teil 6.2). 320 Nachdem Mitgliedstaat M die Kommission über die beabsichtigte Einührung einer neuen Beihilfe gem. Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV unterrichtet hatte ( 3. Teil 4.2.2), erließ diese einen Beschluss, dass die geplante Beihilfe mit dem Binnenmarkt nach Art. 107 AEUV unvereinbar ist. Gegen diesen Beschluss hat M nunmehr Nichtigkeitsklage zum EuGH erhoben ( 2. Teil 6.2). Zur Begründung macht M u.a. geltend, dass die Kommission ihren Beschluss unzutreffend begründet habe. Dazu hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2002: 143) erkannt, dass es sich bei der Begründungspflicht nach Art. 296 Abs. 2 AEUV um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das von der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört. 321 Soweit die Mitgliedstaaten der EU nicht die Kompetenz ür den Vollzug des EU-Rechts übertragen haben, ist diese nach Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 S. 2 EUV bei ihnen verblieben ( 2. Teil 4.1). 322 Dieser indirekte Vollzug sowohl des unmittelbar anwendbaren EU-Rechts (unmittelbarer indirekter Vollzug) als auch von dessen nur mittelbar - da erst über einen nationalen Umsetzungsakt - wirkenden Bestandteilen (mittelbarer indirekter Vollzug) durch die Behörden der Mitgliedstaaten ist damit die Regel. 323 Soweit das EU-Recht hier ür keine - entgegenstehendem nationalen Recht gegenüber vorrangigen ( 2. Teil 2.1) - Vorschriften, etwa in Gestalt von (Basisbzw. Grund-)Verordnungen i.S.v. Art. 288 Abs. 2 AEUV und Durch ührungsverordnungen nach Art. 291 Abs. 2 AEUV, enthält 320 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 237; Dittert, Europarecht, S. 115; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 8 Rn. 10. 321 Zu einer vergleichbaren Unterscheidung im deutschen Verwaltungsrecht siehe Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 208, 221 ff. m.w.N. 322 Vgl. Haltern, Europarecht, Band I, Rn. 753. 323 Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 1. <?page no="113"?> (siehe aber z.B. den Zollkodex 324 und die diesbezüglichen Durch ührungsvorschriften), 325 gehen die Behörden der Mitgliedstaaten beim Vollzug des EU-Rechts nach den formellen und materiellen Bestimmungen ihres jeweiligen nationalen Rechts vor. 326 In Art. 291 Abs. 1 AEUV heißt es ausdrücklich, dass die Mitgliedstaaten alle zur Durch ührung der verbindlichen Rechtsakte der EU ( 2. Teil 4) erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht ergreifen. Sowohl die Organisation, d.h. die Festlegung der Behördenzuständigkeit, als auch das Verfahren ür den indirekten Vollzug des EU-Rechts richten sich daher nach dem jeweiligen mitgliedstaatlichen (Verfassungs- und Verwaltungs-)Recht. 327 Aus deutscher Sicht sind insofern Art. 30 und Art. 83 ff. GG 328 einschlägig, wobei die letztgenannten Vorschriften im Fall des mittelbaren indirekten Vollzugs (von deutschem Aus ührungsrecht) unmittelbar und im Fall des unmittelbaren indirekten Vollzugs analog (EU-Recht ist nicht Bundesrecht) Anwendung finden. 329 Es gilt damit diejenige Kompetenzverteilung, die ohne Übertragung der betreffenden Zuständigkeit auf die EU zum Tragen käme. 330 Im Ergebnis liegt die Vollzugszuständigkeit danach grundsätzlich bei den Ländern. 331 Allerdings kann der Bund gem. Art. 87 Abs. 3 GG Stellen zum Vollzug unmittelbar anwendbaren Europarechts (z.B. der Art. 38 bis 44 AEUV) errichten (so z.B. die nunmehrige Bundesan- 324 Verordnung (EU) Nr. 952/ 2013 vom 9.10.2013, ABl. EU 269 vom 10.10.2013, S. 1. Demgegenüber ist nach EuGH, ECLI: EU: C: 2015: 89, Rn. 26 in Ermangelung einer einschlägigen unionsrechtlichen Regelung die Durchführung der Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten. 325 Ob die EU befugt ist, auch für den mittelbaren indirekten Vollzug des EU- Rechts verwaltungsverfahrensrechtliche Regeln zu treffen, ist umstritten, siehe Streinz, Europarecht, Rn. 610, 620. 326 EuGH, ECLI: EU: C: 1983: 233, Rn. 17; Dittert, Europarecht, S. 115; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 462. 327 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 8 Rn. 12 mit dem weiteren Hinweis auch auf die Maßgeblichkeit der nationalen Prozessordnungen; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 8 Rn. 12. Zur Nichtanwendbarkeit der allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Rechts ( 2. Teil 1.1.3) siehe Streinz, Europarecht, Rn. 605. A.A. insoweit Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 37. 328 Dazu siehe Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 153 ff. m.w.N. 329 Streinz, Europarecht, Rn. 592; Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 40 m.w.N. 330 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 8 Rn. 17. 331 Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 153 m.w.N. <?page no="114"?> stalt ür Landwirtschaft und Ernährung), wenn er ür die entsprechende Angelegenheit gem. Art. 70 ff. GG die Gesetzgebungskompetenz besitzt. 332 Was das Verwaltungsverfahren anbelangt, so richtet sich dieses nach dem jeweils einschlägigen VwVfG (des Bundes bzw. des betreffenden Bundeslands), sofern es nicht durch spezielleres Bundesbzw. Landesrecht verdrängt wird. 333 Ohne die Kommission hiervon gem. Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV zuvor unterrichtet zu haben, hat Mitgliedstaat M entgegen dem Durch ührungsverbot des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV dem Unternehmen U eine Beihilfe i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV bewilligt. Nachdem die Kommission hiervon durch Presseberichte erfahren hatte, erließ sie gegenüber M einen Beschluss, mit dem sie diesen nach Art. 108 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV zur Aufhebung der Beihilfe verpflichtete. Was ist aus deutscher Sicht die Rechtsgrundlage ür diese nunmehr von M gegenüber U auszusprechende Aufhebung? Rechtsgrundlage ür den Bescheid, mit dem M den U gegenüber ursprünglich erlassenen Subventionsbewilligungsbescheid wieder aufhebt, ist aus deutscher Sicht - bei Handeln einer Bundesbehörde - § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG. Denn die Rücknahme unionsrechtswidriger Verwaltungsakte ist wegen Fehlens einer umfassenden Rücknahmeregelung im EU- Recht grundsätzlich nach nationalem Recht zu beurteilen (zum Ganzen: BVerwGE 106, 328 und 3. Teil 4.2.2). Diese im Grundsatz mithin bestehende Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten ist freilich mit der Gefahr verbunden, dass aufgrund der mitunter erheblichen Unterschiede zwischen den nationalen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften das EU-Recht in den Mitgliedstaaten nicht einheitlich vollzogen wird und dadurch namentlich die Wirtschaftsteilnehmer ungleich behandelt werden. 334 Weil ein solches Ergebnis dem in Art. 197 Abs. 1 AEUV genannten gemeinsamem Interesse an einer effektiven Durchführung des EU-Rechts durch die Mitgliedstaaten zuwiderliefe, diese vielmehr dazu verpflichtet sind, die EU nach dem Grund- 332 Burgi, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 87 Rn. 93; Dittert, Europarecht, S. 115; Ibler, in: Maunz/ Dürig, GG, Stand: 64. Lfg. Januar 2012, Art. 87 Rn. 235; Streinz, Europarecht, Rn. 592. 333 Streinz, Europarecht, Rn. 600. Näher dazu: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 150 a.E., 152, 158 m.w.N. 334 EuGH, ECLI: EU: C: 1983: 233, Rn. 19; dass., ECLI: EU: C: 2006: 586, Rn. 58; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 8 Rn. 12; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 463; Streinz, Europarecht, Rn. 603. <?page no="115"?> satz der loyalen Zusammenarbeit bei der Er üllung der sich aus dem EUV und AEUV ergebenden Aufgaben zu achten und zu unterstützen (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV) sowie alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Er üllung der sich aus den vorgenannten Verträgen oder den Handlungen von EU-Organen ergebenden Verpflichtungen zu ergreifen (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV), hat der EuGH (ECLI: EU: C: 1983: 233 und 1998: 401) den Mitgliedstaaten sowohl ür den Fall des mittelbaren als auch des unmittelbaren indirekten Vollzugs des EU-Rechts die nachfolgenden Vorgaben gemacht hat. Diese lösen das vorstehend aufgezeigte Spannungsverhältnis - trotz fehlenden Weisungsrechts der EU-Organe gegenüber den Behörden der Mitgliedstaaten 335 - durch eine gewisse Europäisierung des mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechts 336 auf. 337 Nach dieser Rechtsprechung dürfen bzw. darf bei der Anwendung nationalen Rechts in Vollziehung von EU-Recht keine Unterschiede im Vergleich zu solchen Verfahren gemacht werden, in denen über gleichartige, rein nationale Rechtsstreitigkeiten entschieden wird, d.h. Verfahren mit EU-Bezug dürfen nicht weniger günstig ausgestaltet werden als solche, die allein innerstaatliches Recht betreffen, sog. Äquivalenzgrundsatz bzw. Grundsatz der Gleichwertigkeit (früher sog. Diskriminierungsverbot); Im Gegensatz zum Äquivalenzgrundsatz wirkt der nachfolgende Effektivitätsgrundsatz ungleich stärker auf das nationale Verwaltungsverfahrensrecht ein. 338 335 Die EU-Institutionen und die mitgliedstaatlichen Behörden bilden keinen hierarchisch aufgebauten Verwaltungskörper, siehe Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 26. 336 Und des Verwaltungsprozessrechts, siehe Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 8 Rn. 28. Denn im weiten Sinn gehört auch der Rechtsschutz zum Vollzug des EU-Rechts, siehe Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 30. Vgl. auch unten im Text zu Fn. 350 ff. 337 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 8 Rn. 12, 18, 28; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 463; Herdegen, Europarecht, § 10 Rn. 35; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 2; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 8 Rn. 12 ff.; Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 321 m.w.N. 338 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 464. <?page no="116"?> die Wirksamkeit des EU-Rechts nicht beeinträchtigt, d.h. die Ausübung der durch dieses verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden, sog. Effektivitätsgrundsatz bzw. Effizienzgebot (franz.: effet utile, vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV 2. Teil 1.4). 339 Diese (völkervertragsrechtliche) Regel ist Teil des vom GG gewollten Integrationsauftrags. 340 Im obigen Beispielsfall hat M den ursprünglichen Subventionsbewilligungsbescheid gegenüber U nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG zurückgenommen. Hiergegen beruft sich U jetzt auf Vertrauensschutz nach § 48 Abs. 2 VwVfG, weil die gewährte Leistung mittlerweile verbraucht ist. Mit Erfolg? Nein. U kann sich trotz Leistungsverbrauchs nicht mit Erfolg auf Vertrauensschutz nach § 48 Abs. 2 VwVfG berufen. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH muss das nationale Recht so angewandt werden, dass die unionsrechtlich vorgeschriebene Rückforderung staatlicher Beihilfen nicht praktisch unmöglich gemacht und das EU-Interesse voll berücksichtigt wird. Diesem Gebot würde aber nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn bei unionsrechtswidrigen staatlichen Beihilfen, die der Begünstigte bereits verbraucht hat, das öffentliche Rücknahmeinteresse nur in den Fällen der - vielfach nicht nachweisbaren (dazu siehe freilich noch sogleich) - Bösgläubigkeit i.S.v. § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG durchgesetzt würde. Die Anwendung der ür den „Verbrauchsfall“ in § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG normierten Regel hätte nämlich zur Folge, dass die unionsrechtlich gebotene Rückforderung in weitem Umfang unmöglich wäre. Dadurch aber würde das Unionsinteresse an der Wahrung der im AEUV niedergelegten Wettbewerbsordnung erheblich beeinträchtigt. Folglich gebührt dem durch die Einwirkung des EU-Rechts gesteigerten öffentlichen Rücknahmeinteresse im Rahmen der mithin nach § 48 Abs. 2 S. 1 VwVfG vorzunehmenden Abwägung mangels Vorliegens abweichender, besonderer Umstände Vorrang vor dem gegenläufigen Interesse des Begünstigten (zum Ganzen: BVerwGE 92, 81). Da die Überwachung der staatlichen Beihilfen durch die Kommission in Art. 108 AEUV zwingend vorgeschrieben ist ( 3. Teil 4.2.2), darf ein beihilfebegünstigtes Unternehmen auf die Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe nach EuGH, ECLI: EU: C: 1990: 320 grundsätzlich nur dann vertrauen, wenn diese unter Beachtung des dort vorgesehenen Ver- 339 Zur Terminologie: Dittert, Europarecht, S. 116; Streinz, Europarecht, Rn. 604; Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 321 m.w.N. 340 BVerfG, BVerfGE 123, 267 (351 f.). <?page no="117"?> fahrens gewährt wurde. 341 Einem sorg ältigen Gewerbetreibenden ist es regelmäßig möglich, sich zu vergewissern, ob dieses Verfahren beachtet wurde. „Hierdurch wird deutlich, wie wichtig die Kenntnis des Unionsrechts für einzelne Unternehmen ist. Das bloße Vertrauen auf unionskonformes Verhalten der Behörden des eigenen Mitgliedstaates entspricht nicht mehr dem unionsrechtlichen Standard an erwarteter Sorgfalt.“ 342 Neben diesem „Klassiker“ der Überformung von § 48 VwVfG (insgesamt, d.h. neben seinem Abs. 2 auch dessen Abs. 1 S. 1 und Abs. 4) durch das EU-Recht im Fall der Rückforderung einer europarechtswidrigen Beihilfe 343 sind die o.g. Vorgaben des EU-Rechts namentlich auch bei der Frage nach der etwaigen Durchbrechung der Bestandskraft eines unionsrechtswidrigen (belastenden) Verwaltungsakts im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens (§ 51 VwVfG) mit dem Ziel der Rückerstattung der auf dessen Grundlage gezahlten Abgabe zu beachten. 344 Adressaten der beiden o.g., aus Art. 4 Abs. 3 EUV resultierenden Verpflichtungen sind sämtliche Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, d.h. aus deutscher Sicht die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung (Art. 1 Abs. 3 GG) sowohl auf Ebene des Bundes als auch der Länder (inklusive der Kommunen). 345 Parallel hierzu sind Letztere im Innenverhältnis zum Bund, der im Außenverhältnis 346 zur EU bei Verstößen gegen die Unionstreuepflicht auch ür das diesbezügliche Handeln bzw. Unterlassen einer Behörde eines Gliedstaates im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff. AEUV in Gestalt eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds einstehen muss (Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 bzw. Abs. 3 341 Zu § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 321 m.w.N. 342 Herdegen, Europarecht, § 10 Rn. 39 (Hervorhebungen d. d. Verf.). 343 Ausführlich dazu: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 321 m.w.N. 344 Näher dazu: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 322 m.w.N. 345 EuGH, ECLI: EU: C: 2011: 585, Rn. 29 ff.; Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 4 EUV Rn. 5. Dort auch zur fernerhin bestehenden Verpflichtung der verselbstständigten Verwaltungseinheiten und öffentlichen Unternehmen, d.h. der mittelbaren Staatsverwaltung, siehe Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 53 m.w.N. 346 Im Innenverhältnis tragen Bund und Länder nach Art 104a Abs. 6 S. 1 GG gemäß der innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung die Lasten einer Verletzung von supranationalen Verpflichtungen Deutschlands. <?page no="118"?> UAbs. 2 AEUV 2. Teil 6.1), aufgrund ihrer diesem gegenüber bestehenden Verfassungspflicht zur Bundestreue i.V.m. Art. 23 Abs. 1 GG gehalten, das EU-Recht ordnungsgemäß zu vollziehen. 347 Kann sich bei Verstoß hiergegen der Einzelne ggf. auf den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch gegen den betreffenden Mitgliedstaat berufen ( 2. Teil 2.3), so fehlt es bislang hingegen weitgehend an einer Möglichkeit der EU, den korrekten Vollzug ihres Rechts direkt zu erzwingen, d.h. Vollzugsdefizite auf diese Weise zu sanktionieren, vgl. Art. 299 Abs. 1 Hs. 2 AEUV; vielmehr ist sie auf die „freiwillige“ Befolgung ihrer Anordnungen durch die Mitgliedstaaten angewiesen. 348 Siehe aber auch Art. 7 EUV (Aussetzung bestimmter Mitgliedschaftsrechte bei schwerwiegender Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte 1. Teil 1.2.3) und Art. 126 AEUV (Maßnahmen bei übermäßigem öffentlichen Defizit eines Mitgliedstaats). 349 Weil dem EUGH (ECLI: EU: C: 2016: 499; ECLI: EU: C: 2017: 684) zufolge mangels einer einschlägigen Unionsregelung ebenfalls die Modalitäten des Verfahrens ür Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem EU-Recht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht ungünstiger ausgestaltet sein dürfen als bei entsprechenden innerstaatlichen Klagen (Grundsatz der Äquivalenz), und die Mitgliedstaaten auch insoweit die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Grundsatz der Effektivität), sind u.a. auch die deutschen Verwaltungsgerichte - namentlich bei der Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 bzw. § 123 Abs. 1 VwGO - an diese Grundsätze gebunden. 350 Allerdings gebietet das EU-Recht es einem nationalen Gericht grundsätzlich nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfah- 347 Vgl. Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 458; Karpenstein, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 258 AEUV Rn. 64, 67; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 34. Siehe auch Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 16 m.w.N. zum Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens. Zu Art. 37 GG (Bundeszwang) siehe Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 8 Rn. 19. 348 Hobe, Europarecht, Rn. 476 ff.; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 43 ff.; Streinz Europarecht, Rn. 150. 349 Hierauf hinweisend: Streinz Europarecht, Rn. 150. 350 Näher dazu: Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 575, 609 m.w.N. Dort (Rn. 543 bzw. Rn. 260) auch zu § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO und zu § 42 Abs. 2 VwGO. <?page no="119"?> rensvorschriften, aufgrund derer eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen EU-Recht abgestellt werden könnte. Denn der Grundsatz der Rechtskraft hat nicht nur in den nationalen Rechtsordnungen Bedeutung, sondern ebenfalls in derjenigen der EU: Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2006: 178). Ausnahmsweise steht aber das EU-Recht der Anwendung einer auf die Verankerung des Grundsatzes der Rechtskraft abzielenden Vorschrift des nationalen Rechts entgegen, soweit ihre Anwendung etwa die Rückforderung einer unter Verstoß gegen das EU-Recht gewährten staatlichen Beihilfe behindert, deren Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt durch einen bestandskräftig gewordenen Beschluss der Kommission festgestellt worden ist, siehe EuGH, ECLI: EU: C: 2007: 434. Von den dem Gerichtshof der EU in den Verträgen abschließend zugewiesenen Verfahrensarten ( 2. Teil 3.5) sind die ünf bedeutendsten die Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 bzw. Art. 259 AEUV ( 2. Teil 6.1), die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV ( 2. Teil 6.2), die Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV ( 2. Teil 6.3), die Amtshaftungs-/ Schadensersatzklage nach Art. 268 AEUV ( 2. Teil 6.4) und das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV ( 2. Teil 6.5). 351 Während mittels der Vertragsverletzungsklage der Verstoß eines Mitgliedstaats gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen gerügt werden kann, erfolgt durch die drei in Art. 263, Art. 265 und Art. 268 AEUV geregelten Klagearten die unionsrechtliche Kontrolle des Verhaltens namentlich der EU-Organe. 352 Im Gegensatz zu sämtlichen vier vorgenannten sog. Direkt- 351 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 249. 352 Frenz, Europarecht, Rn. 1267. <?page no="120"?> klagen kann der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, das zwischen ihm und einem mitgliedstaatlichen Gericht stattfindet, je nach Vorlagefrage sowohl die Handlung eines EU-Organs als auch indirekt diejenige eines Mitgliedstaats anhand des EU-Rechts prüfen ( 2. Teil 6.5). 353 In der Gesamtschau er üllt der Gerichtshof der EU damit sowohl verfassungsrechtliche (vgl. v.a. Art. 258 f., Art. 263 Abs. 2, Art. 265 und Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV) als auch fachgerichtliche Funktionen, insbesondere diejenigen eines Verwaltungsgerichts (vgl. Art. 263 Abs. 4 AEUV). 354 Während das EuG gem. Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV grundsätzlich ür alle Direktklagen natürlicher und juristischer Personen zuständig ist, ist der EuGH nach Art. 51 der Satzung des Gerichtshofs der EU ür nahezu alle Direktklagen der Mitgliedstaaten und EU-Organe zuständig; zudem ist er Rechtsmittelinstanz ür Entscheidungen des Gerichts ( 2. Teil 3.5). 355 Von den in den Jahren 2012 bis 2016 beim EuGH jährlich ca. 600 bis 700 neu eingegangen Rechtssachen entfielen jeweils gut 2 / 3 auf das Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV als in der EuGH-Rechtsprechungspraxis mithin wichtigsten Verfahrensart. 356 Nach Art. 280 AEUV sind die Urteile des Gerichtshofs der EU gem. Art. 299 AEUV vollstreckbar, allerdings nicht gegenüber den Mitgliedstaaten. Gegen diese kann er jedoch auf eine Vertragsverletzungsklage hin nach Maßgabe von Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 bzw. Abs. 3 UAbs. 2 AEUV die Zahlung eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds verhängen ( 2. Teil 6.1). Neben den ünf o.g. bedeutsamsten Hauptsacheverfahren - deren Dauer betrug in der jüngsten Vergangenheit je nach Verfahrensart durchschnittlich zwischen knapp 13 und gut 19 Monaten 357 - sieht Art. 278 S. 2 AEUV zudem vor, dass der Gerichtshof, wenn er dies den Umständen nach ür nötig hält, die Durch ührung der angefochtenen Handlung eines EU- Organs aussetzen kann ([Nichtigkeits-]Klagen beim Gerichtshof der EU 353 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 148; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 2. 354 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 6 Rn. 628 ff.; Jochum, Europarecht, Rn. 399; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 151, § 13 Rn. 9 f. 355 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 476, 478. 356 Gerichtshof der Europäischen Union, Jahresbericht 2016 (Rechtsprechungstätigkeit), S. 91 ff., abrufbar unter curia.europa.eu. 357 ebd., S. 86, 104. <?page no="121"?> haben nach Art. 278 S. 1 AEUV keine aufschiebende Wirkung 358 ) bzw. nach Art. 279 AEUV in den bei ihm anhängigen (Vertragsverletzungs-, Untätigkeits- und Schadensersatz-)Sachen die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen kann (durchschnittliche Dauer z.B. eines Eilvorabentscheidungsverfahrens: weniger als 3 Monate). 359 Näher geregelt ist der vorläufige Rechtsschutz (Aussetzung und sonstige einstweilige Anordnungen) als Ausprägung des ursprünglich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie Art. 6 und Art. 13 EMRK abgeleiteten Gebots des effektiven Rechtsschutzes (nunmehr vgl. Art. 47 EU-GrCh) in Art. 160 ff. der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. 360 Ferner kann gem. Art. 299 Abs. 4 S. 1 AEUV auch die Zwangsvollstreckung nur durch eine Entscheidung des Gerichtshofs der EU ausgesetzt werden. Bei der Vertragsverletzungsklage handelt es sich um ein rein objektives Beanstandungsverfahren, mit dem sowohl die Kommission nach Art. 258 AEUV als „Hüterin der Verträge“ (sog. Aufsichtsklage, vgl. Art. 17 Abs. 1 S. 2 und 3 EUV 2. Teil 3.4 361 ) als auch - was in der Praxis allerdings nur äußerst selten vorkommt - nach Art. 259 AEUV ein anderer Mitgliedstaat (sog. Staatenklage) den Gerichtshof der EU anrufen kann, um Verstöße eines Mitgliedstaats nicht nur gegen das primäre, sondern namentlich auch das sekundäre EU-Recht zu rügen. 362 So gehört zu den „Verpflich- 358 Zu § 80 Abs. 1 VwGO siehe Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 500 ff. m.w.N. 359 Gerichtshof der Europäischen Union, Jahresbericht 2016 (Rechtsprechungstätigkeit), S. 104, abrufbar unter curia.europa.eu; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 10. 360 EuGH, ECLI: EU: C: 1986: 206, Rn. 17 ff.; dass., ECLI: EU: C: 2008: 461, Rn. 335; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 9. Bei Letzterem auch der Hinweis auf Art. 133 und Art. 151 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zum alternativ in Betracht kommenden beschleunigten Verfahren. Zum vorläufigen Rechtsschutz im Kontext des EU-Rechts speziell durch die deutschen Verwaltungsgerichte nach § 80 Abs. 5 und § 123 Abs. 1 VwGO siehe Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 575, 609 m.w.N. Dort (Rn. 488 und Rn. 543) auch zu Art. 19 Abs. 4 GG bzw. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO. 361 Dort auch dazu, ob die Kommission hierzu u.U. verpflichtet ist. 362 Frenz, Europarecht, Rn. 1269; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 4; Hobe, Europarecht, Rn. 499; Jochum, Europarecht, Rn. 408; Karpenstein, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 258 AEUV Rn. 25. <?page no="122"?> tung aus den Verträgen“ i.S.v. Art. 258 Abs. 1 und Art. 259 Abs. 1, 2 AEUV auch die aus Art. 288 Abs. 3 i.V.m. Art. 291 Abs. 1 AEUV resultierende Pflicht der Mitgliedstaaten zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien bzw. zum Unterlassen von diesen zuwiderlaufenden Maßnahmen, vgl. Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 Alt. 2 EUV. 363 Wenngleich es auf die Verletzung subjektiver Rechte im Rahmen der Vertragsverletzungsklage nicht ankommt und weder natürliche noch juristische 364 Personen über eine direkte Möglichkeit zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens ver ügen, so hat diese Direktklage gleichwohl insoweit eine zumindest mittelbar individualschützende Funktion, als ein Einzelner sich an die Kommission wenden kann und diese sodann auf Grundlage dieser Beschwerden 365 ggf. eine Vertragsverletzungsklage erhebt. 366 Einen Anspruch hierauf hat dieser allerdings nicht. 367 Prüfungsschema „Vertragsverletzungsklage“ (Art. 258 AEUV) I. Zulässigkeit 1. Zuständigkeit EuGH (vgl. Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV, Art. 51 Satzung) 2. Partei ähigkeit aktiv: Kommission (Art. 258 Abs. 2 AEUV) passiv: Mitgliedstaat (Art. 258 Abs. 2 AEUV) 3. Vorverfahren grds. erforderlich (Art. 258 Abs. 1 AEUV) ausn. entbehrlich (Art. 108 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 114 Abs. 9 und Art. 348 Abs. 2 AEUV) 363 Wienbracke, VR 2017, S. 275 (276 f.) m.w.N. 364 Mit Ausnahme der Mitgliedstaaten, siehe Art. 259 AEUV. 365 Hierzu siehe das Formblatt für die Beschwerden, die bei der Kommission wegen Nichteinhaltung der Rechtsvorschriften der Gemeinschaften eingelegt werden, ABl. EG C 26 vom 1.2.1989, S. 6. 366 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 241; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 9 Rn. 24; Frenz, Europarecht, Rn. 1269; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 488; Hobe, Europarecht, Rn. 499. Beim Letztgenannten (Rn. 556) sowie Frenz, Europarecht, Rn. 1309, Jochum, Europarecht, Rn. 1209 und Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 29 siehe zum nachfolgenden Schema. 367 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 632. <?page no="123"?> 4. Klagegegenstand Verstoß gegen Verpflichtung aus den Verträgen (Art. 258 Abs. 1 AEUV) wird begrenzt durch den Gegenstand des Vorverfahrens (s.o. I.3.) 5. Klagebefugnis Überzeugung von der Vertragsverletzung 6. Form schriftlich (Art. 21 Abs. 1 Satzung, Art. 120 f. VerfO) 7. Rechtsschutzbedürfnis grds.: fehlt bei fristgemäßer Abstellung der gerügten Vertragsverletzung ausn.: ist trotz Abstellung der gerügten Vertragsverletzung vorhanden, wenn diese erst nach Fristablauf erfolgt ist und eine konkrete Wiederholungsgefahr besteht, die Klärung der Rechtsfrage von grundlegender Bedeutung ür das Funktionieren der EU ist oder die Verurteilung Grundlage ür einen Amtshaftungsanspruch gegen den Mitgliedstaat bilden kann II. Begründetheit (+), wenn die geltend gemachte Vertragsverletzung tatsächlich vorliegt Ist die zulässige Vertragsverletzungsklage begründet, so stellt der Gerichtshof der EU nach Art. 260 Abs. 1 AEUV lediglich fest, dass der Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat, d.h. es ergeht ein entsprechendes (erstes) Feststellungsurteil. 368 Über eine Befugnis zur Aufhebung der betreffenden mitgliedstaatlichen Maßnahme ver ügt der Gerichtshof dagegen ebenso wenig wie er diese ür unionsrechtswidrig erklären oder den jeweiligen Mitgliedstaat zu ihrer Aufhebung verpflichten darf. 369 Verstößt dieser allerdings gegen seine in Art. 260 Abs. 1 AEUV ausdrücklich normierte Pflicht, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben (namentlich Aufhebung bzw. Erlass der in Rede stehenden Maßnahme 370 ), so stellt dies 368 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 643; Dittert, Europarecht, S. 165. 369 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 505. 370 Vgl. Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 13 Rn. 37. <?page no="124"?> eine erneute Vertragsverletzung dar. 371 Auf eine diesbezügliche zweite Aufsichtsklage nach Art. 260 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV hin kann der Gerichtshof dann gem. Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV die Zahlung eines von der Kommission 372 benannten Pauschalbetrags oder Zwangsgelds verhängen, vgl. ferner Art. 260 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV. Weil der Pauschalbetrag die Fortsetzung des EU-Rechtsverstoßes ür die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Urteil ahnden soll, und das Zwangsgeld der Rechtsdurchsetzung in der Zukunft dient, ist das in Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 und Abs. 3 UAbs. 2 AEUV enthaltene „oder“ nach h.M. als „und/ oder“ zu lesen, d.h. beide vorgenannten Maßnahmen können nebeneinander verhängt werden - sind gegenüber den Mitgliedstaaten allerdings jeweils nicht vollstreckbar, siehe Art. 280 i.V.m. Art. 299 Abs. 1 Hs. 2 AEUV (str. 373 ). 374 Mittels der Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) können insbesondere die rechtsverbindlichen Handlungen der in Art. 263 Abs. 1 S. 1 AEUV genannten EU-Organe vom Gerichtshof der EU auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft werden ( 2. Teil 5.1). Damit er üllt die Nichtigkeitsklage als gemeinsam mit der Vertragsverletzungsklage wichtigste Direktklageart verschiedene Funktionen: 375 Mit ihr können die nach Art. 263 Abs. 2 AEUV privilegierten Kläger auch ohne Nachweis einer Klagebefugnis die Rechtsakte der EU überprüfen lassen (s.u. I.4.; abstrakte Normenkontrolle). 376 Anders als im Fall dieser sog. Staatenbzw. Organklage ist die Situation dagegen bei den nach Art. 263 Abs. 3 AEUV teilprivilegierten Klägern und 371 Streinz, Europarecht, Rn. 638. 372 Hierzu siehe die Mitteilung der Kommission vom 13.12.2017, C(2017) 8720 final. An die darin genannten Beträge ist der EuGH freilich nicht gebunden; vielmehr verfügt er bzgl. des „Ob“ und des „Wie“ der Verhängung von Maßnahmen nach Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV über Ermessen, siehe Dittert, Europarecht, S. 165. Zu den diesbezüglichen Kriterien siehe Herdegen Europarecht, § 9 Rn. 5. 373 So etwa Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 9 Rn. 35. A.A. mit guten Gründen Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 265. 374 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 645 f.; Streinz, Europarecht, Rn. 638. 375 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 651; Frenz, Europarecht, Rn. 1312. 376 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 651; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 36. <?page no="125"?> den nach Art. 263 Abs. 4 AEUV nicht privilegieren Klägern (s.u. I.4.). 377 In den letzten beiden Fällen dient die Nichtigkeitsklage folglich dem subjektiven Rechtsschutz und erinnert dabei an den Organstreit bzw. eine Anfechtungsklage. 378 Prüfungsschema „Nichtigkeitsklage“ (Art. 263 AEUV) I. Zulässigkeit 1. Zuständigkeit grds. EuG (Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV) ausn. EuGH (Art. 256 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 51 Satzung) 2. Partei ähigkeit aktiv: - Mitgliedstaaten, Europäisches Parlament, Rat und Kommission (Art. 263 Abs. 2 AEUV 2. Teil 3.4), - Rechnungshof, EZB, Ausschuss der Regionen (Art. 263 Abs. 3 AEUV), natürliche und juristische Personen (Art. 263 Abs. 4 AEUV) passiv: Rat, Kommission, EZB, Europäisches Parlament, Europäischer Rat, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU (Art. 263 Abs. 1 AEUV) 379 3. Klagegegenstand Gesetzgebungsakte (Art. 289 Abs. 3 AEUV) und Handlungen mit Rechtswirkung, z.T. nur bei Rechtswirkung gegenüber Dritten (Art. 263 Abs. 1 AEUV) 377 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 514, 521. 378 Dittert, Europarecht, S. 167; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 12; Frenz, Europarecht, Rn. 1312. Beim Letztgenannten (Rn. 1373) sowie Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 539, Hobe, Europarecht, Rn. 557, Jochum, Europarecht, Rn. 1210 und Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 50 siehe zum nachfolgenden Schema. In Bezug auf § 42 Abs. 2 und § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO siehe Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 248 ff., 392 ff. m.w.N. 379 Zur Frage nach der passiven Parteifähigkeit des Rechnungshofs siehe Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 73. <?page no="126"?> 4. Klagebefugnis nicht erforderlich in den Fällen des Art. 263 Abs. 2 AEUV in Fällen des Art. 263 Abs. 3 AEUV muss die Klage auf die Wahrung der Rechte der dort genannten Kläger abzielen in Fällen des Art. 263 Abs. 4 AEUV muss die Handlung den Kläger adressieren, d.h. an ihn gerichtet sein, ihn unmittelbar und individuell 380 betreffen oder ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter sein, der ihn unmittelbar betrifft und keine Durch ührungsmaßnahmen nach sich zieht 5. Klagegrund Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung der Verträge oder einer bei deren Durch ührung anzuwendenden Rechtsnorm, Ermessensmissbrauch (Art. 263 Abs. 2 AEUV) 6. Form schriftlich (Art. 21 Abs. 1 Satzung, Art. 120 f. VerfO) 7. Frist 2 Monate ab Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder ab dessen Kenntniserlangung von ihr (Art. 263 Abs. 6 AEUV; zur Fristberechnung siehe Art. 49 ff. VerfO) 8. Rechtsschutzbedürfnis ist nur von nicht gem. Art. 263 Abs. 2 AEUV privilegierten Klägern nachzuweisen grds.: fehlt, wenn zum Zeitpunkt der Klageerhebung der fehlerhafte Rechtsakt aufgehoben oder der Fehler vollständig beseitigt ist 380 Nach der sog. Plaumann-Formel des EuGH (ECLI: EU: C: 1963: 17, S. 238) kann, wer nicht Adressat einer Entscheidung ist, nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn diese ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten. Bei den abstraktgenerellen Verordnungen i.S.v. Art. 288 Abs. 2 AEUV ist dies i.d.R. nicht der Fall, siehe Rademacher, JuS 2018, S. 337 (341). Dort auch zur vom Betroffenen zu erhebenden Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO, in deren Rahmen eine (Gültigkeits-)Vorlage nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV zu erfolgen hat. <?page no="127"?> ausn.: konkrete Wiederholungsgefahr, die Klärung der Rechtsfrage ist von grundlegender Bedeutung ür das Funktionieren der EU oder die Verurteilung kann die Grundlage ür einen Amtshaftungsanspruch gegen die EU bilden II. Begründetheit (+), wenn der geltend gemachte Klagegrund (s.o. I.5.) tatsächlich vorliegt Ist die zulässige Nichtigkeitsklage begründet, so erklärt der Gerichtshof der EU die angefochtene Handlung nach Art. 264 Abs. 1 AEUV ür nichtig (die Nichtigkeitsklage ist mithin eine Gestaltungsklage) - und zwar grundsätzlich mit Wirkung ex tunc 381 und erga omnes 382 . 383 Nur falls er dies ür notwendig hält, bezeichnet der Gerichtshof diejenigen Wirkungen der von ihm ür nichtig erklärten Handlung, die als fortgeltend zu betrachten sind, siehe Art. 264 Abs. 2 AEUV. 384 Erlässt die Kommission gegenüber der Bundesrepublik Deutschland (D) einen Beschluss gem. Art. 108 Abs. 3 S. 2 i.V.m. Abs. 2 UAbs. 1 AEUV, wonach D die an das deutsche Unternehmen U gewährte Beihilfe zurückzufordern hat ( 3. Teil 4.2.2), und erhebt U nicht binnen der Zwei-Monatsfrist des Art. 263 Abs. 6 AEUV Nichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 4 AEUV gegen diesen Beschluss i.S.v. Art. 288 Abs. 4 AEUV, so steht auch gegenüber U die EU-Rechtswidrigkeit der Beihilfe verbindlich fest. Diese Bestandskraft des Kommissionsbeschlusses hat zur Folge, dass U im Rahmen seiner gegen die sodann nach § 48 VwVfG erfolgte Rücknahme des Beihilfenbewilligungsbescheids vor einem deutschen Verwaltungsgericht erhobenen Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO nicht mehr mit Erfolg geltend machen kann, dass die Beihilfe sehr wohl unionsrechtsmäßig sei. 381 Lat.: „von Anfang“ an (und nicht erst „ab jetzt“ = ex nunc). 382 Lat.: „zwischen allen“ (und nicht nur „zwischen den am konkreten Rechtsstreit jeweils beteiligten Parteien“, d.h. inter partes). 383 Ehlers, in: ders./ Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 8 Rn. 61, 63 f. 384 Zu den verschiedenen Tenorierungen der Entscheidungen des BVerfG siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 665 ff. m.w.N. <?page no="128"?> Als Spiegelbild der Nichtigkeitsklage weist die gegenüber dieser subsidiäre und praktisch nur wenig relevante Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV - gemäß dessen Abs. 1 S. 1 eine Vertragsverletzung durch Unterlassen einer Beschlussfassung durch das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Kommission oder die EZB gerügt werden kann - eine ähnliche Struktur auf wie diese. 385 Folglich richtet sich ihre Prüfung weitgehend nach dem zu Art. 263 AEUV entwickelten Schema ( 2. Teil 6.2). 386 Allerdings handelt es sich bei der Untätigkeitsklage nicht um eine Gestaltungs- (und auch nicht etwa um eine Verpflichtungs- 387 ), sondern vielmehr lediglich um eine Feststellungsklage. 388 Wird der Einzelne durch administratives oder normatives Verhalten der Organe oder Bediensteten der EU in einem seiner Rechte verletzt und geschädigt, so hält Art. 268 i.V.m. Art. 340 Abs. 2, 3 AEUV mit der Amtshaftungsbzw. Schadensersatzklage einen selbstständigen Rechtsbehelf in Form einer Leistungsklage bereit, mittels derer individueller Rechtsschutz vor dem Gerichtshof der EU gesucht werden kann. 389 Im Gegensatz zu diesen Ansprüchen aus außervertraglicher, d.h. deliktischer 390 , Haftung, sind Ansprüche aus vertraglicher Haftung der EU (Art. 340 Abs. 1 AEUV) - ebenso wie solche aus Haftung der Mitgliedstaaten ür Verstöße gegen das EU-Recht ( 2. Teil 2.3) - mangels Existenz einer mit Art. 268 AEUV vergleichbaren Vorschrift grundsätzlich vor den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten geltend zu machen, siehe Art. 274 AEUV ( 2. Teil 3.5). Nur ausnahmsweise ist der Gerichtshof der EU nach Art. 272 AEUV ür Entscheidungen aufgrund einer Schiedsklausel zuständig, die in einem 385 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 9 Rn. 55; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 24; Jochum, Europarecht, Rn. 456; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 13 Rn. 54. 386 Vgl. Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 13 Rn. 54. 387 Demgegenüber siehe zur Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO: Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 142 ff., 452 ff. m.w.N. 388 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 60. 389 EuGH, ECLI: EU: C: 1986: 85, Rn. 18; Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 290; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 554. 390 Dittert, Europarecht, S. 183. <?page no="129"?> von der EU oder ür ihre Rechnung abgeschlossenen öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Vertrag enthalten ist. 391 Prüfungsschema „Amtshaftungs-/ Schadensersatzklage“ (Art. 268 AEUV) I. Zulässigkeit 1. Zuständigkeit EuG (Art. 256 Abs. 1 AEUV) 2. Partei ähigkeit aktiv: natürliche und juristische Personen (Rspr.) - Mitgliedstaaten (str.) passiv: - EU (Art. 268 i.V.m. Art. 340 Abs. 2 AEUV) - EZB (Art. 268 i.V.m. Art. 340 Abs. 3 AEUV) 3. Klagegegenstand Geltendmachung eines Anspruchs gegen die EU oder die EZB auf Ersatz des durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung von deren Amtstätigkeit verursachten Schadens (Art. 268 i.V.m. Art. 340 Abs. 2, 3 AEUV) 4. Form schriftlich (Art. 21 Abs. 1 Satzung, Art. 120 f. VerfO) 5. Frist 5 Jahre nach Eintritt des schädigenden Ereignisses (Art. 46 Satzung) 6. Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn - Schadenseintritt durch rechtzeitige Erhebung einer Nichtigkeits-/ Untätigkeitsklage hätte verhindert werden können mitgliedstaatliche Rechtsschutzmöglichkeiten, die zum Ersatz des geltend gemachten Schadens ühren können, nicht ausgeschöpft wurden (Subsidiarität der Amtshaftungs-/ Schadensersatzklage) 391 Zum nachfolgenden Schema siehe Frenz, Europarecht, Rn. 1419; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 564, Hobe, Europarecht, Rn. 559 und Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 71. <?page no="130"?> II. Begründetheit (+), wenn Voraussetzungen ür Amtshaftungs-/ Schadensersatzanspruch nach Art. 340 Abs. 2 bzw. Abs. 3 AEUV (vgl. auch Art. 41 Abs. 3 EU-GrCh) tatsächlich vorliegen: - Verhalten (Tun oder Unterlassen) eines Organs oder Bediensteten der EU bzw. EZB in Ausübung ihrer Amtstätigkeit, - Rechtswidrigkeit dieses Verhaltens, d.h. hinreichend qualifizierte Verletzung einer dem Schutz des Einzelnen dienenden Rechtsnorm, - Schaden des Klägers und - Kausalzusammenhang zwischen dem o.g. Verhalten und dem Schaden Ebenso wie im deutschen Recht allein das BVerfG dazu befugt ist, nachkonstitutionelle Parlamentsgesetze wegen Verstoßes gegen das GG ür nichtig zu erklären, hat auf EU-Ebene einzig der Gerichtshof der EU das Recht dazu, über die Gültigkeit namentlich des Sekundärrechts zu befinden (sog. Verwerfungsmonopol, vgl. Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV) - sowie ferner über die letztverbindliche Auslegung des gesamten EU- Rechts, sog. Auslegungsmonopol, vgl. Art. 267 Abs. 1 lit. a) und b) Alt. 2 AEUV. Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV als in der Praxis wichtigste Verfahrensart vor dem Gerichtshof der EU ( 2. Teil 6) ist daher vergleichbar mit der konkreten Normenkontrolle 392 nach Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG. 393 Ähnlich wie dort besteht der Hintergrund hier ür auch im vorliegenden Zusammenhang darin, dass ohne diesem die Einheit des EU-Rechts nicht gewährleistet wäre, weil dann die verschiedenen mitgliedstaatlichen Gerichte das von ihnen unmittelbar anzuwendende EU-Recht divergierend interpretieren oder gar dessen Wirksamkeit unterschiedlich beurteilen dürften. 394 Zusätzlich hierzu ergänzt das Vorabentscheidungsverfahren die auf EU- Ebene nur eingeschränkten Direktklagemöglichkeiten Privater, d.h. dient 392 Dazu: Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 31; ders., JA 2015, S. 604, jeweils m.w.N. 393 Zum Ganzen: Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 306. 394 Dittert, Europarecht, S. 140; Frenz, Europarecht, Rn. 1425 f. <?page no="131"?> ebenfalls dem Individualrechtsschutz ( 2. Teil 6.2). 395 So können natürliche wie juristische Personen vor den mitgliedstaatlichen Gerichten geltend machen, dass eine sie unmittelbar betreffende Maßnahme auf primärrechtswidrigem Sekundärrecht oder einem EU-rechtswidrigen mitgliedstaatlichen Gesetz beruht. 396 Erzwingen kann der Einzelne eine Vorlage nach Art. 267 AEUV allerdings nicht, handelt es sich beim Vorabentscheidungsverfahren doch nicht etwa um ein gesondertes streitiges Klageverfahren, sondern vielmehr um ein der Parteiherrschaft 397 entzogenes Zwischenverfahren von mitgliedstaatlichem zu europäischem Gericht (Kooperationsverhältnis) im Rahmen des bei Ersterem anhängigen (Ausgangs-) Rechtsstreits. 398 Sofern sich in diesem dem nationalen Gericht eine der o.g. Auslegungs- oder Gültigkeitsfragen in Bezug auf das EU-Recht stellt, setzt es das Verfahren aus und entscheidet nach der Beantwortung dieser Rechtsfrage durch den Gerichtshof der EU in demgemäßer Anwendung des EU-Rechts den streitgegenständlichen Sachverhalt selbst. 399 D.h., das vorlegende Gericht hat die fragliche Bestimmung des EU-Rechts in der vom Gerichtshof vorgegebenen Auslegung auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anzuwenden bzw. auf diesen die vom Gerichtshof ür (un-) gültig erklärte Handlung (nicht) anzuwenden. 400 Verstößt allerdings ein deutsches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, gegen die Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV, so kann die betreffende Entscheidung u.U. zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 395 Frenz, Europarecht, Rn. 1427. 396 Dittert, Europarecht, S. 140. 397 Vgl. allerdings Wienbracke, EuZW 2016, S. 51 (56) m.w.N. zur Herbeiführung der fehlenden Entscheidungserheblichkeit i.S.v. Art. 267 AEUV infolge Rechtsmittelrücknahme, Anspruchsanerkennung oder Prozessvergleichs. 398 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 6 Rn. 718; Dittert, Europarecht, S. 140; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 9 Rn. 81; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 565; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 73. 399 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 9 Rn. 81; Jochum, Europarecht, Rn. 483; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 73 unter Hinweis u.a. auf § 94 VwGO. Parallelvorschriften hierzu sind u.a. § 33 BVerfGG, § 74 FGO und § 148 ZPO. 400 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 6 Rn. 740. <?page no="132"?> Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8, 90 ff. BVerfG gemacht werden (EuGH als „gesetzlicher Richter“ i.S.v. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG). 401 Eine Auslegung des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten oder dessen Anwendung auf den konkreten Rechtsstreit, d.h. eine Entscheidung in der Sache, gestattet Art. 267 AEUV dem Gerichtshof der EU hingegen nicht. 402 Insbesondere ist dieser im Vorabentscheidungsverfahren nicht dazu befugt, wie im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 f. AEUV 2. Teil 6.1) die Vereinbarkeit einer mitgliedstaatlichen Maßnahme mit dem EU- Recht zu prüfen. 403 Vielmehr beantwortet er lediglich abstrakte Rechtsfragen. 404 Mittelbar, d.h. im Ergebnis, kann dies freilich zur Annahme eines Verstoßes von nationalem Recht mit EU-Recht ühren. 405 Zu ziehen hat diese Konsequenz - mit der Folge der Unanwendbarkeit des unionsrechtswidrigen nationalen Rechts ( 2. Teil 2.1) - freilich das vorlegende mitgliedstaatliche Gericht, dem auch in den Fällen des Art. 267 Abs. 1 lit. a) und lit. b) Alt. 2 AEUV die Anwendung der vom Gerichtshof vorgegebenen Auslegung der fraglichen Norm des EU-Rechts auf den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt obliegt. 406 Eine unzulässige Vorlagefrage wie Ist das im belgischen Gesetz über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten enthaltene Erfordernis, dass Bewerber auf Stellen bei lokalen Dienststellen die geforderte Kenntnis der Sprache des Gebiets, in dem die betreffende Dienststelle angesiedelt ist, ausschließlich durch eine einzige Art von Bescheinigung nachzuweisen haben, die nur von einer einzigen Einrichtung nach einer von dieser in Belgien abgehaltenen Prüfung ausgestellt wird, mit Art. 45 AEUV vereinbar? 401 Dazu: Wienbracke, VR 2017, S. 421 (426 f.) m.w.N. 402 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 320 f.; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 9 Rn. 81. 403 Hobe, Europarecht, Rn. 537; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 13 Rn. 70. 404 Jochum, Europarecht, Rn. 485. 405 ebd. 406 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 577; Wernsmann, in: Ehlers/ Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009 § 11 Rn. 68. Vgl. auch Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 6 Rn. 718. Zum nachfolgenden Schema siehe Frenz, Europarecht, Rn. 1483, Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 579, Hobe, Europarecht, Rn. 60; Jochum, Europarecht, Rn. 1212; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 90. <?page no="133"?> würde der Gerichtshof der EU in etwa folgende - zulässige - umdeuten: Ist Art. 45 AEUV dahingehend auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, wonach Bewerber auf Stellen bei lokalen Dienststellen die geforderte Kenntnis der Sprache desjenigen Gebiets, in dem die jeweilige Dienststelle angesiedelt ist, ausschließlich durch eine einzige Art von Bescheinigung nachzuweisen haben, die nur von einer einzigen Einrichtung nach einer von dieser in Belgien abgehaltenen Prüfung ausgestellt wird (zum Ganzen: Wienbracke, VR 2017, S. 341 m.w.N.)? Prüfungsschema „Vorabentscheidungsverfahren“ (Art. 267 AEUV) I. Zulässigkeit 1. Zuständigkeit EuGH (vgl. Art. 256 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV i.V.m. Satzung) 2. Vorlagerecht bzw. -verpflichtung Vorlagerecht: Gericht eines Mitgliedstaats (Art. 267 Abs. 2 AEUV) Vorlagepflicht grds. (+), wenn: die Entscheidung eines einzelstaatlichen Gerichts nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann (Art. 267 Abs. 3 AEUV), 407 das nicht i.d.S. letztinstanzliche Gericht eines Mitgliedstaats o einen EU-Rechtsakt ür ungültig hält und diesen daher nicht anwenden will oder o die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt anordnen oder wiederherstellen will (z.B. nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO 408 ), der in Vollzug des EU- Rechts ergangen ist ausn. (-), wenn die Vorlagefrage bereits vom EuGH in einem gleichgelagerten Fall beantwortet wurde, 407 Ob es hierfür auf eine abstrakte oder konkrete Betrachtungsweise ankommt, ist umstritten, siehe den Meinungsüberblick etwa bei Wernsmann, in: Ehlers/ Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 11 Rn. 47. 408 Dazu siehe Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 575 m.w.N. <?page no="134"?> die bisherige EuGH-Rspr. keine vernünftigen Zweifel offen lässt, sog. acte éclairé oder die Rechtslage eindeutig ist, sog. acte clair 3. Vorlagegegenstand Auslegung der Verträge, d.h. EUV und AEUV (Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV) Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union (Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV), d.h. namentlich des Sekundärrechts 4. Entscheidungserheblichkeit grds. (+), wenn das Vorlagegericht die Entscheidung über den Vorlagegenstand zum Erlass seines Urteils ür erforderlich hält (Art. 267 Abs. 2, ggf. i.V.m. Abs. 3 AEUV) ausn. (-), wenn die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, die Vorlagefrage hypothetischer Natur ist oder die ür die zweckdienliche Beantwortung erforderlichen tatsächlichen und/ oder rechtlichen Angaben fehlen 5. Form Übermittlung von Aussetzungs- und Vorlagebeschluss an den EuGH (Art. 23 Abs. 1 S. 1 Satzung) sowie weiterer Inhalt gem. Art. 94 VerfO 6. Frist bei Gültigkeitsvorlage (Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV) darf die Frist des Art. 263 Abs. 6 AEUV nicht verstrichen sein II. Beantwortung der Vorlagefrage im Fall des Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV: Erklärung der vorgelegten Organhandlung etc. ür (un-)gültig in den Fällen des Art. 267 Abs. 1 lit. a) und lit. b) Alt. 2 AEUV: Auslegung der vorgelegten Vertragsbestimmung bzw. Organhandlung etc. <?page no="135"?> Die im AEUV nicht ausdrücklich geregelten Wirkungen der Vorabentscheidung bestehen im Fall der Gültigkeitsvorlage nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV darin, dass - falls der Gerichtshof auf diese hin die fragliche Handlung ür ungültig 409 erklärt -, diese Entscheidung über das Ausgangsverfahren hinaus allgemeine Wirkung (erga omnes) namentlich ür sämtliche mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte sowie alle Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU entfaltet. 410 Die ür ungültig erklärte Handlung darf nicht mehr angewandt werden (was im Ergebnis der Rechtslage bei einer Nichtigerklärung gem. Art. 264 AEUV entspricht 2. Teil 6.2) und das diese zu verantwortende EU-Organ etc. ist analog Art. 266 Abs. 1 AEUV dazu verpflichtet, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen zu ergreifen; 411 Auslegungsvorlage nach Art. 267 Abs. 1 lit. a) bzw. lit. b) Alt. 2 AEUV darin, dass über das vorlegende Gericht (inter partes-Wirkung) sowie alle weiteren mit dem Ausgangsrechtsstreit befassten Gerichtsinstanzen hinaus wegen Art. 4 Abs. 3 EUV auch sämtliche sonstigen Gerichte der Mitgliedstaaten i.d.S. an die Vorabentscheidung gebunden sind, dass sie von dem Auslegungsurteil ohne erneute Vorlage nicht abweichen dürfen (Präjudizwirkung ür ähnliche Verfahren 412 bzw. eingeschränkte faktische allgemeine Wirkung erga omnes ür vergleichbare Fälle 413 ). 414 In zeitlicher Hinsicht wirken sowohl Gültigkeitsals auch Auslegungsurteile grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der betreffenden 409 Nach einer Gültigerklärung ist dagegen eine erneute Vorlage geboten, falls ein mitgliedstaatliches Gericht von dieser abweichen will, siehe Streinz, Europarecht, Rn. 706. Dort auch zu den Folgen für den vorläufigen Rechtsschutz. 410 Frenz, Europarecht, Rn. 1476; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 578. 411 Dittert, Europarecht, S. 158. 412 So Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 6 Rn. 741; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 9 Rn. 102. 413 So Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 578; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 35; Jochum, Europarecht, Rn. 516. 414 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 578; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 81. <?page no="136"?> Norm des EU-Rechts zurück (ex tunc). 415 Nur ausnahmsweise, insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit bzw. des Vertrauensschutzes, begrenzt der Gerichtshof die Wirkung seiner Vorabentscheidung analog Art. 264 Abs. 2 AEUV auf solche Rechtsverhältnisse, die - mit Ausnahme des Ausgangsverfahrens - nach Erlass seines Urteils entstehen. 416 415 Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (36) m.w.N. Zur Aussetzung eines Verfahrens wegen der Anhängigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens in einem vergleichbaren anderen Fall (Vorwirkung) siehe Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 322. 416 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 6 Rn. 743; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 9 Rn. 81. Zu vergleichbaren Tenorierungen des BVerfG siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 665 ff. m.w.N. <?page no="138"?> Neben der Förderung des Friedens und der Werte der Union erklärt Art. 3 Abs. 1 EUV das v.a. ökonomische 417 Wohlergehen ihrer Völker zu den Zielen der EU. Diese allgemeine Leitvorstellung wird in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV dahingehend konkretisiert, dass die EU einen Binnenmarkt (vormals: „Gemeinsamer Markt“) errichten soll. Dieser bildet nach wie vor das wirtschaftliche Herzstück der europäischen Integration. 418 Nach Art. 26 Abs. 2 AEUV umfasst der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist sowie gemäß dem Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb 419 ein System, das den Wettbewerb vor Ver älschungen schützt. Bei den danach u.a. (ferner 3. Teil 4) zu beseitigenden Binnengrenzen handelt es sich namentlich um materielle (Waren- und Personenkontrollen), technische (nichttari äre Handelshemmnisse) und steuerliche Schranken. 420 An deren Errichtung hat jeder (Mitglied-)Staat deshalb ein zumindest potentielles Interesse, weil sie die jeweilige heimische Industrie etc. vor ausländischer Konkurrenz schützen, sog. Protektionismus. 421 417 Ruffert, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 3 EUV Rn. 21. 418 Jacqué, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 3 EUV Rn. 3; Pechstein, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 3 EUV Rn. 7. 419 ABl. EU C 115 vom 9.5.2008, S. 309. 420 Streinz, Europarecht, Rn. 970. 421 Sauer, JuS 2017, S. 310 (311). <?page no="139"?> Um die einheimische Bierproduktion - sowie die mit dieser verbundenen Arbeitsplätze und Steuereinnahmen - zu schützen, erlässt das Parlament des Staates S ein Gesetz, wonach a) der Import von im Ausland gebrautem Bier nach S verboten ist, b) nur solches Bier in S vertrieben werden darf, das aus den in der inländischen Bierproduktion ohnehin schon seit Jahrhunderten verwendeten Zutaten besteht, wohingegen ausländischen Bierbrauern die Einhaltung dieser Vorgabe erst nach kostenintensiver Umstellung ihrer Produktion möglich ist, c) auf importiertes Bier eine Abgabe in einer solchen Höhe erhoben wird, dass dieses doppelt so teuer ist wie im Inland gebrautes Bier. Der ökonomische Hintergrund der Binnenmarktphilosophie liegt in dem Bestreben einer möglichst effizienten Allokation wirtschaftlicher Ressourcen: 422 Die Produktionsfaktoren (Arbeit-, Real- und Geldkapital) sollen sich zu denjenigen mitgliedstaatlichen Standorten bewegen, an denen die Produktionskosten am geringsten sind, und auf diese Weise ein Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten sowie ihren regionalen Standorten um die Produktionsansiedlung entstehen. Waren und Dienstleistungen als Resultate des Wirtschaftsprozesses sollen unionsweit miteinander konkurrieren, was ür die Verbraucher Angebotsausweitung und Kostenvorteile ermöglicht. 423 Als Mittel (Instrumente), um den Binnenmarkt zu verwirklichen bzw. dessen Funktionieren zu gewährleisten, benennt Art. 26 Abs. 1 AEUV den Erlass der hier ür erforderlichen Maßnahmen durch die EU nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen der Verträge. Durch diesen Gesetzgebungsauftrag wird die EU dazu verpflichtet, innerhalb ihrer anderweitig begründeten Kompetenzen ( 2. Teil 4.1.1) den Binnenmarkt durch den Erlass von Sekundärrecht ( 2. Teil 1.3) zu verwirklichen. 424 Sofern sie von der insoweit v.a. in Betracht kommenden Rechtsangleichung (Art. 114 Abs. 1 AEUV) Gebrauch gemacht hat (z.B. durch die sog. Tabakwerbe- 422 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 1. 423 Zum Ganzen: Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 824. Zu den sich hierin widerspiegelnden Gedanken von Adam Smith (An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776) und David Ricardo (On the Principles of Political Economy and Taxation, 1821) siehe Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1, Rn. 5 ff. 424 Vgl. Bast, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 26 AEUV Rn. 8 f. <?page no="140"?> Richtlinie 2003/ 33/ EG 425 ), werden durch diese die rechtlichen Rahmenbedingungen innerhalb der EU so gestaltet, dass die Marktteilnehmer dort überall gleiche Bedingungen vorfinden (z.B. ür die Werbung zugunsten von Tabakerzeugnissen). 426 Soweit es an derartigen Maßnahmen der sog. positiven Integration hingegen fehlt, kommt insbesondere den Grundfreiheiten die Aufgabe zu, ungerechtfertigte Hindernisse ür den EUbinnengrenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr im Einzelfall zu beseitigen, sog. negative Integration. 427 M.a.W.: Auch in denjenigen Bereichen, die beim gegenwärtigen Stand des EU-Rechts nicht in die Zuständigkeit der EU fallen oder aber wenn trotz bestehender EU-Rechtsetzungskompetenz von dieser aus politischen Gründen bislang kein Gebrauch gemacht wurde, sind die Mitgliedstaaten gehalten, die ihnen verbliebenen Befugnisse unter Wahrung des EU-Rechts auszuüben, namentlich der Grundfreiheiten als eine Art Mindestharmonisierung. 428 Das Fehlen einer (wirksamen und abschließenden) positiven Integrationsmaßnahme ist der erste Punkt in dem zur Grundfreiheitenprüfung entwickelten Schema ( 3. Teil 1.1.3 und 1.2.1). 429 Unter den Oberbegriff „Grundfreiheiten“ (synonym: „Marktfreiheiten“) werden gemeinhin die - je nach Zählweise vier oder sechs - Freiheit des Warenverkehrs (Art. 28 ff. AEUV), die Freizügigkeit der Personen, d.h. die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV), die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) sowie die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV) gefasst, teilweise zusätzlich auch noch die Freizügigkeit der Unionsbürger (Art. 21 Abs. 1 AEUV 3. Teil 2.1) i.V.m. dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 2.2). 430 425 ABl. EU L 152 vom 20. 6.2003, S. 16. 426 Schröder, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 26 AEUV Rn. 29. 427 Korte, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 26 AEUV Rn. 10. 428 Sauer, JuS 2017, S. 310 (312); Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (931); ders., EuZW 2017, S. 311, jeweils m.w.N. 429 Sauer, JuS 2017, S. 310 (312). 430 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 2; Herdegen, Europarecht, § 14 Rn. 1. Das nachfolgende Schema ist angelehnt <?page no="141"?> Abb. 3: Überblick über die Grundfreiheiten Wenngleich dem Wortlaut des AEUV zufolge Unterschiede zwischen den Grundfreiheiten nicht nur im Hinblick auf ihr jeweiliges Schutzgut, sondern auch darüber hinaus auszumachen sind (vgl. z.B. einerseits Art. 45 Abs. 2 AEUV: „Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung“ und andererseits Art. 49 Abs. 1 S. 1 AEUV: „Beschränkungen der freien Niederlassung […] sind […] verboten“ 3. Teil 1.4.2), 431 so weisen sie dennoch eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten auf, auf der auch ihre hiesige Darstellung beruht. 432 Zu diesen gemeinsamen dogmatischen Grundstrukturen (sog. Konvergenz) gehört insbesondere die parallele Struktur der Prüfung aller Grundfreiheiten anhand des an die Systematisierung von Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 34 AEUV Rn. 30. 431 Hierauf hinweisend: Herdegen, Europarecht, § 14 Rn. 3. 432 Dazu vgl. auch Wienbracke, ReWir 45/ 2018 m.w.N. <?page no="142"?> nachfolgenden Schemas 433 . 434 Dessen offenkundige Nähe zu dem zur Prüfung eines Verstoßes gegen die (Freiheits-)Grundrechte des deutschen GG entwickelten Raster 435 resultiert nicht zuletzt daraus, dass ebenso wie diese auch die europäischen Grundfreiheiten ihren Berechtigten subjektive Rechte vermitteln ( 3. Teil 1.1.5). 436 Ein Verstoß gegen eine Grundfreiheit (deren Verletzung) liegt dann vor, wenn diese im konkreten Fall anwendbar ist (s.u. I. 3. Teil 1.2) und in unionsrechtlich nicht gerechtfertigter Weise (s.u. IV. 3. Teil 1.5) in ihren Schutzbereich (s.u. II. 3. Teil 1.3) eingegriffen (s.u. III. 3. Teil 1.4) wird. 437 Prüfungsschema „Verletzung einer Grundfreiheit“ I. Anwendbarkeit 1. Kein wirksames und abschließendes Sekundärrecht 2. Kein spezielleres Primärrecht 3. Keine Bereichsausnahme II. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich 2. Sachlicher Schutzbereich a) Schutzgut b) grenzüberschreitender Sachverhalt c) Abgrenzung der Grundfreiheiten untereinander (Konkurrenz) d) Gewährleistungsumfang 433 Zu diesem vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 136; Sauer, JuS 2017, S. 310 (314 f.); Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (484 ff.) m.w.N. 434 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 829; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 10 Rn. 3, 18 ff.; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 3; Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (931) m.w.N. 435 Dazu siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 220 m.w.N. 436 Frenz, Europarecht, Rn. 218. 437 Vgl. Frenz, Europarecht, Rn. 218 f. <?page no="143"?> 3. Räumlicher Schutzbereich 4. Zeitlicher Schutzbereich III. Eingriff 1. Verpflichtungsadressaten a) Mitgliedstaaten b) EU c) Private 2. Eingriffsform a) Diskriminierung b) Beschränkung IV. Rechtfertigung 1. Schranken a) geschriebene Schranken b) ungeschriebene Schranken 2. Schranken-Schranken a) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz b) Unionsgrundrechte c) Diskriminierungsverbot In der juristischen Ausbildung und auch im Staatsexamen (Klausur und mündliche Prüfung) ist ein zunehmender Bedeutungszuwachs des Themas „Grundfreiheiten“ festzustellen, wobei gleichzeitig die Erwartungen an die Qualität der zu erbringenden Leistung gestiegen sind. 438 Insoweit werden in der Regel allerdings weniger Detailkenntnisse abgefragt; vielmehr ist das Verständnis der übergreifenden Strukturen Grundfreiheiten wichtig. 439 „Für die Zwecke des Examens ist es empfehlenswert, sich […] an dieser übergreifenden Dogmatik zu orientieren.“ 440 438 Cremer, Jura 2015, S. 39. 439 Sauer, JuS 2017, S. 310 (311). 440 ebd. <?page no="144"?> Aufgrund der Supranationalität der EU gelten bzw. wirken die Grundfreiheiten innerhalb der nationalen Rechtsordnung unmittelbar ( 1. Teil 3.2) und entfalten wie das übrige EU-Recht (Anwendungs-)Vorrang gegenüber dem ihnen entgegenstehenden Recht der Mitgliedstaaten ( 2. Teil 2.1), was - im Gegensatz zu Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG, die grundsätzlich zu einer bloßen Unvereinbarkeitserklärung der gleichheitswidrigen Norm mit dem GG ühren - im Fall einer Diskriminierung ( 3. Teil 1.4.2.1) zu einem Anspruch der benachteiligten Gruppe auf Gewährung der ihr bislang vorenthaltenen Vergünstigung ührt. 441 Zu bejahen ist ein derartiger Kollisionsfall freilich erst dann, wenn bei Ausschöpfung der nach dem jeweiligen nationalen Recht zur Ver ügung stehenden juristischen Methodik dieses nicht in grundfreiheitenkonformer Weise ausgelegt oder fortgebildet werden kann ( 2. Teil 1.4). Ist dies in Bezug auf Sekundärrecht nicht möglich, so ist dieses nichtig ( 2. Teil 1). An die Grundfreiheiten gebundene Privatrechtssubjekte machen sich bei einem Verstoß gegen diese nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. der betreffenden Grundfreiheitenvorschrift schadensersatzpflichtig (Grundfreiheiten als Schutzgesetz) bzw. sind grundfreiheitenwidrige Vertragsbestimmungen nichtig gem. § 134 BGB (Grundfreiheiten als Verbotsgesetz 3. Teil 1.4.1.3) 442 - dies i.S.e. Vergünstigungserstreckung allerdings nur insoweit, als sie einen Ausländermalus beinhalten. 443 Darüber hinaus kann sich aus den Grundfreiheiten auch ein Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch nach § 1004 BGB (ggf. analog) ergeben. 444 441 Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (937); ders., DVP 2013, S. 59 (60 ff.); ders., Einführung in die Grundrechte, Rn. 669, 674, jeweils m.w.N. Wenngleich der Eintritt dieser Rechtsfolge tatbestandlich eine Ungleichbehandlung voraussetzt, an der es im Fall einer unterschiedslosen Beschränkung ( 2. Teil 1.4.2.2) gerade mangelt, so dass bei dieser zwar ein Abwehranspruch (Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch, siehe Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 32), an sich aber kein „Anspruch auf ,Anpassung nach oben‘“ besteht (Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 850), so hat der EuGH auf diesen gleichwohl auch in einem Beschränkungsfall erkannt, siehe den Nachweis bei Wienbracke, NZA-RR 2017, S. 113 (122). 442 Zum Ganzen: Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 189 ff., 849 ff. 443 Wienbracke, EWiR 2017, S. 29 (30) m.w.N. 444 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 64. <?page no="145"?> Kläger K, ein im Inland berufstätiger niederländischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Venlo, beruft sich vor einem deutschen Gericht auf Art. 12 Abs. 1 GG. Der Beklagte B meint, dies sei K verwehrt. Denn nach dieser Vorschrift sind nur „Deutsche“ Träger des Grundrechts der Berufsfreiheit. Diesen Einwand weist K unter Hinweis auf den einschlägigen Art. 45 Abs. 2 AEUV zurück. Mit Erfolg? Ja. Die in Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG enthaltene Beschränkung der Grundrechtsberechtigung auf „[a]lle Deutschen“ (Art. 116 Abs. 1 GG) stellt eine auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten i.S.v. Art. 45 Abs. 2 AEUV dar. Eine mit dieser Vorschrift in Einklang stehende Auslegung dieses Merkmals dahingehend, dass von diesem neben deutschen Staatsangehörigen auch die Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten erfasst werden, ist nicht möglich, da dies den Wortlaut des Gesetzes als nach deutscher juristischer Methodik Grenze von dessen Auslegung übersteigen würde. Folglich greift der Anwendungsvorrang des EU-Rechts vor diesem widersprechenden nationalen Recht Platz, so dass es im Anwendungsbereich von Art. 45 Abs. 2 AEUV auf die Er üllung der „Deutschen“- Eigenschaft (Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG) nicht ankommt (vgl. 2. Teil 2.1). Des Weiteren sind die Grundfreiheiten wegen ihrer rechtlichen Vollkommenheit (Subsumtions ähigkeit) im Verhältnis Mitgliedstaat-Bürger unmittelbar anwendbar und begründen ür den Einzelnen jeweils ein subjektives Recht ( 2. Teil 1.1.1) - mit dessen individueller Durchsetzung im konkreten Fall zugleich das im Allgemeininteresse liegende Binnenmarktziel verwirklicht wird, sog. funktionale Subjektivierung. 445 Aus deutscher Sicht kommt die auf materiell-rechtlicher Ebene bestehende Bindung der gesamten Staatsgewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) an die unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten als „Gesetz“ i.S.v. Art. 20 Abs. 3 GG prozessual etwa dadurch zum Ausdruck, dass die im Rahmen einer Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO zu prüfende Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts an der Grundfreiheitenwidrigkeit seiner z.B. bundesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage scheitern kann. 446 445 Sauer, JuS 2017, S. 310 (311); Wienbracke, DVP 2014, S. 416 (417) m.w.N. 446 Vgl. Sauer, JuS 2017, S. 310 (315); Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 9; ders., Verwaltungsprozessrecht, Rn. 405, jeweils m.w.N. <?page no="146"?> Die in Mitgliedstaat A wohnhafte Mutter M überträgt ihrer Tochter T mit ebenfalls dortigem Wohnsitz schenkweise das Eigentum an einem im Mitgliedstaat B belegenen Grundstück im Wert von 255.000 Euro. Daraufhin setzt das dortige Finanzamt Schenkungsteuer gegenüber T i.H.v. 27.929 Euro fest. Denn während nach dem Schenkungsteuergesetz von B der Erwerb der Kinder i.H.v. 400.000 Euro steuerfrei bleibt, wenn der Schenker oder der Erwerber zur Zeit der Aus ührung der Schenkung seinen Wohnsitz im Inland hat, beträgt der Freibetrag nur 1.100 Euro, wenn beide im Ausland ansässig sind. T meint, diese Regelung verstoße gegen Art. 63 Abs. 1 AEUV. Weil diese Vorschrift im nationalen Recht unmittelbar anwendbar ist und dem Einzelnen zudem ein subjektives Recht einräumt, kann sich T vor den Behörden und Gerichten von B ohne weiteres auf sie berufen. Die entgegen einer mitunter vertretenen Auffassung 447 richtigerweise 448 nicht zu den Grundfreiheiten zählenden Grundrechte des Unionsrechts schützen zweckfrei und unabhängig vom Vorhandensein eines grenzüberschreitenden Sachverhalts namentlich die Freiheit und die Gleichheit des Einzelnen v.a. gegenüber Hoheitsakten der EU, vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 1 EU- GrCh ( 3. Teil 3). 449 Aufgrund der Höherrangigkeit des gesamten EU-Rechts auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht ist die europäische Hoheitsgewalt dem EuGH zufolge nicht an die Grundrechte des nationalen Verfassungsrechts gebunden ( 2. Teil 2.2.2). 450 Demgegenüber sind die Grundfreiheiten vornehmlich an die Mitgliedstaaten adressiert ( 3. Teil 1.4.1.1) und verbieten diesen - gemäß ihrer Eigenschaft als Instrumente zur Verwirklichung des Binnenmarktziels ( 447 Siehe etwa Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 13, § 14 Rn. 22. 448 Wie hier: Dittert, Europarecht, S. 203. Zu Art. 52 Abs. 2 EU-GrCh 3. Teil 3.1.6. 449 Classen, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 9; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 13, § 14 Rn. 22. 450 Wienbracke, DVP 2014, S. 416 (417) m.w.N. auch zur im Ausgangspunkt a.A. des BVerfG ( 2. Teil 2.2.1). <?page no="147"?> 3. Teil 1.1.1) - Diskriminierungen und Beschränkungen lediglich in Bezug auf bestimmte grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeiten ( 3. Teil 1.3.2.1 f. und 1.4.2). 451 Allerdings gehören sowohl die Grundfreiheiten als auch die Unionsgrundrechte zum Primärrecht und sind damit rechtlich gleichrangig, Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Hs. 2 EUV. Diese sog. Idealkonkurrenz kann zu Kollisionen ühren, die im Wege eines möglichst schonenden Ausgleichs der jeweils widerstreitenden Positionen aufzulösen sind, sog. praktische Konkordanz ( 2. Teil 1 a.E.). 452 Als Franchisenehmer des britischen Franchisegebers G betreibt N in Deutschland einen Laserdrome. Nachfolgend untersagt die zuständige Behörde diesen Spielbetrieb jedoch, da das spielerische Töten von Menschen gegen die Menschenwürde verstoße. Existiert ein Grund, der diesen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit rechtfertigt? Ja. Der Schutz der nicht nur die EU, sondern u.a. in Fällen wie dem vorliegenden ebenfalls die Mitgliedstaaten (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 1 EU- GrCh) bindenden Unionsgrundrechte (hier: der Menschenwürde, Art. 1 EU-GrCh) stellt nach der Omega Spielhallen-Entscheidung des EuGH (ECLI: EU: C: 2004: 614) ein berechtigtes Interesse dar, das grundsätzlich dazu geeignet ist, die Beschränkung einer Grundfreiheit - wie vorliegend derjenigen des Art. 56 AEUV - zu legitimieren ( 3. Teil 1.5.1.2). Aus normhierarchischen Gründen vermögen die gegenüber dem Primärrecht niederrangigen Grundrechte des nationalen Verfassungsrechts (wie z.B. die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde 453 ) Eingriffe in die höherrangigen primärrechtlichen Grundfreiheiten dagegen von vornherein nicht zu rechtfertigen ( 2. Teil 2.2.2). 454 Vielmehr müssen sie hierzu eine unionsgrundrechtliche Entsprechung haben. 455 Umgekehrt existieren allerdings auch solche Fälle, in denen die Unionsgrundrechte die Grundfreiheiten nicht beschränken, sondern als sog. 451 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 13. 452 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 14, § 14 Rn. 23 f.; Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 31 m.w.N. 453 Dazu: Wienbracke, VR 2016, S. 181; ders., GewArch 2016, S. 66, jeweils m.w.N. 454 Vgl. Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 640 (Fn. 190) m.w.N. 455 Wienbracke, VR 2017, S. 421 (425) m.w.N. <?page no="148"?> Schranken-Schranken deren Schutz sogar noch verstärken ( 3. Teil 1.5.2.2 und 3.2.2). 456 Dem nationalen Gesetz zur Kontrolle von Massenentlassungen zufolge sind Letztere im Mitgliedstaat C dann unwirksam, wenn dessen Arbeitsminister diese nicht genehmigt. Diese Regelung gilt auch ür solche arbeitgebenden Unternehmen, die von Anteilseignern mit Sitz im EU- Ausland beherrscht werden und in deren Niederlassungsfreiheit das Gesetz eingreift. Da dieses zudem deren unternehmerische Freiheit beschränkt, ist es nur dann mit dem EU-Recht vereinbar, wenn sowohl der Eingriff in die Grundfreiheit des Art. 49 AEUV als auch derjenige in das Uniongrundrecht des Art. 16 EU-GrCh gerechtfertigt ist (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2016: 972). Eine Grundfreiheit ist anwendbar, wenn die sich im konkreten Fall stellende Frage weder in einem wirksamen und abschließenden Sekundärrechtsakt ( 3. Teil 1.2.1) noch in speziellerem Primärrecht ( 3. Teil 1.2.2) geregelt und auch keine Bereichsausnahme ( 3. Teil 1.2.3) einschlägig ist. 457 Ebenso wie im deutschen Recht 458 entfaltet auch auf Ebene des EU-Rechts die rangniedere Norm (hier: namentlich des Sekundärrechts 2. Teil 1.3), sofern vorhanden ( 3. Teil 1.1.1), bei der praktischen Rechtsanwendung Vorrang vor der höherrangigen (Primärrechts-)Norm - wie eben der Art. 28 ff. AEUV. 459 Folge dessen ist, dass jede nationale Maßnahme in einem Bereich, der auf EU-Ebene umfassend harmonisiert wurde, anhand 456 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 14; Herdegen, Europarecht, § 14 Rn. 10. 457 Vgl. Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (485) m.w.N. 458 Dazu: Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 61 f. m.w.N. 459 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 826. Dort (Rn. 828) auch zur mitunter abweichenden Praxis des EuGH („parallele Anwendbarkeit der einschlägigen Grundfreiheit und der sie konkretisierenden Sekundärrechtsnorm“). Zu weiteren Ansätzen siehe Classen, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 6. <?page no="149"?> der Bestimmungen der fraglichen Harmonisierungsmaßnahme - und nicht anhand der (grundfreiheitlichen) Bestimmungen des Primärrechts - zu beurteilen ist (EuGH, ECLI: EU: C: 2017: 815). Dem liegt beide Male die Überlegung zugrunde, dass im Gegensatz Letzteren, die typischerweise von einem sehr hohen Abstraktionsniveau gekennzeichnet sind, Erstere regelmäßig detaillierter gefasst und damit die dem zu entscheidenden Fall näherstehende Rechtsquelle ist. 460 Sofern der Anwendungsvorrang von abschließendem primärrechtskonformen Sekundärrecht mit dessen „Spezialität“ gegenüber den Grundfreiheiten begründet wird, 461 so ist insoweit aufgrund der terminologischen Nähe zum lex specialis-Grundsatz m.E. Vorsicht geboten. Denn dieser löst die Konkurrenz zwischen solchen Normen auf, die sich auf derselben Stufe der Normenhierarchie befinden - was in Bezug auf das Verhältnis von europäischem Primärzu Sekundärrecht ja gerade nicht zutrifft ( 2. Teil 1). 462 Voraussetzung ür das Platzgreifen dieser Sperrwirkung i.S.e. Anwendungsvorrangs der (wirksamen) niedervor der höherrangigen Norm bei der Rechtsanwendung ist freilich, dass die jeweilige unterrangige (Sekundär-)Rechtsnorm nicht gegen eine solche höheren Rangs, also namentlich die primärrechtlichen Grundfreiheiten, verstößt. 463 Diese fungieren insoweit mithin lediglich als Prüfungsmaßstab - und ferner als Interpretationsdirektive (grundfreiheitenkonforme Auslegung des Sekundärrechts) - ür das ihnen im Rang nachgeordnete Recht ( 2. Teil 1). 464 Ebenfalls im Wege der Auslegung zu ermitteln ist schließlich die im vorliegenden Zusammenhang zudem zu beantwortende Frage danach, ob die durch das (primärrechts-, insbesondere grundfreiheitenkonforme) Se- 460 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 8; Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 61 m.w.N. 461 So Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 421 f.; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 10 Rn. 12; Sauer, JuS 2017, S. 310 (312, 314). 462 Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 45 ff., 63 ff. m.w.N. 463 Frenz, Europarecht, Rn. 220; Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 61 m.w.N. Dieser (Rechts-)Anwendungsvorrang ist nicht mit dem (Anwendungs-)Vorrang des EU-Rechts gegenüber diesem widersprechenden mitgliedstaatlichen Recht ( 2. Teil 2.1) zu verwechseln. 464 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 9. <?page no="150"?> kundärrecht erfolgte Harmonisierung abschließend ist, sog. Totalbzw. Vollim Gegensatz zur bloßen Mindestharmonisierung. 465 Denn nur bejahendenfalls ist es seinerseits alleiniger Prüfungsmaßstab ür das nationale Recht der Mitgliedstaaten. 466 Abb. 4: „Sandwich“-Position des (abschließenden) Sekundärrechts Zwecks Vermeidung von Verpackungsab ällen hat das Parlament des Mitgliedstaats D ein Gesetz erlassen, das die Hersteller von natürlichen Mineralwässern dazu anhält, nicht Einweg-, sondern Mehrwegverpackungen zu verwenden. Die EU-Kommission meint, dass dieses Pfand- und Rücknahmesystem zu zusätzlichen (Transport-)Kosten ür die in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Hersteller natürlicher Mineralwässer ührt und deshalb gegen Art. 34 AEUV verstoße. Dagegen macht D geltend, dass diese Vorschrift wegen Art. 4 Abs. 3 lit. a) Nr. i) der Verordnung (EWG) Nr. 259/ 93 467 vorliegend gar nicht anwendbar sei. Stimmt das, wenn diese primärrechtskonforme Bestimmung wie folgt lautet: Die Mitgliedstaaten können „im Einklang mit dem Vertrag Maßnahmen ergreifen, um die Verbringung von Ab ällen […] zu verbieten […]“? 465 Frenz, Europarecht, Rn. 220; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 826; Herdegen, Europarecht, § 15 Rn. 4. 466 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 826. 467 ABl. EG L 30 vom 6.2.1993, S. 1. <?page no="151"?> Nein. Der EuGH (ECLI: EU: C: 2004: 797) interpretiert die Wendung „im Einklang mit dem [AEU-]Vertrag” (heute: „den Verträgen“, d.h. EUV und AEUV) im Gegenteil dahingehend, dass sie gerade nicht bedeutet, dass alle im eine solche Formulierung enthaltenen Sekundärrechtsakt genannten nationalen Maßnahmen ohne Weiteres mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Vielmehr legt er sie dahingehend aus, dass der betreffende mitgliedstaatliche Rechtsakt über seine Vereinbarkeit mit dem jeweiligen Sekundärrecht hinaus auch die einschlägigen Regeln des AEUV beachten muss, hier also diejenigen der Warenverkehrsfreiheit (konkret: Art. 34 AEUV). Sofern sich eine der untereinander gleichrangigen Grundfreiheiten gegenüber einer anderen als spezieller erweist, gelangt - ebenso wie im deutschen Recht - auch im vorliegenden Zusammenhang der lex specialis- Grundsatz zur Anwendung, wonach die speziellere Norm die Anwendung der allgemeinen Vorschrift ausschließt ( 2. Teil 1). 468 Diese Verdrängungswirkung entfalten die Art. 30 ff. AEUV gegenüber den Art. 34 ff. AEUV. 469 Im Übrigen erfolgt die Abgrenzung der Grundfreiheiten untereinander nicht auf der Konkurrenz-, sondern vielmehr auf der Schutzbereichsebene ( 2. Teil 1.3.2.3). 470 Um das nationale Kulturgut von geschichtlichem und archäologischem Wert im Inland zu bewahren, hat das Parlament von Mitgliedstaat E ein Gesetz verabschiedet, wonach auf die Verbringung derartiger Kulturgüter ins Ausland eine Abgabe in Abhängigkeit vom jeweiligen Verkehrswert erhoben wird. Zur Rechtfertigung dieses Eingriffs in die Warenverkehrsfreiheit beruft sich E auf Art. 36 AEUV. Mit Erfolg? Nein. Zwar steht nach dem ausdrücklichen Wortlaut dieser Vorschrift die Bestimmung des Art. 34 AEUV solchen Ausfuhrbeschränkungen nicht entgegen, die zum Schutze des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert gerechtfertigt sind. Jedoch unterfallen tari äre Handelshemmnisse wie die hiesige Ab- 468 Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 63 ff.; ders. DVP 2014, S. 487 (492), jeweils m.w.N. 469 Leible/ T. Streinz, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 34 AEUV Rn. 47. Dort (Rn. 50) auch zu Art. 37 AEUV. Zu Art. 39 bis 44 AEUV sowie Art. 90 ff. und Art. 110 AEUV siehe sogleich. 470 Frenz, Europarecht, Rn. 224. <?page no="152"?> gabe nach der EuGH-Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 2000: 65) dem gegenüber Art. 34 AEUV spezielleren Art. 30 AEUV. Auf diesen wiederum nimmt Art. 36 AEUV allerdings gerade nicht Bezug. Denn Zölle und Abgaben gleicher Wirkung verteuern nur die Ausfuhr der ihnen unterliegenden Erzeugnisse, ohne aber das mit Art. 36 AEUV angestrebte Ziel des Schutzes des künstlerischen, geschichtlichen oder archäologischen Kulturbesitzes zu gewährleisten (EuGH, ECLI: EU: C: 1968: 51). Was das Verhältnis der Grundfreiheiten zum übrigen - mit diesen ebenfalls gleichrangigen 471 - Bestimmungen des Primärrechts anbelangt ( 2. Teil 1 und 1.1), so gilt Folgendes: Das keine ökonomische Betätigung erfordernde allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit des Art. 18 Abs. 1 AEUV (wortgleich: Art. 21 Abs. 2 EU-GrCh) tritt - anders als die übrigen, namentlich in Art. 157 Abs. 1 AEUV und Art. 20 EU-GrCh normierten Gleichheitsrechte - hinter die derartige Ungleichbehandlungen ebenfalls verbietenden, gegenüber der erstgenannten Vorschrift jedoch spezielleren grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote subsidiär zurück, vgl. Art. 18 Abs. 1 AEUV: „Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge“ ( 3. Teil 2.2.1); 472 ebenfalls als vorrangig erweisen sich die Grundfreiheiten im Verhältnis zum desgleichen keine grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit voraussetzenden Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht aus Art. 20 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 lit. a), Art. 21 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 2.1.1); 473 Sonderregelungen gegenüber den Art. 34 ff. AEUV sind nach Art. 38 Abs. 2 AEUV in den Art. 39 bis 44 AEUV ür landwirtschaftliche Erzeugnisse enthalten. 474 Für den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs i.S.v. Art. 100 AEUV gelten nach Art. 58 Abs. 1 AEUV die Bestimmungen des Titels über den Verkehr, d.h. die Art. 90 ff. AEUV. Zum Verhältnis von Art. 30 AEUV zu Art. 110 AEUV 3. Teil 1.4.2; die Anwendung der Grundfreiheiten wird durch die Qualifizierung einer Maßnahme als Beihilfe i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 471 Vgl. Wienbracke, DVP 2014, S. 487 (492) m.w.N. 472 Ehlers, in: ders., Europäische rundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 15 f.; Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (933) m.w.N. 473 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 18; Hobe, Europarecht, § 13 Rn. 633; Wienbracke, StuW 2017, S. 377 (378) m.w.N. 474 Leible/ T. Streinz, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 34 AEUV Rn. 48 f. <?page no="153"?> 4.1) richtigerweise nicht ausgeschlossen, vgl. Art. 50 Abs. 2 lit. h) AEUV (Idealkonkurrenz; str.). Selbst wenn diese Art. 107 AEUV nicht widersprechen sollte ( 3. Teil 4.2.1), so darf sie aufgrund der Systematik des AEUV (innere Widerspruchsfreiheit) gleichwohl nicht von der Kommission gem. Art. 108 AEUV als insgesamt mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden ( 3. Teil 4.2.2), wenn eine ihrer Modalitäten (z.B. die Finanzierungsweise) gegen andere Bestimmungen des AEUV verstößt (wie etwa eben die Grundfreiheiten). Handelt es sich bei der betreffenden Maßnahme hingegen nicht um eine Beihilfe i. S. v. Art. 107 Abs. 1 AEUV, so ist die Kommission nicht dazu befugt, auf das Verfahren nach Art. 108 AEUV zurückgreifen, um zu entscheiden, dass ein Verstoß gegen eine andere Bestimmung des AEUV (z.B. dessen Art. 28 ff.) vorliegt; 475 sofern im konkreten Fall eine Grundfreiheit mit einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts ( 2. Teil 1.1.3) kollidiert, ist ein möglichst schonender Ausgleich zwischen beiden herzustellen, sog. praktische Konkordanz ( 2. Teil 1 a.E.). 476 Sofern im AEUV ausdrücklich 477 so angeordnet, findet die betreffende Grundfreiheit in bestimmten Bereichen von vornherein keine Anwendung. Soweit dies in Bezug auf den konkreten Sachverhalt zutrifft, ist bereits ihr sachlicher Schutzbereich nicht eröffnet und die Prüfung damit i.d.S. beendet, dass keine Grundfreiheitenverletzung vorliegt. 478 Enthalten sind die demnach richtigerweise nicht als Rechtfertigungsnormen (Schranken 3. Teil 1.5.1) 479 zu qualifizierenden Bereichsausnahmen in Art. 45 Abs. 4 und Art. 51 Abs. 1 (ggf. i.V.m. Art. 62) AEUV; ferner siehe Art. 51 Abs. 2, Art. 64 Abs. 1 480 , Art. 106 Abs. 2 und Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV. Die in 475 Zum Ganzen: Wienbracke, WRP 2016, S. 294 (299) m.w.N. auch zur a.A. (Subsidiarität der Grundfreiheiten gegenüber den Art. 107 ff. AEUV). 476 Vgl. Wienbracke, DVP 2014, S. 487 (492) m.w.N. 477 Ungeschriebene Bereichsausnahmen gibt es nicht, siehe Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 12. 478 Vgl. Frenz, Europarecht, Rn. 222, 232. 479 Ebenso: Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 438; Streinz, Europarecht, Rn. 861. Nachweise zur a.A. bei Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 82. 480 Zur Qualifizierung dieser stand still-Klausel als Bereichsausnahme siehe Wienbracke, VR 2018, S. 25 (26, Fn. 10) m.w.N. auch zur hiervon abweichenden h.M. (geschriebener Rechtfertigungsgrund). <?page no="154"?> ihnen jeweils verwendeten Begriffe sind aufgrund ihres Charakters als Ausnahmevorschriften nach allgemeiner juristischer Methodik eng auszulegen (singularia non sunt extendenda 2. Teil 1.4). 481 Aufgrund der Höherrangigkeit des gesamten EU-Rechts vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten und mangels abweichender diesbezüglicher Regelung dürfen die im AEUV zur Kennzeichnung einer grundfreiheitlichen Bereichsausnahme verwendeten Begriffe keinesfalls nach Maßgabe des jeweiligen mitgliedstaatlichen Verständnisses ausgelegt werden, sondern hat dies vielmehr rein unionsrechtsautonom zu erfolgen ( 2. Teil 1.4). 482 Der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ i.S.v. Art. 45 Abs. 4 AEUV betrifft nach der diesbezüglichen EuGH-Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 2003: 515) diejenigen Stellen, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung von Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind, so dass sie ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen. S ist Staatsangehöriger des Mitgliedstaats F. Kurz nach seiner Geburt sind die Eltern von S mit diesem in den Mitgliedstaat G verzogen, wo die Familie seitdem lebt. Nach dortigem Schulabschluss möchte S nunmehr Soldat in den Streitkräften von G werden. Unter Hinweis auf seine auswärtige Staatsangehörigkeit wird die Bewerbung von S jedoch zurückgewiesen. Dieser sieht hierin einen Verstoß gegen Art. 45 Abs. 2 AEUV. Zu Recht? Nein. Art. 45 Abs. 2 AEUV, der die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Beschäftigung vorschreibt, ist im hiesigen Fall nicht anwendbar. Denn bei der von S angestrebten Tätigkeit als Soldat handelt es sich - ebenso wie bei derjenigen etwa im 481 Vgl. Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (485 f.) m.w.N. 482 ebd. <?page no="155"?> Bereich der Rechtspflege und der Steuerverwaltung - um eine „Beschäftigung in der öffentlichen [Eingriffs-]Verwaltung“ i.S.v. Art. 45 Abs. 4 AEUV. Auf eine solche finden nach dieser Vorschrift die übrigen Bestimmungen des Art. 45 AEUV (u.a. dessen Abs. 2) aber von vornherein keine Anwendung. Der Begriff „Ausübung öffentlicher Gewalt“ i.S.v. Art. 51 Abs. 1 AEUV erfasst Tätigkeiten, die als solche unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse (Entscheidungs-/ Zwangsbefugnisse, Einsatz von Zwangsmitteln) verbunden sind, nicht hingegen bloße Hilfs- oder Vorbereitungstätigkeiten hier ür. 483 Nach § 5 BNotO a.F. durfte nur ein deutscher Staatsangehöriger zum Notar bestellt werden. Während die Kommission hierin einen Verstoß gegen Art. 49 Abs. 1 AEUV sah, machte die Bundesrepublik Deutschland geltend, dass die deutschen Notare i.S.v. Art. 51 Abs. 1 AEUV an der Ausübung öffentlicher Gewalt mitwirkten, insbesondere bei ihrer Haupttätigkeit der Erstellung von Urkunden. Stimmt das? Nein. Die den Notaren in der deutschen Rechtsordnung übertragenen Tätigkeiten sind nicht unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt i.S.v. Art. 51 Abs. 1 AEUV verbunden. So besteht die Haupttätigkeit der Notare nach der deutschen Rechtsordnung darin, öffentliche Urkunden in der gesetzlichen Form zu erstellen. Dabei müssen sie u.a. prüfen, dass alle gesetzlichen Voraussetzungen ür die Erstellung dieser Urkunden er üllt sind, welche Beweiskraft besitzen und vollstreckbar sind. Allerdings werden nach den deutschen Rechtsvorschriften nur solche Akte oder Verträge beurkundet, denen sich die Parteien freiwillig unterworfen haben. Es sind nämlich die Parteien, die - innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Grenzen - selbst über den Umfang ihrer Rechte und Pflichten entscheiden und die Bestimmungen, denen sie sich unterwerfen wollen, frei wählen können, wenn sie dem Notar einen Akt oder einen Vertrag zur Beurkundung unterbreiten. Dessen Tätigwerden setzt daher das Zustandekommen einer vorherigen Willensübereinstimmung der Parteien voraus; zudem darf der Notar den von ihm zu beurkundenden Vertrag nicht ohne vorherige Einholung der Zustimmung der Parteien einseitig ändern. Daher ist die Beurkundungstätigkeit der Notare als solche nicht i.S.v. Art. 51 Abs. 1 AEUV mit einer 483 EuGH, ECLI: EU: C: 2011: 339, Rn. 86 f.; Kotzur, in: Geiger/ Khan/ Kotzur, EUV/ AEUV, Art. 51 Rn. 2. <?page no="156"?> unmittelbaren und spezifischen Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2011: 339). Entsprechend ihrer Zielsetzung, nämlich dem berechtigten Interesse der Mitgliedstaaten daran Rechnung zu tragen, ihren jeweils eigenen Staatsangehörigen diejenigen Stellen vorzubehalten, die einen Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und der Wahrung allgemeiner Belange aufweisen, sind die Bereichsausnahmevorschriften zudem teleologisch dahingehend zu reduzieren, dass sie ihrerseits nur auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten, nicht hingegen auch auf eigene Staatsangehörige, Anwendung finden. 484 Im vorletzten Beispielsfall des S bewirbt dieser sich nunmehr bei F auf eine Stelle als Polizist. Unter Hinweis darauf, dass es S an dem hier ür nach der einschlägigen nationalen Bestimmung zwingend erforderlichen Schulabschlusszeugnis von F fehlt, wird seine Bewerbung abermals zurückgewiesen. Dem Einwand von S, dass dies gegen Art. 45 Abs. 2 AEUV verstoße, hält F Art. 45 Abs. 4 AEUV entgegen. Mit Erfolg? Nein. Zwar handelt es sich bei der diesmal von S ins Auge gefassten Tätigkeit als Polizist wiederum um eine „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ i.S.v. Art. 45 Abs. 4 AEUV. Doch werden dem EuGH (ECLI: EU: C: 2015: 652) zufolge von dieser Bereichsausnahme nur die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten erfasst, nicht hingegen auch die jeweils eigenen Staatsangehörigen wie hier S. Der Schutzbereich einer Grundfreiheit ist eröffnet, wenn die von dieser in persönlicher ( 3. Teil 1.3.1), sachlicher ( 3. Teil 1.3.2), räumlicher ( 3. Teil 1.3.3) und zeitlicher ( 3. Teil 1.3.4) Hinsicht gestellten Anforderungen er üllt sind. Während die Produktverkehrsfreiheiten der Art. 28 ff. und Art. 63 ff. AEUV entsprechend ihrer Objektbezogenheit (auf Waren bzw. den Kapital- und Zahlungsverkehr) auf Ebene des Schutzbereichs in persönlicher Hinsicht keinerlei Einschränkungen enthalten - und sich demgemäß sowohl Staatsangehörige der Mitgliedstaaten als auch Drittstaatsangehörige auf 484 Wienbracke, NZA-RR 2016, S. 113 (116 f.) m.w.N. <?page no="157"?> sie zu berufen vermögen -, unterfallen dem Schutzbereich der subjektbezogenen Grundfreiheiten nach dem ausdrücklichen Vertragswortlaut jeweils nur solche Personen, die (nur oder auch) „Staatsangehörige […] eines Mitgliedstaats“ sind (Art. 49 Abs. 1 S. 1 AEUV; i.d.S. ebenfalls Art. 45 Abs. 2 AEUV: „Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten“ und Art. 56 Abs. 1 AEUV: „Angehörige der Mitgliedstaaten“). 485 Wer Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, richtet sich nach dessen jeweiligem nationalen Recht; in Deutschland sind alle Deutschen i.S.v. Art. 116 GG Angehörige dieses Mitgliedstaats. 486 Aufgrund von völkerrechtlichen Abkommen der EU (Art. 217 AEUV) sind bestimmte Drittstaatsangehörige den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten (teilweise) gleichgestellt. 487 So heißt es etwa in Art. 28 Abs. 2 EWR-Abkommen, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der EU-Mitgliedstaaten und der EFTA-Staaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen umfasst. Darüber hinaus haben die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten einerseits und die Schweizerische Eidgenossenschaft andererseits am 21. Juni 1999 sieben (u.a. Freizügigkeits-)Abkommen 488 unterzeichnet (sog. Bilaterale Verträge I), die am 1. Juni 2002 in Kraft getreten sind. 489 Finanzinvestor F ist Anteilseigner der Düsseldorfer A-AG mit mehreren 10.000 Arbeitnehmern. Durch eine Vorschrift des deutschen kollektiven Arbeitsrechts sieht sich F in seinen unionsrechtlichen Grundfreiheiten verletzt. Wird F als US-amerikanischer Staatsangehöriger überhaupt von diesen geschützt? 485 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 43 f., 50. 486 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 43 f. 487 Streinz, Europarecht, Rn. 816. 488 Beschluss 2002/ 309/ EG, Euratom des Rates und der Kommission vom 4. April 2002, ABl. EG 2002 L 114, S. 1. Zur sog. Guillotine-Klausel, mit denen diese untereinander verbunden sind, siehe Wienbracke, NZA-RR 2016, S. 113 (117) m.w.N. 489 Zur Türkei siehe Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1, Rn. 306 f. <?page no="158"?> Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, welche Grundfreiheit im hiesigen Fall einschlägig ist. In Betracht kommen die Niederlassungs- und die Kapitalverkehrsfreiheit. Während Art. 49 Abs. 1 AEUV Beschränkungen der freien Niederlassung explizit nur von „Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats“ - nicht hingegen auch von Drittstaatsangehörigen wie F - verbietet, untersagt Art. 63 Abs. 1 AEUV alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs nicht bloß zwischen den Mitgliedstaaten, sondern ausdrücklich ebenfalls „zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ - ohne dabei Anforderungen an die Staatsangehörigkeit der sich hierauf berufenden Person zu stellen, so dass bei Einschlägigkeit der Kapitalverkehrsfreiheit in persönlicher Hinsicht auch der US-Amerikaner F geschützt wäre. Zusätzlich zur Unionsbürgerschaft (Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV, Art. 9 S. 2 EUV 3. Teil 2) verlangen Art. 49 Abs. 1 S. 2 und Art. 56 Abs. 1 AEUV ferner jeweils noch die Ansässigkeit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats. Während mit dieser im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit der Wohnsitz gemeint ist, kommt es im Rahmen der Niederlassungsfreiheit insofern auf den Ort der gewerblichen Tätigkeit an. 490 Weil sich die Trennung von Ehegatten nachteilig auf ihr unionsgrundrechtlich geschütztes Familienleben (Art. 7, Art. 9 und Art. 33 EU-GrCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK) auswirken würde und die in der konkreten Entscheidung einschlägige Dienstleistungsfreiheit ihre volle Wirkung (effet utile, vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV 2. Teil 1.4) nicht entfalten könnte, wenn der nach Art. 56 Abs. 1 AEUV berechtigte Unionsbürger von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten würde, die in seinem Herkunftsland ür die Einreise und den Aufenthalt seines drittstaatsangehörigen Ehegatten bestehen, ver ügt auch Letzterer nach dem Carpenter-Urteil des EuGH (ECLI: EU: C: 2002: 434) über ein - vom eigentlich berechtigten Unionsbürger abgeleitetes - Aufenthaltsrecht (zu weiteren Familienangehörigen siehe auf sekundärrechtlicher Ebene die in Art. 2 Nr. 2 der Freizügigkeits- Richtlinie 2004/ 38/ EG 491 Genannten). Im Schrifttum wird diese Rechtsprechung auf die Personenverkehrsfreiheiten des Art. 45 und Art. 49 AEUV übertragen. 492 490 Forsthoff, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 49 AEUV Rn. 56; Kluth, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 57 AEUV Rn. 36. 491 ABl. EU L 158 vom 30.4.2004, S. 77. 492 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 429; Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (494) m.w.N. <?page no="159"?> Wenngleich Art. 199 Nr. 4 AEUV nicht nur in Bezug auf natürliche, sondern ebenfalls bezüglich juristischer Personen die „Staatsangehörigkeit“ u.a. der Mitgliedstaaten voraussetzt, so kann Letzteres richtigerweise doch lediglich in einem untechnischen Sinn gemeint sein. 493 Denn Träger der Unionsbürgerschaft sind allein natürliche Personen, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind ( 3. Teil 2). 494 Vielmehr erweist sich der Begriff „Staatszugehörigkeit“ im Hinblick auf juristische Personen als zutreffend. 495 Folglich sind diese und sonstige Personenmehrheiten nur insoweit Berechtigte der (subjektbezogenen) Grundfreiheiten, wie sie den natürlichen Personen, die Angehörige eines Mitgliedstaats sind, gleichgestellt werden. 496 Dies ist nach Art. 54 Abs. 1 AEUV unter dort genannten Voraussetzungen ür die Anwendung der Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit der Fall und i.V.m. Art. 62 AEUV ebenfalls im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit. Für die auch den Arbeitgeber als Marktgegenseite schützende Arbeitnehmerfreizügigkeit ( 3. Teil 1.3.2.4) kann nichts anderes gelten. 497 Die Produktverkehrsfreiheit der Art. 28 ff. und Art. 63 ff. AEUV enthalten in persönlicher Hinsicht ohnehin keine Einschränkungen (s.o.). 498 Voraussetzung ür das Eingreifen der vorgenannten Rechtsfolge „Gleichstellung“ ist nach Art. 54 Abs. 1 AEUV, dass folgende Tatbestandsmerkmale er üllt sind: [1] Gesellschaft, [2] die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet wurde und [3] ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der EU hat. 499 Die Staatsangehörigkeit der Gesellschafter ist dagegen ohne Bedeutung. 500 493 Vgl. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 10 Rn. 1041. 494 Magiera, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 20 AEUV Rn. 29. 495 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 959. 496 Vgl. Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 427, 430; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 831. 497 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 47. 498 Hierauf hinweisend: Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 17. 499 Dies muss nicht im Gründungsstaat sein, siehe Jung, in: Schwarze, EU- Kommentar, Art. 54 AEUV, Rn. 14. <?page no="160"?> Nach der Legaldefinition des Art. 54 Abs. 2 AEUV gelten als Gesellschaften i.S.v. Art. 54 Abs. 1 AEUV solche des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen - aus deutscher Sicht also u.a. die GbR, oHG, KG, GmbH und AG. 501 Ob eine Gesellschaft nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats (wirksam) gegründet wurde, richtet sich nach dem Recht des Gründungsmitgliedstaats. 502 Die nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats H gegründete Gesellschaft G möchte unter Beibehaltung ihrer nach diesen bestehenden Rechtspersönlichkeit ihre Hauptverwaltung in den Mitgliedstaat I verlegen. Nach dem Recht von H ist eine solche identitätswahrende Sitzverlegung ins Ausland jedoch nicht möglich. Vielmehr muss sie hiernach in H zunächst aufgelöst und sodann in I neu gegründet werden. G meint, dies beschränke sie in ihrem Recht aus Art. 49 Abs. 1 AEUV, sind im Liquidationsfall doch die stillen Reserven zu versteuern. Ist G überhaupt Berechtigte der Niederlassungsfreiheit? G ist berechtigt, sich auf Art. 49 Abs. 1 AEUV zu berufen, wenn die diesbezügliche Vorfrage nach dem Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 54 Abs. 1 AEUV zu bejahen ist. Dies ist vorliegend jedoch gerade nicht der Fall. In der ür die hiesige Wegzugskonstellation grundlegenden Daily Mail-Entscheidung (ECLI: EU: C: 1988: 456) hat der EuGH nämlich erkannt, dass Gesellschaften, im Gegensatz zu natürlichen Personen, aufgrund einer - beim gegenwärtigen Stand des EU-Rechts: nationalen - Rechtsordnung gegründet werden, jenseits derer sie jedoch keine Realität haben. Daran anknüpfend hat der EuGH im Fall Cartesio (ECLI: EU: C: 2008: 723) ausge ührt, dass ein Mitgliedstaat sowohl die Anknüpfung bestimmen kann, die eine Gesellschaft aufweisen muss, um als nach seinem innerstaatlichen Recht gegründet angesehen zu werden, als auch diejenige Anknüpfung, welche ür den Erhalt dieser Eigenschaft verlangt wird. Diese Befugnis umfasst nach dieser Rechtsprechung die Möglichkeit ür diesen Mitgliedstaat, es einer Gesellschaft seines nationalen Rechts nicht zu gestatten, diese Eigenschaft zu behal- 500 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 46. 501 Müller-Graf, in: Streinz, EU/ AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 4. 502 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 119. <?page no="161"?> ten, wenn sie sich durch die Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat dort neu organisieren möchte und damit die Anknüpfung löst, die das nationale Recht des Gründungsmitgliedstaats vorsieht. Die im Mitgliedstaat J gegründete Gesellschaft G erwarb im Mitgliedstaat K ein Grundstück, das sie vom lokalen Unternehmen U bebauen ließ. Nachdem zwei Staatsangehörige von K mit dortigem Wohnsitz sämtliche Anteile an G erworben hatten, verklagte diese U vor dem zuständigen Zivilgericht von K auf Ersatz der Kosten ür die Beseitigung von Baumängeln. U beantragt, die Klage als unzulässig abzuweisen. Denn auch wenn G in J weiterhin ihren satzungsmäßigen Sitz habe und nach dessen Recht wirksam fortbestehe, sei sie doch in K wegen der dort vorherrschenden sog. Sitztheorie nicht rechts- und damit nicht partei ähig. Ist eine solche Sichtweise mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar? Nein. Wie der EuGH in Bezug auf die hier gegebene Zuzugskonstellation im insofern grundlegenden Fall Überseering 503 (ECLI: EU: C: 2002: 632) entschieden hat, setzt die Inanspruchnahme der (primären) Niederlassungsfreiheit zwingend die Anerkennung jeder die Voraussetzungen des Art. 54 Abs. 1 AEUV er üllenden Gesellschaft durch alle Mitgliedstaaten voraus, in denen sie sich niederlassen will. Folglich verstößt es gegen Art. 49 Abs. 1 S. 1 AEUV, wenn einer Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats (hier: J), in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats (hier: K) angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechts ähigkeit und damit die Partei ähigkeit vor seinen nationalen Gerichten ür das Geltendmachen von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen (hier: U) abgesprochen wird. Das vorerwähnte Überseering-Urteil ist auf eine Vorlagefrage des BGH hin ergangen ( 2. Teil 6.5). Nach ihrer Beantwortung durch den EuGH hat der BGH (BGHZ 154, 185) im Ausgangsrechtsstreit 503 Welche Bedeutung der späteren VALE-Entscheidung (EuGH, ECLI: EU: C: 2012: 440) insofern zukommt, ist umstritten, siehe den Meinungsüberblick bei Tiedje, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 54 Rn. 73. Diese Entscheidung gehört zusammen mit v.a. denjenigen in Sachen Daily Mail (1988), Centros (1999), Überseering (2002), Inspire Art (2003), Sevic (2005), Cartesio (2008) und Polbud (2017) zu den bisherigen Leitentscheidungen des EuGH zum europäischen Gesellschaftsrecht. <?page no="162"?> entschieden, dass das Ergebnis seiner bis dahin ständigen Rechtsprechung zum deutschen internationalen Gesellschaftsrecht, wonach sich die Rechts ähigkeit einer Gesellschaft nach dem Recht am Ort ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes beurteile (sog. Sitztheorie), mit Art. 49 und Art. 54 AEUV nicht vereinbar sei. Vielmehr hält es der BGH insoweit ür erforderlich, die betreffende ausländische Gesellschaft nach deutschem internationalen Gesellschaftsrecht hinsichtlich ihrer Rechts ähigkeit dem Recht desjenigen Staates zu unterstellen, in dem sie gegründet worden ist, sog. Gründungstheorie. Außerhalb des Anwendungsbereichs der Niederlassungsfreiheit - also namentlich bezüglich Gesellschaften aus Drittstaaten - besteht dagegen kein unionsrechtlicher Grund, von der Sitztheorie abzuweichen. 504 Satzungsmäßiger Sitz i.S.v. Art. 54 Abs. 1 AEUV ist der in der Satzung der Gesellschaft genannte (formelle) Sitz. 505 Hauptverwaltung i.S.v. Art. 54 Abs. 1 AEUV ist der Ort, an dem die Willensbildung und die eigentliche unternehmerische Leitung der Gesellschaft erfolgt, d.h. i.d.R. der Sitz der hier ür zuständigen Organe. 506 Hauptniederlassung i.S.v. Art. 54 Abs. 1 AEUV ist der tatsächliche Geschäftsschwerpunkt, d.h. der Ort, an dem die wesentlichen Personalbzw. Sachmittel konzentriert sind (z.B. zentrale Produktionsstätte einer Fabrik). 507 Voraussetzung ür die Eröffnung des sachlichen Schutzbereich einer Grundfreiheit ist zunächst, dass der konkrete Sachverhalt von ihrem Schutzgut erfasst wird. 508 Der dieses jeweils festlegende Begriff ist weit auszulegen, um der betreffenden Grundfreiheit zu voller Wirksamkeit zu 504 Dittert, Europarecht, S. 251. 505 Kotzur, in: Geiger/ Khan/ Kotzur, EUV/ AEUV, Art. 54 Rn. 7. 506 Tiedje, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 54 Rn. 28. 507 ebd. 508 Vgl. Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (488) m.w.N. <?page no="163"?> verhelfen (effet utile, vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV 2. Teil 1.4). 509 Aufgrund der Höherrangigkeit des gesamten EU-Rechts gegenüber dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten dürfen die im AEUV zur Kennzeichnung des sachlichen Schutzbereichs einer Grundfreiheit verwendeten Begriffe keinesfalls nach Maßgabe des jeweiligen mitgliedstaatlichen Verständnisses ausgelegt werden, sondern hat dies vielmehr rein unionsrechtsautonom zu erfolgen ( 2. Teil 1.4). 510 [1] Schutzgut von Art. 30 und Art. 34 f. AEUV sind nach Art. 28 Abs. 2 AEUV die aus den Mitgliedstaaten stammenden „Waren“ sowie diejenigen „Waren“ aus dritten Ländern, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Waren i.S.v. Art. 28 Abs. 2 AEUV sind nach der EuGH-Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 1968: 51) Erzeugnisse, die einen Geldwert haben und deshalb Gegenstand von Handelsgeschäften sein können. Im Gegensatz zum Begriff „Sache“ i.S.v. § 90 BGB kommt es ür die Qualifizierung eines Erzeugnisses als „Ware“ i.S.v. Art. 28 Abs. 2 AEUV nicht auf dessen Körperlichkeit an, weshalb beispielsweise auch elektrischer Strom hierunter ällt. 511 Um die mit dem Drogentourismus aus dem angrenzenden EU-Ausland verbundenen negativen Begleiterscheinungen (Müll- und Parkplatzprobleme etc.) zu bekämpfen, hat der Gemeinderat von Maastricht beschlossen, dass die Inhaber der dort angesiedelten Coffeeshops nur solchen Personen Zutritt zu ihren Lokalen gestatten dürfen, die ihren Wohnsitz in den Niederlanden haben. B, der in Maastricht einen Coffeeshop betreibt und in diesem „weiche“ Drogen wie Cannabis verkauft, hält diese Regelung ür unvereinbar mit Art. 34 AEUV. Stimmt das, wenn außerhalb des streng überwachten Handels zur Verwendung ür medizinische und wissenschaftliche Zwecke das Inverkehrbringen von 509 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 452. 510 Vgl. Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (488) m.w.N. 511 Cremer, Jura 2015, S. 39 (44.) <?page no="164"?> Betäubungsmitteln in allen Mitgliedstaaten verboten ist, das Königreich der Niederlande aus Opportunitätsgründen aber eine Politik der Toleranz gegenüber dem Verkauf und Konsum von Cannabis betreibt? Nein. Denn solche Güter, die - wie hier das Betäubungsmittel Cannabis - in sämtlichen 512 Mitgliedstaaten verboten und damit deren Wirtschaftsverkehr von vornherein entzogen sind, werden von den dessen Liberalisierung dienenden Grundfreiheiten nicht geschützt. Daran ändert nach dem EuGH-Urteil im Fall Josemans (ECLI: EU: C: 2010: 774) auch der Umstand nichts, dass das Königreich der Niederlande gegenüber dem Verkauf von Cannabis eine Toleranzpolitik anwendet, um so in Anbetracht der begrenzten personellen und materiellen Ausstattung der nationalen Strafverfolgungsbehörden der Bekämpfung anderer, als geährlicher eingestuften Delikte Vorrang einzuräumen. Insbesondere ührt diese Politik hiernach nicht etwa zur Gleichstellung des unerlaubten Drogenhandels mit dem von den zuständigen Stellen streng überwachten Handel im medizinischen und wissenschaftlichen Bereich. Während Letzterer nämlich legalisiert ist, bleibt dem EuGH zufolge der Betäubungsmittelhandel im Übrigen, selbst wenn er in bestimmten Grenzen rein tatsächlich toleriert wird, rechtlich verboten. Eine Ware stammt dann i.S.v. Art. 28 Abs. 2 AEUV aus einem Mitgliedstaat (sog. Unionsware), wenn sie a) im Zollgebiet der Union vollständig gewonnen oder hergestellt wurde und bei ihrer Herstellung keine aus Ländern oder Gebieten außerhalb des Zollgebiets der Union einge ührten Waren verwendet wurden, b) aus Ländern oder Gebieten außerhalb des Zollgebiets der Union in dieses Gebiet verbracht und zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen wurde oder c) im Zollgebiet der Union entweder ausschließlich aus Waren nach Buchstabe b) oder aus Waren nach den Buchstaben a) und b) gewonnen oder hergestellt wurde, siehe Art. 5 Nr. 23 UZK. 513 512 Demgegenüber unterfällt eine in mehreren anderen Mitgliedstaaten legal praktizierte, entgeltliche Tätigkeit auch dann Art. 56 Abs. 1 AEUV, wenn sie im betreffenden Mitgliedstaat verboten ist, siehe EuGH, ECLI: EU: C: 1991: 378, Rn. 31 f. 513 Hierauf auch auf primärrechtlicher Ebene abstellend: Kamann, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 28 AEUV Rn. 22. Ebenso Dittert, Europarecht, S. 205 unter weiterem Hinweis auf Art. 5 Nr. 24 und Art. 60 ff. UZK. <?page no="165"?> Waren, an deren Herstellung mehr als ein Land oder Gebiet beteiligt sind, gelten nach Art. 60 UZK als Ursprungswaren des Landes oder Gebiets, in dem sie der letzten wesentlichen, wirtschaftlich gerechtfertigten Be- oder Verarbeitung unterzogen wurden, die in einem dazu eingerichteten Unternehmen vorgenommen wurde und zur Herstellung eines neuen Erzeugnisses ge ührt hat oder eine bedeutende Herstellungsstufe darstellt. 514 Autohändler A verkauft in Frankfurt a.M. Pkw an Endkunden. Die Pkw importiert A aus Polen, wo diese von - hierzu erforderlichen - qualifizierten Fachkräften in einer besonders ür die Montage ausgerüsteten Fabrik unter Einsatz von hochentwickelten Gerätschaften aus in China vorgefertigten Einzelteilen zusammengesetzt werden. Das zuständige deutsche Hauptzollamt (HZA) ist der Auffassung, dass die Pkw damit aus China stammen und beabsichtigt daher, Zoll nachzuerheben. Bei der Fabrik in Polen handele es sich nämlich um eine bloße „Schraubenzieherfabrik“, in der lediglich Einzelteile ausgepackt und zusammengesetzt würden. Dies stelle keine ursprungsbegründende wesentliche und wirtschaftlich gerechtfertigte Be- oder Verarbeitung dar. Zudem sei die durch die dortige Montage erzielte Wertschöpfung gering. A hingegen ist der Meinung, dass die Pkw aus dem Mitgliedstaat Polen stammten, so dass bei ihrer Einfuhr nach Deutschland gem. Art. 30 AEUV kein Zoll erhoben werden dürfe. Hat A Recht? Ja, die Pkw stammen aus Polen mit der Folge des Eingreifens von Art. 30 AEUV. Denn bei ihrer dortigen Zusammensetzung, welche Arbeitskräfte mit besonderer Qualifikation unter Einsatz von hochentwickelten Gerätschaften in einer besonders ür die Montage ausgerüsteten Fabrik erfordert, handelt es sich um eine wesentliche Bebzw. Verarbeitung - und nicht um bloß einfache Zusammensetzungsarbeiten, die nicht geeignet sind, zu den wesentlichen Merkmalen oder Eigenschaften der betreffenden Ware beizutragen. Vielmehr bildet die Montage in Polen aus technischer Sicht und im Hinblick auf die Definition der Ware „Pkw“ die entscheidende Herstellungsstufe, auf der die Bestimmung der verwendeten Bestandteile konkretisiert wird und auf der der Ware ihre besonderen qualitativen Eigenschaften verliehen werden; die Pkw- Einzelteile nützen dem Endkunden i.d.R. nichts. Das vom HZA ange- 514 Zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien siehe EuGH, ECLI: EU: C: 1989: 637, Rn. 11 ff. Zum Sekundärrecht als „Auslegungshilfe“ für das Primärrecht s.u. zur Kapitalverkehrsfreiheit. <?page no="166"?> ührte Kriterium der durch die Montage erzielten Wertschöpfung käme nur hilfsweise dann zur Anwendung, wenn sich der Ursprung der Ware nicht anhand technischer Kriterien bestimmen ließe (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1989: 637). Nach Art. 29 AEUV gelten diejenigen Waren aus dritten Ländern als i.S.v. Art. 28 Abs. 2 AEUV im freien Verkehr eines Mitgliedstaats befindlich, ür die in dem betreffenden Mitgliedstaat die Einfuhrörmlichkeiten er üllt sowie die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben gleicher Wirkung erhoben und nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind. [2] Schutzgut von Art. 45 Abs. 1 bis 3 AEUV ist die Freizügigkeit der „Arbeitnehmer“ (zur Erstreckung auf Arbeitgeber als sog. Marktgegenseite 2. Teil 1.3.2.4). Arbeitnehmer i.S.v. Art. 45 Abs. 1 bis 3 AEUV ist nach der EuGH- Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 1986: 284), wer während einer bestimmten Zeit ür einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, ür die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Der deutsche Staatsangehörige S war über 20 Jahre als Beamter beim Land NRW beschäftigt, bevor er auf eigenen Wunsch hin aus dem Beamtenverhältnis ausschied, um sodann aus persönlichen Gründen in Österreich eine Tätigkeit als Lehrer aufzunehmen. Während sein Anspruch auf Altersrente in Deutschland nunmehr nur gut 1.000 EUR beträgt, hätte er ohne Verlust seiner Versorgungsanwartschaften durch Entlassung aus dem Beamtenverhältnis dort einen Anspruch auf Versorgungsbezüge i.H.v. monatlich ca. 2.700 EUR. S meint, die dem zugrunde liegende Regelung verstoße gegen Art. 45 Abs. 2 AEUV, weil sie Beamte davon abhalten könne, eine Beschäftigung im EU-Ausland aufzunehmen. Handelt es sich bei diesen um Arbeitnehmer i.S.d. Vorschrift, wenn nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAGE 103, 20) Arbeitnehmer nur sein kann, wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist? Ja. Da die Grundfreiheiten als Teil des Primärrechts an der Spitze der Normenhierarchie stehen, ist es aus methodischen Gründen nicht zulässig, <?page no="167"?> ihre jeweiligen Schutzgüter nach Maßgabe namentlich des niederrangigen nationalen Rechts zu bestimmen; vielmehr hat die Begriffsbestimmung autonom unionsrechtlich zu erfolgen ( 2. Teil 1.4). Dass ein Arbeitnehmer in einem Beamtenverhältnis steht oder dass sein Beschäftigungsverhältnis nicht dem Privatrecht, sondern dem öffentlichen Recht unterliegt, d.h. die rechtliche Natur des Beschäftigungsverhältnisses, erachtet der EuGH (ECLI: EU: C: 2007: 251) jedoch gerade als unerheblich im Hinblick auf die Frage, ob dieses Art. 45 AEUV unter ällt. [3] Schutzgut von Art. 49 Abs. 1 S. 1 AEUV ist die primäre „Niederlassungs“-freiheit, d.h. die Freiheit der Hauptniederlassung. Demgegenüber schützt Art. 49 Abs. 1 S. 2 AEUV mit der Gründung von rechtlich unselbstständigen Agenturen und Zweigniederlassungen sowie von rechtlich selbstständigen Tochtergesellschaften die sog. sekundäre Niederlassungsfreiheit. 515 Niederlassung i.S.v. Art. 49 Abs. 1 AEUV bedeutet die tatsächliche Ausübung einer wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit (EuGH, ECLI: EU: C: 1991: 320). Nach dem Gesellschaftsrecht des Mitgliedstaats N setzt die Errichtung einer Gesellschaft die Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals i.H.v. 25.000 EUR voraus. Da Existenzgründer E, ein Staatsangehöriger von N mit dortigem Wohnsitz, dieses jedoch nicht aufbringen kann, gründet er zunächst in rechtmäßiger Weise die Gesellschaft G im Mitgliedstaat O, nach dessen gesellschaftsrechtlichen Vorschriften das Mindestgesellschaftskapital lediglich 1,- EUR beträgt. Daraufhin beantragt E in seiner Eigenschaft als Geschäfts ührer von G die Eintragung einer Zweigniederlassung von G im Handelsregister von N, wo G ihre gesamte Geschäftstätigkeit ausübt. Dieser Antrag wurde jedoch abgewiesen, weil G, die seit ihrer Errichtung keinerlei Geschäftstätigkeit in O entfaltet hat, unter Umgehung der Vorschriften von N über die Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals in Wirklichkeit beabsichtige, dort einen Hauptsitz - und nicht eine Zweigniederlassung - zu errichten. Hiergegen beruft sich G auf Art. 49 Abs. 1 S. 2 AEUV. Mit Erfolg? 515 Zum Ganzen: Korte, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 29. <?page no="168"?> Nach der Centros-Entscheidung 516 des EuGH (ECLI: EU: C: 1999: 126) ist diese Frage zu bejahen. Zwar ist nach dessen Rechtsprechung ein Mitgliedstaat dazu berechtigt, Maßnahmen zu treffen, die verhindern sollen, dass sich seine Staatsangehörigen unter Missbrauch der durch den AEUV geschaffenen Möglichkeiten der Anwendung des nationalen Rechts entziehen; die missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf das Unionsrecht ist nicht gestattet. Doch sind bei der Würdigung des jeweiligen Verhaltens die Ziele der fraglichen Grundfreiheitenbestimmung zu beachten. Ziel von Art. 49 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Art. 54 Abs. 1 AEUV ist es jedoch gerade, einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats errichteten Gesellschaft, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der EU hat, zu erlauben, mittels einer Agentur, Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat tätig zu werden. Damit kann es ür sich allein keine missbräuchliche Ausnutzung des Niederlassungsrechts darstellen, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats (hier: E), der eine Gesellschaft gründen möchte, diese in dem Mitgliedstaat errichtet, dessen gesellschaftsrechtlichen Vorschriften ihm die größte Freiheit lassen (hier: O), und in einem anderen Mitgliedstaat (hier: N) eine Zweigniederlassung gründet. Dass die Gesellschaft in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat (hier: O), keine Geschäftstätigkeiten entfaltet und ihre Tätigkeit ausschließlich im Mitgliedstaat ihrer Zweigniederlassung ausübt (hier: N), belegt noch kein missbräuchliches und betrügerisches Verhalten, das es dem letztgenannten Mitgliedstaat erlauben würde, auf diese Gesellschaft Art. 49 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Art. 54 Abs. 1 AEUV nicht anzuwenden. Allgemein gilt: Bezüglich der Annahme einer Schutzbereichsbegrenzung unter dem Aspekt des Missbrauchs einer Grundfreiheit - beim Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken handelt es sich um einen allgemeinen Grundsatz des EU-Rechts (EuGH, ECLI: EU: C: 2017: 881 2. Teil 1.1.3) - ist größte Zurückhaltung geboten. 517 Vielmehr darf nach der Rechtsprechung des EuGH einem Unions- 516 Welche Bedeutung der späteren VALE-Entscheidung (EuGH, ECLI: EU: C: 2012: 440) insofern zukommt, ist umstritten, siehe den Meinungsüberblick bei Tiedje, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 54 Rn. 73. 517 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 79 unter Hinweis auf Art. 54 EU-GrCh und Art. 17 EMRK ( 3. Teil 3.3.2.1). Generell eine solche „Missbrauchsklausel“ ablehnend: Frenz, Europarecht, Rn. 237. <?page no="169"?> angehörigen nicht schon allein deshalb die Möglichkeit, sich auf die Grundfreiheiten zu berufen, genommen werden, weil er beabsichtigt, von der in einem anderen Mitgliedstaat als dem seiner Ansässigkeit geltenden vorteilhaften Rechtslage zu profitieren (Wettbewerb zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten im nichtharmonisierten Bereich 518 3. Teil 1.1.1). Nationale Maßnahmen, die ein solches Verhalten zu unterbinden suchen, werden danach folglich regelmäßig als Grundfreiheiteneingriff eingestuft ( 3. Teil 1.4). Beziehen sie sich speziell auf rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen, die darauf ausgerichtet sind, der Anwendung der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats zu entgehen (z.B. Steuerumgehung 519 ), so können sie - ihre Verhältnismäßigkeit vorausgesetzt - freilich gerechtfertigt sein ( 3. Teil 1.5; zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2006: 544). [4] Schutzgut von Art. 56 Abs. 1 AEUV ist der freie „Dienstleistungsverkehr“. Dienstleistungen i.S.d. EUV und AEUV (Art. 1 Abs. 2 AEUV) sind nach Art. 57 Abs. 1 AEUV Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Gem. Art. 57 Abs. 2 AEUV gelten insbesondere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten als Dienstleistungen. Freizeitsportler F ist Angehöriger des Mitgliedstaats L und hat bislang in einem dortigen Verein Basketball gespielt. In der kommenden Saison möchte F zu einem Basketballverein in Mitgliedstaat M wechseln, hat allerdings die hier ür nach dessen Sportverband bestehende Transfer- 518 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 15. 519 Dazu: Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (935 f.); ders., EWS 2012, S. 176 (181 f.). Speziell zu § 42 AO und § 50d Abs. 3 EStG: ders., in: Strahl, Problemfelder der steuerlichen Beratung - Ertragsteuern, Auslandsbeteiligung an Inlands- Kapitalgesellschaften, Stand: Juli 2009, Rn. 83 ff. Allgemein zur Gesetzesumgehung (fraus legis): ders., Juristische Methodenlehre, Rn. 266; speziell in Bezug auf Art. 45 AEUV: ders., NZA-RR 2016, S. 113 (117), jeweils m.w.N. <?page no="170"?> frist versäumt. F meint, dass diese Fristenregelung gegen Art. 56 Abs. 1 AEUV verstoße. Dringt er mit diesem Einwand durch? Nein. Zu sportlichen Betätigungen hat der EuGH (ECLI: EU: C: 1976: 115) nämlich entschieden, dass diese nur insofern den Grundfreiheiten unterfallen, als sie einen Teil des Wirtschaftslebens i.S.v. Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV und Art. 26 Abs. 2 AEUV ausmachen. Dies trifft zwar auf die entgeltliche Tätigkeit von Profis und Halbprofis zu, nicht aber auf reine Freizeitbzw. Hobbysportler wie F (zu Art. 165 Abs. 1 UAbs. 2, Abs. 2 und 3 AEUV 3. Teil 2.2.2.2). Allgemein gilt: Handelt es sich bei dem in Rede stehenden Verhalten nicht um eine wirtschaftliche Tätigkeit, so unter ällt dieses daher zwar nicht dem Schutz der Grundfreiheiten, ggf. aber wohl dem des Art. 18 Abs. 1 bzw. Art. 21 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 1.2.2, 2.1.1, 2.2.1 und 2.2.3.1). [5] Schutzgut des Art. 63 Abs. 1 AEUV ist der freie „Kapitalverkehr“. Kapitalverkehr i.S.v. Art. 63 Abs. 1 AEUV ist die einseitige, primär zum Zweck der Vermögensanlage erfolgende Wertübertragung in Form von Sach- oder Geldkapital. 520 Im obigen Fall der Grundstücksschenkung ( 3. Teil 1.1.5) fragt sich der zuständige Sachbearbeiter, ob es sich bei dieser überhaupt um einen Vorgang des Kapitalverkehrs i.S.v. Art. 63 Abs. 1 AEUV handelt. Ja, bei der Grundstücksschenkung von M an T handelt es sich um einen Vorgang des Kapitalverkehrs i.S.v. Art. 63 Abs. 1 AEUV. Mangels einer primärrechtlichen Legaldefinition des Begriffs „Kapitalverkehr“ konkretisiert der EuGH (ECLI: EU: C: 2017: 119) diesen anhand der - nicht erschöpfenden - Nomenklatur ür den Kapitalverkehr im Anhang I zur Richtlinie 8/ 361/ EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durch ührung von Artikel 67 des Vertrages 521 . Dieser misst er Hinweischarakter ür die Definition des Begriffs „Kapitalverkehr“ auch i.S.d. höherrangigen 520 Wienbracke, EWS 2012, S. 176 (177) m.w.N. 521 ABl. EG L 178 vom 8.7.1988, S. 5. <?page no="171"?> Art. 63 Abs. 1 AEUV bei - was aus Gründen der Normenhierarchie ( 2. Teil 1) richtigerweise freilich nur als Auslegungshilfe 522 zulässig ist. Nach Rubrik XI.-B. des Anhangs I zu dieser Richtlinie gehören u.a. Schenkungen zum Kapitalverkehr. [6] Schutzgut von Art. 63 Abs. 2 AEUV ist der freie „Zahlungsverkehr“. Zahlungsverkehr i.S.v. Art. 63 Abs. 2 AEUV ist die Übertragung von Zahlungsmitteln, die eine Gegenleistung im Rahmen einer dieser Leistung zugrundeliegenden Transaktion darstellen. 523 Art. 63 Abs. 2 AEUV soll dem EuGH (ECLI: EU: C: 1999: 324) zufolge gewährleisten, dass der Schuldner, der eine Geldsumme ür eine Warenlieferung oder eine Dienstleistung - bzw. eine Arbeitsleistung oder eine Kapitalüberlassung - schuldet, seine vertragliche Verpflichtung freiwillig und ohne unzulässige Beschränkung er üllen und der Gläubiger eine solche Zahlung frei empfangen kann. Entsprechend ihrer Eigenschaft als Instrumente zur Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts ( 2. Teil 1.1.1) schützen sämtliche Grundfreiheiten nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut grundsätzlich nur grenzüberschreitende Sachverhalte „zwischen den Mitgliedstaaten“ (Art. 30, Art. 34 f. AEUV und Art. 63 Abs. 1, 2 AEUV; vgl. ferner Art. 45 Abs. 1 AEUV: „Innerhalb der Union“; Art. 49 Abs. 1 AEUV: „im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats“; Art. 56 Abs. 1 AEUV: „in einem anderen Mitgliedstaat“), mitunter zusätzlich auch noch solche „zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ (Art. 63 Abs. 1 und 2 AEUV). Folglich nicht von den Grundfreiheiten geschützt werden demgegenüber rein innerstaatliche Vorgänge, d.h. solche, die keine Berührung mit irgendeinem derjenigen Sachverhalte aufweisen, auf die das EU-Recht abstellt, und die mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats 522 Wojcik, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht Art. 63 AEUV Rn. 3. 523 Vgl. Rees/ Ukrow, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 63 Rn. 326. <?page no="172"?> hinausweisen. 524 Entsprechendes gilt im Grundsatz ebenfalls ür grenzüberschreitende Sachverhalte, die sich zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat zutragen (Ausnahmen: Art. 63 Abs. 1 und 2 AEUV, die jeweils auch diese Fälle erfassen). 525 Mangels Vorliegens eines EU-binnengrenzüberschreitenden Sachverhalts vermag sich zum Beispiel ein deutscher Staatsangehöriger, der immer in der Bundesrepublik Deutschland gewohnt hat und sich dagegen wendet, dass die deutschen Behörden sich aufgrund der Rechtsvorschriften dieses Staates weigern, ihn zu einer bestimmten Berufsausbildung zuzulassen, nicht mit Erfolg auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU zu berufen, siehe EuGH, ECLI: EU: C: 1984: 233 und vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1992: 40. Die Beantwortung der Frage, ob im konkreten Fall ein i.S.d. Grundfreiheiten grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt, kann sich mitunter freilich als problematisch erweisen. 526 Wenngleich der EuGH die rein hypothetische Aussicht auf Ausübung eines grundfreiheitlich geschützten Rechts zunächst nicht als ausreichend da ür erachtet hat, um den notwendigen Bezug zum EU-Recht herzustellen (EuGH, ECLI: EU: C: 1997: 254), so wird dieser bei den Produktverkehrsfreiheiten mittlerweile jedoch bereits dann bejaht, wenn die bloße Möglichkeit des Verbringens der Ware, des Kapitals bzw. des Zahlungsmittels in einen anderen (Mitglied-)Staat und damit eine zumindest potentielle Behinderung der betreffenden Verkehrsfreiheit besteht. 527 Bei den subjektbezogenen Freiheiten ist ein grenzüberschreitender Sachverhalt nicht nur in den klassischen Zuzugs- und Wegzugskonstellationen, sondern ebenfalls in Pendlerbzw. Grenzgängersowie in Rückkehrer-Fällen gegeben. 528 Denn bei diesen befinden sich die eigenen Staatsangehörigen gegenüber ihrem Herkunftsland in einer Lage, die mit derjenigen aller anderen Personen, die in den Genuss der durch den AEUV garantierten Rechte und Freiheiten kommen, vergleichbar ist (EuGH, ECLI: EU: C: 1979: 31). 524 EuGH, ECLI: EU: C: 2008: 178, Rn. 33; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 25. 525 Vgl. Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 41 f. m.w.N. 526 Jochum, Europarecht, Rn. 659. 527 Vgl. Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 437. 528 Vgl. Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (495) m.w.N. <?page no="173"?> Im obigen Beispielsfall des S, der sich bei seinem Heimatstaat F auf eine Stelle als Polizist bewirbt ( 3. Teil 1.2.3), ergibt sich das grenzüberschreitende Element i.S.v. Art. 45 Abs. 1 AEUV („[i]nnerhalb der Union“) daraus, dass sich S, der rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: G) wohnt und dort einen Schulabschluss erworben hat, gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat in einer vergleichbaren Lage befindet wie ein EU-Ausländer (z.B. ein Staatsangehöriger von G), der in diesen von dessen Heimatmitgliedstaat aus zuzieht, d.h. von seinem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch macht. Versagte man dagegen den sog. Rückkehrern wie S den Schutz des Art. 45 AEUV, so wäre die praktische Wirksamkeit (effet utile, vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV 2. Teil 1.4) dieser Grundfreiheit nicht voll verwirklicht (zum Ganzen vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1993: 125). Im Zusammenspiel mit dem Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten ( 2. Teil 2.1) kann die Erstreckung von deren sachlichem Schutzbereich lediglich auf grenzüberschreitende Sachverhalte zu einer Schlechterbehandlung namentlich der eigenen Staatsangehörigen gegenüber EU- Ausländern ühren, sog. Inländerbzw. umgekehrte Diskriminierung (franz.: discrimination à rebours). 529 „Inländerdiskriminierung bedeutet, dass Unionsbürger in einem Mitgliedstaat deswegen, weil ür sie [die Grundfreiheiten] anwendbar [sind], gegenüber Inländern, ür die grundsätzlich innerhalb ihres Staates [die Grundfreiheiten] mangels grenzüberschreitenden Sachverhalts keine Anwendung finde[n], benachteiligt sind.“ 530 Nach § 10 Abs. 1 S. 1 BierStG 1953 durften in Deutschland unter der Bezeichnung „Bier“ grundsätzlich nur solche Getränke in den Verkehr gebracht werden, die gegoren sind und bei deren Bereitung ausschließlich Gerstenmalz, Hopfen, Hefe und Wasser verwendet wurde. Der EuGH (ECLI: EU: C: 1987: 126) hat in diesem sog. Reinheitsgebot einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit gesehen. Infolge dessen durfte diese hierdurch in ihrer Geltung zwar nicht betroffene nationale Rechtsnorm auf aus anderen Mitgliedstaaten nach Deutschland einge ührtes Bier nicht angewendet werden ( 2. Teil 2.1). Ihre Anwendung auf im Inland 529 Frenz, Europarecht, Rn. 229; Streinz, Europarecht, Rn. 844; Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 59 m.w.N. 530 Jochum, Europarecht, Rn. 660. <?page no="174"?> gebrautes Bier (im Ergebnis: die hier ansässigen Bierbrauer) hindert der nunmehrige Art. 34 AEUV dagegen nicht, da es insoweit an einem Vorgang „zwischen den Mitgliedstaaten“ i.S.d. Vorschrift fehlt. Entsprechend enthält die aktuelle Nachfolgevorschrift des § 1 BierV denn auch in ihrem Abs. 2 eine Ausnahmeregelung ür im Ausland hergestellte gegorene Getränke, die nicht dem deutschen Reinheitsgebot ür Bier entsprechen (vgl. ferner zum sog. Meisterzwang 3. Teil 1.4.2.2). Sofern keine anderweitige unionsrechtliche Regelung existiert, die unabhängig von einem grenzüberschreitenden Sachverhalt einheitliche Regeln ür die gesamte EU schafft - in einem solchen Fall können sich auch Inländer mit Erfolg auf den Verstoß einer nationalen Vorschrift gegen das EU-(Sekundär-)Recht berufen -, steht dieses einer Inländerdiskriminierung nicht entgegen. 531 Die Grundfreiheiten untersagen die Anwendung einer gegen sie verstoßenden nationalen Regelung grundsätzlich nur in Bezug auf Personen bzw. Produkte aus dem EU-Ausland. 532 Demgegenüber verlangen sie nicht, dass der mitgliedstaatliche Gesetzgeber ein grundfreiheitenwidriges nationales Gesetz insoweit aufhebt, als es die eigenen Staatsangehörigen bzw. die inländischen Produkte nachteilig betrifft. 533 Wenn also die Vorschriften einer Richtlinie der Anwendung einer nationalen Regelung etwa über die Etikettierung von Lebensmitteln entgegenstehen, kann diese Regelung weder auf einge ührte Lebensmittel noch auf Lebensmittel einheimischen Ursprungs angewandt werden. Verstößt hingegen eine nationale Regelung über die Werbung gegen Art. 34 AEUV, so ist die Anwendung dieser Regelung nur bei einge ührten Erzeugnissen, nicht aber auch bei Erzeugnissen einheimischen Ursprungs untersagt (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1990: 459). Vielmehr ist insofern, als der betreffende mitgliedstaatliche Gesetzgeber an der unionsrechtswidrigen Bestimmung weiterhin festhält, d.h. diese nicht aufhebt, 534 das nationale Verfassungsrecht als Beurteilungsmaßstab 531 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1990: 459, Rn. 15 f. und siehe Dittert, Europarecht, S. 308; Hobe, Europarecht, Rn. 629 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 847. 532 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 2004: 445, Rn. 57 f. 533 EuGH, ECLI: EU: C: 1988: 401, Rn. 25. 534 Schroeder, Europarecht, § 14 Rn. 10. Vgl. auch Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 26: „Anpassungsdruck“; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Europarecht, § 10 Rn. 11: „politischer Druck“. <?page no="175"?> heranzuziehen, in Deutschland also v.a. Art. 3 Abs. 1 GG und das jeweils einschlägige Freiheitsgrundrecht (z.B. Art. 12 Abs. 1 GG). 535 Während in Bezug auf Letzteres die Verhältnismäßigkeit der ür Inländer weiterhin geltenden und anwendbaren nationalen Maßnahme speziell unter dem Aspekt zu überprüfen ist, dass sie auf EU-Ausländer unanwendbar ist, 536 ist aus gleichheitsrechtlicher Perspektive zunächst die Frage zu beantworten, ob überhaupt eine Ungleichbehandlung durch dieselbe staatliche Stelle (denselben Hoheitsträger) vorliegt. 537 „Die Inländerdiskriminierung ist eine Folge des unvollendeten Binnenmarkts und der Tatsache, dass alle Grundfreiheiten tatbestandlich an grenzüberschreitende Sachverhalte anknüpfen […].“ 538 Lässt sich derselbe grenzüberschreitende Sachverhalt ( 2. Teil 1.3.2.2) nicht nur dem Schutzgut ( 2. Teil 1.3.2.1) einer, sondern gleichzeitig mehrerer Grundfreiheiten zuordnen, so sind diese an sich nebeneinander zu prüfen; ür voneinander trennbare Verhaltensweisen ist dies ohnehin der Fall. 539 Abweichendes ergibt sich dem EuGH (ECLI: EU: C: 2006: 631) zufolge insbesondere auch nicht etwa in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit, versteht dieser Art. 57 Abs. 1 AEUV doch nicht i.S.e. Subsidiaritätsklausel 540 , sondern vielmehr als Definition des Dienstleistungsbegriffs. Gleichwohl wird trotz Vorliegens der begrifflichen Voraussetzungen des Schutzguts einer Grundfreiheit deren sachlicher Schutzbereich dann nicht als eröffnet angesehen, wenn der wirtschaftliche Schwerpunkt der 535 EuGH, ECLI: EU: C: 1997: 285; Rn. 23; Streinz, Europarecht, Rn. 847; Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 536 m.w.N. Zur EMRK siehe EuGH, ECLI: EU: C: 2008: 449, Rn. 79. 536 Vgl. BVerfG, NJOZ 2006, S. 446 (448 f.); Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 59 m.w.N. 537 Dazu: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 536 m.w.N. Diese Frage verneinend: Classen, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 13. 538 Streinz, Europarecht, Rn. 845. 539 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 76. 540 So aber Hobe, Europarecht, Rn. 642; Seyr, in: Lenz/ Borchardt, EU-Verträge Kommentar, Art. 56, 57 Rn. 8. <?page no="176"?> betreffenden Tätigkeit eindeutig einer anderen Grundfreiheit zuzuordnen ist: 541 Beschränkt dieselbe Maßnahme (z.B. Beschlagnahme von Werbematerial ür eine Lotterie) eines Verpflichtungsadressaten sowohl eine Grundfreiheit (z.B. Art. 34 AEUV) als auch eine andere (z.B. Art. 56 Abs. 1 AEUV), so prüft sie der EuGH (ECLI: EU: C: 2002: 34) grundsätzlich nur im Hinblick auf eine dieser beiden Grundfreiheiten (hier: Art. 56 Abs. 1 AEUV), wenn sich herausstellt, dass im konkreten Fall eine der beiden Freiheiten (hier: Art. 34 AEUV) im Vergleich zu der anderen völlig zweitrangig ist und dieser zugeordnet werden kann (z.B., weil die Einfuhr von Werbematerial ür eine Lotterie keinen Selbstzweck verfolgt und daher nicht losgelöst von der Dienstleistung „Veranstaltung einer Lotterie“ betrachtet werden kann, siehe EuGH, ECLI: EU: C: 1994: 119). Die im Fall des Finanzinvestors F ( 3. Teil 1.3.1) ür dessen etwaigen grundfreiheitlichen Schutz alles entscheidende Frage nach der Abgrenzung der Niederlassungsvon der Kapitalverkehrsfreiheit richtet sich dem EuGH (ECLI: EU: C: 2000: 205 und 2012: 694) zufolge bei nationalen Regelungen, die nicht nur auf sog. Direkt-, sondern ebenfalls auf allein der Geldanlage dienende sog. Portfolioinvestitionen anwendbar sind, nach den tatsächlichen Gegebenheiten des konkreten Falls. Hat dieser eine Mehrheitsbeteiligung zum Gegenstand, die es ermöglicht, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, so ist Prüfungsmaßstab allein Art. 49 Abs. 1 AEUV. Etwaige beschränkende Auswirkungen auf den freien Kapitalverkehr werden in einer solchen Konstellation lediglich als unvermeidliche Konsequenzen einer eventuellen Beschränkung der Niederlassungsfreiheit angesehen, die keine eigenständige Prüfung im Hinblick auf Art. 63 Abs. 1 AEUV rechtfertigen. Ist der konkrete Sachverhalt unter das Schutzgut einer Grundfreiheit zu subsumieren, so schließt sich - ebenso wie bei den Grundrechten des deutschen GG 542 - daran die Frage an, welche Rechtsfolgen sich hieraus im Einzelnen ergeben. U.a. ist insofern im Wege der Auslegung ( 2. Teil 1.4) der betreffenden grundfreiheitlichen Vorschrift zu ermitteln, welche Verhaltensweisen von ihr jeweils geschützt werden. 543 541 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1994: 119, Rn. 22 ff. und siehe Cremer, Jura 2015, S. 39 (46); Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 76. 542 Dazu siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 67 m.w.N. 543 Vgl. Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 830. <?page no="177"?> Nach der Straßenverkehrsordnung des Mitgliedstaats N gilt in diesem ein Rechtsfahrgebot. Kraftfahrzeuge, deren Lenkrad sich auf der rechten Seite befindet, dürfen deshalb in N aus Sicherheitsgründen weder zugelassen noch auf öffentlichen Straßen ge ührt werden. U, der im Rahmen seines Urlaubs in Irland einen „Rechtslenker“ erworben hat, meint, dass die vorstehende Regelung seines Herkunftsstaats N gegen die Warenverkehrsfreiheit verstößt. Wird die Nutzung einer Ware überhaupt von Art. 34 AEUV geschützt? Ja. Nach der Rechtsprechung des EuGH (ECLI: EU: C: 1996: 254) schützt Art. 34 AEUV nicht nur das Recht, Waren in den Verkehr zu bringen, zu erwerben, anzubieten, auszustellen oder feilzuhalten, zu besitzen, herzustellen, zu be ördern, zu verkaufen, entgeltlich oder unentgeltlich abzugeben und einzu ühren, sondern auch, sie zu verwenden. [1] Aus der nicht abschließenden 544 Aufzählung in Absatz 3 von Art. 45 AEUV folgt, dass die in dessen Absatz 1 gewährleistete Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der EU diesen das Recht gibt, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben (lit. a)), sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen (lit. b)), sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den ür die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben (lit. c)) und nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission durch Verordnungen festlegt (lit. d)); zu diesen sog. Verbleiberechten siehe die in §§ 2, 4 und 4a FreizügG/ EU umgesetzten Art. 6 ff. Freizügigkeits-Richtlinie 2004/ 38/ EG 545 ; [2] die Niederlassungsfreiheit umfasst nach Art. 49 Abs. 2 AEUV vorbehaltlich des Kapitels über den Kapitalverkehr die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften i.S.d. Art. 54 Abs. 2 AEUV, nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats ür seine eigenen Angehörigen; [3] die Dienstleistungsfreiheit scheint dem Wortlaut von Art. 57 Abs. 3 AEUV nach allein diejenige Konstellation zu erfassen, in der der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Mitgliedstaat ausübt, in dem die Leistung erbracht wird 544 Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (498) m.w.N. Dort u.a. auch zum von Art. 45 AEUV ferner garantierten Recht auf Ausreise aus dem Herkunftsmitgliedstaat und zum Recht auf Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat. 545 ABl. EU L 158 vom 30.4.2004, S. 77. <?page no="178"?> (vgl. auch Art. 56 Abs. 1 AEUV; z.B. deutscher Handwerker errichtet im Nachbarmitgliedstaat ein Gebäude). Aufgrund der im vorliegenden grundfreiheitlichen Kontext gebotenen ökonomischen Betrachtungsweise (vgl. Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV und Art. 26 Abs. 2 AEUV 2. Teil 1.4 und 3. Teil 1.1.1) werden über die vorstehende sog. aktive Dienstleistungsfreiheit hinaus allerdings auch solche Fälle von Art. 56 Abs. 1 AEUV geschützt, in denen lediglich die Dienstleistung selbst - weder aber ihr Erbringer noch ihr Emp änger - die Grenze überschreitet (sog. Korrespondenzdienstleistung, z.B. grenzüberschreitende telefonische Anlageberatung) oder aber sich der Erbringer der Dienstleistung und deren aus demselben Mitgliedstaat stammender Emp änger gemeinsam in einen anderen Mitgliedstaat begeben, wo die Leistung sodann erbracht wird (sog. auslandsbedingte Dienstleistung, z.B. Begleitung von in Deutschland ansässigen Touristen durch einen dort ansässigen Fremden ührer bei einer Rundreise durch Italien; zur sog. passiven Dienstleistungsfreiheit s.u. zur „Marktgegenseite“); 546 [4] der nicht erschöpfenden, i.S.e. Auslegungshilfe bloßen Hinweischarakter ( 3. Teil 1.3.2.1) entfaltenden Aufzählung der Nomenklatur ür den Kapitalverkehr gem. Art. 1 der Richtlinie 88/ 361/ EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durch ührung von Artikel 67 des Vertrages 547 unterfallen dem nunmehrigen Art. 63 Abs. 1 AEUV Direktinvestitionen (wie etwa die Beteiligung an neuen oder bereits bestehenden Unternehmen zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter Wirtschaftsbeziehungen 3. Teil 1.3.2.3), Immobilieninvestitionen, Geschäfte mit Wertpapieren, die normalerweise am Kapitalmarkt gehandelt werden, Geschäfte mit Anteilscheinen von Organismen ür gemeinsame Anlagen, Geschäfte mit Wertpapieren und anderen Instrumenten, die normalerweise am Geldmarkt gehandelt werden, Kontokorrent und Termingeschäfte mit Finanzinstituten, Kredite im Zusammenhang mit Handelsgeschäften und Dienstleistungen, an denen ein Gebietsansässiger beteiligt ist, Darlehen und Finanzkredite, Bürgschaften, andere Garantien und Pfandrechte, 546 Müller-Graf, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 36, 40 ff. 547 ABl. EG L 178 vom 8.7.1988, S. 5. <?page no="179"?> Transferzahlungen in Er üllung von Versicherungsverträgen, Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter (wie u.a. Schenkungen und Erbschaften 548 2. Teil 1.3.2.1), Ein- und Ausfuhr von Vermögenswerten und sonstiger Kapitalverkehr. Unter Hinweis auf die praktische Wirksamkeit (effet utile, vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV 2. Teil 1.4) konkret der Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie ferner darauf, dass der Wortlaut von Art. 45 AEUV es nicht ausschließe, dass sich auch andere Personen als die dort ausdrücklich genannten Arbeitnehmer auf diese Vorschrift berufen können, hat der EuGH in seinem Clean Car Autoservice-Urteil (ECLI: EU: C: 1998: 205) entschieden, dass ebenfalls Arbeitgeber ein Recht darauf haben, Arbeitnehmer nach Maßgabe der Bestimmungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit beschäftigen zu können. Diese Überlegungen können dahingehend verallgemeinert werden, dass sämtliche subjektbezogenen Grundfreiheiten ebenfalls die jeweilige Marktgegenseite schützen; die Produktfreiheiten enthalten ohnehin keine Einschränkungen in persönlicher Hinsicht ( 3. Teil 1.3.1). 549 Der passionierte Schwimmer S ist Staatsangehöriger des Mitgliedstaats O. Seitdem das letzte Schwimmbad in seinem dortigen Wohnort geschlossen wurde, zieht S jeden Tag im nur wenige Kilometer entfernten Hallenbad im Mitgliedstaat P seine Bahnen. Da dessen Betreiber B jedoch nur „Einheimischen“ einen Rabatt gewährt, ühlt sich S gegenüber diesen diskriminiert. Kann sich S als Emp änger der von B erbrachten Dienstleistung überhaupt mit Erfolg auf Art. 56 Abs. 1 AEUV berufen? Ja. Über den Wortlaut von Art. 57 Abs. 3 AEUV hinaus schützt Art. 56 Abs. 1 AEUV nicht nur die aktive Dienstleistungsfreiheit des Erbringers (hier: B), sondern in der hier vorliegenden Situation der passiven Dienstleistungsfreiheit ebenfalls das Recht des Emp ängers (hier: S) einer EUbinnengrenzüberschreitend erbrachten Dienstleistung, diese ohne Beschränkungen in Empfang zu nehmen (vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1984: 35). Zu den (Gewährleistungs-)Funktionen der Grundfreiheiten als Gleichheits-, Freiheits- und Leistungsrechte 3. Teil 1.4.2.1 und 1.4.2.2. Darüber hinaus wird diesen auch noch eine verfahrens- 548 Zu diesen siehe Wienbracke, EWS 2012, S. 176 ff. m.w.N. 549 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1984: 35, Rn. 10 und siehe Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (932); ders., EuR 2012, S. 483 (495), jeweils m.w.N. <?page no="180"?> rechtliche Dimension sowie die Eigenschaft als Elemente objektiver Wertordnung beigemessen. 550 Der räumliche Schutzbereich der Grundfreiheiten gibt Auskunft darüber, auf welchem Territorium diese Anwendung finden, d.h. wo sich der grenzüberschreitende Sachverhalt zutragen muss. 551 Ohne Weiteres trifft dies auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten 552 nach Art. 52 EUV und Art. 355 AEUV zu ( 1. Teil 1.2); ändert sich dieses (z.B. infolge der deutschen Wiedervereinigung), so ändert sich vorbehaltlich vertraglicher Sonderregelungen auch der räumliche Geltungsbereich der EU-Verträge - und damit u.a. der Grundfreiheiten - entsprechend, sog. Prinzip der beweglichen Vertragsgrenzen. 553 Die Grundfreiheiten sind nach der EuGH- Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 1974: 140) bei der Prüfung sämtlicher Rechtsbeziehungen zu beachten, die aufgrund des Ortes, an dem sie entstanden sind oder an dem sie ihre Wirkungen entfalten, einen räumlichen Bezug zum Gebiet der EU aufweisen. Das Staatsgebiet eines Mitgliedstaats umfasst dessen jeweiligen Teil der Erdoberfläche sowie den dazugehörigen Luftraum (80 bis 120 km) und - sofern vorhanden - 12 Seemeilen Küstengewässer. 554 Darüber hinaus hat der EuGH (ECLI: EU: C: 1996: 174) speziell zur Arbeitnehmerfreizügigkeit entschieden, dass diese ebenfalls auf eine außerhalb des Unionsgebiets ausgeübte Berufstätigkeit anwendbar sein kann, wenn das Arbeitsverhältnis einen hinreichend engen Bezug zu diesem aufweist - wobei dieser Grundsatz dahingehend zu verstehen ist, dass er auch ür Fälle gilt, in denen das Arbeitsverhältnis einen hinreichend engen Bezug zum Recht eines Mitgliedstaats und damit zu den einschlägigen Regeln des EU-Rechts besitzt. Aufgrund der Konvergenz der Grundfreiheiten ( 3. 550 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 41 f. 551 Vgl. Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 436; Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (498) m.w.N. 552 Zur Ausdehnung auf das Hoheitsgebiet bestimmter Drittstaaten aufgrund von völkerrechtlichen Abkommen 3. Teil 1.3.1. 553 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 65. 554 Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 1 m.w.N. <?page no="181"?> Teil 1.1.3) gilt dies über Art. 45 AEUV hinaus ebenfalls ür alle anderen grundfreiheitlichen Vorschriften. 555 Die vorgenannten Voraussetzungen hat der EuGH im Fall Boukhalfa betreffend eine belgische Staatsangehörige, die bei der Deutschen Botschaft im nordafrikanischen Algier als Ortskraft beschäftig war, als erüllt angesehen. Denn ihr Arbeitsvertrag wurde nach dem Recht des arbeitgebenden Mitgliedstaats geschlossen, dessen Hauptstadt als Gerichtsstand ür alle sich aus dem Arbeitsvertrag ergebenden Streitigkeiten vereinbart wurde und nach dessen Rechtsvorschriften sie sozialversicherungs- und (beschränkt) einkommensteuerpflichtig war. Ebenso wie die Prüfungsrelevanz des nachfolgend behandelten zeitlichen Schutzbereichs der Grundfreiheiten ist auch diejenige von deren räumlichem Schutzbereich gering. 556 Auf beide ist in der Fallbearbeitung jeweils nur dann einzugehen, wenn der betreffende Sachverhalt hierzu Veranlassung gibt ( 3. Teil 1.3.4). 557 Bislang ist die zeitliche Dimension der Grundfreiheiten typischerweise nur im Zusammenhang mit dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten zur EU relevant geworden. 558 Insoweit gilt der Grundsatz der sofortigen vollständigen Anwendung des gesamten EU-Rechts ( 1. Teil 1.2.1). Von diesem sog. acquis communautaire abweichende Übergangsbestimmungen finden sich beispielsweise in Art. 24 i.V.m. Anhang XII 559 über die Bedingungen des Beitritts u.a. der Republik Polen und die Anpassungen der die EU begründenden Verträge. So konnte nach dessen Ziff. 4 Nr. 2 Polen unbeschadet der Verpflichtungen aus den Verträgen, auf die sich die EU gründet, die Vorschriften über den Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen und Wäldern des Gesetzes vom 24. März 1920 über den Erwerb von Immobilien durch Ausländer 560 nach dem Beitritt 12 Jahre lang beibehalten. 555 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 65. 556 Cremer, Jura 2015, S. 39 (43, Fn. 45). 557 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 831. 558 Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (499) m.w.N. 559 ABl. EU 2003 L 236 vom 23.9.2003, S. 875. 560 Dz.U. 1996 Nr. 54, poz. 245, geändert. <?page no="182"?> Von 1962 bis 1966 gehörte M, ein Staatsangehöriger von S, als Matrose zur Besatzung eines Seeschiffs mit Heimathafen im Mitgliedstaat R und wohnte während dieses Zeitraums an Bord des Schiffes. Nachdem S am 1. Januar 1995 der EU beigetreten war und M im Jahr 2008 sein 65. Lebensjahr vollendet hatte, beantragte er bei R Altersrente. Diese wurde ihm jedoch mit der Begründung versagt, dass nach den einschlägigen Bestimmungen von R solche Personen von den Altersrentenversicherungsleistungen ausgeschlossen sind, die während des Zeitraums, in dem sie zur Besatzung eines Seeschiffs mit Heimathafen in R gehörten und an Bord dieses Schiffes wohnten, nicht Staatsangehörige eines Mitgliedstaats waren. M meint, dies verstoße gegen Art. 45 Abs. 2 AEUV. Hat M Recht, wenn die Beitrittsakte von S keine Übergangsbestimmungen zur Anwendung des nunmehrigen Art. 45 AEUV enthält? Nein. In Ermangelung solcher ist Art. 45 AEUV ür S ab dem Zeitpunkt des EU-Beitritts am 1. Januar 1995 als bindend und unmittelbar anwendbar anzusehen. Daher mussten auch die anderen Mitgliedstaaten Staatsangehörige von S erst ab diesem Zeitpunkt als Unionsbürger behandeln. Eine Verpflichtung ür bestehende Mitgliedstaaten, Staatsangehörige von S genauso zu behandeln, wie sie die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten vor dem Beitritt von S zur EU behandelt haben, ist in der Beitrittsakte hingegen nicht enthalten (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2016: 820). Mit dem BREXIT wird nunmehr ebenfalls die Konstellation des Austritts eines Mitgliedstaats aus der EU relevant. Insoweit ist in Bezug auf den zeitlichen Schutzbereich der in den Art. 28 ff. AEUV normierten Grundfreiheiten Art. 50 Abs. 3 EUV von Bedeutung ( 1. Teil 1.2.2). 561 Ein Eingriff in den Schutzbereich einer Grundfreiheit liegt vor, wenn ein durch diese Verpflichteter ( 3. Teil 1.4.1) deren Schutzbereich beschränkt oder eine danach verbotene Diskriminierung vornimmt ( 3. Teil 1.4.2). 561 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 66. <?page no="183"?> Als Parteien des AEUV sind es primär die in Art. 52 Abs. 1 EUV genannten Mitgliedstaaten, die durch diesen - und damit u.a. die in seinen Art. 28 ff. enthaltenen Grundfreiheiten - verpflichtet werden. 562 Dies gilt unabhängig davon, ob ihnen im konkreten Fall die Eigenschaft als Herkunfts- oder als Aufnahmemitgliedstaat zukommt. 563 Weil der Begriff „Mitgliedstaat“ allerdings nicht technisch, sondern funktional verstanden wird, werden von diesem sämtliche Träger von Hoheitsgewalt erfasst. 564 Aus deutscher Sicht sind dies neben dem Bund und den 16 deutschen Bundesländern alle sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts (Körperschaften, Anstalten und Stiftungen), ferner auch mit hoheitlichen Befugnissen beliehene natürliche bzw. juristische Personen des Privatrechts sowie ebenfalls vom Staat beherrschte gemischt-wirtschaftliche Unternehmen. 565 Die Bindung an die Grundfreiheiten besteht dabei nicht nur im hoheitlichen Bereich (Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung), sondern ebenfalls auf privatrechtlicher Ebene (privatrechtliche Hilfsgeschäfte und erwerbswirtschaftliche Tätigkeit des Staates). 566 Der Deutsche Bundestag hat ein Gesetz erlassen, durch das ein Fonds errichtet wurde. Dessen Aufgabe besteht nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes insbesondere darin, den Absatz und die Verwertung von Erzeugnissen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft durch Erschließung und Pflege von Märkten im In- und Ausland zentral zu ördern. Hierzu hat er sich gem. § 2 Abs. 2 des Gesetzes der Centrale Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft mbH (CMA) zu bedienen. Dieser werden nach § 2 Abs. 2 bis 4 des Gesetzes vom Fonds finanzielle Mittel zur Verügung gestellt, welche diesem wiederum nach § 10 des Gesetzes in Form von Pflichtbeiträgen der Betriebe der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft zufließen. Während die Kommission hierin einen Verstoß gegen Art. 34 AEUV sieht (zu Art. 107 Abs. 1 AEUV 3. Teil 562 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 874. 563 Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (499) m.w.N. 564 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 52. 565 Cremer, Jura 2015, S. 39 (41); Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 832; Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 53 m.w.N. 566 Cremer, Jura 2015, S. 39 (41); Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 832 unter Hinweis auf den aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten Grundsatz „keine Flucht ins Privatrecht“ (Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 108 m.w.N.). <?page no="184"?> 4.1.3), ist die Bundesregierung der Meinung, dass die Tätigkeit der CMA nicht dem deutschen Staat zuzurechnen und deshalb nicht anhand von Art. 34 AEUV zu prüfen sei. Stimmt das? Nein. Denn auch wenn die CMA eine privatrechtliche Gesellschaft ist, so ist sie doch aufgrund eines mitgliedstaatlichen Gesetzes errichtet worden, das ihr v.a. den Zweck vorgibt, den Absatz und die Verwertung von Erzeugnissen der deutschen Agrarwirtschaft zentral zu ördern. Auch wird sie nach den in diesem Gesetz aufgestellten Regeln durch Pflichtbeiträge aller Betriebe der betreffenden Wirtschaftszweige finanziert. Aufgrund dieser Beherrschung durch den Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland ist ihr Verhalten diesem zuzurechnen (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2002: 633). Als Garanten der Grundfreiheiten vermögen die Mitgliedstaaten - ebenso wie die EU ( 3. Teil 1.4.1.2) - in diese allerdings nicht nur durch eigenes aktives Tun, sondern ebenfalls durch pflichtwidriges Unterlassen einzugreifen ( 3. Teil 1.5.2.1). 567 Wie vom EuGH (ECLI: EU: C: 1997: 595) ausgeührt, kann der innerunionale Handelsverkehr nämlich ebenso wie durch eine Handlung auch dadurch beeinträchtigt werden, dass ein Mitgliedstaat untätig bleibt oder es versäumt, ausreichende Maßnahmen zur Beseitigung von Hemmnissen ür den freien Warenverkehr zu treffen, die insbesondere durch Handlungen von Privatpersonen in seinem Gebiet geschaffen wurden und sich gegen Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten richten. Folglich hat der EuGH erkannt, dass Art. 34 AEUV den Mitgliedstaaten nicht nur eigene Handlungen oder Verhaltensweisen verbietet, die zu einem Handelshemmnis ühren können, sondern sie i.V.m. Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV auch dazu verpflichtet, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung dieser Grundfreiheit sicherzustellen. Bezüglich der Frage, welche Maßnahmen in einer bestimmten Situation am geeignetsten sind, um Beeinträchtigungen der Einfuhr zu beseitigen, gesteht der EuGH den Mitgliedstaaten freilich Ermessen zu. Diese speziell zu Art. 34 AEUV ergangene Rechtsprechung lässt sich uneingeschränkt auch auf die übrigen Grundfreiheiten übertragen, d.h. auch aus diesen ergeben sich Schutzpflichten gegenüber Beeinträchtigungen durch Private ( 3. Teil 1.4.1.3). 568 Sofern es sich bei deren Ver- 567 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 38; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 832; Streinz, Europarecht, Rn. 880. 568 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 450. Zum Verhältnis zur unmittelbaren Grundfreiheitenbindung Privater ( 3. Teil 1.4.1.3) siehe Cremer, Jura 2015, S. 39 (49). <?page no="185"?> halten allerdings um ein unionsgrundrechtlich geschütztes handelt, besteht im Ergebnis dann keine Pflicht, dieses zu unterbinden, wenn der Schutz des betreffenden Unionsgrundrechts die Beeinträchtigung der jeweiligen Grundfreiheit rechtfertigt (EuGH, ECLI: EU: C: 2003: 333 3. Teil 1.5.2 und 3.5.2.2 a.E.). Im nachstehenden Bauernprotest-Fall hat der EuGH (ECLI: EU: C: 1997: 595) einen Verstoß der Französischen Republik gegen Art. 34 AEUV bejaht: Seit über einem Jahrzehnt war es in Frankreich durch Privatpersonen und Protestbewegungen französischer Landwirte gegen landwirtschaftliche Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten (v.a. Erdbeeren aus Spanien und Tomaten aus Belgien) zu Gewalttaten gekommen. U.a. wurden mit solchen Erzeugnissen beladene Lkw angehalten, die Ladung vernichtet und die Fahrer angegriffen. Zudem wurden die Inhaber französischer Supermärkte bedroht, die landwirtschaftliche Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten verkauften, sowie die dort ausliegenden Waren zerstört. Die französischen Ordnungskräfte waren bei solchen Vor ällen, die oft mehrere Stunden andauerten, trotz Kenntnis hiervon entweder nicht an Ort und Stelle oder aber sie schritten nicht ein - selbst dann nicht, wenn sie den Unruhestiftern zahlenmäßig deutlich überlegen waren. Und auch im Anschluss an diese häufig von Fernsehkameras gefilmten Vorkommnisse, die eine Atmosphäre der Unsicherheit schufen, wurde nur eine geringe Zahl der an diesen schweren Störungen der öffentlichen Ordnung beteiligten Personen ermittelt und strafrechtlich verfolgt, obgleich viele von diesen unvermummt auftraten. Ungeachtet mehrfacher Aufforderungen durch die Kommission, die erforderlichen präventiven und repressiven Maßnahmen zu ergreifen, um derartige Handlungen zu unterbinden, hatte sich die französische Regierung beharrlich geweigert, gegen die vorgenannten Gewalttaten, welche Hemmnisse ür den innerunionalen Handel mit den hiervon betroffenen Erzeugnissen schufen, einzuschreiten. Des Weiteren gebunden an die Grundfreiheiten ist die EU. 569 Insbesondere wenn deren Organe Sekundärrecht erlassen ( 2. Teil 1.3 und 4), darf dieses daher nicht gegen die primärrechtlichen Grundfreiheiten verstoßen (z.B. durch Segmentierung der nationalen Märkte). 570 Denn das Primärrecht steht an der Spitze der unionsrechtlichen Normenpyramide und ist 569 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 464. 570 Classen, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 7; Herdegen, Europarecht, § 14 Rn. 11. Nachweise aus der EuGH-Rspr. bei Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 31. <?page no="186"?> deshalb Maßstab der Rechtmäßigkeit des von ihm abgeleiteten und im Rang nachstehenden Sekundärrechts ( 2. Teil 1 und 3. Teil 1.2.1). 571 In der Praxis war die Anzahl der Fälle, in denen der EuGH über die Vereinbarkeit eines Sekundärrechtsakts namentlich mit den Grundfreiheiten zu befinden hatte, bislang äußerst gering. 572 Darüber hinaus hat der EuGH im Fall Angonese (ECLI: EU: C: 2000: 296) 573 erkannt, dass die in diesem in Rede stehende Arbeitnehmerfreizügigkeit auch „ ,ganz normale‘ private Arbeitgeber“ 574 - und nicht bloß private Verbände mit staatsgleicher Wirkmacht der von ihnen getroffenen Kollektivmaßnahmen (sog. intermediäre Gewalten, z.B. Gewerkschaften) 575 - verpflichtet. Denn nicht nur ist das im nunmehrigen Art. 45 Abs. 2 AEUV enthaltene Diskriminierungsverbot seinem Wortlaut nach allgemein formuliert und richtet sich nicht speziell an die Mitgliedstaaten. Vielmehr ist auch das Ziel dieser Vorschrift, die Beseitigung der Hindernisse ür die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten, ge ährdet, wenn die Abschaffung der Schranken staatlichen Ursprungs durch Hindernisse zunichte gemacht werden könnte, die sich daraus ergeben, dass nicht dem öffentlichen Recht unterliegende Vereinigungen und Einrichtungen, d.h. Private, von ihrer rechtlichen Autonomie Gebrauch machen. So sind die Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten nur teilweise durch Gesetze, im Übrigen aber durch von Privatpersonen geschlossene Verträge etc. geregelt, weshalb eine Beschränkung des Verbots der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit auf staatliche Maßnahmen zu Ungleichheiten bei seiner Anwendung ühren könnte. Dass bestimmte Vertragsvorschriften nur die Mitgliedstaaten ansprechen (vgl. z.B. Art. 45 Abs. 3 AEUV), steht der Inpflichtnahme auch Privater im Übrigen daher nicht entgegen. 571 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 53; Wienbracke, DVP 2014, S. 487 (492) m.w.N. 572 Cremer, Jura 2015, S. 39 (40); Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 9, 132. 573 Vgl. ferner EuGH, ECLI: EU: C: 1976: 56, Rn. 4/ 6 ff.; dass., ECLI: EU: C: 2000: 530, Rn. 50; dass., ECLI: EU: C: 2007: 772, Rn. 33 ff. 574 Cremer, Jura 2015, S. 39 (42). 575 Nur in Bezug auf diese dem EuGH zustimmend: Frenz, Europarecht, Rn. 244; Hobe, Europarecht, Rn. 639; Streinz, Europarecht, Rn. 875 f. <?page no="187"?> Herr Bosman, ein belgischer Berufsfußballspieler, war zunächst bei einem belgischen Erstligaverein beschäftigt, bevor sodann ein Wechsel zu einem französischen Zweitligaverein anstand. Dieser hatte das nach der Satzung des als privater Verein organisierten französischen Fußballverbands bestehende Kontingent von Ausländern, die er beschäftigen durfte, allerdings bereits ausgeschöpft. Wenngleich es sich bei dieser sog. Ausländerklausel, welche die Voraussetzungen ür die Ausübung einer unselbstständigen Tätigkeit durch Berufssportler festlegt, um eine von einem nationalen Sportverband aufgestellte Regel handelt, so ist nach dem Vorstehenden doch auch dieser Private an das Diskriminierungsverbot des Art. 45 Abs. 2 AEUV gebunden (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1995: 463). Entgegen abweichender Auffassung im Schrifttum, die bezüglich grundfreiheitsbeeinträchtigenden Verhaltens von Privaten vielmehr die Konstruktion der mitgliedstaatlichen Schutzpflicht bemüht ( 3. Teil 1.4.1.1) und im Übrigen auf die Art. 101 ff. AEUV sowie etwaiges Sekundärrecht verweist, 576 ist die o.g. Rechtsprechung richtigerweise nicht nur zu begrüßen, sondern zudem noch auf die übrigen Grundfreiheiten zu übertragen. 577 Hier ür spricht nicht nur deren Konvergenz ( 3. Teil 1.1.3), sondern auch, dass nur durch die Bejahung ebenfalls einer unmittelbaren Drittwirkung (Horizontalwirkung) sämtlicher Grundfreiheiten deren praktische Wirksamkeit (effet utile, vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV 2. Teil 1.4) sichergestellt ist. 578 Auf der Rechtfertigungsebene ( 3. Teil 1.5) ist insoweit freilich die Besonderheit zu beachten, dass es sich beim Grundfreiheiteneingriff durch einen Privaten häufig um ein Gebrauchmachen von dessen auch unionsgrundrechtlich geschützter, mit den Grundfreiheiten gleichrangiger (Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Hs. 2 EUV) Vertragsfreiheit handeln wird (vgl. Art. 15 Abs. 1, Art. 16 EU-GrCh), so dass im Kollisionsfall ein möglichst schonender Ausgleich zwischen beiden Primärrechtspositionen herzustellen ist, sog. praktische Konkordanz ( 2. Teil 1 a.E.). 579 576 Classen, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 8; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 60 ff.; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 28. 577 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 2018: 257, Rn. 76 f.; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 57; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 842. 578 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 25, 28 f.; Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (499) m.w.N. 579 Herdegen, Europarecht, § 14 Rn. 13; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 30; Wienbracke, DVP 2014, S. 487 (492); ders., VR 2017, S. 421 (425 f.), jeweils m.w.N. <?page no="188"?> Das BVerfG (NJW 2016, S. 3135) hat Art. 49 und Art. 56 AEUV dadurch eine mittelbare Drittwirkung im Privatrecht zuerkannt, 580 dass es diese Bestimmungen ausdrücklich als Verbotsgesetze i.S.v. § 134 BGB qualifiziert hat ( 3. Teil 1.1.4). In Bezug auf die Art. 28 ff., Art. 45 und Art. 63 AEUV kann m.E. nichts anderes gelten. 581 Ihrem Wortlaut nach scheinen einige Grundfreiheiten nur vor einer „auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung“ (Art. 45 Abs. 2 AEUV), d.h. einer diesbezüglichen „Diskriminierung“, zu schützen (Art. 36 S. 2 und Art. 65 Abs. 3 AEUV; vgl. ferner Art. 49 Abs. 2 AEUV: „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats ür seine eigenen Angehörigen“; Art. 57 Abs. 3 AEUV: „unter den Voraussetzungen, welche dieser Mitgliedstaat ür seine eigenen Angehörigen vorschreibt“), wohingegen die Formulierung anderer Grundfreiheiten wiederum lediglich das Verbot von „Beschränkungen“ der betreffenden Wirtschaftstätigkeit nahelegt (so Art. 34 f. AEUV, Art. 49 Abs. 1 AEUV, Art. 56 Abs. 1 AEUV und Art. 63 AEUV 3. Teil 1.1.2). 582 Mittlerweile ist jedoch weitgehend anerkannt, dass sämtliche Grundfreiheiten als bereichsspezifische Konkretisierungen des allgemeinen Diskriminierungsverbots des Art. 18 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 1.2.2) sowohl Diskriminierungsverbote enthalten als auch - aus Gründen ihrer praktischen Wirksamkeit (effet utile, vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV 2. Teil 1.4) - Beschränkungsverbote. 583 Denn nicht nur solche nationalen Maßnahmen, die zwischen in- und ausländischen Staatsangehörigen bzw. Produkten differenzieren, vermögen den durch die Grundfreiheiten zu schützen gesuchten Binnenmarkt zu ge ährden, sondern ebenfalls unterschiedslos anwendbare Regelungen der Mitgliedstaaten (teleologisches Argument). 584 580 Vgl. Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 23 a.E.; Streinz, Europarecht, Rn. 875 a.E. 581 Wienbracke, EWiR 2017, S. 29 (30) m.w.N. 582 Ebenso: Dittert, Europarecht, S. 201 f.; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 24; Streinz, Europarecht, Rn. 823. 583 Siehe nur Cremer, Jura 2015, S. 39 (47 f.); Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (933 ff.) m.w.N. 584 Streinz, Europarecht, Rn. 830. <?page no="189"?> Gegenstand des o.g. Bosman-Falls war nicht nur die diskriminierende Ausländerklausel ( 3. Teil 1.4.1.3), sondern ebenfalls die Transferregeln des nationalen Fußballverbands. Nach dieser durfte ein Berufsfußballspieler bei Ablauf des Vertrages, der ihn an einen Verein band, nur dann von einem anderen Verein beschäftigt werden, wenn dieser dem bisherigen Verein zuvor eine Transfer-, Ausbildungs- oder Förderungsentschädigung gezahlt hatte. Wenngleich diese Regel auch ür den Wechsel von Spielern zwischen Vereinen galt, die demselben nationalen Verband angehörten, d.h. EU- Ausländer weder offen noch verdeckt gegenüber Inländern diskriminierte, so erblickte der EuGH in ihr dennoch einen Eingriff in Art. 45 AEUV. Denn die vorstehende Transferregel sei dazu geeignet gewesen, die Freizügigkeit der Spieler, die ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollten, dadurch einzuschränken, dass sie diese Spieler sogar nach Ablauf der Arbeitsverträge mit den Vereinen, denen sie angehörten, davon abhielt, diese Vereine zu verlassen (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1995: 463). In welcher Form grenzüberschreitende Sachverhalte gegenüber innerstaatlichen schlechter behandelt werden - ob durch eine (offene oder versteckte) Diskriminierung ( 3. Teil 1.4.2.1) oder eine Beschränkung ( 3. Teil 1.4.2.2) - ist ür die Bejahung eines Eingriffs in den Schutzbereich der betreffenden Grundfreiheit ebenso wenig von Bedeutung wie die Frage, ob dieser in Gestalt eines Rechts- oder Realakts erfolgt. 585 Demgemäß verzichtet denn insoweit auch der EuGH nicht selten auf eine nähere Abgrenzung zwischen diesen beiden Eingriffsformen. 586 Relevant kann diese jedoch auf der Rechtfertigungsebene werden ( 3. Teil 1.4.2.1 und 1.5.1.2). 587 Gegenüber den Beschränkungsverboten der Art. 34 f. AEUV speziellere Formen von Eingriffen in die Warenverkehrsfreiheit untersagt Art. 30 AEUV mit dem Verbot der Erhebung von (Einfuhr- und Ausfuhr-)Zöllen sowie - als gleichsam „eingebauten“ Umgehungsverboten 588 - Abgaben 585 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 90; Streinz, Europarecht, Rn. 838 a.E. 586 Nachweise bei Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 106. 587 Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (935) m.w.N. 588 Vgl. Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 11 Rn. 15; Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 266 m.w.N. <?page no="190"?> gleicher Wirkung wie (Einfuhr- und Ausfuhr-)Zölle zwischen den Mitgliedstaaten ( 3. Teil 1.2.2). (Ein- und Ausfuhr-)„Zölle“ i.S.v. Art. 30 AEUV sind als solche bezeichnete, hoheitlich auferlegte Abgaben, die wegen des Grenzübertritts (sog. Grenzkausalität) einer Ware auf Grundlage eines Zolltarifs erhoben werden, ohne dass eine entsprechende Abgabe ür gleichartige inländische Waren besteht. 589 Während innerhalb der europäischen Zollunion zwischen den Mitgliedstaaten keine Zölle (und zollgleichen Abgaben) erhoben werden dürfen (Art. 30 AEUV) und gegenüber Drittstaaten ein Gemeinsamer Zolltarif durch den Rat festgelegt wird (Art. 3 Abs. 1 lit. a), e) i.V.m. Art. 31 bzw. Art. 207 AEUV), zeichnet sich eine Freihandelszone (z.B.: EFTA), in der Binnenzölle ebenfalls verboten sind, dadurch aus, dass jeder Mitgliedstaat seinen eigenen Außenzoll gegenüber Nichtmitgliedstaaten festsetzt. 590 Obwohl nach Art. I: 1 GATT bei Zöllen alle Vorteile etc., die eine Vertragspartei ür eine Ware gewährt, welche aus einem anderen Land stammt, ür alle gleichartigen Waren gewährt werden, die aus den Gebieten der anderen Vertragsparteien stammen, ist die EU von diesem sog. Meistbegünstigungsprinzip in ihrer Eigenschaft als Zollunion auch i.S.d. GATT ausgenommen, siehe Art. XXIV GATT. 591 Von der EU geschlossen wurde das WTO- Abkommen - inkl. des GATT als Anhang hierzu - auf Grundlage von Art. 207 AEUV. 592 „Abgaben gleicher Wirkung“ (wie Ein- und Ausfuhrzölle) i.S.v. Art. 30 AEUV sind nach der EuGH-Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 1969: 30) auch noch so geringe, den in- oder ausländischen Waren wegen ihres Grenzübertritts einseitig auferlegte finanzielle Belastungen, wenn sie kein Zoll im eigentlichen Sinne sind, unabhängig von ihrer Bezeichnung und der Art ihrer Erhebung - selbst wenn sie 589 Hermann, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 30 AEUV Rn. 9; Voet van Vormizeele, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 30 AEUV Rn. 3. 590 Vgl. Dittert, Europarecht, S. 205; Jochum, Europarecht, Rn. 598 f., 824. 591 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 11 Rn. 13. 592 Hahn, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 207 AEUV Rn. 144 ff. <?page no="191"?> nicht zugunsten des Staates erhoben werden und keine diskriminierende oder protektionistische Wirkung haben und wenn die belastete Ware nicht mit inländischen Erzeugnissen in Wettbewerb steht. Um sich einen vollständigen und zutreffenden Überblick über alle ein- und ausgehenden Warenbewegungen zu verschaffen, nimmt die Italienische Republik entsprechende statistische Erhebungen vor. Die Kosten hier ür werden in Form einer Statistikgebühr den Im- und Exporteuren auferlegt. Die Kommission sieht hierin einen Verstoß gegen Art. 30 AEUV. Hat sie mit Ihrer Einschätzung Recht? Ja. Bei der Statistikgebühr handelt es sich um eine Abgabe zollgleicher Wirkung i.S.v. Art. 30 AEUV. Zwar sind Gebühren u.a. dann nicht als solche zu qualifizieren, wenn sie ein der Höhe nach angemessenes Entgelt ür einen dem einzelnen Wirtschaftsteilnehmer tatsächlich geleisteten Dienst darstellen (EuGH, ECLI: EU: C: 1977: 6). Hier allerdings sind die fraglichen statistischen Erhebungen ür das gesamte Wirtschaftsleben, namentlich die zuständige mitgliedstaatliche Verwaltung, von Nutzen. Dem einzelnen Imbzw. Exporteur verschaffen sie dagegen keinen tatsächlichen Individualvorteil (EuGH, ECLI: EU: C: 1969: 29). Ein dänisches Gesetz sieht die Erhebung einer als „Zulassungssteuer“ bezeichneten Abgabe auf neue Kraftfahrzeuge vor. Bemessungsgrundlage dieser bei der ersten Zulassung eines Kraftfahrzeugs im Inland erhobenen Steuer ist der Kaufpreis. Nachdem der Dänische Berufsverband der Kraftfahrzeugimporteure (DBI) ür die Benutzung durch seinen Direktor einen neuen Audi zu einem Gesamtpreis von 498.546,- DKK gekauft hatte, von denen 297.456,- DKK auf die Zulassungssteuer entfielen, beantragte der DBI bei den dänischen Finanzbehörden deren Erstattung. Die Zulassungssteuer verstieße nämlich gegen Art. 30 AEUV und Art. 110 AEUV. Kann diese Auffassung zutreffen? Nein. Nach dem System des Vertrages kann ein und dieselbe Abgabe nicht zugleich Art. 30 AEUV und Art. 110 AEUV unterfallen, da Art. 30 AEUV die Erhebung von Ein- und Ausfuhrzöllen sowie Abgaben gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verbietet, wohingegen Art. 110 AEUV sich darauf beschränkt, die Diskriminierung von Waren aus anderen Mitgliedstaaten mittels inländischer Abgaben zu verbieten. Sind die Voraussetzungen einer Abgabe zollgleicher Wirkung gegeben, so ist der Umstand, dass sie auf einer nach dem Überschreiten der Grenze liegenden Stufe der Vermarktung oder Verarbeitung des Erzeugnisses erhoben wird, unerheblich, sobald das Erzeugnis allein wegen des Überschreitens <?page no="192"?> dieser Grenze belastet wird und damit ein Umstand gegeben ist, der die Erhebung einer identischen Abgabe zu Lasten des einheimischen Erzeugnisses ausschließt. Nicht als Abgaben zollgleicher Wirkung anzusehen sind hingegen solche Geldlasten, die Bestandteil einer allgemeinen inländischen Abgabenregelung sind, die einheimische und einge ührte Erzeugnisse systematisch nach denselben Merkmalen erfasst (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1977: 52). Die hier in Rede stehende Abgabe ür neue Fahrzeuge wird nicht etwa deshalb erhoben, weil die Grenze des Mitgliedstaats, der sie einge ührt hat, überschritten wird, sondern anlässlich der ersten Zulassung des Fahrzeugs im Gebiet dieses Staates, d.h. sie gehört zu einem allgemeinen inländischen System von Abgaben auf Waren und ist daher einzig anhand von Art. 110 AEUV zu überprüfen (EuGH, ECLI: EU: C: 2003: 352). In ihrer gleichheitsrechtlichen Ursprungsdimension als Diskriminierungsverbote bzw. - als dessen Kehrseite - Gebote der Inländergleichbehandlung sorgen die Grundfreiheiten ür Marktbzw. Wettbewerbsgleichheit. 593 Personen und Produkte mit Herkunft aus dem EU-Ausland sollen im Aufnahmemitgliedstaat denselben Regelungen unterworfen werden wie inländische, sog. Bestimmungslandprinzip. 594 Eine Diskriminierung i.S.d. Grundfreiheiten liegt vor, wenn der grenzüberschreitende Sachverhalt im Vergleich zu einem entsprechenden innerstaatlichen Vorgang schlechter behandelt wird. 595 In Erscheinung treten kann eine solche Diskriminierung zum einen offen (synonym: direkt, formal bzw. unmittelbar), indem ür die Schlechterbehandlung des grenzüberschreitenden Sachverhalts ausdrücklich an das grundfreiheitlich verbotene „Tabukriterium“ der ausländischen Staatsangehörigkeit (so bei den Personenfreiheiten) bzw. der Produktherkunft oder 593 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 415, 440; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 10 Rn. 796; Dittert, Europarecht, S. 202; Hobe, Europarecht, § 13 Rn. 615; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 2. 594 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 835 a.E. 595 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 25, 28, 90; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 835. <?page no="193"?> des Kapitalanlageorts (so bei den Art. 28 ff. und Art. 63 AEUV) angeknüpft wird. 596 Das Parlament des Mitgliedstaats T hat ein Gesetz erlassen, wonach den Beruf des Fremden ührers dort nur ausüben darf, wer die zu diesem Zweck vom zuständigen Ministerium durchge ührte Prüfung abgelegt hat. Zu dieser Prüfung dürfen dem Gesetz zufolge ausschließlich solche Personen zugelassen werden, die Staatsangehörige von T sind. Art. 45 Abs. 1, Art. 49 Abs. 1 und Art. 56 Abs. 1 AEUV verbieten jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten in Bezug auf den Zugang zu einer Beschäftigung, die Niederlassung sowie die Erbringung von Dienstleistungen. Weil nach der o.g. Regelung im Gesetz von T der Zugang zum Beruf des Fremden ührers jedoch explizit auf eigene Staatsangehörige beschränkt ist, handelt es sich hierbei um eine offene Diskriminierung (zum Ganzen vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1994: 109). Zum anderen liegt eine Diskriminierung aber auch dann vor, wenn - wie in der Praxis häufiger der Fall - formal ein scheinbar herkunftsneutrales Unterscheidungskriterium verwendet wird (z.B. Sprachkenntnisse), dessen Anwendung sich im Ergebnis aber ebenfalls typischerweise zum Nachteil ausländischer Personen bzw. Produkte auswirkt. 597 Ob diese Wirkung i.S.e. Umgehungsversuchs des von der jeweiligen Grundfreiheit ausdrücklich untersagten Tabukriteriums (z.B. gem. Art. 45 Abs. 2 AEUV der Staatsangehörigkeit) beabsichtigt ist, ist ür die Bejahung einer derart versteckten (synonym: indirekten, materiellen bzw. mittelbaren) Diskriminierung ohne Bedeutung. 598 Im vorstehenden Beispielsfall werden nur solche Personen zur Prüfung zugelassen, die ihren ständigen Wohnsitz in T haben. Wenngleich diese Regelung unabhängig von der Nationalität sowohl ür Staatsangehörige von T als auch der anderen Mitgliedstaaten gilt, so besteht dennoch die Gefahr, dass sie sich hauptsächlich zum Nachteil der letztgenannten Gruppe auswirkt. Denn Personen mit ständigem Wohnsitz in T (Gebietsansässige) werden meist dessen eigenen bzw. umge- 596 Dittert, Europarecht, S. 202; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 28; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 835. 597 Dittert, Europarecht, S. 202; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 28; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 835. 598 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 835; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 35. <?page no="194"?> kehrt Gebietsfremde i.d.R. ausländische Staatsangehörige sein. Deshalb liegt eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vor (zum Ganzen vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1995: 31). Welche Art von Diskriminierung (offen oder versteckt) im jeweiligen Fall vorliegt, kann ür die Frage von deren etwaiger Rechtfertigung relevant sein ( 3. Teil 1.5.1.2). 599 Ist nach dem Vorstehenden eine (offene oder versteckte) Diskriminierung festgestellt, so ändert sich an diesem Ergebnis auch dadurch nichts, dass möglicherweise nicht alle Inländer begünstigt bzw. dass nicht allein die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten benachteiligt werden. 600 Dass in der vorstehenden Fallabwandlung auch solche (eigenen) Staatsangehörigen von T, die ihren ständigen Wohnsitz im Ausland haben, nicht den Beruf des Fremden ührers in T ergreifen können, beseitigt nicht die bestehende diskriminierende Wirkung des Wohnsitzerfordernisses gegenüber den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten. Der Annahme einer Diskriminierung nicht entgegen steht schließlich auch der Umstand, dass ggf. nicht sämtliche EU-Ausländer gegenüber den jeweils eigenen Staatsangehörigen diskriminiert werden, sondern eine Maßnahme innerhalb der erstgenannten Gruppe eine Binnendifferenzierung vornimmt und nur Angehörige bestimmter - nicht hingegen sämtlicher anderer - Mitgliedstaaten benachteiligt (so z.B. das Verbot von „Rechtslenkern“ im Fallbeispiel unter 3. Teil 1.3.2.4) 601 In ihrer freiheitsrechtlichen Dimension als Beschränkungsverbote sichern die Grundfreiheiten die Freiheit (Liberalisierung) des Marktzugangs. 602 Waren - entsprechendes gilt bezüglich der übrigen Grundfreiheiten -, die 599 Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (935) m.w.N. 600 Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (502); ders., NZA-RR 2017, S. 113 (120), jeweils m.w.N. Dort (S. 118) auch zur nicht als Diskriminierung zu qualifizierenden unterschiedlichen Regelung einer Frage (z.B. der sozialen Sicherheit) durch zwei Mitgliedstaaten ( 3. Teil 2.2.3.1). 601 Wienbracke, NZA-RR 2016, S. 113 (119) m.w.N. 602 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 415, 442; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 10 Rn. 796; Classen, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 1 f. <?page no="195"?> in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den dortigen Verkehr gebracht worden sind, sind auch in den übrigen Mitgliedstaaten verkehrsähig, sog. Prinzip der gegenseitigen Ankerkennung bzw. Herkunftslandprinzip. 603 Erfolgt ist diese Erweiterung der Grundfreiheiten über reine Diskriminierungsverbote hinaus auch auf unterschiedslos geltende Regelungen zunächst in Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit. 604 Grundlegend insoweit die sog. Dassonville-Formel (EuGH, ECLI: EU: C: 1974: 82): Danach ist als „Maßnahme gleicher Wirkung“ wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkung (Art. 34 AEUV) jede Handelsregelung anzusehen, die geeignet ist, den innerunionalen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern. Nachfolgend hat der EuGH diese Rechtsprechung auf die übrigen Grundfreiheiten übertragen. 605 Wenngleich es nach dem Vorstehenden ür die Bejahung einer Beschränkung nicht darauf ankommt, ob die betreffende Maßnahme den innerunionalen Handel spürbar beeinträchtigt (EuGH, ECLI: EU: C: 1984: 101) - der AEUV verbietet jede auch noch so unbedeutende Beschränkung einer der in ihm vorgesehenen Grundfreiheiten (EuGH, ECLI: EU: C: 2016: 464) -, so fehlt es an ihrer Eignung hierzu allerdings dann, wenn der Eintritt der beschränkenden Wirkung von einem zukünftigen hypothetischen Ereignis abhängig ist (EuGH, ECLI: EU: C: 2000: 49). Allgemein gilt: Sind die restriktiven Wirkungen einer Maßnahme zu ungewiss und zu mittelbar, so kann sie nicht als geeignet dazu angesehen werden, beispielsweise den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern (EuGH, ECLI: EU: C: 1993: 838). M.a.W.: Die Annahme einer Beschränkung setzt zwar voraus, dass die negativen Auswirkungen der betreffenden Maßnahme auf die Grundfreiheiten hinreichend real sind (Adäquanz bzw. Zurechnungs- 603 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 10 Rn. 800; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 13; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 837; Hobe, Europarecht, § 13 Rn. 615. 604 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 30. 605 Nachweise bei Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 30. Enger dagegen die zu Art. 35 AEUV ergangene Groenveld- Formel des EuGH (ECLI: EU: C: 1979: 253); nachfolgend vgl. allerdings die EuGH-Entscheidung i.S. Gysbrechts und Santurel Inter (ECLI: EU: C: 2008: 730) und New Valmar (ECLI: EU: C: 2016: 464). <?page no="196"?> zusammenhang zwischen der Maßnahme und den Beschränkungswirkungen 606 ), eine besondere Intensität müssen sie hingegen nicht aufweisen (keine Bagatellbzw. De-minimis-Grenze 607 ). Im grundfreiheitlichen Kontext erfasst der Begriff „Beschränkung“ alle Maßnahmen, welche die Ausübung der durch den AEUV garantierten Grundfreiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können (EuGH, ECLI: EU: C: 1995: 411). Herr Corsten, ein selbstständiger Architekt, beauftragte im Rahmen eines Bauvorhabens in Deutschland ein in den Niederlanden ansässiges, preisgünstiges Unternehmen mit Estricharbeiten. Wenngleich es diese in den Niederlanden rechtmäßigerweise aus ührte, so war es in Deutschland doch nicht in die Handwerksrolle eingetragen. Nachfolgend verhängte die zuständige deutsche Ordnungsbehörde daher gegen Herrn Corsten ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen das SchwarzArbG. Danach nämlich begeht derjenige eine Ordnungswidrigkeit, der ein Unternehmen, das nicht in die Handwerksrolle eingetragen ist, mit selbstständigen Handwerksarbeiten beauftragt. Handelt es sich bei der deutschen Regelung, welche die Verrichtung handwerklicher Tätigkeiten durch in anderen Mitgliedstaaten ansässige Dienstleistende davon abhängig macht, dass diese in Deutschland in die Handwerksrolle eingetragen sind, um einen Eingriff in Art. 56 Abs. 1 AEUV? Ja. Denn diese Vorschrift verlangt nicht nur die Beseitigung jeder Diskriminierung des in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen - selbst wenn sie unterschiedslos ür inländische Dienstleistende wie ür solche aus anderen Mitgliedstaaten gelten -, sofern sie geeignet sind, die Tätigkeiten des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig entsprechende Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Letzteres ist hier der Fall. Meisterprüfungen sind im EU-Ausland weitgehend unbekannt. Müssten die dort ansässigen Handwerker vor der vorübergehenden (Art. 57 Abs. 3 AEUV) Erbringung ihrer Dienstleistungen in Deutschland hier eigens 606 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 43. 607 Frenz, Europarecht, Rn. 238; Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (936) m.w.N. <?page no="197"?> einen solchen - mit hohen Anforderungen verbundenen - Leistungsnachweis erbringen, so hätte dies eine abschreckende Wirkung auf den Zutritt dieses Personenkreises zum deutschen Markt. Die Abgrenzung zwischen versteckten Diskriminierungen ( 3. Teil 1.4.2.1) und Beschränkungen ist freilich nicht immer einfach. 608 „Vielfach enthält eine Beschränkung zugleich eine (zumindest versteckte) Diskriminierung und umgekehrt.“ 609 Nachfolgend hat der EuGH diesen weiten Beschränkungsbegriff allerdings in Teilen wieder eingeschränkt. 610 Denn in der Zwischenzeit hatten sich Wirtschaftsteilnehmer immer häufiger auf die Grundfreiheiten berufen, um jedwede Regelung zu beanstanden, die sich beschränkend auf ihre geschäftliche Freiheit auswirkte - auch wenn sie beispielsweise nicht auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet war. Demgemäß hat der EuGH in seiner Keck-Rechtsprechung entschieden, dass die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten i.S.d. Urteils Dassonville unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern diese Bestimmungen ür alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Sind diese Voraussetzungen nämlich er üllt, so ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang ür diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies ür inländische Erzeugnisse tut (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1993: 905). Im Hinblick auf die übrigen Grundfreiheiten gilt abermals Entsprechendes, sog. Beschäftigungsbzw. Niederlassungsmodalitäten etc. 611 608 Vgl. Wienbracke, VR 2017, S. 275 (279) m.w.N. 609 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 106. 610 Dazu: Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 14. 611 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 104; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 41 f.; Wienbracke, VR 2017, S. 374 (377); ders., NZA 2017, S. 1036 (1039), jeweils m.w.N. <?page no="198"?> Aufgrund der Keck-Rechtsprechung, welche die Dassonville-Formel tatbestandlich einschränkt (Verengung von deren weiten Eingriffsbegriff 612 ), ist speziell in Bezug auf Waren zu differenzieren zwischen einerseits produktbezogenen und andererseits absatz-/ verkaufs-/ vertriebsbezogenen Maßnahmen (allgemein: zwischen Zugangs- und Ausübungsbeschränkungen). 613 Letztere regeln lediglich das Marktverhalten („das Wie“; z.B. Ladenschlusszeiten) und sind daher mangels Auswirkungen auf den Marktzugang („das Ob“) nicht als Beschränkung zu qualifizieren; Erstere hingegen schon, selbst wenn sie unterschiedslos ür alle Erzeugnisse gelten (z.B. nationale Vorschriften hinsichtlich der Abmessung, Aufmachung, Bezeichnung, Etikettierung, Form, des Gewichts, der Verpackung bzw. Zusammensetzung). 614 Hinsichtlich nichtdiskriminierender Maßnahmen sind die Grundfreiheiten daher auf bloße Marktzugangsfreiheiten reduziert. 615 Die Einzelhändler B. Keck und D. Mithouard wurden wegen Verstoßes gegen das in Frankreich seinerzeit geltende Verbot des Weiterverkaufs von Erzeugnissen zum Verlustpreis vor einem Gericht in Straßburg angeklagt. Zu ihrer Verteidigung machten sie geltend, dass das Verbot mit Art. 34 AEUV unvereinbar sei. Handelt es sich bei diesem überhaupt um eine Beschränkung i.S.d. Vorschrift? Nein. Das mitgliedstaatliche Verbot des Weiterverkaufs zum Verlustpreis bezweckt keine Regelung des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten, sondern nimmt den Wirtschaftsteilnehmern lediglich eine bestimmte Methode der Absatz örderung. Zudem gilt es gleichermaßen 612 Cremer, Jura 2015, S. 39 (49). A.A. Frenz, Europarecht, Rn. 236: „Schutzbereichsbegrenzung“. 613 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 100; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 41; Streinz, Europarecht, Rn. 840. 614 EuGH, ECLI: EU: C: 1993: 905, Rn. 11 ff.; dass., ECLI: EU: C: 2009: 270, Rn. 62 ff.; Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 442, 444 f.; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 100. Zu einer vergleichbaren Differenzierung im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GG siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 246 ff., 259 ff. m.w.N. 615 Streinz, Europarecht, Rn. 843. Vgl. auch Sauer, JuS 2017, S. 310 (313): „[F]ür den Bereich nach Marktzutritt [werden die Grundfreiheiten] auf das ursprüngliche Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zurückgeführt, während […] für den Marktzutritt selbst […] jede Beschränkung“ einen Eingriff darstellt. <?page no="199"?> ür alle in Frankreich tätigen Wirtschaftsteilnehmer und wirkt sich rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise auf den Absatz in- und ausländischer Produkte aus. Zusammenfassend heißt es in der späteren ANETT-Rechtsprechung: Maßnahmen eines Mitgliedstaats, mit denen (1) bezweckt oder bewirkt wird, Waren aus anderen Mitgliedstaaten weniger günstig zu behandeln, sind ebenso als Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen anzusehen wie (2) Vorschriften über die Voraussetzungen, denen die Waren entsprechen müssen - selbst wenn diese Vorschriften unterschiedslos ür alle Erzeugnisse gelten - und ferner (3) sonstige Maßnahmen, welche den Zugang zum Markt eines Mitgliedstaats ür Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten behindern (EuGH, ECLI: EU: C: 2012: 241), wie beispielsweise Nutzungs-/ Verwendungsbeschränkungen (EuGH, ECLI: EU: C: 2009: 336 3. Teil 1.3.2.4). M.a.W.: Ein Eingriff speziell in Art. 34 AEUV ist bereits dann zu bejahen, wenn die betreffende Maßnahme auch nur einer der drei vorgenannten Stufen von Diskriminierung, fehlender gegenseitiger Anerkennung oder Marktzugangsschranke zugeordnet werden kann (EuGH, ECLI: EU: C: 2009: 66). 616 Nach Art. 56 der italienischen Straßenverkehrsordnung ist es verboten, ein Kradfahrzeug zusammen mit einem Anhänger zu verwenden, auch wenn dieser eigens hierzu konzipiert worden und in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden ist. Handelt es sich bei diesem Verbot um einen Eingriff in Art. 34 AEUV? Ja, und zwar in Gestalt einer Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen i.S.d. Vorschrift. Denn ein Verbot der Verwendung eines Erzeugnisses im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat erheblichen Einfluss auf das Verhalten der Verbraucher, welches sich seinerseits wiederum auf den Zugang des Erzeugnisses zum Markt dieses Mitgliedstaats auswirkt. Verbraucher, die wissen, dass sie ihr Kradfahrzeug nicht mit einem Anhänger verwenden dürfen, haben praktisch kein Interesse daran, einen solchen Anhänger zu erwerben. Art. 56 der italienischen Straßenverkehrsordnung verhindert die Nachfrage nach Anhängern auf dem dortigen Markt und behindert damit deren Einfuhr. 616 Dittert, Europarecht, S. 214. <?page no="200"?> Der Eingriff in den Schutzbereich einer im konkreten Fall anwendbaren Grundfreiheit ist gerechtfertigt, wenn die Eingriffsmaßnahme von einer (Grundfreiheiten-)Schranke getragen wird ( 3. Teil 1.5.1) und die beim Gebrauchmachen von diesem Rechtfertigungsgrund ihrerseits zu beachtenden Einschränkungen (die sog. Schranken- Schranken 3. Teil 1.5.2) gewahrt sind. 617 M.a.W.: Trotz Vorliegens eines Eingriffs in den Schutzbereich einer Grundfreiheit ist diese gleichwohl dann nicht verletzt bzw. liegt dann kein Verstoß gegen diese vor, wenn die jeweilige Diskriminierung bzw. Beschränkung gerechtfertigt ist. 618 Letztlich geht es bei der Rechtfertigungsprüfung um die Herstellung eines sachgerechten Ausgleichs zwischen den europäischen Grundfreiheiten einerseits und i.d.R. nationalen bzw. privaten Gestaltungskompetenzen/ Interessen andererseits. 619 Gründe, die einen Eingriff in die jeweilige Grundfreiheit zu rechtfertigen vermögen, d.h. diese beschränken können, sind zum einen ausdrücklich im AEUV genannt, siehe v.a. dessen Art. 36 S. 1 betreffend die Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 f. AEUV): öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert, des gewerblichen und kommerziellen Eigentums; Art. 45 Abs. 3 betreffend die Arbeitnehmerfreizügigkeit: öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit. Ebenso Art. 52 Abs. 1 AEUV betreffend die Niederlassungsfreiheit bzw. i.V.m. Art. 62 AEUV betreffend die Dienstleistungsfreiheit. 617 Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (505, 508 f.) m.w.N. Zur Frage der Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage für den Eingriff (Vorbehalt des Gesetzes) siehe Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 108 f. 618 Cremer, Jura 2015, S. 39 (51). 619 Vgl. Classen, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 12. <?page no="201"?> Als Ausnahmevorschriften sind die vorgenannten Bestimmungen nach allgemeiner juristischer Methodik jeweils eng auszulegen ( 2. Teil 1.4) und nicht analogie ähig. 620 Aufgrund der Höherrangigkeit des gesamten EU-Rechts vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten dürfen die im AEUV genannten Gründe ür die Rechtfertigung eines Grundfreiheiteneingriffs keinesfalls nach Maßgabe des jeweiligen mitgliedstaatlichen Verständnisses ausgelegt werden, sondern hat dies vielmehr rein unionsrechtsautonom zu erfolgen ( 2. Teil 1.4). 621 Der Rechtfertigungsgrund der „öffentlichen Ordnung“ verlangt, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Ge ährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. 622 Während i.S.d. deutschen Ordnungsrechts (z.B. von § 14 Abs. 1 OBG NRW) der Begriff „öffentliche Ordnung“ in einem weiten Sinne als die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden wird, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird (BVerfG, BVerfGE 69, 315), vermag nach Art. 27 Abs. 2 S. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie 2004/ 38/ EG 623 noch nicht einmal eine strafrechtliche Verurteilung die Beschränkung des Aufenthaltsrechts eines Unionsbürgers ohne Weiteres zu begründen. Das Schutzgut der (inneren und äußeren) „öffentlichen Sicherheit“ setzt die Existenzge ährdung eines Mitgliedstaats voraus. 624 620 Vgl. Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (506); ders., VR 2017, S. 421 (425), jeweils m.w.N. 621 ebd. 622 Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (506) m.w.N. 623 ABl. EU L 158 vom 30.4.2004, S. 77. 624 Wienbracke, VR 2017, S. 421 (425) m.w.N. <?page no="202"?> Dem EuGH (ECLI: EU: C: 1984: 256) zufolge ist beispielsweise die Unterbrechung der Versorgung eines Mitgliedstaats mit Erdölerzeugnissen dazu geeignet, dessen öffentliche Sicherheit schwer zu beeinträchtigen. Denn wegen ihrer außerordentlichen Bedeutung als Energiequelle in der modernen Wirtschaft sind diese Erzeugnisse wesentlich ür die Existenz eines Staates. Um aus Gründen der „öffentlichen Gesundheit“ gerechtfertigt zu sein, muss die betreffende Maßnahme den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung v.a. vor Krankheiten mit epidemischem Potential bzw. des Lebens von Menschen zum Gegenstand haben. 625 Um den Alkoholkonsum v.a. bei Verbrauchern mit einem ge ährlichen bzw. schädigenden Trinkverhalten zu verringern, hat das Parlament des Mitgliedstaats U ein Gesetz erlassen, das einen Mindestpreis ür alkoholische Getränke festsetzt. Dieses Ziel des Schutzes der Gesundheit von Menschen nimmt unter den in Art. 36 AEUV genannten Gütern und Interessen den ersten Rang ein. Insoweit ist es Sache der Mitgliedstaaten, in den durch den AEUV gezogenen Grenzen zu bestimmen, auf welchem Niveau sie diesen Schutz gewährleisten wollen (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2015: 845). Zudem berührt Art. 63 AEUV nach Art. 65 Abs. 1 AEUV nicht das Recht der Mitgliedstaaten, a) die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln, b) die unerlässlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, insbesondere auf dem Gebiet des Steuerrechts und der Aufsicht über Finanzinstitute, zu verhindern, sowie Meldeverfahren ür den Kapitalverkehr zwecks administrativer oder statistischer Information vorzusehen oder Maßnahmen zu ergreifen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt sind. Auch berühren die übrigen Bestimmungen der Art. 63 bis 66 AEUV nicht die Anwendbarkeit von Beschränkungen des Niederlassungsrechts, die mit den Verträgen vereinbar sind, siehe Art. 65 Abs. 2 AEUV. Allerdings dürfen die in Art. 65 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV genannten Maßnahmen und Verfahren nach Art. 65 Abs. 3 AEUV weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs i.S.d. Art. 63 AEUV darstellen. Zudem gilt der nunmehrige 625 Wienbracke, VR 2017, S. 421 (425) m.w.N. <?page no="203"?> Art. 65 Abs. 1 lit. a) AEUV nach der - nur den Kapital- und Zahlungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten betreffenden - Erklärung Nr. 7 zu Art. 73d des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft 626 allein ür diejenigen einschlägigen Vorschriften des Steuerrechts, die bereits Ende 1993 bestanden. Im obigen Beispielsfall der Grundstücksschenkung von M auf T ( 3. Teil 1.1.5 und 1.3.2.1) beruft sich die Regierung von B zur Rechtfertigung der schenkungsteuerlichen Schlechterbehandlung von Immobilienschenkungen zwischen Ausländern im Vergleich zu solchen, bei denen Schenker und/ oder Schenkungsemp änger Inländer sind, auf Art. 65 Abs. 1 lit. a) AEUV. Mit Erfolg, wenn sich die Höhe der Schenkungsteuer nach dem Wert des steuerpflichtigen Erwerbs sowie dem persönlichen Verhältnis des Erwerbers zum Schenker bemisst? Nein. Da die in Art. 65 Abs. 1 lit. a) AEUV vorgesehene Ausnahme ihrerseits durch Art. 65 Abs. 3 AEUV eingeschränkt wird, kann Art. 65 Abs. 1 lit. a) AEUV nicht dahingehend verstanden werden, dass jede Steuerregelung, die zwischen Steuerpflichtigen nach ihrem Wohnort (oder nach dem Mitgliedstaat ihrer Kapitalanlage) unterscheidet, ohne Weiteres mit dem Vertrag vereinbar wäre. Vielmehr ist zwischen einer nach Art. 65 Abs. 1 lit. a) AEUV erlaubten Ungleichbehandlung einerseits und einer nach Art. 65 Abs. 3 AEUV verbotenen willkürlichen Diskriminierung andererseits zu unterscheiden. Letztlich kann eine nationale Steuerregelung daher nur dann mit der Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar sein, wenn die in ihr enthaltene unterschiedliche Behandlung Situationen betrifft, die objektiv nicht miteinander vergleichbar sind. Hieran fehlt es vorliegend aber gerade. Denn die Höhe der Schenkungsteuer ür eine in B belegene Immobilie bemisst sich nach dem Wert dieser Immobilie sowie der zwischen Schenker und Schenkungsemp änger ggf. bestehenden familienrechtlichen Beziehung. Keines dieser beiden Kriterien ist aber abhängig vom Wohnort des Schenkers oder des Schenkungsemp ängers. Daher existiert im Hinblick auf die Höhe der Schenkungsteuer, die auf die Schenkung einer in B belegenen Immobilie erhoben wird, kein objektiver Unterschied, der es rechtfertigen würde, die Situation von Personen, von denen - wie vorliegend - keine im Inland wohnt, und die Situation, in der zumindest eine dieser Personen im Inland wohnt, ungleich zu behandeln (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2010: 216). Aus den in den vorerwähnten Bestimmungen des AEUV ausdrücklich genannten (geschriebenen) Gründen vermag jede Form des Ein- 626 ABl. EG 1992 C 191 vom 29.7.1992, S. 1 (99). <?page no="204"?> griffs in den Schutzbereich einer Grundfreiheit gerechtfertigt zu werden, d.h. Beschränkungen ebenso wie versteckte als auch offene Diskriminierungen. 627 Obgleich die geschriebenen Rechtfertigungsgründe dem EuGH zufolge eng auszulegen und nicht analogie ähig sind ( 3. Teil 1.5.1.1), hat er in seinem zur Warenverkehrsfreiheit ergangenen Cassis de Dijon-Urteil 628 (ECLI: EU: C: 1979: 42) die Existenz von ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen 629 als immanente Schranken der Grundfreiheiten anerkannt: 630 In Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung der Herstellung und Vermarktung ür die jeweilige Ware ist es Sache der Mitgliedstaaten, alle die Herstellung und Vermarktung dieser Ware betreffenden Vorschriften ür ihr Hoheitsgebiet zu erlassen; Hemmnisse ür den Binnenhandel der EU, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Erzeugnisse ergeben, müssen hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden. Diese Rechtfertigungskategorie der „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“ (so der EuGH in seiner Gebhard-Entscheidung, ECLI: EU: C: 1995: 411) hat der EuGH nachfolgend auf die übrigen Grundfreiheiten ausgedehnt. 631 Zu den vom EuGH nicht abschließend definierten „zwingenden Gründen des Allgemeinwohls“ gehören insbesondere die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit, die öffentliche Gesundheit, 627 Vgl. Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (935); ders., EuR 2012, S. 483 (505). Zur Bedeutung speziell der in Art. 52 Abs. 1 AEUV enthaltenen Formulierung „Sonderregelung für Ausländer“ siehe Wienbracke, VR 2017 S. 421 (425, Fn. 36), jeweils m.w.N. 628 Zuvor siehe bereits das EuGH-Urteil im Fall van Binsbergen (ECLI: EU: C: 1974: 131, Rn. 10/ 12 ff.). 629 Ebenso statt vieler Frenz, Europarecht, Rn. 248. A.A.: „tatbestandsimmanente Schranken“ bzw. Negation des Eingriffscharakters, siehe Cremer, Jura 2015, S. 39 (53). 630 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 455; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 118. Dort auch zum insofern im Ausgangspunkt auszumachenden Wertungswiderspruch. Zu den verfassungsimmanenten Schranken der Grundrechte des deutschen GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 153 ff. m.w.N. 631 Herdegen, Europarecht, § 14 Rn. 4. <?page no="205"?> die Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts der Systeme der sozialen Sicherung, der Schutz der Verbraucher, der Dienstleistungsempänger und der Arbeitnehmer, die Lauterkeit des Handelsverkehrs, die Betrugsbekämpfung, der Schutz der Umwelt und der Tiere, das geistige Eigentum, die Erhaltung des nationalen historischen und künstlerischen Erbes, Ziele der Sozialpolitik und der Kulturpolitik (vgl. Art. 4 Nr. 8 der sog. Dienstleistungs-Richtlinie 2006/ 123/ EG 632 ) sowie ferner die Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen, die Kohärenz der nationalen Steuerregelungen und die Verhinderung von Steuerflucht/ -missbrauch/ -umgehung. 633 Im Beispielsfall des Mitgliedstaats C ( 3. Teil 1.1.6) greift das Gesetz zur Kontrolle von Massenentlassungen im Fall von arbeitgebenden Unternehmen, die von Anteilseignern mit Sitz im EU-Ausland beherrscht werden, in deren Niederlassungsfreiheit ein. Da die in Art. 52 Abs. 1 AEUV ausdrücklich genannten Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit in diesem Fall ersichtlich nicht einschlägig sind, kommt eine Eingriffsrechtfertigung nur auf Grundlage eines zwingenden Grunds des Allgemeinwohls in Betracht. Dies ist vorliegend der Schutz der Arbeitnehmer und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, bei denen es sich jeweils um primärrechtlich legitime Zwecke handelt, vgl. Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EUV („soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“), Art. 9 („Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, […] Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes“), Art. 147 Abs. 1 und 2 (jeweils „hohen Beschäftigungsniveau“) sowie Art. 151 Abs. 1 („Förderung der Beschäftigung […], angemessenen sozialen Schutz […], ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau“) AEUV (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2016: 972). Rein wirtschaftliche Gründe (wie z.B. die Vermeidung von Steuermindereinnahmen) werden unionsrechtlich dagegen nicht anerkannt - jedenfalls insoweit, als die Rechtfertigung eines mitgliedstaatlichen Grundfreiheiteneingriffs in Rede steht ( 3. Teil 2.1.4.1). 634 632 ABl. EU L 376 vom 27.12.2006, S. 36. 633 Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (935 f.) m.w.N. 634 Cremer, Jura 2015, S. 39 (52); Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 118; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 16; Herdegen, Europarecht, § 14 Rn. 5; Streinz, Europarecht, Rn. 868; Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (936); ders., NZA-RR 2017, S. 113 (120), jeweils m.w.N. <?page no="206"?> Soweit sich die Regierung von C zur Rechtfertigung des durch das Gesetz zur Kontrolle von Massenentlassungen bewirkten Eingriffs in Art. 49 Abs. 1 S. 2 AEUV auf die Wahrung der Belange der nationalen Wirtschaft beruft ( 3. Teil 1.1.6), handelt es sich bei diesen um rein wirtschaftliche Gründe, die nach ständiger EuGH-Rechtsprechung keine Grundfreiheitenbeeinträchtigungen rechtfertigen können (EuGH, ECLI: EU: C: 2016: 972). Der Grund ür die Entwicklung der sog. Cassis-Formel 635 lag zum einen in der Ausweitung des Eingriffsbegriffs durch die Dassonville-Formel ( 3. Teil 1.4.2.2), wonach über Diskriminierungen hinaus ebenfalls unterschiedslose Beschränkungen - freilich mit Ausnahme bloßer Modalitäten- Regelungen i.S.d. Keck-Urteils ( 3. Teil 1.4.2.2) - als rechtfertigungsbedürftige Grundfreiheiteneingriffe zu qualifizieren sind; ohne eine hiermit korrespondierende Erweiterung auch der Rechtfertigungsgründe wäre es jedoch zu einer Schieflage gekommen, deren Begradigungsmöglichkeit sich der EuGH mit seiner restriktiven Handhabung der geschriebenen Rechtfertigungsgründe (s.o.) selbst genommen hat. 636 Zum anderen hat diese dazu ge ührt, dass bei Inkrafttreten der Römischen Verträge von 1957 ( 1. Teil 1.1) noch weitgehend unbekannte, mittlerweile hingegen unstreitig als legitim anerkannte Regelungsziele wie namentlich der Umwelt- und Verbrauchschutz nicht unter die im AEUV explizit erwähnten Rechtfertigungsgründe subsumiert werden können. 637 Entsprechend ihrer Entstehung namentlich als Reaktion auf die Dassonville-Formel sind die zwingenden Gründe des Allgemeinwohls auf jeden Fall zur Rechtfertigung einer unterschiedslosen Beschränkung ( 3. Teil 1.4.2.2) geeignet, welche dem Cassis de Dijon-Urteil denn auch zugrunde lag. Lässt sich diese von versteckten Diskriminierungen ( 3. Teil 1.4.2.1) aber häufig kaum trennscharf unterscheiden, so sind richtigerweise auch diese einer Rechtfertigung durch immanente Schranken zugänglich (str.). 638 Demgegenüber ste- 635 Streinz, Europarecht, Rn. 866 bezeichnet diese als „richterliche Rechtsfortbildung“ durch den EuGH. Dazu vgl. Wienbracke, EuZW 2016, S. 51 (54) m.w.N. 636 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 118; Streinz, Europarecht, Rn. 863 f. 637 Vgl. Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 455. 638 Wie hier: Classen, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 4. A.A. Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 841. Zum Streitstand: Sauer, JuS 2017, S. 310 (313) m.w.N. <?page no="207"?> hen im Hinblick auf offene Diskriminierungen als stärkste Form des Eingriffs in die Grundfreiheiten ausschließlich die im AEUV ausdrücklich genannten Rechtfertigungsgründe zur Ver ügung. 639 Diese differenzierte Anwendbarkeit der zwingenden Gründe des Allgemeinwohls bedingt, dass vor Ihrer Prüfung, d.h. auf der Rechtfertigungsebene, zunächst die Form des jeweiligen Eingriffs zu bestimmen ist ( 3. Teil 1.4.2). 640 Was speziell die Unionsgrundrechte 641 anbelangt ( 3. Teil 1.1.6, 1.5.2.1 und 3.5.2.1), so werden diese zum Teil 642 als Unterfall der zwingenden Gründe des Allgemeinwohls, mitunter 643 hingegen als eigenständige Kategorie von ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen klassifiziert. 644 Praktische Unterschiede folgen aus dieser unterschiedlichen dogmatischen Einordnung jedenfalls insoweit nicht, als sie in beiden Fällen zur Rechtfertigung eines Grundfreiheiteneingriffs zur Ver ügung stehen, der nicht in Form einer offenen Diskriminierung erfolgt. 645 Da Private - im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten und zur EU - i.d.R. weder zum Schutz namentlich der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit noch aus sonstigen zwingenden Gründen des Allgemeinwohls tätig zu werden pflegen, werden in Bezug auf die von diesen Verpflichtungsadressaten vorgenommenen Grund- 639 Ebenso Classen, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 4. A.A. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 51, wonach diese auch insoweit anwendbar seien. 640 Zum Ganzen vgl. Wienbracke, Jura 2008, S. 929 (935); ders., EuR 2012, S. 483 (507 f.); ders., VR 2017, S. 275 (279). Vgl. ebenso in Bezug auf Art. 12 Abs. 1 GG ders., Einführung in die Grundrechte, Rn. 246 ff., 258 ff. jeweils m.w.N. 641 Nicht dagegen: die dem EU-Recht nachrangigen mitgliedstaatlichen Grundrechte ( 3. Teil 1.1.6). A.A. Sauer, JuS 2017, S. 310 (314 f.). 642 Dittert, Europarecht, S. 202. 643 Streinz, Europarecht, Rn. 869. 644 Zur Qualifizierung als geschriebene Rechtfertigungsgründe vgl. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 14 Rn. 57. 645 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 115; Wienbracke, VR 2017, S. 421 (426) m.w.N. A.A. Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 842, die auch diese Form des Eingriffs als durch die Unionsgrundrechte legitimierbar erachten. Vgl. aber Cremer, Jura 2015, S. 39 (54) für den Fall der Einordnung als eigene Kategorie. <?page no="208"?> freiheiteneingriffe regelmäßig die Unionsgrundrechte als sachlicher Rechtfertigungsgrund in Betracht kommen ( 3. Teil 1.4.1.3). 646 Wichtigste Schranken-Schranke ist der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, den es beim Gebrauchmachen sowohl von geschriebenen ( 3. Teil 1.5.1.1) als auch von ungeschriebenen ( 3. Teil 1.5.1.2) Rechtfertigungsgründen zu wahren gilt. 647 Entwickelt wurde dieser nunmehr in Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EUV ( 2. Teil 4.1.3) und Art. 52 Abs. 1 S. 2 EU-GrCh ( 3. Teil 3.5.2.1) positivierte Grundsatz ursprünglich als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EU-Rechts ( 2. Teil 1.1.3). 648 „Um den Anforderungen des […] unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu genügen, muss die […] Eingriffsmaßnahme [das Mittel] dazu geeignet, erforderlich und angemessen sein, das mit ihr in unionsrechtlich legitimer Weise verfolgte Ziel zu erreichen.“ 649 Die Beweislast da ür, dass diese Voraussetzungen vorliegen, trifft im Fall eines Grundfreiheiteneingriffs, der von einem Mitgliedstaat ausgeht, diesen. 650 Trotz der terminologischen Identität der einzelnen Prüfungspunkte des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit seinem deutschen Pendant 651 existieren im Detail durchaus Unterschiede zwischen beiden. 652 Namentlich auf der Erforderlichkeits- und Angemessenheitsebene agiert der EuGH stark fallbezogen. 653 646 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 121. 647 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 843; Wienbracke, VR 2017, S. 275 (280) m.w.N. 648 Wienbracke, DVP 2014, S. 416 (417) m.w.N. 649 Wienbracke, VR 2018, S. 25 (29 f.) m.w.N. 650 Vgl. Wienbracke, NZA-RR 2017, S. 113 (116) m.w.N. 651 Zu diesem siehe Wienbracke, ZJS 2013, S. 148 m.w.N. 652 Wienbracke, StuW 2017, S. 377 (389) m.w.N. <?page no="209"?> „Die […] Geeignetheit liegt vor, wenn sich die eingesetzte Maßnahme [das Mittel] als tauglich zur Förderung des mit ihr […] verfolgten Ziels erweist.“ 654 Im Gegensatz zum BVerfG, das dem parlamentarischen Gesetzgeber bzgl. der Eignung des von diesem zur Zweckverfolgung eingesetzten Mittels einen gerichtlich nur in begrenztem Umfang nachprüfbaren Einschätzungs- und Prognosevorrang(-prärogative) einräumt, muss dem EuGH zufolge namentlich ein Mitgliedstaat Beweise bzw. eine objektive Untersuchung zur Geeignetheit der von ihm erlassenen, grundfreiheitsbeschränkenden Maßnahme vorlegen. 655 Im Fall des Mitgliedstaats N, dessen Straßenverkehrsordnung ein Rechtsfahrgebot vorschreibt ( 3. Teil 1.3.2.4), belegt ein wissenschaftliches Gutachten, dass die Verkehrsteilnahme von Kraftfahrzeugen mit Lenkrad auf der rechten Seite („Rechtslenker“) das Unfallrisiko erhöht. Ist das mithin bestehende Linkslenkergebot geeignet, die Verkehrssicherheit in N zu erhöhen, wenn hiervon eine auf maximal 90 Tage pro Jahr begrenzte Ausnahme ür Touristen besteht, die mit einem im Ausland bereits zugelassenen Fahrzeug nach N einreisen? Nein. Denn wenngleich das Linkslenkergebot die Zahl der „Rechtslenker“ im öffentlichen Straßenverkehr von N verringert - und damit zugleich das mit deren Verkehrsteilnahme verbundene Unfallrisiko im dortigen Straßenverkehr mit Rechtsfahrgebot reduziert, d.h. an sich als Instrument zur Erhöhung der Verkehrssicherheit in N geeignet erscheint -, so bejaht der EuGH die Eignung einer beschränkenden Maßnahme zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels letztlich doch nur dann, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, dieses in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen. Hieran fehlt es vorliegend aber, weil das Parlament von N kein absolutes Linkslenkergebot in Kraft gesetzt, sondern dieses vielmehr durch die Touristenklausel wieder relativiert hat. Anhaltspunkte da ür, dass die im Rahmen dieser 653 Sauer, JuS 2017, S. 310 (315). 654 Wienbracke, VR 2017, S. 374 (379) m.w.N. 655 Wienbracke, ZJS 2013, S. 148 ff.; ders. NZA-RR 2017, S. 113 (120 f.), jeweils m.w.N. Zum Beurteilungs-, Ermessens- und Gestaltungsspielraum, den der EuGH den Mitgliedstaaten teilweise einräumt, siehe Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 845 ff. <?page no="210"?> Ausnahmevorschrift erfolgende Teilnahme von „Rechtslenkern“ im Straßenverkehr von N kein beachtliches Risiko ür die dortige Verkehrssicherheit darstellt, sind jedoch nicht ersichtlich. Wird dieses insoweit aber toleriert, so ist es nicht in sich stimmig, das Führen von „Rechtslenkern“ auf öffentlichen Straßen in N im Übrigen zu verbieten (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2014: 172 und ECLI: EU: C: 2014: 173). I.S.d. unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderlich „ist eine Maßnahme [das Mittel] nur dann […], wenn der mit ihr verfolgte Zweck [das Ziel] nicht durch ein milderes, aber gleich wirksames Mittel erreicht werden kann.“ 656 Ebenso wie die Geeignetheit wird auf europäischer Ebene auch die Erforderlichkeit besonders kritisch untersucht (z.B. Warnhinweis statt Produktverbot). 657 Frau Vlassopoulou, eine in Athen zugelassene Rechtsanwältin griechischer Staatsangehörigkeit, beantrage nach ihrem Umzug in einen anderen Mitgliedstaat die Zulassung zur dortigen Rechtsanwaltschaft. Dieser Antrag wurde unter Hinweis darauf abgelehnt, dass ihr die hier ür notwendige Be ähigung zum Richteramt fehle, welche nur durch ein rechtswissenschaftliches Studium an einer inländischen Universität, das Ablegen der ersten Staatsprüfung, einen Vorbereitungsdienst und den Abschluss der zweiten Staatsprüfung dort erworben werden kann. Ist der hierin liegende Eingriff in Art. 56 Abs. 1 AEUV verhältnismäßig? Sekundärrecht ist nicht zu prüfen. Nein. Denn ein Mitgliedstaat, bei dem die Zulassung zu einem Beruf (hier: des Rechtsanwalts) beantragt worden ist, dessen Aufnahme nach nationalem Recht vom Besitz einer beruflichen Qualifikation abhängt, hat diejenigen Be ähigungsnachweise, die der Betroffene erworben hat, um den gleichen Beruf in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Griechenland) auszuüben, in der Weise zu berücksichtigen, dass er die hierdurch bescheinigten Fachkenntnisse mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleicht. Führt die vergleichende Prüfung zu der Feststellung, dass die durch das ausländische Diplom bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten den nach den nationalen Rechtsvorschriften verlangten entsprechen (hier: z.B. im Bereich 656 Wienbracke, VR 2017, S. 374 (379) m.w.N. 657 Classen, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 12. <?page no="211"?> des Europarechts), so hat der Mitgliedstaat anzuerkennen, dass dieses Diplom die in diesen Vorschriften aufgestellten Voraussetzungen er üllt. Nur soweit der Vergleich ergibt, dass die vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten den geforderten nicht entsprechen (hier: z.B. im Bereich des jeweiligen nationalen Öffentlichen Rechts), kann der Aufnahmemitgliedstaat vom Betroffenen den Nachweis, dass er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, verlangen (z.B. durch eine Ergänzungsprüfung). M.a.W.: Doppelkontrollen wie die hiesige sind nicht erforderlich (zum Ganzen vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1991: 193). Das Mittel ist zur Zielerreichung angemessen, wenn es in einem ausgewogenen Verhältnis zur betroffenen Grundfreiheit steht. 658 Da der EuGH unverhältnismäßige Maßnahmen regelmäßig bereits auf der vorhergehenden Stufe der Geeignetheit bzw. der Erforderlichkeit ausscheidet, findet eine Angemessenheitsprüfung in der Praxis nur relativ selten statt. 659 Unter den vom AEUV geschützten Gütern und Interessen nehmen dem EuGH zufolge die Gesundheit und das Leben von Menschen den höchsten Rang ein (ECLI: EU: C: 2017: 997). 660 Im Fall Schmidberger 661 hatte der EuGH darüber zu befinden, ob es angemessen war, dass die österreichischen Behörden nicht gegen die von einem Umweltschutzverein durchge ührte Versammlung eingeschritten sind, die zu einer 30-stündigen Blockade der Brenner-Autobahn als der Hauptroute des Überland-Handelsverkehrs zwischen Nordeuropa und Norditalien ge ührt hat. In Bezug auf die damit durchzu ührende Abwägung der widerstreitenden Positionen aus Art. 34 AEUV einerseits und Art. 12 Abs. 1 EU-GrCh andererseits (praktische Konkordanz 2. Teil 1 a.E.) hat der EuGH die Angemessenheit des vorliegend durch Unterlassen erfolgten Eingriffs 658 Vgl. Wienbracke, VR 2018, S. 25 (30) m.w.N. 659 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 870; Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (509) m.w.N. 660 In Bezug auf das GG vgl. BVerfGE 121, 317 (349). 661 Hierzu vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 2007: 772, Rn. 46; Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 639 f. m.w.N. <?page no="212"?> ( 3. Teil 1.4.1.1) in die Warenverkehrsfreiheit zum Schutz des Unionsgrundrechts auf Versammlungsfreiheit unter Hinweis auf das den zuständigen nationalen Stellen insoweit zustehende weite Ermessen sowie die nachfolgenden Umstände des Einzelfalls bejaht: (1) Die Versammlung hat stattgefunden, nachdem ein Antrag auf Genehmigung eingereicht worden war und die zuständigen Stellen beschlossen hatten, sie nicht zu untersagen; (2) durch die Anwesenheit der Demonstranten auf der Brenner-Autobahn wurde der Straßenverkehr nur auf einer einzigen Strecke, ein einziges Mal und ür 30 Stunden blockiert, d.h. die Behinderung des freien Warenverkehrs war von begrenzter Tragweite; (3) es handelte sich um eine Versammlung, mit der Bürger ihre Grundrechte ausübten und bei der sie eine ihnen im öffentlichen Leben wichtig erscheinende Meinung äußerten; (4) der Zweck der öffentlichen Demonstration bestand nicht darin, den Handel mit Waren einer bestimmten Art oder Herkunft zu beeinträchtigen; (5) die zuständigen nationalen Stellen hatten verschiedene Rahmen- und Begleitmaßnahmen getroffen, um die Störungen des Straßenverkehrs möglichst gering zu halten (ordnungsgemäßer Ablauf der Versammlung; frühzeitige und groß angelegte Informationskampagne in Österreich und den angrenzenden Ländern über verschiedene Ausweichstrecken, so dass die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer angemessen informiert waren und rechtzeitig disponieren konnten; Einrichtung eines Ordnungsdiensts am Versammlungsort); (6) isolierte Aktion, die keine allgemeine Atmosphäre der Unsicherheit schuf, die sich auf die gesamten Handelsströme nachteilig ausgewirkt hätte; (7) schlichtes Verbot der Versammlung hätte einen nicht hinnehmbaren Eingriff in das Grundrecht der Demonstranten auf Versammlungsfreiheit dargestellt; (8) strengere Auflagen hinsichtlich des Ortes der Versammlung (z.B. neben der Brenner-Autobahn) bzw. ihrer Dauer (z.B. nur wenige Stunden) hätten als übermäßige Beschränkung wahrgenommen werden oder gar noch schwerer wiegende Störungen des innerunionalen Handels und der öffentlichen Ordnung verursachen können (z.B. in Form von „wilden“ Demonstrationen, Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern der betreffenden Protestbewegung, Gewalttaten von Demonstranten, die sich in der Ausübung ihrer Grundrechte beeinträchtigt ühlten). Anders als im vorstehenden Beispielsfall, in dem die Unionsgrundrechte als Schranken der Grundfreiheiten gegen diese abzuwägen sind, existierten ebenfalls solche Konstellationen, in denen die Unionsgrundrechte die Grundfreiheitenverpflichteten beim Gebrauchmachen der Grundfreiheitenschranken <?page no="213"?> beschränken (Doppelfunktion der Unionsgrundrechte 3. Teil 1.1.6 mit Beispielen). 662 Diese Schranken-Schranken-Funktion der Unionsgrundrechte kommt darin zum Ausdruck, dass sie das Gewicht der betreffenden Grundfreiheit bei der im Rahmen der Angemessenheitsprüfung durchzu ührenden Abwägung mit den zugunsten des Eingriffs in diese ange ührten Gründen verstärken. 663 Denn die nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 EU-GrCh ür die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips ohnehin geltende EU- GrCh (vgl. ferner Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 Hs. 1 EUV) gilt nach ihrem Art. 51 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 ebenfalls ür die Mitgliedstaaten 664 bei der Durch ührung des Rechts der EU - was wiederum u.a. gerade dann der Fall ist, wenn diese in den Schutzbereich einer Grundfreiheit eingreifen ( 3. Teil 3.2.2). 665 Sind die in der EU-GrCh niedergelegten Grundrechte aber gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Hs. 2 EUV mit den Verträgen, d.h. dem EUV und dem AEUV, - und damit u.a. den darin normierten Grundfreiheiten - rechtlich gleichrangig, so kann in der EU keine Maßnahme als Rechtens anerkannt werden, die mit den Unionsgrundrechten unvereinbar ist (vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1991: 254). Das in Art. 36 S. 2 AEUV speziell in Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit und in Art. 65 Abs. 3 AEUV ausdrücklich nur ür die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit normierte Verbot der willkürlichen Diskriminierung hat der EuGH in seiner Gebhard-Entscheidung (ECLI: EU: C: 1995: 411) dergestalt verallgemeinert, dass namentlich nationale Maßnahmen, welche die Ausübung der durch den AEUV garantierten Grundfreiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden müssen. Neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommt diesem Diskriminierungsverbot praktisch allerdings keine eigenständige Bedeutung zu, fehlt es bei diskriminierenden Maßnahmen doch regelmäßig bereits an deren Geeignetheit bzw. Erforderlichkeit ( 3. Teil 1.5.2.1). 666 662 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 122 f. 663 Vgl. Wienbracke, VR 2017, S. 421 (425, Fn. 50); ders., VR 2017, S. 374 (379, Fn. 61), jeweils m.w.N. 664 Zu Privaten vgl. Wienbracke, VR 2017, S. 421 (425 f.) m.w.N. 665 Wienbracke, VR 2017, S. 374 (378) m.w.N. 666 Cremer, Jura 2015, S. 39 (55); Frenz, Europarecht, Rn. 251; Wienbracke, NZA- RR 2016, S. 113 (114 f.) m.w.N. <?page no="214"?> Einhergehend mit der über die Verfolgung rein ökonomischer Ziele hinausgehenden Entwicklung EU ( 1. Teil 1.1) gewährt der AEUV den Unionsbürgern nicht nur dann Freizügigkeits- und Gleichbehandlungsrechte, wenn sie als Marktbürger einer grenzüberschreitenden Wirtschaftstätigkeit nachgehen ( 3. Teil 1.3.2.1), sondern zwecks Förderung der sozialen Verflechtungen innerhalb der EU, d.h. der Integration auch im gesellschaftlichen und allgemein-politischen Bereich (vgl. Art. 1 Abs. 2 EUV: „immer engeren Union der Völker Europas“), ebenfalls unabhängig hiervon, also jenseits des Binnenmarkts, siehe Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV als sog. Grundfreiheiten ohne Markt ( 3. Teil 1.1.2 und 1.2.2). 667 Zugleich soll durch diesen „grundlegenden [Unionsbürger-] Status“ (EuGH, ECLI: EU: C: 2001: 458) der Bürger in den Mittelpunkt der europäischen Integration gestellt werden, sog. Europa der Bürger. 668 Unionsbürger ist nach Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV und Art. 9 S. 2 EUV, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt (Akzessorietät des Unionsbürgerstatus, der nicht isoliert zubzw. aberkannt werden kann 669 ). Allein schon deshalb, weil es der EU beim derzeitigen Integrationsstand an Staatsqualität fehlt ( 2. Teil 3.3), ist der Begriff „Unionsbürgerschaft“ nicht etwa i.S.v. (EU-)„Staatsangehörigkeit“ zu verstehen. 670 Vielmehr tritt die Unionsbürgerschaft nach Art. 20 Abs. 1 S. 3 AEUV zur jeweiligen nationalen (z.B. deutschen) Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt diese aber nicht (ebenso: Art. 9 S. 3 EUV). Folglich richten sich Erwerb und Verlust der Unionsbürgerschaft auf- 667 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 2002: 493, Rn. 81 ff. und siehe Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 594; Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 2 Rn. 23; Kadelbach, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 26 Rn. 1; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 16 Rn. 4; Streinz, Europarecht, Rn. 1008, 1012. 668 Dittert, Europarecht, S. 196; Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 2 Rn. 23. 669 Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 2 Rn. 27; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 13 Rn. 4. 670 Magiera, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 20 AEUV Rn. 21. <?page no="215"?> grund von deren Anknüpfung an die nationale Staatsangehörigkeit nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats (in Deutschland: dem StAG) - wobei dieser wegen der diesbezüglichen Auswirkungen auf Erstere freilich wiederum das EU-Recht zu beachten hat. 671 Im Einzelnen haben die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 AEUV das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (näher: Art. 21 AEUV und Art. 45 Abs. 1 EU-GrCh); in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, wobei ür sie dieselben Bedingungen gelten wie ür die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats (näher: Art. 22 AEUV, Art. 39 f. EU-GrCh; vgl. ferner Art. 10 Abs. 3 EUV); im Hoheitsgebiet eines Drittlands, in dem der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, nicht vertreten ist, Recht auf Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Behörden eines jeden Mitgliedstaats unter denselben Bedingungen wie Staatsangehörige dieses Staates (näher: Art. 23 AEUV, Art. 46 EU-GrCh; vgl. ferner Art. 35 Abs. 3 EUV); das Recht, Petitionen an das Europäische Parlament zu richten und sich an den Europäischen Bürgerbeauftragten zu wenden, sowie das Recht, sich in einer der Sprachen der Verträge ( 2. Teil 1.4) an die Organe und die beratenden Einrichtungen der Union zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten (näher: Art. 24 und Art. 227 f. AEUV, Art. 43 f. EU-GrCh; vgl. ferner Art. 10 Abs. 3 EUV). Wie sich aus dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 2 S. 1 AEUV ergibt („Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten“), verleiht Art. 20 Abs. 2 S. 1 AEUV selbst ausdrücklich keine unmittelbaren Rechte; gleichwohl entnimmt der EuGH Art. 20 AEUV originäre Statusrechte. 672 Ferner siehe Art. 24 Abs. 1 AEUV und Art. 11 Abs. 4 EUV zum Bürgerinitiativrecht, Art. 15 Abs. 3 AEUV und Art. 42 EU-GrCh zum Recht auf 671 Schmahl/ Jung, Jura 2016, S. 1272 (1278 ff.); Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 13 Rn. 4 f. 672 Zusammenfassend Schmahl, Jura 2017, S. 1272 (1273, 1281). <?page no="216"?> Dokumentenzugang, Art. 41 EU-GrCh zum Recht auf eine gute Verwaltung ( 2. Teil 5.1) sowie die eine dynamische Erweiterung der Unionsbürgerschaft ermöglichende sog. Evolutivklausel des Art. 25 Abs. 2 AEUV. 673 Beim allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV (siehe auch Art. 21 Abs. 2 EU-GrCh 3. Teil 2.2) handelt es sich zwar nicht um ein aus der Unionsbürgerschaft folgendes Recht; 674 jedoch stehen beide in einem engen Zusammenhang, wie nicht zuletzt ihre gemeinsame Verortung im Zweiten Teil des AEUV belegt. 675 Sind in den Verträgen, d.h. im EUV und AEUV (Art. 18 EU-GrCh), Rechte geregelt (wie z.B. eben in Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV), so erfolgt die Ausübung dieser zugleich durch die (Art. 21 Abs. 2 und 45 Abs. 1) EU-GrCh anerkannten Rechte gem. Art. 52 Abs. 2 EU-GrCh im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen (vertragskonforme Auslegung der EU-GrCh 676 3. Teil 3.1.6). Ebenso wie die Grundfreiheiten entfalten auch Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV unmittelbare Geltung bzw. Wirkung sowie (Anwendungs-)Vorrang vor entgegenstehendem mitgliedstaatlichen Recht ( 3. Teil 1.1.4), sind unmittelbar anwendbar, räumen ihren Berechtigten jeweils ein subjektives Recht ein ( 3. Teil 1.1.5) und sind anhand eines im Wesentlichen identischen Schemas zu prüfen ( 3. Teil 1.1.3). 677 Gleichfalls ist das Freizügigkeitsrecht selbst weit auszulegen, wohingegen Abweichungsmöglichkeiten hiervon eng zu verstehen sind ( 3. Teil 1.3.2.1 und 1.5.1). 678 673 Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 2 Rn. 28. 674 A.A. Schmahl, Jura 2017, S. 1272 (1273). 675 Vgl. Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 2 Rn. 25; Streinz, Europarecht, Rn. 1014. 676 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 52. 677 Dittert, Europarecht, S. 270 ff., 304 ff.; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 754, 793; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 16 Rn. 15. 678 Kluth, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 21 AEUV Rn. 4. <?page no="217"?> Konkretisiert wird das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 21 Abs. 1 AEUV durch die u.a. auf Art. 21 Abs. 2 AEUV gestützte sog. Freizügigkeits-Richtlinie 2004/ 38/ EG 679 , die wiederum durch das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/ EU) in deutsches Recht umgesetzt wurde. 680 Nach Art. 6 Abs. 1 der Freizügigkeits-Richtlinie hat ein Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ür einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu er üllen oder Formalitäten zu erledigen braucht - vorausgesetzt, er nimmt die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch (Art. 14 Abs. 1 der Freizügigkeits-Richtlinie), wobei gem. Art. 14 Abs. 1 der Freizügigkeits-Richtlinie die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat nicht automatisch zu einer Ausweisung ühren darf. Für einen Zeitraum von über drei Monaten hat jeder Unionsbürger, der nicht Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist, nach Art. 7 Abs. 1 lit. b) der Freizügigkeits-Richtlinie das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, wenn er ür sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel ver ügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat ver ügen. Unabhängig hiervon hat gem. Art. 16 Abs. 1 der Freizügigkeits-Richtlinie jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig ünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Sekundärrechtlich existierte bereits vor der Ein ührung der Unionsbürgerschaft ein allgemeines Aufenthaltsrecht. Durch Art. 21 Abs. 1 AEUV ist dieses nunmehr primärrechtlich verankert worden. Bei der 679 ABl. EU L 158 vom 30.4.2004, S. 77. 680 Kluth, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 21 AEUV Rn. 24; Streinz, Europarecht, Rn. 1013. A.A.: Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 607, wonach das Sekundärrecht erst auf der Schrankenebene zu prüfen sei ( 3. Teil 2.1.4.2) und eine Anwendung von Art. 21 Abs. 1 AEUV i.d.R. nicht ausschließe. <?page no="218"?> Auslegung dieser Vorschrift berücksichtigt der EuGH wiederum namentlich diejenigen Konkretisierungen, die sie in der o.g. Freizügigkeits-Richtlinie erfahren hat, die ihrerseits die drei früheren Aufenthalts-Richtlinien ersetzt. 681 „Inhaltlich deckt sich der Schutzbereich des Art. 21 [Abs. 1] AEUV mit den schon vor In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrags 1993 bestehenden Regelungen […].“ 682 Soweit das allgemeine Freizügigkeitsrecht durch Sekundärrecht eingeschränkt wird, muss dieses freilich mit dem höherrangigen Art. 21 Abs. 1 AEUV vereinbar sein ( 3. Teil 1.2.1). 683 Die Freizügigkeitsrechte der Art. 45, 49 und 56 AEUV, welche jeweils nur die in ihnen genannten wirtschaftlichen Betätigungen schützen ( 3. Teil 1.3.2.1 und 1.3.2.4), verdrängen als speziellere Normen das allgemeine Freizügigkeitsrecht, das eine solche gerade nicht voraussetzt ( 3. Teil 1.2.2). 684 Der insoweit mithin subsidiäre Auffangtatbestand des Art. 21 Abs. 1 AEUV gelangt folglich nur ür die nicht erwerbstätigen Unionsbürger (v.a. Schüler, Studenten und Rentner) als Prüfungsmaßstab zur Anwendung. 685 Entsprechend heißt es etwa in der Baumbast-Entscheidung des EuGH (ECLI: EU: C: 2002: 493), dass ein Bürger der EU, der im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer nach Art. 45 AEUV mehr besitzt, dort als Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht genießen kann, das sich aus der unmittelbaren Anwendung von Art. 21 Abs. 1 AEUV ergibt. Bei vorübergehenden (Art. 57 Abs. 3 AEUV) Auslandsaufenthalten von selbst nicht Erwerbstätigen (z.B. Touristen) ist freilich vorrangig zu prüfen, ob diese durch die (passive) Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 Abs. 1 AEUV geschützt werden ( 3. Teil 1.3.2.4). 686 Nach § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG a.F. konnten Schulgeldzahlungen nur dann als Sonderausgaben einkommensteuermindernd geltend gemacht werden, wenn die Schule im Inland belegen war. Die in Deutschland wohn- 681 Zum Ganzen vgl. Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 2 Rn. 29 f.; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 773, 775. 682 Kadelbach, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 26 Rn. 40. 683 Vgl. Rossi, in: Kluth/ Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 15. Edition, Stand: 1.11.2016, Art. 21 AEUV Rn. 22. 684 EuGH, ECLI: EU: C: 2002: 712, Rn. 25 f.; Kadelbach, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 26 Rn. 38. 685 Dittert, Europarecht, S. 270; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/ Borchardt, EU-Verträge Kommentar, Art. 21 Rn. 2. 686 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1984: 35 und siehe Dittert, Europarecht, S. 270 f. <?page no="219"?> haften, deutschen Staatsangehörigen Eltern E hatten ihre Kinder jedoch in einer auf die Förderung hochbegabter Kinder spezialisierten Schule in Schottland angemeldet und an diese Schulgeld gezahlt. Anhand welcher Freizügigkeitsbestimmung - derjenigen des Art. 21 Abs. 1 oder der des Art. 56 Abs. 1 AEUV - muss sich die vorstehende Beschränkung der steuerlichen Abzugs ähigkeit von Schulgeldzahlungen messen lassen? Das hängt davon ab, ob die Schule im Wesentlichen aus privaten Mitteln finanziert wird oder nicht. Denn Art. 21 Abs. 1 AEUV, in dem das Recht eines jeden Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in allgemeiner Form niedergelegt ist, findet in den Bestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit eine besondere Ausprägung. Fällt das Ausgangsverfahren unter Art. 56 Abs. 1 AEUV, so braucht über die Auslegung von Art. 21 Abs. 1 AEUV daher nicht entschieden zu werden. Vorliegend ist allerdings fraglich, ob die in Rede stehenden Bildungsangebote die Erbringung von Dienstleistungen zum Gegenstand haben, d.h. ob der Unterricht an einer Schule wie der hiesigen eine Leistung, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird, i.S.v. Art. 57 Abs. 1 AEUV ist. Das Wesensmerkmal des „Entgelts“ besteht darin, dass es die wirtschaftliche Gegenleistung ür die betreffende Leistung darstellt. Einrichtungen, die zu einem staatlichen Bildungssystem gehören und ganz oder hauptsächlich aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, sind folglich vom Begriff der Dienstleistung i.S.v. Art. 57 AEUV ausgeschlossen. Durch die Errichtung und Erhaltung eines solchen staatlichen Bildungssystems, das in der Regel aus dem Staatshaushalt und nicht von den Schülern oder ihren Eltern finanziert wird, will der Staat nämlich keine gewinnbringende Tätigkeit aufnehmen, sondern vielmehr auf sozialem, kulturellem und bildungspolitischem Gebiet seine Aufgaben gegenüber seinen Bürgern er üllen. Unterricht an Bildungseinrichtungen, die im Wesentlichen aus privaten Mitteln, insbesondere durch die Studenten oder deren Eltern, finanziert werden, hat der EuGH dagegen als Dienstleistung i.S.v. Art. 57 AEUV eingestuft, weil das von diesen Einrichtungen verfolgte Ziel darin besteht, eine Leistung gegen Entgelt anzubieten (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2007: 492). Die gegenüber dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht eigenständige Bedeutung der (subjektbezogenen) Grundfreiheiten resultiert daraus, dass die durch diese begründeten Freizügigkeitsrechte aus Sicht des Einzelnen insofern „besser“ sind als das aus Art. 21 Abs. 1 AEUV <?page no="220"?> folgende, als dass Letzteres unter strengeren Vorbehalten steht, namentlich der sozialen Absicherung ( 3. Teil 2.1.4.1). 687 Bereichsausnahmen ( 3. Teil 1.2.3) existieren in Bezug auf Art. 21 Abs. 1 AEUV keine. 688 In persönlicher Hinsicht schützt Art. 21 Abs. 1 AEUV allein „Unionsbürger“, d.h. (auch eigene) Staatsangehörige der Mitgliedstaaten ( 3. Teil 2), vorbehaltlich entsprechender Assoziierungsabkommen der EU grundsätzlich aber nicht Drittstaatsangehörige (siehe aber Art. 45 Abs. 2 EU-GrCh und Art. 77 bis 79 AEUV). 689 Namentlich im Urteil Zhu und Chen (ECLI: EU: C: 2004: 639) hat der EuGH jedoch ausnahmsweise - ähnlich wie bei den Grundfreiheiten ( 3. Teil 1.3.1) - ebenfalls einem drittstaatsangehörigen Elternteil ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 21 Abs. 1 AEUV zuerkannt (vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 2012: 691), weil dieser ür einen minderjährigen Unionsbürger tatsächlich gesorgt hatte. Andernfalls nämlich würde dessen originärem Aufenthaltsrecht nach Art. 21 Abs. 1 AEUV jede praktische Wirksamkeit (effet utile, vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV 2. Teil 1.4) genommen, setzt das Gebrauchmachen hiervon durch ein Kind im Kleinkindalter doch voraus, dass sich die ür dieses tatsächlich sorgende Person bei ihm aufhalten darf und dass es demgemäß dieser Person ermöglicht wird, während dieses Aufenthalts mit dem Kind zusammen im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen. Die v.a. ür gemeinnützige Vereinigungen relevante Frage, ob Art. 21 Abs. 1 AEUV über die vorgenannten natürlichen Personen hinaus ebenfalls juristische Personen schützt, ist bislang ungeklärt; soweit diese einer Erwerbstätigkeit nachgehen, unterfallen sie der betreffenden Grundfreiheit ( 3. Teil 1.3.1). 690 687 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 773; Dittert, Europarecht, S. 277; Kluth, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 21 AEUV Rn. 16; Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 16 Rn. 20; Streinz, Europarecht, Rn. 1012. 688 Dittert, Europarecht, S. 272. 689 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 777; Kadelbach, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 26 Rn. 41; Magiera, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 45 Rn. 29; Streinz, Europarecht, Rn. 1021. 690 Meinungsüberblick bei Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 21 AEUV Rn. 17. <?page no="221"?> Ebenso wie die meisten Grundfreiheiten ( 3. Teil 1.3.2.2) schützt auch Art. 21 Abs. 1 AEUV nur EU-binnengrenzüberschreitende Sachverhalte („im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten“), nicht hingegen auch rein innerstaatliche. 691 Um den Immobilienbedarf der einheimischen Bevölkerung zu befriedigen ist einem flämischen Dekret zufolge die Übertragung von Liegenschaften in Gebieten, die von einer Gentrifizierung bedroht sind, davon abhängig, dass der jeweilige Erwerber eine ausreichende Bindung zur betreffenden Gemeinde hat. Ist diese Regelung anhand von Art. 21 Abs. 1 AEUV zu messen? Ja. Insbesondere fehlt es nicht am Vorhandensein des nach dieser Vorschrift notwendigen grenzüberschreitenden Sachverhalts. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass in anderen Mitgliedstaaten als im Königreich Belgien ansässige Privatpersonen oder Unternehmen die Absicht haben, Liegenschaften in den von der Regelung betroffenen Gebieten zu erwerben, so dass sie von den Bestimmungen des flämischen Dekrets betroffen würden (EuGH, ECLI: EU: C: 2013: 288). Sachlich gewährleistet Art. 21 Abs. 1 AEUV das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Im Einzelnen umfasst hiervon werden das Recht, aus seinem Herkunftsmitgliedstaat aus- und in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen („Recht auf Bewegung“ 692 ) sowie sich in Letzterem dauerhaft aufzuhalten, zu bewegen und seinen Wohnsitz zu nehmen („Recht zum Bleiben“ 693 ) - und dies als politische Grundfreiheit jeweils unabhängig von der Verfolgung eines bestimmten (z.B. wirtschaftlichen 3. Teil 2) Zwecks, d.h. insofern nach freiem Belieben. 694 691 Haag, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 21 AEUV Rn. 14, 28. Zur Handhabung dieses Merkmals bei Betroffenheit des Kernbereichs bzw. -bestands der Unionsbürgerschaft (Unionsbürger ist gezwungen, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, EuGH, ECLI: EU: C: 2011: 734, Rn. 66) siehe EuGH, ECLI: EU: C: 2011: 277, Rn. 45 ff.; Dittert, Europarecht, S. 272. 692 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 774. 693 Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 16 Rn. 21. 694 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 597; Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 2 Rn. 30; Nettesheim, in: Oppermann/ <?page no="222"?> Werden die Mitgliedstaaten bereits in den von den Grundfreiheiten überlagerten Wirtschaftsbereichen beim Gebrauchmachen der ihnen verbliebenen Kompetenzen beschränkt ( 3. Teil 1.1.1), so sind sie aufgrund von Art. 21 Abs. 1 AEUV auch im Übrigen - gleichsam über sämtliche Sachgebiete hinweg - gehalten, ihre Befugnisse insbesondere unter Wahrung des in dieser Vorschrift verankerten Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, auszuüben (so u.a. im Bildungsbereich, im Namensrecht und bei Sozialleistungen). 695 Der österreichische Staatsangehörige Bickel mit Wohnsitz in Österreich und der deutsche Staatsangehörige Franz mit Wohnsitz in Deutschland sind Angeklagte eines Strafverfahrens in der Provinz Bozen (Italien). Weil sie die italienische Sprache jeweils nicht beherrschen, haben sie unter Berufung auf die zum Schutz der deutschsprachigen Gemeinschaft in der Provinz Bozen bestimmten Vorschriften beantragt, das Verfahren gegen sie auf Deutsch durchzu ühren. Das zuständige italienische Gericht stellt sich die Frage, ob diese ür die Bürger der Provinz Bozen geltenden Verfahrensvorschriften auch auf Besucher der Provinz anzuwenden sind, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten sind. Ist Art. 21 Abs. 1 AEUV ür die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung? Ja. Denn ür die Unionsbürger ist die Möglichkeit, mit den Verwaltungs- und Justizbehörden eines Staates in einer bestimmten Sprache kommunizieren zu können, geeignet, die Ausübung der Freiheit, sich in einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern (EuGH, ECLI: EU: C: 1998: 563). Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 16 Rn. 16, 18; Wienbracke, StuW 2017, S. 377 (378) m.w.N. 695 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 2005: 446, Rn. 19 und siehe Dittert, Europarecht, S. 271; Streinz, Europarecht, Rn. 1018 ff. Kritisch Herdegen, Europracht, § 12 Rn. 8 a.E.: „Der Zusammenhang mit der Freizügigkeit bleibt dabei [bzgl. des Namensrechts] im Dunkeln“. Zur vom EuGH im Kontext des Art. 21 Abs. 1 AEUV uneinheitlich gehandhabten Prüfung, ob die betreffende Angelegenheit in den Anwendungsbereich des EU-Rechts fällt, siehe Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 16 Rn. 22. <?page no="223"?> Ebenso wie in Bezug auf die Grundfreiheiten der Fall ( 3. Teil 1.4.1.1 und 1.4.1.2), sind auch im Hinblick auf Art. 21 Abs. 1 AEUV jedenfalls die Mitgliedstaaten und die EU, d.h. deren Organe beim Erlass namentlich der „Beschränkungen und Bedingungen“ beinhaltenden „Durch ührungsvorschriften“ i.S.v. Art. 21 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 2.1.4.1), an das allgemeine Freizügigkeitsrecht gebunden. 696 Ob dieses zudem Drittwirkung im Verhältnis zwischen Privaten entfaltet ( 3. Teil 1.4.1.3), ist derzeit hingegen noch ungeklärt. 697 Unionsbürger U hat in seinem Herkunftsmitgliedstaat H einen Mord begangenen, wo ür er dort zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. H meint, diese Maßnahme müsse einer Überprüfung anhand von Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht standhalten, weil diese Vorschrift nur den Aufnahmemitgliedstaat, nicht hingegen auch den Herkunftsmitgliedstaat, verpflichte. Stimmt das? Nein. Jeder Unionsbürger kann sich auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat mit Erfolgt auf die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte berufen, insbesondere auf das aus Art. 21 Abs. 1 AEUV resultierende Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Dieses Recht wäre nämlich seiner Substanz beraubt, wenn der Herkunftsmitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen ohne stichhaltige Rechtfertigung verbieten könnte, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um sich in dasjenige eines anderen Mitgliedstaats zu begeben (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2008: 396). Abermals vergleichbar mit den Grundfreiheiten ( 3. Teil 1.4.2.1) enthält auch Art. 21 Abs. 1 AEUV zum einen ein Diskriminierungsverbot. 698 Als 696 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 774; Kluth, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 21 AEUV Rn. 14. A.A. Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 16 Rn. 17: keine Bindung der EU. 697 Haag, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht Art. 21 AEUV Rn. 13. Vgl. aber EuGH, ECLI: EU: C: 2018: 257, Rn. 77 f. 698 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 2018: 222 und siehe Kadelbach, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 26 Rn. 45. Im Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 AEUV („Beschränkungen“) kommt dies freilich nicht explizit zum Ausdruck, vgl. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 13 Rn. 9. <?page no="224"?> solches verbietet es offene und versteckte Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit bei der Ausübung des allgemeinen Rechts auf Freizügigkeit. 699 Mitgliedstaat M gewährt eine Befreiung von der Grunderwerbsteuer beim Kauf der ersten Wohnung ausschließlich solchen Personen, die ihren ständigen Wohnsitz in M haben. Handelt es sich hierbei um eine Diskriminierung ausländischer Staatsangehöriger, die gemäß dem Freizügigkeitsrecht des Art. 21 Abs. 1 AEUV in diesem Mitgliedstaat eine erste Wohnung kaufen möchten? Ja. Nach ständiger Rechtsprechung verbieten die Vorschriften über die Gleichbehandlung nicht nur offene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis ühren. Dies trifft insbesondere auf das hier ür die Steuerbefreiung relevante Kriterium des inländischen Wohnsitzes zu. Denn auch wenn die Staatsangehörigkeit des Immobilienerwerbers hier ür keine Rolle spielt, so werden es doch meist ausländische Staatsangehörige sein, die ihren Wohnsitz außerhalb von M haben. Folglich benachteiligt die o.g. Bestimmung Personen, die nicht in M ansässig sind, wenn sie im Hinblick auf eine zukünftige Wohnsitznahme in diesem Mitgliedstaat eine erste Wohnung kaufen, da sie diese Personen insofern von der Grunderwerbsteuerbefreiung ausschließt, während bereits in M ansässige Personen auf diese Steuerbefreiung beim ersten Wohnungskauf einen Anspruch haben (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2011: 22). Wird im konkreten Fall ein Unionsbürger nicht - wie im vorstehenden Fallbeispiel - in Bezug auf sein von Art. 21 Abs. 1 AEUV allein gewährleistetes Recht auf Bewegung und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten diskriminiert („Recht auf Aufenthalt“), sondern erfolgt die Ungleichbehandlung im Hinblick auf die Rechte anlässlich des Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat („Rechte im Aufenthalt“ 700 ), so ist Art. 18 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 2.2) der richtige Prüfungsmaßstab; insoweit wird in Bezug auf Art. 21 Abs. 1 699 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 599; Magiera, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 21 AEUV Rn. 15. A.A. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 13 Rn. 9: Kein besonderes Diskriminierungs-, sondern Beschränkungsverbot. 700 Schmahl/ Jung, Jura 2016, S. 1272 (1274, 1277). <?page no="225"?> i.V.m. Art. 18 Abs. 1 AEUV auch von einem akzessorischen Recht auf Inländergleichbehandlung bzw. derivativem Teilhaberecht gesprochen ( 3. Teil 2.2.3.2). 701 Eine klare Grenze zwischen aufenthaltsbedingten Maßnahmen einerseits und sonstigen Maßnahmen andererseits wird sich allerdings wohl nicht stets eindeutig ziehen lassen können. 702 Zum anderen beinhaltet Art. 21 Abs. 1 AEUV ein Beschränkungsverbot ( 3. Teil 1.4.2.2). 703 Dieses schützt vor unterschiedslos wirkenden Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts weniger attraktiv zu machen oder davon gar ganz abzuhalten 704 - beispielsweise dadurch, dass die betreffende Maßnahme persönliche Unannehmlichkeiten, zusätzliche Kosten und etwaige Verzögerungen mit sich bringt (EuGH, ECLI: EU: C: 2007: 626). Im obigen Beispielsfall des U ( 3. Teil 2.1.3.1) macht H geltend, dass es sich bei der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe nicht um einen Eingriff in Art. 21 Abs. 1 AEUV handele. Dringt H mit diesem Einwand durch? Ja. Zwar ist jeder Freiheitsentzug geeignet, die Ausübung des Rechts des Betroffenen auf Freizügigkeit zu behindern. Doch stellt die rein hypothetische Aussicht auf die Ausübung dieses Rechts keinen Bezug zum EU-Recht her, der eng genug wäre, um die Anwendung von Art. 21 Abs. 1 AEUV zu rechtfertigen (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1997: 254). Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährt das allgemeine Freizügigkeitsrecht nur vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durch ührungsvorschriften vorgesehenen „Beschränkungen und Bedingungen“. Wenngleich der Wortlaut dieser Vorschrift damit eine Differenzierung zwischen einerseits „Beschränkungen“ (i.S.e. Schrankenvorbehalts) und andererseits „Bedingun- 701 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 774; Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 2 Rn. 31; Schmahl/ Jung, Jura 2016, S. 1272 (1277 a.E.). 702 Kadelbach, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 26 Rn. 43. 703 Streinz, Europarecht, Rn. 1020. 704 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 600; Herdegen, Europarecht, § 12 Rn. 11. <?page no="226"?> gen“ (i.S.e. Ausgestaltungsvorbehalts) nahelegt, 705 so versteht die h.M. beide Begriffe gleichwohl i.S.e. einheitlichen Schrankenvorbehalts ür Diskriminierungen und Beschränkungen ( 3. Teil 2.1.3.2). 706 Dies in Abgrenzung zu Art. 21 Abs. 2 AEUV, der den Erlass von Vorschriften zur Erleichterung der Ausübung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts zum Gegenstand hat ( 3. Teil 2.1.1). 707 „Verträge“ i.S.v. Art. 21 Abs. 1 AEUV sind der EUV und der AEUV, siehe Art. 1 Abs. 2 AEUV Im AEUV sind Beschränkungen des Freizügigkeitsrechts namentlich in den ordre public-Vorbehalten des Art. 45 Abs. 3 und des Art. 52 Abs. 1 AEUV, auf den Art. 62 AEUV verweist, jeweils aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit vorgesehen ( 3. Teil 1.5.1.1). Auch diese hat der Unionsgesetzgeber in der durch das FreizügG/ EU umgesetzten Freizügigkeits-Richtlinie 708 konkretisiert ( 3. Teil 2.1.1). 709 So dürfen nach deren Art. 27 Abs. 1 S. 1 die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, zwar aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Doch dürfen diese Gründe nach Art. 27 Abs. 1 S. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden. Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist gem. Art. 27 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 der Freizügigkeits-Richtlinie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen, siehe Art. 27 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie. Ferner bestimmt deren Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1, dass das persönliche Verhalten eine tatsächli- 705 So Kadelbach, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 26 Rn. 44, der Art. 21 Abs. 1 AEUV als „normgeprägtes Grundrecht“ mit „tatbestandsimmanenten Schranken“ bezeichnet. Zu ersteren vgl. in Bezug auf das GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 122 ff. m.w.N. 706 Dittert, Europarecht, Rn. 275; Kluth, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 21 AEUV Rn. 18. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 13 Rn. 12, 15 wirft insofern die Frage auf, ob der Schrankenvorbehalt nur zugunsten des Unionsgesetzgebers oder auch der Mitgliedstaaten gilt. 707 Magiera, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 21 AEUV Rn. 20. 708 ABl. EU L 158 vom 30.4.2004, S. 77. 709 Dittert, Europarecht, S. 275. <?page no="227"?> che, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nach Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 S. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie nicht zulässig. Eine Rechtsvorschrift des Mitgliedstaats M ermächtigt dessen Behörden dazu, einem eigenen Staatsangehörigen die Ausreise aus M zu untersagen, wenn dieser einer juristischen Person des Privatrechts einen erheblichen Betrag schuldet, ohne ür diesen eine Sicherheit zu leisten. Ist der in der Verhängung eines auf diese Vorschrift gestützten Ausreiseverbots liegende Eingriff in Art. 21 Abs. 1 AEUV gerechtfertigt? Nein. Eine Eingriffsrechtfertigung scheitert bereits am Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes. Zwar gewährleistet Art. 21 Abs. 1 AEUV das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit nicht uneingeschränkt, sondern vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durch ührungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen, wobei sich Letztere insbesondere aus Art. 27 Abs. 1 der Freizügigkeits-Richtlinie ergeben. Nach dessen S. 1 dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit eines Unionsbürgers zwar aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Doch dürfen diese Gründe nach Art. 27 Abs. 1 S. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden. Dies ist bei der hier in Frage stehenden Verwaltungsmaßnahme allerdings gerade der Fall, da diese allein auf die beiden Feststellungen gestützt wurde, dass eine Verbindlichkeit gegenüber einer juristischen Person des Privatrechts besteht und dass der Schuldner nicht in der Lage ist, diese Verbindlichkeit zu sichern (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2012: 608). Der in Art. 21 Abs. 1 AEUV enthaltene Begriff „Durchführungsbestimmungen“ bezieht sich auf freizügigkeitseinschränkendes Sekundärrecht ( 2. Teil 1.3). 710 Neben den allgemeinen Rechtfertigungsgründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit enthält die o.g. Freizügigkeits-Richtlinie 711 als prominenteste Durch ührungsbestimmung i.S.v. Art. 21 Abs. 1 710 Vgl. Magiera, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 21 AEUV Rn. 19. Ob es sich bei Art. 21 Abs. 1 AEUV selbst um eine Ermächtigungsgrundlage zu dessen Erlass handelt, ist streitig, siehe den Meinungsüberblick bei Haag, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 21 AEUV Rn. 33. 711 ABl. EU L 158 vom 30.4.2004, S. 77. <?page no="228"?> AEUV ebenfalls spezifische Beschränkungen gerade des allgemeinen Freizügigkeitsrechts. 712 Zu nennen ist insofern insbesondere Art. 7 lit. b) der Freizügigkeits-Richtlinie, wonach ür einen Zeitraum von über drei Monaten jeder Unionsbürger, der nicht Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist, das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nur hat, wenn er ür sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel ver ügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat ver ügen ( 3. Teil 2.1.4.2). Nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Freizügigkeits-Richtlinie 713 darf gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht ver ügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben. Politiker P fragt, ob (1) jeder Mitgliedstaat diese Gründe nach seinem Gutdünken festlegen darf und (2) speziell die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität zu diesen Gründen zählt. Die zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit werden zwar gem. Art. 28 Abs. 3 der Freizügigkeits-Richtlinie von den Mitgliedstaaten festgelegt. Diese Festlegungen dürfen die Mitgliedstaaten jedoch nicht einseitig ohne Kontrolle durch die EU-Organe treffen, handelt es sich hierbei doch um Ausnahmen vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit (EuGH, ECLI: EU: C: 2012: 300). So hat der EuGH zum Begriff der „öffentlichen Sicherheit“ entschieden, dass diese sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst, wozu u.a. auch die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität gehören kann (EuGH, ECLI: EU: C: 2010: 708). Zusätzlich zu den im vorgenannten Primär- und Sekundärrecht positivierten, sowohl in Bezug auf Diskriminierungen als auch Beschränkungen anwendbaren Rechtfertigungsgründen sind Eingriffe in das allgemeine Freizügigkeitsrecht schließlich auch einer Rechtfertigung aufgrund der 712 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 603; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 780 f. 713 ABl. EU L 158 vom 30.4.2004, S. 77. <?page no="229"?> (ungeschriebenen) zwingenden Gründe des Allgemeinwohls i.S.d. EuGH-Rechtsprechung zugänglich ( 3. Teil 1.5.1.2). 714 Die österreichische Staatsangehörige Frau Sayn-Wittgenstein wohnt in der Bundesrepublik Deutschland, wo sie nach einer Adoption durch einen deutschen Staatsangehörigen den Familiennamen Fürstin von Sayn-Wittgenstein erworben hat. Nachdem dieser auch zunächst in das österreichische Geburtenbuch eingetragen wurde, entschied der Landeshauptmann von Wien, die Eintragung zu berichtigen und durch den Namen Sayn-Wittgenstein zu ersetzen. Zur Begründung ührte er eine zwischenzeitlich ergangene Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs an, wonach das den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz aus ührende nationale Adelsaufhebungsgesetz es österreichischen Staatsbürgern verbiete, Adelstitel - einschließlich solcher ausländischen Ursprungs - zu ühren. Existiert in Bezug auf den hierin vom EuGH erkannten Eingriff in Art. 21 Abs. 1 AEUV ein Rechtfertigungsgrund? Ja. Nach dessen ständiger Rechtsprechung lässt sich eine Beeinträchtigung der Freizügigkeit von Personen rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht. Zu diesen zu zählen ist u.a. die nationale Identität (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV), zu der wiederum die republikanische Staatsform gehört. In deren Sinne will das Adelsaufhebungsgesetz die Gleichheit (vgl. Art. 20 EU-GrCh) aller österreichischen Staatsbürger vor dem Gesetz dadurch gewährleisten, dass es diesen den Erwerb, Besitz und Gebrauch von Adelstiteln verbietet, könnten diese doch glauben machen, dass derjenige, der einen solchen ührt, einen vermeintlich höheren Rang innehat als Personen ohne entsprechenden Titel (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2010: 806). Ebenso wie bei den Grundfreiheiten der Fall ( 3. Teil 1.5.2) unterliegen allerdings auch die auf den o.g. Schranken ( 3. Teil 2.4.1.1) beruhenden Beschränkungen und Bedingungen des allgemeinen Freizügigkeitsrechts ihrerseits wiederum Begrenzungen, d.h. Schranken-Schranken; so müssen sie mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts, insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ( 3. Teil 1.5.2.1), vereinbar 714 Dittert, Europarecht, S. 275; Wienbracke, StuW 2017, S. 377 (378) m.w.N. Insoweit zwischen den verschiedenen Diskriminierungsarten differenzierend: Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 21 AEUV Rn. 37. Vgl. auch 3. Teil 1.5.1.2. <?page no="230"?> sein. 715 Speziell zur Ausweisung siehe insoweit die in Art. 28 Abs. 1 der Freizügigkeits-Richtlinie 716 und § 6 Abs. 3 FreizügG/ EU genannten Abwägungskriterien insbesondere der Dauer des Aufenthalts des Betroffenen, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat. Nach Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie 90/ 364/ EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht 717 gewähren die Mitgliedstaaten den Angehörigen der Mitgliedstaaten, denen das Aufenthaltsrecht nicht aufgrund anderer Bestimmungen des EU-Rechts zuerkannt ist, unter der Bedingung das Aufenthaltsrecht, dass sie ür sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen. Herrn Baumbast, einem deutschen Staatsangehörigen, wurde im Juni 1990 eine auf ünf Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis ür das Vereinigten Königreich erteilt. Von 1990 bis 1993 war er dort zunächst als Arbeitnehmer und dann als Unternehmer erwerbstätig. Nachdem sein eigenes Unternehmen in Konkurs gefallen war und er im Vereinigten Königreich keine Arbeitsstelle finden konnte, arbeitete er seit 1993 ür deutsche Unternehmen in China und Lesotho. Er nahm keine Sozialleistungen in Anspruch und begab sich zur ärztlichen Betreuung erforderlichenfalls nach Deutschland, wo er in vollem Umfang krankenversichert war. Sein im Mai 1995 gestellter Antrag auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis wurde unter Hinweis auf die o.g. Richtlinienbestimmung abgelehnt. Denn die Krankenversicherung von Herrn Baumbast deckte keine Notversorgung im Vereinigten Königreich ab. Hiergegen beruft dieser sich unmittelbar auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht. Mit Erfolg? Ja. Denn die in der Richtlinie 90/ 364/ EWG festgelegten Bedingungen sind insbesondere im Einklang mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der Ver- 715 EuGH, ECLI: EU: C: 2002: 493, Rn. 91; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 782. Zu den Unionsgrundrechten als weiteren Schranken-Schranken siehe Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 784 und 3. Teil 1.5.2.2. Zum Wesensgehalt des allgemeinen Freizügigkeitsrechts siehe Magiera, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 21 AEUV Rn. 22. 716 ABl. EU L 158 vom 30.4.2004, S. 77. 717 ABl. EG L 180 vom 13.7.1990, S. 26. <?page no="231"?> hältnismäßigkeit anzuwenden. Insofern ist im Ausgangsfall von Belang, dass Herr Baumbast mehrere Jahre lang - zunächst als Arbeitnehmer und dann als Selbstständiger - im Vereinigten Königreich gearbeitet und somit rechtmäßig gewohnt hat und er nach Beendigung seiner dortigen unselbstständigen und selbstständigen Erwerbstätigkeit in diesem Staat verblieben ist, dass Herr Baumbast die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats nicht belastet hat und er in einem anderen Mitgliedstaat in vollem Umfang krankenversichert ist. Deshalb wäre es ein unverhältnismäßiger Eingriff in das nunmehr in Art. 21 Abs. 1 AEUV verankerte Aufenthaltsrecht, wenn Herrn Baumbast dessen Ausübung in Anwendung der Richtlinie 90/ 364/ EWG mit der Begründung versagt würde, dass seine Krankenversicherung eine Notversorgung im Aufnahmemitgliedstaat nicht abdeckt (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2002: 493). Das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV, ein Grundprinzip des EU-Rechts (EuGH, ECLI: EU: C: 2009: 660), wird durch Art. 24 der Freizügigkeits-Richtlinie 718 konkretisiert, die u.a. auf den nunmehrigen Art. 18 Abs. 2 AEUV gestützt ist. 719 Nach Art. 24 Abs. 1 S. 1 der Freizügigkeits-Richtlinie genießt vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Jedoch ist nach Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie abweichend von ihrem Art. 24 Abs. 1 der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder ggf. während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 lit. b) der Freizügigkeits-Richtlinie einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren. 718 ABl. EU L 158 vom 30.4.2004, S. 77. 719 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 734; Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 69. <?page no="232"?> Um die Ausgestaltungsbefugnis des Unionsgesetzgebers nicht zu unterlaufen, ist Art. 18 Abs. 1 AEUV neben dem sekundärrechtlichen Diskriminierungsverbot nicht anwendbar ( 3. Teil 1.2.1 und 2.1.1). 720 Ausweislich des Wortlauts von Art. 18 Abs. 1 AEUV verbietet dieser Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Anwendungsbereich der Verträge, d.h. des EUV und des AEUV, nur „unbeschadet“ von deren „besondere[n] Bestimmungen“. M.a.W.: Als subsidiäre Auffangnorm gelangt das in Art. 18 Abs. 1 AEUV verortete allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit neben den vertraglich gewährleisteten besonderen Diskriminierungsverboten aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach dem lex specialis-Grundsatz nicht zur Anwendung, sofern der Schutzbereich einer dieser Vorschriften im konkreten Fall eröffnet ist ( 3. Teil 1.2.2). 721 Entsprechend heißt es im Urteil Cowan, dass Art. 18 Abs. 1 AEUV mit der Wendung „unbeschadet besonderer Bestimmungen d[er] Vertr[äge]“ insbesondere auf andere Bestimmungen der Verträge verweist, in denen das allgemeine Verbot des nunmehrigen Art. 18 Abs. 1 AEUV ür besondere Anwendungs älle konkretisiert ist. So verhält es sich u.a. mit den grundfreiheitlichen Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, dem Niederlassungsrecht und dem freien Dienstleistungsverkehr (EuGH, ECLI: EU: C: 1989: 47 3. Teil 1.4.2). Im Rahmen von Art. 18 Abs. 1 AEUV ist „,unbeschadet‘ […] im Sinne von ,gilt nur‘ auszulegen.“ 722 Nicht um eine das allgemeine Diskriminierungsverbot verdrängende Spezialvorschrift handelt es sich dagegen bei Art. 157 Abs. 1 AEUV, untersagt dieser Diskriminierungen doch nicht wie Art. 18 Abs. 1 AEUV auf- 720 Vgl. Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 734. 721 Dittert, Europarecht, S. 304; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 5; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 732; Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 2. A.A. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 12 Rn. 7: Art. 18 Abs. 1 AEUV sei einschlägig, wenn kein Eingriff in eine Grundfreiheit vorliege. Zur entsprechenden Diskussion im Rahmen der deutschen Grundrechte siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 93 m.w.N. 722 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 5. <?page no="233"?> grund der Staatsangehörigkeit, sondern stellt vielmehr - staatsangehörigkeitsunabhängig - auf das Kriterium des Geschlechts ab; 723 zu Art. 21 Abs. 2 EU-GrCh 3. Teil 3.1.6. In einem Vorabentscheidungsverfahren hat ein mitgliedstaatliches Gericht dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die im zugrundeliegenden Ausgangsverfahren in Rede stehende Zubilligung einer günstigeren steuerlichen Regelung ür die Ausschüttung von Gewinnen ausschließlich inländischer Unternehmen eine nach Art. 18 Abs. 1 AEUV verbotene Diskriminierung darstellt. Hierauf hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2006: 8) geantwortet, dass Art. 18 Abs. 1 AEUV ein allgemeines Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthält. Nach ihrem ausdrücklichen Wort („unbeschadet“) könne diese Vorschrift als eigenständige Rechtsgrundlage allerdings nur auf solche Fallgestaltungen angewendet werden, ür die der EUV und der AEUV keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsehen. Auf dem Gebiet des freien Kapitalverkehrs sei das Diskriminierungsverbot aber gerade durch Art. 63 Abs. 1 AEUV konkretisiert worden. Bereichsausnahmen ( 3. Teil 1.2.3) existieren im Hinblick auf Art. 18 Abs. 1 AEUV nicht. 724 Der Wortlaut von Art. 18 Abs. 1 AEUV enthält im Hinblick auf den persönlichen Schutzbereich des allgemeinen Diskriminierungsverbots keine Einschränkungen. 725 Durch dieses berechtigt werden daher jedenfalls natürliche Personen, die (zumindest auch) Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, d.h. Unionsbürger ( 3. Teil 2), sind. 726 Sofern sie diesen nach Art. 54 Abs. 1 AEUV gleichgestellt sind, gilt Entsprechendes ür juristische Personen (Gesellschaften i.S.v. Art. 54 Abs. 2 3. Teil 1.3.1). 727 Was Personen anbelangt, die ausschließlich Angehörige eines Drittstaats 723 Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 2. 724 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 5. 725 Vgl. auch Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 12 Rn. 10. 726 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 735. 727 Vgl. Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 4. <?page no="234"?> bzw. staatenlos sind, so sprechen ür deren Einbeziehung in den persönlichen Schutzbereich von Art. 18 Abs. 1 AEUV zum einen das dortige Fehlen einer ausdrücklichen Begrenzung auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten und zum anderen ein Umkehrschluss aus Art. 45 Abs. 2, Art. 49 Abs. 1 und Art. 56 Abs. 1 AEUV, wo diese Eigenschaft jeweils gerade explizit vorausgesetzt wird ( 3. Teil 1.3.1). 728 Dass diesem Personenkreis gleichwohl die Berechtigung, sich auf Art. 18 Abs. 1 AEUV berufen zu können, vielfach generell 729 abgesprochen wird, beruht auf systematischen (enge Verbindung von Art. 18 Abs. 1 AEUV zur Unionsbürgerschaft 3. Teil 2) und teleologischen Erwägungen (Art. 18 Abs. 1 AEUV bezwecke allein die engere europäische Integration durch Beseitigung des Fremdenstatus von EU-Ausländern 3. Teil 2.2.3.2; deren hervorgehobene Stellung dürfe durch Erstreckung auch auf Drittstaatsangehörige nicht nivelliert werden). 730 Nach Art. 24 Abs. 1 S. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie 731 erstreckt sich das Recht auf Gleichbehandlung auch auf Familienangehörige (i.S.v. Art. 2 Nr. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie), die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen. Ein irisches Unternehmen ist Inhaber einer Fischereilizenz, der zufolge mindestens 75% der Besatzung eines jeden Fischereifahrzeugs aus Angehörigen von Mitgliedstaaten bestehen müssen. Handelt es sich hierbei um eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit i.S.v. Art. 18 Abs. 1 AEUV? Die Grundfreiheiten sind nicht zu prüfen. Nein. Denn nach den vorstehenden Aus ührungen werden Drittstaatsangehörige durch Art. 18 Abs. 1 AEUV nicht berechtigt (vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1988: 14). 728 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 735; Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 5; Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 38. 729 Differenzierter: von Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV Rn. 31 f.; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 5 (Fn. 7); Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 5; Rust, in: von der Groeben/ Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 18 AEUV Rn. 45; Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 39. 730 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV Rn. 31; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 735; Jochum, Europarecht, Rn. 762; Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 5; Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 38. 731 ABl. EU L 158 vom 30.4.2004, S. 77. <?page no="235"?> In sachlicher Hinsicht setzt Art. 18 Abs. 1 AEUV voraus, dass der betreffende Sachverhalt in den „Anwendungsbereich der Verträge“ ällt, wobei deren jeweilige Fassung maßgeblich ist. 732 I.S.v. Art. 18 Abs. 1 AEUV fallen in den Anwendungsbereich der Verträge, d.h. des EUV und des AEUV, sowohl Sachverhalte in Bereichen mit Rechtsetzungskompetenz der EU ( 2. Teil 4; dies unabhängig davon, ob von dieser durch den Erlass von Sekundärrecht Gebrauch gemacht wurde oder nicht; str. 733 ) als auch Sachverhalte in Bereichen ohne eine solche, die aber unionsvertraglich geregelt sind. 734 Während es an einer derart EU-rechtlich geregelten Situation namentlich bei rein innerstaatlichen Sachverhalten fehlt (auch von Art. 18 Abs. 1 AEUV werden Inländerdiskriminierungen mithin nicht erfasst 3. Teil 1.3.2.2), sind hinreichende Berührungspunkte i.S.v. Art. 18 Abs. 1 AEUV zu einem vom EU-Recht geregelten Sachverhalt namentlich in den nachstehenden Konstellationen jeweils zu bejahen: 735 Mittelbarer Zusammenhang mit der Ausübung einer tatbestandlich nicht einschlägigen Grundfreiheit ( 3. Teil 1); 736 Nach § 110 Abs. 1 ZPO a.F. hatten Angehörige fremder Staaten, die als Kläger auftraten, dem Beklagten auf sein Verlangen hin wegen der Pro- 732 Vgl. Dittert, Europarecht, S. 304; Jochum, Europarecht, Rn. 757; Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 7. 733 A.A. Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 13. 734 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV Rn. 34; Dittert, Europarecht, S. 304. Näher zu den insoweit vertretenen Auffassungen: Epiney, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 16 ff. 735 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 613; Dittert, Europarecht, S. 304; Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 7; Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 62. Sehr wohl erfasst werden aber Rückkehrer-Fälle, siehe EuGH, ECLI: EU: C: 2002: 432, Rn. 31. 736 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 12 Rn. 7; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 7. Dort auch zur weiteren Konstellation der Durchführung, der Umsetzung oder des Vollzugs des EU- Rechts durch die Mitgliedstaaten. <?page no="236"?> zesskosten Sicherheit zu leisten. Von deutschen Staatsangehörigen konnte eine solche Sicherheitsleistung dagegen nicht verlangt werden, selbst wenn sie im Inland kein Vermögen und keinen Wohnsitz hatten. Fällt diese Vorschrift i.S.v. Art. 18 Abs. 1 AEUV in den Anwendungsbereich der Verträge? Ja. Denn eine nationale Verfahrensvorschrift wie § 110 Abs. 1 ZPO a.F. ist geeignet, die wirtschaftliche Betätigung der Wirtschaftsteilnehmer anderer Mitgliedstaaten auf dem deutschen Markt zu beeinträchtigen. Obwohl sie als solche nicht dazu bestimmt ist, eine kaufmännische Tätigkeit zu regeln, bewirkt sie gleichwohl, dass diese Wirtschaftsteilnehmer weniger leichten Zugang zu den Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland haben als dessen eigene Staatsangehörige. Folglich ällt die Vorschrift des § 110 Abs. 1 ZPO a.F. i.S.v. Art. 18 Abs. 1 AEUV in den Anwendungsbereich der Verträge und unterliegt dem in diesem Artikel verankerten allgemeinen Diskriminierungsverbot, wenn sie sich - und sei es auch nur mittelbar - auf den von Art. 28 ff., Art. 56 ff. AEUV geschützten innerunionalen Austausch von Gütern und Dienstleistungen auswirkt. Zu be ürchten ist eine solche Auswirkung beispielsweise dann, wenn eine Sicherheit wegen der Prozesskosten bei einer Klage auf Bezahlung von Warenlieferungen verlangt wird (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1997: 169). Rechtmäßige Wahrnehmung der unionsbürgerlichen Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 2.1). 737 Die deutsche Staatsangehörige Morgan verbrachte nach in der Bundesrepublik Deutschland bestandener Abiturprüfung ein Jahr im Vereinigten Königreich als Au-pair-Kraft und nahm anschließend an einer dortigen Universität das Studium auf. Ihr Antrag bei der zuständigen deutschen Behörde, ihr ür dieses Auslandsstudium Ausbildungs örderung zu bewilligen, wurde mit dem Hinweis darauf abgelehnt, dass sie - entgegen § 5 Abs. 2 BA öG a.F. - nicht eine Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat nach einer mindestens einjährigen Ausbildung in Deutschland fortsetze. Muss ein solches Erfordernis einer Überprüfung anhand von Art. 18 Abs. 1 AEUV standhalten? Ja. Denn zu den Situationen, die in den von Art. 18 Abs. 1 AEUV vorausgesetzten Anwendungsbereich der Verträge fallen, gehören diejenigen, in denen es um das durch Art. 21 Abs. 1 AEUV verliehene Recht geht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und 737 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 735. <?page no="237"?> aufzuhalten, auf das sich Frau Morgan als Unionsbürgerin auch gegenüber ihrem Herkunftsstaat berufen kann. Im Ausgangsverfahren betrifft die fragliche Förderung gerade eine Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat. Abweichendes ergibt sich auch nicht etwa aus Art. 165 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV, wonach die Mitgliedstaaten die Verantwortung ür die Gestaltung des Bildungssystems tragen. Diese Zuständigkeit muss nämlich unter Beachtung des Unionsrechts ausgeübt werden, u.a. eben von Art. 21 Abs. 1 AEUV (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2007: 626). Art. 21 Abs. 1 AEUV bildet in der jüngeren EuGH-Rechtsprechung den wohl wichtigsten „Türöffner“ 738 ür die Heranziehung von Art. 18 Abs. 1 AEUV als Prüfungsmaßstab ( 3. Teil 2.1.3.2) - was dann in der Fallbearbeitung die implizite Prüfung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts notwendig macht: 739 Nach EuGH, ECLI: EU: C: 2014: 2358, kann sich jeder Unionsbürger in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des EU-Rechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 Abs. 1 AEUV berufen - wobei zu diesen Situationen diejenigen gehören, welche die Ausübung der durch Art. 21 Abs. 1 AEUV verliehenen Freiheit betreffen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten. Trotz dieser durch Art. 21 Abs. 1 AEUV im Allgemeinen bewirkten beträchtlichen Anwendungserweiterung von Art. 18 Abs. 1 AEUV ist der Weg über die erstgenannte Vorschrift freilich dann versperrt, wenn sich der Betroffene im konkreten Fall nicht mit Erfolg auf das danach verbürgte unionsrechtliche Aufenthaltsrecht berufen kann ( 3. Teil 2.1.1 und 2.1.4.1). 740 Im Ergebnis verbleiben aufgrund der thematischen Weite v.a. des AEUV nur noch wenige Sachverhalte, die außerhalb der Verträge angesiedelt sind und auf die Art. 18 Abs. 1 AEUV mithin keine Anwendung findet ( 3. Teil 2.1.2.2). 741 738 Schmahl/ Jung, Jura 2016, S. 1272 (1275) m.w.N. 739 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 741 (Fn. 180). 740 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 7; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 741; Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 18. Dort (§ 12 Rn. 3 ff.) auch speziell zum „Sozialleistungstourismus“. 741 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 742, dort (Rn. 744 ff.) auch zum EUV. <?page no="238"?> Die in § 12 Abs. 1 BWahlG enthaltene Beschränkung des Wahlrechts auf „alle Deutschen“ i.S.v. Art. 116 Abs. 1 GG verstößt schon deshalb nicht gegen Art. 18 Abs. 1 AEUV, weil mitgliedstaatliche Wahlen oberhalb der kommunalen Ebene nicht in den Anwendungsbereich der Verträge fallen, vgl. Art. 22 Abs. 1 AEUV. 742 Im Übrigen kann das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit hingegen von allen sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhaltenden Unionsbürgern geltend gemacht werden - und zwar auch in Bereichen wie demjenigen der Sozialleistungen, die in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegen und in denen keine anderweitigen Vorgaben des EU-Rechts existieren. 743 Letztlich unterliegen damit sämtliche Sachbereiche des nationalen Rechts einer Überprüfung anhand von Art. 18 Abs. 1 AEUV, mit denen ein Unionsbürger im Rahmen der rechtmäßigen Ausübung seines Bewegungs- und Aufenthaltsrechts in Berührung kommt ( 3. Teil 2.1.2.2). 744 Der italienische Staatsangehörige P hat von seinem Recht nach Art. 21 Abs. 1 AEUV auf Freizügigkeit in der EU Gebrauch gemacht, als er während einer Rückreise aus Nigeria in Deutschland zwischenlandete. Diese (Durchreise-)Situation ällt i.S.v. Art. 18 Abs. 1 AEUV in den Anwendungsbereich der Verträge (EuGH, ECLI: EU: C: 2018: 222) - mit der Folge, dass die nach der Festnahme des P durch Beamte der deutschen Bundespolizei erfolgte Auslieferung an die USA sich entgegen der vorherigen Rechtsprechung des BVerfG (NJW 2014, S. 1945) sehr wohl am Maßstab des Art. 18 Abs. 1 AEUV messen lassen muss, verbietet Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG doch lediglich die Auslieferung von „Deutschen“ an das Ausland. Was den Kreis der durch Art. 18 Abs. 1 AEUV Verpflichteten anbelangt - diese werden dort nicht ausdrücklich benannt 745 -, so entspricht die Rechtslage derjenigen bei Art. 21 Abs. 1 AEUV ( 3. Teil 2.1.3.1): An das 742 Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 14; Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 25. 743 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1989: 47, Rn. 19 und siehe Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 7. 744 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 741. 745 Hierauf hinweisend: Schroeder, Europarecht, § 12 Rn. 11. <?page no="239"?> allgemeine Diskriminierungsverbot gebunden sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, daneben aber auch die EU selbst, d.h. insbesondere deren Organe bei der Setzung von Sekundärrecht. 746 Ob Art. 18 Abs. 1 AEUV darüber hinaus ebenfalls unmittelbare horizontale Drittwirkung zwischen Privaten entfaltet ( 3. Teil 1.4.1.3 und 3.2.3), ist dagegen umstritten. 747 Die Satzung eines als juristische Person des Privatrechts organisierten Bahnrennradsportverbands B bestimmt, dass bei Steherrennen der Schrittmacher dieselbe Staatsangehörigkeit besitzen muss wie sein Radrennfahrer. Unter Hinweis auf diese Klausel wurde die aus einem niederländischen und einem spanischen Staatsangehörigen bestehende Mannschaft nicht zu der von B ausgerichteten Europameisterschaft zugelassen. B meint, dass diese Bestimmung schon deshalb nicht an Art. 18 Abs. 1 AEUV zu messen sei, weil dieser nur Diskriminierungen beträfe, die auf staatlichen Maßnahmen beruhen, nicht dagegen auch solche, die von privatrechtlichen Vereinigungen herrühren. Trifft diese Auffassung zu? Nein. Im Fall Walrave hat der EuGH (EuGH, ECLI: EU: C: 1974: 140) nämlich u.a. auch in Bezug auf das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit entschieden, dass dieses nicht allein ür Akte der Mitgliedstaaten gilt, sondern sich ebenfalls auf sonstige Maßnahmen erstreckt, die - wie hier - eine kollektive Regelung 748 enthalten. Im Gegensatz zu den vorstehenden, sämtlich auf menschliches Wirken zurückzu ührenden Ungleichbehandlungen nicht als Diskriminierungen i.S.v. Art. 18 Abs. 1 AEUV angesehen werden können demgegenüber auf natürliche Erscheinungen wie etwa der jeweiligen Topographie beruhende Unterschiede (EuGH, ECLI: EU: C: 1980: 83). Ebenfalls nicht als Diskriminierung zu qualifizieren sind im vorliegenden Zusammenhang - genau wie 746 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 733. 747 Dittert, Europarecht, S. 302 f., 307; Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 18. Nachweise zum Streitstand bei Epiney, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 40. Bejahend: EuGH, ECLI: EU: C: 2000: 530, Rn. 47 ff. bzgl. einer „Organisation, […] die […] gegenüber Einzelpersonen bestimmte Befugnisse ausüben und sie Bedingungen unterwerfen kann, die die Wahrnehmung der durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten beeinträchtigen.“ Vgl. auch dass., ECLI: EU: C: 2018: 257, Rn. 76 f. und siehe Fn. 748. 748 Zur Bindung auch von Einzelpersonen an Art. 18 Abs. 1 AEUV siehe Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 618. <?page no="240"?> bei Art. 3 Abs. 1 GG 749 - schließlich solche Unterschiede, die nicht auf das Verhalten derselben Stelle zurückzuführen sind, weshalb allein die unterschiedliche, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit erfolgende Regelung einer Frage in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten keinen Verstoß gegen Art. 18 Abs. 1 AEUV darstellt ( 3. Teil 1.4.2.1). 750 Nach § 1a Abs. 1 Nr. 1 EStG a.F. waren Unterhaltsleistungen an den geschiedenen Ehegatten u.a. nur dann als Sonderausgaben abziehbar, wenn die Besteuerung der Unterhaltszahlungen beim Emp änger durch eine Bescheinigung der zuständigen ausländischen Steuerbehörde nachgewiesen wurde. Unter Hinweis hierauf versagte das zuständige Münchener Finanzamt Herrn Schempp, einem deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Deutschland, den Sonderausgabenabzug im Hinblick auf die an seine in Österreich wohnhafte, geschiedene Ehefrau gezahlten Unterhaltsleistungen, weil Letztere nach österreichischem - im Gegensatz etwa zum niederländischen - Steuerrecht bereits dem Grunde nach nicht besteuert wurden. Handelt es sich hierbei um eine diskriminierende Behandlung i.S.v. Art. 18 Abs. 1 AEUV? Nein. Denn diese Vorschrift erfasst nicht etwaige Ungleichbehandlungen, die sich aus Abweichungen zwischen den Rechtsvorschriften der verschiedenen Mitgliedstaaten ergeben, sofern diese ür alle Personen, die in ihren Anwendungsbereich fallen, nach objektiven Kriterien und ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gelten. Dies ist hier der Fall. Die ür Unterhaltsleistungen geltenden steuerlichen Regelungen sind in den vorliegend betroffenen Mitgliedstaat unterschiedlich ausgestaltet (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2005: 446). Seinem ausdrücklichen Wortlaut nach verbietet Art. 18 Abs. 1 AEUV jede „Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit“. Generell liegt eine Diskriminierung dann vor, wenn vergleichbare Sachverhalte ungleich behandelt werden. 751 Kann sich die Ermittlung des Kriteriums, anhand dessen die Vergleichbarkeit von zwei 749 Dazu siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 536 f. m.w.N. 750 Epiney, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 10; Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 49. 751 EuGH, ECLI: EU: C: 2008: 724, Rn. 75; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 747; Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 45. Dort auch jeweils zur Gleichbehandlung von nicht Vergleichbarem. <?page no="241"?> Personengruppen zu beurteilen ist, im Allgemeinen als mitunter durchaus schwierig erweisen, 752 so trifft dieser Befund auf die Feststellung einer relevanten unterschiedlichen Behandlung im Rahmen von Art. 18 Abs. 1 AEUV dagegen nicht zu, ist insoweit doch einzig auf die Staatsangehörigkeit abzustellen. 753 Diskriminierungen aus anderen Gründen wie zum Beispiel der Rasse oder der Religion (dazu: Art. 21 Abs. 1 EU-GrCh) werden von Art. 18 Abs. 1 AEUV hingegen nicht erfasst (zum Geschlecht 3. Teil 2.2.1). 754 Vielmehr zielt das allgemeine Diskriminierungsverbot ausschließlich auf die Überwindung des Fremdenstatus ab, d.h. auf eine Behandlung der Unionsbürger in jedem Mitgliedstaat als Inländer, sog. Inländergleichbehandlung. 755 Diskriminierung i.S.v. Art. 18 Abs. 1 AEUV bedeutet die „Schlechterbehandlung von EU-Ausländern gegenüber eigenen Staatsangehörigen.“ 756 Die Diskriminierung von EU-Ausländern gegenüber Drittstaatsangehörigen unter ällt daher nicht Art. 18 Abs. 1 AEUV. 757 Die Behandlung der Letztgenannten ist mithin kein tauglicher Vergleichsmaßstab, auf den Unionsbürger sich mit Erfolg berufen könnten. 758 752 So zu Art. 3 Abs. 1 GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 539 ff. m.w.N. 753 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV Rn. 6. 754 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 4. 755 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 615; Jochum, Europarecht, Rn. 759; Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 2. 756 Hobe, Europarecht, Rn. 618 mit dem weiteren Hinweis, dass eine Diskriminierung auch dann vorliegt, wenn nicht sämtliche Inländer gegenüber EU- Ausländern bevorzugt werden ( 3. Teil 1.4.2.1). 757 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 732; Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 62. Zur insofern auszumachenden Ähnlichkeit mit der Inländerdiskriminierung ( 3. Teil 1.3.2.2) siehe Dittert, Europarecht, S. 306 f. 758 Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 40. <?page no="242"?> Gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG a.F. waren nach diesem Gesetz solche Ausländer leistungsberechtigt, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhielten und die eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz besaßen. Demgegenüber schloss das deutsche Recht Staatsangehörige der Mitgliedstaaten von Sozialhilfeleistungen aus. Handelt es sich hierbei um eine nach Art. 18 Abs. 1 AEUV verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit? Nein. Denn Art. 18 Abs. 1 AEUV betrifft in den Anwendungsbereich der Verträge fallende Situationen, in denen ein Angehöriger eines Mitgliedstaats allein aufgrund seiner Staatsangehörigkeit gegenüber den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats diskriminiert wird, findet aber keine Anwendung in Bezug auf Ungleichbehandlungen zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen (EuGH, ECLI: EU: C: 2009: 344). Auch im Rahmen von Art. 18 Abs. 1 AEUV kann eine Diskriminierung zum einen offen (direkt, formal, unmittelbar) in Erscheinung treten, indem die betreffende Ungleichbehandlung (Schlechterbehandlung) tatbestandlich ausdrücklich an das hiernach untersagte Differenzierungskriterium der EU-ausländischen Staatsangehörigkeit anknüpft ( 3. Teil 1.4.2.1) - wie etwa bei folgender mitgliedstaatlicher Vorschrift der Fall: 759 Jeder volljährige Belgier, der nicht über ausreichende Mittel ver ügt und sich diese nicht aus eigener Kraft oder in anderer Weise beschaffen kann, hat Anspruch auf ein Existenzminimum (dazu: EuGH, ECLI: EU: C: 2001: 458). Nach dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte des deutschen GG auch - zugleich aber ebenfalls „nur“ - ür „inländische“ juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Juristische Personen aus dem EU-Ausland werden durch diese Bestimmung offen diskriminiert (vgl. BVerfG, BVerfGE 129, 78 2. Teil 2.1). Darüber hinaus verbietet Art. 18 Abs. 1 AEUV ausweislich seines Wortlauts aber auch „jede“ andere Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, d.h. ebenfalls versteckte (indirekte, materielle, mittelbare). 760 759 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 613; von Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV Rn. 10; Dittert, Europarecht, S 306; Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 6; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 749; Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 20. 760 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 6; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 749. <?page no="243"?> Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis ühren (EuGH, ECLI: EU: C: 2010: 181). Insofern zu nennen ist ebenfalls im vorliegenden Zusammenhang vornehmlich der Wohnsitz, darüber hinaus aber etwa auch die Kenntnis der jeweiligen Landessprache, der Ort des Schulabschlusses sowie das Erfordernis eines im Inland zugelassenen Kfz ( 3. Teil 1.4.2.1). 761 Einer belgischen Vorschrift zufolge hat derjenige, der eine bestimmte Zuwiderhandlung im Straßenverkehr begeht, die Möglichkeit, entweder sofort einen Betrag von 4.000 EUR je Zuwiderhandlung zu entrichten (wodurch die Strafverfolgung in der Regel erledigt ist) oder das gesetzlich vorgesehene Strafverfahren gegen sich betreiben zu lassen. Die letztgenannte Option steht einem Betroffenen ohne Wohnsitz oder festen Aufenthaltsort in Belgien allerdings nur dann offen, wenn er einen Betrag von 6.000 EUR je Zuwiderhandlung hinterlegt; andernfalls wird das Fahrzeug auf seine Kosten und seine Gefahr einbehalten. Greift diese Regelung in Art. 18 Abs. 1 AEUV ein? Ja. Zwar ührt diese nicht zu einer unmittelbaren Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, da die Verpflichtung, einen Geldbetrag als Sicherheit hinterlegen zu müssen, unabhängig von der Staatsangehörigkeit ür jeden Betroffenen gilt, der nicht in Belgien wohnt. Jedoch verbietet Art. 18 Abs. 1 AEUV nicht nur offene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis ühren wie die Nationalität. Eine mitgliedstaatliche Regelung wie die vorliegende, die eine Unterscheidung aufgrund des Kriteriums des Wohnsitzes trifft, indem sie Gebietsfremden eine bestimmte Vergünstigung verweigert, die sie Gebietsansässigen gewährt, wirkt sich aber gerade hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten aus, da Gebietsfremde meist Ausländer sind. Damit liegt eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vor (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 1997: 28). 761 Dittert, Europarecht, S. 306; Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 17; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 12 Rn. 12; Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 23. Bei Letzterem (Rn. 22) auch zur Frage, ob es zur Bejahung einer mittelbaren Diskriminierung auf die tatsächlichen Auswirkungen der jeweiligen Maßnahme ankommt oder ob diese vielmehr spezifisch auf die unterschiedliche Ausgangslage von In- und EU-Ausländern zugeschnitten sein muss. <?page no="244"?> Ein über das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit hinausgehendes Beschränkungsverbot enthält Art. 18 Abs. 1 AEUV - anders als die Grundfreiheiten ( 3. Teil 1.4.2.2) - dagegen nicht. 762 Daraus folgt, dass eine innerstaatliche Regelung, die ihre Adressaten weder unmittelbar noch mittelbar nach der Staatsangehörigkeit unterscheidet, nicht gegen Art. 18 Abs. 1 AEUV verstößt, auch wenn sie ihre Adressaten beeinträchtigt (EuGH, ECLI: EU: C: 1981: 177). Wenngleich Art. 18 Abs. 1 AEUV jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet und diese Vorschrift auch nicht wie die Grundfreiheiten ( 3. Teil 1.5.1.1) ausdrücklich die Möglichkeit einer Eingriffsrechtfertigung vorsieht, 763 so kann dem EuGH (ECLI: EU: C: 2008: 724) zufolge eine unterschiedliche Behandlung i.S.d. Vorschrift gleichwohl dann gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht - wobei als solche alle öffentlichen Interessen (z.B. das der öffentlichen Ordnung) in Betracht kommen, nicht allerdings rein wirtschaftliche Gründe ( 3. Teil 1.5.1.2). 764 Weitgehend anerkannt ist diese Eigenschaft von Art. 18 Abs. 1 AEUV als mithin nicht absolutem, sondern lediglich relativem Diskriminierungsverbot jedenfalls ür versteckte Diskriminierungen ( 3. Teil 2.2.3). 765 Für die Gewährung einer Beihilfe zur Deckung der Unterhaltskosten an Studenten forderten die britischen Student Support Regulations u.a., dass die betreffende Person ihren Wohnsitz in den drei Jahren vor dem ersten Tag des ersten Studienjahres im Vereinigten Königreich hatte. 762 So die ganz h.M., siehe von Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV Rn. 19; Epiney, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 12; Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 56. 763 Zu diesen Aspekten siehe von Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV Rn. 21. Siehe allerdings den Hinweis in EuGH, ECLI: EU: C: 2014: 2358, Rn. 60 auf Art. 20 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV. 764 Epiney, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 38; Wienbracke, StuW 2017, S. 377 (389) m.w.N. Vgl. ebenfalls Streinz, in: ders., EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 61: „Art. 18 AEUV verbietet […] ,willkürliche‘ Ungleichbehandlungen, d.h. solche, die nicht durch sachliche Gründe, die nicht auf der Staatsangehörigkeit als solcher basieren, gerechtfertigt sind“. Dort (Rn. 59) auch Nachweise zur a.A. in Teilen der Literatur (Art. 18 Abs. 1 AEUV als absolutes Diskriminierungsverbot). 765 Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 34 AEUV Rn. 24. <?page no="245"?> Hierzu entschied der EuGH (ECLI: EU: C: 2005: 169), dass es jedem Mitgliedstaat freistehe, darauf zu achten, dass die Gewährung von Beihilfen zur Deckung des Unterhalts von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten nicht zu einer übermäßigen Belastung wird, die Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben könnte, die dieser Staat gewähren kann. Dass ein Mitgliedstaat derartige Beihilfen nur solchen Studenten gewährt, die nachgewiesen haben, dass sie sich bis zu einem gewissen Grad in die Gesellschaft dieses Staates integriert haben, sei daher legitim. Diese ausreichende Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats werde durch das o.g. Erfordernis eines Wohnsitzes von drei Jahren garantiert. Ob demgegenüber auch die besonders integrationsfeindlichen offenen Diskriminierungen ( 3. Teil 2.2.3) rechtfertigungs ähig sind, ist umstritten. 766 Während gegen eine solche Sichtweise mitunter die beiden eingangs genannten (grammatischen und systematischen) Argumente ange ührt werden, 767 so müssten diese an sich doch ebenfalls gegen die Rechtfertigungsmöglichkeit von mittelbaren Diskriminierungen sprechen, handelt es sich doch auch bei diesen schließlich um solche i.S.v. Art. 18 Abs. 1 AEUV. 768 Vielmehr prüft denn der EuGH daher in seiner jüngeren Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 2018: 222) ebenfalls in Bezug auf offene Diskriminierung deren etwaige objektive Rechtfertigung. Rein tatsächlich lassen sich diese - im Gegensatz zu versteckten - freilich ungleich seltener auf andere Erwägungen als die der Staatsangehörigkeit zurück ühren. 769 Im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens hatte der EuGH darüber zu befinden, ob der nunmehrige Art. 18 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er den Rechtsvorschriften eines (Vollstreckungs-)Mitgliedstaats entgegensteht, mit denen dessen zuständige Justizbehörde verpflichtet wird, die Vollstreckung eines gegen einen seiner Staats- 766 Epiney, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 8 (Fn. 21); Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 12 Rn. 15. 767 Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 22. Zur älteren EuGH-Rechtsprechung siehe Epiney, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 37. 768 Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 34 AEUV Rn. 25. Dort auch zum von den Grundfreiheiten her bekannten Ansatz, wonach offene Diskriminierungen nur aus geschriebenen, versteckte Diskriminierungen dagegen auch aus ungeschriebenen Gründen gerechtfertigt zu werden vermögen ( 3. Teil 1.5.1.2). 769 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 752. <?page no="246"?> angehörigen ausgestellten Europäischen Haftbefehls zu verweigern, während eine solche Verweigerung im Fall eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der ein auf Art. 21 Abs. 1 AEUV gestütztes Aufenthaltsrecht hat, voraussetzt, dass sich die gesuchte Person rechtmäßig ünf Jahre lang ununterbrochen im Hoheitsgebiet des (Vollstreckungs-)Mitgliedstaats aufgehalten hat. Unter Hinweis auf Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/ 584 770 hat der EuGH es als legitim erachtet, dass der (Vollstreckungs-)Mitgliedstaat der Frage, ob die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe erhöht werden können, besondere Bedeutung beimisst. Demnach sei es gerechtfertigt, dass der (Vollstreckungs-)Mitgliedstaat dieses Ziel nur gegenüber Personen verfolgt, die ein bestimmtes Maß an Integration in die Gesellschaft dieses Mitgliedstaats nachgewiesen haben. Insoweit könne davon ausgegangen werden, dass die bloße Voraussetzung der Staatsbürgerschaft ür die eigenen Staatsbürger einerseits und die Voraussetzung eines ununterbrochenen Aufenthalts von ünf Jahren ür die Staatsbürger der anderen Mitgliedstaaten andererseits gewährleisten, dass die gesuchte Person hinreichend in den (Vollstreckungs-)Mitgliedstaat integriert ist. Hingegen habe ein solcher Unionsbürger, der nicht die Staatsangehörigkeit des (Vollstreckungs-)Mitgliedstaats besitzt und sich nicht während eines bestimmten Zeitraums ununterbrochenen im Hoheitsgebiet dieses Staates aufgehalten hat, im Allgemeinen stärkere Verbindungen mit seinem Herkunftsmitgliedstaat als mit der Gesellschaft des (Vollstreckungs-)Mitgliedstaats (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2009: 616). Ebenso wie bei den Grundfreiheiten der Fall ( 3. Teil 1.5.2) ist die Einschlägigkeit eines Rechtfertigungsgrundes im konkreten Fall allerdings auch im Rahmen von Art. 18 Abs. 1 AEUV lediglich eine notwendige, nicht dagegen eine hinreichende Voraussetzung ür die Eingriffsrechtfertigung. Vielmehr bedarf es hierzu ebenfalls vorliegend noch der Wahrung namentlich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ( 3. Teil 1.5.2.1). 771 I.e.S. verlangt dieser im hiesigen Kontext eine Abwägung zwischen dem Differenzierungsmerkmal und den o.g. objektiven Erwägungen ( 3. Teil 2.2.4.1). 772 770 ABl. EG L 190 vom 18.7.2002, S. 1. 771 Wienbracke, StuW 2017, S. 377 (389) m.w.N. 772 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 753. <?page no="247"?> In Bezug auf § 110 Abs. 1 ZPO a.F. ( 3. Teil 2.2.2.2) hat der EuGH (ECLI: EU: C: 1997: 169) die Verhältnismäßigkeit zum einen deshalb verneint, weil die in dieser Vorschrift enthaltene Regelung bereits nicht geeignet sei, die Erstattung der Prozesskosten in allen grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten sicherzustellen. Denn von einem deutschen Kläger, der nicht in Deutschland wohnt und dort auch kein Vermögen besitzt, könne danach keine Sicherheitsleistung verlangt werden. Zudem stehe die Bestimmung aber auch in keinem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel, soweit nämlich ebenfalls ein nichtdeutscher Kläger, der in Deutschland wohnt und dort Vermögen hat, zur Leistung einer Sicherheit verpflichtet werden könnte. Im Fall eines Verstoßes gegen Art. 18 Abs. 1 AEUV ist die begünstigende Regelung ohne Weiteres zugunsten der Angehörigen der benachteiligten Gruppe anzuwenden, d.h. die diskriminierende Vorschrift kommt nicht zur Anwendung ( 3. Teil 1.1.4). 773 Damit der Einzelne, dem die im Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten (z.B. GG) gewährleisteten Grundrechte einen gewissen Mindestschutz gegen die nationale Hoheitsgewalt garantieren, auch insoweit nicht schutzlos gestellt wird, als diese im europäischen Integrationsprozess auf die EU übertragen worden ist und von dieser ausgeübt wird ( 1. Teil 1.1 und 3), bedarf es ebenfalls auf europäischer Ebene eines Grundrechtsschutzes - verneint der EuGH doch in ständiger Rechtsprechung unter Hinweis auf den supranationalen Charakter der EU deren Bindung an die in den Verfassungen der Mitgliedstaaten niedergelegten Grundrechte ( 2. Teil 2.2.2). 774 Nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 der Verordnung Nr. 1099/ 2009/ EG 775 des Rates vom 24.9.2009 dürfen Tiere grundsätzlich nur nach einer Betäubung ge- 773 Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 617; Dittert, Europarecht, S. 307. 774 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 748; Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 1; ders., DVP 2014, S. 416 (417), jeweils m.w.N. 775 ABl. EU L 303 vom 18.11.2009, S. 1. <?page no="248"?> tötet werden. Nach Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung gelten ür Tiere, die speziellen Schlachtmethoden unterliegen, die durch bestimmte religiöse Riten vorgeschrieben sind, die Anforderungen gemäß Absatz 1 nicht, sofern die Schlachtung in einem Schlachthof i.S.v. Art. 2 lit. k) der Verordnung erfolgt. Weil die EU eine Rechtsunion ist, in der alle Handlungen ihrer Organe der Kontrolle daraufhin unterliegen, ob sie insbesondere mit den Unionsgrundrechten im Einklang stehen, sind die vorstehenden Bestimmungen des Sekundärrechts nur gültig, wenn sie nicht gegen das höherrangige, in Art. 10 EU-GrCh verankerte Unionsgrundrecht auf Religionsfreiheit verstoßen (ECLI: EU: C: 2018: 335). Derartige Unionsgrundrechte mussten vom EuGH (ECLI: EU: C: 1969: 57) in der Rechtssache Stauder noch als allgemeine Grundsätze des EU-Rechts ( 2. Teil 1.1.3) entwickelt werden. 776 Auf einen geschriebenen Grundrechtskatalog wurde im EGKS- und im EWG-Vertrag nämlich verzichtet, weil diese Verträge noch als „gewöhnliche“ völkerrechtliche Abkommen qualifiziert wurden (zur nachfolgenden a.A. des EuGH 1. Teil 3), deren Bestimmungen die einzelnen Bürger der Vertragsstaaten erst über die von diesen erlassenen Umsetzungsakte erreichte, gegenüber denen wiederum das nationale Verfassungsrecht Grundrechtsschutz gewährleistet. 777 Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon ist gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Hs. 1 EUV die unter dem Vorsitz des früheren deutschen Bundespräsidenten und ehemaligen Präsidenten des BVerfG Roman Herzog erarbeitete Charta der Grundrechte der EU (EU-GrCh) vom 7. Dezember 2000 - in der angepassten Fassung vom 12. Dezember 2007 - die wichtigste Rechtsquelle der Unionsgrundrechte. 778 Wohl nicht zuletzt auf diesen Umstand ist es zurückzu ühren, dass weitgehende Parallelen zwischen der Grundrechtsprüfung nach dem 776 Eine Auflistung dieser Grundrechte findet sich bei Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 2 Rn. 11. 777 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 3; Dittert, Europarecht, S. 279; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 1. Auch die Grundfreiheiten ( 3. Teil 1.1.6) und die aus der Unionsbürgerschaft folgenden Rechte ( 3. Teil 2) waren bzw. sind keine „Grundrechtssurrogate“, siehe Hobe, Europarecht, Rn. 645 f. 778 Hobe, Europarecht, Rn. 647; Voßkuhle/ Wischmeyer, JuS 2017, S. 1171. <?page no="249"?> deutschen GG 779 einerseits und nach der EU-GrCh andererseits bestehen ( 3. Teil 3.1.3) 780 - wenngleich dies freilich schon aus normhierarchischen Gründen keinesfalls bedeutet, dass die zu Ersteren entwickelte Dogmatik ohne Weiteres auf Letztere übertragen werden könnte. 781 Enthält die EU-GrCh mithin einen geschriebenen, rechtsverbindlichen und auf EU-Ebene mit „Verfassungs“rang ( 2. Teil 1.1) ausgestatteten Grundrechtekatalog 782 , so ist nur insoweit, als sie Lücken aufweist (z.B. fehlt in ihr ein mit Art. 2 Abs. 1 GG vergleichbares Auffanggrundrecht 783 ), weiterhin auf die allgemeinen Grundsätze des EU-Rechts als zusätzlicher Rechtsquelle der Unionsgrundrechte zurückzugreifen ( 2. Teil 1.1.3; zur praktisch gleichwohl geringen Bedeutung 3. Teil 3.1.3 a.E.). 784 Als Rechtserkenntnisquellen ür die insofern durchzu ührende wertende Rechtsvergleichung - der kleinste gemeinsame Nenner ist insofern ebenso wenig maßgeblich wie der jeweils weitestgehende nationale Grundrechtsschutz; auch auf das diesbezügliche durchschnittliche Niveau kommt es nicht an - fungieren nach Art. 6 Abs. 3 EUV neben der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) 785 die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. 786 779 Dazu siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 17 ff. m.w.N. 780 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 760 f., 781. 781 Vgl. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 4 Rn. 184; Voßkuhle/ Wischmeyer, JuS 2017, S. 1171 (1173). 782 Ebenso wie das deutsche GG neben (subjektiv-rechtlichen) Grundrechten auch (rein objektiv-rechtliche Staatsstruktur-)Prinzipien beinhaltet (dazu: Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, S. 7 ff., 18 m.w.N.), sind auch in der EU-GrCh nicht ausschließlich Unionsgrundrechte, sondern ebenfalls bloße „Grundsätze“ normiert ( 3. Teil 3.1.6). 783 Näher dazu: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 500 m.w.N. 784 Vgl. Dittert, Europarecht, S. 282; Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 12 m.w.N. 785 Frenz, Europarecht, Rn. 973 spricht insoweit von einer „(faktischen) Bindung der Union an die EMRK“. Die Verweisung in Art. 6 Abs. 3 EUV auf die EMRK ist dynamischer - und nicht: statischer - Natur, siehe Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 30. Allgemein zu dieser Art von Verweisungstechnik: Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 113 f. m.w.N. 786 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 6; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 3; Wienbracke, DVP 2014, S. 416 (417 f.) m.w.N. <?page no="250"?> Sobald die EU dem Verfassungsauftrag des Art. 6 Abs. 2 EUV nachgekommen und der EMRK beigetreten ist ( 2. Teil 1.2), existieren auf EU-Ebene drei Grundrechtsquellen, wobei die EMRK ein Mindestschutzniveau vorgibt, vgl. Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 EU-GrCh ( 3. Teil 3.1.6). Für die Fallprüfung empfiehlt sich dann folgende Reihenfolge: (1) EU-GrCh, (2) EMRK und (3) ungeschriebene Unionsgrundrechte (als allgemeine Rechtsgrundsätze des EU-Rechts). 787 Was die Prüfung eines einzelnen Unionsgrundrechts auf seine etwaige Verletzung hin anbelangt, so folgt diese einem Schema, das im Ergebnis dem zu den Grundrechten des deutschen GG entwickelten entspricht ( 3. Teil 3.1.2). Danach ist ein Grundrechtsverstoß bekanntlich dann zu bejahen, wenn das betreffende (Freiheits- 788 )Grundrecht im konkreten Fall anwendbar ist (s.u. I. 3. Teil 3.2) und ein nicht gerechtfertigter (s.u. IV. 3. Teil 3.5) Eingriff (s.u. III. 3. Teil 3.4) in dessen Schutzbereich (s.u. II. 3. Teil 3.3) vorliegt. 789 Prüfungsschema „Verletzung eines Unionsgrundrechts" I. Anwendbarkeit 1. Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU 2. Mitgliedstaaten ausschließlich bei Durch ührung des EU-Rechts 3. ggf. Private 787 Zum Ganzen: Wienbracke, DVP 2014, S. 416 (419) m.w.N. 788 Sofern ein - hier nicht näher thematisiertes - Gleichheitsgrundrecht anwendbar ist (z.B. Art. 21, 23 EU-GrCh, dazu siehe z.B. die Unisextarif- Entscheidung des EuGH, ECLI: EU: C: 2011: 100), ist auf nationaler wie auf europäischer Ebene das zweistufige Schema „(1) Ungleichbehandlung“ und „(2) Rechtfertigung“ zugrunde zu legen, vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 85; Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 570 m.w.N. 789 Zum Ganzen vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 82, § 14 Rn. 119; Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 220, 606 m.w.N. Zum nachfolgenden Schema siehe Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 119; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 729; Hobe, Europarecht, Rn. 655. Als weitaus weniger differenziert erweis sich dagegen die „Grundrechts- Checkliste“ der Kommission (KOM(2010) 573 endgültig vom 19.10.2010). <?page no="251"?> II. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich 2. Sachlicher Schutzbereich a) Schutzgut b) Schutzwirkungen c) Abgrenzung der Unionsgrundrechte untereinander (Konkurrenz) III. Eingriff 1. Verpflichtungsadressat (s.o. I.) 2. Eingriffsform a) Beschränkung (bei Freiheitsgrundrecht) b) Diskriminierung (bei Gleichheitsgrundrecht) IV. Rechtfertigung 1. Schranken a) geschriebene Schranken b) ungeschriebene Schranken 2. Schranken-Schranken a) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz b) Wesensgehaltsgarantie Die Unionsgrundrechte sind von zunehmender Prüfungsrelevanz. In der Fallbearbeitung können sie insbesondere in folgenden Konstellationen auftreten: Frage nach der Vereinbarkeit der Maßnahme eines EU-Organs mit den Unionsgrundrechten; inzidente Prüfung der Unionsgrundrechte als Verstärkung bzw. Beschränkung einer Grundfreiheit, in deren Schutzbereich die Maßnahme eines Unionsgrundrechtsverpflichteten eingreift ( 3. Teil 1.1.6 und 1.5.2.2). Weil das geschriebene EU-Recht dessen ungeschriebenen Bestandteilen vorgeht ( 2. Teil 1.1.3), kommt den allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts als Rechtsquelle von Unionsgrundrechten heute insoweit keine eigenständige Bedeutung mehr zu, als eine Überschneidung mit den Grundrechtsgewährleistungen der EU-GrCh besteht. Ebenso wie insofern ür die Fallbearbeitung zu empfehlen, wird daher <?page no="252"?> auch im Folgenden ausschließlich auf die in der EU-GrCh normierten Unionsgrundrechte eingegangen. 790 Und auch was die EMRK anbelangt, so zieht der EuGH (ECLI: EU: C: 2018: 335) die darin normierten Grundrechte bis zum erfolgten EU-Beitritt zu dieser ( 3. Teil 3.1.2) nicht als unmittelbaren Prüfungsmaßstab heran. Denn bis dahin sind die durch die EMRK anerkannten Grundrechte zwar als allgemeine Grundsätze Teil des EU-Rechts (Art. 6 Abs. 3 EUV) und haben nach Art. 52 Abs. 3 EU-GrCh die in der EU-GrCh enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden; doch stellt die EMRK, solange die EU ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde. Aufgrund der Supranationalität der EU gelten bzw. wirken die Unionsgrundrechte innerhalb der nationalen Rechtsordnung unmittelbar (vgl. auch Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EUV) und entfalten wie das übrige EU-Recht (Anwendungs-)Vorrang gegenüber dem ihnen entgegenstehendem Recht der Mitgliedstaaten ( 2. Teil 2.1). 791 Zu bejahen ist ein derartiger Kollisionsfall freilich erst dann, wenn bei Ausschöpfung der nach dem jeweiligen nationalen Recht zur Ver ügung stehenden juristischen Methoden dieses nicht in unionsgrundrechtskonformer Weise ausgelegt oder fortgebildet werden kann; 792 ist dies in Bezug auf Sekundärrecht nicht möglich, so ist dieses nichtig ( 2. Teil 1). 793 Ist eine hiernach ungültige Bestim- 790 Zum Ganzen: Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 41 f.; Dittert, Europarecht, S. 281; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 11; Frenz, Europarecht, Rn. 974, 976, 992; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 729; Hobe, Europarecht, Rn. 655; Jochum, Europarecht, Rn. 164; Streinz, Europarecht, Rn. 785; Voßkuhle/ Wischmeyer, JuS 2017, S. 1171 (1173); Wienbracke, VR 2017, S. 374 (378 f.) und S. 421 (425), jeweils m.w.N. 791 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 14, 38 f., 51; Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 669, 674 m.w.N. 792 Vgl. Wienbracke, Juristische Methodenlehre, Rn. 165 ff. m.w.N. 793 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 2015: 650, Rn.106 und siehe Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 50. Differenzierter ders., a.a.O., Rn. 50: „Rechtswidrigkeit oder Ungültigkeit der Maßnahme, bei ofmung <?page no="253"?> untrennbar mit einer anderen, ür sich unionsrechtmäßigen Bestimmung verbunden, so hat die Ungültigkeit der Ersteren die Ungültigkeit auch der Letzteren zur Folge (EuGH, ECLI: EU: C: 2015: 650). 794 Mit Urteil vom 8. April 2014 hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2014: 238) die Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie 2006/ 24/ EG 795 ür ungültig erklärt, weil der Unionsgesetzgeber mit ihr gegen die Unionsgrundrechte des Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und des Art. 8 EU-GrCh (Schutz personenbezogener Daten) verstoßen hat. Zur Frage, ob die Unionsgrundrechte wegen ihrer rechtlichen Vollkommenheit (Subsumtions ähigkeit) unmittelbar anwendbar sind und ür den Einzelnen jeweils ein subjektives Recht begründen ( 3. Teil 1.1.5 und 3.2.3), 796 siehe folgende Beispiele: In Bezug auf Art. 27 EU-GrCh 797 hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2014: 2) erkannt, dass aus dem Wortlaut dieser Vorschrift klar hervorgeht, dass sie, damit sie volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des EU- Rechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss. Danach kann Art. 27 EU-GrCh als solcher in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht geltend gemacht werden. Demgegenüber hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2018: 257) im Hinblick auf Art. 21 EU-GrCh ausge ührt, dass dieses Verbot zwingenden Charakter hat und schon ür sich allein dem Einzelnen ein Recht verleiht, das er in eifensichtlichen und schwerwiegenden Rechtsverstößen […] rechtlichen Inexistenz“. 794 Vgl. in Bezug auf § 44 Abs. 4 VwVfG: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 275 m.w.N. 795 ABl. EU L 105 vom 13.4.2006, S. 54. 796 Dazu vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 14, 17, 41 ff.; Haltern, Europarecht, Band II, Rn. 1520 ff.; Schorkopf, in: Grabenwarter, Enzyklopädie Europarecht, Europäischer Grundrechtsschutz, 2014, § 3 Rn. 32 ff. Siehe auch Sagan, EuZW 2018, S. 386 (387): „nicht […] sämtliche Unionsgrundrechte in horizontalen Rechtsbeziehungen zwischen Privaten unmittelbare Anwendung finden“. 797 Ob es sich hierbei allerdings überhaupt um ein Unionsgrundrecht oder nicht vielmehr um einen Grundsatz i.S.v. Art. 52 Abs. 5 EU-GrCh ( 3. Teil 3.1.6) handelt, ist str., siehe die Nachweise bei Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 27 Rn. 3. <?page no="254"?> nem Rechtsstreit, der einen vom EU-Recht erfassten Bereich betrifft, als solches geltend machen kann. Das Verhältnis der in der EU-GrCh normierten Unionsgrundrechte zu den in Art. 52 Abs. 2 bis 4 und 6 EU-GrCh genannten anderen (Grund-)Rechten ist dort wie folgt geregelt (zur Abgrenzung zu den Grundfreiheiten 3. Teil 1.1.6): 798 Gem. Art. 52 Abs. 2 EU-GrCh erfolgt die Ausübung der durch die EU- GrCh anerkannten Rechte (z.B. auf Freizügigkeit nach Art. 45 Abs. 1 EU- GrCh), die parallel auch in den Verträgen, d.h. dem EUV und dem AEUV (siehe Art. 18 EU-GrCh), geregelt sind (z.B. in Art. 21 Abs. 1 AEUV), im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen. M.a.W.: Soweit bestimmte Rechte sowohl im (A)EUV als auch in der EU- GrCh enthalten sind (sog. Unionsgrundrechteduplizierung), sind deren Schutzbereich (Art. 52 Abs. 2 EU-GrCh: „Bedingungen“) und Einschränkungsmöglichkeiten (Schranken und Schranken-Schranken; Art. 52 Abs. 2 EU-GrCh: „Grenzen“) einheitlich nach Maßgabe des in den Verträgen geregelten Rechts auszulegen. 799 Entsprechend heißt es in den Erläuterungen 800 zu Art. 52 Abs. 2 EU-GrCh, dass mit der EU-GrCh die Regelung hinsichtlich der durch die nunmehrigen Verträge gewährten und in die diese übernommenen Unionsgrundrechte nicht geändert wird. Insbesondere das in Art. 21 Abs. 2 EU-GrCh normierte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stimmt wörtlich mit Art. 18 Abs. 1 AEUV überein. Ein über Letzteres hinausgehenden Gehalt weist Ersteres nicht auf. 801 Vielmehr wiederholt Art. 21 Abs. 2 EU-GrCh lediglich die Vorgabe des Art. 18 Abs. 1 AEUV. 802 Aufgrund dieser Entsprechung kommt Art. 21 Abs. 2 EU- GrCh neben Art. 18 Abs. 1 AEUV nach Art. 52 Abs. 2 EU-GrCh keine 798 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 88 ff. 799 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 88; Frenz, Europarecht, Rn. 968, 1008. 800 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. 801 Vgl. Hölscheidt, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 21 Rn. 58. 802 Hierauf hinweisend: Hölscheidt, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 21 Rn. 56. <?page no="255"?> eigenständige Bedeutung zu, weshalb denn auch in der Praxis fast durchweg allein auf die Vertrags- und eben nicht die Chartabestimmung abgestellt wird ( 3. Teil 2 und 2.2.1). 803 Eine weitere sog. Transferklausel beinhaltet der gegenüber Art. 52 Abs. 1 EU-GrCh speziellere Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GrCh (str.), 804 der mit folgender Regelung zu einer Homogenität, Kohärenz bzw. Kongruenz der einander korrespondierenden Grundrechte der EU-GrCh und der EMRK (inkl. ihrer Protokolle) ührt: 805 Soweit diese Charta Rechte enthält (z.B. in Art. 17 EU-GrCh betreffend das Eigentumsrecht), die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen (z.B. dem des Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK), haben sie die gleiche Bedeutung, d.h. den gleichen Schutzbereich, und Tragweite, d.h. die gleichen Schranken, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. 806 Folge dessen ist nach den Erläuterungen 807 hierzu, dass der Gesetzgeber bei der Festlegung von Einschränkungen dieser Rechte die gleichen Normen einhalten muss, die in der aus ührlichen Regelung der Einschränkungen in der EMRK vorgesehen sind, welche damit auch ür die von diesem Absatz erfassten Rechte gelten, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des EU-Rechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird. Weiter lautet es dort in Hinblick auf Art. 52 Abs. 3 S. 2 EU-GrCh, dass auf jeden Fall der durch die EU-GrCh gewährleistete Schutz niemals geringer als der durch die EMRK gewährte Schutz sein darf. Im Ergebnis ührt Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GrCh dazu, dass aus dem einfachen Gesetzesvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh 803 Erläuterung zu Art. 21 EU-GrCh, ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 34; Rossi, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 21 EU-GRCharta Rn. 11. 804 Borowsky, in: Meyer: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 12 f., 29 f. A.A. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 60, wo es a.E. heißt: „Vielmehr richtet sich die Rechtfertigung auch bei den von Art. 52 Abs. 3 [EU-GrCh] erfassten Grundrechten nach Art. 52 Abs. 1 [EU-GrCh]; zusätzlich sind aber alle strengeren Anforderungen der EMRK zu beachten“. 805 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17; Dittert, Europarecht, S. 283; Frenz, Europarecht, Rn. 977. 806 Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 51 EU-GrCharta Rn. 36. 807 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. <?page no="256"?> ein i.S.d. entsprechenden EMRK-Vorschrift qualifizierter Gesetzesvorbehalt 808 wird ( 3. Teil 3.5.1). Die sog. Harmonieklausel 809 des Art. 52 Abs. 4 EU-GrCh bestimmt, dass soweit in der EU-GrCh Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sie im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt werden. Diese Regelung darf freilich nicht dahingehend missverstanden werden, dass der EuGH eine nationalverfassungskonforme Auslegung der Unionsgrundrechte zu betreiben hätte ( 3. Teil 3.1.1), sondern schreibt vielmehr die vom EuGH angewandte Praxis einer wertenden Rechtsvergleichung fest 810 - und folgt nach der Erläuterung 811 hierzu gerade nicht dem restriktiven Ansatz eines kleinsten gemeinsamen Nenners ( 3. Teil 3.1.2). Darüber hinaus ist gem. Art. 52 Abs. 6 EU-GrCh auch allen sonstigen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten 812 in vollem Umfang Rechnung zu tragen - allerdings nur so, wie es in der EU-GrCh bestimmt ist (z.B. in deren Art. 16 bezüglich der unternehmerischen Freiheit 3. Teil 3.3.2.1), weshalb diese Vorschrift rein deklaratorischen Charakter hat. 813 Dass keine Bestimmung der in diesem Geflecht des parallelen Nebeneinanders von nationalen, europäischen und internationalen Grundrechten stehenden EU-GrCh 814 als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen ist, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das EU-Recht und das Völkerrecht sowie 808 Zu diesem vgl. in Bezug auf das GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 152 m.w.N. 809 Frenz, Europarecht, Rn. 988, dem zufolge (a.a.O., Rn. 990) Art. 52 Abs. 2 und 3 EU-GrCh gegenüber Art. 52 Abs. 4 EU-GrCh spezieller seien. 810 Borowsky, in: Meyer: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 44a. 811 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. 812 D.h. „Normen privater Herkunft, denen ein quasigesetzlicher Charakter zukommt“ - wie etwa Tarifverträgen, siehe Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 79. 813 Borowsky, in: Meyer: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 46. Zum Grundrechtsschutz im Mehrebenensystem siehe auch Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 5 ff. m.w.N. 814 Borowsky, in: Meyer: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 7. <?page no="257"?> durch die internationalen Übereinkünfte, bei denen die EU oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind (darunter insbesondere die EMRK) sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden, ordnet Art. 53 EU-GrCh an. Wenngleich gemäß den Erläuterungen 815 zu dieser Bestimmung deren Zweck in der Aufrechterhaltung des durch das EU-Recht, das Recht der Mitgliedstaaten und das Völkerrecht in seinem jeweiligen Anwendungsbereich gegenwärtig gewährleisteten Schutzniveaus besteht, so darf nach dem Melloni-Urteil des EuGH (ECLI: EU: C: 2013: 107) durch die Anwendung nationaler Grundrechte doch weder das Schutzniveau der EU-GrCh noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des EU-Rechts beeinträchtigt werden ( 2. Teil 1.4, 2.1, 5.2 und 3. Teil 3.2.2). Folglich hat der EuGH in dieser Entscheidung eine dahingehende Auslegung von Art. 53 EU-GrCh, wonach dieser es einem Mitgliedstaat generell gestatte, den in seiner Verfassung garantierten Schutzstandard ür die Grundrechte anzuwenden, wenn er höher als der sich aus der EU-GrCh ergebende ist, und ihn ggf. der Anwendung unionsrechtlicher Vorschriften entgegenzuhalten, ausdrücklich zurückgewiesen ( 2. Teil 2.2.2). Vielmehr stellt Art. 53 EU-GrCh insoweit eine Meistbegünstigungsklausel dar, als im Überschneidungsfall von mehreren Grundrechtsquellen die Unionsgrundrechte ein Mindestschutzniveau gegenüber dem sich aus dem neben ihnen anwendbaren Recht aus anderer Quelle ergebenden Schutz gewährleisten. 816 Für die Anwendung höherer nationaler Grundrechtsstandards bleibt dagegen allein insoweit Raum, als das EU-Recht den Mitgliedstaaten einen entsprechenden Beurteilungs- oder Ermessenspielraum eröffnet ( 3. Teil 1.5.1.1). 817 Wie sich aus ihrer Präambel (a.E.) sowie u.a. aus ihrem Art. 51 Abs. 1 S. 2 und Art. 52 Abs. 5 S. 1 ergibt, beinhaltet die EU-GrCh schließlich nicht nur Unionsgrundrechte, sondern ebenfalls „Grundsätze“ (Prinzipien 818 ). Im Gegensatz zu Ersteren bedürfen Letztere nach Art. 52 Abs. 5 S. 1 EU-GrCh noch der Umsetzung durch Akte der Gesetzgebung und der Aus ührung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durch ührung des EU-Rechts in Ausübung ihrer 815 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. 816 Borowsky, in: Meyer: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 14. 817 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 10; Streinz, Europarecht, Rn. 766. 818 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 52. Z.T. wird insofern auch von „Programmsätze[n]“ gesprochen, so Dittert, Europarecht, S. 283 a.E. Zu diesen unter der WRV siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 4 und zu den Staatsstrukturprinzipien des GG siehe ders., Staatsorganisationsrecht, S. 7 ff., jeweils m.w.N. <?page no="258"?> jeweiligen Zuständigkeiten ( 2. Teil 4.1). Nur bei der Auslegung dieser Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit können die Chartagrundsätze nach Art. 52 Abs. 5 S. 2 EU-GrCh vor Gericht herangezogen werden. Als zwar verbindliche, aber rein objektiv-rechtliche Berücksichtigungspflichten bei der Auslegung und Anwendung insbesondere von Sekundärrecht begründen die Grundsätze der EU-GrCh mithin keine subjektiven Rechte (z.B. i.S.v. § 42 Abs. 2 VwGO), 819 den Erläuterungen 820 zufolge namentlich keine direkten Ansprüche auf den Erlass positiver Maßnahmen durch die EU-Organe oder die Behörden der Mitgliedstaaten. Ob es sich bei der jeweils in Rede stehenden Bestimmung der EU-GrCh um ein Unionsgrundrecht oder lediglich einen Grundsatz handelt, ist in dieser nicht ausdrücklich geregelt, sondern im Wege der Auslegung zu ermitteln ( 2. Teil 1.4). 821 Nach den Erläuterungen 822 gehören zu den in der EU- GrCh anerkannten Grundsätzen beispielsweise deren Art. 25, 26 und 37, wobei in einigen Fällen ein Charta-Artikel sowohl Elemente eines Rechts als auch eines Grundsatzes enthalten kann (z.B. Art. 23, 33 und 34 EU-GrCh). Der Sache nach betrifft die Vorfrage 823 nach der Anwendbarkeit der EU-GrCh deren Verpflichtungsadressaten 824 - und ließe sich damit, ebenso wie bei den Grundrechten des deutschen GG der Fall, 825 auch erst auf Ebene des Eingriffs prüfen ( 3. Teil 3.4). Entsprechend ihrer vorgenannten Funktion, die Hoheitsgewalt der EU zum Schutz der ihr Unterworfenen zu begrenzen ( 3. Teil 3.1.1), gilt die EU- GrCh nach ihrem Art. 51 Abs. 1 S. 1 vorrangig ür die Organe, Einrich- 819 Dittert, Europarecht, S. 284; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 2, 18; Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 248 ff. m.w.N. Zu Art. 27 EU-GrCh vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 2014: 2, Rn. 47 f. 820 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. 821 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 19. Dort wird a.E. die Auslegungsregel i.S.v. „in dubio pro Grundrechtscharakter“ aufgestellt. 822 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. 823 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 677. 824 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 59. 825 Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 98 m.w.N. <?page no="259"?> tungen und sonstigen Stellen der Union. 826 Der in dieser Vorschrift in Bezug auf die EU zudem noch enthaltene Zusatz „unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips“ bedeutet im Hinblick auf den Unionsgrundrechtsschutz gegenüber der europäischen Hoheitsgewalt keinerlei Einschränkung; vielmehr besteht seine rechtliche Relevanz darin, dass die EU-GrCh keinen Kompetenzzuwachs ür die EU begründet, vgl. auch Art. 51 Abs. 2 EU- GrCh und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV ( 3. Teil 3.3.2.2). 827 Nach den Erläuterungen 828 zu Art. 51 EU-GrCh ist der Begriff „Organe“ in den Verträgen festgelegt (nämlich in Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV 2. Teil 3). Der Ausdruck „Einrichtungen und sonstigen Stellen“ wird in den Verträgen, d.h. im EUV und AEUV, üblicherweise als Bezeichnung ür alle durch die Verträge oder durch sekundäre Rechtsakte geschaffenen Einrichtungen verwendet (z.B. in Art. 15 und Art. 16 AEUV). Diese Bindung an die EU-GrCh ist lückenlos, da sie sämtliche Verhaltensweisen (Normsetzung, -vollzug und Rechtsprechung) der gesamten von der EU ausgeübten Hoheitsgewalt unabhängig vom jeweiligen Rechtscharakter (Real- oder Rechtsakt hoheitlicher, völkerrechtlicher oder privater Natur) erfasst. 829 In den Worten des EuGH (ECLI: EU: C: 2013: 105): Es sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom EU-Recht erfasst würden, ohne dass die Unionsgrundrechte anwendbar wären. So darf namentlich das Sekundärrecht nicht gegen diese verstoßen und ist im Einklang mit ihnen auszulegen ( 2. Teil 1 und 3. Teil 3.1.4). 830 Auch in der EU existieren mithin keine (unions-)grundrechtsfreien Räume. 831 826 Vgl. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 12. 827 Borowsky, in: Meyer: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 22. 828 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. 829 Vgl. Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 12; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 59; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 14 f. 830 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 678. Das Gebot der unionsgrundrechtskonformen Auslegung erstreckt sich ferner auf mitgliedstaatliche Richtlinienumsetzungsakte, siehe Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 35. 831 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 14. Entsprechendes gilt unter dem GG, siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 99 m.w.N. <?page no="260"?> Die EU-Organe sind gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh namentlich beim Erlass von Verordnungen, Richtlinien und Beschlüssen sowie von Urteilen an die EU-GrCh gebunden, fernerhin ebenfalls beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge. Für die Mitgliedstaaten 832 gilt die EU-GrCh nach ihrem Art. 51 Abs. 1 S. 1 ebenfalls, allerdings ausschließlich bei der „Durch ührung des Rechts der Union“ - nicht dagegen, soweit sie vom EU-Recht unabhängige nationale Rechtsvorschriften erlassen oder durch ühren. 833 Den Erläuterungen 834 zu Art. 51 EU-GrCh zufolge bedeutet Durchführung des - gültigen und anwendbaren 835 - Rechts der Union, dass die Mitgliedstaaten, d.h. sowohl die zentralen Behörden als auch die regionalen oder lokalen Stellen sowie die öffentlichen Einrichtungen, wenn sie das EU-Recht anwenden, in dessen Anwendungsbereich handeln. Der EuGH (ECLI: EU: C: 2014: 126) verlangt insoweit einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann. Nach dieser Rechtsprechung ist u.a. zu prüfen, ob mit der betreffenden nationalen Regelung eine Durch ührung einer Be- 832 Nach der häufig sog. Opt Out-Klausel des Art. 1 Abs. 1 des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich (ABl. EU C 306 vom 17.12.2007 S. 156; siehe auch die Erklärungen Nr. 61 und 62 der Republik Polen in ABl. EU C 326 vom 26.10.2012, S. 360) bewirkt die EU-GrCh keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der EU oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen. Dazu: EuGH, ECLI: EU: C: 2011: 865. Zur Tschechischen Republik siehe Erklärung Nr. 53 zur Schlussakte der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon, ABl. EU C 306 vom 17.12.2007 S. 267. 833 Vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 2014: 126, Rn. 20 ff. 834 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. 835 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 27, 62, 86. <?page no="261"?> stimmung des EU-Rechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das EU-Recht fallenden Ziele verfolgt werden (selbst wenn sie das EU-Recht mittelbar beeinflussen kann) sowie ferner, ob es eine Regelung des EU- Rechts gibt, die ür diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann. M.a.W.: Die Unionsgrundrechte sind i.d.S. akzessorisch zum sonstigen EU- Recht, als sie ür die Mitgliedstaaten nur bei dessen Anwendung ihrerseits anwendbar sind. 836 Zu bejahen ist dies v.a. dann, wenn die Parlamente der Mitgliedstaaten eine Richtlinienbestimmung in nationales Recht umsetzen ( 2. Teil 1.3.2) Ob diese zwingend sein muss (so das BVerfG, BVerfGE 118, 79) oder ob es ausreicht, dass sie den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belässt (so der EuGH, ECLI: EU: C: 2011: 865), ist umstritten. Konsequenz der letztgenannten Sichtweise ist eine Doppelprüfung der mitgliedstaatlichen Umsetzungsmaßnahme sowohl an den Unionsals auch den jeweiligen nationalen Grundrechten (vgl. Art. 53 EU-GrCh), deren Anwendung nach der EuGH-Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 2013: 105) aber weder das Schutzniveau der EU-GrCh noch den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des EU-Rechts beeinträchtigen darf ( 3. Teil 3.1.6). Letzteres wiederum ist dem EuGH (ECLI: EU: C: 2013: 10) zufolge dann der Fall, wenn ein Mitgliedstaat den Vollzug von Sekundärrecht unter Hinweis auf entgegenstehende nationale Grundrechte verweigert; die mitgliedstaatlichen Behörden als gleichsam verlängerter Arm der EU unmittelbar anwendbares EU-Recht (z.B. Verordnungen) vollziehen, sog. agency situation beim unmittelbaren indirekten Vollzug des EU- Rechts ( 2. Teil 5.2); die Mitgliedstaaten in die Grundfreiheiten eingreifen. 837 In Mitgliedstaat M ist der Betrieb von Glücksspielautomaten ohne vorab erteilte behördliche Erlaubnis verboten. Dies stellt eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs i.S.v. Art. 56 AEUV dar, zu deren Rechtfertigung sich M auf den Verbraucherschutz, die Betrugsvorbeugung und die Vermeidung von Anreizen ür die Bürger zu übermäßigen 836 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 678, allerdings in Bezug auf die EU-Organe. 837 Zum Ganzen: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 10; ders., DVP 2014, S. 416 (417), jeweils m.w.N. <?page no="262"?> Ausgaben ür das Spielen als jeweils zwingende Gründe des Allgemeininteresses beruft. Nimmt aber ein Mitgliedstaat im EU-Recht vorgesehene Ausnahmen in Anspruch, um die Beschränkung einer Grundfreiheit zu rechtfertigen, so muss dies nach dem Pfleger-Urteil des EuGH (ECLI: EU: C: 2014: 281) als „Durch ührung des Rechts der Union“ i.S.v. Art. 51 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh angesehen werden. Folge danach: Selbst wenn sich eine nationale Regelung als dazu geeignet erweist, die Ausübung einer Grundfreiheit zu beschränken, können die im EU-Recht vorgesehenen Ausnahmen ür die betreffende Regelung nur insoweit als Rechtfertigung dieser Beschränkung gelten, als den Unionsgrundrechten Genüge getan wird ( 3. Teil 1.1.6). In Bezug auf die Åkerberg Fransson-Entscheidung des EuGH (ECLI: EU: C: 2013: 105), in der dieser eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte ebenfalls in einer Situation bejaht hatte, in der das Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das EU-Recht bestimmt wurde, hat das BVerfG (BVerfGE 133, 277) in seinem Urteil zum Antiterrordateigesetz ausge ührt, dass diese nicht in einer Weise verstanden und angewendet werden darf, nach der ür eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der EU-GrCh niedergelegten Unionsgrundrechte jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des EU-Rechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche. Denn bei Unterlegung einer derartigen Lesart wäre die Åkerberg Fransson- Entscheidung offensichtlich als Ultra-vires-Akt zu beurteilen bzw. geährde den Schutz und die Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise, dass dies die Identität der durch das GG errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG 1. Teil 2 und 2. Teil 2.2.1). Nachfolgend hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2014: 2055) denn auch judiziert, dass die Grundrechte der EU im Verhältnis zu einer nationalen Regelung unanwendbar sind, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften im betreffenden Sachbereich keine bestimmten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den jeweils fraglichen Sachverhalt schaffen. Allein der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in einen Bereich ällt, in dem die EU über Zuständigkeiten ver ügt ( 2. Teil 4.1), kann diese Maßnahme dem EuGH zufolge nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts bringen und somit zur Anwendbarkeit der EU- GrCh ühren. Der finnische Staatsangehörige F wohnt in Finnland, wo er eine Altersrente bezieht. Die auf diese von der finnischen Steuerverwaltung erhobene Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte hält F ür rechtswidrig, weil es sich dabei um eine nach Art. 21 Abs. 1 EU-GrCh verbotene Diskriminierung <?page no="263"?> wegen des Alters handele. Ist diese Auffassung zutreffend, wenn die vorgenannte finnische Regelung nicht in den Geltungsbereich irgendeiner Norm des Unionsrechts ällt? Nein. Denn ür die Mitgliedstaaten wie vorliegend Finnland gilt Art. 21 Abs. 1 EU-GrCh nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh ausschließlich bei der Durch ührung des Rechts der EU. Mit der hier in Rede stehenden Vorschrift des finnischen Steuerrechts wird aber keine Vorschrift des EU- Rechts durchge ührt; insbesondere ist keine Richtlinie oder Verordnung der EU auf die Situation im Ausgangsrechtsstreit anwendbar. Somit kann Art. 21 Abs. 1 EU-GrCh im Rahmen des hiesigen Rechtsstreits von F nicht mit Erfolg geltend gemacht werden (zum Ganzen: EuGH, ECLI: EU: C: 2016: 391). Ob die Unionsgrundrechte auch im Verhältnis Privater untereinander Anwendung finden, was einzelne Bestimmungen durchaus nahelegen (z.B. Art. 24 Abs. 3 EU-GrCh), ist umstritten. 838 Gegen eine derartige Horizontalwirkung nach Vorbild des Art. 157 Abs. 1 AEUV wird im Schrifttum 839 argumentiert, dass Art. 51 Abs. 1 EU-GrCh ausdrücklich allein die EU und unter den dort genannten Voraussetzungen ebenfalls die Mitgliedstaaten als Verpflichtete der Unionsgrundrechte benennt ( 3. Teil 3.2.1 und 3.2.2), nicht dagegen Private. Zudem könnten diese den Gesetzesvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh nicht er üllen ( 3. Teil 3.5.1). Letztlich bestünde auch überhaupt keine Notwendigkeit ür eine unmittelbare Drittwirkung der Unionsgrundrechte, da diese Ausdruck der europäischen Wertordnung seien (siehe Abs. 2 der Präambel der EU-GrCh und Art. 2 EUV) bzw. aufgrund einer entsprechenden Schutzpflicht der EU bzw. der Mitgliedstaaten mittelbare Drittwirkung bei der Auslegung und Anwendung des nationalen Zivilrechts entfalteten, an das die Privaten gebunden sind ( 3. Teil 1.4.1.3). 840 Dies gelte selbst im Hinblick auf solche Unions- 838 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 688; Dittert, Europarecht, S. 288. Bei diesem und bei Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 17 Nachweise zur diesbezüglichen EuGH- Rechtsprechung. 839 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 81; Streinz, Europarecht, Rn. 775. 840 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 688; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 16 mit dem einschränkenden Hinweis „soweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist“. <?page no="264"?> grundrechte wie das nach Art. 32 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh, welches ohne Einschränkungsmöglichkeit Kinderarbeit verbietet. 841 Demgegenüber hat der EuGH seinem Egenberger-Urteil (ECLI: EU: C: 2018: 257) speziell in Bezug auf Art. 21 Abs. 1 EU-GrCh erkannt, dass diese Vorschrift sich in ihrer Bindungswirkung grundsätzlich nicht von den verschiedenen Bestimmungen des AEUV, die verschiedene Formen der Diskriminierung auch dann verbieten, wenn sie aus Verträgen zwischen Privatpersonen resultieren ( 3. Teil 1.4.1.3), unterscheide. Zudem entfalte Art. 21 Abs. 1 EU-GrCh aus sich heraus Wirkung und müsse nicht erst durch Bestimmungen des EU-Rechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann ( 3. Teil 3.1.5). Folglich sei ein mitgliedstaatliches Gericht auch in einem Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus Art. 21 Abs. 1 EU-GrCh erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und ür die volle Wirksamkeit dieser Bestimmung zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt ( 2. Teil 2.1). Abweichendes ergebe sich auch nicht etwa daraus, dass sich ein Gericht in einem Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen dazu veranlasst sehen kann, widerstreitende Unionsgrundrechte abzuwägen, und sich zu vergewissern hat, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingehalten wird ( 3. Teil 1.5.2.1). Der Schutzbereich beschreibt, welche Personen ( 3. Teil 3.3.1) und Güter das jeweilige Unionsgrundrecht wie schützt ( 3. Teil 3.3.2). 842 841 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 81; Streinz, Europarecht, Rn. 775. A.A. Haag, in: Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur, Die Europäische Union, § 2 Rn. 20, dem zufolge eine unmittelbare Drittwirkung bestimmter Unionsgrundrechte durchaus möglich sei ( 3. Teil 3.1.5). Ähnlich Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 4 Rn. 179. 842 Vgl. Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 20; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 87; Jochum, Europarecht, Rn. 166. Zum hier nicht näher thematisierten räumlichen und zeitlichen Schutzbereich der Unionsgrundrechte <?page no="265"?> Wie sich aus der Präambel der EU-GrCh (z.B. deren Abs. 2: „Menschen“) und deren Zielsetzung, dem der Hoheitsgewalt der EU Unterworfenen bestimmte Mindest(grund-)rechte gegenüber dieser zu verschaffen ( 3. Teil 3.1.1), ergibt, sind grundsätzlich alle natürlichen Personen - unabhängig von ihrer etwaigen (Dritt-)Staatsangehörigkeit bzw. Staatenlosigkeit - Träger der Unionsgrundrechte, sog. Menschenbzw. Jedermannsrechte. 843 Nur insoweit, als einzelne Bestimmungen der EU-GrCh das in ihnen normierte Unions(bürger)grundrecht ausdrücklich „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger[n]“ i.S.v. Art. 9 Abs. 1 S. 2 EUV und Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV ( 3. Teil 2; so z.B. Art. 39 Abs. 1 EU-GrCh) oder „natürliche[n] […] Person[en] mit Wohnsitz […] in einem Mitgliedstaat“ (so z.B. Art. 44 EU-GrCh) vorbehält, ist die Grundrechtsberechtigung ausnahmsweise auf den derart gekennzeichneten Personenkreis begrenzt. 844 Sofern einige Unionsgrundrechte darüber hinaus Vorgaben bezüglich der nach ihnen jeweils geschützten Personengruppe machen (z.B. Art. 24 Abs. 1 EU- GrCh: „Kinder“), so handelt es sich hierbei richtigerweise um eine Regelung des jeweiligen Schutzguts, d.h. des sachlichen - und nicht des persönlichen - Schutzbereichs ( 3. Teil 3.3.2.1). 845 Was juristische Personen und Personenvereinigungen anbelangt, so wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, dass aus deren ausdrücklicher Erwähnung in einzelnen Bestimmungen der EU-GrCh (z.B. deren Art. 42) keineswegs der Umkehrschluss zu ziehen sei, dass sie im Übrigen nicht Berechtigte der Unionsgrundrechte sind. 846 Vielmehr wird diese Frage auch außerhalb derartiger Vorschriften und ebenso wie nach Art. 19 Abs. 3 GG 847 dann bejaht, wenn das jeweils in Rede stehende Unionsgrundrecht seinem Wesen nach ebenfalls auf juristische Personen und Personenvereinigungen siehe Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 82 (bzgl. der Grundfreiheiten 3. Teil 1.3.3 f.). 843 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 55; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 44; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 11. Vgl. auch in Bezug auf das GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 22 ff. m.w.N. 844 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 47; Streinz, Europarecht, Rn. 777. 845 Vgl. Wienbracke, EuR 2012, S. 483 (488) m.w.N. zu Art. 45 AEUV ( 3. Teil 1.3.2.1). 846 Streinz, Europarecht, Rn. 777. 847 Ausführlich dazu siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 35 ff. m.w.N. <?page no="266"?> anwendbar ist (so z.B. das Eigentumsgrundrecht des Art. 17 EU-GrCh). 848 Dies ist nicht der Fall bei höchstpersönlichen Gütern wie dem Unionsgrundrecht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 7 EU-GrCh. 849 Nach Art. 44a der Verordnung Nr. 1290/ 2005/ EG 850 i.V.m. der Verordnung Nr. 259/ 2008/ EG 851 sind die Mitgliedstaaten jedes Jahr zur nachträglichen Veröffentlichung u.a. der Namen der Emp änger von Mitteln aus dem Europäischen Garantiefonds ür die Landwirtschaft (EGFL) und dem Europäischen Landwirtschaftsfonds ür die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) verpflichtet. Die Markus und Michael Meyer GbR, die Mittel aus dem EGFL empfangen hat, wendet sich gegen die Veröffentlichung ihres Namens nach den o.g. Verordnungen. Zur Begründung ührt sie an, dass diese Bestimmungen des Sekundärrechts wegen Verstoßes gegen den primärrechtlichen Art. 8 EU-GrCh ungültig seien. Ist die GbR überhaupt Trägerin dieses Unionsgrundrechts auf Schutz personenbezogener Daten? Ja. Zwar steht dem EuGH zufolge (ECLI: EU: C: 2010: 662) das Unionsgrundrecht des Art. 8 EU-GrCh in engem Zusammenhang mit dem in Art. 7 EU-GrCh verankerten Recht auf Achtung des Privatlebens, weshalb dieses sich hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten nur auf solche Informationen erstreckt, die eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person betreffen. Folglich könnten sich juristische Personen lediglich insoweit mit Erfolg auf Art. 7 und 8 EU-GrCh berufen, als der Name der juristischen Person eine oder mehrere natürliche Personen bestimmt. Dies ist hinsichtlich der Markus und Michael Meyer GbR aber gerade der Fall. Denn der Name dieser Gesellschaft bestimmt unmittelbar natürliche Personen, die deren Gesellschafter sind. Als ihrerseits Verpflichtete der Unionsgrundrechte nicht zugleich deren Berechtigte seien können freilich die EU sowie die Mitgliedstaaten, auch sofern diese sich nicht öffentlich-rechtlicher, sondern privatrechtlicher Handlungsund/ oder Organisationsformen - wie von ihnen beherrschten Privatrechtssubjekten - bedienen sollten, sog. Konfusionsargument (str. 852 ). 853 848 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 56; Hobe, Europarecht, Rn. 655. 849 Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 18. 850 ABl. EG L 209 vom 11.8.2005, S. 1. 851 ABl. EG L 76 vom 19.3.2008, S. 28. 852 A.A. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 59 zu öffentlichen Unternehmen. <?page no="267"?> Im Rahmen des sachlichen Schutzbereichs ist zunächst der vom jeweiligen Unionsgrundrecht geschützte Lebensbereich zu bestimmen. Aufgrund der Höherrangigkeit des gesamten EU-Rechts vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten dürfen die in der EU-GrCh zur Kennzeichnung des sachlichen Schutzbereichs eines Unionsgrundrechts verwendeten Begriffe keinesfalls nach Maßgabe des jeweiligen mitgliedstaatlichen Verständnisses ausgelegt werden, sondern hat dies vielmehr rein unionsrechtsautonom zu erfolgen ( 2. Teil 1.4). 854 Abweichendes gilt auch nicht etwa hinsichtlich derjenigen Grundrechte wie Art. 16 EU-GrCh, wonach bestimmte Freiheiten u.a. nach „den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt“ wird, betrifft dies doch nicht etwa die Ebene des Schutzbereichs ( 3. Teil 3.5.1). 855 Spezielle Vorgaben ür die Auslegung der Unionsgrundrechte enthält ausweislich seiner amtlichen Überschrift Art. 52 EU-GrCh, u.a. in seinem Absatz 7 (zu den übrigen Auslegungsregeln des Art. 52 EU-GrCh 3. Teil 3.1.6). Danach sind die Erläuterungen 856 , die als Anleitung ür die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen, vgl. auch Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV. Gleichwohl beanspruchen diese Erläuterungen keine Rechts- 853 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 57; Streinz, Europarecht, Rn. 777. Dort jeweils auch zu den im Rahmen von Art. 19 Abs. 3 GG anerkannten Rückausnahmen in Bezug auf Universitäten, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten und Religionsgemeinschaften mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts sowie ferner die Justizgrundrechte (zu Letzteren vgl. EuGH, ECLI: EU: C: 1992: 63, Rn. 44 ff.). Dazu in Bezug auf das GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 47 m.w.N. 854 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 53, 87. Dittert, Europarecht, S. 289 zufolge seien die Unionsgrundrechte extensiv zu interpretieren. Ebenso in Bezug auf das GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 63 m.w.N. 855 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 16 Rn. 18. 856 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. <?page no="268"?> verbindlichkeit, 857 heißt es doch gleich zu deren Anfang ausdrücklich, dass sie als solche keinen rechtlichen Status haben - aber immerhin eine nützliche Interpretationshilfe darstellen, die dazu dient, die Bestimmungen der EU-GrCh zu verdeutlichen. Gem. Art. 17 Abs. 2 EU-GrCh wird das „geistige Eigentum“ geschützt. Nach den Erläuterungen 858 hierzu umfasst dieser Begriff neben dem literarischen und dem künstlerischen Eigentum u.a. das Patent- und Markenrecht sowie die verwandten Schutzrechte. Begrenzt wird der sachliche Schutzbereich 859 der Unionsgrundrechte durch das in Art. 54 EU-GrCh enthaltene Verbot des Missbrauchs der (Unionsgrund-)Rechte als Ausdruck der wehrhaften (streitbaren) Demokratie 860 , welches nach den Erläuterungen 861 hierzu Art. 17 EMRK entspricht. Dem ausdrücklichen Wortlaut der erstgenannten Vorschrift zufolge ist keine Bestimmung der EU-GrCh so auszulegen, als begründe sie das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der EU-GrCh anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen. 862 Liegen diese Voraussetzungen einmal vor - was wegen der gebotenen restriktiven Auslegung von Art. 54 EU-GrCh als Ausnahmevorschrift ( 2. Teil 1.4) nur äußerst selten der Fall sein dürfte -, so ührt dies, abweichend von Art. 18 GG, nicht etwa zu einer Grundrechtsverwirkung, sondern lediglich zur Versagung des Unionsgrundrechtsschutzes im konkreten Fall. 863 857 Borowsky, in: Meyer: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 47b. 858 ABl. EU C 303 vom 14.12.2007, S. 17. 859 Nach a.A. handele es sich bei Art. 54 EU-GrCh um eine durch Gesetz zu konkretisierende Rechtfertigungsmöglichkeit, siehe die Nachweise bei Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 54 Rn. 3. 860 Streinz/ Michl, EUV/ AEUV, Art. 54 EU-Grundrechtecharta Rn. 2. 861 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. 862 Die Schranken-Schranke des Art. 54 EU-GrCh a.E. („oder sie stärker einzuschränken, als dies in der [EU-Gr]Charta vorgesehen ist“) richtet sich an die Unionsgrundrechtsverpflichteten ( 3. Teil 3.2) und verbietet diesen den Missbrauch von unionsgrundrechtlichen Einschränkungsmöglichkeiten ( 3. Teil 3.5.1), siehe Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 95. 863 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 95. <?page no="269"?> Ist das Schutzgut des jeweils in Rede stehenden Unionsgrundrechts definiert und unter ällt der konkrete Sachverhalt diesem ( 3. Teil 3.3.2.1), so stellt sich - ebenso bei den Grundrechten des deutschen GG der Fall 864 - die Frage, welche Wirkungen (Rechtsfolgen) sich hieraus ergeben. 865 Insoweit anerkannt sind neben ihrer verfahrensrechtlichen Dimension (vgl. namentlich den Titel VI der EU-GrCh) 866 folgende Funktionen der Unionsgrundrechte: Diese gewähren in ihrer Eigenschaft als subjektive 867 Rechte ( 3. Teil 3.1.5) dem jeweiligen Berechtigten ( 3. Teil 3.3.1) im Verhältnis zu den hiernach Verpflichteten ( 3. Teil 3.2) zuvorderst ein Abwehrrecht (sog. status negativus), vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 2 EU-GrCh: „achten […] die Rechte“, so v.a. die in der EU-GrCh unter deren „Titel II. Freiheiten“ verorteten Unionsgrundrechte der dortigen Art. 6 bis 19. 868 Insoweit sind die Unionsgrundrechtsadressaten verpflichtet, ungerechtfertigte Eingriffe in den Schutzbereich des einschlägigen (liberalen Freiheits-)Unionsgrundrechts zu unterlassen bzw. zu beseitigen oder andernfalls dem nachteilig betroffenen Unionsgrundrechtsträger Schadensersatz zu leisten. 869 Im Beispielsfall der Markus und Michel Meyer GbR ( 3. Teil 3.3.1) hat diese vor dem zuständigen deutschen Gericht unter Berufung auf ihr Unionsgrundrecht aus Art. 8 EU-GrCh auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten Klage erhoben mit dem Antrag, das betreffende deutsche Bundesland zu verpflichten, die Veröffentlichung ihres Namens zu unterlassen. mitunter auch Leistungsrechte, m.a.W. also Ansprüche des einzelnen Trägers eines Unionsgrundrechts auf positives Tätigwerden (sog. status 864 Dazu siehe Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 67 ff. m.w.N. 865 Vgl. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 17 f. 866 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 47. 867 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 41. Dort (Rn. 49) auch zum parallel hierzu bestehenden und insoweit nicht „unmittelbar einklagbaren“ objektiv-rechtlichen Gehalt der Unionsgrundrechte als Elemente einer objektiven EU-Rechtsordnung. 868 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 675; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 4. 869 Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 20; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 41, 85. <?page no="270"?> positivus), 870 vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh: „ ördern […] deren Anwendung“. So ergibt sich aus den Gleichheitsgrundrechten der EU- GrCh, d.h. ihren Art. 20 ff. im III. Titel, ein Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe an bestehenden Einrichtungen bzw. Vergünstigungen, darüber hinaus aber etwa auch aus Art. 29 EU-GrCh. 871 Im Gegensatz zu diesen sog. derivativen Teilhaberechten lassen sich originäre Leistungsrechte, d.h. auf erstmalige Schaffung einer bislang noch nicht existenten Einrichtung etc., aus den Unionsgrundrechten grundsätzlich nicht herleiten, wobei als Ausnahme hiervon im Schrifttum v.a. Art. 47 Abs. 3 EU-GrCh ange ührt wird. 872 Besteht der Inhalt der vom Unionsgrundrechtsträger begehrten Leistung in dessen Schutz etwa vor den Naturgewalten oder ungerechtfertigten Eingriffen Dritter (z.B. dem privaten Arbeitgeber, vgl. Art. 30 EU-GrCh oder eines Drittstaats, vgl. Art. 46 EU-GrCh), 873 so wird eine solche Schutzpflicht - sofern sie nicht ausnahmsweise ausdrücklich in der EU-GrCh angeordnet ist (so z.B. in deren Art. 1 S. 2 in Bezug auf die Menschenwürde) - mitunter zwar mit der objektiv-rechtlichen Funktion der Unionsgrundrechte begründet; 874 doch dürfte mit dieser Pflicht der Adressaten der Unionsgrundrechte als deren Garanten richtigerweise ein Anspruch, d.h. ein einklagbares (subjektives) Recht des betreffenden Unionsgrundrechtsträgers, korrespondieren. 875 Im Hinblick auf die Er üllung dieser freilich nur im Rahmen der Kompetenz ( 2. Teil 4.1 und 3. Teil 3.2.1) des jeweiligen Unionsgrundrechtsadressaten bestehenden Verpflichtung 876 ver ügt dieser allerdings über einen weiten 870 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 5. 871 Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 30; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 42 ff.; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 17. 872 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 46; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 51 EU-GrCharta Rn. 30 f. 873 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 5; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 51 EU-GrCharta Rn. 26. 874 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 676. Vgl. auch Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 45. 875 Vgl. Jochum, Europarecht, Rn. 161; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 51 EU-GrCharta Rn. 25; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 18. Vgl. in Bezug auf das GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 143 m.w.N. 876 Vgl. die Erläuterungen (ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17) zu Art. 51 EU- GrCh: „Die Grundrechte, wie sie in der Union garantiert werden, werden nur im Rahmen dieser von den Verträgen bestimmten Zuständigkeiten wirksam. <?page no="271"?> Gestaltungsspielraum, so dass der Einzelne i.d.R. nicht eine bestimmte Maßnahme mit Erfolg verlangen kann. 877 Betrifft dasselbe Verhalten eines Unionsgrundrechtsträgers den sachlichen Schutzbereich mehrerer Unionsgrundrechte, so sind diese grundsätzlich nebeneinander anzuwenden, sog. Idealkonkurrenz. Abweichendes gilt ausnahmsweise dann, wenn sich eine unionsgrundrechtliche Gewährleistung (z.B. das Verbot von Zwangsarbeit nach Art. 5 Abs. 2 EU-GrCh) im Verhältnis zu einer anderen (z.B. der negativen Berufsfreiheit des Art. 15 EU-GrCh) als spezieller erweist. In einem solchen Fall tritt Letztere hinter der Erstgenannten nach dem lex specialis-Grundsatz zurück. 878 Der Begriff „Eingriff“ beschreibt die - rechtfertigungsbedürftige ( 3. Teil 3.5) - Verkürzung des Schutzbereichs ( 3. Teil 3.3) eines Unionsgrundrechts durch einen hiernach Verpflichteten ( 3. Teil 3.2). 879 Da Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh seinem Wortlaut nach („Jede Einschränkung“) keine bestimmten Anforderungen an die Form des Eingriffs in ein Unionsgrundrecht stellt, liegt dieser nicht nur dann vor, wenn die negative Schutzbereichsantastung Folglich kann sich für die Organe der Union nur nach Maßgabe dieser Befugnisse eine Verpflichtung nach [Art. 51] Absatz 1 Satz 2 [EU-GrCh] zur Förderung der in der [EU-Gr]Charta festgelegten Grundsätze ergeben“. 877 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 45; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 51 EU-GrCharta Rn. 26. 878 Zum Ganzen: Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 94; Frenz, Europarecht, Rn. 998 ff. Vgl. in Bezug auf das GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 92 ff. m.w.N. 879 Vgl. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 4 Rn. 181; Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 20; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 98; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 701; Jochum, Europarecht, Rn. 167. <?page no="272"?> final, unmittelbar, rechtsförmig und mit Zwang erfolgt (z.B. in Gestalt eines Ge-/ Verbots 880 ), sondern auch dann, wenn sich die betreffende Maßnahme des Unionsgrundrechtsverpflichteten zwar lediglich mittelbar-faktisch auf das jeweilige Unionsgrundrecht nachteilig auswirkt, sie aber eine hinreichend direkte und bedeutsame Auswirkung auf dessen freie Ausübung hat. 881 Zu einem Sachverhalt wie dem der Markus und Michael Meyer GbR ( 3. Teil 3.3.1) hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2010: 662) erkannt, dass die Veröffentlichung der Namen der Emp änger von Mitteln aus dem EGFL und dem ELER einen Eingriff in das Unionsgrundrecht des Art. 7 EU- GrCh darstellt. Den hiergegen vorgebrachten Einwand, dass im Vordruck ür die Beantragung von EGFL- und ELER-Mitteln über die zwingende Veröffentlichung des Namens unterrichtet worden sei und mit der Einreichung des Antrags auf Bewilligung dieser Mittel die betreffende Person nach Art. 8 Abs. 2 EU-GrCh ihre Einwilligung in diese Veröffentlichung gegeben hätte, wies der EuGH mit der Begründung zurück, dass Art. 42 Nr. 8b der Verordnung Nr. 1290/ 2005/ EG 882 lediglich vorsieht, dass die Mittelemp änger darüber unterrichtet werden, dass ihre Daten, also v.a. ihr Name, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können; Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 259/ 2008/ EG 883 enthält eine entsprechende Bestimmung. Diese Unionsrechtsvorschriften, die lediglich vorsehen, dass die Mittelemp änger vorab über die Veröffentlichung ihrer Daten unterrichtet werden, stützen demnach die mit ihnen einge ührte Verarbeitung personenbezogener Daten nicht auf die Einwilligung der betroffenen Emp änger. 880 Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 21; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 98. Vgl. zum sog. klassischen Eingriffsbegriff in Bezug auf die Grundrechte des GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 125 ff. m.w.N. 881 EuGH, ECLI: EU: C: 2004: 552, Rn. 49; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 98; Frenz, Europarecht, Rn. 1003; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 701; Jochum, Europarecht, Rn. 167; Streinz, Europarecht, Rn. 780. Vgl. zum sog. modernen Eingriffsbegriff in Bezug auf das GG: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 131 ff. m.w.N. Zu den an dieser Stelle nicht näher behandelten Ungleichbehandlungen s.o. Fn. 788. 882 ABl. EG L 209 vom 11.8.2005, S. 1. 883 ABl. EG L 76 vom 19.3.2008, S. 28. <?page no="273"?> Liegt ein Eingriff ( 3. Teil 3.4) in den Schutzbereich ( 3. Teil 3.3) eines Unionsgrundrechts vor, so ist dieses gleichwohl dann nicht verletzt, wenn die jeweilige Beeinträchtigung gerechtfertigt ist. Voraussetzung hier ür wiederum ist, dass die Eingriffsmaßnahme von einer (Unionsgrundrechts-) Schranke gedeckt wird ( 3. Teil 3.5.1) und dass die beim Gebrauchmachen von dieser ihrerseits zu beachtenden Restriktionen (die sog. Schranken-Schranken 3. Teil 3.5.1) eingehalten werden. 884 Lediglich bei uneingeschränkt, d.h. einschränkungs-/ vorbehaltlos bzw. absolut gewährleisteten Unionsgrundrechten (namentlich der nach Art. 1 S. 1 EU-GrCh unantastbaren Würde des Menschen 885 ), bedeutet jeder Eingriff in den Schutzbereich mangels Rechtfertigungsmöglichkeit zugleich einen Verstoß gegen diese. 886 Die Eingriffsrechtfertigung bildet regelmäßig den Schwerpunkt der Prüfung eines Unionsgrundrechts, innerhalb derer wiederum die Verhältnismäßigkeitskontrolle ( 3. Teil 3.5.2.1) das Kernstück ausmacht. 887 Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh enthält ür sämtliche in der EU-GrCh anerkannten „Rechte und Freiheiten“ einen einheitlichen Schrankenvorbehalt, 888 wonach jede Einschränkung ihrer Ausübung „gesetzlich vorgese- 884 Zum Ganzen vgl. Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 19 f. 885 Dazu in Bezug auf Art. 1 Abs. 1 GG: Wienbracke, VR 2016, S. 181 ff. m.w.N. Die dort (S. 182) aufgezeigt Ausnahme (Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 1 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG unter Berufung auf Art. 1 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GG) gilt nach Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 1 Rn. 12 ebenfalls in Bezug auf Art. 1 EU-GrCh. 886 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 99. A.A. Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 22, denen zufolge es einschränkungslos gewährleistete Unionsgrundrechte (bislang) nicht gebe. 887 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 112; Streinz, Europarecht, Rn. 781. 888 Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 22. <?page no="274"?> hen“ sein muss. Ein Unionsgrundrechtseingriff ist somit stets nur durch oder aufgrund eines Gesetzes zulässig. 889 I.S.v. Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh gesetzlich vorgesehen ist ein Eingriff in ein Unionsgrundrecht dann, wenn er auf einer - jeweils wirksamen - unmittelbar anwendbaren Bestimmung des EU-Rechts (z.B. einer Verordnung) oder einer abstrakt-generellen (Außen-)Rechtsnorm des betreffenden Mitgliedstaats beruht. 890 Die K-KG gehört zur K-Gruppe. Wegen eines Verstoßes der K-Gruppe gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV hatte die Kommission gegen die K-KG eine Geldbuße i.H.v. 85 Mio. Euro festgesetzt. Die daraufhin von der K-KG beim Gericht erhobene Klage auf Nichtigerklärung (Art. 263 Abs. 4 AEUV) war erfolglos. U.a. wies es das Vorbringen der K-KG, dass ihr die von den Gesellschaften der K-Gruppe begangene Zuwiderhandlungen nicht zugerechnet werden könnten, mit der Begründung zurück, dass die K-KG dies nicht bereits im Verwaltungsverfahren vorgebracht habe. Auf das hiergegen eingelegte Rechtsmittel beim EuGH (ECLI: EU: C: 2010: 389) hin hat dieser das angefochtene Urteil insoweit aufgehoben, als das Gericht festgestellt hat, dass die K-KG die ür das Handeln der K- Gruppe im Rahmen der Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verantwortliche Gesellschaft gewesen sei. Denn es gebe keine unionsrechtliche Vorschrift, die den Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte im Rahmen der Art. 101 f. AEUV zwingt, die in dieser Mitteilung ange ührten Gesichtspunkte im Verwaltungsverfahren anzugreifen, um das Recht, dies später während des Gerichtsverfahrens zu tun, nicht zu verwirken. Einer solchen gesetzlichen Bestimmung bedürfe es nach Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh aber gerade, um die Ausübung des in Art. 47 Abs. 1 EU-GrCh garantierten Unionsgrundrechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf einzuschränken. Vereinzelt wird der allgemeine Gesetzesvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh allerdings noch durch besondere Schrankenregelungen in 889 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 104. 890 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 104 f.; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 705 f. Kingreen, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 51 EU-GRCharta Rn. 62 fordert in Bezug auf die EU das Vorliegen eines Gesetzgebungsakts i.S.v. Art. 289 Abs. 3 AEUV ( 2. Teil 4.2.1). <?page no="275"?> einigen Unionsgrundrechten ergänzt. 891 So z.B. enthält Art. 16 EU-GrCh einen Vorbehalt zugunsten des „Unionsrecht[s] und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“, der zur allgemeinen Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh hinzutritt, sog. doppelte Schranken (str.). 892 Zudem ist, soweit die EU-GrCh Unionsgrundrechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GrCh zu beachten, wonach Erstere u.a. die gleiche „Tragweite“, d.h. Schranken, haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird ( 3. Teil 3.1.6). Nach den Erläuterungen 893 hierzu haben folgende Artikel dieselbe Bedeutung und Tragweite wie die entsprechenden Artikel der EMRK: Art. 2, Art. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2, Art. 6, Art. 7, Art. 10 Abs. 1, Art. 11, Art. 17, Art. 19, Art. 48 sowie Art. 49 Abs. 1 (mit Ausnahme des letzten Satzes) und Abs. 2 EU-GrCh. 894 Nach Art. 11 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh hat jede Person das Recht auf freie Meinungsäußerung. Weil diese Vorschrift dem wortgleichen Art. 10 Abs. 1 S. 1 EMRK entspricht, hat das in Art. 11 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh gewährleistete Unionsgrundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GrCh die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihm in Art. 10 EMRK verliehen wird. Dies hat nach den Erläuterungen 895 hierzu zur Folge, dass der Gesetzgeber bei der Festlegung von Einschränkungen dieses Rechts die gleichen Normen einhalten muss, die in der aus ührlichen Regelung der Einschränkungen in der EMRK vorgesehen sind, die damit auch ür die von Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-GrCh erfassten Rechte gelten. Konkret bedeutet das, das jede Einschränkung der Ausübung der in Art. 11 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh anerkannten Meinungsfreiheit nicht nur gem. Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh gesetzlich vorgesehen sein muss, sondern den Erläuterungen 896 zu Art. 11 EU- GrCh zufolge die möglichen Einschränkungen dieses Rechts nicht über 891 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 99, 103. 892 Bernsdorff, in: Meyer: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 16 Rn. 15 m.w.N. auch zur a.A. 893 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. 894 Artikel, die dieselbe Bedeutung haben wie die entsprechenden Artikel der EMRK, deren Tragweite aber umfassender ist, sind den Erläuterungen (ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17) zufolge Art. 9, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Abs. 3, Art. 47 Abs. 2 und 3, Art. 50 EU-GrCh. 895 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. 896 ebd. <?page no="276"?> die in Art. 10 Abs. 2 EMRK vorgesehenen Einschränkungen hinausgehen dürfen. Nach Art. 10 Abs. 2 EMRK ist die Ausübung u.a. der Meinungsfreiheit mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind ür die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung. Gem. Art. 52 Abs. 1 EU-GrCh muss jede gesetzlich vorgesehene Einschränkung der Ausübung der in der EU-GrCh anerkannten Rechte und Freiheiten deren „Wesensgehalt […] achten“ ( 3. Teil 3.5.2) und den „Grundsatz […] der Verhältnismäßigkeit“ wahren ( 3. Teil 3.5.1). Der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ( 2. Teil 1.1.3) ist die mit Abstand bedeutendste Schranken-Schranke bei der Unionsgrundrechtsprüfung. 897 Er entspricht in der Struktur seiner Prüfungsschritte und deren jeweiliger Bedeutung seinem aus dem deutschen Recht bekannten Pendant. 898 Gehandhabt werden diese vom EuGH in der Praxis allerdings tendenziell großzügiger als vom BVerfG ( 3. Teil 1.5.2.1). 899 Speziell in Bezug auf den nach Art. 52 Abs. 1 S. 2 EU-GrCh zu wahrenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2017: 680) erkannt, dass die Eingriffshandlungen der Unionsgrundrechtsverpflichteten nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei die durch sie verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen. 900 897 Dittert, Europarecht, S. 290, 297. 898 Wienbracke, StuW 2017, S. 377 (389) m.w.N. 899 Vgl. Voßkuhle/ Wischmeyer, JuS 2017, S. 1171 (1172). 900 Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 708. Soweit es auf die Angemessenheitsprüfung im konkreten Fall nicht ankommt (z.B. weil bereits die <?page no="277"?> Was die gerichtliche Überprüfung der Einhaltung der einzelnen Voraussetzungen des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anbelangt, so räumt der EuGH (ECLI: EU: C: 2016: 325) namentlich dem Unionsgesetzgeber 901 zwar in Bereichen, in denen von ihm politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen verlangt werden und in dem komplexe Prüfungen durch ühren muss, einen weiten Spielraum ein; dieser allerdings könne aufgrund einer Reihe von Gesichtspunkten eingeschränkt sein (z.B. wegen des jeweils betroffenen Bereichs, dem Wesen des fraglichen durch die EU-GrCh gewährleisteten Rechts, die Art und Schwere des Eingriffs sowie dessen Zweck (EuGH, ECLI: EU: C: 2014: 238). 902 Ebenso wie im Rahmen des deutschen Rechts der Fall, 903 beginnt die Verhältnismäßigkeitsprüfung auch auf Ebene der Unionsgrundrechte zunächst mit der Herauserarbeitung 904 des mit dem jeweiligen Mittel, d.h. der Eingriffsmaßnahme, verfolgten Ziels sowie der sich hieran unmittelbar anschließenden, freilich nur bei entsprechendem Anlass näher zu diskutierenden Frage nach der unionsrechtlichen (genauer: primärrechtlichen) Legitimität von Mittel und Zweck (Ziel) als solchen. 905 Erforderlichkeit zu verneinen ist), so wird dieser Aspekt der Verhältnismäßigkeitsprüfung vom EuGH überhaupt nicht angesprochen - was aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten darf, dass diese auf europäischer Ebene insgesamt nur zweistufig ausfalle, siehe Dittert, Europarecht, S. 297. 901 Demgegenüber ist die Prüfdichte gegenüber mitgliedstaatlichen Maßnahmen relativ intensiver, so der Befund von Streinz, Europarecht, Rn. 783 zur EuGH-Rechtsprechung vor Inkrafttreten der EU-GrCh. Vgl. auch Arndt/ Fischer/ Fetzer, Europarecht, Rn. 412. 902 Kritisch hierzu auch unter Berücksichtigung des Gewaltenteilungsgrundsatzes ( 2. Teil 3): Jochum, Europarecht, Rn. 172. Zur früheren, generell defizitären Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EuGH siehe Frenz, Europarecht, Rn. 1013 f., die er mit Inkrafttreten der EU-GrCh „ein Stück weit aufgegeben hat“, so Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 22. Gleichwohl bleibt die vom EuGH praktizierte Verhältnismäßigkeitskontrolle noch immer hinter derjenigen Prüfungsdichte zurück, die nach deutschen Maßstäben anzulegen ist, siehe Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 708. Insofern vgl. aber auch Wienbracke, NJW 2017, S. 2506 (2508 f.) m.w.N. zur BVerfG-Rechtsprechung. 903 Dazu: Wienbracke, ZJS 2013, S. 148 ff. m.w.N. 904 Hilfsmittel hierfür sind namentlich die Begründungserwägung des betreffenden Rechtsakts, siehe Dittert, Europarecht, S. 290 und 2. Teil 1.4. 905 Vgl. Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 23; Dittert, Europarecht, S. 290; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 108, 110; Hobe, Europarecht, Rn. 655. <?page no="278"?> Nach den Erläuterungen 906 zu Art. 52 Abs. 1 S. 2 EU-GrCh erstreckt sich die dortige Bezugnahme auf das von der EU anerkannte Gemeinwohl 907 nicht nur auf die in Art. 3 EUV aufge ührten Ziele ( 1. Teil 1.1), sondern auch auf andere Interessen, die durch besondere Bestimmungen der Verträge wie Art. 4 Abs. 1 EUV, Art. 35 Abs. 3 AEUV und die Art. 36 ( 3. Teil 1.5.1.1) und 346 AEUV geschützt werden. Alternativ hierzu ist es nach dem ausdrücklichen Wortlaut von Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU-GrCh ebenfalls primärrechtlich legitim, wenn der Eingriff in das Unionsgrundrecht einer Person dem „Schutz[…] der Rechte und Freiheiten anderer“ Unionsgrundrechtsträger dient (Kollision von Unionsgrundrechten). Nach Maßgabe von Art. 5 Abs. 1 lit. b) der Fluggastrechte-Verordnung Nr. 261/ 2004 908 , die ihrem ersten Erwägungsgrund zufolge den Erfordernissen des Verbraucherschutzes Rechnung tragen will, werden den betroffenen Fluggästen bei Annullierung eines Fluges vom aus ührenden Luftfahrtunternehmen u.U. Unterstützungsleistungen u.a. nach Art. 9 Abs. 1 lit. b) dieser Verordnung angeboten, d.h. eine Hotelunterbringung. Luftfahrunternehmen L, das wegen Verletzung dieser Pflicht von einem Fluggast auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird, meint, dass die vorstehenden Regelungen gegen sein Unionsgrundrecht auf unternehmerische Freiheit (Art. 16 EU-GrCh) verstießen. Hierzu hat der EuGH (ECLI: EU: C: 2013: 43) auf Folgendes hingewiesen: Die unternehmerische Freiheit wird durch Art. 16 EU-GrCh nicht absolut gewährleistet. Vielmehr lässt Art. 52 Abs. 1 EU-GrCh Einschränkungen der Ausübung auch dieses Unionsgrundrechts zu, sofern sie nach Satz 2 dieser Vorschrift unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen und den von der EU anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Insoweit ist hier Art. 38 EU-GrCh zu berücksichtigen, wonach die Politik der EU ein ho- 906 ABl. EU C 303 vom 17.12.2007, S. 17. 907 Eine Konkretisierung zulässiger Rechtfertigungsgründe folgt hieraus nicht, siehe Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 20. Vgl. auch Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 26; Hobe, Europarecht, Rn. 655; Jochum, Europarecht, Rn. 169. Siehe aber auch Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, § 4 Rn. 183: „Gemeinwohlvorbehalt”. 908 ABl. EU L 46 vom 17.2.2004, S. 1. <?page no="279"?> hes Verbraucherschutzniveau sicherstellt, vgl. auch Art. 169 Abs. 1 AEUV. Diesem unionsrechtlich mithin legitimen Ziel dienen Art. 5 Abs. 1 lit. b) und Art. 9 Abs. 1 lit. b) der Fluggastrechte-Verordnung ausweislich ihres ersten Erwägungsgrunds. Geeignet ist ein Mittel zur Erreichung des mit diesem verfolgten Ziels dann, wenn es dessen Verwirklichung dient. 909 Zwecks Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten wie organisierter Kriminalität und Terrorismus bestimmt Art. 3 Abs. 1 der Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie 2006/ 24/ EG 910 , dass die Mitgliedstaaten durch entsprechende Maßnahmen da ür Sorge tragen, dass die in Art. 5 dieser Richtlinie genannten Daten, soweit sie im Rahmen ihrer Zuständigkeit im Zuge der Bereitstellung der betreffenden Kommunikationsdienste von Anbietern öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder Betreibern eines öffentlichen Kommunikationsnetzes erzeugt oder verarbeitet werden, gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie auf Vorrat gespeichert werden. Zur Erreichung der vorgenannten Ziele ist Art. 3 Abs. 1 der Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie nach Auffassung des EuGH (ECLI: EU: C: 2014: 238) geeignet: Denn angesichts der wachsenden Bedeutung elektronischer Kommunikationsmittel bieten die nach dieser Richtlinie auf Vorrat zu speichernden Daten den ür die Strafverfolgung zuständigen nationalen Behörden zusätzliche Möglichkeiten zur Aufklärung schwerer Straftaten und stellten daher ein nützliches Mittel ür strafrechtliche Ermittlungen dar. Abweichendes ergibt sich danach auch keinesfalls daraus, dass es mehrere elektronische Kommunikationsweisen gibt, die etwa eine anonyme Kommunikation ermöglichen. Denn dieser Umstand kann dem EuGH zufolge zwar die Eignung der in der Vorratsspeicherung der Daten bestehenden Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Ziels insofern begrenzen, ührt aber nicht zur Ungeeignetheit dieser Maßnahme im Übrigen. 909 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 112. Vgl. auch EuGH (ECLI: EU: C: 2016: 325), der die Geeignetheit im konkreten Fall mit der Begründung bejaht hat, dass das gewählte Mittel „zur Erreichung des angestrebten Ziels nicht offensichtlich ungeeignet“ ist. 910 ABl. EU L 105 vom 13.4.2006, S. 54. <?page no="280"?> Erforderlich zur Zielerreichung ist ein Mittel dann, wenn es kein anderes Mittel gibt, mit dem das verfolgte Ziel ebenso gut erreicht werden kann, und das weniger in das nachteilig betroffene Unionsgrundrecht eingreift. 911 Nach Art. 15 Abs. 6 S. 1 der Richtlinie 2010/ 13/ EU über audiovisuelle Mediendienste 912 sorgen die Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihres Rechtssystems und im Einklang mit ihren Gepflogenheiten da ür, dass die Modalitäten und Bedingungen ür die Bereitstellung kurzer Ausschnitte der Berichterstattung über Ereignisse von großem Interesse ür die Öffentlichkeit näher festgelegt werden, insbesondere hinsichtlich etwaiger Kostenerstattungsregelungen, der Höchstlänge der kurzen Ausschnitte und der Fristen ür ihre Übertragung. Fernsehsender F, der Inhaber der Exklusivrechte ür die Ausstrahlung der Europa League in der laufenden Saison in Mitgliedstaat M ist, meint, dass zur Erreichung des mit der vorstehenden Regelung verfolgten Ziels v.a. der Wahrung des Unionsgrundrechts auf Information (Art. 11 Abs. 1 EU-GrCh) auch das im Hinblick auf seine von Art. 16 EU-GrCh geschützte unternehmerische Freiheit weniger belastende Mittel einer Kostenerstattung ür die Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte in der Richtlinie hätte vorgesehen werden können. Ist die gewählte Regelung deshalb nicht erforderlich zur Erreichung des vorgenannten, im Allgemeininteresse liegenden Ziels? Nein. Denn durch eine solche, ür F weniger belastende Regelung ließe sich dem EuGH (ECLI: EU: C: 2013: 28) zufolge die Erreichung des mit Art. 15 Abs. 6 S. 1 der o.g. Richtlinie verfolgten Ziels nicht genauso wirksam sicherstellen wie durch die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen. So könnte es sich nach dessen Einschätzung nämlich insbesondere erweisen, dass eine Regelung, die eine Kostenerstattung ür die Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte vorsieht, welche die unmittelbar mit der Gewährung des Zugangs zum Signal verbundenen zusätzlichen Kosten übersteigt und anhand ergänzender Kriterien wie etwa des ür den Erwerb eines solchen Rechts gezahlten Preises und/ oder der Größe des fraglichen Ereignisses berechnet wird, bestimmte Fernsehveranstalter - je nach Methode zur Ermittlung der Erstattungshöhe und der Finanzkraft des den Zugang begehrenden Fernsehveranstalters - davon abhalten oder gar vollständig daran hin- 911 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 39. 912 ABl. EU L 95 vom 15.4.2010, S. 1. <?page no="281"?> dern, zwecks Kurzberichterstattung um Zugang zu ersuchen und dadurch den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen erheblich einschränken. Angemessen ist ein Mittel zur Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels dann, wenn die durch Ersteres verursachten Nachteile in einem ausgewogenen Verhältnis zu Letzterem stehen. 913 Um einen hohen Schutz der menschlichen Gesundheit zu gewährleisten, verbietet die sog. Tabak-Richtlinie 2014/ 40/ EU 914 in ihrem Art. 13 Abs. 1 lit. a) u.a. die Kennzeichnung der (Außen-)Verpackung sowie des Tabakerzeugnisses selbst mit Elementen und Merkmalen, die ein Tabakerzeugnis bewerben oder zu dessen Konsum anregen. Tabakhersteller T ist der Ansicht, dass diese Regelung in unangemessener Weise in sein Unionsgrundrecht aus Art. 11 Abs. 1 EU-GrCh auf freie Verbreitung von Informationen zur Verfolgung geschäftlicher Interessen eingreife. Stimmt das? Nein. Denn dem Schutz der menschlichen Gesundheit (vgl. Art. 35 S. 2 EU-GrCh und Art. 9, Art. 114 Abs. 3 sowie Art. 168 Abs. 1 AEUV) kommt nach der EuGH-Rechtsprechung (ECLI: EU: C: 2016: 325) gerade in einem Bereich wie dem hiesigen, der durch die erwiesenermaßen hohe Schädlichkeit des Konsums von Tabakerzeugnissen aufgrund von deren Abhängigkeit erzeugender Wirkung und des Auftretens schwerer Krankheiten gekennzeichnet ist, höhere Bedeutung zu als den von T geltend gemachten Interessen. Unter diesen Umständen hat der EuGH daher festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber durch das in der o.g. Richtlinienbestimmung enthaltene Verbot das angemessene Gleichgewicht zwischen den Erfordernissen des Schutzes der Informationsfreiheit einerseits und den Erfordernissen des Schutzes der menschlichen Gesundheit andererseits nicht missachtet hat. Dient der Eingriff in das Unionsgrundrecht einer Person (z.B. der von Art. 13 S. 1 EU-GrCh geschützten Kunstfreiheit eines Schriftstellers) dem Schutz der Unionsgrundrechte und Freiheiten einer anderen Person (z.B. eines Prominenten auf Achtung seines Privat- und Familienlebens i.S.v. Art. 7 EU-GrCh), so ist diese Kollision von Unionsgrundrechten im Wege 913 Kingreen, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 51 EU-GRCharta Rn. 70; Streinz/ Michl, EUV/ AEUV, Art. 54 EU-Grundrechtecharta Rn. 30. 914 ABl. EU L 127 vom 29. April 2014, S. 1. <?page no="282"?> der - aus der deutschen Grundrechtsdogmatik bekannten 915 - praktischen Konkordanz aufzulösen, d.h. durch Herstellung eines schonenden Ausgleichs zwischen beiden betroffenen Unionsgrundrechten, die jedem von diesen zu einer möglichst optimalen Geltung verhilft ( 2. Teil 1 a.E.). 916 Entsprechendes gilt im Fall der Kollision eines Unionsgrundrechts mit einer Grundfreiheit ( 3. Teil 1.1.6). 917 Ebenso wie im Hinblick auf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG der Fall, 918 ist auch in Bezug auf den nach Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU- GrCh zu achtenden Wesensgehalt der Unionsgrundrechte unklar, ob dieser in einem absoluten oder relativen bzw. in einem individuellen oder generellen Sinn zu verstehen ist. 919 Käme diesem bei einem relativindividuellen Verständnis neben dem kumulativ zu wahrenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ( 3. Teil 3.5.2.1) keine eigenständige Bedeutung zu, so wird daher - wohl auch vom EuGH (vgl. ECLI: EU: C: 2015: 288) - die Auffassung vertreten, dass die Wesensgehaltsgarantie einen festen Kernbereich schützt, welcher der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die sich auf die Mittel-Zweck-Relation bezieht, eine absolute Abwägungsgrenze setzt. 920 Eine Regelung, die keine Möglichkeit ür den Bürger vorsieht, mittels eines Rechtsbehelfs Zugang zu den ihn betreffenden personenbezogenen Daten zu erlangen oder ihre Berichtigung oder Löschung zu erwirken, verletzt dem EuGH (ECLI: EU: C: 2015: 650) zufolge den Wesensgehalt des in Art. 47 Abs. 1 EU-GrCh verankerten Unionsgrundrechts. Danach hat jede Person, deren durch das EU-Recht garantierte Rechte oder 915 Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 153, 208 (Fn. 468) m.w.N. 916 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 94; Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 707. 917 Dittert, Europarecht, S. 282 a.E., 291 f. 918 Dazu: Wienbracke, Einführung in die Grundrechte, Rn. 211 ff. m.w.N. 919 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 109. 920 EuGH, ECLI: EU: C: 2010: 662, Rn. 72 ff.; Borowsky, in: Meyer: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 23; Classen/ Nettesheim, in: Oppermann/ Classen/ Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 29; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 109; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 28. Siehe aber auch Haratsch/ Koenig/ Pechstein, Europarecht, Rn. 709: „Legt man einen generellabstrakten Wesensgehaltsbegriff zugrunde […], reicht die Wesensgehaltsgarantie […] nicht weiter als der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“. <?page no="283"?> Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommt der Wesensgehaltsgarantie nur eine geringe Bedeutung zu. 921 Auch vom EuGH wird sie häufig lediglich erwähnt, nicht aber näher geprüft. 922 Der nach Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV von der Union zu errichtende Binnenmarkt umfasst nicht nur gem. Art. 26 Abs. 2 AEUV einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist ( 3. Teil 1.1.1), sondern darüber hinaus ein System, das den Wettbewerb generell vor Verfälschungen schützt, siehe Art. 51 EUV i.V.m. dem Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb 924 und vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. b) AEUV. Mit diesem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 119 Abs. 1 AEUV) unvereinbar sind neben mitgliedstaatlichen Ein-/ Ausfuhrzöllen i.S.v. Art. 30 AEUV im Ausgangspunkt ebenfalls mengenmäßige Ein-/ Ausfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten gem. Art. 34 f. AEUV ( 3. Teil 1.4.2) - sowie den hier nicht näher behandelten Kartellen (Art. 101 AEUV) und dem Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) durch Unternehmen (zu diskriminierenden nationalen Steuervorschriften vgl. Art. 110 f. AEUV 3. Teil 1.4.2) - schließlich auch Unterstützungsmaßnahmen der jeweiligen einheimischen Betriebe durch staatliche Beihilfen, siehe Art. 107 Abs. 1 AEUV. Denn diese kompromittieren eine optimale Allokation von Produktionsfaktoren, namentlich in Gestalt der Festlegung oder Aufrechterhaltung von nicht unmittelbar kostenbestimmten Verkaufspreisen (Ver älschung des freien Spiels der wirtschaftlichen Kräfte durch staatliche Vorteilsgewährung). 921 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 109. 922 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 15 Rn. 20. 923 Dieses Kapitel beruht auf Wienbracke, WRP 2016, S. 154 ff. und S. 294 ff. Vgl. ferner ders., Der Gemeindehaushalt 2016, S. 199 ff.; ders., IWB 2016, S. 784 ff.; ders., WRP 2017, S. 507 ff., jeweils m.w.N. 924 ABl. EU C 115 vom 9.5.2008, S. 309. <?page no="284"?> Unternehmen, die von „ihrem“ Mitgliedstaat Subventionen erhalten, sind in der Lage, Güter zu geringeren Kosten herzustellen und in der Folge auf dem Markt zu tendenziell günstigeren Preisen anzubieten als die nicht subventionierte ausländische Konkurrenz. Autohersteller A mit Sitz in Mitgliedstaat B und Autohersteller X mit Sitz in Mitgliedstaat Y konkurrieren auf dem europäischen Markt mit ihren sich optisch wie technisch kaum unterscheidenden und bislang preisgleichen Pkw-Fahrzeugen der Mittelklasse. Wird A von B aus politischen Gründen aber eine Subvention gezahlt, so kann A ceteris paribus seine Pkw nunmehr zu einem ür die Kunden günstigeren Preis anbieten mit der Folge, dass sich sein Umsatz zulasten desjenigen von B erhöhen wird. Entsprechend dieser ökonomischen Zielsetzung verfolgt die Kommission bei der Beihilfenkontrolle ( 3. Teil 4.2.2) nach ihrem Aktionsplan staatliche Beihilfen 925 einen stärker wirtschaftsorientierten Ansatz, sog. more economic approach. Voraussetzung ür die Qualifizierung einer Maßnahme als „Beihilfe“ i.S.v. Art. 107 f. AEUV ist, dass deren nachfolgenden, in Art. 107 Abs. 1 AEUV jeweils ausdrücklich genannten Merkmale kumulativ er üllt sind: - „Begünstigung“ ( 3. Teil 4.1.1), - „bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige“ ( 3. Teil 4.1.2), - „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährt“ ( 3. Teil 4.1.3), - „Wettbewerb ver älschen oder zu ver älschen drohen“ ( 3. Teil 4.1.4) und - „Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen“ ( 3. Teil 4.1.5). 925 KOM(2005) 107 endg. vom 7.6.2005. <?page no="285"?> Die Bekanntmachung der Kommission zum Beihilfenbegriff des Art. 107 Abs. 1 AEUV 926 gilt nach deren eigenem Bekunden in der dortigen Rn. 3 unbeschadet der Auslegung des Begriffs der staatlichen Beihilfe durch die Unionsgerichte und ist abrufbar unter eurlex.europa.eu. Vom Begriff der Begünstigung i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV werden alle freiwilligen mitgliedstaatlichen Maßnahmen erfasst, die unmittelbar oder mittelbar Unternehmen begünstigen oder als ein wirtschaftlicher Vorteil anzusehen sind, den das begünstigte Unternehmen unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte. 927 Ob diese Voraussetzungen vorliegen, richtet sich allein nach den objektiven (ökonomischen) Wirkungen der betreffenden Maßnahme, nicht hingegen nach ihren Gründen oder Zielen. Insofern ebenfalls nicht relevant sind die jeweilige Verhaltens- (Tun oder Unterlassen), Rechts- (z.B. privat- oder öffentlich-rechtlicher Vertrag, Verwaltungsakt, Realakt) und Begünstigungsform. Demgemäß kann die Vorteilsgewährung nicht nur in Gestalt einer positiven (Geld-/ Sach-/ Dienst-)Leistung, d.h. einer Subvention i.e.S., erfolgen (sog. Leistungssubvention), sondern auch in der Verminderung der von einem Unternehmen normalerweise zu tragenden Belastungen bestehen, sog. Verschonungssubvention (z.B. Verzicht auf bzw. Stundung einer Forderung). Die Frage, ob das begünstigte Unternehmen den betreffenden Vorteil auch unter normalen Marktbedingungen erhalten hätte, ist ohne Weiteres dann zu verneinen, wenn es hier ür überhaupt keine Gegenleistung erbracht hat (so bei einem sog. verlorenen, d.h. nicht rückzahlbaren, Zuschuss der Fall). In derartigen Konstellationen handelt es sich bei der jeweiligen Zuwendung - sofern die übrigen Voraussetzungen des Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegen - um eine Beihilfe. Andernfalls ist zu prüfen, ob der Preis ür die Kaufsache, die Vergütung ür die Dienstleistung, die Miete ür die Räumlichkeiten, die (Aval-)Provision ür die Bürgschaft etc. jeweils angemessen ist, d.h. es ist die „normale“ Vergütung ür die betreffenden 926 KOM(2016), ABl. 2016 C 262 vom 19.7.2016, S. 3. 927 Wienbracke, WRP 2016, S. 154 (155) m.w.N. <?page no="286"?> Leistungen zu bestimmen. Existiert ür diese ein transparenter Marktpreis (z.B. Börsenkurs), so ist dieser regelmäßig zugrunde zu legen. Ist ein solcher hingegen nicht vorhanden - und wurde auch weder ein offenes, transparentes und diskriminierungsfreies Bietverfahren durchge ührt noch ein objektives Wertgutachten durch einen unabhängigen Sachverständigen erstellt -, so ist aus der Perspektive eines hypothetischen, sich von längerfristigen Rentabilitätsaussichten leiten lassenden und seiner Größe nach mit der vorteilsgewährenden Einrichtung des öffentlichen Sektors vergleichbaren privaten Investors im Zeitpunkt der Investitionsentscheidung (ex ante) zu beurteilen, ob die vom betreffenden Unternehmen erbrachte Gegenleistung in einem angemessenen Verhältnis zu der diesem staatlicherseits gewährten Leistung steht, sog. private investor- Test. 928 Verpflichtungen, die nur dem Staat in seiner Eigenschaft als Träger öffentlicher Gewalt obliegen, sind dabei freilich nicht zu berücksichtigen (z.B. Zahlung von Arbeitslosenunterstützung bei einer Unternehmensliquidierung). Soweit der Wert der staatlicherseits tatsächlich erbrachten Leistung im konkreten Fall über denjenigen der vom Unternehmen hier ür tatsächlich erbrachten Gegenleistung hinausgeht, liegt in Höhe dieser Differenz (sog. Beihilfenäquivalent) ein unter normalen Marktbedingungen nicht erlangbarer wirtschaftlicher Vorteil vor. Auf Grundlage einer durch die Europäische Kommission genehmigten Methode zur Berechnung des Beihilfewerts von staatlichen Bürgschaften steht auf www.pwc.de ein entsprechendes tool (Beihilfewertrechner) zur Ver ügung. Mitgliedstaat M gewährt dem in dessen Hauptstadt ansässigen Unternehmen U ein Darlehen i.H.v. 30 Mio. Euro. Abhängig von dessen Konditionen sowie der wirtschaftlichen Situation von U kann es sich, wenn der zwischen M und U vereinbarte Zinssatz (z.B. 4 %) niedriger ist als der marktübliche Zinssatz (z.B. 7 %), in Höhe dieser (Zins-)Differenz (hier: 3 Prozentpunkte) 928 Die Kommission verfügt insoweit über einen Beurteilungsspielraum. Um ihre diesbezügliche Politik transparent und somit berechenbar zu machen, hat die Kommission für bestimmte Bereiche (z.B. bei staatlichen Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften sowie bei Verkäufen von Bauten oder Grundstücken durch die öffentliche Hand) Mitteilungen veröffentlicht (abrufbar unter ec.europa.eu), in denen sie darlegt, was sie im Einzelnen als „marktüblich“ versteht. <?page no="287"?> - U bei einer privaten Bank überhaupt keinen Kredit bekommen würde, in Höhe des Gesamtbetrags des Darlehens um eine Begünstigung handeln. Speziell im Hinblick auf staatliche Ausgleichszahlungen an Unternehmen ür die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (DAWI) i.S.v. Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV (siehe auch Art. 14 S. 1 AEUV), d.h. Daseinsvorsorge wie die Abfallentsorgung, die Energie-/ Wasserversorgung und der ÖPNV, ist nach der Altmark Trans- Entscheidung des EuGH (ECLI: EU: C: 2003: 415) in Ermangelung eines wirtschaftlichen Vorteils der Tatbestand von Art. 107 Abs. 1 AEUV dann nicht er üllt, d.h. es liegt keine Beihilfe vor, wenn das begünstigte Unternehmen tatsächlich mit der Er üllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut ist (z.B. in Form eines Verwaltungsakts), und diese Verpflichtungen klar definiert sind, 929 die Parameter, anhand derer der Ausgleich berechnet wird, zuvor objektiv und transparent aufgestellt wurden, der Ausgleich nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die Kosten der Er üllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns aus der Er üllung dieser Verpflichtungen ganz oder teilweise zu decken (Nettomehrkosten), und - sofern die Wahl des mit der Er üllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betrauten Unternehmens nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt - die Höhe des erforderlichen Ausgleichs auf Grundlage einer Analyse der Kosten bestimmt wird, die ein durchschnittliches, gut ge ührtes Unternehmen, das so an- 929 Nach Art. 4 des Beschlusses der Kommission vom 20.12.2011 über die Anwendung von Art. 106 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten bestimmter Unternehmen, die mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind (ABl. EU L 7 vom 11.1.2012, S. 3) müssen im Betrauungsakt insbesondere festgelegt sein: (1) der Gegenstand und die Dauer der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen, (2) das Unternehmen und ggf. das betreffende Gebiet, (3) die Art etwaiger dem Unternehmen durch die Bewilligungsbehörde gewährter ausschließlicher oder besonderer Rechte, (4) die Beschreibung des Ausgleichsmechanismus und Parameter für die Berechnung, Überwachung und Änderung der Ausgleichsleistungen, (5) Maßnahmen zur Vermeidung und Rückforderung von Überkompensationszahlungen und (6) ein Verweis auf diesen Beschluss. <?page no="288"?> gemessen ausgestattet ist, dass es den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen kann, bei der Er üllung der betreffenden Verpflichtungen hätte, wobei die dabei erzielten Einnahmen und ein angemessener Gewinn aus der Er üllung dieser Verpflichtungen zu berücksichtigen sind, sog. Benchmarking. 930 Unternehmen i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV ist jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende, d.h. Güter oder Dienstleistungen auf dem Markt - mit oder ohne Gewinnerzielungsabsicht - anbietende, Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung (funktionales Begriffsverständnis). 931 Produktionszweig i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV (besser: „Wirtschaftszweig“) meint die Gesamtheit der in einem bestimmten wirtschaftlichen Bereich tätigen Unternehmen (Branche, z.B. Schiffbau) inklusive des Handels und der Dienstleistungen (z.B. Banken). 932 Bei staatlichen Einrichtungen, die keine wirtschaftlichen Zwecke verfolgen, handelt es sich folglich nicht um „Unternehmen“ i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV (z.B. Krankenversicherung, die obligatorische, auf dem Grundsatz der Solidarität - und nicht der Kapitaldeckung - beruhende Systeme der sozialen Sicherheit verwalten). Dasselbe gilt insoweit, als sie in ihrer Eigenschaft als „öffentliche Hand“ bzw. Träger öffentlicher Gewalt i.S.d. EU- Rechts handeln (z.B. Armee, Polizei, Flugsicherung). Die von Art. 107 Abs. 1 AEUV zudem noch geforderte Bestimmtheit (Selektivität bzw. Spezifität) ist zu bejahen, wenn die betreffende Begünstigung lediglich einzelnen - namentlich benannten - Unternehmen/ Produktionszweigen oder - anhand von Größe, Standort etc. - abgrenzbaren Kategorien von Unternehmen/ Produktionszweigen zugutekommt, d.h. die Begünstigung Ausnahmecharakter hat. 933 930 Zur Frage, wie die Kommission bei der Prüfung öffentlicher Ausgleichsleistungen für DAWIs im Einzelnen verfährt, siehe deren Almunia-Paket (Nachweise bei Wienbracke, WRP 2016, S. 154 [157, Fn. 42]). 931 Wienbracke, WRP 2016, S. 154 (157 f.) m.w.N. 932 ebd., S. 154 (158) m.w.N. 933 ebd. <?page no="289"?> Allgemeine Maßnahmen zur Wirtschafts örderung, die unterschiedslos sämtliche Unternehmen und Produktionszweige eines Mitgliedstaats begünstigen (z.B. Infrastrukturmaßnahmen wie der Ausbau des städtischen Straßennetzes oder die generelle Reduzierung des Körperschaftsteuersatzes), sind daher keine Beihilfen i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV. Um die kommunale Wirtschaft zu ördern, beabsichtigt Gemeinde G des Mitgliedstaats M, den Gewerbesteuerhebesatz von derzeit 485% auf demnächst 300% abzusenken. Nach welchen Kriterien beurteilt sich, ob diese Maßnahme eine i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV selektive Begünstigung ist? Voraussetzung ür die Beurteilung der Selektivität einer Maßnahme ist die Bestimmung des jeweiligen Bezugsrahmens. Dieser ist bei steuerlichen Maßnahmen der „normale“ Steuersatz, wobei in Fällen wie dem hiesigen - nämlich einer unterhalb der nationalstaatlichen Ebene angesiedelten, gegenüber der Zentralregierung (verfassungs-)rechtlich und tatsächlich autonomen Gebietskörperschaft - deren geografisches Gebiet ausschlaggebend ist. Hat diese in Ausübung ihrer Autonomiebefugnisse ohne unmittelbare inhaltliche Beeinflussung durch die Zentralregierung eine tatsächlich ür sämtliche in ihrem Zuständigkeitsgebiet ansässigen Unternehmen bzw. dort existierenden Produktionszweige geltende Steuersenkung durchge ührt, deren politische und finanzielle Auswirkungen sie selber trägt, d.h. werden die Steuermindereinnahmen nicht durch staatliche Mittel aus anderen Regionen oder von der Zentralregierung kompensiert (institutionelle, prozedurale und wirtschaftlich/ finanzielle Autonomie), so handelt es sich um eine allgemeine - und gerade nicht um eine i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV selektive - Maßnahme. Damit eine Maßnahme als Beihilfe i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV qualifiziert werden kann, müssen die Mittel ür die Begünstigung von einem Mitgliedstaat stammen, d.h. entweder unmittelbar von diesem selbst (staatlich) oder aber mittelbar von einer von diesem benannten oder errichteten öffentlichen oder privaten Einrichtung (z.B. Bank), d.h. aus staatlichen Mitteln. 934 934 Wienbracke, WRP 2016, S. 154 (158) m.w.N. <?page no="290"?> Die Alternative „aus staatlichen Mitteln“ dient dazu es zu verhindern, dass die unionsrechtlichen Vorschriften über „staatliche“ Beihilfen durch die Schaffung von unabhängigen Einrichtungen umgangen werden, denen die Verteilung von Begünstigungen übertragen wird. Die in beiden Fällen erforderliche Zurechnung der Begünstigung zum jeweiligen Mitgliedstaat ist i.d.R. nur in der Fallgruppe „aus staatlichen Mitteln“ näher zu prüfen: Erfolgt die Gewährung der Begünstigung beispielsweise durch ein öffentliches Unternehmen, so ist diese dem betreffenden Staat nicht bereits deshalb zuzurechnen, weil dieser generell in der Lage ist, dieses zu kontrollieren und einen beherrschenden Einfluss auf dessen Tätigkeiten auszuüben. Vielmehr ist es notwendig, dass die staatlichen Behörden diese Kontrollmöglichkeit im konkreten Fall auch tatsächlich ausgeübt haben, d.h. in irgendeiner Weise am Erlass der betreffenden Maßnahmen beteiligt waren (z.B. in Gestalt von Richtlinien); die Existenz einer entsprechend genauen Anweisung ist hier ür allerdings nicht erforderlich. „Tauglicher“ Beihilfengeber ist aus deutscher Sicht neben dem Mitgliedstaat „Bund“ ferner jedes der 16 Bundesländer, jede Kommune sowie jede sonstige Körperschaft, Anstalt und Stiftung des öffentlichen Rechts. 935 Unionsbeihilfen (z.B. aus dem Europäischen Fonds ür Regionale Entwicklung) werden dagegen nicht von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfasst. Prüfungsmaßstab ür deren Rechtmäßigkeit ist vielmehr namentlich das WTO- Subventionsrecht (siehe Art. VI und Art. XVI des GATT-Abkommens sowie das SCM-Abkommen 936 ). Korrespondierend zum Merkmal der „Begünstigung“ ( 3. Teil 4.1.1) ist ür die Bejahung von deren (un-)mittelbarer staatlicher Herkunft die Übertragung von staatlichen Mitteln nicht zwingend erforderlich (so aber bei Leistungssubventionen der Fall). Vielmehr reicht es aus, wenn der betreffende öffentliche Haushalt dadurch belastet wird, dass der Staat auf Einnahmen verzichtet (z.B. infolge einer Steuerbefreiung) - wobei die Haushaltsbelastung noch nicht einmal eingetreten sein muss, sondern schon das hinreichend konkrete Risiko des Eintritts einer zukünftigen Belastung genügt (wie z.B. bei einer staatlichen Bürgschaft). Erfolgt die Vorteilsgewährung hingegen ohne jegliche Belastung der finanziellen Ressourcen des Staates, so handelt es sich nicht um eine Beihilfe i.S.v. Art. 935 Näher zu diesen: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 49 ff. m.w.N. 936 Agreement on Subsidies and Countervailing Measures. <?page no="291"?> 107 Abs. 1 AEUV (so z.B. bei rein regulatorischen Maßnahmen wie der Befreiung bestimmter Betriebe von Kündigungsschutzvorschriften). Ebenfalls nicht dem unionsrechtlichen Beihilfenbegriff unterfallen solche Begünstigungen, die unmittelbar aus privaten Mitteln gewährt werden (z.B. vom Käufer direkt an den Verkäufer zu zahlender gesetzlicher Mindestpreis, der über dem tatsächlichen wirtschaftlichen Wert der betreffenden Leistung liegt). Der Deutsche Bundestag hat ein Gesetz verabschiedet, das Betriebe der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft zu Beitragszahlungen an eine Anstalt des öffentlichen Rechts verpflichtet. Diese hat die Beiträge dem Gesetz zufolge ausschließlich ür Werbemaßnahmen der Centrale Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft mbH (CMA) zu verwenden, durch welche der Absatz von Erzeugnissen eben dieses Wirtschaftszweigs ge ördert werden soll. Bei dem Aufkommen aus dieser parafiskalischen (Sonder-)Abgabe handelt es sich um staatliche Mittel i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV, weil der Bund die Kontrolle über die von den Privaten erhobenen Beiträge erlangt und diese nach dem Gesetz zwingend ür die Finanzierung der begünstigenden Maßnahme zu verwenden sind ( 3. Teil 1.4.1). I.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV liegt eine Wettbewerbsver älschung tatsächlich vor (Wettbewerb verfälschen), wenn die vom Mitgliedstaat gewährte Begünstigung die Stellung des betreffenden Unternehmens oder Produktionszweigs gegenüber anderen Wettbewerbern verstärkt; droht eine Wettbewerbsverfälschung, wenn die konkrete Möglichkeit sowohl eines Wettbewerbsverhältnisses als auch einer Marktver älschung besteht (potentielle Wettbewerbsver älschung). 937 Um eine Wettbewerbsver älschung feststellen zu können, ist zunächst der jeweils relevante Markt, auf dem sich die Begünstigung auswirkt, in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht zu bestimmen. Sodann ist mittels eines Vergleichs der Wettbewerbssituation vor („ohne“) und nach („mit“) Gewährung der Begünstigung zu beurteilen, ob diese zu einer Ver- 937 Wienbracke, WRP 2016, S. 154 (160) m.w.N. <?page no="292"?> besserung der Position ihres Emp ängers auf diesem Markt ge ührt hat - wobei die Kommission über einen Beurteilungsspielraum ver ügt. Dies wird regelmäßig die Folge einer Begünstigungsgewährung sein (Ausnahme: der Begünstigungsemp änger ist ein Monopolist und es existiert auch kein potentieller Wettbewerber). Insbesondere stehen weder der relativ geringe Umfang der jeweiligen Begünstigung noch die verhältnismäßig geringe Größe des begünstigten Unternehmens der Bejahung einer Wettbewerbsbeschränkung entgegen (keine Spürbarkeit der Wettbewerbsverälschung erforderlich; str.). Übersteigt jedoch der Gesamtbetrag der einem Unternehmen innerhalb eines bestimmten Zeitraums von einem Mitgliedstaat gewährten Begünstigungen namentlich nicht die in der De-minimis- Verordnung 938 normierten sog. Schwellenwerte und sind auch die übrigen Voraussetzungen dieser Verordnung er üllt, so wird nach ihrem Art. 3 Abs. 1 der Beihilfetatbestand als nicht er üllt angesehen. Innerhalb der letzten drei (Steuer-)Jahre hat die G-GmbH mit Sitz in Münster vom Land NRW 195.000 Euro an Zuschüssen erhalten. Sofern die G-GmbH ebenfalls die sonstigen Voraussetzungen der Deminimis-Verordnung er üllt, werden nach deren Art. 3 Abs. 1, 2 UAbs. 1 die durch das Land NRW gezahlten Zuschüsse i.H.v. insgesamt 195.000 Euro als Maßnahmen angesehen, die nicht alle Tatbestandsmerkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV er üllen - also auch nicht dasjenige der (drohenden) Wettbewerbsver älschung. Denn der in dieser Verordnung genannte Schwellenwert von 200.000 Euro binnen drei (Steuer-)Jahren ist vorliegend nicht überschritten. Die gewährte Begünstigung beeinträchtigt den Handel 939 zwischen Mitgliedstaaten (grenzüberschreitendes Element bzw. Zwischenstaatlichkeitsklausel) dann, wenn dieser sich ohne sie anders entwickelt hätte. 940 938 VO Nr. 1407/ 2013/ EU der Kommission vom 18.12.2013 über die Anwendung der Art. 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf De-minimis-Beihilfen, ABl. EU L 352 vom 24.12.2013, S. 1. 939 Neben dem Warenerfasst dieser Begriff ebenfalls den Dienstleistungsverkehr. 940 Wienbracke, WRP 2016, S. 154 (160) m.w.N. <?page no="293"?> Eine solche Wirkung ist die regelmäßige Folge einer Wettbewerbsver älschung ( 3. Teil 4.1.4; Vermutung) - selbst bei einer relativ geringen Größe des begünstigten Unternehmens ( 3. Teil 4.1.2) und/ oder einem verhältnismäßig geringen Umfang der betreffenden Begünstigungsgewährung ( 3. Teil 4.1.1). Dies zumal deshalb, weil der EuGH (ECLI: EU: C: 2009: 272) im vorliegenden Zusammenhang nicht den Nachweis einer tatsächlichen Auswirkung der betreffenden Maßnahme auf den zwischenstaatlichen Handel verlangt, sondern deren bloße Eignung hierzu ausreichen lässt. Lediglich dann, wenn die Begünstigungswirkung ausschließlich auf das Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats beschränkt ist, d.h. sich nur auf lokaler, regionaler oder allenfalls nationaler Ebene auswirkt, liegt keine Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten vor (so bei einer nicht export ähigen Dienstleistung der Fall, ür die es auf dem Markt des die Begünstigung gewährenden Mitgliedstaats auch keinen potentiellen Erbringer aus einem anderen Mitgliedstaat gibt). Im Übrigen ist dieses eigenständige Tatbestandsmerkmal von Art. 107 Abs. 1 AEUV hingegen er üllt, sofern sich infolge der Begünstigung die Stellung des diese empfangenden Unternehmens im Verhältnis zu anderen Wettbewerbern im innerunionalen Handel verstärkt (Erleichterung des Im-/ Exports ür den Begünstigungsemp änger bzw. Ein-/ Ausfuhrerschwerung ür die nicht begünstigte Konkurrenz). Dies wiederum ist dann der Fall, wenn das begünstigte Unternehmen in andere Mitgliedstaaten exportiert (unmittelbare Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten) oder in Drittstaaten exportiert, in die ebenfalls Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten aus ühren (mittelbare Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten) oder zwar allein auf dem nationalen Markt tätig ist, mit seinen auf diesem angebotenen Produkten jedoch im Wettbewerb mit Erzeugnissen von Herstellern aus anderen Mitgliedstaaten steht (Erschwerung des Marktzugangs ür Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten). Die nordrhein-west älische Stadt D zahlte über einen Zeitraum von 35 Jahren an den privaten Betreiber des auf ihrem Gebiet errichteten Schwimmbads jährlich einen Zuschuss i.H.v. ca. 1 Mio. Euro. Genutzt wurde das Bad gleichermaßen zum Schul- und Vereinsschwimmen sowie zu vertretbaren Kosten ebenfalls als Freizeitbad von Einheimischen sowie Besuchern aus der Region. Eine Beeinträchtigung des innerunionalen Handels hat die Kommission (Schreiben vom 12. Januar 2001, Staatliche Beihilfe Nr. N 258/ 2000 - Freizeitbad Dorsten) in diesem Fall nicht feststellen können, weil der Begünstigte <?page no="294"?> seine Dienstleistung nicht im Ausland erbringen konnte und auch die Nachfrage ür die Inanspruchnahme der Dienstleistung in D als hier relevantem örtlichen Markt keinen grenzüberschreitenden Charakter hatte; die nächste Staatsgrenze liegt etwas weiter entfernt als der Einzugsbereich der Einrichtung. Weil sich die Auswirkungen mehrfacher Wettbewerbsverzerrungen nicht gegenseitig aufheben, sondern vielmehr kumulieren, werden die schädlichen Folgen der von einem Mitgliedstaat bewirkten Wettbewerbsverzerrung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten keinesfalls durch diejenigen der von einem anderen Mitgliedstaat etwaig ebenfalls bewirkten Wettbewerbsverzerrung wieder kompensiert. Sind sämtliche Tatbestandsmerkmale des Beihilfenbegriffs im konkreten Fall er üllt ( 3. Teil 4.1.), so knüpfen die Art. 107 f. AEUV hieran sowohl materiell-rechtliche ( 3. Teil 4.2.1) als auch formell-rechtliche ( 3. Teil 4.2.2) Konsequenzen. In materiell-rechtlicher Hinsicht erklärt Art. 107 Abs. 1 AEUV Beihilfen grundsätzlich ür unvereinbar mit dem Binnenmarkt. 941 Weil Staatsbeihilfen jedoch trotz ihrer wettbewerbsverzerrenden Wirkung ( 3. Teil 4) nicht ausnahmslos negativ zu beurteilen sind, sondern sich unter Umständen durchaus als legitimes Instrument der mitgliedstaatlichen Strukturpolitik zur Erreichung bestimmter wirtschaftlicher oder sozialer Ziele erweisen können (vgl. Art. 121 Abs. 1 AEUV), normiert Art. 107 AEUV kein absolutes Beihilfenverbot. Vielmehr sehen Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV Ausnahmen vom Grundsatz des Art. 107 Abs. 1 AEUV 942 vor, vgl. ferner Art. 108 Abs. 2 UAbs. 3 S. 1 AEUV ( 3. Teil 4.2.2): Während die 941 Zum Verhältnis von Art. 107 Abs. 1 AEUV zu den Grundfreiheiten 3. Teil 1.2.2. 942 I.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV „in den Verträgen […] etwas anderes bestimmt“ ist in Art. 42, 93, 96, 106 Abs. 2, 346 Abs. 1 lit. b) und 347 AEUV. <?page no="295"?> Kommission in den Fällen des Art. 107 Abs. 3 AEUV 943 über ein gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbares Ermessen bezüglich der Vereinbarkeit der dort aufge ührten Beihilfen mit dem Binnenmarkt ver ügt („[a]ls mit dem Binnenmarkt vereinbar können angesehen werden“), 944 „sind“ nach Art. 107 Abs. 2 AEUV Beihilfen mit dem Binnenmarkt vereinbar, wenn eine der dort genannten (Legal-)Ausnahmen vorliegt - wobei der Kommission insoweit allerdings ein gerichtlich lediglich beschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zukommt. Nach Art. 3 der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung 945 sind Beihilferegelungen, Einzelbeihilfen auf der Grundlage von Beihilferegelungen und Ad-hoc-Beihilfen 946 nach Art. 107 Abs. 2 oder 3 AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar, sofern alle Voraussetzungen des Kapitels I dieser Verordnung (z.B. bestimmte Beihilfen ür KMU) sowie ferner die ür die betreffende Gruppe von Beihilfen geltenden Voraussetzungen des Kapitels III er üllt sind, sog. safe haven. Da Art. 107 Abs. 2 AEUV lediglich die von Art. 107 Abs. 1 AEUV angeordnete Rechtsfolge der Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt abändert, jedoch nichts an der Beihilfeneigenschaft der betreffenden Maßnahme ändert, muss diese selbst bei Einschlägigkeit von Art. 107 Abs. 2 AEUV gem. Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV notifiziert werden ( 3. Teil 4.2.2) und unterliegt dem Durch ührungsverbot des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV ( 3. Teil 4.2.2). Nicht nur in den Fällen des Art. 107 Abs. 3 AEUV, sondern ebenfalls in denen des Art. 107 Abs. 2 AEUV bedarf die betreffende Beihilfe daher noch der örmlichen Genehmigung durch die Kommission. 943 In der Praxis wird insoweit zwischen „horizontalen“ (für alle Regionen und Sektoren), „regionalen“ (nur für bestimmte Gebiete) und „sektoralen“ (nur für bestimmte Wirtschaftszweige) Beihilfen differenziert. 944 Um ihre diesbezüglichen Entscheidungen transparent und vorhersehbar (rechtssicher) zu machen, hat die Kommission sie selbst bindende Leitlinien und Gemeinschaftsrahmen erlassen, die als soft law mit Verwaltungsvorschriften des deutschen Rechts vergleichbar sind. Zu Letzteren siehe Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 238 ff. m.w.N. 945 VO Nr. 651/ 2014/ EU der Kommission vom 17.6.2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Art. 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. L 187 vom 26.6.2014, S. 1. 946 Zu diesen Begriffen siehe Art. 1 lit. d) und e) der VO 2015/ 1589/ EU des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. EU L 248 vom 24.9.2015, S. 9. <?page no="296"?> Im Ergebnis steht die mitgliedstaatliche Beihilfengewährung damit unter einem präventiven Verbot mit Erlaubnisbzw. Genehmigungsvorbehalt. 947 Weil bei der diesbezüglichen Prüfung durch die Kommission im Verfahren nach Art. 108 AEUV ( 3. Teil 4.2.2) vielschichtige und raschen Änderungen unterliegende wirtschaftliche Gegebenheiten zu berücksichtigen und zu bewerten sind, ist das in Gestalt eines entsprechenden Kommissionsbeschlusses ( 2. Teil 1.3.3, 3.4 und 5.1) konkretisierungsbedürftige Beihilfenverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV - im Gegensatz zum Durch ührungsverbot des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV ( 3. Teil 4.2.2) - nicht unmittelbar anwendbar und verleiht dem Einzelnen auch kein subjektives Recht. Bevor die Kommission die Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt nicht festgestellt hat, kann sich namentlich vor den deutschen Gerichten ein Einzelner demnach nicht mit Erfolg auf Art. 107 Abs. 1 AEUV berufen ( 2. Teil 1.1.1). In verfahrensrechtlicher Hinsicht unterscheidet Art. 108 AEUV zwischen bestehenden (Abs. 1, 2) und neu einge ührten oder umgestalteten Beihilfen (Abs. 3), wobei die näheren Einzelheiten dieses Beihilfenaufsichtsverfahrens im Wesentlichen in der auf Art. 109 AEUV gestützten sog. Beihilfenverfahrens-Verordnung 948 geregelt sind. Zuständig ür die Beihilfenkontrolle ist hiernach - vorbehaltlich der Nachprüfung durch den Gerichtshof der EU - grundsätzlich die Kommission. Abweichend kann gem. Art. 108 Abs. 2 UAbs. 3 S. 1 AEUV ausnahmsweise der Rat einstimmig auf Antrag eines Mitgliedstaats beschließen, dass eine gewährte oder geplante Beihilfe in Abweichung von Art. 107 AEUV oder von den nach Art. 109 AEUV erlassenen Verordnungen als mit dem Binnenmarkt vereinbar gilt, wenn außergewöhnliche Umstände, d.h. erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten bestimmter Wirtschaftsregionen oder -zweige, einen solchen Beschluss rechtfertigen. Stellt die Kommission fest, nachdem sie den Beteiligten eine Frist zur Äußerung gesetzt hat, dass eine von einem Staat oder aus staatlichen Mitteln gewährte (bestehende) Beihilfe ( 3. Teil 4.1) mit dem Binnenmarkt nach Art. 107 AEUV unvereinbar ist oder dass sie missbräuchlich angewandt wird, so beschließt sie nach Art. 108 Abs. 2 UAbs. 947 Im Gegensatz zum repressiven Verbot mit Befreiungsvorbehalt. Zu beiden siehe in Bezug auf das deutsche Recht: Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 56 m.w.N. 948 VO 2015/ 1589/ EU des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. EU L 248 vom 24.9.2015, S. 9. <?page no="297"?> 1 AEUV, dass der betreffende Staat sie binnen einer von ihr bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat ( 2. Teil 5.2). Kommt der betreffende Staat diesem Beschluss innerhalb der festgesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission oder jeder betroffene Staat in Abweichung von den Art. 258 f. AEUV den Gerichtshof der EU unmittelbar anrufen ( 2. Teil 6.1), siehe Art. 108 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV. Nach Art. 108 Abs. 3 S. 1 AEUV ist - vorbehaltlich sekundärrechtlicher Ausnahmen (z.B. Art. 3 Abs. 1 der De-minimis-Verordnung 3. Teil 4.1.4) - die Kommission von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen ( 3. Teil 4.1) so rechtzeitig zu unterrichten (sog. Notifikation), dass sie sich dazu äußern kann ( 2. Teil 5.2). 949 Ist sie der Auffassung, dass ein derartiges Vorhaben nach Art. 107 AEUV mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist, so leitet sie gem. Art. 108 Abs. 3 S. 2 AEUV unverzüglich das in Art. 108 Abs. 2 AEUV vorgesehene Verfahren ein (s.o.). Nach Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV darf der betreffende Mitgliedstaat die beabsichtigte Maßnahme nicht durch ühren, bevor die Kommission einen abschließenden Beschluss erlassen hat, sog. Durchführungsverbot ( 2. Teil 5.2). Wird eine Beihilfe ohne Notifizierung oder zwar nach dieser aber noch vor Abschluss des Prüfungsverfahrens gewährt, so ist die Beihilfe allein schon aus diesem Grund, d.h. unabhängig von ihrer materiellen Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt nach Art. 107 AEUV, (formell) rechtswidrig - ohne dass die Möglichkeit einer rückwirkenden Heilung (ex tunc) bestünde. Die Kommission kann in einem solchen Fall dem betreffenden Mitgliedstaat nicht nur aufgeben, die Beihilfe bis zu einer Entscheidung über deren Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt auszusetzen (Aussetzungsanordnung nach Art. 12 Abs. 1 der Beihilfenverfahrens-Verordnung), sondern zudem auch einstweilig zurückfordern, wenn nach geltender Praxis keinerlei Zweifel hinsichtlich des Beihilfecharakters der betreffenden Maßnahme bestehen, ein Tätigwerden dringend geboten ist und ein erheblicher und nicht wiedergutzumachender Schaden ür einen Konkurrenten ernsthaft zu be ürchten ist (Rückforderungsanordnung nach Art. 12 Abs. 2 der Beihilfenverfahrens-Verordnung). 949 Aus deutscher Sicht ist stets allein der Bund als Mitgliedstaat der EU anmeldebefugt, auch wenn die Beihilfe etwa von einem Bundesland oder einer Gemeinde stammt. <?page no="298"?> Ohne der Kommission dies zuvor mitgeteilt zu haben, hat Mitgliedstaat M dem Unternehmen U einen verlorenen Zuschuss bewilligt und ausbezahlt. Nachdem Konkurrent K hiervon durch Zufall erfahren hatte, erhob er wenige Monate später beim zuständigen deutschen Verwaltungsgericht (Dritt-)Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO gegen den Subventionsbewilligungsbescheid und stellte zugleich - im Wege der objektiven Klagehäufung nach § 44 VwGO - einen auf vorläufige Subventionsrückforderung gerichteten Annexantrag nach § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO. Ist K überhaupt klagebefugt nach § 42 Abs. 2 VwGO? Ja. Das nach § 42 Abs. 2 VwGO mangels anderweitiger gesetzlicher Bestimmung erforderliche subjektiv-öffentliche Recht des K ergibt sich vorliegend aus Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV, der eine klare und unbedingte Verpflichtung der Mitgliedstaaten begründet, ohne dass es zu ihrer Durch ührung weiterer Maßnahmen bedürfte. Daher ist diese Vorschrift im Verhältnis des Einzelnen zum jeweiligen Mitgliedstaat unmittelbar anwendbar - und zwingt die mitgliedstaatlichen Gerichte zur inzidenten Prüfung, ob ihre tatbestandlichen Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen (v.a.: „Beihilfe“ i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV 3. Teil 4.1). Auch vermittelt Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV Marktteilnehmern wie K, die mit dem Beihilfeemp änger (vorliegend: U) zumindest potentiell im Wettbewerb stehen, Ansprüche gegen den Subventionsgeber (hier: M) auf verzinste Rückforderung, d.h. ein dahingehendes subjektiv-öffentliches Recht, dass eine entgegen dem Durch ührungsverbot des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV ausbezahlte Beihilfe vorläufig zurückgezahlt werden muss - und dies ür die Dauer ihrer Rechtswidrigkeit mit Zinsen. 950 Gelangt die Kommission nach erfolgter Prüfung der formell rechtswidrigen Beihilfe zu dem Schluss, dass diese mit dem Binnenmarkt unvereinbar, d.h. ebenfalls materiell rechtswidrig, ist, so entscheidet sie gem. Art. 16 Abs. 1 S. 1 der Beihilfenverfahrens-Verordnung, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Emp änger zurückzufordern (etwa nach §§ 48, 49a VwVfG 951 ). 952 Die nach einer solchen Rückforde- 950 Über seine Eigenschaft als subjektiv-öffentliches Recht i.S.v. § 42 Abs. 2 VwGO hinaus handelt es sich bei Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV zudem um ein Verbotsgesetz i.S.v. § 134 BGB (s.u.), um ein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB sowie um eine Marktverhaltensregelung i.S.v. § 3a UWG. 951 Bzw. der korrespondierenden Vorschriften des jeweiligen Landes-VwVfG. Entsprechend gilt auch für alle weiteren der nachfolgend genannten Bestimmungen des VwVfG. <?page no="299"?> rungsentscheidung (Verjährungsfrist nach Art. 17 Abs. 1 der Beihilfenverfahrens-Verordnung: 10 Jahre) zurückzufordernde Beihilfe umfasst gem. Art. 16 Abs. 2 S. 1 der Beihilfenverfahrens-Verordnung ebenfalls Zinsen, die nach einem von der Kommission festgelegten angemessenen Satz berechnet werden. Diese Zinsen sind nach Art. 16 Abs. 2 S. 2 der Beihilfenverfahrens-Verordnung von dem Zeitpunkt, ab dem die rechtswidrige Beihilfe dem Emp änger zur Ver ügung stand, bis zu ihrer tatsächlichen Rückzahlung zu zahlen. Gem. Art. 16 Abs. 3 der Beihilfenverfahrens-Verordnung erfolgt die Rückforderung unverzüglich und nach den Verfahren des betreffenden Mitgliedstaats (z.B. dem VwVfG 953 ), sofern hierdurch die sofortige und tatsächliche Vollstreckung der Kommissionsentscheidung ermöglicht wird (effet utile, vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV 2. Teil 5.2). Insofern hat der betreffende Mitgliedstaat alle in seiner Rechtsordnung ver ügbaren erforderlichen Schritte - einschließlich vorläufiger Maßnahmen - zu ergreifen (z.B. Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO 954 ); mit dem Binnenmarkt vereinbar, d.h. materiell rechtmäßig, ist, so besteht der nicht gerechtfertigte Vorteil ihres Emp ängers in der Nichtzahlung von Zinsen auf den Beihilfenbetrag, die er gezahlt hätte, wenn er sich diesen bis zum Erlass der Kommissionsentscheidung auf dem Markt hätte leihen müssen, sowie in der Verbesserung seiner Wettbewerbsposition gegenüber den anderen Marktteilnehmern während der Dauer der (formellen) Rechtswidrigkeit. Demgemäß haben die nationalen Behörden und Gerichte dem Beihilfenemp änger nur aufzugeben, ür diese Dauer (Rechtswidrigkeits-)Zinsen zu zahlen. Eine darüber hinausgehende Verpflichtung zur Anordnung der Rückzahlung der gesamten rechtswidrigen Beihilfe besteht nach dem EU-Recht dagegen nicht. Folglich hat der BGH - entgegen seiner früheren Rechtsprechung (EuZW 2003, S. 444; 2004, S. 252; RIW 2008, S. 302; 2013, S. 164) - mit Urteil vom 5. Dezember 2012 (RIW 2013, S. 557) ür Recht erkannt, dass das bei der Durchsetzung des Durch ührungsverbots des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV maßgebliche deutsche Recht eine über das Unionsrecht hin- 952 Abweichend von diesem Grundsatz verlangt die Kommission nach Art. 16 Abs. 1 S. 2 der Beihilfenverfahrens-Verordnung dann nicht die Rückforderung der Beihilfe, wenn dies gegen einen allgemeinen Grundsatz des EU- Rechts verstoßen würde ( 2. Teil 1.1.3). 953 Zur unionsrechtlichen Überformung (Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz) insbesondere von § 48 VwVfG siehe Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 321 m.w.N. und 2. Teil 5.2. 954 Hierzu siehe Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 543 m.w.N. <?page no="300"?> ausgehende Gesamtnichtigkeit von Kaufverträgen (Folge: § 812 Abs. 1 BGB), deren Kaufpreisvereinbarung Beihilfenelemente enthält, nicht generell gebietet. Vielmehr lasse sich die durch einen wegen nicht notifizierter Beihilfengewährung zu niedrigen Kaufpreis hervorgerufene Wettbewerbsverzerrung bereits durch eine Anpassung des Kaufpreises nach § 134 BGB (ggf. i.V.m. § 59 Abs. 1 VwVfG bei öffentlich-rechtlichen Verträgen i.S.v. § 54 VwVfG) erreichen, wobei ür die Kaufpreisdifferenz Zinsen ab dem tatsächlichen Vollzug des Kaufvertrags zu leisten seien, i.d.R. also ab Übergabe der Kaufsache. 955 Und auch wenn die formell rechtswidrige Beihilfe auf Basis eines Verwaltungsakts (§ 35 S. 1 VwVfG) gewährt worden ist, so hat der Verstoß gegen das Durch ührungsverbot des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV nicht die Nichtigkeit nach § 44 Abs. 1 VwVfG zur Konsequenz. Vielmehr muss der beihilfegewährende Verwaltungsakt, welcher ür die Dauer seiner Rechtswirksamkeit (§ 43 VwVfG) einen selbstständigen Grund (causa) ür die Leistung der Beihilfe und damit das Recht, sie behalten zu dürfen, bildet, durch die Behörde (namentlich nach § 48 VwVfG) oder auf Klage hin durch ein Gericht (siehe § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO) im Umfang seiner Rechtswidrigkeit aufgehoben und insoweit die Beihilfe(-leistung) nach § 49a Abs. 1 VwVfG durch Verwaltungsakt zurückgefordert werden. 955 Hierzu siehe Wienbracke, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 118 m.w.N. <?page no="302"?> Abgabe gleicher Wirkung 191 acquis communautaire 17, 182 Adam Smith 140 Åkerberg Fransson 263 Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung 296 Allgemeine Rechtsgrundsätze des EU-Rechts 38 Allgemeines Diskriminierungsverbot 153, 217, 232 Allgemeines Freizügigkeitsrecht 153, 218 Allgemeines Verwaltungsrecht der EU 40, 112 Almunia-Paket 289 Altmark Trans 288 Amtshaftungsklage 129 Analogie 46 ANETT 200 Angonese 187 Ansässigkeit 159 Antiterrordateigesetz 263 Anwendungsbereich der Verträge 236 Anwendungsvorrang 57 Äquivalenzgebot 67, 116 Arbeitnehmer 167 Arbeitnehmerfreizügigkeit 141, 178 Assoziierung 15 Aufnahmemitgliedstaat 184 Aufsichtsklage 122 ausbrechender Rechtsakt 93 Ausländerklausel 188 Auslegung des EU-Rechts 54 primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts 34, 55 Auslegung des nationalen Rechts europarechtskonforme Auslegung 58 richtlinienkonforme Auslegung 46, 59 Auslegungsmonopol 131 Auslegungsvorlage 136 Ausschuss der Regionen 69 Ausübung öffentlicher Gewalt 156 Basisrechtsakt 33, 107 Bauernprotest 186 Baumbast 231 Beamte 167 Begründungspflicht 93, 111 Beihilfe 153, 285 Beihilfenäquivalent 287 Beihilfenaufsicht 297 Beihilfenverbot 295 Beihilfenverfahrens-Verordnung 297 Beitrittsabkommen 15 Beitrittsverfahrens 16 Benchmarking 289 Bereichsausnahme 154 Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung 155 <?page no="303"?> Beschlüsse 53 Beschränkungen 189, 197 Beschränkungsverbot 195, 226, 245 besonderes Gesetzgebungsverfahren 105 Bestandssicherungsklausel 23 Bestimmungslandprinzip 193 Bickel und Franz 223 Bietverfahren 287 Bilaterale Verträge I 158 Binnenmarkt 139, 284 Bosman 188, 190 Brasserie du pêcheur 66 BREXIT 20 Brückenklausel 22, 104 Brückentheorie 31, 60 Bundesstaat 31 Bundestreue 119 Cartesio 161 Cassis de Dijon 205 Centros 169 CMA 184, 292 Corsten 197 Daily Mail 161 Dassonville 196 David Ricardo 140 delegierte Rechtsakte 33 De-minimis-Verordnung 293 Demokratie 15 Demokratiedefizit 76 deutscher Ratsvertreter 81 DEXIT 18 Dienstleistung 170 Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse 288 Dienstleistungsfreiheit 141, 178 aktive 179 auslandsbedingte 179 Korrespondenzdienstleistung 179 passive 179, 180, 219 directive override 29 direkter Vollzug des EU-Rechts 110 Direktinvestitionen 177 Direktklagen 121 Diskriminierung 189, 193, 225, 245 offen 193 versteckte 194 Diskriminierungsverbot 193, 214, 242 Drei-Elemente-Lehre 31 Drittstaatsangehörige 159, 221, 234 Drittwirkung 188 Drogen 164 DSGVO 43 dualistische Theorie 28 Durch ührung des Rechts der Union 261 Durch ührungsbestimmungen 228 Durch ührungsrechtsakte 33 Durch ührungsverbot 298 Durchgriffswirkung 43 EAG 13 Effektivitätsgebot 68, 117 effet utile 45, 50, 56, 94, 164 EFTA 33, 191 <?page no="304"?> Egenberger 265 EGKS 13 EGMR 87 Eigenverwaltung der EU 110 Einheimischen-Modell 222 Einheitliche Europäische Akte 14 Einrichtungen der EU 69 EMRK 33, 41, 251, 256, 276 Enumerationsprinzip 88 EU-Ausschluss 22 EU-Austritt 18, 183 EU-Beitritt 15, 182 EuG 87 EuGH 87 EuGH als gesetzlicher Richter 133 EU-Organe Sitz 70 Sprachen 70 EURATOM 13 Europa der Bürger 215 Europa-Artikel 22 Europäische Verteidigungsgemeinschaft 14 Europäischer Bürgerbeauftragter 216 Europäischer Rat 77 Europäischer Verfassungsvertrag 14 Europäischer Verwaltungsverbund 109 Europäisches Parlament 73 Europarat 77 Europarecht i.e.S. 33 Europarecht i.w.S. 33 Eurozone 18 EWG 13 Ewigkeitsgarantie 23 EWR 33 EWR-Abkommen 158 Fachgericht 87 Flexibilitätsklausel 96 Flucht ins Privatrecht 184 Francovich 66 Freihandelszone 191 Freizeitbad Dorsten 294 Freizügigkeits-Richtlinie 218, 227, 228, 232 Friedenssicherung 13 Fusionsvertrag 14 GATT 41, 191 Gebhard 205 Gebühren 192 Geltungsvorrang 35, 57 Gemeinsamer Zolltarif 191 Gericht 87 Gericht ür den öffentlichen Dienst der EU 87 Gerichtshof der Europäischen Union 87 Geschichte der EU 15 Gesellschaften 161 Gesetzesinitiative 106 Gesetzesvorbehalt 275 Gesetzgebungsakte 104 Gesetzgebungsverfahren 104 Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 72 Gleichheit 15 Gleichheitsgrundrechte 251 <?page no="305"?> grenzüberschreitender Sachverhalt 172 Groenveld 196 Grundfreiheiten 141 Grundrechte 38, 62, 82 Grundrechte-Charta der EU 38 Grundrechtsschutz 27 Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens 119 Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung 92 Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 40 Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit 101, 116 Grundsätze i.S.d. EU-GrCh 258 Guilliotine-Klausel 158 Gültigkeitsvorlage 136 Haftung der Mitgliedstaaten ür Verstöße gegen das EU-Recht 66 Hauptniederlassung 163 Hauptverwaltung 163 Herkunftslandprinzip 196 Herkunftsmitgliedstaat 184 Herren der Verträge 32, 91 Hoher Vertreter der Union ür Außen- und Sicherheitspolitik 69 Horizontalwirkung 188 Identitätskontrolle 61 implied powers 95 indirekter Vollzug des EU-Rechts 113 Initiativmonopol 83 Initiativrecht 76 Inländerdiskriminierung 57, 174, 222, 236 Inländergleichbehandlung 242 inländische Abgaben 192 innerstaatlicher Vorgang 172 Integrationsschranke 23 Ioannina-Mechanismus 82 Jean Monnet 13 juristische Personen 160, 266 Kapitalverkehr 171 Kapitalverkehrsfreiheit 141, 179 Keck 198, 199 Kernbereich der Unionsbürgerschaft 222 Komitologie 110 Kommission 83 Kompetenz 93 Kompetenzarten 98 Kompetenzausübungsregel 101 Kompetenzausübungsschranke 26 Kompetenz-Kompetenz 32, 91 Kompromiss von Ioannina 82 Konvergenz der Grundfreiheiten 142 Kooperationsverhältnis 63 Kopenhagen-Kriterien 16 Ladenschlusszeiten 199 Länderblindheit der EU 25 Leistungssubvention 286 lex posterior 29, 36 lex specialis 29, 36 lex superior 29, 35, 57 Lückenschließungsklausel 96 Luxemburger Kompromiss 82 <?page no="306"?> Marktfreiheiten 141 Marktgegenseite 180 Marktpreis 287 Marktzugang 195 Marktzugangsbeschränkung 198 Meistbegünstigungsprinzip 191 Melloni 258 Menschenrechte 15 Meroni-Doktrin 70 Minderheitenschutz 15 Mindestharmonisierung 151 Missbrauch 169, 269 Mitgliedstaaten 14, 184 mittelbarer indirekter Vollzug des EU-Rechts 113 Monnet-Methode 14 Montanunion 13 more economic approach 285 nationale Identität der Mitgliedstaaten 101 negative Integration 141 Nettomehrkosten 288 Nichtigkeitsklage 125 Niederlassung 168 Niederlassungsfreiheit 141, 178 Normenpyramide 33 Notbremsemechanismus 107 Notifizierung 298 objektive Vergleichbarkeit 204 öffentliche Gesundheit 203 öffentliche Ordnung 202 öffentliche Sicherheit 202 ökonomische Analyse des Rechts 56 OMT-Beschluss 60, 65 opt out-Klausel 261 ordentliches Gesetzgebungsverfahren 104 Organe der EU 69 Organklage 125 Organkompetenz 71, 103 OSZE 33 Paneuropäische Bewegung 13 Pauschalbetrag 125 Pfleger 263 Plaumann 127 ponderierter Schlüssel 76 Portfolioinvestitionen 177 positive Integration 141 pouvoir constituant 23 pouvoir constitué 23 praktische Konkordanz 36, 148, 154, 188, 283 Primärrecht 33, 36 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 32, 60 Prinzip der beweglichen Vertragsgrenzen 181 Prinzip der gegenseitigen Anerkennung 196 Private 187 private investor-Test 287 privilegierte Kläger 125 produktbezogenene Maßnahme 199 Protektionismus 139 Rat 77, 79 Recht auf Aufenthalt 225 Rechte im Aufenthalt 225 <?page no="307"?> Rechtsakte 92, 103 Rechtsanwendungsbefehl 23, 60 Rechtsetzung 91 Rechtsetzungskompetenz 93 Rechtsetzungskompetenzen der EU 94 Rechtsetzungsverfahren 103 Rechtsfortbildung 40, 46, 59 Rechtskraft 120 Rechtsnatur der EU 28 Rechtsquellen des EU-Rechts 33 Rechtsschutzsystem der EU 120 Rechtsstaatlichkeit 15 Rechtsstaatsverfahren 21 Rechtsverordnung 43 Reinheitsgebot ür Bier 175 Reservekompetenz des BVerfG 64 Richtlinien 45 mittelbare horizontale Drittwirkung 52 objektive unmittelbare Wirkung 53 überschießende Umsetzung 46, 64 unmittelbare Wirkung 45, 50 Vorwirkung 48 Robert Schuman 13 Rückkehrer-Fälle 236 satzungsmäßiger Sitz 163 Sayn-Wittgenstein 230 Schadensersatzklage 129 Schempp 241 Schmidberger 212 Schranken 201 Schraubenzieherfabrik 166 Schulgeld 219 Schutzpflicht 185, 271 Schweiz 158 Schwellenwerte 293 Sekundärrecht 33, 42 Selektivität 289 Solange I 64 Solange II 31, 62, 64 Solange III 62 sonstige Stellen der EU 69 Souveränität 32 spill over-Effekt 14 Sport 171 Sprachen 54 Staat 31 Staatenbund 31 Staatenklage 122, 125 Staatenverbund 32 Staatsangehörigkeit 158, 215 Staatsgebiet 32 Staatsgewalt 32 Staatshaftung nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG 67 Staatsvolk 31 Staatszielbestimmung 22 Stauder 249 Steuer 290 Struktursicherungsklausel 24 subjektives Recht 37, 41, 44, 146, 217, 297 Subsidiaritätsgrundsatz 25 Subsidiaritätsklage 26 Subsidiaritätsprinzip 101 Subsidiaritätsprotokoll 26 Subsidiaritätsrüge 26 <?page no="308"?> Supranationalität der EU 30 Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten 20 Tanja Kreil 34 Taricco II 66 Tertiärrecht 33, 107 Transferklausel 256 Transferregeln 190 Transformationsakt 28 treaty override 29 Türkei 41 Überseering 162 ultra-vires 31, 60, 64, 94, 263 Ungleichbehandlung 204 Unionsbürger 215 Unionsbürgerschaft 216 unionsexterner direkter Vollzug des EU-Rechts 109 Unionsgrundrechte 147, 208, 213, 248 unionsinterner direkter Vollzug des EU-Rechts 109 unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch 49 Unionstreue 118 Unionsware 165 unmittelbare Anwendbarkeit 37, 41 unmittelbare Geltung bzw. Wirkung des EU-Rechts 30 unmittelbarer indirekter Vollzug des EU-Rechts 113 Untätigkeitsklage 129 Unterlassen 185 VALE 162, 169 van Binsbergen 205 Verbandskompetenz 71, 92 Vereinigte Staaten von Europa 13 Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten 115 Verfassung der EU 37 Verfassungsbeschwerde 24, 132 Verfassungsidentität 23, 31, 61, 64, 263 Verhältnis des EU-Rechts zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten 57 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 102, 209, 230, 247, 277 Verkaufsmodalitäten 198 verlorener Zuschuss 286 Verordnungen 43 Verschonungssubvention 286 Vertrag von Amsterdam 14 Vertrag von Lissabon 14 Vertrag von Maastricht 14 Vertrag von Nizza 14 Vertragsabrundungsklausel 95 Vertragsänderung 14, 32 Vertragsergänzungsklausel 96 Vertragsverletzungsklage 122 vertriebsbezogene Maßnahmen 199 Verwaltung 112 Verwaltungsvorschriften 45 Verwerfungsmonopol 131 völkerrechtliche Verträge 28 völkerrechtliche Verträge der EU 33, 41 Vollharmonisierung 151 Vollstreckung 121 <?page no="309"?> Vollzug des EU-Rechts 109 Vorabentscheidungsverfahren 131 Vorfeldmaßnahme 20 vorläufiger Rechtsschutz 119, 122 Vorrang des EU-Rechts 30 Wahlrecht 216 Wahlrechtsgleichheit 75 Walrave 240 Waren 164 Warenursprung 165 Warenverkehrsfreiheit 141, 178 Werte der EU 15 Wettbewerbsrecht 284 Wettbewerbsver älschung 292 willkürliche Diskriminierung 204 Winston Churchill 13 wirtschaftliche Gründe 206 Wirtschafts- und Sozialausschuss 69 WTO-Recht 41 Zahlungsverkehr 172 Zahlungsverkehrsfreiheit 141 Zhu und Chen 221 Ziele der EU 14, 139 Zoll 191 Zollunion 191 Züricher Rede 13 Zuständigkeit 98 Zustimmungsgesetz 23 Zustimmungsverfahren 105 Zwangsgeld 125 zwingende Gründe des Allgemeinwohls 205, 230 <?page no="310"?> Der clevere Semester-Planer www.utb.de Schon wieder einen Geburtstag vergessen, im falschen Prüfungsraum gesessen oder die besten Freunde versetzt? Dann ist dieser praktische Kalender im DIN A1- Format die Rettung! Mein Studi-Planer ist ein Jahresplaner speziell für Studierende, der ihnen bei der Organisation ihres Studiums und Alltags hilft. Der Kalender teilt sich in Winter- und Sommersemester auf und enthält für beide Semester je einen Stunden- und Prüfungsplan. Er erleichtert das Management von Prüfungs- und Abgabeterminen, Bücherleihfristen, Gruppentreffen, Freizeitaktivitäten u.v.m. Durch viele Motiv-Aufkleber können Studierende ihren Planer individualisieren. Mit diesem Kalender gehören verschleppte Aufgaben und versäumte Termine definitiv der Vergangenheit an. Mein Studi-Planer A1-Poster für Wintersemester und Sommersemester. Erhältlich im utb-Shop und im Buchhandel. <?page no="311"?> www.utb-shop.de REISEFÜHRER FÜR DAS ABENTEUER STUDIUM Rödiger Voss Studi-Coach: Studieren für Anfänger 2015, 188 Seiten, Broschur ISBN 978-3-8252-4499-6 Zeit ist knapp. Das ist Studierenden nur allzu bewusst. Besonders zu Beginn des Studiums ist es deswegen durchaus knifflig, das Lernen und Leben unter einen Hut zu bekommen. Dieser erfolgreiche Ratgeber zeigt nun in der 2., überarbeiteten Auflage Methoden auf, die genau dabei helfen. Dazu zählen das Zeitmanagement sowie Lese-, Lern- und Ordnungstechniken. Darüber hinaus verrät das Buch auch, wie Studierende ihre Ernährung sinnvoll gestalten können und welche wichtige Rolle das Social Media beim Selbstmarketing spielen kann.