Einführung in die Entwicklungsökonomik
0607
2021
978-3-8385-5120-3
978-3-8252-5120-8
UTB
Isabel Günther
Kenneth Harttgen
Katharina Michaelowa
In den letzten Jahren haben sich viele Länder schnell entwickelt, andere scheinen in der Armut zu versinken. Und auch innerhalb der Länder gibt es große Unterschiede zwischen Arm und Reich. Diese Einführung geht den Ursachen hierfür auf den Grund.
Aus Sicht der Entwicklungsökonomik zeigen Isabel Günther, Kenneth Harttgen und Katharina Michaelowa Möglichkeiten auf, Entwicklung positiv zu beeinflussen, und diskutieren zukünftige Herausforderungen. Ausgewählte Themen dieser Einführung in die Entwicklungsökonomik sind Armut und Ungleichheit, wirtschaftliche Entwicklung, Staat und Politik, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Bevölkerungswachstum, Bildung und Gesundheit, Umwelt, Globalisierung und Internationale Zusammenarbeit.
Das Buch richtet sich an Studierende der Ökonomie und Politik.
<?page no="0"?> Isabel Günther Kenneth Harttgen Katharina Michaelowa Einführung in die Entwicklungsökonomik <?page no="1"?> utb 5120 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Isabel Günther ist Professorin für Entwicklungsökonomik an der ETH Zürich. Sie möchte mit Forschung und Lehre zur Bekämpfung globaler Ungleichheiten beitragen und die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis stärken. Sie hat in Benin, Burkina Faso, Deutschland, Ghana, Kenia, Schweiz, Süd-Afrika, Uganda und den USA geforscht und unterrichtet. Kenneth Harttgen ist Senior Scientist am Lehrstuhl für Entwicklungsökonomik der ETH Zürich. Sein Forschungsinteresse gilt der Messung von Armut und Ungleichheit sowie der Analyse von globaler Kindergesundheit und Bevölkerungsdynamiken. Er hat für verschiedene internationale Organisationen als Berater gearbeitet, unter anderem für die FAO, die UN und die Weltbank. Katharina Michaelowa ist Professorin für Entwicklungspolitik an der Universität Zürich. Dabei interessiert sie sich besonders für das Zusammenspiel von Interessen und Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene und deren Rolle bei der Bekämpfung der globalen Armut. Ihre regionalen Forschungsschwerpunkte liegen im frankophonen Afrika und in Südasien (Indien, Bangladesch). <?page no="3"?> Isabel Günther, Kenneth Harttgen, Katharina Michaelowa Einführung in die Entwicklungsökonomik UVK Verlag · München <?page no="4"?> © UVK Verlag 2021 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr.: 5120 ISBN 978-3-8252-5120-8 (Print) ISBN 978-3-8385-5120-3 (ePDF) Umschlagabbildung: © i_am_zews · shutterstock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 11 13 1 18 1.1 18 1.2 22 1.3 28 1.3.1 28 1.3.2 33 1.3.3 36 1.3.4 37 1.3.5 39 1.4 40 1.4.1 40 1.4.2 41 1.4.3 43 1.5 45 1.5.1 46 1.5.2 51 1.5.3 53 1.5.4 55 58 2 62 2.1 63 2.1.1 63 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armut und Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globale Armut in Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verständnis von Armut im Wandel der Zeit . . . . . . . Wer ist „arm“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Einkommen zur ökologischen Nachhaltigkeit . . . . . Ab wann gilt man als arm? Absolute und relative Armut 1,90 $ pro Tag - genug zum Leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armutsrate, Armutslücke, Armutsintensität . . . . . . . . . . . Armut bedeutet fehlende Freiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neue Geografie der Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Asien nach Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arme leben nicht nur in armen Ländern . . . . . . . . . . . . . . Vom Land in die Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armut - eine Frage der Verteilung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie wird Ungleichheit gemessen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungleichheit in und zwischen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . Ist die globale Ungleichheit gestiegen? . . . . . . . . . . . . . . . . Ist globale Ungleichheit ungerecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Welt über die letzten 2000 Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2.1.2 64 2.1.3 69 2.1.4 72 2.2 76 2.3 83 2.3.1 83 2.3.2 87 2.4 94 2.4.1 94 2.4.2 96 2.4.3 99 2.5 100 105 3 110 3.1 110 3.2 115 3.2.1 116 3.2.2 119 3.2.3 122 3.2.4 123 3.3 125 3.4 128 3.5 132 3.5.1 134 3.5.2 137 3.6 139 146 Wie misst man wirtschaftliche Entwicklung? . . . . . . . . . . Was ist ein Entwicklungsland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was bedeutet (nachhaltiges) Wirtschaftswachstum? . . . . Reduziert Wachstum die Armut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wachstumstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trinität aus Arbeit, Kapital und Technologie . . . . . . . . . . Solow und die abnehmende Grenzproduktivität . . . . . . . . Wachstumsempirie und ihre Kontroversen . . . . . . . . . . . . Konvergenz oder Divergenz der Einkommen? . . . . . . . . . Regierungsführung oder Geografie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endogene Wachstumstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitslosigkeit und technologischer Fortschritt . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staat, Gesellschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wenn Staatlichkeit an sich gefährdet ist: Fragile Staaten und Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftspolitische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigentumsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Güter und externe Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . Verhindern von Marktmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaftspolitische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korruption und Klientelismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum fällen Regierungen in armen Ländern oft ineffiziente Entscheidungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Selektoratsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Modelle der politischen Optimierung . . . . . . . . . . Entwicklung durch Demokratie oder Diktatur? . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 <?page no="7"?> 4 149 4.1 149 4.2 153 4.3 160 4.3.1 160 4.3.2 161 4.3.3 167 4.4 171 4.4.1 171 4.4.2 175 4.4.3 178 4.5 185 4.5.1 185 4.5.2 189 192 5 196 5.1 196 5.2 203 5.3 207 5.4 210 5.5 212 5.5.1 212 5.5.2 215 5.6 219 5.6.1 219 5.6.2 225 5.6.3 229 231 Wirtschafts- und Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Ausgaben haben Staaten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arme Bürger, arme Staaten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulden, Schuldenkrise und Schuldenerlass . . . . . . . . . . Schulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schuldenkrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Umschuldung zum Schuldenerlass . . . . . . . . . . . . Armutsbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Grundeinkommen für die Armen? . . . . . . . . . . . . . . . . Kredite und Versicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Makroökonomische Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen und Herausforderungen von Inflation . . . . . . . Flexible oder feste Wechselkurse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bevölkerung, Bildung und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Acht Milliarden Menschen und noch mehr? . . . . . . . . . . . Warum haben arme Familien mehr Kinder? . . . . . . . . . . . Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht Bevölkerungspolitik einen Unterschied? . . . . . . . . Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehr Schule führt nicht immer zu mehr Wissen . . . . . . . Lohnen sich staatliche Bildungsinvestitionen? . . . . . . . . . Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterblichkeit, Krankheiten und Unterernährung . . . . . . . . Warum sterben Menschen immer noch an Malaria? . . . . Gesundheit und Wirtschaftswachstum . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 6 238 6.1 238 6.1.1 239 6.1.2 240 6.2 243 6.2.1 243 6.2.2 248 6.2.3 250 6.3 254 6.3.1 255 6.3.2 259 6.3.3 260 6.4 264 6.4.1 264 6.4.2 266 6.4.3 268 6.4.4 269 272 7 276 7.1 277 7.2 282 7.3 283 7.4 289 7.4.1 289 7.4.2 294 7.5 296 7.5.1 296 7.5.2 300 7.6 303 7.7 308 7.7.1 309 Umwelt und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Eigenschaften von Umweltgütern . . . . . . . . . . . . Die Tragik der Allmende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umweltexternalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokale, nationale und globale Umweltprobleme . . . . . . . . Nationale Umweltprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exportierte Umweltprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzüberschreitende und globale Umweltprobleme . . . . Umweltschutz und Entwicklung: ein Zielkonflikt? . . . . . Komplementäre Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfligierende Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen im Entwicklungsprozess . . . . . . . . . . . . . . Nachhaltige Lösungen finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technologische Entwicklung und Information . . . . . . . . . Staatliche Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marktlösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polyzentrische Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globalisierung im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationaler Handel in Zahlen 1970-2015 . . . . . . . . . . . Was sind die Gründe für internationalen Handel? . . . . . . Handel und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exportpessimismus: Fluch der natürlichen Ressourcen? . Zusammenhang zwischen Handel, Wachstum und Armut Handelspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Importsubstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exportorientierte Handelsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fairer Handel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie hat sich die internationale Migration verändert? . . . Inhalt 8 <?page no="9"?> 7.7.2 312 7.7.3 315 7.7.4 317 318 8 323 8.1 324 8.2 329 8.2.1 329 8.2.2 333 8.2.3 336 8.3 340 8.4 344 8.4.1 345 8.4.2 347 8.4.3 349 8.4.4 350 8.4.5 352 8.4.6 356 8.5 357 8.5.1 357 8.5.2 359 8.5.3 361 363 369 375 377 381 Warum migrieren Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind die Folgen von Migration? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Architektur der globalen Migrationspolitik . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationale Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit . . . . . . . . . Entwicklungszusammenarbeit heute . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Zahlen und Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Neue“ Geber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Neue“ Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reduziert Entwicklungszusammenarbeit Armut? . . . . . . . Was sind die Herausforderungen einer effektiven Entwicklungszusammenarbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu wenig Geld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigeninteresse anstatt Altruismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlende Politikkohärenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentierung der Geber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlechte Regierungsführung und Korruption? . . . . . . . . Zu komplex? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit . . . . . . . . Entwicklungszusammenarbeit: ein Auslaufmodell? . . . . . Globale öffentliche Güter - der neue Fokus? . . . . . . . . . . . „Big Data“ und Wissensmakler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Boxverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> Danksagung Dieses Buch hat drei Autoren, jedoch ist es das Produkt der Zusammenarbeit von vielen Lehrenden und Lernenden, von denen wir im Folgenden nur einige stellvertretend namentlich erwähnen können. Herzlichen Dank an alle für die großartige Unterstützung, die wir über die letzten zwei Jahre erhalten haben! Ein ganz besonderer Dank gilt Leonie Hensgen, wissenschaftliche Mitarbeiterin der ETH Zürich, Zentrum für Entwicklung und Zusammen‐ arbeit (NADEL), die von Anfang an das Projekt redaktionell und inhaltlich hervorragend begleitet hat. Wichtig für die Entstehung des Buches war Valérie Baldinger, die als studentische Assistentin an der Universität Zürich unsere ersten Kapitel nicht nur einheitlich formatiert, sondern durch die Erstellung vieler Gra‐ fiken und den Entwurf verschiedener Boxen auch inhaltlich zum Buch beigetragen hat. Unverzichtbar für die erfolgreiche Fertigstellung des Buches war Kath‐ rin Durizzo. Sie hat als wissenschaftliche Assistentin der ETH Zürich, Zentrum für Entwicklung und Zusammenarbeit (NADEL), im letzten Jahr alle Grafiken und Tabellen erstellt, unermüdlich nach den neuesten Daten recherchiert und dem Buch den letzten formalen Schliff gegeben. Unsere Kolleginnen und Kollegen Paula Castro, Axel Dreher, Gün‐ ther Fink, Andreas Fuchs, Ulrike Grote, Roland Hodler, Krisztina Kis-Katos, Stephan Klasen, Stefan Klonner, Axel Michaelowa und Rainer Thiele haben sich die Zeit genommen, um eine erste Version der Kapitel zu kommentieren und sie mit uns während eines Workshops im Jahr 2018 zu diskutieren. Diese Kommentare haben erheblich zur inhaltlichen Ausrichtung des Buches beigetragen. Hierfür ein herzliches Dankeschön! Insbesondere Andreas Fuchs sind wir zu großem Dank verpflichtet. Er hat eine Vorfassung des Buches im Herbstsemester 2018 bereits in seinem Unterricht an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg getestet und uns im Anschluss umfassende Kommentare zu allen Kapiteln zur Verfügung gestellt. Auch etwa 50 Studierende der Politikwissenschaft an der Universität Zürich und des MAS Entwicklung und Zusammenarbeit der ETH Zürich haben im Herbstsemester 2018 anhand einer Vorversion der Kapitel eine <?page no="12"?> Einführung in die Entwicklungsökonomik erhalten. Mit ihren wertvollen Fragen und Kommentaren haben sie dem Buch zu seiner jetzigen Detailfülle verholfen. An der Universität Zürich wurde der Kurs gemeinsam mit Philipp Kerler (Doktorand der Politischen Ökonomie) unterrichtet, von dem wir ebenfalls viele Kommentare zu allen Kapiteln erhalten haben. Zuletzt möchten wir Nicole Pohl danken, die das Korrektorat durchge‐ führt hat. Sie war ein Glücksfall für uns, da sie auch Wirtschaftswissen‐ schaftlerin ist. Wir danken ihr besonders für ihre Flexibilität in den letzten Wochen und Monaten. Alle inhaltlichen, formalen und sprachlichen Fehler, die Leserinnen und Leser noch im Buch finden, sind natürlich unsere eigenen und wir freuen uns auf Rückmeldungen für eine mögliche zweite Auflage des Buches. Zürich, im Januar 2020 Isabel Günther, Kenneth Harttgen, Katharina Michaelowa Danksagung 12 <?page no="13"?> Vorwort Zwischen 1990 und 2015 hat sich die globale Armut (gemessen an der internationalen Armutslinie von 1,90 $ pro Tag) von fast 2 Milliarden Men‐ schen auf weniger als 1 Milliarde Menschen reduziert. Technologischer Fortschritt sowie die zunehmende Industrialisierung und Globalisierung führten erst in Europa und in den letzten 30 Jahren auch in vielen Ländern Lateinamerikas und Asiens zu einem kontinuierlichen Wirtschaftswachs‐ tum, das diese historisch einmalige Armutsreduktion ermöglichte. In den meisten Ländern in Sub-Sahara Afrika blieb diese Entwicklung jedoch zumindest bis zur Jahrtausendwende aus. Während in Ostasien „nur“ noch 2,3 % der Bevölkerung von weniger als 1,90 $ pro Tag leben und in Lateinamerika 3,9 %, gelten in Sub-Sahara Afrika nach diesem Standard immer noch 41,1 % der Bevölkerung als arm (Weltbank 2019). Den abnehmenden Armutsraten stehen zunehmende globale Un‐ gleichheiten gegenüber. Während im 19. Jahrhundert das Pro-Kopf-Ein‐ kommen in westeuropäischen Ländern lediglich dreimal so hoch war wie in den ärmsten Regionen der Welt, lag das Verhältnis im Jahr 2000 bei 20: 1 (Galor 2005). Was sind die Gründe für diese unterschiedlichen Entwicklungen? Welche nationalen Politiken haben dazu beigetragen, dass Armut in einigen Ländern massiv reduziert werden konnte? Welchen Einfluss hatten und haben reichere Länder auf die Entwicklungsperspektiven ärmerer Länder? Wel‐ che Möglichkeiten bietet die Entwicklungsökonomik, erfolgversprechende entwicklungspolitische Maßnahmen zu identifizieren, um Armut zu redu‐ zieren? Das vorliegende Buch möchte Antworten auf diese Fragen bieten - unter Einbeziehung der sich verändernden politischen, ökologischen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Armutsbekämpfung. Der Klimawandel ist nur ein Beispiel für die sich wandelnden Her‐ ausforderungen. Zunehmende Dürrekatastrophen und Stürme treffen die Entwicklungsländer aufgrund ihrer geografischen Lage und ihrer geringen wirtschaftlichen Kraft besonders stark. Gleichzeitig ergibt sich in aufstre‐ benden Entwicklungsländern ein steigender Energiebedarf, der gedeckt werden sollte, ohne die ökologisch höchst problematischen Entwicklungspfade in Nordamerika und Europa zu wiederholen. Zudem ist die Weltbe‐ <?page no="14"?> völkerung in den letzten 50 Jahren stark gewachsen, von 3 Milliarden im Jahr 1960 auf 7,5 Milliarden im Jahr 2018 (UN Population Division 2017). Diese Entwicklung erschwert nicht nur die Verlangsamung des Kli‐ mawandels, sondern auch die Bekämpfung der extremen Armut. Ein viertes Phänomen des 21. Jahrhunderts ist die zunehmende Verstädterung. Bereits 2015 lebten mehr als 50 % der Weltbevölkerung in Städten (UN-Habitat 2017), und die Verstädterung wird vor allem in ärmeren Ländern auch in der Zu‐ kunft zunehmen. Müllaufkommen, Mobilität und Trinkwasserversorgung sind neue Herausforderungen in den Metropolen von Entwicklungsländern. Trotz der wirtschaftlichen Dynamik der Städte, die essenziell für die Ent‐ wicklung der Länder ist, leben heute ca. 40 % der städtischen Bevölkerung in sogenannten „Slums“. Armutsbekämpfung ist somit auch zu einem zentralen Problem der Städte geworden. Die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen, die notwendig wären, um diese neuen Herausforderungen zu bewältigen, haben sich in vielen Ländern in den letzten Jahren jedoch kaum verbessert. Während in den 1990er Jahren vielerorts eine demokratische Aufbruchsstimmung zu erkennen war, ist davon heute nur noch wenig zu spüren (Freedom House 2017). Die Folge sind politisch und wirtschaftlich fragile Staaten sowie eine Zunahme innerstaatlicher Konflikte und die damit verbundene Vertreibung von Menschen. Laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen befanden sich im Jahr 2015 etwa 65 Millionen Menschen auf der Flucht, davon 40 Millionen innerhalb des eigenen Landes. Diese Zahlen sind so hoch wie nie zuvor (UNHCR 2017). Schätzungen gehen davon aus, dass 80 % der extrem Armen bis 2030 in fragilen Staaten leben werden, wodurch das „Ende der Armut“ (Sachs 2005) in weite Ferne rücken würde. Eine positive Dynamik hingegen erzeugt zum Beispiel die rapide Verbrei‐ tung der Mobiltelefone und des Internets über die letzten Jahre. Die Vernet‐ zung der Menschen und ihr Zugang zu Information wurden durch diese Entwicklung erheblich verbessert. Während in den Entwicklungsländern zu Beginn des Jahrtausends nicht einmal 10 % der Bevölkerung Zugang zu Mobiltelefonen hatten, kamen im Jahre 2015 93 Mobiltelefone auf 100 Ein‐ wohner (ITU 2017). Aufgrund der ansonsten oft mangelhaften physischen Infrastruktur eröffnen diese Veränderungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie gerade in den Entwicklungsländern neue Möglichkeiten. Eine weitere positive Veränderung ist die rapide Zunahme der interna‐ tionalen Finanzflüsse in Entwicklungsländer, die sich über die letzten Vorwort 14 <?page no="15"?> 25 Jahre verzehnfachten (UNCTAD 2017). Regierungen in Entwicklungslän‐ dern erhalten dadurch mehr Wahlmöglichkeiten, wenn sie auf größere Mit‐ telzuflüsse angewiesen sind. Chancen für die globale Armutsbekämpfung ergeben sich auch aus der Tatsache, dass dank des wirtschaftlichen Auf‐ schwungs viele ehemalige Entwicklungsländer heute zu den Ländern mit mittlerem Einkommen zählen. Sie können vermehrt eigene finanzielle Ressourcen (in Form von Steuern) mobilisieren, um Armut zu bekämpfen. Schließlich bietet die zunehmende Globalisierung, vorangetrieben durch die massive Senkung von Transport- und Kommunikationskosten, sowohl Chancen als auch Herausforderungen für die zukünftige Armutsbekämp‐ fung. Die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen haben sich zudem im Sep‐ tember 2015 auf eine gemeinsame Vision der weltweiten Entwicklung geeinigt, die in gemeinsam verabschiedeten Nachhaltigkeitszielen (Sustai‐ nable Development Goals, SDGs) und der dazugehörigen Agenda 2030 festgehalten wurde. Die Agenda 2030 betont zum einen den Aspekt der Komplementarität und die damit einhergehende Notwendigkeit, entwick‐ lungspolitische Maßnahmen nicht isoliert zu betrachten, sondern im Zu‐ sammenhang mit anderen Politiken. Dies muss sowohl in den ärmeren als auch in den reicheren Ländern geschehen, um zu verhindern, dass nationale Erfolge der Entwicklungsländer durch eine unverantwortliche Politik in Industrieländern (z. B. die Untätigkeit in der Klimapolitik, protektionistische Handelspolitiken oder Müllexporte in Entwicklungsländer) wieder zunich‐ tegemacht werden. Zum anderen sind die SDGs breit definiert und umfassen neben sozioökonomischen Entwicklungszielen auch die ökologische und politische Dimension von Entwicklung. Um die vergangenen und zukünftigen Herausforderungen der Armutsbe‐ kämpfung, aber auch die entwicklungspolitischen Möglichkeiten zu deren Lösung besser zu verstehen, vermittelt dieses Buch ein erstes Grundver‐ ständnis der Entwicklungsökonomik. Dabei ist zu beachten, dass sich auch die Entwicklungsökonomik als Wissenschaft in den letzten Jahren stark verändert hat. Die Erkenntnis, dass politische und institutionelle Rah‐ menbedingungen in einer ökonomischen Analyse nicht ignoriert werden können, wurde seit spätestens Anfang der 1990er Jahre diskutiert und stand schon 2002 in dem von Rainer Durth, Heiko Körner und Katharina Michae‐ lowa verfassten Buch „Neue Entwicklungsökonomik“ im Fokus (Durth et al. 2002). Seit dieser Veröffentlichung hat die Entwicklungsökonomik zusätz‐ lich das Verhalten von Individuen und deren Verhaltensanreize verstärkt in Vorwort 15 <?page no="16"?> den Blick genommen, wodurch eine Vielzahl spannender verhaltensöko‐ nomischer Studien entstanden ist. Zudem wurde die Durchführung von Umfragen und die Erhebung weiterer haushaltsbezogener Daten in den letzten 10 Jahren aufgrund der Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie deutlich vereinfacht. Dies hat die Informationslage über Armut und ihre Ursachen verbessert und es können zusätzlich experimentelle Methoden zur Er‐ forschung entwicklungsökonomischer Fragestellungen eingesetzt werden. Insbesondere ist es mit diesen experimentellen Methoden möglich, die Wirkung nationaler und internationaler Entwicklungsprogramme für die Armutsreduktion zuverlässiger zu messen. Im Vergleich zum Stand vor 25 Jahren stützt sich die Entwicklungsökonomik heute vermehrt auf em‐ pirische Evidenz. Einige ökonomische Theorien zur Armutsbekämpfung wurden bestätigt, viele auch widerlegt (Banerjee und Duflo 2011). In allen Bereichen der Entwicklungsökonomik ist der Einbezug verschie‐ dener analytischer Perspektiven wichtig. Verschiedene relevante entwick‐ lungsökonomische Denkansätze wie die der politischen Ökonomie, der Verhaltensökonomik oder der experimentellen Ökonomie werden daher in den verschiedenen Kapiteln immer wieder erwähnt. Das erste Kapitel dieses Buches widmet sich der Frage, was wir unter Armut und Entwicklung verstehen und wie sich dieses Verständnis im Laufe der Zeit geändert hat. Aufbauend darauf diskutiert Kapitel 2 die Rolle des Wirtschaftswachstums zur Armutsbekämpfung und Kapitel 3 die Rolle des Staates. Die darauffolgenden Kapitel 4 bis 7 zeigen entwicklungspolitische Möglichkeiten für Staaten mit hohen Armutsraten auf und geben zudem einen Ausblick auf zukünftige Herausforderungen. Das Buch schließt in Kapitel 8 mit einer Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Weltgemeinschaft, mit Entwicklungszusammenarbeit zur Bekämpfung glo‐ baler Armut beizutragen. Dieses Buch richtet sich an Leserinnen und Leser, die sich für ent‐ wicklungspolitische Fragestellungen interessieren und einen ersten Überblick über die ökonomische Herangehensweise an verschiedene Frage‐ stellungen der Armutsbekämpfung gewinnen möchten. Ein ökonomisches Vorwissen ist nicht notwendig. Somit gehören Studierende ebenso zum Ziel‐ publikum des vorliegenden Buches wie Mitarbeiter von Nichtregierungsor‐ ganisationen, internationalen Organisationen oder von Unternehmen, die in Entwicklungsländern tätig sind, als auch Medienschaffende sowie aus anderen Gründen interessierte Personen. Vorwort 16 <?page no="17"?> Wir hoffen, dass unser Buch die Leser dazu motiviert, über die Thematik weiter nachzudenken und weiterzulesen, und vor allem, einfache Antworten für Entwicklung und Armutsbekämpfung kritisch zu hinterfragen. Zürich, im Januar 2020 Isabel Günther, Kenneth Harttgen, Katharina Michaelowa Literatur Banerjee, A.V.; Duflo, E. (2011). Poor economics. A radical rethinking of the way to fight global poverty. New York: PublicAffairs. Durth, R., Körner, H.; Michaelowa, K. (2002). Neue Entwicklungsökonomik. Stutt‐ gart: Lucius & Lucius. Freedom House (2017). Freedom in the world. https: / / freedomhouse.org/ report-typ es/ freedom-world. Galor, O. (2005). From stagnation to growth: Unified growth theory. In: Aghio, P.; Durlauf, S. (Hrsg.) Handbook of economic growth. Volume 1, Part A. Amsterdam: Elsevier, 174-293. ITU (2017). Global ICT developments. https: / / www.itu.int/ en/ ITU-D/ Statistics/ Pag es/ stat/ default.aspx. Sachs, J. (2005). Das Ende der Armut: Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt. München: Pantheon Verlag. UNCTAD (2017). United Nations conference on trade and development statistics. Foreign direct investment. https: / / unctadstat.unctad.org/ wds/ TableViewer/ table View.aspx? ReportId=96740. UN-Habitat (2017). Urbanization and development report: Emerging futures. Nai‐ robi: UN-Habitat. UNHCR (2017). Global trends: Forced displacement in 2016. Genf: UNHCR. UN Population Division (2017). World population prospects: The 2017 revision. https: / / population.un.org/ wpp/ Download/ Standard/ Population/ . Weltbank (2019). PovcalNet, replicate the World Bank’s regional aggregation. http: / / iresearch.worldbank.org/ PovcalNet/ povDuplicateWB.aspx. Literatur 17 <?page no="18"?> 1 Auf Wirtschaftswachstum wird deshalb - vielleicht für den Leser unerwarteterweise - erst im zweiten Kapitel dieses Buches eingegangen. 1 Armut und Ungleichheit Bis Mitte des 20. Jahrhunderts stand das wirtschaftliche Wachstum im Zen‐ trum von Entwicklungspolitik und -forschung. Entwicklung verstand man damals vor allem als eine Veränderung des nationalen Pro-Kopf-Einkom‐ mens. Heute stehen Armut und Ungleichheit im Fokus wissenschaftlicher und politischer Entwicklungsdebatten. Wirtschaftswachstum wird nur noch als Mittel und nicht als Ziel von Entwicklung betrachtet. 1 Die zunehmende Verfügbarkeit verschiedener Datenquellen ermöglicht zudem ein immer de‐ taillierteres Verständnis der Phänomene Armut und Ungleichheit. Basierend auf dieser neuen empirischen Forschung beantwortet dieses Kapitel die folgenden Fragen: Was versteht man unter Armut und Ungleichheit? Wie haben sich globale Armut und Ungleichheit entwickelt? Was sind die Ursachen von Armut und Ungleichheit? Wie hängen Ungleichheit und Armut zusammen? 1.1 Globale Armut in Zahlen Gemessen an der internationalen Armutslinie gelten Menschen als extrem arm, wenn sie von weniger als 1,90 internationalen $ pro Tag leben (vgl. Box 2.2 zur Erläuterung von internationalen $). Basierend auf dieser Armutsdefinition lebten 80 % der Weltbevölkerung im 19. Jahrhundert in Armut. Mitte des 20. Jahrhunderts galten noch 44 % und Ende des 20. Jahr‐ hunderts noch 35 % der Weltbevölkerung als extrem arm (Bourguignon und Morrisson 2002). Heute sind es 10 %. Wie anhand von Abb. 1.1 erkennbar ist, zeichnet sich insbesondere seit 1955 eine drastische Reduktion der weltweiten Armutsrate ab, die vor allem auf die wirtschaftliche Entwicklung Chinas (mit einer Bevölkerung von 1,3 <?page no="19"?> Milliarden) zurückzuführen ist: Die extreme Armut hat sich dort zwischen 1980 und 2015 von 88 % auf 1 % reduziert (Weltbank 2019a). Aufgrund des weltweit starken Bevölkerungswachstums dauerte es bis in die 1970er Jahre, bis auch die absolute Zahl der Menschen in extremer Armut sank (vgl. Abb 1.1). Lebten im Jahr 1970 noch 2,2 Milliarden Menschen in extremer Armut, sind es Schätzungen zufolge im Jahr 2015 noch 800 Millionen. Armut lediglich anhand von Einkommen darzustellen, würde die Viel‐ schichtigkeit und Komplexität des Phänomens jedoch zu stark vereinfa‐ chen. Das Leben in Armut ist nicht nur von einem niedrigen Einkommen gekennzeichnet, sondern es bedeutet oft auch, dass Kinder nur eine kurze Zeit ihres Lebens in eine Schule gehen, nur eine einseitige Ernährung möglich ist, es an medizinischer Versorgung und Krankenversicherungen fehlt, die Familien auf engstem Raum ohne Elektrizität und sauberes Wasser leben und jeder in der Familie unter schlechten Bedingungen arbeiten muss (vgl. Box 1.1). Hinzu kommen in vielen Ländern schwach ausgeprägte rechtliche Strukturen. Korruption ist oft alltäglich (vgl. Kapitel 3.4) und es existieren wenige Formen staatlicher Unterstützung für arme Familien. Abb. 1.1: Weltbevölkerung in extremer Armut 1820-2015 Anmerkung: Der Anteil der Weltbevölkerung in extremer Armut ist auf der rechten Achse abgebildet. Die absolute Anzahl an Menschen weltweit in extremer Armut ist auf der linken Achse abgebildet. Quelle: Weltbank (2019) 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % 100 % 0 1 2 3 4 5 6 7 8 1820 1835 1850 1865 1880 1895 1910 1925 1940 1955 1970 1985 2000 2015 Bevölkerung (in Milliarden) Bevölkerung außerhalb extremer Armut Bevölkerung in extremer Armut Anteil der Bevölkerung in extremer Armut (in %) Abb. 1.1: Weltbevölkerung in extremer Armut 1820-2015 Anmerkung: Der Anteil der Weltbevölkerung in extremer Armut ist auf der rechten Achse abgebildet. Die absolute Anzahl an Menschen weltweit in extremer Armut ist auf der linken Achse abgebildet. Quelle: Weltbank (2019) 1.1 Globale Armut in Zahlen 19 <?page no="20"?> Box 1.1 | Leben in Armut - drei Familien Thembi wohnt in Südafrika. Sie ist 50 Jahre alt, als ihr Bruder an Tuberkulose stirbt. Gemäß den lokalen Bräuchen muss sie für seine Beerdigung aufkommen. Sie hat keine Ahnung, wie sie die dafür nötigen 1.000 US$ aufbringen soll. Thembi verfügt über keine Ersparnisse. Letzt‐ endlich sind Verwandte bereit, einen Großteil der Beerdigungskosten zu übernehmen. Für die noch fehlenden 100 US$ muss Thembi bei einem informellen Geldverleiher einen Kredit zu 30 % Zinsen im Monat aufnehmen. Banken lehnten einen Kredit ab, einerseits weil Thembi keinen regulären Job mit einem festen Einkommen hat, andererseits weil kommerzielle Banken keine Kredite für solch geringe Summen verge‐ ben. Nun verfügt Thembi nicht nur über keine Ersparnisse, sondern sie muss zusätzlich für die hohen Zinsen aufkommen, die sie weiter in die Armut treiben. Feizals zehnköpfige Familie lebt in Indien. Durch den Verkauf von Aluminiumtöpfen und „bidis“ (billige Zigaretten) erwirtschaften sie ein monatliches Einkommen von 36 US$. Als Feizal, der Hauptverdiener der Familie, einen Beinbruch erleidet, geht er zu einem günstigen traditionellen Heiler. Feizal hat keine Krankenversicherung und er will seine wenigen Ersparnisse lieber für die Hochzeit der Tochter ausgeben. Der Bruch verschlimmert sich und die Familie sieht sich später doch gezwungen, ein Krankenhaus aufzusuchen. Für die Behandlungskosten bezahlen sie 250 US$, d. h. 2/ 3 ihres jährlichen Einkommens. Hinzu kommt, dass Feizal acht Monate nicht arbeiten kann. Die Kosten des Unfalls treiben die Familie weiter in die Armut. Hamid und Khadeja heirateten in einem Dorf an der Küste Bangladeschs. Das Paar kann weder lesen noch rechnen. Da es für einen Mann wie Hamid in dem Dorf nicht ausreichend Arbeit gab, entschloss sich das Paar, wie Hundertausende vor ihnen, das ländliche Leben aufzugeben und in die Hauptstadt Dhaka zu ziehen. Dort leben die beiden nun gemeinsam mit ihrem Sohn unter prekären Verhältnissen. Das Haus aus Zementwänden und einem Blechdach steht auf illegal bewohntem Land. Gemeinsam mit acht anderen Familien teilen sie sich Bad und Küche. Hamid arbeitet als Reserve-Rikscha-Fahrer. Wie viel er am Ende des Tages verdient, ist stets ungewiss. Khadeja stockt das Einkommen der Familie mit unregelmäßigen Näharbeiten auf. Durchschnittlich verdient 1 Armut und Ungleichheit 20 <?page no="21"?> das Paar 70 US$ im Monat. Abgesehen von der Miete müssen 0,60 US$ pro Tag für jedes der drei Familienmitglieder zum Überleben reichen. Quelle: Collins et al. (2009) In den letzten 25-50 Jahren zeichnen sich allerdings auch hinsichtlich der sozialen Aspekte der Armut große Fortschritte ab (vgl. Abb. 1.2). Die Lebenserwartung der Menschen hat sich in vielen Ländern stark erhöht; in Äthiopien von 34 Jahren (1950) auf 65 Jahre (2015) und in China von 43 Jahren (1960) auf 76 Jahre (2015). Die weltweite Kinder- und Mütter‐ sterblichkeit (um 44 % in den letzten 25 Jahren) wie auch das globale Ausmaß an chronischer Unterernährung (um 20 % in den letzten 25 Jahren) haben sich drastisch reduziert. Der Anteil an Haushalten mit Zugang zu Elektrizität hat zugenommen (um 12 % in den letzten 25 Jahren), ebenso die Anzahl der Personen mit abgeschlossener Grundschulbildung (um 16 % in den letzten 25 Jahren). Die Fortschritte sind jedoch von Region zu Region sehr unterschiedlich, wie anhand Abb. 1.2 zu erkennen ist. Vor allem in verschiedenen Ländern Afrikas leiden viele Menschen noch unter extremer sozialer und wirtschaftlicher Armut (vgl. Kapitel 1.4.1). Beschreiben ärmere Menschen selbst ihre Situation, stellen sie häufig weniger den materiellen oder sozialen Aspekt der Armut in den Vordergrund als die damit verbundene Würde-, Recht- und Schutzlosigkeit: „Poverty is pain; it feels like a disease. It attacks a person not only materially but also morally. It eats away one’s dignity and drives one into total despair” (Narayan et al. 2000: 2). Diese Worte vermitteln ein völlig anderes Verständnis von Armut als ein Prozentsatz, der auf Einkommen, Bildung, Gesundheit oder einem anderen sozioökonomischen Indikator basiert. 1.1 Globale Armut in Zahlen 21 <?page no="22"?> 2 Kapitel 1.2 dieses Buches basiert auf dem ersten Teil des Buches The Economics of Poverty (Ravallion 2016: 11-125). 1.2 Das Verständnis von Armut im Wandel der Zeit Es dauerte Jahrhunderte, bis der Kampf gegen Armut zu einem wichtigen Ziel nationaler und internationaler Bemühungen wurde (vgl. Kapitel 8). Bis in das 18. Jahrhundert galt Armut in Europa sogar als notwendiger Faktor für eine prosperierende Wirtschaft. 2 Es dominierte die Vorstellung, dass niedrige Löhne zum einen als Anreiz zu mehr Arbeit dienen und zum ande‐ ren die globale Konkurrenzfähigkeit eines Landes aufrechterhalten könnten. In den Kindern der Arbeiter sah man die zukünftigen Arbeitskräfte. Es war wichtig, dass diese möglichst in großer Zahl vorhanden und ungebildet waren, um als Erwachsene die gleiche Rolle wie ihre Eltern einzunehmen. Bildung für Kinder aus armen Familien galt als Verschwendung finanzieller Ressourcen, was die Chancen eines sozialen Aufstiegs dieser Kinder erheb‐ lich verringerte. 1 Armut und Ungleichheit 22 <?page no="23"?> Abb. 1.2: Gesundheit, Bildung, Wasser und Energie 1990-2015 0 20 40 60 80 100 120 2015 1990 Primarschulabschluss (% der resp. Altersgruppe) 0 20 40 60 80 100 120 2015 2000 % Bevölkerung mit Zugang zu Trinkwasser 0 20 40 60 80 100 120 2015 1990 Lateinamerika und Karibik Ostasien und Pazifik Sub-Sahara Afrika % Bevölkerung mit Zugang zu Elektrizität 0 50 100 150 200 2015 1990 Sterberate (pro 1.000 Geburten) bei unter 5- Jährigen 0 20 40 60 80 100 2015 2000 Unterernährung (% der Gesamtbevölkerung) Abb. 1.2: Gesundheit, Bildung, Wasser und Energie 1990-2015 Quelle: Weltbank (2019) Im Rahmen der im 18. Jahrhundert beginnenden Transformation von der landwirtschaftlichen zur industriellen Gesellschaft verließen viele ehema‐ lige Bauern ihr Land, um in den Städten Arbeit zu suchen. Zu Beginn war die 1.2 Das Verständnis von Armut im Wandel der Zeit 23 <?page no="24"?> Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte größer als die Nachfrage in der Industrie. Das Phänomen der Arbeitslosigkeit war geboren. Zum ersten Mal in der Geschichte gab es eine Differenzierung zwischen den Menschen, die in der Industrie unter einem formellen Anstellungsverhältnis arbeiteten, und denjenigen, die erfolglos nach Arbeit suchten. Die Zahl arbeitsloser „Bettler“ in den Städten nahm zu dieser Zeit deut‐ lich zu. Ab dem 18. Jahrhundert galt Armut daher als Gefahr; einerseits hinsichtlich der politischen Stabilität, andererseits aufgrund der Ausbrei‐ tung von Krankheiten in den dichtbesiedelten Städten. Eine für diese Zeit typische Politik der Armutsreduktion war die Aufnahme der Obdachlosen in Armenhäusern mit dem primären Ziel, sie aus der Öffentlichkeit zu ent‐ fernen. Staatliche Maßnahmen waren nicht auf das Wohlergehen der Armen ausgerichtet und verfolgten daher nicht das Ziel der langfristigen Reduktion der Armut. Vielmehr stand die kurzfristige Überbrückung elementarer finanzieller Nöte im Vordergrund. Auch dem Gedanken der Umverteilung kam keine große Bedeutung zu, da man ärmere Familien meist selbst für ihre Armut verantwortlich machte. Man sagte ihnen ein verschwenderisches Konsumverhalten sowie eine geringe Arbeitsmoral nach. Allerdings vertraten schon im 18. Jahrhundert verschiedene Philosophen ein völlig anderes Verständnis von Armut und der Rolle des Staates bei der Armutsbekämpfung. Jean-Jacques Rousseau beispielsweise wurde für seine Schriften zur Rolle des Staates für die Verteilungsgerechtigkeit bekannt (1755). Auch Immanuel Kant (1793) vertrat die These, dass es die Aufgabe des Staates sei, Armut zu bekämpfen und somit zu mehr Respekt zwischen Armen und Reichen beizutragen. Durch private Almo‐ sen von reicheren Bevölkerungsgruppen (meist verteilt durch kirchliche Einrichtungen) beförderten diese lediglich ihren eigenen Hochmut, so Kant. Die theoretische Grundlage für eine staatliche Armutspolitik war gelegt. Es dauerte jedoch bis ins 20. Jahrhundert, bis die philosophischen Thesen sich realisierten, das Verständnis von Armut sich wandelte und man die Pflicht zur Förderung gerechter Strukturen beim Staat sah. Ende des 18. Jahrhunderts veränderte sich auch die ökonomische Denk‐ weise. Insbesondere Adam Smith (1776: 96) sah die Armutsbekämpfung als ein erstrebenswertes Ziel und nicht als eine Gefahr für das wirtschaftliche Wachstum. Er propagierte höhere Löhne sowie Zugang zu Bildung für alle - Aspekte, die Smith als Voraussetzung für nationalen Wohlstand und Wirtschaftswachstum definierte. Viele Wissenschaftler seiner Zeit stan‐ den Smiths Thesen jedoch kritisch gegenüber. Höhere Löhne, so die damals 1 Armut und Ungleichheit 24 <?page no="25"?> dominierende Meinung, würden zu mehr Geburten und somit zu höheren Bevölkerungszahlen führen. Dies reduziere den Wohlstand pro Kopf und man wäre schnell wieder auf dem ursprünglichen Einkommensniveau, das gerade zum Überleben reicht (Malthus 1798, vgl. Kapitel 5.3). Man ging davon aus, dass staatliche Unterstützung den Menschen als Anreiz dienen würde, weniger zu arbeiten und zu sparen - und sich ihre Lage daher letztlich eher verschlechtern als verbessern würde, was neueste Studien klar widerlegen. Die Anfänge der empirischen Wirtschaftsforschung im 20. Jahr‐ hundert markierten einen Umbruch im Verständnis von Armut. Eine verbesserte Datenlage ermöglichte es, darzulegen, dass nicht die individuelle Arbeitsmoral, sondern wirtschaftliche und politische Kräfte in Verbindung mit bereits bestehenden Ungleichheiten, zum Beispiel beim Zugang zu Bildung, die maßgeblichen Gründe für Armut sind. Anfang des 20. Jahrhunderts begann sich zudem dank wirtschaftlichem Wachstum und technologischem Fortschritt die Lebensqualität vieler Menschen in Europa stark zu verbessern. Neue Impfstoffe und Medikamente sowie ein besseres Verständnis von Hygiene reduzierten die Ausbreitung von Krankheiten. Neue Maschinen in der Landwirtschaft, die Entwicklung von Hochleistungssorten sowie deren Verbreitung im Zuge der „Grünen Revolution“ in den 1960er Jahren kurbelten die weltweite Nahrungsmit‐ telproduktion an. In Europa und Nordamerika wurde Anfang des 20. Jahr‐ hunderts zudem die allgemeine Schulpflicht eingeführt, die die Bildung der Menschen verbesserte. Da für immer weniger Menschen in Europa das tägliche Überleben im Vordergrund stand und sie sich aufgrund ihrer Bildung vermehrt über Entwicklungen außerhalb ihrer engsten Umgebung informieren konnten, begannen mehr und mehr Menschen sich aktiv mit der Gestaltung des wirtschaftlichen und politischen Systems auseinanderzusetzen. Insbeson‐ dere die deutliche Kritik sozialistischer Gruppen an hohen Armutsraten beeinflusste die Entwicklung einer progressiven Sozialpolitik. Armut galt nicht mehr als Treiber wirtschaftlichen Wachstums, sondern als Zeichen tiefliegender sozialer und ökonomischer Probleme einer Gesellschaft. Diese neue Erkenntnis führte in vielen europäischen Staaten zu einer Verdopplung der sozialen Ausgaben im 20. Jahrhundert, von ca. 15 % auf ca. 30 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) (OECD 2018). Der Staat begann, eine aktive Rolle in der Armutsbekämpfung zu übernehmen. 1.2 Das Verständnis von Armut im Wandel der Zeit 25 <?page no="26"?> Nach der politischen Entkolonialisierung vieler Länder in den 1960er Jahren wollten zum einen die ehemaligen Kolonialmächte einen gewissen politischen und ökonomischen Einfluss beibehalten. Zum anderen wurde die Verpflichtung, globale Armut - und nicht nur nationale Armut - zu bekämpfen, in der Wissenschaft vermehrt diskutiert. Dies waren treibende Kräfte für die Entstehung der internationalen Entwicklungszusammen‐ arbeit (vgl. Kapitel 8.1) und für den Beginn der Entwicklungsökonomik als eigene Wissenschaft Mitte des 20. Jahrhunderts. Seit den 1950er Jahren beschränkte sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Armut daher nicht mehr auf Europa und die USA, sondern sie fokussierte sich mehr und mehr erst auf Lateinamerika, dann auf Asien und heute auf Sub-Sahara Afrika. Insbesondere die Ideen von Amartya Sen (1999, 1982) und John Rawls (1971) prägten die Politik und Wissenschaft Ende des 20. Jahrhunderts. Rawls brach in seinen Theorien mit dem bisher vorherrschenden Utilitaris‐ mus und sprach sich für gleiche Rechte aller Menschen aus. Utilitaristen beurteilen Entscheidungen stets nach deren aggregierten Gesamtnutzen, was Einschnitte auf individueller Ebene rechtfertigen würde (Bentham 1789). Rawls hingegen vertrat die Auffassung, dass Ungleichheit in einer Gesellschaft, folglich die Besserstellung der Wohlhabenden, nur akzeptabel sei, wenn sie zu einer verbesserten Situation der untersten Schichten bei‐ trägt. Die Armut mancher als Mittel zur Erreichung des Reichtums anderer zu verteidigen, entbehrte nach Rawls jeglicher Legitimation. Rawls argu‐ mentierte, dass Menschen sich für die gleichen Rechte aller aussprechen würden, wenn sie ihre Position in der realen Welt nicht kennen und hinter dem „Schleier der Unwissenheit“ entscheiden müssten. Auch Sen lehnt die Theorie des Utilitarismus ab, da diese Theorie individuellen Rechten und Freiheiten keinen Wert beimisst. Für Sen ist Armut das Fehlen persönlicher Verwirklichungsmöglichkeiten folglich das Fehlen individueller Freiheiten (vgl. Kapitel 1.3.5). Ein weiterer Wendepunkt im Verständnis von Armut und deren Be‐ kämpfung war die seit Ende der 1950er Jahre kritische Hinterfragung der Kapazität nationaler und globaler Märkte zur Wohlstandsmaximierung. Das Konzept des Marktversagens wurde als eine wichtige Ursache von Armut etabliert (vgl. Kapitel 3.2, 4.4.3 und 6.1). Mittlerweile ist man sich in der Wissenschaft einig, dass es staatlicher Interventionen bedarf, damit Menschen aus der Armut entkommen können, und dass man nicht nur auf Marktmechanismen bauen kann. 1 Armut und Ungleichheit 26 <?page no="27"?> 3 Man konnte beispielsweise beobachten, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, eher bereit sind, viel Geld für eine Behandlung in einem privaten Krankenhaus auszuge‐ ben, anstatt auf eine einfache, sehr kostengünstige Salz-Zucker-Lösung gegen Durchfall zurückzugreifen (Banerjee und Duflo 2011). Seit Anfang des 21. Jahrhunderts befasst sich ein neuer Zweig der Armutsfor‐ schung mit den Folgen der Armut auf das Verhalten und die Psyche von Men‐ schen. Mehrere Studien zeigen zum Beispiel, dass ärmere Bevölkerungsgruppen sowohl eine Tendenz zu sehr kurzfristigen als auch zu risiko-vermeidenden ökonomischen Entscheidungen aufweisen, die zur Perpetuierung der Armut beitragen können. Zum Beispiel werden Investitionen in präventive Gesund‐ heitsmaßnahmen (z. B. Moskitonetze oder Impfungen) und Bildung, die sich erst langfristig rechnen, nur zu einem geringen Maß getätigt; sie wären jedoch notwendig, um der Armut zu entkommen (Banerjee und Duflo 2011, Cohen und Dupas 2011, Dupas 2009). Ebenso wird der Einsatz von neuen Technologien, die zu höherer landwirtschaftlicher Produktivität führen würden, von Menschen in Armut oft abgelehnt, weil ihnen ihr Einsatz zu riskant erscheint (Karlan et al. 2014, Duflo 2011). Die Ursachen dieser Verhaltensmuster werden kontrovers diskutiert. Die eine Seite vertritt die These, die Verhaltensmuster von Menschen in Armut seien eine rationale Anpassung an ihre Situation und würden zu optimalen Entscheidungen führen (Duflo 2006). Wenn Haushalte am Existenzmini‐ mum leben, kann es rational sein, keine risikoreichen Entscheidungen zu treffen. Die Gegenseite argumentiert, die Armut sei der Grund dafür, dass Entscheidungen teilweise nicht im eigenen Interesse und dementsprechend nicht optimal getroffen würden (vgl. Box 1.1), sei es wegen fehlender In‐ formationen 3 , Vermeidung jeglichen Risikos, oder Entmutigung. So zeigen neueste Studien, dass Menschen, die unter Armut leiden, weniger Erwartungen an und Ziele für ihr Leben haben und es sich deshalb nicht zutrauen, erfolgreich in ihre Zukunft zu investieren. Neuere Studien zeigen zudem, dass Armut und Hunger sogar zu kognitiven Einschränkungen führen können, aufgrund derer fehlerhafte Entscheidungen zustande kommen (Haushofer und Fehr 2014, Mullainathan und Shafir 2013, Mani et al. 2013). Für die Armutsbekämpfung würde dies bedeuten, dass lebensnotwendige Güter oder Gelder (vgl. Kapitel 4.4.2) bereitgestellt werden müssen, damit Menschen täglich weniger Zeit und Energie dafür aufbringen müssen, zu überleben, und nachhaltigere Entscheidungen für sich selber treffen können. 1.2 Das Verständnis von Armut im Wandel der Zeit 27 <?page no="28"?> 1.3 Wer ist „arm“? Es existieren unterschiedliche Ansätze, um zu beurteilen, ob eine Person arm ist. Versteht man Armut jedoch grundsätzlich als einen Mangel an lebenswichtigen Dingen, stellen sich die folgenden drei Fragen: 1. Was sind lebenswichtige Dinge? 2. Ab wann spricht man von einem Mangel? 3. Wie fasst man individuelle Armut zu einem Maß von Armut auf gesell‐ schaftlicher Ebene zusammen? Zentral ist dafür auch, wer die Antworten auf diese Fragen findet. Da Maßnahmen zur Armutsbekämpfung davon abhängen, wie Armut definiert und gemessen wird, sollen verschiedene Ansätze zur Messung von Armut im Folgenden dargestellt werden. 1.3.1 Vom Einkommen zur ökologischen Nachhaltigkeit Mitte des 20. Jahrhunderts lag der Fokus der Entwicklungsökonomik noch auf der Analyse des Wirtschaftswachstums zur Beurteilung des nationalen Wohlstands. Man analysierte das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Indikator für die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Leistung und das BIP pro Kopf als Indikator für den durchschnittlichen Wohlstand der Bürger (vgl. Kapitel 2.1.2). Der reine Fokus auf die wirtschaftliche Entwicklung als Wohlstandsindikator wurde in den 1970er Jahren vermehrt in Frage gestellt. Die Grundbedürfnisse aller Menschen rückten stärker ins Zentrum der Diskussion. Bei der Messung von Wohlstand sollte es nicht mehr allein darum gehen, wie viel eine Gesellschaft im Durchschnitt erwirt‐ schaftet, sondern auch darum, wie (un)gleich das generierte Einkommen verteilt ist. Die Höhe der Einkommensarmut (definiert als der Prozentsatz der Bevölkerung, die unterhalb einer definierten Armutslinie lebt) erlangte neue Aufmerksamkeit (vgl. Kapitel 1.3.2). Einen noch differenzierteren Blick auf den Lebensstandard der Men‐ schen in einem Land erlaubten die in den 1990er Jahren entwickelten „multidimensionalen“ Entwicklungsindikatoren. Diese stellen den Lebensstandard nicht mehr eindimensional anhand des Einkommens (oder des Konsums), sondern anhand mehrerer Dimensionen dar. Geprägt war diese Entwicklung insbesondere durch Sens These von Entwicklung als Freiheit, die darauf hinwies, dass nicht mangelndes Einkommen (allein) Armut kennzeichnet, sondern die fehlenden Wahlmöglichkeiten der Menschen, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten (vgl. Kapitel 1.3.5). 1 Armut und Ungleichheit 28 <?page no="29"?> 4 Die acht Ziele waren: 1. Halbierung des Anteils von Menschen, die unter extremer Armut und Hunger leben, 2. Grundschulbildung für alle Kinder, 3. Gleichberechtigung von Männern und Frauen, 4. Reduktion der Kindersterblichkeit um 66 %, 5. Reduktion Einer der ersten multidimensionalen Entwicklungsindikatoren war der „Index der Menschlichen Entwicklung“ (Human Development Index, HDI). Die Vereinten Nationen (United Nations, UN) berechnen und veröf‐ fentlichen den HDI jährlich seit 1990. Neben dem Pro-Kopf-Einkommen fließen die Lebenserwartung und Bildung jeweils zu einem Drittel in die Berechnung des HDI ein. Der HDI liegt theoretisch zwischen 0 (minimaler Wert) und 1 (maximaler Wert) und reichte 2018 von 0,38 (Niger und Zen‐ tralafrikanische Republik) bis 0,95 für Norwegen und die Schweiz (UNDP 2019). Die transparente und „einfache“ Berechnungsmethode sowie seine Vergleichbarkeit über Länder hinweg haben dem HDI zu seiner Popularität verholfen und er wird oft für ein Länderranking der Entwicklung genutzt. „Weltrangliste von Reichtum und Armut“ erschien beispielsweise als Titel in den Medien (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2003) nach der Veröffent‐ lichung des Berichts über die menschliche Entwicklung 2003 (Englisch: Human Development Report). Der HDI weist jedoch auch gewisse Schwächen auf. Dazu gehören die fehlende Berücksichtigung weiterer relevanter Aspekte des menschlichen Wohlergehens (z. B. die Achtung der Menschenrechte oder Umweltbedin‐ gungen), die nach wie vor verhältnismäßig starke Gewichtung des Einkom‐ mens und die Substitutionsmöglichkeiten zwischen den drei Dimensionen (ein geringer Wert in der Dimension Bildung kann durch einen hohen Wert in der Dimension Einkommen kompensiert werden). Länder mit hohem Pro-Kopf-Einkommen, aber niedriger Schulbildung, wie zum Beispiel Katar, weisen daher immer noch einen relativ hohen HDI von 0,85 auf (UNDP 2019). Auch können aus dem HDI keine konkreten entwicklungspolitischen Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Hierfür müssten all die Infor‐ mationen (und mehr), die in den Index einfließen, genauer analysiert werden. Um direkte Maßnahmen aus Entwicklungsindikatoren ableiten zu kön‐ nen, einigte sich deshalb im Jahr 2000 die Weltgemeinschaft im Rahmen der Vereinten Nationen auf die Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs). Es handelte sich dabei um acht Entwick‐ lungsziele, präzisiert durch 48 Einzelindikatoren, die bis zum Jahr 2015 erreicht werden sollten. 4 Einige Ziele wurden in den letzten 25 Jahren 1.3 Wer ist „arm“? 29 <?page no="30"?> der Müttersterblichkeitsrate um 75 % und 100 % Zugang zu Verhütungsmitteln, 6. Bekämpfung von HIV/ AIDS, Malaria und Tuberkulose (Ausbreitung zum Stillstand bringen), 7. Halbierung des Anteils der Menschen, die keinen Zugang zu Trinkwasser und sanitären Einrichtungen haben, und Schutz der Biodiversität, 8. Globale Partner‐ schaft für Entwicklung. 5 Ein Haushalt gilt als arm, wenn mindestens drei der folgenden 10 Kriterien erfüllt sind: 1. Haushaltsmitglieder unter 70 sind unterernährt, 2. Ein Kind ist innerhalb der letzten fünf Jahre gestorben, 3. kein Haushaltsmitglied, das 10 Jahre oder älter ist, hat mehr als 5 Jahre Schulbildung, 4. ein Kind im Schulalter besucht nicht die Schule, 5. Haushalt kocht mit Dung, Holz oder Holzkohle, 6. schlechte sanitäre Anlagen, 7. kein Zugang zu sauberem Trinkwasser in weniger als 30 Min. Gehdistanz, 8. kein Zugang zu Elektrizität, 9. Boden des Hauses ist aus Erde, Dung oder Sand, 10. Haushalt besitzt höchstens eines der folgenden Güter: Radio, Fernseher, Telefon, Fahrrad, Motorrad, Kühlschrank, Auto. erreicht oder sogar übertroffen. Dazu zählen die weltweite Halbierung der extremen Armut, der bessere Zugang zu Primarbildung für Mädchen und die Halbierung des Anteils der Weltbevölkerung ohne Zugang zu sauberem Wasser. Hingegen wurde das Ziel einer Reduktion von Kindersterblichkeit um zwei Drittel und das Ziel der Halbierung des Anteils von Haushalten ohne Sanitäranlagen verfehlt. Zudem gelten die weltweit erzielten Erfolge nicht annähernd für alle Länder. Während einige bevölkerungsreiche Länder wie Indien und China enorme Verbesserungen erzielten, blieben diese in anderen Ländern entweder aus oder die Entwicklung schritt sehr viel langsamer voran (vgl. Abb. 1.2). Seit 2010 veröffentlicht die UN zudem den Index der Mehrdimensionalen Armut (Multidimensional Poverty Index, MPI). Im Gegensatz zum HDI basiert dieser nicht auf drei, sondern auf zehn Indikatoren der Armut, 5 und während der HDI auf Durchschnittswerten der Bevölkerung basiert, misst der MPI den Anteil der Bevölkerung, welcher ein Minimum an Bildung, Ernährung, Gesundheit etc. nicht erreicht. Dimensionen der Armut, die aufgrund mangelnder Daten bisher auch im MPI fehlen, sind menschenwür‐ dige Arbeit, Selbstbestimmung, Sicherheit, soziale Kontakte, Schutz vor Demütigung und psychisches Wohlbefinden (OPHI 2018). Der Übergang von einem einzu einem mehrdimensionalen und von einem einkommensbasierten zu einem sozialen Verständnis von Entwick‐ lung ist in der Theorie leicht nachvollziehbar (vgl. Kapitel 1.3.5). Offen bleibt, ob das Pro-Kopf-Einkommen und dessen Verteilung (sprich Einkom‐ mensungleichheit) letztendlich nicht ausreichend gute Indikatoren für die Entwicklung der Armut in einem Land sind. In anderen Worten: ob zum Beispiel nicht ein höheres Pro-Kopf-Einkommen per se mit einem höheren 1 Armut und Ungleichheit 30 <?page no="31"?> Standard der Gesundheit, Sicherheit, Mobilität und Bildung einhergeht. Der Vorteil des Pro-Kopf-Einkommens ist dessen relativ einfache Messbar‐ keit und die - mit einigen Einschränkungen (vgl. Kapitel 2.1.2) - gute Vergleichbarkeit zwischen Ländern und über die Zeit. Abb. 1.3 zeigt exemplarisch, dass ein starker empirischer Zusammenhang zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen und beispielsweise der durchschnittli‐ chen Anzahl Schuljahre besteht. Einige Länder weichen jedoch stark von der Trendlinie ab. Trotz eines niedrigen Einkommens können Länder folglich eine hohe Schulbildung ihrer Bevölkerung erreichen. Ein höheres Einkom‐ men kann demnach zwar stark zur sozialen Entwicklung eines Landes beitragen. Dies ist jedoch keineswegs zwingend und hängt letztendlich stark von den öffentlichen Investitionen eines Landes in Bildung ab (vgl. Kapitel 4.1 und 5.5). Abb. 1.3 zeigt auch, dass sich der Zusammenhang zwischen Einkommen und sozialen Aspekten über die Zeit stark verändern kann. Bei gleichem Pro-Kopf-Einkommen wiesen Länder im Jahr 1970 eine niedrigere Schulbildung auf als im Jahr 2010. Abb. 1.3: Korrelation BIP und Schulbildung Anmerkung: x-Achse ist logarithmiert, um stark ansteigende Werte besser in einer Grafik abzubilden. Quelle: Weltbank (2019) 0 2 4 6 8 10 12 14 10 100 1000 10000 100000 Durchschnittliche Anzahl Schuljahre BIP pro Kopf (2011 internationale $) 1970 2010 Abb. 1.3: Korrelation BIP pro Kopf und Schulbildung Anmerkung: x-Achse ist logarithmiert, um stark ansteigende Werte besser in einer Grafik abzubilden. Quelle: Weltbank (2019) 1.3 Wer ist „arm“? 31 <?page no="32"?> Im Jahr 2015 ersetzte die „Agenda 2030“ der UN die 8 MDGs durch 17 Nachhal‐ tigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs, vgl. Abb. 1.4), die bis 2030 erreicht werden sollen (UN 2019). Die Einbeziehung der „Nachhaltigkeit“ in die Namensgebung der Ziele soll insbesondere auf die Bedeutung der Umwelt für die Entwicklung und auch umgekehrt auf die Auswirkungen der ökonomischen und sozialen Entwicklung auf die Umwelt hinweisen. Aufgrund massiver Umweltprobleme auf nationaler und vor allem auf globaler Ebene wurde bewusst ein stärkerer Fokus auf Umweltfragen gelegt (SDG 11-15). Vor dem Hintergrund zunehmender Ungleichheiten in vielen Ländern und nach wie vor bestehender Missachtung von Menschenrechten wurden zusätzlich eine Vielzahl sozialpolitischer Indikatoren hinzugefügt, wie z. B. menschenwürdige Arbeit (SDG 8), die Beendigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen (SDG 5) und die Beendigung aller Formen der Gewalt (SDG 16). Die SDGs betonen somit die notwendige Verbindung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Dimension: Alle drei Komponenten müssen für eine nachhaltige und entsprechend langfristig erfolgreiche Armutsbekämpfung be‐ rücksichtigt werden. Zudem zielen die SDGs, im Gegensatz zu den MDGs, nicht nur auf die Entwicklung in ärmeren Ländern (SDG 1-6), sondern sie stellen auch konkrete Forderungen an reichere Länder (SDG 7-12). Aus einer Perspektive der Partnerschaft wurde außerdem festgelegt (SDG 17), dass alle Länder sich an der Zielerreichung beteiligen sollen. Globale nachhaltige Entwicklung kann nur durch koordinierte Maßnahmen auf weltweiter Ebene erreicht werden. Abb. 1.4: Sustainable Development Goals (SDGs) Quelle: UNRIC (2018) 1 Armut und Ungleichheit 32 <?page no="33"?> Es ist ein Erfolg, dass alle Mitglieder der UN-Generalversammlung sich auf eine gemeinsame Agenda zur globalen nachhaltigen Entwicklung einigen konnten. Kritik erfahren die SDGs mit 17 Zielen und 169 Unterpunkten aber dennoch, vor allem, weil sie sowohl zu ambitioniert als auch zu vage seien - eine Meinung, die renommierte Wissenschaftler sowie Vertreter der Politik und der Zivilgesellschaft teilen. Auch werden Entwicklungsziele (Zweck) mit politischen Maßnahmen (Mittel) teilweise vermischt. Zudem kann jedes Land selbst bestimmen, welche nationalen Ziele es sich setzt, um zur globalen Agenda beizutragen. Das fördert zwar nationale Souve‐ ränität und ermöglicht die Anpassung an lokale Möglichkeiten. Allerdings steigt die Gefahr, dass einige Staaten (ohne eine starke Zivilgesellschaft und mit schlechter Regierungsführung) es sich „einfach machen“ und sich die Ziele heraussuchen, die leicht zu erreichen sind bzw. in die politische Agenda passen. Hinzu kommt, dass bei der Vielzahl der Ziele leicht die ursprüngliche Priorisierung der Bekämpfung extremer Armut verlorengeht. Schließlich birgt die formale Verantwortung aller Akteure das Risiko, dass am Ende niemand zur Verantwortung gezogen werden kann. Der Ökonom William Easterly schreibt daher, die Abkürzung SDGs sollte für „senseless, dreamy, garbled“ (unsinnig, verträumt, durcheinander) stehen (Easterly 2015). Ob die SDGs letztlich zur nachhaltigen Entwicklung beitragen, ist vor allem im Hinblick auf deren Umsetzung bis in das Jahr 2030 zu bewerten. 1.3.2 Ab wann gilt man als arm? Absolute und relative Armut Neben der Frage nach den Dimensionen der Armut (z. B. Einkommen oder Bildung) stellt sich diejenige des Grenzwertes (z. B. Höhe des Einkommens, Anzahl der Schuljahre etc.), ab dem eine Person als arm gilt. Diese Grenze kann sowohl als absoluter Wert als auch durch einen relativen Vergleich einer Person mit ihrem sozialen (nationalen) Umfeld bestimmt werden. Ein Beispiel für eine absolute Armutslinie (oder Armutsgrenze oder Armutsschwelle) ist eine Grenze, die sich an einem Existenzminimum orientiert, um menschliche Grundbedürfnisse zu befriedigen. Es wird zuerst berechnet, wie viel Geld benötigt wird, um genügend Lebensmittel zu kaufen, damit die täglich durchschnittlich benötigten 2.100 Kalorien eines Erwachsenen abgedeckt werden können. Alternativ wird berechnet, wie viel es kostet, sich täglich zwei Mahlzeiten zu leisten. Natürlich haben auch extrem arme Bevölkerungsgruppen Grundbedürfnisse, die über Nah‐ rungsmittel hinausgehen. Selbst die Allerärmsten geben „nur“ 50-75 % 1.3 Wer ist „arm“? 33 <?page no="34"?> 6 In Deutschland und der Schweiz werden ca. 10-15 % des Einkommens für Lebensmittel ausgegeben. 7 Die OECD ist ein 1961 gegründeter intergouvernmentaler Zusammenschluss von 36 Mitgliedsstaaten. Die meisten Mitgliedsstaaten sind Länder mit hohem Einkommen. Neben europäischen Staaten sind Australien, Kanada, Chile, Mexiko, Israel, Japan, Südkorea, Neuseeland und die Vereinigten Staaten Mitglieder der OECD. 8 Bereits 1776 schrieb er in seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen“ über die soziale Dimension der Armut, indem er Bezug darauf nahm, wie maßgeblich die ihres Einkommens für Lebensmittel aus. 6 Zudem konsumieren selbst die ärmsten Menschen nicht nur solche Nahrungsmittel, die für den geringsten Preis die größte Kalorienzufuhr ermöglichen (Banerjee und Duflo 2007). Seit vielen Jahren beziehen deshalb fast alle Länder zusätzlich die Kosten für Kleidung, Miete und Bildung in die Berechnung nationaler Armutslinien mit ein. Jeder Mensch in einem Land, der über ein Einkommen unterhalb dieser Armutslinie verfügt, gilt als absolut arm. Welcher Zustand letztendlich zu unmenschlichen Entbehrungen führt, löst immer wieder Diskussionen aus und wird von Land zu Land unterschiedlich definiert. Das führt zum einen zu Anpassungen der nationalen Armutslinie über die Zeit und zum anderen dazu, dass Armutslinien von Land zu Land stark voneinander abweichen (vgl. Tab. 1.1). Nationale Armutslinien sind grundsätzlich in armen Ländern niedriger als in reicheren Ländern. Dies liegt zum einen daran, dass der Warenkorb, der für die Berechnung der Armutslinien herangezogen wird, in armen Ländern normalerweise günstiger ist als in reicheren Ländern (vgl. Kapitel 2, Box 2.2). Es sind jedoch vor allem unterschiedliche Berechnungsmethoden, die zu höheren Armutslinien in wohlhabenderen Staaten, wie zum Beispiel den Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Develop‐ ment, OECD) 7 , führen. In OECD-Ländern finden die oben beschriebenen absoluten Armutslinien meist keine Anwendung (mehr). Armut manifestiert sich dort weniger im nackten Kampf ums Überleben als in der sozialen Ausgrenzung. Bereits im 18. Jahrhundert sprach sich Adam Smith dafür aus, den sozialen Kontext in die Bewertung von Armut einfließen zu lassen. Armut war für ihn nicht nur davon abhängig, ob man sich die zum Überleben notwendigen Güter leisten konnte. In gleicher Weise zentral waren für Adam Smith die Güter, die notwendig waren, um in den entsprechenden sozialen Kreisen akzeptiert zu werden. 8 Es ging folglich nicht um eine 1 Armut und Ungleichheit 34 <?page no="35"?> richtige Kleidung dafür ist, ob man nach den soziokulturellen Normen der jeweiligen Gesellschaft anerkannt wird (Smith 1776: 870 f.). 9 Der Median einer Einkommensverteilung teilt die Einkommen in einem Land in zwei Hälften. Die eine Hälfte der Einkommen liegt über dem Median, die andere Hälfte der Einkommen liegt unter dem Median. absolute Grenze, unterhalb derer man als arm galt, sondern um Armut verstanden als die Position des Einzelnen in Relation zu seinem sozialen Umfeld. Tab. 1.1: Übersicht nationaler Armutslinien Armutslinie pro Tag (2015) Nationale Währung internationale $ € SFr. Schweiz 73,87 SFr. 62,05 68,70 73,87 Deutschland 33,98 € 43,90 33,98 36,65 USA 32,24 US$ 32,24 28,89 30,91 China 6,30 CYN 1,82 0,91 0,97 Indien 32,00 INR 1,88 0,45 0,42 Namibia 17,08 N$ 2,64 1,20 1,25 Anmerkung: Die Spalten internationale $, €, SFr. zeigen die Höhe der nationalen Armutslinie umgerechnet in internationale $, € oder SFr. (Wechselkurs 31.08.2019). Quelle: Weltbank (2019) Relative Armutslinien zeigen demnach auf, wer zur „Unterschicht“ zählt. Nach den Kriterien der Europäischen Union (EU) gilt als relativ arm, wer in einem Haushalt lebt, dessen Einkommen weniger als 60 % des Median-Einkommens der Gesamtbevölkerung beträgt. 9 Steigt das Me‐ dian-Einkommen, steigt auch die relative Armutslinie. Unter der Annahme, dass eine Gesellschaft, in der jeder genau das gleiche Einkommen hat, sehr unwahrscheinlich ist, wird es relative Armut im Gegensatz zur absoluten Armut zu einem gewissen Grad immer geben. 1.3 Wer ist „arm“? 35 <?page no="36"?> 10 Diese 15 Länder besitzen nicht nur die niedrigsten Armutslinien der Welt, sondern auch sehr ähnliche Armutslinien. Länder mit etwas höherem Einkommen weisen höhere Armutslinien auf. 1.3.3 1,90 $ pro Tag - genug zum Leben? Globale Armutsstatistiken basieren auf der 1990 von der Weltbank festge‐ setzten absoluten internationalen Armutslinie. Diese internationale Armutslinie ist der Durchschnitt der nationalen Armutslinien der 15 ärmsten Länder der Welt 10 - umgerechnet in internationale $ (vgl. Kapitel 2, Box 2.2). Die mit dieser Methode im Jahr 1990 festgelegten 1,08 internationalen $ galten lange als Schwellenwert für die Beurtei‐ lung extremer Armut weltweit. Im Jahr 2008 wurde der Wert auf 1,25 internationale $ angehoben. Seit dem Jahr 2015 liegt die Grenze bei 1,90 internationalen $. Die Erhöhung der Werte basiert auf einer Inflations‐ bereinigung, bei der die absolute Kaufkraft des Betrages fast gleichblieb. Um die Anzahl der Menschen in Armut (und die Armutsquote gemäß der internationalen Armutslinie) in einem Land zu ermitteln, werden die 1,90 internationalen $ in die nationale Währung umgerechnet. Anschließend wird mittels Haushaltsbefragungen ermittelt, wer unterhalb dieser Grenze lebt. Nach diesem Maßstab gelten heute etwa 10 % der Weltbevölkerung, oder 800 Millionen Menschen, als arm (Weltbank 2016). Globale Armutsraten geben folglich nur Auskunft über extreme Armut, da sie auf den Armutslinien der ärmsten 15 Länder beruhen. Wer über mehr als 1,90 internationale $ täglich verfügt, gilt nach der internationalen Armutsdefinition nicht als arm. Selbst in den ärmsten Ländern der Welt ist ein Leben mit etwas mehr als 1,90 internationalen $ pro Tag jedoch weiterhin von unwürdigen Lebensbedingungen geprägt. Es gibt daher immer wieder Vorschläge, entweder verschiedene Armutslinien zu definieren, die ein differenzierteres Bild liefern als die Zweiteilung der Menschheit in extrem arm und nicht extrem arm, oder die internationale Armutslinie generell anzuheben. Eine Konkretisierung des zweiten Vorschlags ist eine internationale Armutslinie bei 10 internationalen $ (Pritchett 2006), also ein Fünffaches des derzeitigen Betrags. Da 10 internationale $ ungefähr dem täglichen Durchschnittseinkommen der ärmsten 10 % der Bevölkerung in OECD-Län‐ dern entsprechen, würde sich eine solche Armutslinie nicht am Standard der ärmsten Länder, sondern an den Ärmsten der OECD-Länder orientieren (Weltbank 2019a). Der Anteil armer Menschen nach dieser Armutslinie läge nicht bei 10 %, sondern bei über 60 % der Weltbevölkerung (vgl. Abb. 1.5). 1 Armut und Ungleichheit 36 <?page no="37"?> Die Aussage, dass sich die Armut in den letzten 25 Jahren stark reduziert hat, ist aber auch bei einer Armutslinie von 10 internationalen $ zutreffend. Abb. 1.5: Weltweite Armut gemäss verschiedener Armutslinien, 2017 Quelle: Weltbank (2019a) 734 4.028 2.593 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % Weltbevölkerung (in %) Bevölkerung in extremer Armut (< 1,9 internationale $/ Tag, in Mio.) Bevölkerung in Armut (1,9 - 10 internationale $/ Tag, in Mio.) Bevölkerung außerhalb Armut (> 10 internationale $/ Tag, in Mio.) Abb. 1.5: Weltweite Armut gemessen an verschiedenen Armutslinien, 2017 Quelle: Weltbank (2019a) Ob für entwicklungspolitische Analysen eine nationale oder die internatio‐ nale Armutslinie vorzuziehen ist, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Nationale Politikempfehlungen sollten auf nationalen Armutslinien basieren, da diese an die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten des entsprechenden Landes angepasst sind. Zum Vergleich der Armut zwischen den Ländern dient die internationale Armutslinie, da diese Unterschiede in der Kaufkraft berücksichtigt und für alle Länder dieselbe ist. 1.3.4 Armutsrate, Armutslücke, Armutsintensität Armutslinien und die daraus abgeleitete Armutsquote geben Auskunft über den Anteil der Bevölkerung, der als arm gilt. Sie sagen jedoch nichts über die Intensität der Armut aus. Bei einer Armutsquote von beispielsweise 40 % basierend auf einer Armutslinie von 5 € pro Tag weiß man nicht, ob 40 % der Bevölkerung mit durchschnittlich 4,99 € pro Tag auskommen müssen oder mit sehr viel weniger, z. B. nur 50 Cent pro Tag. Es bedarf daher weiterer Maße zur Armutsmessung: die sogenannte Armutslücke und die Armutsintensität. Die Armutslücke zeigt auf, wie weit die Bevölkerung im Durchschnitt unter der Armutslinie liegt. Die Armutsintensität berück‐ sichtigt zudem die Ungleichheit unter den Armen, indem sie Personen, die besonders arm sind, ein stärkeres Gewicht in der Berechnung der Armut gibt. Da diese Konzepte von den Ökonomen Foster, Greer und Thorbecke 1.3 Wer ist „arm“? 37 <?page no="38"?> (1984) entwickelt wurden, spricht man auch oft von FGT0 (Armutsrate oder Armutsquote), FGT1 (Armutslücke) und FGT2 (Armutsintensi‐ tät). Details zur Berechnung von FGT1 und FGT2 finden sich in Box 1.2. Box 1.2 | Armutsrate, Armutslücke und Armutsintensität Die Armutsrate oder auch Armutsquote (FGT0) ergibt sich durch die Anzahl der Personen (H) unterhalb der Armutslinie geteilt durch die Ge‐ samtbevölkerung (N). Zur Ermittlung der Armutslücke (FGT1) wird für jede Person unter der Armutslinie zunächst die Differenz zwischen der Armutslinie (z) und ihrem Einkommen (y i ) berechnet. Diese Differenz wird anschließend relativ zur Armutslinie gestellt. Der entsprechende Wert z − yi z ist als individuelle Armutslücke zu verstehen. Im nächsten Schritt werden die Differenzen über alle armen Personen (H) aufsum‐ miert und die Summe durch die Gesamtbevölkerung (N) geteilt. Daraus ergibt sich als Formel zur Berechnung der Armutslücke (Englisch: poverty gap): FGT1= 1 N ∑ i = 1 H z − yi z Eine Armutslücke von 0,25 bedeutet beispielsweise, dass die Finanzres‐ sourcen, die man pro Person in einem Land (nicht pro arme Person) benötigt, um Armut zu eliminieren, 25 % der Armutslinie (z) betragen. Zur Berücksichtigung bestehender Ungleichheiten zwischen den Ar‐ men und damit von Unterschieden in der Armutsintensität kann die individuelle Armutslücke noch quadriert werden. Die Armutsintensität (Englisch: poverty severity) ergibt sich damit aus: FGT2= 1 N ∑ i = 1 H z − yi z 2 Praxis und Politik wenden FGT2 allerdings kaum an, da die berechne‐ ten Werte von FGT2 keine direkte Interpretation zulassen und nur einen Vergleich zwischen Ländern oder über die Zeit erlauben (höhere FGT2-Werte bedeuten eine höhere Armutsintensität). 1 Armut und Ungleichheit 38 <?page no="39"?> 11 Der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften wird seit 1968 von der Schwedischen Reichsbank finanziert und nicht wie der Nobelpreis für Physik, Literatur, Medizin, Chemie und Friedensbemühungen aus dem Stiftungsvermögen von Alfred Nobel. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Preis als „Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften“ bezeichnet. 1.3.5 Armut bedeutet fehlende Freiheiten Amartya Sen ist ein Ökonom und Philosoph, dessen Theorien eine weitrei‐ chende Bedeutung für die Entwicklungsökonomik haben. Für diese erhielt er unter anderem 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. 11 Sens Ideen zu ökonomischen Freiheiten sowie zu sozialer Gerechtigkeit haben den Diskurs zur Armut stark geprägt. Sen versteht Armut nicht primär als materielle oder soziale Entbehrung, sondern als einen Zustand fehlender Freiheiten oder Wahlmöglichkeiten. Ausgangspunkt für den von ihm geprägten Verwirklichungschancen‐ ansatz (Englisch: capability approach) ist die Auffassung einer rein instru‐ mentellen Bedeutung von materiellem Besitz für die Überwindung von Armut. Sen sieht materielle Ressourcen lediglich als Mittel zum Zweck (Sen 2000). Der Zweck an sich, folglich das Ziel von Entwicklung, ist für Sen die Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Sen differenziert bei seinem Ansatz zwischen den Freiheiten bzw. Verwirkli‐ chungschancen oder Wahlmöglichkeiten, die Bürger haben, um ihr Leben zu leben (Englisch: capabilities), und der tatsächlichen Nutzung dieser Freiheiten (Englisch: achieved functionings). Während die Verwirklichungschancen von dem Vorhandensein gewisser Güter und Dienstleistungen abhängig sind sowie von der Fähigkeit der Menschen, diese zu nutzen, ist deren tatsächliche Nutzung eine persönliche Entscheidung. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ob ein Mädchen Lesen und Schreiben lernt, hängt erst einmal von staatlichen Investitionen in gut ausgebildete und motivierte Lehrer ab, von einer Familie, die das Mädchen zur Schule schickt, sowie von einer Transport- und Schulinfrastruktur, die niemanden aufgrund seiner physischen Möglichkeiten ausschließt. Ob das Mädchen letztendlich gut Lesen und Schreiben lernt, hängt zu einem gewissen Grad auch von ihrer persönlichen Entscheidung ab, lernen zu wollen. Während Sens neues Verständnis von Armut und Entwicklung schnell Eingang in den Entwicklungsdiskurs gefunden hat und zur Kritik bisheriger Ansätze zur Messung von Armut geführt hat, ist die praktische Operationa‐ 1.3 Wer ist „arm“? 39 <?page no="40"?> lisierung weiterhin eine Herausforderung. Zum einen ist es schwierig, das Gemeinwohl einer Gesellschaft nach diesem Verständnis zu messen: Verwirkli‐ chungschancen (Englisch: capabilities), z. B. die Freiheit, gesund zu leben, sind kaum quantifizierbar. Im Gegensatz dazu kann die Nutzung dieser Freiheiten (Englisch: achieved functionings) - in diesem Fall ein gesunder Mensch - mittels verschiedener Indikatoren gemessen werden. Zum anderen ist es fast unmöglich, eine abschließende (kulturell unabhängige) Liste von Verwirkli‐ chungschancen zu definieren. Sens Verständnis von Entwicklung lieferte jedoch die theoretische Grundlage für den seit 1990 von der UN veröffentlichten HDI und den seit 2010 veröffentlichten MPI (vgl. Kapitel 1.3.1). 1.4 Die neue Geografie der Armut 1.4.1 Von Asien nach Afrika Den meisten Ländern gelang es, durch technologischen Fortschritt (vgl. Kapitel 2.3), zunehmende Industrialisierung (vgl. Kapitel 2.5), verbesserte staatliche Institutionen (vgl. Kapitel 3), Investitionen in Bildung und Gesundheit (vgl. Kapitel 5), sowie durch die Globalisierung (vgl. Kapitel 7) in den letzten 30-50 Jahren - von wenigen kurzfristigen Unterbrechungen abgesehen - ein konti‐ nuierliches Wirtschaftswachstum zu erzielen. In der von Paul Collier (2007) sogenannten Unteren Milliarde (Englisch: bottom billion) blieb dieses bis zur Jahrtausendwende jedoch aus. Mit dem Begriff „Untere Milliarde” bezeichnet Collier die Menschen in den 60 ärmsten Ländern, in denen zusammengerechnet eine Milliarde der Weltbevölkerung wohnt. 1 Armut und Ungleichheit 40 <?page no="41"?> Abb. 1.6: Wo leben Menschen in Armut? 0 200 400 600 800 1.000 1.200 1.400 1.600 1.800 2.000 1981 1990 1996 1999 2005 2010 2013 Anzahl Menschen in extremer Armut (in Millionen) Ostasien & Pazifik Südasien Europa & Zentralasien Lateinamerika & Karibik Sub-Sahara Afrika Quelle: Weltbank (2019a) Abb. 1.6: Wo leben Menschen in Armut? Quelle: Weltbank (2019a) Durch den wirtschaftlichen Aufschwung vor allem vieler asiatischer Länder innerhalb der letzten 25 Jahre hat sich die Geografie der Armut stark gewandelt (vgl. Abb. 1.6). Über die letzten 25 Jahre ist die Anzahl der extrem Armen in Asien um ca. eine Milliarde zurückgegangen, während in Sub-Sahara Afrika die absolute Anzahl an Menschen in Armut zugenommen hat - auch wegen des starken Bevölkerungswachstums in vielen afrikani‐ schen Ländern (vgl. Kapitel 5.1). Heute leben deshalb etwa die Hälfte aller Menschen in extremer Armut in Sub-Sahara Afrika, während es 1990 nur knapp 10 % aller extrem Armen waren (vgl. Abb. 1.6). Schätzungen gehen davon aus, dass im Jahr 2030 90 % der extrem Armen auf dem afrikanischen Kontinent leben. Anders ausgedrückt, während in Südasien heute nur noch 15,1 % als extrem arm gelten und in Ostasien 3,4 %, leben in Afrika immer noch 41 % der Bevölkerung in extremer Armut. 1.4.2 Arme leben nicht nur in armen Ländern Der wirtschaftliche Aufschwung vieler asiatischer Länder hat allerdings auch dazu geführt, dass viele Menschen in extremer Armut heute nicht mehr in den ärmsten Ländern (Low Income Countries, LICs, vgl. Kapitel 2.1.3) 1.4 Die neue Geografie der Armut 41 <?page no="42"?> der Welt leben, sondern in Ländern mit mittlerem Einkommen (Middle Income Countries, MICs). Lebten 1990 noch 94 % aller extrem armen Menschen in LICs (Sumner 2012), sind es heute nur noch knapp 35 % (vgl. Abb. 1.7). Die anderen 65 % leben in Ländern mit mittlerem Einkommen. Dieses Phänomen ist zum einen darauf zurückzuführen, dass sich die Anzahl der LICs seit 1990 um mehr als die Hälfte von 64 auf 31 verringert hat. Die Zahl der Länder mit mittlerem Einkommen hat dementsprechend zugenom‐ men. Hinzu kommt, dass viele der Länder, die in den letzten Jahren in die Kategorie der Länder mit mittlerem Einkommen aufgestiegen sind, eine sehr große Bevölkerung aufweisen. In absoluten Zahlen leben in diesen Staaten daher viele Menschen in Armut (Indien, China, Nigeria, Indonesien und Bangladesch), auch wenn die Armutsrate in diesen Ländern stark gesunken ist. Diese Entwicklung hat jedoch nichts daran geändert, dass der Anteil armer Menschen in LICs mit 44 % immer noch am höchsten ist. Im Jahr 2016 zählten Madagaskar, Sambia, die Demokratische Republik Kongo, Guinea-Bissau, Burundi, Liberia, Zentralafrika, Malawi und Mosambik zu den Ländern mit den höchsten Armutsraten. 050 100 150 200 250 300 350 400 450 500 Länder mit niedrigem Einkommen Länder mit mittlerem Einkommen 05 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Arme (absolut, in Millionen) Armutsrate (in %) Armutsrate (<1,9 internationale $/ Tag) Armutszahlen (<1,9 internationale $/ Tag) Abb. 1.7: Armutszahlen versus Armutsraten (2013) Anmerkung: Einteilung der Länder nach niedrigem und mittlerem Einkommen gemäß Weltbank. Quelle: Weltbank (2018) 1 Armut und Ungleichheit 42 <?page no="43"?> 12 Die Definition von Städten ist von Staat zu Staat unterschiedlich und reicht von einer Mindesteinwohnerzahl von 2.000 bis zu einer Mindesteinwohnerzahl von 50.000. Zusätzlich ziehen einige Länder weitere Indikatoren wie zum Beispiel die Bevölke‐ rungsdichte hinzu. Die neue Geografie der Armut hat auch eine Debatte über die zukünftige geografische Ausrichtung der internationalen Armutsbekämpfung entfacht (vgl. Kapitel 8). Soll der Fokus auf den Ländern liegen, in denen absolut die meisten armen Menschen leben, auch wenn diese als MICs eingestuft sind, oder auf den LICs, in denen der Anteil an Menschen in Armut besonders hoch ist? Die einen argumentieren, dass Länder wie Indien, Brasilien oder China über ein ausreichend großes BIP pro Kopf verfügen, um Armut durch Umverteilung zu reduzieren (Collier 2007). Die limitierten Mittel der Entwicklungszusammen‐ arbeit (vgl. Kapitel 8.2.1) sollten demnach auf die ärmsten Länder fokussiert werden, die Armut mittelfristig nicht aus eigener Kraft bekämpfen können (vgl. Kapitel 2.2 und Kapitel 4.2). Andere weisen darauf hin, dass es nicht ausreiche, auf die potenzielle Möglichkeit eines Landes zur Armutsreduktion zu verweisen, wenn diese nicht realisiert wird. Zudem sollte es hinsichtlich der globalen Armutsbekämpfung irrelevant sein, wo Menschen in Armut leben (Kanbur und Sumner 2012). Ein weiterer Aspekt in der Debatte ist die Bekämpfung des Klimawandels (vgl. Kapitel 6.2.3). MICs generieren, analog zu den Staaten Europas und Nordamerikas, ihr Wirtschaftswachstum häufig stark zu Lasten der Umwelt. Um Umweltschäden zu minimieren, ohne Ländern mit mittlerem Einkommen das Recht auf Entwicklung abzusprechen, bedarf es eines Wissens- und Technologietransfers, zu dem die internationale Zusammenarbeit einen wichtigen Beitrag leisten kann. 1.4.3 Vom Land in die Stadt Im Jahr 1800 lebten nur 2 % der Weltbevölkerung in Städten. 12 150 Jahre später waren es bereits 30 %. Seit 2015 zählt über die Hälfte der Menschheit zur urbanen Bevölkerung. Bis in das Jahr 2050 wird sich diese Zahl Schätzungen zufolge auf 66 % erhöhen. Nahezu 90 % des globalen Zuwachses der städtischen Bevölkerung bis 2050 wird in Asien und Afrika stattfinden (UN Population Division 2015), also auf Kontinenten, die bisher durch eine hohe ländliche Bevölkerung geprägt waren. Prognosen zufolge werden sich nicht nur die bereits existierenden Mega-Städte (mit mehr als 10 Mio. 1.4 Die neue Geografie der Armut 43 <?page no="44"?> 13 Der Begriff „Slum“ (aus dem Irischen für „Elendsviertel“) wird in letzter Zeit vermehrt kritisiert, da er leicht zu einer Stereotypisierung und Stigmatisierung der in Slums lebenden Bevölkerung führen kann (Mayne 2017). 14 Ein Haushalt wird gemäß UN-Habitat (2012) zu einem Slum zugehörig gezählt, wenn er durch mindestens eine der folgenden fünf Eigenschaften charakterisiert ist: fehlende Eigentumsrechte, fehlender Zugang zu Trinkwasser, fehlender Zugang zu sanitären Einrichtungen, mangelnder Wohnraum oder instabile Baustruktur. Einwohnern), wie z. B. Delhi, Lagos und Mexico City, enorm ausdehnen, sondern auch die Anzahl dieser Mega-Städte wird von heute 28 auf über 40 im Jahr 2050 anwachsen (UN Population Division 2015). Was bedeutet die Verstädterung für die Geografie der Armut und die Armutsbekämpfung? Wie unterscheidet sich urbane von ruraler Armut? Die rasante (und ungeplante) Urbanisierung stellt viele Städte in Ent‐ wicklungsländern vor enorme Herausforderungen (vgl. Kapitel 6.2.1). Wäh‐ rend es in Europa 150 Jahre dauerte, bis die Bevölkerung in der Stadt von 10 % auf 50 % angewachsen war, verläuft dieser Prozess in den meisten Ländern Asiens und Afrikas doppelt so schnell. Vorteile des städtischen Lebens, wie beispielsweise Arbeitsteilung, höhere Innovationskraft und eine effizientere Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen durch Skaleneffekte, können deshalb in diesen Regionen nicht immer realisiert werden (Bloom et al. 2008). Stattdessen führt die hohe Bevölkerungszahl und -dichte in Metropolen häufig zu neuen Schwierigkeiten, wie zum Beispiel einem erhöhten Müllaufkommen, schnellerer Ausbreitung von Krankheiten, Luftverschmutzung, höheren Anforderungen an die Mo‐ bilität, mangelnder Hygiene, erhöhten Mietpreisen und steigender Kriminalität. Viele Familien, die das Leben auf dem Land wegen mangelnder Einkom‐ mensmöglichkeiten in der Hoffnung auf Arbeit in der Stadt hinter sich gelassen haben, leben unter prekären Umständen (vgl. Box 1.1). Schätzungs‐ weise 40 % der städtischen Bevölkerung oder 1,5 Milliarden Menschen weltweit leben heute in sogenannten „Slums“. 13 Im Wesentlichen handelt es sich dabei um „informelle Siedlungen“ in Städten mit de jure oder de facto unsicheren Eigentumsrechten (vgl. Kapitel 3.2.1), für die kein Schutz gegen Zwangsräumungen besteht 14 und für die der Staat oder die Städte keine öffentliche Infrastruktur zur Verfügung stellen. Die Wohnverhältnisse in informellen Siedlungen sind oft sehr beengt (ein Raum pro Familie) und gefährlich (keine permanenten Strukturen der Unter‐ künfte). Darüber hinaus verfügen die Menschen über keinen ausreichenden 1 Armut und Ungleichheit 44 <?page no="45"?> 15 Eine umfassende Übersicht der offiziellen Maßnahmen zur Beseitigung bzw. Integration von informellen Siedlungen in Städten geben Marx et al. (2013). Zugang zu Trinkwasserversorgung, sanitären Anlagen, Müllabfuhr, Straßen oder Elektrizität. Einkommensbasierte Armutsraten in LICs sind auf dem Land (45 %) allerdings immer noch sehr viel höher als in der Stadt (24 %), auch wenn ländliche Armut zwischen 2000 und 2015 schneller gesunken ist als städtische Armut (Weltbank 2019). Auch ist der Gesundheitszustand der Bevölkerung in den Städten, und sogar in den „Slums“, weiterhin besser als auf dem Land (Fink et al. 2014) - dank höherem Einkommen, höherer Bildung und besserer Gesundheitsversorgung und trotz schlechteren Luft- und Hygienebedingungen als auf dem Land. Allerdings sind Verkehrsunfälle mittlerweile auch in LICs eine der zehn häufigsten Todesursachen (vgl. Kapitel 5, Tab. 5.2). Armutsbekämpfung ist somit auch zu einer zentralen Aufgabe der Städte geworden. Den vielfältigen neuen Herausforderungen der urbanen Ar‐ mutsbekämpfung - wie ungeklärte Eigentumsrechte, hohe Bevölkerungs‐ dichte, schnelles städtisches Wachstum, hohe Mobilität der Bevölkerung - steht gegenüber, dass Maßnahmen zur Reduktion der Armut auch von deren geografischer Konzentration in den Städten profitieren können. Öffentliche Dienstleistungen (z. B. Krankenhäuser und Schulen) können zum Beispiel im urbanen Raum effizienter zur Verfügung gestellt werden als auf dem Land. Obwohl viele Regierungen inzwischen verstärkt daran arbeiten, die Bewohner der informellen Siedlungen in das städtische Leben zu integrieren oder zumindest deren Lebensverhältnisse zu verbessern, 15 kommt es in einigen Ländern immer noch zu Zwangsräumungen. 1.5 Armut - eine Frage der Verteilung? Im Jahr 2017 betrug das gesamte Einkommen der Welt 127 Billionen internationale $ (Weltbank 2019). Bei einer Weltbevölkerung von 7,55 Milliarden Menschen stünden jedem Weltbürger im Durchschnitt 16.821 internationale $ jährlich, oder 46 internationale $ am Tag zur Verfügung. Dieser Betrag entspricht mehr als dem Zwanzigfachen der internationalen Armutslinie, unter der noch immer 800 Millionen Menschen leben. Armut im 21. Jahrhundert ist somit eindeutig eine Frage der Verteilung des weltweiten Einkommens. 1.5 Armut - eine Frage der Verteilung? 45 <?page no="46"?> Wenn global im Durchschnitt ein Pro-Kopf-Einkommen von 16.821 in‐ ternationalen $ generiert wird, stellt sich die Frage, ob die Ursachen der extremen Armut primär auf nationaler oder globaler Ebene zu suchen sind. Anders ausgedrückt: Ist die globale extreme Armut vor allem durch eine ungleiche Verteilung von Einkommen zwischen den Ländern oder innerhalb der Länder zu erklären? 1.5.1 Wie wird Ungleichheit gemessen? Auf den ersten Blick scheint es einfach, das Konzept von Ungleichheit zu verstehen und darzustellen. Jegliche Abweichungen vom Zustand der Gleichheit, gekennzeichnet dadurch, dass alle über das gleiche Einkommen oder Vermögen verfügen, führen zu einem Zustand der Ungleichheit (ob dieser Zustand ungerecht ist, ist natürlich eine andere Frage). Wie aber kann man Ungleichheit messen, um Veränderungen über die Zeit oder Unterschiede zwischen Ländern und innerhalb von Ländern aufzuzeigen? Einkommensungleichheit lässt sich zum einen grafisch darstellen. Sortiert man alle Einwohner eines Landes vom ärmsten bis zum reichsten Einwohner von links nach rechts, zeigt deren kumulierten Anteil am Gesamteinkom‐ men des Landes auf und verbindet diese Punkte zu einer Linie, ist das Resultat eine Lorenzkurve, benannt nach dem Ökonomen Max Otto Lorenz (vgl. Abb. 1.8). 1 Armut und Ungleichheit 46 <?page no="47"?> Abb. 1.8: Beispiel einer Lorenzkurve 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Einkommen (in %) Bevölkerung (in %) Lorenzkurve A B C D Gini = Fläche D Fläche ABC Abb. 1.8: Beispiel einer Lorenzkurve Die x-Achse der Lorenzkurve stellt den kumulierten Anteil der Bevölkerung eines Landes dar. Die y-Achse bildet die jeweiligen kumulierten Anteile am Gesamteinkommen ab, so dass die Gesamtbevölkerung beziehungsweise das Gesamteinkommen jeweils 100 % entspricht. In Abb. 1.8 ist aus der exemplarisch dargestellten Lorenzkurve ablesbar, dass die ärmsten 30 % der Bevölkerung nur über 5 % des Gesamteinkommens verfügen, die ärmsten 50 % über 15 %, und die ärmsten 70 % über 30 % des Gesamteinkommens. Im Fall einer völligen Gleichverteilung der Einkommen würde die Lo‐ renzkurve auf der 45-Grad-Gerade zwischen Punkt A und C liegen. 10 % der Bevölkerung würden dann genau 10 % des Gesamteinkommens besitzen, 20 % der Bevölkerung 20 %, 50 % der Bevölkerung 50 % des Gesamteinkommens usw. Je ungleicher die Einkommensverteilung, desto weiter ist die Lorenzkurve von dieser Geraden entfernt. Die Lorenzkurve kann natürlich auch für die Vermögensverteilung innerhalb eines Landes gezeichnet werden. 1.5 Armut - eine Frage der Verteilung? 47 <?page no="48"?> Obwohl die Lorenzkurve sehr anschaulich ist, sind eindeutige Aussagen über Veränderungen in der Einkommensungleichheit über die Zeit (oder über Länder hinweg) nur möglich, wenn sich verschiedene Kurven nicht schneiden. Deshalb werden zum Vergleich zwischen Ländern (oder über die Zeit) quantitative Ungleichheitsmaße herangezogen, denen bestimmte Axiome (oder Grundsätze) zugrunde liegen. Der Gini-Koeffizient oder Gini ist eines der am häufigsten genutzten Maße unter den Ungleichheitsindikatoren, die über die letzten Jahre entwickelt wurden (vgl. Box 1.3 zur Berechnung). Der Gini lässt sich auch aus der Lorenzkurve ableiten. Hierzu wird die Fläche zwischen der Lorenzkurve und der 45-Grad-Achse durch die Gesamtfläche des Dreiecks unterhalb der 45-Grad-Achse geteilt: Gini=D/ ABC (vgl. Abb. 1.8). Der Gini liegt somit immer zwischen 0 und 1. Je näher der Gini an der 1 liegt, desto größer die Ungleichheit. Eine Gesellschaft, in der jeder Mensch das gleiche Einkommen (oder auch Vermögen oder Bildung) hätte, würde zu einem Gini von 0 führen. Ein Gini von 1 hingegen bedeutet, dass eine Person alles besitzt und alle anderen Bewohner eines Landes nichts. In der Realität beobachtet man Gini-Werte für das Einkommen zwischen 0,24 (Schweden) und 0,63 (Südafrika) (Weltbank 2019). Box 1.3 | Der Gini Bevor Ungleichheit gemessen werden kann, gilt es, Grundsätze (oder Axiome) zu definieren, die der Berechnung zugrunde liegen. Ein Un‐ gleichheitsmaß ist dabei eine Funktion I(x), die einer gewissen Einkom‐ mensverteilung eine reele Zahl zuweist, so dass der Wert von I(x) bei zunehmender Ungleichheit steigt. In den meisten derzeit verwendeten Ungleichheitsmaßen finden die folgenden zwei Grundsätze Anwen‐ dung: die Pigou-Dalton-Bedingung (Englisch: Pigou-Dalton transfer principle) sowie die Skalenunabhängigkeit (Englisch: scale invariance). Die Pigou-Dalton-Bedingung legt zu Grunde, dass ein Einkommens‐ transfer von einer armen zu einer vergleichsweise reicheren Person immer zu einer höheren Ungleichheit in der Messung führen sollte. Ein Transfer von einer reicheren zu einer ärmeren Person führt hingegen zu einer Reduktion der gemessenen Ungleichheit (solange die beiden Personen nicht ihre Position auf der Einkommensverteilung tauschen). Nach dem Grundsatz der Skalenunabhängigkeit sollte die gemessene Ungleichheit sich nicht verändern, wenn man das Einkommen aller 1 Armut und Ungleichheit 48 <?page no="49"?> Personen mit einem Faktor x multipliziert. Eine Einkommensverteilung von 1 €, 2 €, 5 € und 10 € ist somit einer Einkommensverteilung von 10 €, 20 €, 50 € und 100 € gleichzusetzen. Der Gini-Koeffizient, der von dem italienischen Statistiker Corrado Gini entwickelt wurde, erfüllt sowohl die Pigou-Dalton-Bedingung als auch die Skalenunabhängigkeit und lässt sich neben der grafischen Ableitung mathematisch berechnen als: Gini = ∑ i = 1 n ∑ j = 1 n xi − x j 2n∑i = 1 n xi x i stellt das Einkommen einer Person i dar und n die Anzahl der Personen innerhalb einer Gesellschaft. Den Gini-Koeffizienten erhält man demnach dadurch, dass man jedes Einkommen von jedem anderen Einkommen subtrahiert, die Differenzen aufaddiert und danach die Summe durch die doppelte Summe aller Einkommen (multipliziert mit der Gesamtbevölkerung) dividiert. Man kann sich natürlich fragen, welche Erkenntnis man daraus ziehen kann, dass der Gini-Koeffizient für das Einkommen der Schweiz bei 0,33 und für Südafrika bei 0,63 liegt. Dies gilt generell für alle Maße, die versuchen ein komplexes Thema auf eine einzige Zahl herunter zu brechen. Auch eine normative Aussage darüber, was ein optimaler Wert für eine Einkommensverteilung ist und was nötig wäre, um diesen zu erreichen, ist anhand des Gini-Koeffizienten nicht möglich. Hinzu kommt, dass der Gini-Koeffizient nur relative Unterschiede im Einkommen misst (vgl. Box 1.3). Die empfundene Ungleichheit der Bevölkerung wird allerdings auch von absoluten Unterschieden im Einkommen beeinflusst (Kanbur 2001). Während beispielsweise der Gini sowohl für eine Einkommensverteilung von 10 US$, 10 U$, 100 US$ als auch für eine Einkommensverteilung von 1.000 US$, 1.000 US$, 10.000 US$ 0,5 beträgt (vgl. Box 1.3), würden viele Menschen die zweite Verteilung als ungleicher empfinden. Letztlich ist die gefühlte Ungleichheit für den Zusammenhalt einer Gesellschaft mindestens so relevant wie die objektiv gemessene Ungleichheit (Stewart 2011). Seine weite Verbreitung und Be‐ kanntheit hat der Gini-Koeffizient insbesondere dadurch erlangt, dass er einen Vergleich hinsichtlich der Ungleichheit zwischen Ländern und über die Zeit ermöglicht. 1.5 Armut - eine Frage der Verteilung? 49 <?page no="50"?> Tab. 1.2: Gini- und Palma-Index im Vergleich Gini-Index Palma-Index Deutschland 0,31 1,0 Schweiz 0,33 1,1 Österreich 0,31 1,1 USA 0,41 1,8 Ghana 0,44 2,2 Namibia 0,59 6,7 Anmerkung: Ungleichheit gemessen am verfügbaren Einkommen (nach Steuern und Transferleistungen) oder gemessen an den Konsumausgaben. Quelle: Weltbank (2019) In den letzten Jahren hat neben dem Gini-Koeffizienten der Palma-Index (benannt nach dem chilenischen Ökonomen Jose Gabriel Palma) dank seiner intuitiven Berechnung und Interpretation als Ungleichheitsmaß an Bedeutung gewonnen. In den OECD-Staaten wird er z. B. für das Monitoring der SDGs genutzt. Im Gegensatz zum Gini-Koeffizienten betrachtet der Palma-Index nicht die Einkommensverteilung der gesamten Bevölkerung ei‐ nes Landes (vgl. Box 1.3), sondern er teilt lediglich den Einkommensanteil der reichsten 10 % der Bevölkerung durch den Einkommensanteil der ärmsten 40 % (und erfüllt somit nicht strikt die Pigou-Dalton-Bedingung, vgl. Box 1.3). Dieser Fokus basiert auf der empirischen Beobachtung, dass die mittleren 50 % der Bevölkerung einen relativ konstanten Anteil am Gesamteinkommen aufweisen (über die Zeit und über verschiedene Länder betrachtet), während Veränderungen der Einkommensverteilung sich meist in den Extremen abspielen. Obwohl der Gini-Koeffizient die Mitte der Einkommensverteilung stark gewichtet, während sich der Palma auf die Enden der Einkommensverteilung fokussiert, kommen der Palma- und der Gini-Index meist zu einer recht ähnlichen Einschätzung, welche Länder weltweit die höchste Einkommensungleichheit aufweisen (vgl. Tab. 1.2). 1 Armut und Ungleichheit 50 <?page no="51"?> 1.5.2 Ungleichheit in und zwischen Ländern Abb. 1.9: Nationale Einkommensungleichheit Anmerkung: Gini-Koeffizienten pro Land gemessen am verfügbaren Einkommen (nach Steuern und Transferleistungen) oder gemessen an den Konsumausgaben (für ärmere Länder). Quelle: Weltbank (2018) 0,51-0,70 0,41-0,50 0,31-0,40 0,16-0,30 Keine Daten Abb. 1.9: Nationale Einkommensungleichheit Anmerkung: Gini-Koeffizienten pro Land gemessen am verfügbaren Einkommen (nach Steuern und Transferleistungen) oder gemessen an den Konsumausgaben (für ärmere Länder). Quelle: Weltbank (2019) Die Messung von Ungleichheit (und auch von Armut, vgl. Kapitel 1.3) erfolgt meist anhand von Einkommensdaten auf Haushaltsebene - entweder basierend auf repräsentativen Haushaltsumfragen oder Steuerdaten. In sehr armen Ländern ist es oft schwer, das Einkommen von Haushalten zu messen, da viele Haushalte in der eigenen Landwirtschaft oder im informellen Sektor arbeiten und somit keinen geregelten Lohn erhalten. Insbesondere bei Subsistenzwirtschaft, die darauf ausgelegt ist, dass Menschen davon leben, ihre Produkte selbst zu konsumieren, anstatt diese auf dem Markt zu verkaufen und ein Einkommen zu generieren, ist es fast unmöglich, das Einkommen eines Haushaltes zu messen. Die Messung von Ungleichheit (und Armut) in ärmeren Ländern basiert daher häufig auf Konsumdaten der Haushalte, die leichter in Umfragen zu erheben sind. Allerdings ist Ungleichheit im Konsum tendenziell niedriger als Einkom‐ mensungleichheit. Das liegt daran, dass Menschen mit höherem Einkom‐ men einen Teil dieses Einkommens sparen und nicht alles konsumieren, während ärmere Menschen ihr Einkommen meist vollständig konsumie‐ ren. Unterschiede im Konsum sind deshalb geringer als Unterschiede im Einkommen. Ungleichheit in Entwicklungsländern wird daher relativ zu Ländern in Europa wahrscheinlich unterschätzt. Noch höher als die 1.5 Armut - eine Frage der Verteilung? 51 <?page no="52"?> 16 Prognosen für das Jahr 2050 gehen allerdings von einer steigenden Ungleichheit innerhalb und einer sinkenden Ungleichheit zwischen den Ländern aus. Einkommensungleichheit wäre die gemessene Ungleichheit im Vermögen (sowohl in reicheren als auch in ärmeren Ländern). Allerdings gibt es für die meisten Länder kaum verlässliche Daten über die Vermögensbestände der Bevölkerung, weshalb ein internationaler Vergleich nicht möglich ist. Ein erster Vergleich von nationalen Ungleichheiten zeigt auf (vgl. Abb. 1.9), dass viele Länder mit hohen Armutsraten, wie zum Beispiel Burkina Faso (43,7 %) oder Tansania (49,1 %), nationale Gini-Koeffizienten aufweisen, die vergleichbar mit den meisten europäischen Ländern sind. In einigen Ländern mit niedrigen Armutsraten, wie zum Beispiel Brasilien (3,4 %) oder China (0,7 %), liegt hingegen eine relativ hohe nationale Einkommensun‐ gleichheit vor (vergleichbar mit den USA). Zusätzlich lässt sich beobachten, dass die nationale Ungleichheit in Nordamerika, Lateinamerika und dem südlichen Afrika höher ist als in Europa, dem nördlichen und östlichen Afrika und Asien (vgl. Abb. 1.9). Der Gini der globalen Einkommensungleichheit, d. h. die Ungleich‐ heit zwischen allen Menschen der Welt unabhängig davon, wo sie leben, beläuft sich auf 0,69 (Milanovic 2016). Dieser Wert ist höher als die Einkom‐ mensungleichheit in Südafrika, dem Land mit der höchsten gemessenen nationalen Ungleichheit (vgl. Abb. 1.9). Wie aus Abb. 1.10 ersichtlich wird, ist deshalb globale Einkommensungleichheit heute vor allem auf Ein‐ kommensunterschiede zwischen und nicht innerhalb der Länder zu‐ rückzuführen. 16 Die globale Einkommensungleichheit mit einem Gini-Wert von 0,69 setzt sich aus einem Gini von 0,60 zwischen den Ländern und einem Gini von 0,09 innerhalb der Länder zusammen. Das bedeutet zum einen, dass globale Armut im 21. Jahrhundert nicht nur durch Umverteilung innerhalb von Ländern, sondern vor allem auch durch globale Umverteilung zwischen Ländern zu bekämpfen ist. Wenn die Entwicklungszusammenarbeit, die heute circa 150 Milliarden entspricht, nicht massiv steigt (vgl. Kapitel 8.2), bedeutet dies aber auch, dass globale Armutsbekämpfung entwicklungs‐ politische Maßnahmen umfassen muss, die das Durchschnittseinkommen in Entwicklungsländern erhöhen, d. h. das Wirtschaftswachstum in diesen Ländern ankurbeln (vgl. Kapitel 2). 1 Armut und Ungleichheit 52 <?page no="53"?> Abb. 1.10: Arme Länder oder ungleiche Länder? Quelle: Milanovic (2015: 51) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 1850 2011 2050 Globaler Gini Ungleichheit zwischen Ländern Ungleichheit innerhalb von Ländern Prognose Abb. 1.10: Arme Länder oder ungleiche Länder? Quelle: Milanovic (2015: 51) 1.5.3 Ist die globale Ungleichheit gestiegen? Die Bewertung des geschichtlichen Verlaufs der globalen Ungleichheit hängt davon ab, wie globale Ungleichheit gemessen wird. Über die letzten 25 Jahre ist die Einkommensungleichheit innerhalb einiger Länder (d. h. na‐ tionale Ungleichheit) gestiegen und in anderen gesunken. China, die USA, Russland sowie das Vereinigte Königreich zählen zu den Ländern, in denen die Ungleichheit stark angestiegen ist. Eine mehr oder weniger konstante Ungleichheit beobachtet man in vielen Ländern Europas. In Lateinamerika ist die Ungleichheit in vielen Ländern gesunken. In Sub-Sahara Afrika halten sich die Länder, in denen die Ungleichheit gesunken bzw. gestiegen ist, die Waage (Cornia und Martorano 2012). Berechnet man den Gini basierend auf der Einkommensungleichheit zwischen den Ländern, ist die globale Ungleichheit zwischen 1950 und 2000 gestiegen und ab dem Jahr 2000 gesunken. Diese Trendwende ist mit dem rasanten wirtschaftlichen Wachstum vieler Länder in Asien sowie einiger weniger Länder in Sub-Sahara Afrika (z. B. Ghana, Nigeria oder Botswana) zu erklären. Der Unterschied zwischen den ärmsten Ländern der Welt, wie z. B. der Zentralafrikanischen Republik, Niger oder Malawi, und den reichsten Ländern, wie z. B. Luxemburg, Singapur oder Norwegen, ist 1.5 Armut - eine Frage der Verteilung? 53 <?page no="54"?> jedoch weiter gestiegen. Aus der Ungleichheit innerhalb der Länder und zwischen den Ländern ergibt sich der globale Gini, der mit 0,69 über die letzten Jahre relativ konstant geblieben ist. Was sind die Ursachen dieser verschiedenen Trends? In vielen asiatischen und lateinamerikanischen Ländern konnte eine „neue Mittelschicht“ in den letzten 25 Jahren eine starke Steigerung ihres Einkommens verzeichnen (vgl. Punkt B, Abb. 1.11). Auch die Reichsten in Europa und den USA konnten starke Zuwächse des Einkommens verzeichnen (vgl. Punkt D, Abb. 1.11). Dahingegen stagnierte sowohl das Einkommen der ärmsten Menschen der Welt (vgl. Punkt A, Abb. 1.11), als auch das der „alten Mittelschicht“ in Europa und den USA (vgl. Punkt C, Abb. 1.11). Dadurch ist die Ungleichheit innerhalb von Ländern teilweise gestiegen, zwischen Ländern mit mittlerem und Ländern mit hohem Einkommen gesunken und zwischen Ländern mit niedrigem und Ländern mit hohem Einkommen gestiegen. Abb. 1.11: Einkommenssteigerung der Weltbevölkerung 1988 - 2008 Anmerkung: Die Steigerung des realen Einkommens (in 2005 internationalen $) von 1988-2005 war für die Länder in der mittleren globalen Einkommensverteilung (um das 50 % Perzentil, Punkt B) sowie des höchsten 1 % Perzentils (Punkt D) am höchsten. Am tiefsten war die Steigerung für reiche Länder um das 80 % Perzentil (Punkt C) gefolgt von den 5% ärmsten Ländern (Punkt A). Quelle: Milanovic (2016: 11) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 0 20 40 60 80 100 Steigerung des realen Einkommens 1988-2008 (in %) Position auf der globalen Einkommensverteilung A B C D Abb. 1.11: Einkommenssteigerung der Weltbevölkerung 1988-2008 Anmerkung: Die Steigerung des realen Einkommens (in 2005 internationalen $) von 1988-2005 war für die Länder in der mittleren globalen Einkommensverteilung (um das 50 % Perzentil, Punkt B) sowie des höchsten 1 % Perzentils (Punkt D) am höchsten. Am tiefsten war die Steigerung für reiche Länder um das 80 % Perzentil (Punkt C) gefolgt von den 5% ärmsten Ländern (Punkt A). Quelle: Milanovic (2016: 11) 1 Armut und Ungleichheit 54 <?page no="55"?> 17 Horizontale Ungleichheit kann durch den „Group Gini“ gemessen werden. Verantwortlich für die vielfach beobachtete steigende Einkommensun‐ gleichheit innerhalb der Länder und die sinkende Einkommensungleichheit zwischen den Ländern sind der technologische Wandel und die Globa‐ lisierung (Bourguignon 2015), von denen sowohl Länder mit mittlerem Einkommen als auch reichere Bevölkerungsgruppen in Ländern mit hohem Einkommen stark profitiert haben, während die ärmsten Länder sowie die Mittelschicht in Industrienationen diese Transformation nicht für sich nutzen konnten. Allerdings konnten viele Länder in Europa der steigenden Ungleichheit von Markteinkommen mit der entsprechenden Steuer- und Sozialpolitik (vgl. Kapitel 2.2, 4.2 und 4.4) entgegenwirken und die Ungleichheit des verfügbaren Einkommens (d. h. nach Steuern und Transferleistungen) relativ konstant halten - was zum Beispiel in den USA nicht gelungen ist. 1.5.4 Ist globale Ungleichheit ungerecht? Ungleichheitsmaße wie der Gini erlauben zunächst einmal keine norma‐ tive Aussage darüber, ob die gemessene Ungleichheit ungerecht ist. In der Entwicklungsökonomik wird deshalb seit einigen Jahren das Konzept der horizontalen Ungleichheit vermehrt diskutiert und angewendet. 17 Die horizontale Ungleichheit definiert sich nicht über die gemessene Un‐ gleichheit zwischen allen Menschen einer Gesellschaft, sondern über die Ungleichheit zwischen Gruppen. Beispiele sind große Unterschiede im Einkommen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen (Leibbrandt et al. 2012) oder in der Bildung zwischen Kindern von armen und reichen Eltern (Paxson und Schady 2005). Die Ungleichheit zwischen den Gruppen wird auch als Chancenun‐ gleichheit bezeichnet (vgl. hierzu die Verwirklichungschancen von Sen, Kapitel 1.3.5), da ein Mensch oft keinen oder nur einen sehr geringen Einfluss auf seine Gruppenzugehörigkeit, wie z. B. sein Geschlecht oder seine Ethnie, hat. Wissenschaft und Politik schenken der horizontalen Ungleichheit vermehrt Beachtung, da immer mehr Studien auf deren Be‐ deutung für das individuelle Wohlergehen wie auch für die politische Stabilität einer Gesellschaft hinweisen (Stewart 2002, 2011). Auch gehen sozioökonomische Unterschiede zwischen Gruppen oft mit politischer Un‐ gleichheit und damit eingeschränkter gesellschaftlicher Teilhabe einher (vgl. 1.5 Armut - eine Frage der Verteilung? 55 <?page no="56"?> 18 Allerdings gibt es weiterhin mehrere Länder, in denen Frauen die Erlaubnis ihres Ehemanns benötigen um zu arbeiten, ein Bankkonto zu eröffnen oder einen Vertrag zu unterschreiben (Hallward-Driemer et al. 2013). 19 Nur ein kleiner Teil dieser Lohndiskrepanz kann durch Unterschiede von objektiven lohnrelevanten Kriterien, wie zum Beispiel der Bildung, des Sektors, oder der Erfahrung, erklärt werden (ILO 2018: III und 65). Kapitel 3.3). Horizontale Ungleichheiten sind zudem ein Indikator für die Diskriminierung einer gesellschaftlichen Gruppe. Betrachtet man die Staatsangehörigkeit eines Menschen bzw. das Land, in dem er lebt, als schwer veränderbar, zum Beispiel aufgrund eingeschränkter internationaler Migrationsmöglichkeiten (vgl. Kapitel 7.7), stellt die globale Ungleichheit zwischen Ländern (vgl. Abb. 1.10) die weltweit größte Chancenungleichheit dar. In der Literatur wird diese Ungleichheit auch als „Geburtslotterie“ (Englisch: lottery of birth) diskutiert. Besondere wissenschaftliche Beachtung hat über die letzten 25 Jahre zudem die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen erhalten. Zwi‐ schen 1960 und 2010 haben sich die Rechte der Frauen weltweit stark verbessert (Hallward-Driemeier et al. 2013). Fast alle Verfassungen der Welt konstituieren mittlerweile, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind; und fast alle Länder garantieren sowohl das Wahl- und Eigentumsrecht als auch Anspruch auf rechtliches Gehör für Frauen. 18 Eine positive Ent‐ wicklung ist auch, dass mittlerweile fast genauso viele Mädchen wie Jungen zur Grund- und Sekundarschule gehen und die Gesundheitsversorgung zwar oft generell unzureichend (vgl. Kapitel 5.6), jedoch von Mädchen und Jungen in den meisten Ländern identisch ist. Ausnahmen hierzu bilden zum Beispiel Indien und China, wo sowohl eine schlechtere Ernährung und Gesundheit von Mädchen als auch geschlechterspezifische Abtreibungen weiterhin zu einer weiblichen Übersterblichkeit führen. Die Folge ist, dass 100 Millionen Frauen auf der Welt fehlen (Klasen und Wink 2002). Für dieses Phänomen hat Amartya Sen den Begriff „missing women“ geprägt. Hinzu kommt, dass Frauen sehr viel seltener als Männer auf dem Arbeits‐ markt aktiv sind, und wenn sie aktiv sind, im Durchschnitt 20 % weniger ver‐ dienen (ILO 2018: III), 19 dabei aber das Doppelte bis Dreifache an unbezahlter Arbeit im Haushalt für die Betreuung der nächsten Generationen leisten (Weltbank 2012). Geschätzte 500 Millionen Frauen sind weiterhin Opfer von häuslicher Gewalt, fast 30 % aller Frauen wurden weltweit vor dem 18 Lebensjahr verheiratet (Weltbank 2014) und nur 20 % aller Parlamentssitze sind weltweit von Frauen besetzt. 1 Armut und Ungleichheit 56 <?page no="57"?> Gleichheit vor dem Gesetz und durch ökonomische Entwicklung ermög‐ lichte Fortschritte in der Bildung und Gesundheit von Frauen führen dem‐ nach nicht automatisch zu besseren Arbeitsbedingungen und politischer Teilhabe für Frauen oder weniger Gewalt gegen Frauen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, wenn auch nicht abschließend erforscht. Zum einen gilt es starke kulturelle Normen und Gewohnheiten, zum Beispiel hinsichtlich des Heiratsalters oder der Kindererziehung zu überwinden. Zum anderen scheint es für viele Männer noch schwierig zu sein in einer Partnerschaft zu leben, in der die Frau mehr verdient (Klasen 2019), auch wenn verschiedene Studien darauf hinweisen, dass die Gleichstellung von Männer und Frauen auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt zu Wirtschaftswachstum und somit auch zu einem besseren Einkommen für Männer führt (Klasen und Lamanna 2009). Drittens zeigen viele Studien, sowohl in armen als auch reichen Län‐ dern, dass weiterhin oft unbewusste Vorurteile bezüglich der Fähigkeiten von Frauen bestehen (Beaman et al. 2009, Reuben et al. 2014). Verständnisfragen: ■ Wieso wird ein rein einkommensorientierter Armutsbegriff dem Thema Armut nicht gerecht? Wieso spielt er dennoch eine wichtige Rolle? ■ Wie erklären Sie, dass 14 % der Schweizer Bevölkerung im Jahr 2004 als arm galten, allerdings nur 26 % der indischen Bevölkerung, obwohl das Pro-Kopf-Einkommen der Schweiz 15-mal höher war als das Pro-Kopf-Einkommen von Indien? ■ Wie und warum hat sich das Verständnis, was Armut ist, über die letzten 300 Jahre verändert? ■ Erläutern Sie, was man unter „MDG“, „HDI“ und „SDG“ versteht. Was finden Sie positiv, was negativ an diesen Entwicklungsmaßen? ■ „Weltweit hat die Ungleichheit in den letzten Jahren erheblich zuge‐ nommen.“ Stimmen Sie dieser Aussage zu? Warum, warum nicht? ■ Welche Vor- und Nachteile entstehen durch ein relatives Ungleich‐ heitsmaß zur Messung der Ungleichheit wie dem Gini-Koeffizienten? ■ Welche Aussage ist zutreffend? Armutsraten, die auf der internationalen Armutslinie basieren… □ überschätzen die globale Armut. □ definieren eine Person als arm, wenn sie weniger als 2.100 Kalorien pro Tag konsumiert. 1.5 Armut - eine Frage der Verteilung? 57 <?page no="58"?> □ basieren auf einem relativen Armutskonzept. □ sind für die meisten Länder niedriger als Armutsraten, die auf nationalen Armutslinien basieren. □ sind höher als die globale Armutslücke. ■ Nehmen Sie an, in einem Land leben sieben Personen mit einem Einkommen von 1, 5, 6, 10, 50, 100, 1.000 US$ pro Tag. Die Armutslinie würde 10 US$ pro Tag betragen. Berechnen Sie die Armutsquote und die Armutslücke für dieses Land. Was sagen diese Kennzahlen aus? Literatur Banerjee, A.V.; Duflo, E. (2011). Poor economics: A radical rethinking of the way to fight global poverty. New York: PublicAffairs. Banerjee, A.V.; Duflo, E. (2007). The economic lives of the poor. Journal of Economic Perspectives 21(1): 141-168. 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Wirtschaftswachstum ist in vielen Ländern Afrikas und Asiens immer noch notwendig, wenn auch nicht hinreichend, wenn sie aus eigener Kraft die immer noch hohen Armutsraten reduzieren möchten. Das folgende Kapitel befasst sich in diesem Zusammenhang mit folgenden Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung: Was versteht man unter wirtschaftlicher Entwicklung? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Wirtschaftswachstum, Ungleichheit und Armut? Wie können Entwicklungsländer ökologisch nachhaltiges Wirt‐ schaftswachstum generieren? Was sind die Herausforderungen für wirtschaftliche Entwicklung und welche wirtschaftspolitischen Möglichkeiten gibt es, um diese positiv zu beeinflussen? Auf die genauso wichtige Rolle des Staates, der Menschen, der Umwelt und der internationalen Gemeinschaft für die Armutsbekämpfung wird im Detail in den Kapiteln 3-8 dieses Buches eingegangen. <?page no="63"?> 2.1 Wirtschaftliche Entwicklung 2.1.1 Die Welt über die letzten 2000 Jahre Den Berechnungen von Angus Maddison (2007) zufolge hat sich das Pro-Kopf-Einkommen der Welt, Jahrtausende lang kaum erhöht. Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lag das Pro-Kopf-Einkommen in allen Ländern unter 1.000 US$ pro Jahr (inflationsbereinigt) und wir würden sie aus heutiger Sicht als Entwicklungsländer bezeichnen. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhöhte sich zunächst in Westeuropa und Nordamerika sowie später, ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts, in Lateinamerika das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen. Viele asiatische Länder konnten ab 1950 ein sehr schnelles Wirtschafts‐ wachstum verzeichnen, obwohl sie sich bis dahin kaum von den meisten afrikanischen Ländern in ihrer ökonomischen Entwicklung unterschieden. Am Ende des 20. Jahrhunderts hatten viele asiatischen Länder zu den lateinamerikanischen Ländern aufgeschlossen (vgl. Abb. 2.1). In den meisten Ländern Afrikas stagnierte dagegen das Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1950 und 2000. Die Mehrheit dieser Länder verzeichnete erst Anfang des 21. Jahrhunderts eine substanzielle Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens ihrer Bevölkerung. Nur wenigen afrikanischen Ländern gelang es, bereits früher ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum zu erzielen. Ein Beispiel ist Botswana, das bereits bis zum Jahr 2000 sein jährliches Pro-Kopf-Ein‐ kommen auf 8.251 US$ erhöhen konnte und seitdem zu den Ländern mit mittlerem Einkommen zählt (vgl. auch Tab. 2.1). Trotz des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums in vielen afrika‐ nischen Ländern in den letzten 15 Jahren sind die Einkommensunter‐ schiede zwischen den meisten afrikanischen Ländern und dem Rest der Welt jedoch so hoch wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit (vgl. Abb. 2.1). Während das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf im Jahr 2008 in Afrika 1.780 internationale $ betrug (1990 Preise, vgl. Abb. 2.1), lag dieser Wert im gleichen Jahr für die Schweiz bei 72.487 inter‐ nationalen $. Im Schnitt verfügen die Menschen in den reichsten Ländern der Welt folglich über ein Einkommen, das mehr als 30-mal höher ist als jenes der Menschen in Afrika. 2.1 Wirtschaftliche Entwicklung 63 <?page no="64"?> 1 Prinzipiell gilt für den weiteren Verlauf dieses Kapitels, dass alle Aussagen, die zum BIP getroffen werden, auch für das Bruttonationaleinkommen (BNE) gelten und umgekehrt. In Box 2.1 wird der Unterschied zwischen beiden Konzepten erklärt. Abb. 2.1: Globales Pro-Kopf-E inkommen 1820-2015 Anmerkung: KKP: Kaufkraftparität. Skala wurde logarithmiert, um stark ansteigende Werte besser in einer Grafik abzubilden (exponentielles Wachstum würde so durch eine 45°-Line abgebildet werden). Quelle: Maddison (2008). 400 4.000 40.000 Jahr Australien/ Kanada/ USA Westeuropa Lateinamerika Asien Afrika BIP pro Kopf (internationale $, 1990) 1820 1870 1920 1970 2020 Abb. 2.1: Pro-Kopf-Einkommen verschiedener Regionen 1820-2008 Anmerkung: KKP: Kaufkraftparität. Die y-Achse ist logarithmiert (exponentielles Wachstum wird durch eine 45°-Line abgebildet). Quelle: Maddison (2008) 2.1.2 Wie misst man wirtschaftliche Entwicklung? Um den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes zu ermitteln, wird üblicherweise das Pro-Kopf-Einkommen herangezogen. Dieses ist nicht mit dem Durchschnittslohn in einem Land zu verwechseln. Das Pro-Kopf-Einkommen wird berechnet in dem das Bruttoinlandspro‐ dukt (BIP) durch die Gesamtbevölkerung eines Landes geteilt wird (vgl. Box 2.1). Das BIP wiederum bemisst den Gesamtwert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb eines Landes hergestellt und verkauft wurden. Anders ausgedrückt, ergibt sich das BIP aus der Summe der Erwerbs- und Kapitaleinkünfte der Bevölkerung. 1 Da bevölkerungsreiche Länder (z. B. China, Indien, Nigeria) mehr Arbeitskräfte besitzen, ist das BIP 2 Wirtschaftliche Entwicklung 64 <?page no="65"?> dort generell höher als in kleinen Staaten (z. B. Laos, Bolivien, Botswana; vgl. auch Tab. 2.1). Als Indikator für den Lebensstandard bzw. die Lebensqualität der Menschen in einem Land wird deshalb das BIP geteilt durch die Gesamtbevölkerung (das BIP pro Kopf) genutzt. Box 2.1 | BIP, BNE, BIP pro Kopf, BNE pro Kopf Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bemisst den Gesamtwert aller Güter, die in einem Jahr innerhalb eines Landes als Endprodukte hergestellt und im In- oder Ausland verkauft werden (Inlandsprinzip). Der Begriff „Güter“ umfasst Waren und Dienstleistungen. Das BIP dient als Referenz für die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Jahr. Im Gegensatz zum BIP erfasst das Bruttonationaleinkommen (BNE) auch Leistungen, die im Ausland erbracht werden, wenn diese durch Inländer erbracht werden (Inländerprinzip). Im Gegenzug werden die Leistungen im Inland der im Ausland lebenden Personen abgezogen. Während für das BIP folglich die wirtschaftliche Leistung innerhalb der Landesgrenzen maßgeblich ist, zählt für das BNE die Leistung der Personen, die in einem bestimmten Land leben. Teilt man den Wert des BIP durch die Zahl der Gesamtbevölkerung, erhält man das BIP pro Kopf. Auf gleiche Weise kann das BNE pro Kopf berechnet werden. Das BNE pro Kopf (oder BIP pro Kopf) gibt Auskunft über das durchschnittliche Einkommen der Bevölkerung und dient daher als Entwicklungsindikator. Wenn in der Literatur vom Pro-Kopf-Einkom‐ men gesprochen wird, ist das BNE pro Kopf oder das BIP pro Kopf gemeint. Da sich die beiden Kennzahlen in der Regel nur geringfügig unterscheiden, werden sie gleichermaßen als Einkommensindikatoren verwendet. Ausnahmen sind Länder wie Luxemburg und Irland (BIP pro Kopf deutlich größer als das BNE pro Kopf) sowie die Philippinen und Tadschikistan (BIP pro Kopf deutlich kleiner als das BNE pro Kopf). Das BIP (BNE) kann nominal und real berechnet werden. Das nominale BIP (BNE) bemisst den Gesamtwert aller Güter zu aktuellen Preisen und berücksichtigt weder die Inflation (Anstieg des Preisniveaus) noch die Deflation (Rückgang des Preisniveaus). Es erfolgt folglich keine Anpassung an die Veränderung der Kaufkraft einer Währung über die Zeit. Hierin unterscheidet sich das nominale vom realen BIP (BNE). Letzteres berechnet den Gesamtwert aller Güter eines Jahres zu den Marktpreisen eines Basisjahres und kann somit reale Veränderungen 2.1 Wirtschaftliche Entwicklung 65 <?page no="66"?> 2 Englisch für Purchasing Power Parity. des Pro-Kopf-Einkommens über die Zeit erfassen: reales BIP (BNE) = nominales BIP (BNE)/ Inflation (Preisindex). Möchte man die Entwicklung eines Landes über die Zeit evaluieren, wird das nominale BIP durch die Inflation bzw. die Preisveränderung über diesen Zeitraum dividiert: Man erhält das reale BIP. Möchte man den Entwicklungsstand zwischen zwei Ländern vergleichen, wird das nominale BIP beider Länder mithilfe von Kaufkraftparitäten (KKP) in „internationale $“ umgerechnet (vgl. Box 2.2). Würde man das BIP zu of‐ fiziellen (gehandelten) Wechselkursen umrechnen, würde die tatsächliche Kaufkraft des Pro-Kopf-Einkommens in ärmeren Ländern unterschätzt. Dies liegt daran, dass Unterschiede in den Lebenshaltungskosten zwischen den Ländern dazu führen, dass ein Euro oder ein Franken umgerechnet in nationale Währungen für den Verbraucher in verschiedenen Ländern nicht denselben Wert hat. Offizielle Wechselkurse spiegeln nur die relativen Preise von handelbaren Gütern wider und werden von der Wirt‐ schaftspolitik eines Landes und von globalen Währungsspekulationen beeinflusst. Box 2.2 | US$ - Kaufkraftparität (KKP) Ein BIP pro Kopf von 1.000 US$ (kaufkraftbereinigt) oder US$ (KKP) oder US$ (PPP) 2 oder internationalen $ bedeutet, dass sich die Bürger in einem Land im Durchschnitt von ihrem Pro-Kopf-Einkommen so viel leisten können wie eine Person mit 1.000 US$ in den USA. Eine Umrechnung des Pro-Kopf-Einkommens von einem Land mit niedrigem Einkommen zu offiziellen Wechselkursen (ohne Kaufkraftbereinigung) in US$ würde in der Regel zu einer zu niedrigen „Einkommensbewertung“ im inter‐ nationalen Vergleich führen. Dies liegt daran, dass eine Umrechnung zu offiziellen Wechselkursen die Preisdifferenzen von Gütern zwischen Ländern nicht berücksichtigt. In Ländern mit niedrigem Einkommen sind viele Güter günstiger als in Ländern mit hohem Einkommen. Mit demselben Einkommen (umgerechnet zu offiziellen Wechselkursraten) kann man sich folglich in Ländern mit niedrigem Einkommen mehr 2 Wirtschaftliche Entwicklung 66 <?page no="67"?> leisten als in Ländern mit hohem Einkommen. Beispielsweise ist eine Busfahrt in Indien, umgerechnet zu offiziellen Wechselkursen, sehr viel günstiger als eine Busfahrt in Deutschland. Warum ist das so? In der Wechselkurstheorie geht man davon aus, dass zwei identische Güter in zwei unterschiedlichen Ländern, umgerechnet zu offiziellen Wechselkursen, zumindest langfristig denselben Preis haben müssen. Ansonsten könnten Gewinne mit dem An- und Verkauf von Gütern zu unterschiedlichen Preisen zwischen Ländern erzielt werden (Arbitrage). Offizielle Wechselkurse basieren jedoch nur auf handelbaren Gütern, wie z. B. Kaffee. Nicht handelbare Güter und Dienstleistungen, wie z. B. eine Busfahrt, werden in offiziellen Wechselkursen nicht berücksichtigt, da die Märkte nicht-handelbarer Güter verschiedener Länder keinen Bezug zueinander haben. Die Preise nicht-handelbarer Güter unterscheiden sich daher zwischen den Ländern. Diesen Preisunterschied adressieren die Kaufkraftparitäten (KKP). Kaufkraftparitäten sind ähnlich wie offizi‐ elle Wechselkurse Umrechnungsfaktoren. Im Gegensatz zu offiziellen Wechselkursen erlauben die KKP, das BIP pro Kopf über Ländergrenzen hinweg vergleichbar zu machen, indem sie Unterschiede in den Preisni‐ veaus (also Unterschiede in der Kaufkraft) berücksichtigen, wobei sowohl die Preise handelbarer als auch nicht-handelbarer Güter berücksichtigt werden. Der Vorteil des BIP pro Kopf im Vergleich zu anderen Entwicklungsindika‐ toren liegt in der relativ einfachen Berechnung und der Quantifizierbarkeit des Entwicklungsstandes eines Landes. Mittels einer international harmo‐ nisierten Methode wird die jährliche Leistung einer jeden Volkswirtschaft auf der Welt ermittelt. Das BIP erlaubt daher sowohl einen Vergleich der wirtschaftlichen Entwicklung über die Zeit als auch einen Vergleich der Länder miteinander. Ein einziger Indikator genügt, um den Entwicklungs‐ stand eines Landes darzustellen und zu vergleichen, ohne dass es einer Gewichtung verschiedener Indikatoren bedarf (vgl. Kapitel 1.3.1). Das BIP bringt jedoch auch viele Nachteile mit sich. Da im Rahmen des BIP nur messbar ist, was einerseits einen monetär quantifizierbaren Wert hat und wofür andererseits ein Markt existiert, bleiben bei der Berechnung des BIP viele Faktoren unberücksichtigt, die für die Gesellschaft von elementarer Bedeutung sind. Beispiele sind die Pflege von älteren Menschen oder die Erziehung von Kindern. Geschehen diese zu Hause, 2.1 Wirtschaftliche Entwicklung 67 <?page no="68"?> wird der Aufwand der Familie nicht mit einem monetären Wert beziffert. Werden Kinder jedoch in einer Tagesstätte oder alte Menschen in einem Pflegezentrum betreut, werden die Kosten erfasst. Während die Betreuung daheim im BIP nicht berücksichtigt wird, fließt die Leistung der Kindergärt‐ ner und Altenpfleger in die Berechnung des BIP ein. Ein weiteres Beispiel ist sauberes Leitungswasser, das im BIP nur sehr wenig zählt. Müssten Menschen Trinkwasser kaufen, anstatt Leitungswasser trinken zu können, würde das BIP durch den Verkauf von Wasser (messbar durch den Preis pro Liter) steigen. Ein derart verursachter Anstieg des BIP ist jedoch sicherlich kein Ausdruck von gestiegenem Wohlbefinden der Menschen. Das BIP kann folglich den sozialen Fortschritt nicht vollständig abbilden. Trotzdem ist zu betonen, dass weltweit eine stark positive Korrelation zwischen dem BIP pro Kopf (oder Pro-Kopf-Einkommen) und verschiedenen sozialen Indikatoren der Entwicklung, wie z. B. Gesundheit, Bildung und Trinkwasserqualität, besteht (vgl. Kapitel 1.3.1). Ein weiterer Schwachpunkt des BIP ist, dass es keine Aussage darüber zulässt, wie nachhaltig die wirtschaftliche Leistung ist bzw. das Einkom‐ men eines Landes generiert wird. Dies lässt sich anhand des Beispiels des Walds aufzeigen. Da es schwer ist, einen ökologisch intakten Wald und dessen Nutzen für die Gesellschaft als Erholungsraum oder als Schutz ge‐ gen Erosionen mittels einer monetären Größe zu beziffern (vgl. Abb. 2.2), ist er im BIP nicht enthalten. Wird der Wald jedoch abgeholzt, kann jeder gefällte Baum zu einem bestimmten Preis verkauft werden und es existiert ein monetärer Wert, der in die Berechnung des BIP einfließt. Da das wirtschaftliche Wachstum zumindest bisher in fast allen Staaten auch auf Kosten der Umwelt geht (vgl. Kapitel 6.3.3), ist die fehlende Einbeziehung entsprechender Werte ins BIP problematisch (vgl. Kapitel 2.1.4). Die Verabschiedung der internationalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) zielt darauf ab, die Entwicklung eines Landes nicht mehr primär anhand wirtschaftlicher Messgrößen zu beurteilen. 2 Wirtschaftliche Entwicklung 68 <?page no="69"?> Abb. 2.2: Nachteile des BIP als Maßstab wirtschaftlicher Entwicklung Quelle: Goodwin und Burr (2013: 142) Abb. 2.2: Nachteile des BIP als Maßstab wirtschaftlicher Entwicklung Quelle: Goodwin und Burr (2013: 142) Ein letzter wichtiger Punkt, den das BIP nicht berücksichtigt, ist die Vertei‐ lung des Einkommens innerhalb eines Landes (vgl. Kapitel 1.5). Ein hohes BIP kann leicht über große Ungleichheiten in der Einkommensverteilung hinwegtäuschen. Ein genereller (positiver oder negativer) Zusammenhang zwischen Pro-Kopf-Einkommen und Ungleichheit ist allerdings empirisch nicht feststellbar (vgl. Kapitel 2.2). In anderen Worten: Ein höheres Einkom‐ men in einem Land geht weder automatisch mit einer steigenden noch mit einer sinkenden Ungleichheit einher. 2.1.3 Was ist ein Entwicklungsland? Die Weltbank klassifiziert Länder ihrem Einkommen nach in vier verschie‐ dene Kategorien. Es gibt Länder mit einem niedrigen Einkommen (Low Income Countries, LICs), Länder, die über ein mittleres Einkommen verfügen (Middle Income Countries, MICs), und Staaten mit einem hohen Einkommen (High Income Countries, HICs). Für die MICs existiert eine weitere Unterscheidung zwischen den Ländern im unteren (Lower Middle Income Countries, LMICs) und im oberen Bereich der Kategorie (Upper Middle Income Countries, UMICs). Die Kategorisierung basiert auf 2.1 Wirtschaftliche Entwicklung 69 <?page no="70"?> dem BNE pro Kopf in US$ des vorherigen Jahres und wird jährlich angepasst. Für das Jahr 2019 gelten folgende Werte (Weltbank 2019a): ■ LICs (34 Staaten): BNE pro Kopf <= 995 US$ ■ LMICs (47 Staaten): BNE pro Kopf zwischen 996 und 3.895 US$ ■ UMICs (56 Staaten): BNE pro Kopf zwischen 3.896 und 12.055 US$ ■ HICs (81 Staaten): BNE pro Kopf >= 12.056 US$ Kaufkraftbereinigt (vgl. Box 2.2) würden Länder mit niedrigem und mittle‐ rem Pro-Kopf-Einkommen zwar ein relativ (zu den Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen) höheres Einkommen verzeichnen, was das Ranking der Länder leicht verändern würde. Die Kategorisierung eines Landes in LIC, MIC oder HIC wäre allerdings meist die gleiche (vgl. Tab. 2.1). Man kann sich darüber streiten, ob die Lebensbedingungen in einem Land mit einem BNE von 900 US$ pro Kopf (LIC) und einem Land mit 1.000 US$ pro Kopf (LMIC) sich erheblich unterscheiden, ob ein Staat mit 15.000 US$ Einkommen pro Kopf (z. B. Chile) mit einem Staat von 75.000 US$ pro Kopf (z. B. Norwegen) zu vergleichen ist (beides HICs) und ob UMICs (z. B. China und Botswana) noch als Entwicklungsländer betrachtet werden sollten. Ein Anrecht auf finanzielle Unterstützung von der Weltbank und anderen bi- und multilateralen Organisationen (vgl. Kapitel 8) haben derzeit nur LICs, LMICs und UMICs. Die Länder dieser Kategorien werden deshalb als Gesamtes oft als Entwicklungsländer kategorisiert (und auch teilweise in diesem Buch) - trotz großer sozioökonomischer Unterschiede innerhalb und zwischen den Kategorien. Die Weltbank selbst hat den Begriff des Entwicklungslandes im Jahr 2016 offiziell aufgegeben (Weltbank 2016). Grund dafür ist die mittlerweile große Heterogenität im Durchschnittseinkommen der Länder. Während die Welt im Jahr 1975 noch leicht in „Industrieländer“ (die meisten in Europa und Nordamerika) und Entwicklungsländer (die meisten in Asien und Afrika) aufgeteilt werden konnte, hat sich die eindeutige Einkommens- und Strukturdiskrepanz (vgl. Kapitel 2.5) zwischen Industrie- und Entwick‐ lungsländern mittlerweile relativiert. Abb. 2.3 stellt die Anzahl der Menschen nach Einkommen (gemessen am Konsum) und Regionen in den Jahren 1975 und 2015 dar. Im Jahr 1975 sind deutlich zwei Einkommensgruppen erkennbar, jene mit einem Durch‐ schnittseinkommen pro Kopf und Tag von etwas unter einem internationa‐ len $ (in Afrika und Asien) und jene mit einem Durchschnittseinkommen pro Kopf und Tag von etwa 18 internationalen $ (in Europa, Amerika und 2 Wirtschaftliche Entwicklung 70 <?page no="71"?> Australien). Die meisten Menschen lebten damals noch in Entwicklungslän‐ dern. Im Jahr 2015 hat sich die globale Einkommensverteilung deutlich verändert. Zum einen ist das weltweite Durchschnittseinkommen deutlich gestiegen (die Kurve hat sich nach rechts verschoben). Hinzu kommt, dass eine bipolare Verteilung von Ländern nach Einkommen nicht mehr erkennbar ist. Mehr als 100 Länder verfügen heutzutage über ein mittleres Einkommen. Allerdings ist der Unterschied zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern der Welt weiter angestiegen. Abb. 2.3: Verteilung des globalen Konsums 1975 und 2015 Anmerkung: x-Achse ist logarithmiert. Konsum wird als Annährung für das Einkommen herangezogen. Vgl. auch Kapitel 1.5.2. Quelle: Gapminder (2018) 1975 2015 Internationale Armutslinie 0,2 $ 0,2 $ 1 $ 1 $ 0,5 $ 0,5 $ 2 $ 2 $ 5 $ 5 $ 10 $ 10 $ 20 $ 20 $ 50 $ 50 $ 100 $ 100 $ 200 $ 200 $ Täglicher Pro-Kopf-Konsum (in internationalen $, 2011) Asien und Pazifik Afrika Nord- und Südamerika Europa Anzahl der Menschen Anzahl der Menschen Abb. 2.3: Verteilung des globalen Konsums 1975 und 2015 Anmerkung: x-Achse ist logarithmiert. Konsum wird als Annährung für das Einkom‐ men herangezogen. Vgl. auch Kapitel 1.5.2. Quelle: Gapminder (2018) 2.1 Wirtschaftliche Entwicklung 71 <?page no="72"?> 3 In Kapitel 4.5 wird auf die Relevanz von makroökonomischer Stabilität und auf die politischen Maßnahmen, um Konjunkturschwankungen entgegenzuwirken, eingegangen. 2.1.4 Was bedeutet (nachhaltiges) Wirtschaftswachstum? Wirtschaftswachstum bezeichnet die langfristige relative Veränderung des Gesamteinkommens eines Landes (BIP) bzw. des Pro-Kopf-Einkommens (BIP pro Kopf). Im Fall eines Bevölkerungswachstums (vgl. Kapitel 5.1), das höher ist als das Gesamtwirtschaftswachstum eines Landes, kommt es zu einer Reduktion des BIP pro Kopf, auch wenn das BIP des Landes weiterhin steigt. Diese Konstellation bezeichnet man in der Literatur als extensives Wirtschaftswachstum. Steigt sowohl das BIP als auch das BIP pro Kopf, spricht man von einem intensiven Wirtschaftswachstum. Nur im letzteren Fall kann man davon ausgehen, dass der durchschnittliche Lebensstandard der Menschen in einem Land steigt. Das Wirtschafts‐ wachstum pro Kopf ist somit ein Indikator für eine Verbesserung der sozioökonomischen Lebensumstände der Menschen. Die vom langfristigen Wirtschaftswachstum abweichenden kurz- und mittelfristigen wirtschaftlichen Entwicklungen bezeichnet man als Kon‐ junktur. Die Konjunktur beschreibt Schwankungen im BIP, die sowohl positiv wie negativ ausfallen können. Beschleunigt sich das Wirtschafts‐ wachstum kurzfristig, liegt ein Aufschwung vor. Im Fall einer kurzfristigen Reduktion des BIP spricht man von einer Rezession. Weder die Ursachen noch die Folgen dieser Schwankungen (Konjunkturtheorie) sind Inhalt dieses Kapitels. 3 Dieses Kapitel legt den Schwerpunkt auf Erklärungsansätze des langfristigen Wirtschaftswachstums, d. h. auf die Frage, warum einige Länder heute sehr viel reicher sind als vor 200 Jahren, während viele Menschen in anderen Ländern weiterhin in Armut leben. Tab. 2.1 stellt das Wirtschaftswachstum ausgewählter Länder über die letzten 25 Jahre dar. Tab. 2.2 zeigt die unterschiedlichen Wachstumstrends (durchschnittliches jährliches Wachstum des BIP pro Kopf) verschiedener Regionen für die letzten 50 Jahre. Einige ostasiatische Länder weisen bereits seit den 1970er Jahren konstant hohe Wachstumsraten auf. Für südasiatische und lateinamerikanische Länder gilt dies seit den 1990er Jahren. Afrikani‐ sche Länder verzeichneten im Durchschnitt bis zum Jahr 2000 negative Wachstumsraten, d. h. das Pro-Kopf-Einkommen sank. Seitdem ist eine moderate Trendwende zu beobachten. In den letzten zehn Jahren zählten einige afrikanische Länder zu den am schnellsten wachsenden Volks‐ 2 Wirtschaftliche Entwicklung 72 <?page no="73"?> wirtschaften der Welt, allerdings ausgehend von einem sehr niedrigen Pro-Kopf-Einkommen. Hierzu gehören zum Beispiel Tansania (3,9 %), Ghana (6,1 %) und Äthiopien (7,6 %). Tab. 2.1: Wirtschaftliche Kennzahlen verschiedener Länder: BIP in US$, BIP pro Kopf in US$, BIP pro Kopf in internationalen $ BIP - Millio‐ nen US$, 2017 BIP pro Kopf, US$, 2017 BIP pro Kopf, int. $, 2017 WW (%) 1990- 2000 WW (%) 2000- 2015 Schweiz HIC 678.965 80.333 66.300 0,5 0,8 Norwegen HIC 399.489 75.704 62.183 3,1 0,7 USA HIC 19.485.394 59.928 59.928 2,2 1,0 Deutschland HIC 3.693.204 44.681 52.574 1,6 1,2 Österreich HIC 416.836 47.381 53.879 2,2 0,9 Chile HIC 277.746 15.037 24.249 4,8 3,1 China UMIC 12.143.491 8.759 16.782 9,3 9,0 Botswana UMIC 17.407 7.894 17.785 2,5 2,6 Thailand UMIC 455.276 6.578 17.917 3,3 3,4 Kolumbien UMIC 311.790 6.376 14.507 1,0 3,0 Südafrika UMIC 349.268 6.127 13.464 -0,2 1,8 Bolivien LMIC 37.509 3.351 7.480 1,8 2,6 Laos LMIC 16.853 2.424 6.940 3,8 5,8 Nigeria LMIC 375.745 1.969 5.888 -0,9 4,2 Indien LMIC 2.652.551 1.981 7.169 3,6 5,7 Kenia LMIC 78.757 1.568 3.258 -1,1 1,9 Nepal LIC 24.880 901 2.867 2,5 2,8 Benin LIC 9.247 827 2.277 1,3 1,2 Äthiopien LIC 81.716 768 1.897 -0,5 6,2 Anmerkung: WW: Durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum pro Kopf über angegebene Zeitperiode. Quelle: Weltbank (2019) 2.1 Wirtschaftliche Entwicklung 73 <?page no="74"?> Tab. 2.2: Wirtschaftswachstum ausgewählter Regionen (in %) 1970er 1980er 1990er 2000er 2010er Ostasien und Pazifik 3,0 3,6 2,3 3,4 3,7 Europa und Zentral‐ asien 2,7 1,9 1,1 1,4 1,3 Lateinamerika 3,5 -0,4 1,3 1,6 0,6 Mittlerer Osten und Nordafrika 4,0 -2,9 1,3 2,1 1,2 Südasien 0,3 3,1 3,3 5,0 5,2 Sub-Sahara Afrika 0,9 -1,6 -0,9 2,6 0,9 Anmerkung: Durchschnittliches Wachstum pro Jahr des BIP pro Kopf in % über 10 Jahre (2010er über 8 Jahre). Für die Berechnung der regionalen Durchschnitte wurden die Länder mit ihrer Bevölkerungsgröße gewichtet. Quelle: Weltbank (2019) Zwar ist eine Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens (sprich Wirtschafts‐ wachstum) stark positiv mit der Verbesserung sozialer Aspekte korreliert (vgl. Abb. 1.3). Das Wirtschaftswachstum ermöglicht jedoch keine Aussage darüber, ob das erreichte BIP pro Kopf bei gegebenem Einsatz von ökologi‐ schen, sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen langfristig konstant gehal‐ ten werden kann. Anders ausgedrückt, eine Steigerung des Pro-Kopf-Ein‐ kommens sagt nichts über die ökologische, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit des Wachstums aus. Bereits in den 1970er Jahren wurde Kritik am Wirtschaftswachstum als Maß für die Analyse und Bewertung der Weiterentwicklung von Ländern geübt. Zu den wohl prominentesten Kritikern der frühen Zeit zählt der Club of Rome mit seinem Buch „The Limits to Growth“ (Die Grenzen des Wachstums) (Meadows et al. 1972) (vgl. Kapitel 6.4.1). Fortschritt, so die Autoren, liegt nur vor, wenn eine Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens nicht mit einer Umweltverschmutzung und einer Abnahme der (nicht-erneuerba‐ ren) Ressourcen (=Kapital) einhergeht. Die bis heute verwendete Definition der nachhaltigen Entwicklung stammt aus dem Brundtland-Report (Brundtland Commission 1987), der im Jahr 1987 veröffentlicht wurde. Gemäß dieser Definition ist die Entwick‐ lung dann nachhaltig, wenn die heutige Generation ihre Lebensqualität erhöhen kann, ohne dadurch die Bedürfnisse künftiger Generationen 2 Wirtschaftliche Entwicklung 74 <?page no="75"?> zu gefährden. Ein gutes Beispiel zur Illustration nachhaltiger Entwicklung bietet die in Kapitel 2.1.2 erwähnte Holzwirtschaft. Nur wenn nicht mehr Holz geschlagen wird, als nachwächst, können auch die zukünftigen Ge‐ nerationen vom gleichen Waldbestand profitieren, da das Naturkapital konstant gehalten wird. Seit 1995 operationalisiert die Weltbank das Konzept der nachhaltigen Entwicklung. Sie publiziert jährlich das Gesamtkapital eines Landes (vgl. Tab. 2.3). Das Sachkapital, Naturkapital, Humankapital und Sozialka‐ pital eines Landes wird bewertet, aufsummiert, durch die Bevölkerungszahl geteilt und als Vermögen pro Kopf ausgewiesen (Serageldin 1996). Das Sachkapital umfasst die Investitionsgüter, die der Produktion von Gütern und Dienstleistungen dienen, wie bspw. Maschinen, Gebäude und die Be‐ triebsausstattung. Das Naturkapital umfasst Pflanzen, Tiere, Wälder, Boden und Mineralien. Das Humankapital basiert auf der Gesundheit und der Bildung der Bevölkerung und das Sozialkapital definiert den Zusammenhalt einer Gesellschaft. In der Praxis wird das Sozialkapital nicht bewertet (vgl. Tab. 2.3) Solange das Gesamtkapitel nicht sinkt, ist eine Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens (bzw. das Wirtschaftswachstum) nachhaltig. Tab. 2.3: Gesamtkapital pro Kopf, 2010 und 2014 2010 2014 2010 2014 Schweiz 1.398.076 1.466.757 Botswana 89.331 95.797 Norwegen 1.499.655 1.671.756 Laos 32.550 39.307 USA 944.554 983.280 Nigeria 45.243 37.408 Deutschland 641.262 729.064 Ghana 18.992 25.044 Österreich 643.474 694.616 Kenia 18.293 19.412 Kolumbien 111.676 129.289 Indien 15.335 18.211 China 81.792 108.172 Nepal 15.066 14.368 Anmerkung: Werte sind in zu 2014 konstanten US$. Gesamtkapital entspricht der Summe aus Naturkapital, Humankapital und Sachkapital. Die Methode zur Moneti‐ sierung des Human-, Sach-, und Naturkapitals ist bei Lange et al. (2018) zu finden. Quelle: Weltbank (2018a) 2.1 Wirtschaftliche Entwicklung 75 <?page no="76"?> Angesichts der indirekten und komplexen und auf vielen Annahmen basieren‐ den Berechnung des monetären Wertes von Natur- und Humankapital findet der Wert des Gesamtkapitals in der Weltöffentlichkeit bisher kaum Aufmerk‐ samkeit. Zudem herrscht Uneinigkeit darüber, ob Substitutionen von Teilver‐ mögen mit dem Nachhaltigkeitskonzept vereinbar sind. In anderen Worten: Kann ein Abbau natürlicher Ressourcen mit einem Aufbau an Humankapital kompensiert werden? Stimmt man einer Substitution zu, wäre die Konsequenz das pragmatische Ziel der sogenannten schwachen Nachhaltigkeit, die in Tab. 2.3 dargestellt ist. Lehnt man die Substitution ab, spricht man sich für das ehrgeizige Ziel der sogenannten starken Nachhaltigkeit aus. Weitere bisher ungeklärte Fragen in diesem Zusammenhang sind: ■ Wie kann Sozialkapital erfasst werden? ■ Was wissen wir über die Bedürfnisse zukünftiger Gesellschaften? ■ Wie gut können wir ökologische Schäden quantifizieren? ■ Können wir die Umwelt heute verschmutzen und sie dafür später mit besserem Wissen und Technologien (und Einkommen) wieder intakt bringen? ■ Wie kann die Erderwärmung in diese Berechnung mit einbezogen werden? Einen neueren Ansatz zur Messung und Bewertung der nachhaltigen Entwicklung bieten die SDGs (vgl. Kapitel 1.3.1). Die Daten für die 169 Indikatoren sollen den ökonomischen, sozialen und ökologischen Entwick‐ lungsstand eines Landes (und dessen Veränderung über die Zeit) umfassend abbilden, indem sie die Lebensqualität der Menschen und den Schutz der Umwelt mit einbeziehen. 2.2 Reduziert Wachstum die Armut? Wie in Kapitel 1.5.2 dargestellt, ist globale extreme Armut vor allem auf Einkommensunterschiede zwischen den Ländern zurückzuführen und nicht auf Einkommensunterschiede innerhalb der Länder. Um das Pro-Kopf-Ein‐ kommen in den ärmsten Ländern zu erhöhen und die Armut dort entspre‐ chend zu reduzieren, bedarf es zunächst wirtschaftlichen Wachstums. Eine nationale Umverteilung ist für die meisten LICs keine Option. Allein der monetäre Betrag, der nötig wäre um alle Armen in einem Land durch Sozialleistungen (vgl. Kapitel 4.4.1 und 4.4.2) über die Armutslinie zu bringen 2 Wirtschaftliche Entwicklung 76 <?page no="77"?> (vgl. Box 2.1), beläuft sich für fast alle LICs auf 10 % - 50 % ihres BIP. In Ländern wie Sambia, Malawi oder Madagaskar würde dies bedeuten, dass die Einkommen der Menschen, die nicht arm sind (aber auch nicht reich sind), mit über 50 % besteuert werden müssten (Beegle und Christiaensen 2019: 248-249). Davon könnte der Staat immer noch nicht in langfristig notwendige Infrastruktur wie Schulen oder Krankenhäuser investieren bzw. die Sozialhilfe verwalten. Dies bedeutet, dass Wirtschaftswachstum in diesen Ländern eine notwendige Bedingung für Armutsreduktion ist, solange die Weltgemein‐ schaft nicht zu einer massiven globalen Umverteilung der Vermögen und Einkommen bereit ist (vgl. Kapitel 8.2.1). In diesem Buch ist jedoch bisher offengeblieben, ob Wirtschaftswachstum in LICs für die Armutsre‐ duktion hinreichend sein kann, folglich ob Wirtschaftswachstum allein reicht, um den Kampf gegen die Armut zu gewinnen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Wirtschaftswachstum zu steigender Ungleichheit führt. Würde Wirtschaftswachstum generell mit steigender Ungleichheit innerhalb der Länder einhergehen, dann würde ein steigendes Durchschnittseinkommen nicht zu abnehmenden Armutsraten führen. Dies lässt sich anhand von Abb. 2.3 verdeutlichen. Wirtschaftswachs‐ tum führt zu einer Verschiebung der Einkommensverteilung nach rechts. Dadurch fallen weniger Menschen unter die Fläche links der Armutslinie. Geht Wirtschaftswachstum allerdings mit steigender Ungleichheit einher, wäre dies in Abb. 2.3 durch eine Verbreiterung der Verteilung dargestellt. Mehr Menschen würden (wieder) unterhalb der Armutslinie leben. Simon Kuznets war einer der ersten Ökonomen, die sich mit dem Zu‐ sammenhang von Wachstum und Ungleichheit befassten. Anhand empiri‐ scher Beobachtungen stellte er die Hypothese auf, dass die Ungleichheit in einer sich entwickelnden Gesellschaft in einer Phase der Transition (damals von Landwirtschaft zu Industrie) zunächst zunimmt und später wieder fällt (Kuznets 1955). Die Ungleichheit ist nach Kuznets am höchsten, wenn wenige in der Industrie arbeiten und verhältnismäßige hohe Löhne beziehen, die Mehrzahl der Menschen jedoch noch in der Landwirtschaft beschäftigt ist. Langfristig arbeiten immer mehr Menschen in der Industrie und die Ungleichheit sinkt wieder. Grafisch lässt sich dieser Gedanke anhand einer umgedrehten U-Kurve veranschaulichen, die als Kuznets-Kurve bekannt ist (vgl. Abb. 2.4). Im Gegensatz zu Kuznets Argumentation steht die in den letzten Jahren berühmt gewordene Theorie von Thomas Piketty (2014). Piketty geht 2.2 Reduziert Wachstum die Armut? 77 <?page no="78"?> davon aus, dass wirtschaftliche Entwicklung nur in der Nachkriegszeit mit einer Reduktion der Einkommensungleichheit einhergegangen ist. Ansons‐ ten führt steigendes Pro-Kopf-Einkommen (bzw. Wirtschaftswachstum) nach Piketty immer zu grösserer Ungleichheit. Grund hierfür ist, laut Piketty, dass die Rendite aus Kapitalvermögen, von der wenige profi‐ tieren, langfristig größer ist als das Wirtschaftswachstum, von dem viele profitieren. Piketty plädiert daher für eine Umverteilung des Kapitals in Form von Erbschaftssteuern. Abb. 2.4: Kuznets-Kurve Wendepunkt Ungleichheit Pro-Kopf-Einkommen Abb. 2.4: Kuznets-Kurve Piketty leitet seine Theorie aus der empirischen Analyse der Ungleichheit in europäischen Ländern und Amerika zwischen 1770 und 2010 ab. Die westeu‐ ropäischen Länder waren im 18. und 19. Jahrhundert von hoher Ungleichheit gekennzeichnet und die Gesellschaft durch eine starke Klassenstruktur getrennt. Hieran änderte sich nur wenig, als die Industrialisierung zu steigenden Löhnen für die Arbeiter beitrug. Nur in den Nachkriegsphasen des Ersten und Zweiten Weltkrieges wurde dieses Muster durchbrochen. Die Vernichtung von Infrastruktur sowie hohe Inflation ließen das Kapital (der Reichen) schrumpfen und die Ungleichheit verringerte sich. Laut Piketty waren dies jedoch nur Ausnahmeerscheinungen der beiden Weltkriege, und die Ungleichheit in Europa steigt seither in den meisten Ländern wieder kontinuierlich an. Eine überzeugende Theorie von Piketty, warum 2 Wirtschaftliche Entwicklung 78 <?page no="79"?> die Kapitalrendite immer größer als das Wirtschaftswachstum sein soll, ist allerdings noch ausstehend. Aufgrund einer immer besseren Datenlage in vielen Ländern mit niedri‐ gem und mittlerem Einkommen weiß man heute, dass der Zusammenhang zwischen Wachstum und Ungleichheit weder immer der Kuznets-Kurve entspricht noch den Vorhersagen von Piketty folgt. Abb. 2.5. zeigt lediglich eine Punktewolke, in der kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Einkommen und Ungleichheit besteht. Ein maßgeblicher Grund für die Unterschiede ist, dass die Einkommensverteilung durch Steuern und Sozi‐ alleistungen stark beeinflussbar ist (vgl. Kapitel 4.4). In manchen Ländern hat die Ungleichheit mit steigendem Einkommen deshalb zugenommen, in anderen Ländern ist sie gesunken, und in den meisten Ländern hat sie sich kaum verändert: Aus diesem Grund führt wirtschaftliches Wachstum letztendlich meist auch zu einer Einkommenssteigerung ärmerer Bevöl‐ kerungsgruppen und dient der Armutsreduktion. Abb. 2.5 Anmerkung: Ungleichheit wird mit dem Gini Koeffizienten gemessen (vgl. Box 1.3). Quelle: Weltbank (2019) Namibia USA Norwegen Slowenien 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 0 20.000 40.000 60.000 80.000 100.000 Gini Koeffizient BNE pro Kopf (2010, in US$) Abb. 2.5: Zusammenhang zwischen Einkommen und Ungleichheit Anmerkung: Ungleichheit wird mit dem Gini-Koeffizienten gemessen (vgl. Box 1.3). Quelle: Weltbank (2019) 2.2 Reduziert Wachstum die Armut? 79 <?page no="80"?> 4 Eine gute Einführung in die Diskussion zu armutsminderndem Wachstum bietet Klasen (2004). Wie stark dieser Zusammenhang ausgeprägt ist, unterscheidet sich je‐ doch von Land zu Land. Abb. 2.6 stellt den Zusammenhang zwischen der Wachstumsrate des BNE pro Kopf und der Wachstumsrate des Konsums der ärmsten 40 % der Bevölkerung dar. Punkte auf der 45°-Linie bedeuten, dass die Zunahme des Konsums der ärmsten 40 % dem Durchschnittswachstum der Volkswirtschaft entspricht. Punkte oberhalb der Linie zeigen, dass der Konsum der ärmsten 40 % stärker zunimmt als das BNE pro Kopf. Zwar liegen viele der Punkte in Abb. 2.6 oberhalb der 45°-Linie. Die Punkte, die unterhalb dieser Linie liegen, weisen jedoch darauf hin, dass man nicht von einem automatischen Rückgang der Armut im Fall wirt‐ schaftlichen Wachstums ausgehen kann. Mehrere wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass ein automatischer „trickle-down effect“ des Einkom‐ mens von reicheren zu ärmeren Bevölkerungsgruppen nicht stattfindet (Dabla-Norris et al. 2015, Tcherneva 2015, Basu und Mallick 2008). Die Wirtschafts- und Sozialpolitik eines Landes (vgl. Kapitel 4) ist demnach maßgeblich für ein Wachstum, von dem alle Gesellschaftsschichten profi‐ tieren. Sie legt fest, ob Wachstum armutsmindernd ist (Englisch: pro-poor growth) bzw. den allgemeinen Wohlstand einer Gesellschaft fördert (Eng‐ lisch: shared prosperity). 4 Hier stellt sich nun die wichtige Frage, ob staatliche Umverteilungsmaß‐ nahmen, wie z. B. Steuern für reichere Bevölkerungsgruppen und Sozialhilfe für ärmere Bevölkerungsgruppen, die ökonomische Entwicklung bremsen, was dafür sprechen würde, sie eher vorsichtig als flankierende Maßnahmen zum Wirtschaftswachstum einzusetzen. 2 Wirtschaftliche Entwicklung 80 <?page no="81"?> Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Armut Quelle: Weltbank (2019). Zypern Honduras Mosambik China -6 -4 -2 0 2 4 6 8 10 12 -4 -2 0 2 4 6 8 10 12 Wachstum der 40 % Ärmsten (in %) Wachstum der ganzen Bevölkerung (in %) Wachstum der 40 % Ärmsten ist positiv und schneller als das Durchschnittswachstum. Wachstum der 40 % Ärmsten ist positiv, jedoch langsamer als das Durchschnittswachstum . Abb. 2.6: Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Armut Anmerkung: Daten aus dem zuletzt verfügbaren Jahr. Quelle: Weltbank (2019) Bis Mitte des letzten Jahrhunderts herrschte die Auffassung, Ungleich‐ heit sei notwendig, um Wirtschaftswachstum zu stimulieren, bzw. eine Umverteilung der Einkommen hätte einen negativen Einfluss auf die Entwicklungsperspektiven eines Landes. Die mittlerweile stark umstrittene Hypothese hinter dieser Auffassung war, dass Einkommensungleichheiten in einem Land sowohl zu höherer Investitionstätigkeit führen als auch die nötigen Anreize für höhere Produktivität schaffen (vgl. Kapitel 2.3.1). Dies basierte auf der Beobachtung, dass nur reiche Bevölkerungsgruppen viel sparen und dementsprechend investieren können. Armen Bevölke‐ rungsgruppen sollte die Ungleichheit folglich als Anreiz dienen, härter zu arbeiten, um sich langfristig einen höheren Lebensstandard leisten zu können. Viele empirische Studien (Martorano 2018, Cornia et al. 2017, Kourtellos und Tsangarides 2017, Lustig und Higgins 2017, Cuesta und Negre 2016) kommen allerdings zum Schluss, dass eine Umverteilung der Einkom‐ men keinen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes hat. Neueste makroökonomische Studien stellen nicht nur fest, dass mehr 2.2 Reduziert Wachstum die Armut? 81 <?page no="82"?> Gleichheit dem Wirtschaftswachstum nicht schadet. Sie legen sogar nahe, dass sich extrem hohe Ungleichheit negativ auf langfristiges Wirtschafts‐ wachstum auswirkt (IWF 2017, Kourtellos und Tsangarides 2017). Hohe Einkommens- oder Vermögensungleichheit ist demnach nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern sie gefährdet die soziale und ökonomische Stabilität, reduziert öffentliche Investitionen und die ge‐ samtwirtschaftliche Nachfrage, führt zu höheren Ungleichheiten in Bildung und Gesundheit und resultiert dadurch in Effizienzverlusten (Stiglitz 2012). Zudem bestätigen verschiedene verhaltensökonomische Experimente die sogenannte Hypothese des fairen Lohns (Englisch: fair wage-effort hypothesis). Diese besagt, dass die Produktivität von Arbeitern sinkt (und nicht steigt), wenn sie einen Lohn erhalten, der unter dem Durchschnitts‐ lohn liegt, während die Produktivität nicht steigt, wenn ihr Lohn über dem Lohn anderer Arbeiter liegt (Breza et al. 2016, Gächter und Thöni 2010, Akerlof und Yellen 1990). Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass mit steigender Ungleichheit die gesamtwirtschaftliche Produktivität sinken müsste. Es ist folglich nicht nur möglich, sondern auch notwendig, parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung ökonomische Ungleichheit zu reduzieren. Einige Wissenschaftler argumentieren jedoch, dass neben einer Umver‐ teilung des gesamtwirtschaftlich generierten Einkommens, z. B. mit Hilfe der Steuerpolitik (vgl. Kapitel 4.2), eine arbeitsintensive Wachs‐ tumsstrategie verfolgt werden sollte (Cornia et al. 2017, Cornia 2006), da diese politisch einfacher umzusetzen ist und neben einer Reduktion der Einkommensungleichheit auch zu einer Reduktion der Unterbeschäf‐ tigung (vgl. Kapitel 2.5) führt. Eine arbeitsintensive Wachstumsstrategie setzt auf die hohe Zahl vorhandener Arbeitskräfte und ermöglicht auch wenig ausgebildeten Menschen eine produktive Beschäftigung, um einen geringeren Kapitalstock auf diese Weise zumindest teilweise zu substituie‐ ren. Indien ist jedoch ein Beispiel, in dem die Umsetzung einer solchen Strategie bisher nicht gelungen ist. Aufgrund starker Regulierung kam es dort nie zu einer Entwicklung von Großunternehmen im verarbeitenden Gewerbe (z. B. Textilindustrie), die in vielen Ländern während der ersten Phase der Industrialisierung eine bedeutende Rolle für die Entstehung neuer Arbeitsplätze spielten. In diesem Bereich blieb es bei kleinen und relativ ineffizienten Produktionsstrukturen, während die wirtschaftliche Dynamik von humankapitalintensiven Bereichen wie der Informationstechnologie ausging. Dieser Bereich steht aber nur einer kleinen Zahl gut ausgebildeter 2 Wirtschaftliche Entwicklung 82 <?page no="83"?> Menschen offen. Dies ist der Grund, warum in Indien der Begriff des Wachstums ohne Arbeit (Englisch: jobless growth) geprägt wurde. Die asiatischen Staaten Südkorea, Taiwan und Singapur, die in den 1970er und 1980er Jahren sehr hohe Wachstumsraten aufwiesen, verfolgten nicht nur eine deutlich arbeitsintensivere Wachstumsstrategie, sondern investier‐ ten zudem stark in die Bildung der Bevölkerung (vgl. Kapitel 2.3.1 und Kapitel 5.5). Langfristig konnte diese dann mittels besserer Verdienstmög‐ lichkeiten am wirtschaftlichen Erfolg nicht nur teilhaben, sondern auch dazu beitragen (vgl. Kapitel 2.4.3 und Rodrik et al. 1995). Dies trug gleichzeitig zu einer Senkung der Ungleichheit während des Wachstumsprozesses bei. 2.3 Wachstumstheorien 2.3.1 Trinität aus Arbeit, Kapital und Technologie Die wirtschaftliche Produktion eines Landes (d. h. das BIP), und damit auch das Einkommen seiner Bevölkerung (BIP pro Kopf), wird durch die folgenden drei Faktoren beeinflusst: ■ Arbeit: Bevölkerung ■ Kapital: Sachkapital, Naturkapital, Humankapital ■ technologischer Fortschritt: Innovation Der Faktor Arbeit wird bestimmt durch die Anzahl der Personen eines Landes. Die Leistungsfähigkeit des Faktors Arbeit ist abhängig von der Altersstruktur und der Ausbildung dieser Personen. In Ländern mit nied‐ rigem Einkommen stellt die Anzahl vorhandener Arbeitskräfte zumeist kein Problem dar. Durch das immer noch hohe Bevölkerungswachstum (vgl. Kapitel 5.1) wird die Bevölkerung zudem in vielen Ländern über die nächsten 50 Jahre nochmals stark anwachsen. Auch die Altersstruktur der Bevölkerung ist aufgrund der vielen jungen Menschen günstig. In Nigeria waren im Jahr 2015 beispielsweise 20 % der Bevölkerung im Alter zwischen 14 und 25 Jahren (in der Schweiz waren dies nur 11 %). Die größte Herausforderung besteht in LICs darin, den Faktor Arbeit effektiv zu nutzen. Die Bevölkerung ist oft schlecht ausgebildet (vgl. Kapitel 5.5) oder unterbeschäftigt, da keine ausreichenden Beschäftigungs‐ möglichkeiten existieren (vgl. Kapitel 2.5). Ein weiterer einschränkender Faktor hinsichtlich der effektiven Nutzung der Ressource Arbeit ist die bis 2.3 Wachstumstheorien 83 <?page no="84"?> heute mangelnde Gleichberechtigung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Kapitel 1.5.4). Dies ist jedoch auch in vielen reicheren europäischen Ländern weiterhin ein großes Problem. Die meisten Volks‐ wirtschaften der Welt nutzen das Potenzial des Faktors Arbeit folglich nicht vollständig zur Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer Bevölkerung (Klasen und Lamanna 2009). Als (Sach-)Kapital bezeichnet man vor allem die Infrastruktur (z. B. Straßen) und den Wert der Produktionsanlagen eines Landes (vgl. Tab. 2.4). Als die ersten Wachstumstheorien in den 1960er Jahren entwickelt wurden, war die Ausstattung mit Sachkapital in vielen ärmeren Ländern sehr gering. Der Mangel an Sachkapital galt deshalb bis in die 1980er Jahre als das größte Entwicklungshemmnis ärmerer Länder. Dies ist sicher auch ein Grund, warum dem Sachkapital in der internationalen Entwicklungszusammenar‐ beit lange eine sehr große Bedeutung beigemessen wurde (vgl. Kapitel 8.1). Man ging davon aus, dass es in vielen Ländern eine Kapitallücke gebe, die es durch internationale Kapitalzuflüsse aus dem Ausland (sei es durch kommerzielle Kredite, ausländische Direktinvestitionen (Englisch: foreign direct investment, FDI) oder Entwicklungszusammenarbeit) zu schließen gelte. Im Vergleich zu reicheren Ländern weisen ärmere Länder auch heute noch einen viel geringeren Kapitalstock bzw. eine mangelhafte Infrastruktur auf (vgl. Tab. 2.4). Allerdings hat man inzwischen verstanden, dass eine Aufstockung des Sachkapitals nicht ausreichend ist für wirtschaftliche Entwicklung. Neuere Theorien zu wirtschaftlichem Wachstum betrachten nicht nur das Sachkapital, sondern beziehen zusätzlich das Naturkapital (meist nicht erneuerbare Ressourcen wie Gold, Kupfer, Erdöl) sowie das Humankapital (Bildung und Gesundheit) mit ein (Romer 1994, Mankiw et al. 1992). Dem Humankapital kommt eine doppelte Rolle zur Steigerung der gesamtwirt‐ schaftlichen Produktion zu. Zum einen steigert ein höheres Humankapital (in Form von Wissen und Fähigkeiten) die Qualität der Arbeit und führt somit direkt zu einer Zunahme ihrer Produktivität. Zum anderen beschleu‐ nigt höheres Humankapital den technologischen Fortschritt, da es zu mehr Innovation und gesamtgesellschaftlich relevantem Wissen beiträgt (vgl. Kapitel 2.4.3). Trotz weltweit großer Fortschritte im Zugang zur Primarschulbildung über die letzten 25 Jahre (vgl. Abb. 1.2) bleibt die Qualität der Primar‐ schulbildung weiterhin eine große Herausforderung (vgl. Kapitel 5.5). Testergebnisse zeigen, dass Schüler aus LICs bereits in jungen Jahren (7- 2 Wirtschaftliche Entwicklung 84 <?page no="85"?> 9 Jahre) sehr viel weniger lernen als Gleichaltrige in MICs und HICs. Diese „Lernkrise“ setzt sich in späteren Schuljahren fort (Weltbank 2018). Darüber hinaus ist der Zugang zur Sekundar- und Tertiär-Bildung in vielen ärmeren Ländern immer noch sehr niedrig (vgl. Tab. 2.4). Damit sich der Besuch einer Schule in LICs langfristig auch positiv auf die Armut und die Entwicklung eines Landes auswirkt, bedarf es weiterhin nicht nur Verbesserungen des Zugangs zu Bildung, sondern vor allem auch der Unterrichtsqualität. Tab. 2.4: Kapitalausstattung in ausgewählten Ländern Stra‐ ßen‐ dichte, km pro 100 km 2 Anschluss an die Elektrizi‐ tätsversor‐ gung, % % der Be‐ völkerung mit Sekun‐ därbil‐ dung (brutto) % natürli‐ cher Res‐ sourcen am BIP % Investi‐ tionen in Forschung am BIP Benin 16,6 41,0 58,8 6,8 - Botswana 4,4 60,7 78,4 1,0 0,5 Laos 17,7 87,0 66,5 9,5 - Nepal 11,8 91,0 71,2 1,3 0,3 Deutschland 180,2 100 100 0,1 2,9 Österreich 136,6 100 100 0,1 3,1 Schweiz 173,1 100 100 0,0 3,3 Anmerkung: Natürliche Ressourcen beinhalten Erdöl, Gas, Stein- und Holzkohle, Mineralien und Wald. Die Bruttobildungsbeteiligungsrate wird berechnet aus der Anzahl tatsächlich eingeschulter Personen im Verhältnis zur Anzahl der altersmäßig für diese Schulstufe (hier Sekundarschule) vorgesehenen Personen. Daten aus dem zuletzt verfügbaren Jahr (2008-2017). Quellen: Weltbank (2019), Knoema (2018) Der technologische Fortschritt, bzw. die davon abhängige Produktivi‐ tät, bestimmt, wie viel Einkommen mit der vorhandenen Arbeit und dem Kapitalstock generiert werden kann. Anders ausgedrückt, steigert techno‐ logischer Wandel die Gesamteffizienz der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital und führt zu einer Produktivitätssteigerung (mit derselben Menge an Arbeit und Kapital können mehr Güter hergestellt werden). Dies 2.3 Wachstumstheorien 85 <?page no="86"?> 5 Beispiele sind medizinischer Fortschritt, durch den Menschen gesünder sind und daher produktiver arbeiten, oder Innovationen in der Landwirtschaft, aufgrund derer weniger Arbeitskräfte für die gleiche Nahrungsproduktion erforderlich sind, oder auch durch Erfindungen für den Haushalt, die Arbeitszeit freisetzen (Beispiel Waschmaschine). ist zum einen möglich, wenn der technologische Fortschritt die Nutzung des Faktors Arbeit verbessert. 5 Zum anderen kann technologischer Fortschritt dazu beitragen, dass Sach- oder Naturkapital effizienter genutzt werden kann (z. B. Nutzung von Sonnenenergie). Langfristig könnte man davon ausgehen, dass das Technologieniveau in allen Ländern der Welt dasselbe sein wird. Technologischer Fortschritt ist ein (unvollständiges) öffentliches Gut (vgl. Kapitel 3.2.2): Eine Erfindung kann von jedem Staat genutzt werden, ohne den Nutzen dieser Erfindung für einen anderen Staat dadurch einzuschränken (Nichtrivalität). Letztlich ist es auch schwierig, jemanden langfristig von der Nutzung einer Erfindung (nach Ablauf der Patentfrist) auszuschließen (Nichtausschließbarkeit). Als Beispiel seien hier Impfstoffe und Mobiltelefonie genannt, die in HICs erfunden wurden aber weltweit die Kindersterblichkeit reduziert bzw. den Informationsaustausch erhöht haben (Deaton 2015, Aker und Mbiti 2010). Allerdings kann technologischer Fortschritt, z. B. in Form von Ingenieur‐ swissen, oft nur ab einem bestimmten Level an Sach- und Humankapital in einem Land genutzt werden: Ein Beispiel hierfür sind Robotertechnologien. Zudem sind technologische Innovationen oft kontextabhängig, d. h. sie steigern die Produktivität nicht in allen klimatischen, institutionellen und kulturellen Kontexten. Deshalb hat der globale technologische Fortschritt in den letzten 25 Jahren relativ wenig zur Steigerung der wirtschaftlichen Leis‐ tung und somit des Pro-Kopf-Einkommens in ärmeren Ländern beigetragen. Anders ausgedrückt, war die Produktivitätssteigerung in den letzten Jahren in LICs sehr viel niedriger als in HICs (Forster-McGregor und Verspagen 2017). 2 Wirtschaftliche Entwicklung 86 <?page no="87"?> 6 Für eine gute Übersicht der verschiedenen Wachstumstheorien und deren mathemati‐ sche Herleitung siehe Jones und Vollrath (2013) sowie Barro und Sala-i-Martin (2004). 2.3.2 Solow und die abnehmende Grenzproduktivität Es ist einleuchtend, dass Länder, die über eine größere Menge an Produk‐ tionsfaktoren verfügen, die besseren Entwicklungschancen haben. Des Weiteren erscheint es schlüssig, dass bessere Technologie und damit eine höhere Produktivität der Faktoren Arbeit und Kapital zu einem höheren Pro-Kopf-Einkommen führen sollte. Doch wie hängen die Faktoren Kapital, Arbeit und Technologie zusammen? Welche Bedeutung hat eine Kapitaler‐ höhung, Investitionen in die Bildung oder der technologische Fortschritt für das Wirtschaftswachstum? Wie ist es möglich, Anreize für höhere Investi‐ tionen zu setzen oder den technologischen Fortschritt zu beschleunigen? Eine erste Antwort auf diese Fragen bieten verschiedene Wachstums‐ theorien. Zu den bekanntesten zählen Smith (1759), Marx (1867-1894), (Har‐ rod)-Domar (1946), Solow (1956), Romer (1986), Lucas (1988), Romer (1994) und Galor (2011). Diese Theorien geben zwar keine exakten Wachstumspro‐ gnosen und vermögen es auch nicht, den genauen Entwicklungsprozess ei‐ nes Landes (auf den sicherlich sehr viele Faktoren auf sehr unterschiedliche Weise einwirken) zu prognostizieren. Sie helfen jedoch dabei, systematisch über eine der fundamentalsten Fragen der Entwicklungsökonomik - warum sind einige Länder reich und andere arm? - nachzudenken und relevante Faktoren zu identifizieren, die für die Antwort auf diese Frage von Rele‐ vanz sind. Aus Wachstumstheorien können darüber hinaus Vorhersagen abgeleitet werden, die mit empirischen Daten überprüfbar sind. So ist es möglich, Theorien zu bestätigen oder zu verwerfen und zur Entwicklung neuer (komplexerer) Theorien beizutragen. Eine wichtige Wachstumstheorie, auf der viele neuere Wachstumsmo‐ delle aufbauen, und die einen guten ersten Einstieg in die Thematik erlaubt, ist das Solow-Modell (Solow 1957 und 1956), für das Robert Solow im Jahr 1987 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. 6 Das Modell geht vereinfachend davon aus, dass die Produktionsfaktoren Kapital (K) und Arbeit (L) gemeinsam die Wirtschaftsleistung eines Landes bestimmen. Je besser die Technologie (A), desto produktiver sind die beiden Faktoren und desto höher ist entsprechend die Produktion (Y) einer Volkswirtschaft. Vereinfachend kann man davon ausgehen, dass die Produktion vollständig als Einkommen an die Gesellschaft zurückfließt, sodass wir das Gesamtein‐ 2.3 Wachstumstheorien 87 <?page no="88"?> kommen ebenfalls mit Y abbilden können. Das Pro-Kopf-Einkommen (y) ergibt sich aus dem Gesamteinkommen einer Volkswirtschaft geteilt durch die Bevölkerung. Der Einfachheit halber wird zunächst davon ausgegangen, dass die Bevölkerung nicht größer ist als die verfügbaren Arbeitskräfte (y=Y/ L). Da mehr Arbeitskräfte auch dazu führen, dass das generierte Einkommen durch eine größere Bevölkerung geteilt werden muss, kann vereinfachend das Pro-Kopf-Einkommen als direkte Funktion der Produktivität (A) und des Kapitals pro Kopf (k) abgebildet werden: y=f(k), wobei die Funktion f(·) von (A) abhängt. Solow geht hierbei von einer abnehmenden Grenzproduk‐ tivität des Kapitals aus. Dies bedeutet, dass ein Mehr an Kapital (pro Kopf) immer weniger zusätzliche Leistung bzw. zusätzliches Einkommen (pro Kopf) generiert. In Abb. 2.7 ist die Leistung (oder das Einkommen) pro Ar‐ beiter (y) als Funktion des Kapitals pro Arbeiter dargestellt (k). Ein höheres Pro-Kopf-Einkommen, sprich ein Wirtschaftswachstum, kann somit durch einen größeren Einsatz an Kapital pro Kopf (k) (vgl. Abb. 2.7 oben Punkt a nach b) oder eine höhere Produktivität (A) erreicht werden (vgl. Abb. 2.7 unten Punkt a nach c). Anders ausgedrückt, Wirtschaftswachstum ist die Folge einer Faktorakkumulation oder einer Produktivitätssteigerung. Wie kann nun das Kapital, also die Summe aller Maschinen, der Infra‐ struktur, des Humankapitals etc., erhöht werden? Nach Solows Theorie kann das generierte Pro-Kopf-Einkommen y (in einer geschlossenen Volks‐ wirtschaft) entweder konsumiert oder gespart und somit investiert werden. Die Sparquote (der Prozentsatz des gesparten Einkommens) wird als s bezeichnet. Das gesamte für Investitionen (I) verfügbare Kapital ergibt sich demnach aus sY=S (vgl. Box 2.3). Solow geht dabei davon aus, dass alle Ersparnisse auch investiert werden (S=I). Investitionen (I) erhöhen den Kapitalstock (K). Der Kapitalstock pro Person (k=K/ L) erhöht sich demnach von einem Jahr auf das andere um die Sparquote multipliziert mit dem Pro-Kopf-Einkommen des Vorjahres (sy). Mit mehr Kapital pro Kopf kann mehr produziert bzw. ein höheres Pro-Kopf-Einkommen generiert werden. Das zusätzlich generierte Einkommen sinkt allerdings mit zunehmendem Kapital pro Kopf (k). 2 Wirtschaftliche Entwicklung 88 <?page no="89"?> Abb. 2.7: Faktorakkumulation versus Produktivitätssteigerung 2,8 2,5 Produktion pro Arbeiter (Kleidungsstücke pro Tag) 10 $ 15 $ Kapital pro Arbeiter a b (a) (b) Produktion pro Arbeiter (Kleidungsstücke pro Tag) 3,0 2,5 Kapital pro Arbeiter c y = f(k) k y 10 $ 15 $ a y = f(k) k y Abb. 2.7: Faktorakkumulation versus Produktivitätssteigerung Ein Teil des Kapitals muss zudem über die Zeit ersetzt werden (z. B. Instand‐ setzung von Straßen oder Maschinen). Das heißt, ein Teil der Investitionen muss aufgebracht werden, nur um das Kapital pro Kopf konstant zu halten bzw. die Abschreibungen zu decken (dk). Zusätzlich ist ein Teil des Gespar‐ ten bei zunehmender Bevölkerung, d. h. bei Bevölkerungswachstum (n), nötig, um die zusätzliche Bevölkerung mit Kapital auszustatten. Es bedarf folglich (n+d)k, um das Kapital pro Person konstant zu halten. 2.3 Wachstumstheorien 89 <?page no="90"?> Box 2.3 | Variablen des Solow Modells Y: Gesamteinkommen (BIP) K: Kapital L: Bevölkerung oder Arbeit A: Technologie oder Produktivität s: Sparquote y: Einkommen pro Kopf (y=Y/ L) k: Kapital pro Kopf (k=K/ L) y=f(k): Pro-Kopf-Einkommen, das mit einem gegebenen Kapital pro Kopf generiert werden kann. Die Funktion f hängt ab von A. S: Sparvolumen einer Volkswirtschaft (S=sY) I: Investitionen einer Volkswirtschaft. Es wird angenommen, dass I=S. n: Bevölkerungswachstum d: Abschreibungsquote des Kapitals (n+d)k: Kapital, das jährlich notwendig ist, um das Kapital pro Kopf (k) konstant zu halten sy: Sparvolumen, das pro Kopf zur Verfügung steht, um den Kapitalstock pro Kopf zu erhöhen (n+d)k>sy: Kapital pro Kopf (k) sinkt (n+d)k<sy: Kapital pro Kopf (k) steigt: Kapitalintensivierung (n+d)k=sy: Kapital pro Kopf (k) bleibt konstant: Kapitalerweiterung mit dem Faktor n. Laut Solow befindet sich ein Land langfristig in einem Wachstumsgleich‐ gewicht (Englisch: steady state), in dem kein Wirtschaftswachstum (d. h. kein Wachstum des BIP pro Kopf) mehr stattfindet (Punkt G in Abb. 2.8). Warum ist das so? Langfristig gilt nach Solow (n+d)k=sy. Das bedeutet, es wird genau so viel gespart bzw. investiert, wie notwendig ist, um das Kapital pro Kopf konstant zu halten. Ist die Ersparnis pro Person sy größer als (n+d)k (vgl. Punkt k 1 in Abb. 2.8), kann zusätzlich investiert und der Kapitalstock vergrößert werden. Das heißt, das Pro-Kopf-Einkommen steigt, bis wieder ein Gleichgewicht erreicht ist. Umgekehrt sinkt das Pro-Kopf-Einkommen, wenn die Investitionen, die pro Kopf nötig wären, um den Kapitalstock konstant zu halten, größer sind als die Ersparnisse (vgl. Punkt k 2 in Abb. 2.8) - so lange, bis das Gleichgewicht wieder erreicht ist. Während dieser Phasen 2 Wirtschaftliche Entwicklung 90 <?page no="91"?> kann kurzfristig positives (Pro-Kopf-Einkommen steigt) bzw. negatives Wirtschaftswachstum (Pro-Kopf-Einkommen sinkt) beobachtet werden. Solow-Model und Steady State G y = f(k) k y sy k 2 k 0 k 1 y 2 y 0 y 1 (n+d)k Abb. 2.8: Solow-Modell und Steady State Nach Solow kann ein Land, das sich im Steady State befindet, zeitweise weiteres Wachstum generieren, indem es entweder seine Sparquote s an‐ hebt (oder anderweitig Investitionen stimuliert) oder sein Bevölkerungs‐ wachstum n reduziert. Dadurch kann es ein höheres Pro-Kopf-Einkommen in einem neuen Steady State erreichen. Abb. 2.9 zeigt dies illustrativ für das Bevölkerungswachstum. Wenn sich das Bevölkerungswachstum n re‐ duziert, dreht sich die Gerade (n+d)k in Abb. 2.9 nach rechts zu (n'+d)k. Die beiden anderen Kurven ändern sich nicht. Durch die geringere Zahl der Arbeiter steigen die Ersparnisse pro Arbeiter (sy), was zu einer Erhöhung des Kapitals pro Kopf führt und somit zu einem höheren Pro-Kopf-Einkommen. Bis dieses neue Pro-Kopf-Einkommen erreicht ist, kann man wiederum Wirtschaftswachstum beobachten. 2.3 Wachstumstheorien 91 <?page no="92"?> Tatsächlich haben Länder mit niedrigem Einkommen im Durchschnitt eine kleinere Sparquote (18 %) als Länder mit mittlerem Einkommen (31 %) und somit auch einen geringeren Kapitalstock (vgl. Tab. 2.4) als andere Länder. Es ist umstritten, warum die Sparquote in Ländern mit niedrigem Einkommen so gering ist. Die einen sehen das Problem in der Armut, die keinen Raum für Sparen und Investitionen lässt (z. B. Sachs 2007). Andere Ökonomen gehen davon aus, dass schlechte Regierungsführung und Institutionen (vgl. Kapitel 3.1 und 8.4.5) die Bevölkerung davon abhalten, Investitionen zu tätigen, sodass die Menschen ihr Einkommen lieber konsumieren bzw. ins Ausland überweisen (z. B. Easterly 2001). Neben die geringere Sparquote tritt ein hohes Bevölkerungswachstum in LICs. Über die letzten 30 Jahre betrug dieses durchschnittlich 2,8 % pro Jahr, was sehr viel höher ist als das Bevölkerungswachstum in MICs mit 1,4 % oder in HICs mit 0,7 % im selben Zeitraum (vgl. Kapitel 5.1). Einfluss von Bevölkerungswachstum im Solow-Modell G y = f(k) k y sy k 2 k 0 k 1 y 4 y 0 sy 4 (n+d)k (n’+d)k sy 0 Abb. 2.9: Einfluss von Bevölkerungswachstum im Solow-Modell Was erklärt nun das langfristige Wirtschaftswachstum, das wir über die letzten 200 Jahre auf der Welt beobachten konnten, wenn eine höhere 2 Wirtschaftliche Entwicklung 92 <?page no="93"?> Spar- und Investitionsquote und ein niedrigeres Bevölkerungswachstum nur einen kurzfristigen Effekt auf Wirtschaftswachstum haben? Laut So‐ low ermöglicht nur der kontinuierliche technologische Fortschritt eine langfristige Entwicklung. Es bedarf folglich einer ständigen Änderung der Technologie A, um das Kapital pro Kopf k immer produktiver einzusetzen und somit die Kurve y=f(k) immer weiter nach oben zu verschieben. Bei gleichem k kann ein höheres y realisiert werden (vgl. Abb. 2.7). Solow erklärt allerdings nicht, wie dieser technologische Fortschritt zu‐ stande kommt. Dies wurde späteren Theorien, den sogenannten endogenen Wachstumstheorien, überlassen (vgl. Kapitel 2.4.3). Daneben liefert das Solow-Modell auch keine Erklärung für verschiedene empirische Beobach‐ tungen der letzten 50 Jahre, zum Beispiel: ■ warum einige Länder über die letzten 50 Jahre in ihrem Pro-Kopf-Ein‐ kommen konvergiert sind, während andere immer weiter auseinan‐ derdriften (vgl. Kapitel 2.4.1); ■ warum eine höhere Sparquote nicht immer zu höheren Investitionen führt und warum Investitionen nicht immer zu Wirtschaftswachstum führen (vgl. Kapitel 2.4.2); ■ warum nicht alle Arbeitskräfte in einem Land produktiv eingesetzt werden und Unterbeschäftigung somit ein weit verbreitetes Phäno‐ men in vielen Ländern ist (vgl. Kapitel 2.5); ■ warum wirtschaftliches Wachstum fast immer mit einer Industriali‐ sierung der Volkswirtschaft verbunden ist (vgl. Kapitel 2.5); ■ warum Investitionen in die Gesundheit und die damit verbundene höhere Lebenserwartung der Bevölkerung einen positiven Effekt auf die Entwicklung eines Landes haben, und nicht das Bevölkerungs‐ wachstum ankurbeln, was sich negativ auf das Pro-Kopf-Einkommen auswirken sollte (vgl. Kapitel 5); ■ warum Staaten so wenig in die Erhaltung der Umwelt investieren, die eigentlich ein wichtiges Naturkapital darstellt (vgl. Kapitel 6); ■ warum Länder, die reich an Naturkapital wie Kupfer, Gold und Erdöl sind, meist nicht zu den Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen gehören (vgl. Kapitel 7); Die folgenden Kapitel gehen näher auf diese offenen Fragen ein. 2.3 Wachstumstheorien 93 <?page no="94"?> 2.4 Wachstumsempirie und ihre Kontroversen 2.4.1 Konvergenz oder Divergenz der Einkommen? Versteht man technologischen Fortschritt als öffentliches Gut (vgl. Kapitel 3.2.2), von dem folglich kein Land ausgeschlossen werden kann, sollte laut Solow das Pro-Kopf-Einkommen aller Länder langfristig auf ein und dasselbe weltweite Pro-Kopf-Einkommen konvergieren - bei gleicher Sparquote und gleichem Bevölkerungswachstum (vgl. Abb. 2.8). Dies bedeutet, dass ärmere Länder schneller als reichere Länder wachsen würden: Ärmere Länder befinden sich im Solow-Modell links und reichere Länder rechts vom Gleichgewichtspunkt (vgl. Abb. 2.8). Das bedeutet auch, dass die Ungleichheit zwischen den Ländern der Welt langfristig abnehmen sollte, was empirische Studien bis Ende der 1990er Jahre klar widerlegten (Pritchett 1997). Seit 2000 ist allerdings eine Reduktion der Einkommensungleichheit zwischen den Ländern zu beobachten (vgl. Kapi‐ tel 1.5.3) - auch wenn die Entwicklungsunterschiede zwischen den reichsten und allerärmsten Ländern der Welt weiter gestiegen sind. Zunächst gilt zu bedenken, dass nicht nur hohes Bevölkerungswachstum und eine niedrige Sparquote zu einem niedrigeren Pro-Kopf-Einkommen führen. Umgekehrt führt ein niedriges Pro-Kopf-Einkommen auch zu hohem Bevölkerungs‐ wachstum (vgl. Kapitel 5.2) und niedrigen Sparquoten - entweder weil das gesamte Einkommen für den Konsum benötigt wird, oder weil die politische Unsicherheit die Bevölkerung von Investitionen abhält (vgl. Kapitel 2. 4. 2), oder weil es keinen funktionierenden Finanzsektor gibt (vgl. Kapitel 4.4.3). Ärmere Länder weisen folglich weder das gleiche Bevölkerungswachstum noch vergleichbare Sparquoten wie reichere Länder auf. Aus diesem Grund ist weder theoretisch eine sogenannte unbedingte Konvergenz zu erwar‐ ten noch ist sie empirisch zu beobachten. Abb. 2.10 verdeutlicht, dass über die letzten 50 Jahre ursprünglich ärmere Länder (gemessen am BIP pro Kopf im Jahr 1960) im Schnitt nicht schneller als reichere gewachsen sind (gemessen an der Wachstumsrate des BIP pro Kopf 1960-2017). Kontrolliert man in statistischen Analysen für Unterschiede im Bevölke‐ rungswachstum und der Sparquote, weisen ärmere Länder allerdings in der Tat ein höheres Wirtschaftswachstum als reichere auf - vor allem, wenn man zusätzlich für Unterschiede im Humankapital (approximiert mit Einschulungsquoten) kontrolliert (Mankiw et al. 1992). Es liegt somit 2 Wirtschaftliche Entwicklung 94 <?page no="95"?> eine bedingte Konvergenz vor: Bei gleichem Bevölkerungswachstum und ähnlicher Sparquote weisen Länder mit einem ursprünglich niedrigen Pro-Kopf-Einkommen ein höheres Wirtschaftswachstum pro Kopf auf. Es liegt somit empirische Evidenz für ein, um Humankapital erweitertes, Solow-Modell vor. Diese vier Faktoren (Sparquote, Bevölkerungswachstum, Humankapital und ursprüngliches Pro-Kopf-Einkommen) erklären allerdings nur einen Teil der zu beobachtenden Unterschiede im Wirtschaftswachstum zwischen Ländern. Der produktive Einsatz von Arbeit und Kapital muss dementsprechend noch von weiteren Faktoren als vom weltweiten tech‐ nologischen Fortschritt abhängen. Diese Faktoren werden in den nächs‐ ten zwei Kapiteln näher erläutert. Abb. 2.10: Konvergenz? Bedingte Konvergenz! Südafrika Singapur China Norwegen Schweden Malawi Burundi Liberia -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 5 6 7 8 9 10 Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate BIP pro Kopf (in %), 1960-2017 BIP pro Kopf, 1960, logarithmiert Quelle: Weltbank (2019). Abb. 2.10: Unbedingte Konvergenz? Quelle: Weltbank (2019) 2.4 Wachstumsempirie und ihre Kontroversen 95 <?page no="96"?> 2.4.2 Regierungsführung oder Geografie? Verschiedene Autoren (Acemoglu und Robinson 2012, Collier 2008, Douglass 1990) postulieren, dass die institutionellen Rahmenbedingungen und die Re‐ gierungsführung einen entscheidenden Einfluss auf das Wirtschaftswachs‐ tum haben (vgl. Kapitel 3.1 und Box 3.1). Die Produktivität (gekennzeich‐ net durch das „A“ im Solow-Modell, vgl. Box 2.3) des Kapitals und der Arbeit ist demnach nicht nur vom technologischen Fortschritt, sondern auch stark von den Institutionen und der Regierungsführung eines Landes abhängig. Finanzkapital, das durch eine erhöhte Sparquote, oder durch internationale Entwicklungshilfe (vgl. Kapitel 8) oder durch den Abbau und Verkauf von natürlichen Ressourcen (vgl. Kapitel 7.4) zur Verfügung steht, fließt bei guter Regierungsführung und funktionierenden wirtschaftlichen und politischen Institutionen eher in produktive Investitionen, z. B. Fabriken oder Infrastruktur, als in unnötige Großbauten (Englisch: white elephants), deren Kosten kaum durch deren gesellschaftlichen Nutzen bzw. wirtschaftlichen Ertrag gerechtfertigt sind. Ein Beispiel von vielen ist das Mémorial aux héros nationaux in Burkina Faso (vgl. Abb. 2.11). Funktionierende Institutionen (vgl. Kapitel 3, Box 3.1) erhöhen nicht nur den Ertrag des investierten Kapitals, sondern auch das Investitionsvolumen selbst. Nur wenn eine Regierung den Menschen den Schutz ihrer Eigen‐ tumsrechte (vgl. Kapitel 3.2.1), Rechtsstaatlichkeit, politische Stabilität, und die konsequente Verfolgung von Korruption (vgl. Kapitel 3.4) garantieren kann, ist die Bevölkerung (aber auch ausländische Investoren) bereit, einen Teil ihres Einkommens im eigenen Land langfristig zu investieren (vgl. Kapitel 8.4.5). 2 Wirtschaftliche Entwicklung 96 <?page no="97"?> Abb. 2.11: „Inv Abb. 2.11: White elephant in Ouagadougou Anmerkung: Mémorial aux héros nationaux, Burkina Faso, gebaut 2004. Quelle: Pixabay (2019) Auch wenn die Relevanz der Regierungsführung für Wirtschaftswachstum plausibel erscheint, ist es schwierig, diese empirisch zu überprüfen. Staaten unterscheiden sich oft nicht nur in ihrer Regierungsführung, sondern auch in ihren geografischen Gegebenheiten. Verschiedene Länder in Sub-Sahara Afrika weisen zum einen die weltweit höchsten Korruptionsra‐ ten auf (vgl. Kapitel 3, Abb. 3.5). Es sind andererseits dieselben Länder, die mit den höchsten Temperaturen und der höchsten Luftfeuchtigkeit (geringere Produktivität), der kürzesten Küstenlinie (höhere Transport‐ kosten mit negativen Auswirkungen auf den Sachkapitalstock) und der höchsten Malaria-Prävalenz (mit negativen Auswirkungen auf das Hu‐ mankapital) zu kämpfen haben (Gallup et al. 1998). Wie kann man nun wissenschaftlich analysieren, ob die Schwierigkeiten dieser Länder, wirtschaftlich aufzuschließen, durch „schlechte“ Regierun‐ gen oder „schlechte“ Geografie zu erklären sind? Auch wenn diese Frage nicht abschließend beantwortet werden kann, nutzen neuere Studien 2.4 Wachstumsempirie und ihre Kontroversen 97 <?page no="98"?> sogenannte natürliche Experimente (oder auch Quasi-Experiments) von Grenzziehungen, um die Relevanz von staatlichen Institutionen für Ent‐ wicklung zu analysieren. Die Idee hinter dieser Methode ist, dass die exakte geografische Grenzziehung zwischen Staaten fast zufällig geschieht und somit einem experimentellen Ansatz in der Entwicklungsökonomik ähnlich ist (vgl. Kapitel 8, Box 8.3). Ein Beispiel ist die Grenze zwischen Nord- und Südkorea (Acemoglu und Robinson 2012). Die Lebensbedingungen der Menschen südlich und nördlich dieser Grenze könnten unterschiedlicher nicht sein, obwohl sich die Kapitalausstattung, der Bildungsstand, das Bevölkerungswachstum oder die Kultur vor der Grenzziehung kaum unterschieden und die Geografie immer noch dieselbe ist. Einziger Unterschied - und somit wahrscheinlich für einen Großteil der Entwicklungsunterschiede verantwortlich - sind die politischen Regime. In Abb. 2.12 sind Süd- und Nordkorea bei Nacht zu sehen mit deutlichen Unterschieden in der nächtlichen Beleuchtung. Verschiedene Studien haben die hohe Korrelation zwischen nächtlicher Beleuchtung und dem Pro-Kopf-Einkommen (Henderson et al. 2012) und Bildung und Gesundheit (Bruederle und Hodler 2018) aufgezeigt. Abb. 2.12: Nord- und Südkorea bei Nacht Quelle: NASA Earth Observatory/ NOAA/ US Department of Defense (2012) 2 Wirtschaftliche Entwicklung 98 <?page no="99"?> Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass verschiedene Studien zeigen, dass sich die Kolonialisierung Afrikas und der Sklavenhandel nicht nur durch die Extraktion von Natur- und Humankapital negativ auf die Entwicklungsperspektiven afrikanischer Staaten im 20. Jahrhundert auswirkten (vgl. Kapitel 2.3.1), sondern vor allem durch deren langfristigen negativen Einfluss auf Institutionen und Regierungsführung (Nunn und Wantchekon 2011, Nunn 2008, Bertocchi und Canova 2002, Acemoglu et al. 2001). 2.4.3 Endogene Wachstumstheorien Eine weitere empirische Beobachtung, die nicht im Einklang mit dem Solow-Modell steht, ist die stetige Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens in vielen Ländern, die bereits 1960 über ein relativ hohes Pro-Kopf-Einkommen verfügten, wie zum Beispiel Norwegen oder Schweden (vgl. Abb. 2.10). Dieses Phänomen deutet darauf hin, dass dauerhafter technologischer Fort‐ schritt in einigen Ländern der Welt zu stetigen Produktivitätsgewinnen geführt hat (vgl. Abb. 2.7), während andere Länder nicht von diesen techno‐ logischen Fortschritten profitiert haben. Wenn es nationale Unterschiede im technologischen Fortschritt gibt, erscheint es wichtig, diesen auch aus einem Wachstumsmodell heraus (endogen) zu erklären und nicht als exogen gegeben zu betrachten - wie es der Fall im Solow-Modell ist. Das ist das Ziel der endogenen Wachstumstheorie (z. B. Romer 1986, 1989, 1994 oder Lucas 1988). Eine wichtige Rolle kommt bei diesen Modellen dem Humankapital und positiven Spillover-Effekten zu (vgl. Kapitel 3.2.2). Unter Spillover-Effek‐ ten versteht man die positive Wirkung (oder Externalitäten) von erfolgrei‐ chen Wirtschaftsakteuren auf andere, so dass die Produktivität in einem Land allgemein verbessert wird. Das gilt zum Beispiel, wenn ein Unterneh‐ men Wissen erzeugt, das unmittelbar auch wieder für Produktionsprozesse des Nachbarunternehmens relevant ist und dort zu weiteren Innovationen führt. Zudem werden neue Technologien (Innovationen) als nationales und nicht als globales öffentliches Gut angesehen. Von besserer Bildung, d. h. erhöhtem Humankapital, sind keine abnehmende Grenzerträge zu erwarten und ein höheres Bildungsniveau führt wahrscheinlich zu mehr Innovationen, was wiederum zu Spillover-Effekten in der eigenen Volkswirtschaft führt. 2.4 Wachstumsempirie und ihre Kontroversen 99 <?page no="100"?> Während eine Verdopplung von (Sach-)Kapital und Arbeit im Solow-Mo‐ dell immer nur zu einer Verdopplung der Produktion führt (konstante Skalenerträge), kommt es durch Investitionen ins Humankapital und positive Externalitäten von Innovationen zu einem überproportionalen Wachstum der Produktion (steigende Skalenerträge). Die von Solow betonte abnehmende Grenzproduktivität des Kapitals verliert so an Bedeutung und es kann dauerhaftes Wachstum stattfinden. Einige der endogenen Wachstumsmodelle betrachten den technologischen Fortschritt zudem als direkt abhängig vom (Human-)Kapital. Diese Modelle können dann auch erklären, warum reiche Länder teilweise sogar schneller wachsen als arme. Aus der endogenen Wachstumstheorie ergeben sich direkte Eingriffs‐ möglichkeiten für den Staat, um Wirtschaftswachstum zu fördern. So kann der Staat gezielt Wirtschaftszweige mit Spillover-Effekten fördern, deren Wachstum gesamtwirtschaftlich positive Auswirkungen hat, oder geografische Cluster mit komplementären Wirtschaftsbereichen schaffen. Daneben kann er durch Investitionen in Bildung und Forschung die Rahmenbedingungen für Innovation und Wirtschaftswachstum schaffen. 2.5 Arbeitslosigkeit und technologischer Fortschritt Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass es weltweit für die meisten Menschen wichtig ist, einer sinnstiftenden Arbeit nachzugehen: Der Verlust des Arbeitsplatzes hat einen großen negativen Einfluss auf die persönliche Zufriedenheit (Clark und Oswald 1994, Clark 2018). Neben dem Pro-Kopf- Einkommen bzw. der Armutsrate ist deshalb die Arbeitslosigkeit ein wich‐ tiger Indikator der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes. Betrachtet man allerdings die Statistiken von LICs, so fällt auf, dass die Arbeitslosig‐ keit meist nicht höher ist als in HICs. Woran liegt das? Als arbeitslos gilt eine Person, die arbeiten möchte, jedoch keinen Arbeitsplatz findet. Während der Zeit der Arbeitssuche sind die meisten Arbeitslosen in Europa durch Sozialversicherungssysteme abgesichert, die in den meisten LICs jedoch noch nicht existieren (vgl. Kapitel 4.4.1). Die Folge ist, dass es sich Menschen 2 Wirtschaftliche Entwicklung 100 <?page no="101"?> 7 Erwerbstätige Bevölkerung, die mehr Stunden arbeiten möchte. 8 Erwerbstätige Bevölkerung, die trotz Arbeit unter der internationalen Armutslinie von 1,90 internationalen $ pro Tag lebt. in LICs nicht „leisten“ können, arbeitslos zu sein; jedoch sind sehr viele unterbeschäftigt 7 oder leiden unter Erwerbsarmut 8 (vgl. Tab. 2.5). Hinzu kommt, dass 80-90 % der Erwerbstätigen in LICs im informellen Sektor tätig sind (vgl. Tab. 2.5), d. h. in Kleinunternehmen, die staatlich nicht registriert sind, keine Steuern oder Sozialabgaben zahlen und ihren Angestellten meist weder einen Arbeitsvertrag noch geregelte Arbeitszei‐ ten noch einen regelmäßigen Lohn bieten. Ein großer informeller Sektor bedeutet nicht nur große Unsicherheit für die Arbeitskräfte und beschränkte Entwicklungsmöglichkeiten der Unternehmen, da sie keinen Zugang zu Kreditmärkten haben (vgl. Kapitel 4.4.3); ein großer informeller Sektor ist auch problematisch für die Entwicklung eines Staates, da ihm hierdurch wichtige Einnahmen für öffentliche Infrastruktur und Sozialversicherungs‐ systeme fehlen (vgl. Kapitel 4.1, 4.2 und 4.4). Der informelle Sektor in den Städten der Entwicklungsländer entsteht zum einen, weil es zu wenige mittlere und größere (formelle) Firmen gibt, um alle Personen zu beschäftigen, ohne massiv die Löhne zu senken. Auch ist die Ausbildung der Menschen für den formellen Sektor oft unzureichend (vgl. Kapitel 5.5). Der informelle Sektor ist somit ein letzter Ausweg für viele (Günther und Launov 2012). Auf der anderen Seite wählen einige Personen (vor allem als Selbstständige) den informellen Sektor bewusst, um keine Steuern zu zahlen und flexibel ihre Arbeitszeit und die Anzahl und Bezah‐ lung ihrer Angestellten zu wählen (Günther und Launov 2012, Grimm et al. 2012). Erste Studien weisen zudem darauf hin, dass die Arbeitsbedingun‐ gen für Menschen mit geringer Schulbildung in kleinen informellen Fir‐ men besser sind als im formellen industriellen Sektor in sogenannten Sweatshops (Blattman und Dercon 2017, vgl. Kapitel 7.5.2). 2.5 Arbeitslosigkeit und technologischer Fortschritt 101 <?page no="102"?> 9 Bei vollständig kompetitiven Arbeitsmärkten wäre bei fehlenden Sozialsicherungssys‐ temen mit einer erhöhten Einkommensungleichheit durch technologischen Fortschritt zu rechnen. Tab. 2.5: Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Erwerbsarmut Arbeitslosig‐ keit (%) Unterbe‐ schäftigung (%) Erwerbsarmut (%) Informeller Sektor (%) Benin 2.6 - 42.3 94.5 Deutschland 3.4 3.3 - 10.2 Ghana 4.2 13.1 4.4 90.1 Laos 9.4 1.4 13.1 93.6 Nepal 11.4 7 7.2 94.3 Schweiz 4.7 6 - 10.4 Anmerkung: Daten aus dem zuletzt verfügbaren Jahr (2008-2018). Quelle: ILO (2019) Oft wird diskutiert, ob technologischer Fortschritt, der die Faktoren Ar‐ beit und Kapital effizienter nutzt, zwar das durchschnittliche Pro-Kopf-Ein‐ kommen erhöht, aber gleichzeitig zu höherer Arbeitslosigkeit bzw. Unter‐ beschäftigung führt. Die erste Annahme hinter dieser Vermutung ist ein Arbeitsmarkt, innerhalb dessen Löhne sich nicht (nach unten) anpassen, bis wieder Vollbeschäftigung herrscht. Das Solow-Modell geht implizit von vollständig kompetitiven Arbeitsmärkten aus. 9 Das heißt, dass auf Arbeitsmärkten bei einem Überangebot an Arbeit die Löhne so weit sinken, bis wieder Vollbeschäftigung herrscht. In der Realität ist dies natürlich aus drei Gründen nicht der Fall: Lohnrigidität (zum Beispiel durch Vertrags‐ verpflichtungen), Effizienzlöhne (Löhne, die über dem Lohngleichgewicht liegen, um die Arbeitsproduktivität zu steigern, Fluktuation von Mitarbei‐ tenden zu reduzieren und die besten Arbeitnehmenden zu rekrutieren) und gesetzlich festgelegte Mindestlöhne, um Erwerbsarmut zu verhindern. Die zweite Annahme hinter der Hypothese, dass technologischer Fort‐ schritt zu Arbeitslosigkeit führt ist: Die benötigte Arbeit - bei einem bestimmten Kapitalstock - ist in einer Volkswirtschaft konstant und diese wird durch technologischen Fortschritt „wegrationalisiert.“ 2 Wirtschaftliche Entwicklung 102 <?page no="103"?> Historisch betrachtet, hat technologischer Fortschritt langfristig nicht zu höherer Arbeitslosigkeit geführt. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen arbeiten Menschen in HICs immer weniger Stunden pro Woche, um das gleiche Einkommen für ihre Familien zu erzielen. Während zum Beispiel 1970 in Deutschland eine Erwerbstätige im Durchschnitt noch 40 Stunden pro Woche gearbeitet hat, sind dies heute nur noch 30 Stunden (IAQ 2019). Der wichtigere Grund ist allerdings, dass neue Sektoren entstanden sind und der Strukturwandel - von der Agrarzur Industrie-, zur Dienstleis‐ tungs-, zur Informationsgesellschaft - vorangetrieben wurde. Weltweit sind in Ländern mit einem höheren Pro-Kopf-Einkommen weniger Personen in der Landwirtschaft tätig. Während zum Beispiel in Benin mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 2.421 internationalen $ 41 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten, arbeiten in China nur noch 27 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft, in der Schweiz 3 % und in Deutschland 1 % (Weltbank 2019). Der Strukturwandel ist allerdings nicht nur eine Folge des techno‐ logischen Fortschritts, er ist auch eine Ursache von Entwicklung und Armutsreduktion (Duarte und Restuccia 2010, McMillan et al. 2014). Vereinfacht kann man sich diesen Zusammenhang so vorstellen: Durch technologischen Fortschritt und die damit gestiegene Produktivität in der Landwirtschaft kann die Bevölkerung mit immer weniger Arbeitskraft gut ernährt werden. Diese Arbeitskräfte werden „frei“ und können zusätzlich zu landwirtschaftlichen Produkten andere Konsumgüter herstellen. Die gene‐ relle Produktivität (Faktor A im Solow Modell, vgl. Kapitel 2.3.2) der Arbeit wird dadurch erhöht: Menschen spezialisieren sich (und werden produk‐ tiver) und können dadurch auch die komparativen Vorteile des Handels und Skaleneffekte nutzen (vgl. Kapitel 7.3). Hinzu kommt, dass Arbeit in der Landwirtschaft von stark abnehmenden Skalenerträgen gekennzeichnet ist, während in der Industrie konstante oder sogar zunehmende Skale‐ nerträge zu erwarten sind. Letztlich ist die Einkommenselastizität der Nachfrage für Agrarprodukte kleiner als eins (Engel’sches Gesetz, vgl. Kapitel 7.4.1), während sie für die meisten anderen Produkte grösser als eins ist. Anders ausgedrückt, während die Nachfrage nach Agrarprodukten pro Kopf beschränkt ist, scheint dies für Industrie-, Service- oder Informa‐ tionsgüter nicht der Fall zu sein. Dieses Phänomen führt schon heute zu Herausforderungen des Umwelt- und Klimaschutzes (vgl. Kapitel 6.2). Das Wirtschaftswachstum vieler afrikanischer Länder über die letzten Jahre (vgl. Tab. 2.2) wurde stark durch die weltweit gestiegene Nachfrage 2.5 Arbeitslosigkeit und technologischer Fortschritt 103 <?page no="104"?> nach natürlichen Ressourcen getrieben, während das Wachstum asiatischer Staaten seit den 1980er-Jahren auf einer Industrialisierung aufbaute. Um die stark wachsende Bevölkerung, und vor allem den steigenden Anteil an jungen Menschen in Afrika (vgl. Kapitel 5.1), erfolgreich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, erscheint ein Strukturwandel in Afrika fast unumgänglich (Diao et al. 2017). Neben Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Insti‐ tutionen steht deshalb vermehrt wieder die Industriepolitik im Zentrum der wissenschaftlichen Diskussionen. Diese war zum Beispiel in Südkorea in den 1980er-Jahren und in China in den 1990er-Jahren erfolgreich und wird seit circa 10 Jahren in Ruanda und Äthiopien (vgl. Kapitel 7, Box 7.3) forciert. Als erster Schritt steht aber dennoch eine Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft in den meisten Ländern Afrikas im Fokus, da die landwirtschaftliche Produktion in Afrika noch dreimal niedriger ist als in Asien (Benin et al. 2016). Offen bleibt die Frage, ob die neuesten Technologien (z. B. Roboter und künstliche Intelligenz) nicht doch den Faktor Arbeit langfristig über‐ flüssig machen, so dass es immer schwieriger wird, mit arbeitsintensiven Exporten vom internationalen Handel zu profitieren (vgl. Kapitel 7.5.2). Die politisch schwierige Frage der nationalen und globalen Umverteilung wird dadurch immer relevanter (vgl. Kapitel 1.5 und 2.2). Sicher ist, dass technologischer Fortschritt qualifizierte und flexible Arbeitskräfte benötigt. Wird unzureichend in Bildung, d. h. das Humankapital, investiert, ist es für Länder schwierig, die Möglichkeiten neuer Technologien zu nutzen (vgl. Kapitel 2.4.3). Zudem kann durch technologischen Fortschritt kurzfristig Arbeitslosigkeit entstehen, die es durch die geeigneten staatlichen Maßnah‐ men abzufedern gilt, was einen funktionierenden Staat (vgl. Kapitel 3) voraussetzt. Verständnisfragen: ■ Welche Faktoren sind für die Entwicklung eines Landes von aus‐ schlaggebender Bedeutung? Auf welche Weise kann der Entwick‐ lungsstand in einem weniger entwickelten Land demnach verbessert werden? Welche Rolle spielen hierbei Eigentumsrechte und Rechts‐ staatlichkeit? ■ Erklären Sie anhand einer Grafik den Einfluss eines permanen‐ ten Anstiegs der Sparquote auf das kurzfristige und langfristige Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum im Solow-Modell. 2 Wirtschaftliche Entwicklung 104 <?page no="105"?> ■ Erläutern Sie am Beispiel Schweiz und Ghana, was man unter beding‐ ter Konvergenz im Solow-Modell versteht. ■ Welche Aussage ist zutreffend? Kaufkraftparitäten (KKP) werden berechnet, □ um das BIP verschiedener Länder zu vergleichen. □ um das BIP in einem Land über die Zeit zu vergleichen. □ weil offizielle Wechselkursraten nur 100 Güter miteinbeziehen. □ weil das BIP von ärmeren Ländern zu offiziellen Wechselkursra‐ ten überschätzt werden würde. ■ Was sind die Vor- und Nachteile des BIP und des BIP pro Kopf als Maße für Entwicklung? Literatur Acemoglu, D.; Robinson, J.A. (2012). Why nations fail: The origins of power, prosperity and poverty. London: Profile Books LDT. 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Einerseits muss er die für das effiziente Funktionieren ökonomischer Marktprozesse geeigneten politischen, institutionellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schaffen und Marktversagen bereinigen. Zu den relevanten Rahmenbedingungen gehört ein geordnetes Staatswesen, d. h. ein Staatswesen, in dem Konflikte nicht mit Gewalt ausgetragen werden und in dem verlässliche Regeln gelten, die wirtschaftliche und persönliche Rechte schützen. Zudem ist der Staat verantwortlich für eine gerechte Verteilung der vorhandenen Ressourcen in der Gesellschaft. Entscheidungen von Regierungen sind allerdings keineswegs immer auf die Optimierung gesamtwirtschaftlicher Ziele ausgerichtet, sondern werden stark von privaten, politischen und ökonomischen Interessen der beteiligten Akteure beeinflusst. Wie sich diese Interessen auf die Politik auswirken, ist wiederum von der jeweiligen Gesellschaftsordnung abhängig. Das vorliegende Kapitel soll ein grundlegendes Verständnis dieser Zusam‐ menhänge vermitteln und behandelt vor diesem Hintergrund die folgenden Fragen: Welche Rolle spielt ein funktionierender Staat für die Entwicklung? Welche Aufgaben sollte der Staat übernehmen? Wie kommen politische Entscheidungen zustande? Welche institutionellen Rahmenbedingungen fördern ein effizientes staatliches Handeln? 3.1 Wenn Staatlichkeit an sich gefährdet ist: Fragile Staaten und Konflikte Thomas Hobbes staatstheoretische Arbeit stellte bereits im 17. Jahrhundert eindrücklich dar, wie sich ein funktionierendes Staatswesen vom sogenann‐ ten „Naturzustand“ unterscheidet, in dem nur das Recht des Stärkeren gilt und keine verlässlichen und allgemein akzeptierten Regeln den gesellschaft‐ <?page no="111"?> lichen Umgang regeln. Diese Situation kann nur durch freiwillige Abgabe von Rechten zugunsten eines Gewaltmonopols des Staates vermieden werden (Hobbes 2011). Analog definiert Max Weber (1988: 506) den Staat als „menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes […] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“. Allerdings ist die Existenz eines funktionierenden Staates keineswegs selbstverständlich. Oft verfügt die Regierung nicht über ein Gewaltmonopol, sondern verschiedene konkurrierende Gruppen kämpfen um die Macht und politische Entscheidungsgremien werden nur von einer Minderheit als legitim angesehen, so dass deren Entscheidungen nicht als verbindlich anerkannt werden. Länder, in denen die Staatlichkeit in diesem Sinne fraglich erscheint, bezeichnet die wissenschaftliche Literatur als „fragile Staaten“, wobei sich dabei noch weiter zwischen schwachen und (vollstän‐ dig) zerfallenen Staaten (Englisch: failed states) unterscheiden lässt. Die offensichtlichsten Fälle des Staatszerfalls zeigen sich bei dauerhaften Kriegen und Bürgerkriegen. Abb. 3.1 zeigt die Entwicklung dieser Kon‐ flikte seit Ende der 1980er Jahre anhand der damit verbundenen Todesfälle. Während historisch zwischenstaatliche Auseinandersetzungen die größte Zahl der Todesfälle verursacht haben, sind es heute innerstaatliche Kon‐ flikte. Die Darstellung zeigt, dass in den letzten 30 Jahren die größten Konflikte in Afrika und aufgrund der Syrienkrise seit 2011 im Mittleren Osten aufgetreten sind. Diesen Regionen folgt Asien, wo insbesondere der Konflikt in Afghanistan seit Jahren viele Opfer fordert. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs, dessen Opferzahlen bis heute von keinem weiteren Konflikt auch nur annährend erreicht worden sind, finden kriegerische Auseinandersetzungen überwiegend in ärmeren Ländern statt. Eine umfangreiche Literatur setzt sich mit den Ursachen dieser Konflikte auseinander, die einerseits im „Groll“ (Englisch: grievance) der Menschen, d. h. Frustration über wirtschaftliche und politische Missstände, andererseits in der wirtschaftlichen „Gier“ von Menschen (Englisch: greed) gesehen werden (Collier und Hoeffler 2004). Die Gier wird häufig als naheliegender Grund dafür betrachtet, dass vor allem Länder mit großen natürlichen Ressourcenvorkommen häufig Konflikten ausgesetzt sind. Sie liefert damit auch eine mögliche Erklärung des sogenannten Ressourcenfluchs, d. h. des zunächst überraschenden Phänomens, dass gerade Länder mit reichhaltigen natürlichen Ressourcen oft einen besonders niedrigen Entwicklungsstand aufweisen (vgl. Kapitel 7.4.1). 3.1 Wenn Staatlichkeit an sich gefährdet ist: Fragile Staaten und Konflikte 111 <?page no="112"?> Insbesondere wenn die Einkünfte aus natürlichen Ressourcen sehr un‐ gleich verteilt werden, kann aber auch die Frustration des benachteiligten Teils der Bevölkerung zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen (Ce‐ derman et al. 2013). Empirisch ist oft kaum feststellbar, ob nun „Groll“ oder „Gier“ den Auslöser eines Konflikts darstellt. Vermutlich kommt meist beiden Faktoren eine gewisse Bedeutung zu. Abb. 3.1: Kriegstote nach Region, 1989-2017 Anmerkung: Die angegebene Region richtet sich nach dem umkämpften Gebiet. Die Extremwerte ergeben sich aus den Kämpfen am Horn von Afrika, insbesondere dem Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea (1989/ 90 sowie 1999/ 2000) und in Syrien (seit 2011). In den Ursprungsdaten wurden zwei Konflikte in einzelnen Jahren (Afghanistan 2001, Irak 2003) unterschiedlichen Weltregionen gleichzeitig zugeordnet und der Konflikt der Al Kaida mit den USA (2001-2017) Amerika. Diese Fälle wurden hier korrigiert. Quelle: Pettersson und Eck (2018) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 Anzahl (in Tausend) Asien Mittlerer Osten Europa Afrika Amerika Abb. 3.1: Kriegstote nach Region, 1989-2017 Anmerkung: Die angegebene Region richtet sich nach dem umkämpften Gebiet. Die Extremwerte ergeben sich aus den Kämpfen am Horn von Afrika, insbesondere dem Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea (1989/ 90 sowie 1999/ 2000) und in Syrien (seit 2011). In den Ursprungsdaten wurden zwei Konflikte in einzelnen Jahren (Afgha‐ nistan 2001, Irak 2003) unterschiedlichen Weltregionen gleichzeitig zugeordnet und der Konflikt der Al Kaida mit den USA (2001-2017). Diese Fälle wurden hier korrigiert. Quelle: Pettersson und Eck (2018) Neben dem Konfliktpotenzial von reichlich vorhandenen natürlichen Res‐ sourcen ist angesichts des Klimawandels (vgl. Kapitel 6.2.3) zukünftig zunehmend mit Konflikten aufgrund von Ressourcenknappheit (z. B. Wassermangel) zu rechnen. In diesen Fällen ist die wirtschaftliche Not 3 Staat, Gesellschaft und Politik 112 <?page no="113"?> die offensichtliche Konfliktursache (Miguel et al. 2004). Generell gehört der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Not und Konflikt zu den robustesten Ergebnissen der empirischen Konfliktforschung. Allerdings wird die Frage der Kausalität (was ist Ursache und was ist Wirkung? ) oft weniger klar herausgearbeitet als in der Studie von Miguel et al. (Rohner 2017, Blattman und Miguel 2010). Hinzu kommt, dass sich das Konfliktpotenzial in vielen Ländern durch ethnische Fragmentierung erhöht, die nicht zuletzt auch durch die will‐ kürliche und an ethnischen Gemeinsamkeiten wenig orientierte post-kolo‐ niale Grenzziehung in Sub-Sahara Afrika verursacht wurde. Ethnische (und damit auch religiöse und sprachliche) Unterschiede zwischen verschiede‐ nen Volksgruppen führen leicht zu Misstrauen bzw. lassen sich politisch leicht ausbeuten, um Misstrauen zu schüren. Hinzu kommt die tatsächliche ökonomische und politische Ungleichbehandlung durch Regierungen, die sich speziell ihrer eigenen ethnischen Gruppe verantwortlich fühlen und andere Gruppen von der politischen Teilhabe ausschließen, was zu starken horizontalen Ungleichheiten (vgl. Kapitel 1.5.4) führt (Cederman et al. 2013). Das sich daraus ergebende, teils berechtigte Misstrauen (vgl. auch Hodler und Raschky 2014) wirkt auch der freiwilligen Übergabe des Gewalt‐ monopols an eine gemeinsame, übergeordnete Einheit im Sinne Hobbes entgegen. Durch gewalttätige Auseinandersetzungen sterben nicht nur viele Men‐ schen, sondern es kommt auch zu Flucht und Vertreibung (unfreiwillige Migration) (vgl. Box 7.6). Nach Aussagen des Flüchtlingshilfswerks der Ver‐ einten Nationen (United Nations High Commission for Refugees, UNHCR 2018: 2f.) waren im Jahre 2017 68,5 Mio. Menschen auf der Flucht, fast zwei Drittel davon als Binnenflüchtlinge im eigenen Land. Diejenigen, die nicht im eigenen Land bleiben, fliehen überwiegend in die unmittelbaren Nachbarländer. Im Jahr 2017 waren die Länder mit der größten Zahl aufge‐ nommener Flüchtlinge die Türkei mit 3,5 Mio. sowie Pakistan und Uganda mit je 1,5 Mio., gefolgt von Libanon, Iran, Bangladesch und Deutschland, die jeweils etwa 1 Mio. Flüchtlinge beherbergten. Obgleich auch Deutschland somit in die Gruppe der größten Aufnahmeländer gehört, ist die Aufnahme von Flüchtlingen in wohlhabenden Ländern eine Ausnahme. 85 % aller Flüchtlinge lebten im Jahr 2018 in Entwicklungsländern (vgl. Kapitel 2.1.3 und 7.7.1). Insbesondere wenn diese Länder selbst fragile Staaten sind, erhöht sich dabei die Gefahr einer Übertragung des Konflikts. 3.1 Wenn Staatlichkeit an sich gefährdet ist: Fragile Staaten und Konflikte 113 <?page no="114"?> Neben dem unmittelbaren Leid, das durch gewalttätige Konflikte entsteht, gibt es erhebliche volkswirtschaftliche Folgen fragiler Staatlichkeit. Oft wird nicht nur physisches Kapital, sondern auch Human- und Sozialkapital vernichtet (vgl. Kapitel 2.1.4 und 2.3.1). Neben ihren wirtschaftlichen Le‐ bensgrundlagen verlieren Menschen auch das Vertrauen in die Gesellschaft und leiden langfristig an physischen und psychischen Gesundheitsschäden. In Extremfällen, wie beispielsweise dem syrischen Bürgerkrieg oder den Dauerkonflikten in Afghanistan, dem Südsudan oder Somalia, kommt jeg‐ liche produktive ökonomische Tätigkeit zum Erliegen oder wird durch eine Kriegswirtschaft mit einzelnen wenigen Profiteuren ersetzt, die sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern und durch besondere Beziehungen oder lokale Machtpositionen die spezielle Krisensituation auszunutzen wissen. So kann in Krisenzeiten die lokale Ausbeutung von Rohstoffen, der Einzug von Schutzgeldern oder der Waffenhandel für Einzelne zum einträglichen Geschäft werden. Auch in weniger ausgeprägten Fällen fragiler Staatlichkeit führt das Fehlen klarer und verlässlicher rechtlicher Regeln zu Planungsunsicher‐ heiten und einem hohen Risiko für langfristige Investitionen (vgl. Kapi‐ tel 2.4.2). Wenn der Staat in seiner Existenz an sich gefährdet ist, dann kann er seine wesentlichen Funktionen nicht mehr erfolgreich ausüben. Der Regierung fehlt die Fähigkeit zum Aufbau zentraler wirtschaftlicher Institutionen (vgl. Box 3.1) und zur Durchsetzung der verbindlichen Regeln, die die notwendigen Rahmenbedingungen jeglichen wirtschaftli‐ chen Handelns darstellen. Fragile Staaten können somit ihre zentralen öffentlichen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen. Zudem fehlt ihnen die Fähigkeit zur Durchsetzung einer geeigneten Steuerpolitik, um sich die notwendigen finanziellen Ressourcen für diese Aufgaben zu beschaffen (vgl. Kapitel 4.2). Wenn die Institution „Staat“ an sich nicht funktioniert, so kann auch ein Funktionieren nachgelagerter Institutionen nicht erwartet werden. Im folgenden Abschnitt wird davon ausgegangen, dass der Staat in seiner Existenz nicht bedroht ist und im Prinzip die relevanten öffentli‐ chen Aufgaben wahrnehmen kann. Dann stellt sich die Frage, wo ein Eingreifen des Staates erforderlich ist. Was sind seine relevanten Aufgaben? Allgemein lässt sich dabei unterscheiden zwischen wirtschafts- und ge‐ sellschaftspolitischen Aufgaben. Aus wirtschaftspolitischer Sicht muss der Staat die Grundlagen für das Funktionieren der Märkte sicherstellen. Aus gesellschaftspolitischer Sicht ist er für die Durchsetzung sozialer Gerechtig‐ keit zuständig. Wenn eine Regierung diese Aufgaben verantwortungsvoll 3 Staat, Gesellschaft und Politik 114 <?page no="115"?> wahrnimmt, spricht man von guter Regierungsführung (Englisch: good governance). 3.2 Wirtschaftspolitische Aufgaben Viele ökonomische Prozesse führen zu gesellschaftlich optimalen Ergebnis‐ sen, wenn sie über den Markt, d. h. das freie Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, gesteuert werden, wobei der Preis als Koordinationsmecha‐ nismus dient. Ein staatliches Eingreifen ist in diesem Fall nicht notwendig und kann sogar schaden. Wieso spielt der Staat aus wirtschaftspolitischer Sicht dennoch eine wichtige Rolle? Einerseits muss er für Rahmenbedingungen sorgen, die ein möglichst reibungsloses Funktionieren des Marktes ermöglichen. Andererseits sollte er in geeigneter Form in das wirtschaftliche Geschehen eingreifen, wenn Marktversagen auftritt. Box 3.1 | Institutionen Gemäß der Definition des Wirtschaftsnobelpreisträgers Douglas North sind Institutionen „durch Menschen erzeugte Handlungsbeschränkun‐ gen, die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Interaktionen strukturieren“ (North 1991: 97). Sie dienen dazu, gesellschaftliche Aus‐ tauschvorgänge zu ordnen und Unsicherheit zu reduzieren. Die Qualität von Institutionen zeigt sich daran, ob sie dieses Ziel in effizienter Weise erfüllen und allen Teilen der Gesellschaft in unparteiischer Weise einen Anteil an diesem Effizienzgewinn zukommen lassen. Es lässt sich zwischen formellen (rechtlich verbindlichen) und informellen Institutionen (Gebräuche, Moralvorstellungen) unterscheiden. Damit das institutionelle System insgesamt funktioniert, müssen sich beide in sinnvoller Weise ergänzen. Zudem unterscheidet man zwischen wirtschaftlichen und politischen Institutionen. Erstere regeln privatwirtschaftliche Transaktionen, wäh‐ rend letztere die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür setzen. Zu den wirtschaftlichen Institutionen gehört insbesondere die Festle‐ gung von Eigentumsrechten. Zu den politischen Institutionen gehört die Gesellschaftsordnung, d. h. im Idealfall inklusiver politischer Institutio‐ nen ein demokratischer Rechtsstaat. Die institutionelle Umgebung wird 3.2 Wirtschaftspolitische Aufgaben 115 <?page no="116"?> auch als Sozialkapital bezeichnet (vgl. Kapitel 2.1.4), da Institutionen zunächst Investitionen erfordern und dafür dann die wirtschaftliche Leistung erhöhen. Die Qualität der wirtschaftlichen und politischen Institutionen ist ein zentraler Ausweis guter Regierungsführung. Quelle: Durth et al. (2002) 3.2.1 Eigentumsrechte Was es konkret bedeutet, das Funktionieren des Marktes zu gewährleisten und Marktversagen zu verhindern, sei zunächst am Beispiel von Eigen‐ tumsrechten verdeutlicht. Gesicherte Eigentumsrechte sind für das Funk‐ tionieren des Marktes notwendig, weil man nichts kaufen oder verkaufen kann, von dem nicht klar ist, wem es gehört. Wenn diese Information nicht vorhanden ist, dann versagt der Markt. Wenn man sein Eigentum zwar kennt, aber nicht rechtsgültig belegen kann, dann wird es ebenfalls schwer sein, einen potenziellen Käufer zu überzeugen. Und selbst wenn man ihn überzeugt, bleibt das Risiko, dass ihm der Kauf später wieder streitig gemacht wird. Daher wird er nicht bereit sein, für das Gut den vollen Preis dessen zu bezahlen, was ihm der Besitz des Gutes eigentlich wert ist. Erst die Festlegung von Eigentumsrechten erlaubt das reibungslose Funktionieren des Marktes, setzt Anreize für einen effizienzorientierten Arbeits- und Kapitaleinsatz und fördert damit individuellen Wohlstand ebenso wie gesamtwirtschaftliche Produktivität und Wachstum. Fehlende oder schlecht durchzusetzende Eigentumsrechte sind in vielen Entwicklungsländern gerade für die ärmsten Bevölkerungsgruppen ein erhebliches Problem. Abb. 3.2 stellt schematisch dar, wie Eigentumsrechte zu einem effizienteren Wirtschaften beitragen und das Funktionieren des Marktes verbessern: Eigentumsrechte sind oft notwendig, um Investitionen überhaupt zu ermöglichen. Ohne formalen Beleg kann Eigentum beispiels‐ weise nicht bei einer Bank als Sicherheit für einen Investitionskredit hin‐ terlegt werden, so dass der Kredit und damit auch die Investition nicht zustande kommen. Eigentumsrechte beseitigen zudem Unsicherheiten, so dass Transaktionskosten sinken, das Konfliktpotential reduziert wird und Erträge und Investitionen steigen. 3 Staat, Gesellschaft und Politik 116 <?page no="117"?> Abb. 3.2: E ffizienteres Wirtschaften durch E igentumsrechte Wohldefinierte Eigentumsrechte für die Armen Finanzielle Ressourcen Menschliche Ressourcen Kapital: Läden, Kleinunternehmen Land Armutsreduktion +Wachstum • Weniger soziale Auseinandersetzungen • Geringere Transaktionskosten Höhere Erträge Höhere Investitionen Wohldefinierte für die Armen Abb. 3.2: Effizienteres Wirtschaften durch Eigentumsrechte Ein geläufiges Beispiel ist das Eigentum an Land oder Kapital. Wenn ein Bauer nicht weiß, ob ihm das Land, das er bewirtschaftet, irgendwann entzogen wird, dann wird er nur Saatgut säen, das kurzfristigen Ertrag bringt, und keine langfristigen Investitionen tätigen. Ebenso geht es dem Handwerker oder Kleinunternehmer, der nicht über einen offiziellen Titel für sein Grundstück, seinen Betrieb oder seine Maschinen verfügt. Eigentum ohne formal anerkanntes Eigentumsrecht lässt sich zudem auch nicht als Sicherheit bei der Aufnahme von Krediten verwenden (vgl. Kapitel 4.4.3), was wiederum die Investitionsmöglichkeiten schmälert. Weniger geläufig, aber mindestens ebenso wichtig, sind Eigentumsrechte an menschlichen Ressourcen (Englisch: human resources), also an Bildung, Gesundheit und in gewissem Sinne der eigenen Person. Wer keinen Ausweis hat und keine Geburtsurkunde, der ist nirgends registriert und besitzt keine formale Existenz. Er oder sie wird teilweise nicht zur Schule zugelassen und ist auch von anderen staatlichen Leistungen ausgeschlossen, kann kein Bankkonto 3.2 Wirtschaftspolitische Aufgaben 117 <?page no="118"?> 1 Zur weiteren Vertiefung eignet sich der Film von Musale (2007). eröffnen und keinen formalen Vertrag abschließen. Damit wird jegliche Marktteilnahme verhindert oder extrem erschwert. Auch finanzielles Eigentum ist nicht immer abgesichert. Dieses Pro‐ blem betrifft vor allem Frauen. In einigen Ländern dürfen sie formal nichts erben und nur mit der Erlaubnis eines männlichen Vormunds ein Bankkonto eröffnen. Eigenständige finanzielle Transaktionen sind dadurch kaum mög‐ lich. Daneben ist finanzielles Eigentum in einer Reihe von Ländern durch die Politik gefährdet. So fixierte Präsident Carlos Menem in Argentinien zur Beendigung einer Hyperinflation den Peso gesetzlich auf den Wert eines US-Dollars, sperrte den Menschen im Jahr 2001 dann aber ihre Dollarkonten und erlaubte Auszahlungen nur in Pesos zu einem Viertel des ursprüngli‐ chen Wertes (Acemoglu und Robinson 2017: 454f.). Ähnlich beschloss der indische Premierminister Modi Ende 2017 kurzerhand, sämtliche 1.000- und 500-Rupien-Noten für ungültig zu erklären und nur in sehr begrenztem Maß einen Umtausch zuzulassen. Wenn man sich auf den Wert und die Gültigkeit des Geldes nicht verlassen kann (vgl. Kapitel 4.5.1), so führt dies zu erheblichen Einbußen bei der Planbarkeit wirtschaftlicher Transaktionen, zu erhöhten Transaktionskosten und zu ineffizienten Entscheidungen. Fehlende Eigentumsrechte in einem Bereich führen häufig zu fehlenden Eigentumsrechten in anderen Bereichen. Wenn eine Person keinen Ausweis besitzt, dann kann sie beispielsweise formal kein Land erwerben, und ohne formalen Landbesitz wird auch ein Laden, den sie dort errichtet, immer nur informell sein. Die Person ist daher von Enteignung bedroht und kann den Laden nicht als Sicherheit verwenden, um einen Kredit zu erhalten (vgl. Kapitel 4.4.3). Generell hängen die Anreize, unternehmerisch tätig zu wer‐ den, langfristig zu planen, zu sparen oder zu investieren, stark mit der Frage zusammen, ob man von dem Einsatz heute auch später profitieren kann. Seit Jahren wirbt der peruanische Ökonom Hernando de Soto daher dafür, den Armen formelle Eigentumsrechte für das zu geben, was sie besitzen - gerade auch in den wachsenden informellen städtischen Siedlungsgebieten der Slums. Das erhöht unmittelbar den Wert ihres Besitzes und eröffnet ihnen neue Wege, sich selbst aus der Armut zu befreien. 1 Der Staat ist also wichtig für einen funktionierenden Markt, indem er Eigentumsrechte schafft und ihre Anerkennung im Rahmen eines verläss‐ lichen Rechtssystems durchsetzt. Was können wir aus diesem Beispiel allgemein darüber lernen, welche Aufgaben der Staat übernehmen sollte? 3 Staat, Gesellschaft und Politik 118 <?page no="119"?> 3.2.2 Öffentliche Güter und externe Effekte Zur Beantwortung dieser Frage müssen Eigentumsrechte im Vergleich zu anderen Gütern betrachtet werden, bei denen kein Staatseingriff erforder‐ lich ist. Mit der Festlegung von Eigentumsrechten stellt der Staat eine Institution zur Verfügung, deren Nutzen allen wirtschaftlichen Akteuren zugutekommt. Die entsprechenden Rechte sind allgemein gültig und jeder, der auf einem Markt tätig werden will, profitiert von der Senkung der Transaktionskosten. Von diesem Nutzen kann niemand ausgeschlossen werden (Nichtausschließbarkeit). Zudem wäre ein solcher Ausschluss auch nicht effizient. Sobald ein entsprechendes Regelungs- und Beschei‐ nigungssystem zur Sicherung von Eigentumsrechten entwickelt ist, wird der gesellschaftliche Gesamtnutzen umso höher, je mehr Menschen davon profitieren. Der Nutzen für die bereits Beteiligten wird keineswegs geringer, wenn ein weiterer Nutzer hinzukommt (Nichtrivalität). Güter, für die die beiden Eigenschaften der Nichtausschließbarkeit und der Nichtrivalität gegeben sind, nennt man öffentliche Güter. Dazu gehö‐ ren neben den Eigentumsrechten z. B. Informationen und technologische Entwicklung, öffentliche Sicherheit, ein funktionierender Verwaltungsappa‐ rat, ein stabiles makroökonomisches System (einschließlich Geldwertstabi‐ lität, vgl. Kapitel 4.5) und inklusive politische Institutionen (Demokratie), ein Deich zum Schutz vor Hochwasser oder der Klimaschutz (vgl. Kapitel 6.2). Die meisten Güter, die von Menschen tagtäglich genutzt werden, sind dagegen private Güter (z. B. ein Brot, ein Tisch oder ein Notizblock), bei denen sich der Nutzen für den Einzelnen reduziert, wenn andere sie mitverwenden. Zusätzliche Personen können bei privaten Gütern allerdings einfach von der Nutzung ausgeschlossen werden. Bei öffentlichen Gütern versagt der Markt, weil sie einen Anreiz zum Trittbrettfahren bieten: Da alle mitprofitieren, hofft jeder, dass ein anderer die Kosten übernimmt. Wenn aber alle nur darauf warten, dass andere die Initiative ergreifen, wird das Gut am Ende von niemandem zur Verfügung gestellt, obwohl es für alle nützlich wäre. Und selbst wenn Einzelne ein so großes Interesse haben, dass sie das Gut in gewissem Umfang bereitstellen, dann geschieht dies nur in geringerem Maß, als aus gesamtgesellschaftlicher Sicht wünschenswert wäre. Ein analoges Problem ergibt sich bereits, wenn keine reinen öffentlichen Güter vorliegen, aber Güter, deren Konsum oder Produktion dennoch gewisse Auswirkungen auf Dritte hat, d. h. auf Personen, die am eigentlichen 3.2 Wirtschaftspolitische Aufgaben 119 <?page no="120"?> Marktprozess gar nicht beteiligt sind. Diese Auswirkungen bezeichnet man als Externalitäten (oder externe Effekte). Sie können positiv oder negativ sein. Auf dem freien Markt, d. h. ohne Eingriff durch eine Instanz, die den gesamtgesellschaftlichen Nutzen bzw. Schaden des Gutes berücksich‐ tigt, wird das Gut nicht in einer gesamtgesellschaftlich optimalen Menge produziert bzw. genutzt. Bei externen Nutzen (positive Externalitäten), z. B. Impfungen, durch die auch für andere die Ansteckungsgefahr sinkt (vgl. Kapitel 5.6.1), ist die nachgefragte Menge aus gesamtgesellschaftlicher Sicht zu gering, bei externen Schäden (negative Externalitäten), z. B. durch Umweltverschmutzung (vgl. Kapitel 6.1.2), ist sie zu groß. Aufgrund ihrer Auswirkungen auch auf solche Personen, die am ei‐ gentlichen Marktprozess nicht beteiligt sind, spiegelt der Marktpreis bei öffentlichen Gütern und Gütern mit externen Effekten den gesamtgesell‐ schaftlichen Nutzen oder Schaden des Gutes nicht adäquat wider. Ohne staatlichen Eingriff wird ein in einem umweltschädlichen Produktionspro‐ zess hergestelltes Gut typischerweise zu billig verkauft, da der Schaden für die Umwelt in den Preis nicht miteinbezogen wird. Umgekehrt wird die Impfung zu teuer angeboten, wenn der gesellschaftliche Nutzen nicht berücksichtigt wird, der sich aus der verringerten Ansteckungsgefahr für Dritte ergibt. Staatliches Eingreifen kann die Preise korrigieren und so die optimale gesamtgesellschaftliche Produktion und Nachfrage herbeiführen. Impfungen können subventioniert und umgekehrt die Produktion bzw. der Kauf umweltschädigender Güter besteuert werden. Diese Art von Lenkung‐ seingriffen bezeichnet man als Pigou-Steuern oder Pigou-Subventionen (Pigou 1920). Wenn auf diese Weise die gesamtgesellschaftlichen Effekte in den Preis einbezogen werden, spricht man von einer Internalisierung der externen Effekte (vgl. Kapitel 6.1.2). Diese erlaubt dem Markt wieder, seine Optimierungsfunktion im Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage wahrzunehmen. Daher sind Instrumente wie Steuern und Subventionen in der Regel effizienter als Gebote oder Verbote, bei denen die Abwägung von Kosten und Nutzen durch die Marktteilnehmer entfällt. Zu den Gütern mit starken positiven Externalitäten gehören insbesondere die soziale und physische Infrastruktur (Schulen, Gesundheitszentren, Straßen, öffentlicher Verkehr, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, Müll- und Abwasserentsorgung). Diese Güter sind nicht nur wichtig für das unmittelbare Wohlbefinden der Bürger, denen die entsprechenden Leistun‐ gen zugutekommen. Sie sind ausnahmslos auch relevant für die weiteren wirtschaftlichen Entwicklungschancen eines Landes (vgl. Kapitel 2.3.1). 3 Staat, Gesellschaft und Politik 120 <?page no="121"?> 2 Für eine Darstellung der unterschiedlichen Positionen vgl. z. B. die Argumentation von Drèze und Sen (2013: 136ff.) versus Panagariya (2008: 435ff.) zum Bildungssektor in Indien (sowie die analoge Argumentation der Autoren für den Gesundheitsbereich). Staaten mit guter Regierungsführung sorgen daher für ihre ausreichende Verfügbarkeit. Bei Gütern mit starken positiven Externalitäten (einschließlich des Ex‐ tremfalls der öffentlichen Güter) übernimmt der Staat damit letztlich die Koordination der Einzelinteressen, die bei privaten Gütern durch den Markt geschieht. Seine Koordinationsfunktion besteht darin, Steuern von allen Bürgern zu erheben und diese dann zur teilweisen Subventionierung oder vollständigen Finanzierung dieser Güter zu verwenden (vgl. Kapitel 4.1 und 4.2). So wird verhindert, dass ein Gut, das eigentlich allen nutzt, nicht oder nur in zu geringem Umfang bereitgestellt wird. Insbesondere in Ländern, in denen öffentliche Leistungen nur in sehr unzureichendem Umfang und fragwürdiger Qualität angeboten werden, kommt dabei häufig die Frage auf, wie effizient die Übernahme dieser Aufgaben durch den Staat eigentlich ist. Für die Beantwortung dieser Frage, ist wichtig zu wissen, dass die staatliche Koordination der Finanzierung nicht zwangsläufig bedeutet, dass der Staat selbst die entsprechenden Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stellen muss. Vor allem in den Bereichen Bildung und Gesundheit wird als Alternative zur staatlichen Bereitstellung die staatliche Finanzierung von Gutscheinen diskutiert, auf deren Grundlage dann die Schüler (bzw. deren Eltern) oder die Kranken einen privaten Anbieter von Schulen und Gesundheitszentren auswählen können. Die Idee ist, den Marktwettbewerb als Motor effizienter Leistungs‐ erbringung soweit wie möglich zu erhalten. In einigen lateinamerikanischen Ländern sind Bildungsgutscheine seit vielen Jahren etabliert. Der Erfolg solcher Maßnahmen wird unterschiedlich interpretiert und hängt vor allem davon ab, ob die Transparenz über die Qualität der Leistungen in diesen Bereichen groß genug ist, um einen echten Wettbewerb zu ermöglichen. Letztlich geht es also darum, wie umfassend das Marktversagen in diesen Bereichen wirklich ist und ob das Marktversagen oder das Staatsversagen überwiegt. 2 3.2 Wirtschaftspolitische Aufgaben 121 <?page no="122"?> 3.2.3 Verhindern von Marktmacht Marktversagen entsteht nicht nur bei externen Effekten und öffentlichen Gütern. Auch wenn durch Marktmacht auf der Angebots- oder Nachfrage‐ seite der Wettbewerb verhindert wird, kann der Marktmechanismus keine gesamtgesellschaftlich optimale Allokation von Gütern und Dienstleistungen mehr erzielen. Die typischen Fälle sind Monopole oder Oligopole, die das Ange‐ bot künstlich verknappen, um durch die resultierende Preiserhöhung Gewinne zu maximieren. Dabei kommt es zu Wohlfahrtsverlusten. Daher besteht eine weitere Aufgabe des Staates darin, übermäßige Marktmacht zu verhindern und auf diese Weise die Funktionsfähigkeit des Marktes zu gewährleisten. So können beispielsweise rechtliche Rahmenbedingungen festgelegt werden, die Preisabsprachen verbieten und Zusammenschlüsse großer Unternehmen an gewisse Bedingungen knüpfen. In gewissen Fällen kommt es auch zu natürlichen Monopolen. Eine Produktion unter Wettbewerbsbedingungen ist aus technologischen Grün‐ den für manche Güter nur mit Verlust möglich, so dass diese Güter nicht angeboten würden, wenn der Staat einen Verkauf zu Wettbewerbspreisen vorschreiben würde. Dabei handelt es sich typischerweise um Güter, deren Produktionsprozess erhebliche Fixkosten und nur geringe Stückkosten verursacht. Beispiele sind die Trinkwasserversorgung, die Abwasserentsor‐ gung oder auch der Bahnverkehr. In diesen Fällen bedarf es zunächst erheblicher Investitionen in das Leitungssystem bzw. das Schienennetz und es ist typischerweise nicht lohnend, mehrere unabhängige Systeme dieser Art nebeneinander zu konstruieren. In einem solchen Fall kann der Staat den Wettbewerb nicht gewährleisten. Hier kann jedoch eine Preisregulierung sinnvoll sein, die den Monopolisten dazu bringt, seine Monopolgewinne nicht voll auszuschöpfen. Alternativ kann der Staat die Anfangsinvestition (das Netzwerk der Leitungen oder Schienen) selbst vornehmen und nur den Betrieb verschiedenen privaten Anbietern überlassen; oder er kann den Betrieb vollumfänglich als öffentliches Unternehmen führen. Während sich hinsichtlich dieser Aufgaben des Staates Länder unter‐ schiedlicher Einkommensgruppen nicht grundsätzlich voneinander unter‐ scheiden, ist der Aufbau der öffentlichen Infrastruktur gerade in vielen ärmeren Ländern noch eine besonders große Herausforderung. Daneben eignen sich die Zuteilung von Großaufträgen für derartige Projekte und die notwendige Regulierung in besonderem Maß für Korruption (vgl. Kapitel 3.4). Die tatsächlich notwendigen Kosten für effiziente Produktion 3 Staat, Gesellschaft und Politik 122 <?page no="123"?> - und damit auch die Leistungen, die bei gegebener Finanzierung erwartet werden können - lassen sich nur schwer abschätzen. Das gilt nicht nur für die Regierung, sondern noch mehr für die in den Entwicklungsländern häufig schlecht ausgebildete Bevölkerung. Daher kann die Regierung nur schwer zur Rechenschaft gezogen werden, wenn die entsprechenden Ver‐ sorgungsunternehmen ihre Aufgaben nur unzureichend erfüllen oder viel zu hohe Kosten verursachen. In diesem Fall kann Staatsversagen dazu führen, dass der staatliche Eingriff die Situation nicht wirklich verbessert und unter Umständen sogar verschlechtert. Sowohl aus Gründen der Korruption (vgl. Abb. 3.5) als auch aus Gründen geringer Kapazität (Mangel an Wissen und Ressourcen) ist Staatsversagen in Entwicklungsländern weit verbreitet (vgl. Kapitel 3.4). Bei allen Überlegungen zu den Aufgaben, die der Staat aus ökonomischer Sicht übernehmen sollte - Bereitstellung öffentlicher Güter, Internali‐ sierung von Externalitäten und Verhinderung von Marktmacht -, ist dies zu berücksichtigen. Bei Politikempfehlungen müssen die Vorteile eines Eingriffs zur Verhinderung von Marktversagen daher immer gegen die Gefahr des Staatsversagens abgewogen werden. 3.2.4 Überregulierung Zudem geraten Regierungen häufig in Versuchung, auch dort in den Markt einzugreifen, wo gar kein Marktversagen vorliegt. Die Folgen sollen am Beispiel des Brotmarktes illustriert werden. Für ein privates Gut wie Brot ergibt sich auf dem freien Markt ein Preis, der Angebot und Nachfrage zum Ausgleich bringt und Verhaltensanreize für optimale Produktion bietet: Ist die Nachfrage niedriger als das Angebot, so sinkt der Preis und damit erhalten die Produzenten ein Signal, nur so viel zu produzieren, wie sie zu diesem Preis auch ohne Verlust herstellen können. Ist die Nachfrage dagegen höher als das Angebot, so steigt der Marktpreis und die Produzenten erhalten das Signal, mehr zu produzieren (vgl. Abb. 3.3). Wenn nun aber die Regierung eine Preisregulierung vornimmt und einen staatlichen Höchstpreis p max für Brot festsetzt, der unter dem Markt‐ preis p* liegt (zum Beispiel, um arme Bevölkerungsgruppen vor Hunger zu schützen), dann steigt die Nachfrage, während gleichzeitig das Angebot sinkt. Letzteres ergibt sich daraus, dass sich die bisherige Produktion zu dem neuen Preis nicht mehr lohnt und bei den Anbietern zu Verlusten führen 3.2 Wirtschaftspolitische Aufgaben 123 <?page no="124"?> würde. Somit kann die Nachfrage nicht mehr in vollem Umfang gedeckt werden und es entsteht eine Überschussnachfrage (Abb. 3.3). Was ist die Folge? Einige Menschen erhalten dann deutlich günstigeres Brot als zuvor, andere erhalten gar keines, obwohl sie es zum gegebenen Preis gern kaufen würden. Ob in einer solchen Situation gerade die Armen das günstige Brot erhalten, ist fraglich. Oft profitieren von vorgegebenen Höchstpreisen eher diejenigen, die über gute Beziehungen verfügen oder die Möglichkeit haben, Bestechungsgelder zu zahlen. Außerdem sind gerade in Entwicklungsländern die Produzenten von Agrarprodukten häufig arme Kleinbauern und auch sie werden so um ihre Einkünfte gebracht. Staatliches Eingreifen ist in diesem Fall offensichtlich kontraproduktiv. Brotnachfrage Brotangebot p max Δ A Δ N Preis Brot p* p*: Marktpreis p max : Staatlicher Höchstpreis Δ N: Nachfrageveränderung Δ A: Angebotsveränderung ÜN: Überschussnachfrage ÜN Abb. 3.3: Regulierung des Brotpreises 3 Staat, Gesellschaft und Politik 124 <?page no="125"?> 3.3 Gesellschaftspolitische Aufgaben Gleichzeitig ist es in der Tat ein sehr berechtigtes Anliegen der Regierung, Menschen vor Hunger zu schützen. Märkte führen zwar zu einer effizi‐ enten Verteilung von Ressourcen und Gütern, aber nicht zu einer ge‐ rechten Verteilung (vgl. Kapitel 1.5). Neben seiner wirtschaftspolitischen Aufgabe, das Funktionieren der Märkte zu gewährleisten, kommen dem Staat daher noch gesellschaftspolitische Aufgaben zu (vgl. Kapitel 4.4). Dazu gehört die Umsetzung einer geeigneten Verteilungspolitik. Während Preis- oder Mengenregulierung (wie im obigen Beispiel des staatlichen Höchstpreises für Brot) den Marktmechanismus außer Kraft setzen, haben Umverteilung über Steuern und direkte Einkommenst‐ ransfers keine marktverzerrende Wirkung, weil den Marktteilnehmern die freie Entscheidung über den Einsatz ihrer Mittel überlassen bleibt. Oft lässt sich das Bemühen um Gerechtigkeit auch mit dem Verhindern von Marktversagen verbinden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn durch die staatliche Förderung von Grundbildung oder -gesundheit zum einen positive Externalitäten internalisiert werden und zum anderen Chancengerechtig‐ keit hergestellt wird, die allen Mitgliedern der Gesellschaft ein produktives Erwerbsleben ermöglicht. Die Schwierigkeit der Verteilungspolitik besteht insbesondere darin, si‐ cherzustellen, dass die entsprechenden sozialen Leistungen auch tatsächlich der Zielgruppe zugutekommen. Aus einer Analyse der Auszahlung von beitragsunabhängigen staatlichen Rentenzahlungen an arme alte Menschen in Indien für den Zeitraum 2011-12 ergab sich beispielsweise, dass 62 % der Zielgruppe keine Renten erhielten (Ausschlussfehler), während gleichzei‐ tig 69 % der Rentenempfänger nicht zur eigentlichen Zielgruppe gehörten (Einschlussfehler) (vgl. auch Kapitel 4.4.1). Oft ist es eine Herausforderung, zu bestimmen, wer zur Zielgruppe ge‐ hört: In Ländern, in denen ein großer Teil der Bevölkerung von Subsistenz‐ wirtschaft lebt, im informellen Sektor arbeitet und in keinerlei Steuerregister eingetragen ist, ist insbesondere das Einkommen eine schwer erfassbare Größe. Vereinfachend wird deshalb zum Teil der Besitz bestimmter Gü‐ ter (z. B. Auto, Motorrad, Kühlschrank, festes Dach) ermittelt, auf dessen Grundlage Armut ausgeschlossen werden kann (Englisch: proxy means test). Gerade die Ärmsten erfahren aber möglicherweise erst gar nicht von ihrem Recht auf Unterstützung - beispielsweise, weil sie keinen Zugang zu 3.3 Gesellschaftspolitische Aufgaben 125 <?page no="126"?> den Medien besitzen, in denen diese Rechte bekannt gemacht werden, weil sie nicht lesen können oder weil sie die relevante offizielle Landessprache nicht beherrschen. Möglicherweise besitzen sie auch keine offiziellen Papiere und werden bei den zuständigen öffentlichen Stellen wieder abgewiesen. Schließlich fehlen ihnen typischerweise die Beziehungen zu den für die Zuteilung der Leistungen zuständigen Beamten und die Möglichkeit, sich durch Gegenleistungen und Gefälligkeiten beliebt zu machen (Asri 2018). Eine Alternative zur Auswahl anhand einer Bedürftigkeitsprüfung nach vorgegebenen Kriterien ist ein gemeindebasierter Ansatz, bei dem die Gemeinschaft oder ein Teil davon (z. B. lokale Führer) die Begünstigten auswählt. Der Auswahlprozess soll hierbei durch eine gute Kenntnis des lokalen Umfelds verbessert werden. Allerdings kann sich die Abhängigkeit von Beziehungen durch den diskretionären (d. h. nicht regelgebundenen) Entscheidungsspielraum lokaler Entscheidungsträger noch verschärfen. Zudem ist keineswegs sichergestellt, dass bei einem solchen Prozess alle Beteiligten von derselben Armutsdefinition ausgehen (Alatas et al. 2012). Die Selektion funktioniert in einigen Fällen so schlecht, dass die Re‐ gierungen letztlich ganz darauf verzichten und beispielsweise bestimmte Nahrungsmittel oder Treibstoffe generell subventionieren, was das Budget stark belastet und die Ungleichheit oft nicht reduziert, sondern teilweise noch verstärkt. In anderen Fällen ermöglichen jedoch geschickt gewählte Sozialleistungen eine Selbstselektion der Zielgruppe in das für sie vorge‐ sehene Programm (vgl. Box 3.2). Box 3.2 | Sozialleistungen in Indien Wie viele andere Entwicklungsländer hat auch Indien große Schwie‐ rigkeiten mit der Vergabe von Sozialleistungen (z. B. subventionierte Grundnahrungsmittel oder Einkommenstransfers) an die eigentlichen Zielgruppen. Bei einigen Programmen löst sich das Problem jedoch gewissermaßen von selbst: Sind die Leistungen derart gewählt, dass sie nur für die Zielgruppe von Interesse sind, kommt es zu einer Selbstselektion der Zielgruppe in das betreffende Programm. Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist der indische „National Rural Employ‐ ment Guarantee Act” (NREGA) aus dem Jahr 2005, der jedem ländlichen Haushalt ein Minimum von 100 Tagen einfacher Lohnarbeit garantiert (vgl. z. B. Klonner und Oldiges 2014). Dabei handelt es sich um Aufgaben 3 Staat, Gesellschaft und Politik 126 <?page no="127"?> wie das Klopfen von Steinen für den Straßenbau oder das Ausheben von Brunnenschächten. Da bessergestellte Haushalte an der in diesem Programm angebotenen physisch belastenden Arbeit zu geringem Lohn gar kein Interesse haben, bleibt die Teilnahme automatisch auf arme Bevölkerungsgruppen beschränkt. Ein weiteres Beispiel ist ein Pro‐ gramm, das in Schulen Mittagessen für sozial benachteiligte Kinder zur Verfügung stellt. In diesem Fall erfolgt die Selbstselektion über die Schul‐ wahl: Die öffentlichen Schulen, an denen die Mahlzeiten ausgegeben werden, werden überwiegend von Kindern aus sozial benachteiligten Haushalten besucht. Wohlhabendere Schichten schicken ihre Kinder vorwiegend an prestigeträchtigere Privatschulen. Daher kommt auch hier die Sozialleistung tatsächlich überwiegend der Zielgruppe zugute. Quelle: Drèze und Khera (2017) Alatas et al. (2016) weisen auch anhand eines Feldexperiments in Indonesien nach, dass Selbstselektion funktioniert. Indem sie die Entfernung zum Registrierungsort zufällig variieren, können sie zeigen, dass sich eher dieje‐ nigen die Mühe machen, den Weg auf sich zu nehmen, die die Unterstützung wirklich benötigen. Wo eine solche Selbstselektion jedoch nicht gewährleistet werden kann, ergibt sich oft ein Teufelskreis, in dem sich wirtschaftliche Armut und andere Faktoren der Benachteiligung wie Mangel an Wissen, an persön‐ lichen Netzwerken und an politischem Einfluss gegenseitig verstärken (vgl. Abb. 3.4). Vor diesem Hintergrund geht es bei dem gesellschaftspoliti‐ schen Auftrag einer Regierung nicht nur um Sozialpolitik im Sinne von Verteilungspolitik, sondern erneut auch um die Durchsetzung wichtiger Institutionen, die allen Menschen dieselben Chancen eröffnen. Dabei sind neben den wirtschaftlichen auch besonders die politischen Institutionen angesprochen. 3.3 Gesellschaftspolitische Aufgaben 127 <?page no="128"?> Abb. 3.4: Der Kreislauf zwischen Einfluss und Wohlstand Quelle: Goodwin und Burr (2012: 149) Abb. 3.4: Der Zusammenhang zwischen Einfluss und Wohlstand Quelle: Goodwin und Burr (2013: 149) In ihrem viel beachteten Buch „Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut“ stellen die Ökonomen Daron Acemoglu und James Robinson entsprechend auch die Existenz inklusiver (d. h. umfassender, partizipativer) politischer Institutionen als die zentrale Grundlage von ökonomischer Entwicklung dar (Acemoglu und Robinson 2017). Viele Entwicklungsländer sind hingegen von extraktiven (d. h. ausbeuterischen) politischen Institutionen geprägt, bei denen alle we‐ sentlichen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen in der Hand einer kleinen „Elite“ liegen. 3.4 Korruption und Klientelismus Oft fehlt Politikern und anderen Entscheidungsträgern nicht nur das nötige Wissen, sondern sie verfolgen mit ihrer Politik private Interessen, die nicht unbedingt mit den Interessen der Allgemeinheit übereinstimmen. Sie sind also an einer gesamtgesellschaftlich optimalen Lösung nicht interessiert. 3 Staat, Gesellschaft und Politik 128 <?page no="129"?> Die Komplexität wirtschaftspolitischer Entscheidungen, der Mangel an klaren Kriterien bezüglich der Qualität des Regierungshandelns und das in Entwicklungsländern in der Regel geringe Ausbildungsniveau großer Bevölkerungsteile (vgl. Kapitel 5.5) führen dazu, dass sich auch eine dem Gemeinwohl von vornherein entgegen gerichtete, an privaten Interessen orientierte Politik nicht leicht identifizieren lässt (vgl. hierzu auch die Diskussion des Prinzipal-Agenten-Problems, Box 4.5). Wenn niemand klar belegen kann, wer arm ist und wer nicht, was hindert dann einen lokalen Regierungsbeamten daran, einfach die Leute aus seinem persönlichen Umfeld zu bedienen? Wenn ohnehin keine geeigneten Krite‐ rien zur Verfügung stehen, ob ein Versorgungsunternehmen tatsächlich effizient wirtschaftet, warum nicht den Auftrag an jemanden vergeben, der sich dafür in besonderer Weise durch private Gegenleistungen erkenntlich zeigt? Oder einem befreundeten Unternehmer Glauben schenken, dass ihm mit seiner Firma durch staatlich verbilligte Kredite oder andere Subventio‐ nen der große technologische Sprung von gesamtwirtschaftlicher Tragweite gelingen wird? Diese und andere Formen der Korruption, d. h. des Missbrauchs von anvertrauter Macht zum eigenen Vorteil (Transparency International 2018), werden zusätzlich durch ein schlecht funktionierendes Rechts‐ system gefördert, da die Verantwortlichen dann nicht damit rechnen müssen, zur Rechenschaft gezogen zu werden, selbst wenn ihr Verhalten offenkundig wird. Korruption ist in vielen armen Ländern weit verbreitet (vgl. Abb. 3.5). Auch für kleinere staatliche Leistungen - eine schnellere Behandlung in der Klinik, Zulassung der Kinder in die erwünschte Schule, Vergabe einer Lizenz zur Eröffnung eines Ladens - werden dann häufig Gefälligkeiten eingefordert. Deshalb müssen Menschen in Entwicklungs‐ ländern oft auch für Leistungen bezahlen, die ihnen von Rechts wegen kostenlos zustünden. 3.4 Korruption und Klientelismus 129 <?page no="130"?> Abb. 3.5: Verbreitung von Korruption 2018 Anmerkung: Hohe Werte des Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index, CPI) stehen für geringe Korruption. Mögliche Werte reichen von 0 bis 100. Quelle: Transparency International (2019). CPI-Wert 80-89 70-79 60-69 50-59 40-49 30-39 20-29 10-19 Keine Daten Abb. 3.5: Verbreitung von Korruption 2018 Anmerkung: Hohe Werte des Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Percep‐ tions Index, CPI) stehen für geringe Korruption. Mögliche Werte reichen von 0 bis 100. Quelle: Transparency International (2019) Arme und gesellschaftlich wenig einflussreiche Menschen sind dabei häufig auf ökonomisch und/ oder politisch bessergestellte „Wohltäter“ angewiesen, die sich für ihre Anliegen einsetzen - gegen Gegenleistungen wie zum Beispiel eine entsprechende Stimmabgabe bei der nächsten Wahl. Diese soziale Interaktion, die auf dem Tausch von Leistungen zwischen Personen mit unterschiedlicher gesellschaftlicher Stellung und unterschiedlichem politischem Einfluss im beiderseitigen Interesse be‐ ruht, wird als Klientelismus bezeichnet. Alternativ spricht man mit speziellem Fokus auf die Rolle der hierarchisch höhergestellten Person auch von Patronage (vgl. Box 3.3). Das persönliche Umfeld, in dem die entsprechenden Leistungen getauscht werden, ist dabei häufig auf der Grundlage weitläufiger Familienbande oder ethnisch definiert. Während eine derartige Grundlage für die Vergabe staatlicher Hilfsleistungen dem Ziel einer effizienten Armutsbekämpfung offensichtlich zuwiderläuft und als spezielle Form der Korruption anzusehen ist, ist sie in vielen Entwick‐ lungsländern so verbreitet, dass sie von der Bevölkerung oft als eigentliche Norm betrachtet wird (Fisman und Miguel 2007). Von ökonomischen oder politischen Entscheidungsträgern wird häufig ein entsprechendes Verhalten erwartet, und ein dieser traditionellen Norm zuwiderlaufendes 3 Staat, Gesellschaft und Politik 130 <?page no="131"?> Verhalten stößt - allen allgemeinen Protesten gegen Korruption zum Trotz - innerhalb des direkten Umfelds des betroffenen Beamten oder Politikers oft auf wenig Verständnis. Gleichzeitig führt die dauerhafte Bevorzugung gewisser gesellschaftli‐ cher Gruppen zu einem Gefühl der Ungerechtigkeit und Ausgrenzung bei denjenigen, die nicht in den Genuss dieser Sonderbehandlung kommen. Wenn zum Beispiel staatliche Leistungen, Schulen, Kliniken und größere Infrastrukturprojekte in erster Linie in die Herkunftsregion des Präsidenten fließen (vgl. Hodler und Raschky 2014), so lässt dies auf Dauer Unmut aufkommen, der sich unter Umständen auch in gewalttätigen Konflikten entlädt und damit das Staatswesen als Ganzes gefährden kann. Aus ökonomischer Sicht entsteht durch Patronage und andere Formen der Korruption zunächst oftmals eine gravierende Fehlallokation der knappen Ressourcen, wie bereits anhand der mangelnden Zielgruppenorientierung verschiedener Sozialleistungen illustriert wurde. Geht man davon aus, dass der Nutzen aus den staatlichen Leistungen für die Menschen in Armut am größten ist, so wird nicht nur das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen verletzt, sondern auch der gesamtwirtschaftliche Nutzen dieser Leistungen verringert. Ein Wirtschaftssystem, das stark von Korruption geprägt ist, führt zudem zu geringer Planbarkeit wirtschaftlicher Aktivitäten (vgl. Kapitel 2.4.2). Ein Handwerksbetrieb mag sich im informellen Sektor halten können, solange er vom zuständigen Beamten gegen ein geringes Entgelt „übersehen“ wird und somit keine Steuern zahlen muss. Es kann aber jederzeit passieren, dass der zuständige Beamte wechselt oder plötzlich das Doppelte verlangt. Durch die fehlende Planbarkeit erhöht sich die wirtschaftliche Unsicherheit und die Anreize für wirtschaftliches Engage‐ ment werden reduziert. Zudem erhöhen sich die Transaktionskosten, wenn ständig alles neu ausgehandelt werden muss und man sich nicht auf dauerhafte Regeln verlassen kann. Die Leistungen der Entscheidungsträger in Politik und Bürokratie an bevorzugte Bevölkerungsgruppen sind nicht immer von unmittelbar finan‐ zieller Natur. Die Vergabe von Jobs oder Privilegien (z. B. durch Sub‐ ventionen, Schutzzölle, verbilligte Kredite oder staatliche Auftragsvergabe) funktioniert oft nach denselben Regeln. Dabei kann das Vorliegen von Marktversagen als Vorwand dienen, großzügige Subventionen oder ver‐ günstigte Kredite an einen befreundeten Unternehmer zu geben, beispiels‐ weise zum Ausgleich vermeintlicher (und in jedem Fall schwerlich genau vorherbestimmbarer) positiver Externalitäten wie sozialer Skaleneffekte 3.4 Korruption und Klientelismus 131 <?page no="132"?> durch Forschung und Entwicklung (vgl. Kapitel 2.4.3). In vielen Ländern wurden spezielle staatliche Entwicklungsbanken geschaffen, die aufgrund einer solchen verbilligten Kreditvergabe an ökonomisch wenig leistungsfä‐ hige Unternehmen zumeist schnell zahlungsunfähig wurden. Eigentlich wäre es Teil der gesellschaftspolitischen Aufgaben einer Re‐ gierung, durch geeignete institutionelle Rahmenbedingungen solchen Missständen Einhalt zu gebieten. Tatsächlich ist dies selten der Fall. Die Skepsis gegenüber den Regierungen war deshalb teilweise so groß, dass Organisationen wie die Weltbank darauf drängten, den Staat möglichst gänzlich von Eingriffen in die Wirtschaft abzuhalten. Ein möglichst kleiner Staat und damit verbunden auch der Abbau von Personal im Staatsdienst waren häufige Forderungen im Rahmen der Konditionalität von Strukturan‐ passungskrediten der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds in den 1980er und 1990er Jahren (vgl. Box 4.3 und Kapitel 8.1). In den Augen dieser großen Geldgeber schien die Sorge im Hinblick auf Staatsversagen gegenüber der Sorge um Marktversagen deutlich zu überwiegen. Heute besteht jedoch weitgehender Konsens, dass nationale Regierun‐ gen eine zentrale Rolle im Entwicklungsprozess einnehmen müssen. Entwicklung lässt sich nicht von außen herbeiführen (vgl. Kapitel 8.3 und 8.4) und auch nicht allein durch Vertrauen in Marktprozesse. Die Probleme des Staatsversagens werden durch diese Erkenntnis natürlich nicht gelöst. So bleibt die drängende Frage, wodurch Korruption und Klientelismus reduziert und Regierungen zu einem nachhaltig entwicklungsfreundlichen Handeln - nicht nur zugunsten einzelner Gruppen, sondern der Gesellschaft insgesamt - bewegt werden können. Ein erster Schritt zur Beantwortung dieser schwierigen Frage ist ein besseres Verständnis der Hintergründe politischer Entscheidungsfindung. 3.5 Warum fällen Regierungen in armen Ländern oft ineffiziente Entscheidungen? Regierungen verfolgen nicht nur in armen Ländern privatwirtschaftliche und politische Interessen, die sich mit gesamtgesellschaftlicher Wohl‐ fahrtsoptimierung nur bedingt vereinbaren lassen. In den meisten Ländern mit hohem Einkommen gibt es jedoch ein funktionierendes demokratisches System, in dem eine politisch informierte Bevölkerung ihre Regierung durch eine Mehrheitswahl bestimmt. In einem solchen Umfeld wird auch eine 3 Staat, Gesellschaft und Politik 132 <?page no="133"?> rein am Machterhalt interessierte Regierung eine Politik betreiben, die der Mehrheit der Bevölkerung dient. In Entwicklungsländern ergibt sich aufgrund fehlender demokratischer Institutionen oder eines geringen Bildungsstands der Bevölkerung aus dem Optimierungskalkül der Regierung oft ein weniger wohlfahrtsdienliches Gleichgewicht. Die sich daraus ergebende Eigendynamik führt auch dazu, dass eine autokratische Regierung selten freiwillig auf ihre Privilegien verzichtet und einen friedlichen Übergang zu inklusiveren Institutionen in Gang setzt. Obgleich weltweit die Zahl der Demokratien seit Mitte der 1980er Jahre erheblich zugenommen hat, sind viele Entwicklungsländer nach wie vor keine funktionierenden Demokratien, sondern Autokratien oder Mischformen (Anokratien) mit teils demokratischen, teils autokrati‐ schen Zügen und zumeist geringer politischer Stabilität (vgl. Abb. 3.6). Für das Verständnis der politischen Entscheidungsprozesse in Entwick‐ lungsländern ist es somit notwendig, sich mit theoretischen Ansätzen auseinanderzusetzten, die auch in nicht demokratischen Regimen Relevanz beanspruchen können. Abb. 3.6: Weltweite Entwicklung der Regierungssysteme Quelle: Center for Systemic Peace (2018) 0 10 20 30 40 50 60 70 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 Anteil an allen Ländern (in %) Anteil an Demokratien Anteil an Anokratien Anteil an Autokratien Abb. 3.6: Weltweite Entwicklung der Regierungssysteme Quelle: Center for Systemic Peace (2018) 3.5 Warum fällen Regierungen in armen Ländern oft ineffiziente Entscheidungen? 133 <?page no="134"?> 3 Vgl. auch Bueno de Mesquita und Smith (2012), wo zusätzlich noch zwischen nominalem und realem Selektorat unterschieden wird, um formales Wahlrecht von realen Mitbestimmungs‐ möglichkeiten zu unterscheiden. 3.5.1 Das Selektoratsmodell Ein theoretischer Ansatz, der sich flexibel im Rahmen verschiedener politi‐ scher Systeme von Demokratie bis Autokratie anwenden lässt und daher auch im Kontext der Entwicklungsländer gut eingesetzt werden kann, ist das Selektoratsmodell von Bueno de Mesquita et al. (2003). Dort wird statt der Wählerschaft (= „Elektorat“) von vornherein das „Selektorat“, d. h. alle, die politisch tatsächlich etwas zu sagen haben, ins Zentrum der Analyse gerückt. 3 In einer funktionierenden Demokratie entspricht das Selektorat dem Elektorat, in einer Monarchie wie in Saudi-Arabien umfasst es hingegen nur die kleine Gruppe von Mitgliedern der königlichen Familie, die den Herrscher bestimmen dürfen. In anderen, derzeit weitverbreiteten autoritären Herrschaftsformen und Mischformen zwischen Autokratie und Demokratie ist das Selektorat allerdings oft ähnlich groß wie in einer Demokratie. Schließlich werden dort häufig auch Wahlen abgehalten. Dabei unterscheidet sich jedoch erheblich, wie groß die Zahl derjenigen ist, die tatsächlich für die Machterlangung und Machterhaltung des Herrschers bzw. seiner Regierung nötig sind. Diese als „Gewinnerkoali‐ tion“ bezeichnete Gruppe ist in einer funktionierenden Demokratie sehr groß (bei Direktwahl im absoluten Mehrheitswahlsystem 50 % der Wähler plus einer), während sie in einer Autokratie üblicherweise nur aus wenigen Personen mit zentralen Machtpositionen in Militär, Polizei und/ oder Wirtschaft besteht. Diese können ggf. auch Wahlen manipulieren, so dass ein unerwünschtes Wahlergebnis entweder gar nicht erst eintritt oder nur in abgewandelter Form an die Öffentlichkeit gelangt. Um an der Macht zu bleiben, muss sich ein Herrscher somit vor allem die Zufriedenheit der Gewinnerkoalition bewahren. Je nach Größe der Gewinnerkoalition hat dies unterschiedliche Konsequenzen. Eine Handvoll wichtiger Gefolgsleute lässt sich leicht mit privaten Gütern zufriedenstel‐ len - beispielsweise durch die Vergabe wichtiger Ämter und Privilegien, durch direkte finanzielle Vorteile oder durch vorteilhafte wirtschaftspoli‐ tische Regulierungen wie die Vergabe von Monopolrechten. Die dafür notwendigen Ressourcen können von der breiten Masse der Bevölkerung, die dem Herrscher nicht wirklich gefährlich werden kann, abgeschöpft werden. Wenn nun aber die Gewinnerkoalition groß ist, wird die Verteilung privater Güter sehr teuer. Ab einem gewissen Punkt lohnt sich dann eher 3 Staat, Gesellschaft und Politik 134 <?page no="135"?> die Zufriedenstellung mit öffentlichen Gütern, die für alle Mitglieder der Gesellschaft gleichzeitig Nutzen stiften. Somit ist eine der wesentlichen Vorhersagen der Selektoratstheorie, dass in Demokratien tendenziell mehr öffentliche Güter zur Verfügung gestellt werden als in Autokratien. Auch die relative Größe der Gewinnerkoalition zum Selektorat ist dabei re‐ levant. Wenn die Gewinnerkoalition einen großen Teil des Selektorats umfasst, ist der Teil der Bevölkerung, von dem die Regierung die zu ihrer Befriedigung notwendigen Ressourcen abziehen kann, eher gering, was den Bezug der Res‐ sourcen erschwert. Dies ist allerdings nicht das Hauptargument von Bueno de Mesquita et al. (2003). Sie argumentieren, dass bei einer Gewinnerkoalition, die einen großen Teil des Selektorats umfasst, die Mitglieder dieser Koalition nicht leicht durch andere Personen ersetzt werden können. Ist die Gewinnerkoalition hingegen nur ein kleiner Teil des Selektorats, müssen die Mitglieder fürchten, ersetzt zu werden und ihre privilegierte Stellung zu verlieren, wenn ein neuer Herrscher mit einer neuen Gewinnerkoalition an die Macht kommt. Dies festigt ihre Bindung an den bestehenden Herrscher, und zwar umso mehr, als ihre privilegierte Stellung mit dem Bezug privater Güter einhergeht. Von diesen Gütern könnten sie (anders als beim Nutzen aus öffentlichen Gütern) als Mitglieder des Selektorats außerhalb der Gewinnerkoalition nicht profitieren. In jedem Fall spricht eine Situation, in der die Gewinnerkoalition nur ein kleiner Teil des Selektorats ist, somit für eine eher geringe Bereitstellung öffentlicher Güter. In Tab. 3.1 werden die Hauptaussagen der Selektoratstheorie noch einmal zusammenfassend dargestellt. Tab. 3.1: Hauptaussagen der Selektoratstheorie Demokratie Typische Autokratie Gewinnerkoalition groß klein Gewinnerkoalition Selektorat groß klein Stabilität der Herr‐ schaft niedrig hoch Befriedigung der Gewinnerkoalition primär durch: öffentliche Güter und Gü‐ ter mit starken positiven Ex‐ ternalitäten (physische und soziale Infrastruktur, funk‐ tionierender öffentlicher Dienst usw.) private Güter (Ämter, Privi‐ legien, finanzielle Vorteile, günstige Regulierungen, z. B. Sicherung von Monopolren‐ ten durch Verbot in- und aus‐ ländischen Wettbewerbs) 3.5 Warum fällen Regierungen in armen Ländern oft ineffiziente Entscheidungen? 135 <?page no="136"?> Auf der Grundlage der Ereignisse in Simbabwe, die in Box 3.3 geschildert werden, lässt sich die Selektoratstheorie auf ein konkretes Beispiel anwen‐ den. Präsident Mugabe konnte eine kleine Gewinnerkoalition bestehend aus hohen Militärs, Polizeiführung, Parteifunktionären und einzelnen Großun‐ ternehmern über lange Jahre hinweg durch die Vergabe von Privilegien zufriedenstellen, während die Masse der Bevölkerung unter dem Mangel an öffentlichen Gütern (Infrastruktur, Rechtssicherheit usw.) zu leiden hatte. Aufgrund des relativ großen Selektorats mussten die Mitglieder der Gewinnerkoalition zudem befürchten, dass bei einem Machtwechsel andere Personen in den engeren Zirkel der Macht geraten würden. Die Ent‐ machtung des Vizepräsidenten Mnangagwa und die damit einhergehende Machtverschiebung zugunsten der Frau Mugabes, die über ein anderes Netzwerk an Vertrauensleuten verfügte, löste bei den hohen Militärs aber eben diese Furcht aus. Sie schlugen sich somit auf die Seite Mnangagwas, der ihnen als Garant für eine Fortführung der bestehenden Gewinnerkoalition erschien. Box 3.3 | Patronage in Simbabwe und der Machtwechsel 2017 Der Rücktritt Robert Mugabes als Präsident im November 2017 wurde in Simbabwe ausgelassen gefeiert. Diese stürmische Begeisterung der Bevölkerung wirft die Frage auf, wie sich ein offenbar äußerst unbe‐ liebter Staatschef trotz katastrophaler Politik, die das Land jahrzehn‐ telang in Hungersnöte, Hyperinflation und Arbeitslosigkeit von bis zu 90 % stürzte, 37 Jahre an der Macht halten konnte. Die Antwort darauf finden viele Beobachter in einem ausgeklügelten System der staatlichen Patronage, das Mugabe schon zu Beginn seiner Amtszeit als Premierminister (1980-1987) aufbaute und bis zuletzt pflegte. Im Gegenzug für absolute Loyalität gewährte er seinen Anhängern Ämter, Vergünstigungen und vielfältige Bereicherungsmöglichkeiten. Er hatte die Kontrolle über sämtliche aus dem Ausland einfließenden Ressourcen und verteilte diese nach eigenem Ermessen an seine Getreuen. Auch die Entstehung eines unabhängigen Wirtschaftsbürgertums verhinderte Mugabe erfolgreich, indem er wichtige simbabwische Unternehmer durch die Vergabe großer staatlicher Aufträge an sich und seine Regie‐ rung band. Die Opposition und sonstige Andersdenkende, die sich ihm nicht unterwarfen, degradierte er als „sell-outs“ und machte sie durch brutale Übergriffe seiner Parteimiliz, der Polizei und der loyalen Armee 3 Staat, Gesellschaft und Politik 136 <?page no="137"?> mundtot. Die Entlassung des vom Militär gestützten Vizepräsidenten Emmerson Mnangagwa rüttelte jedoch an der filigranen Machtstruktur. Die Armee sowie zahlreiche Parteigenossen lehnten zudem Mugabes Ehefrau, Grace Mugabe, als Nachfolgerin entschieden ab. Am 15. No‐ vember 2017 wurde Mugabe schließlich nach dem Eingreifen der Armee unter Hausarrest gestellt und trat eine Woche später zurück. Quelle: Marx (2017) Insgesamt ergibt sich aus der Selektoratstheorie, dass eine am Machterhalt interessierte autokratische Regierung ihre Politik nicht in erster Linie an wirtschaftspolitischer Effizienz bzw. gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt, sondern an einer sehr viel kleineren Gruppe aus der relevanten „Elite“ orientiert. Das entspricht Acemoglu und Robinsons (2017) Darstellung extraktiver Institutionen. 3.5.2 Weitere Modelle der politischen Optimierung Modelle aus dem Bereich der politischen Ökonomie der Diktatur (Olson 2000, Wintrobe 1998, Tullock 1987) und eine an Autokratien angepasste Form des Medianwählertheorems (vgl. Bernauer et al. 2015: 147 ff.) basie‐ ren auf derselben Grundidee und kommen daher auch zu denselben Ergeb‐ nissen. In beiden Fällen steht die Überlegung im Vordergrund, dass eine auf den Machterhalt ausgerichtete Regierung ausschließlich das Wohlergehen derjenigen berücksichtigt, die diesen Machterhalt tatsächlich gefährden könnten. Unter Umständen sind dies allein die wichtigen Armeeführer oder die Anführer politisch oder wirtschaftlich mächtiger ethnischer Gruppen. Im Diktaturmodell werden diese Gruppen vom Diktator mit ausreichenden Privilegien ausgestattet, um das Überleben des Regimes zu sichern. Im autoritären Medianwählermodell wird die Politik spezifisch an den Inter‐ essen derjenigen Person ausgerichtet, die innerhalb der Mitglieder dieser „Elite“ die mittlere Position einnimmt, denn dies optimiert die Zustimmung innerhalb der relevanten Bezugsgruppe. So wird gemäß keines der beiden Modelle eine Politik betrieben, die sich an der Gesellschaft insgesamt oder speziell an den Bedürfnissen der Armen orientiert. Und es wird auch keine Politik betrieben, die sich an der größtmöglichen Zustimmung innerhalb 3.5 Warum fällen Regierungen in armen Ländern oft ineffiziente Entscheidungen? 137 <?page no="138"?> der Bevölkerung orientiert, wie dies das Medianwählermodell in einem demokratischen Kontext nahelegen würde. Bei der Theorie kollektiven Handelns (Olson 2004) wird zusätzlich berücksichtigt, dass sich Einzelpersonen zu Interessengruppen zusam‐ menschließen und dadurch politisch schlagkräftiger werden können. Diese können dann auf die öffentliche Meinung oder auch direkt auf die politi‐ schen Entscheidungsträger Einfluss nehmen, was umso besser funktioniert, je weniger transparent das System und je weniger informiert die Bevölke‐ rung ist. Das spricht dafür, dass der Einfluss von Interessengruppen in Entwicklungsländern besonders groß ist (sofern das jeweilige System die Existenz solcher Gruppen grundsätzlich ermöglicht). Allerdings erfordert kollektives Handeln die Überwindung von Trittbrettfahrerproblemen in ähnlicher Form, wie sie auch bei der Bereitstellung öffentlicher Güter auf‐ treten, da der Einsatz des einzelnen Lobbymitglieds der ganzen Interessen‐ gruppe nützt. Trittbrettfahrerprobleme lassen sich am besten überwinden, wenn die Anzahl der am Lobbying interessierten Personen eher klein ist, denn dann kann die Beteiligung aller leichter überprüft werden und es lässt sich leichter sozialer Druck aufbauen. Diese Überlegungen gelten unabhängig vom politischen System und erlauben daher auch Vergleiche über verschiedene Länder. Diese sind insofern interessant, als die Konzentration der Wirtschaftssektoren zwi‐ schen den Ländern stark variiert, was zu unterschiedlichem Erfolg des kollektiven Handelns führen sollte. Ein interessantes Beispiel bietet der Landwirtschaftssektor, der im Gegensatz zu den Entwicklungsländern in den wohlhabenderen Ländern wirtschaftlich eine sehr untergeordnete Rolle spielt und nur einen geringen Teil der Bevölkerung beschäftigt. Gerade in den reicheren Ländern ist die Landwirtschaft aber typischerweise hervorra‐ gend organisiert und wird entsprechend von Seiten der Regierungen durch erhebliche Subventionen und Importbeschränkungen unterstützt. In vielen Entwicklungsländern hingegen ist der Landwirtschaftssektor politisch völ‐ lig einflusslos, obwohl er den größten Teil der Bevölkerung beschäftigt. Dies ist insbesondere in vielen afrikanischen Ländern zu beobachten, in denen die Produktion nicht von relativ wenigen großen Betrieben dominiert wird, sondern auf die Tätigkeit einer Vielzahl von Kleinbauern zurückgeht. Tendenziell sind es diese Länder, in denen die Landwirtschaft dann eher noch finanziell belastet wird - beispielsweise durch die oben bereits ange‐ sprochenen staatlich verordneten Höchstpreise für die angebauten Lebens‐ 3 Staat, Gesellschaft und Politik 138 <?page no="139"?> mittel - zugunsten einer typischerweise deutlich leichter organisierbaren städtischen Bevölkerung. Die Aussagen der Theorie kollektiven Handelns beanspruchen Gültigkeit unabhängig vom politischen System. Somit gewährleistet auch ein demo‐ kratisches Regime nicht unbedingt, dass Menschen in Armut sich politisch durchsetzen - auch dann nicht, wenn sie einen großen Bevölkerungsteil ausmachen. In Entwicklungsländern wird das Problem dadurch verstärkt, dass aufgrund von geringem Bildungsstand und unzureichendem Zugang zu zuverlässiger Information den Menschen oft gar nicht bewusst ist, welche Forderungen tatsächlich in ihrem Interesse wären, und dass sie aufgrund klientelistischer Abhängigkeitsverhältnisse ihren Willen nicht immer kundtun können. Drèze und Sen (2013: 261 ff.) diskutieren dieses Phänomen für den Fall Indiens, wo trotz einer langjährigen demokratischen Tradition extreme Armut weitverbreitet ist. Sie beklagen dabei, dass auch die Medien über die zentralen Probleme marginalisierter Gesellschaftsgruppen nur unzurei‐ chend berichten und daher aus Sicht der Autoren ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Wenn das Verständnis für diese Probleme und ihre Ursachen fehlt, dann kommt es besonders leicht dazu, dass eine Politik zwar im Namen der Armen angepriesen wird, de facto aber andere, politisch besser informierte und organisierte Bevölkerungsgruppen begünstigt. Ein Beispiel ist die in Indien bis vor einigen Jahren (und in einigen anderen Ländern noch heute) durchgeführte Subventionierung von Benzin. Dabei werden aufgrund der mit dem Benzinverbrauch verbundenen Umweltschä‐ den nicht nur - entgegen jeder ökonomischen Logik - negative statt positive Externalitäten subventioniert; darüber hinaus profitiert vor allem die Mittel- und Oberschicht, die allein sich motorisierte Fahrzeuge überhaupt leisten kann. 3.6 Entwicklung durch Demokratie oder Diktatur? Obwohl eine Demokratie das Problem der mangelnden politischen Durch‐ setzungsfähigkeit ärmerer Bevölkerungsgruppen nicht unbedingt lösen kann, legen die meisten der oben dargestellten theoretischen Modelle nahe, dass ihre Bedürfnisse zumindest etwas besser berücksichtigt werden. Aus den diskutierten Theorien ergibt sich insbesondere, dass Autokratien in zu geringem Umfang öffentliche Güter bereitstellen, wodurch sich die wirt‐ 3.6 Entwicklung durch Demokratie oder Diktatur? 139 <?page no="140"?> schaftliche Entwicklung insgesamt verlangsamt. Acemoglu und Robinson (2017) betonen darüber hinaus, dass der Ausschluss großer Bevölkerungs‐ teile von politischer Mitsprache diese Gruppen daran hindert, ihre Ideen zu entfalten und sich produktiv am Wirtschaftsleben zu beteiligen. Das führt zu mangelndem Wettbewerb und fehlender Innovation und behindert auf diese Weise die langfristige ökonomische Entwicklung (vgl. Kapitel 2.3). Es lassen sich aber auch Argumente finden, die dafür sprechen, dass es gerade Autokratien besser gelingen könnte, die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Solche Argumente sind beispielsweise in Indien oft zu hören, wo man sich in dieser Hinsicht mit dem Nachbarn China vergleicht, hinter dessen Wachstumsraten die indischen bis in die späten 1980er Jahre weit zurückblieben. Dabei geht es im Kern darum, dass sich in einer Demokratie wichtige Entwicklungsreformen vielfach nicht durchsetzen lassen oder dass es sehr lange dauert, bis es zu einer Umsetzung kommt. Beispiele sind große Infrastrukturvorhaben wie der Bau einer Schnell‐ bahnlinie, die verschiedene weit entfernte Landesteile miteinander verbin‐ den soll. In Indien müssen sich zunächst verschiedene demokratisch ge‐ wählte Gremien auf nationalstaatlicher und regionaler Ebene einigen, wobei möglicherweise bestimmte Regionen ihre Zustimmung nur erteilen, wenn eine Mindestzahl an Haltebahnhöfen eingerichtet wird, was gleichzeitig die Reisezeit für die Langstrecke wieder erhöht. Dazu kommen in einem demo‐ kratischen System häufig individuelle Klagen von Bürgern, deren privater Landbesitz der Schnellbahntrasse zum Opfer fallen würde. Solche Klagen können sich jahrelang hinziehen. Vor dem Hintergrund solch langwieriger Prozesse mit ungewissem Ausgang wird manch ein gesamtwirtschaftlich relevantes Projekt vermutlich gar nicht erst in Angriff genommen. Ein weiteres Beispiel sind innerstädtische U-Bahn-Projekte. So steckte die in der südindischen Stadt Bangalore geplante Ost-West-Verbindung jahrelang fest, nachdem im Jahr 2011 die ersten fünf Haltestellen eröffnet worden waren. In China hingegen können relevante Infrastrukturvorhaben in kürzester Zeit beschlossen und umgesetzt werden. Aufgrund der geringeren Widerstände kann daher ein entwicklungsori‐ entierter Diktator die wirtschaftliche Entwicklung schneller voranbringen als eine demokratische Regierung. Aber wieso sollte er überhaupt „ent‐ wicklungsorientiert“ sein? Genau das ist es ja, was von den im vorigen Abschnitt diskutierten Modellen in Frage gestellt wird: Aus verschiedenen Gründen sind die Anreize eines autokratischen Regimes, seine Politik an der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt auszurichten, noch geringer als in 3 Staat, Gesellschaft und Politik 140 <?page no="141"?> einer Demokratie. Eine wirkliche Entwicklungsdiktatur ist somit vermut‐ lich ein eher seltenes Phänomen. Auch bei den oben genannten großen Infrastrukturprojekten ist die demokratische Kontrolle durchaus wichtig, um die Interessen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen gegeneinander abzuwägen. Man denke beispielsweise an Zwangsumsiedlungen, die in China mittlerweile zum Alltag gehören. Was „entwicklungsfreundlich“ heißt, hängt dabei offensichtlich von der Perspektive ab. Abb. 3.7 zeigt den empirischen Zusammenhang zwischen Wachstumsra‐ ten und Regimetyp gemessen anhand der Werte des Polity 2-Index (Skala: -10 völlig autokratisch bis +10 vollständig demokratisch). Ein eindeutiger Zusammenhang lässt sich nicht ablesen. Autokratien und Anokratien mit Polity-Werten ≤0 finden sich auf der ganzen Bandbreite der Wachstums‐ skala: Länder wie China, Äthiopien oder Vietnam weisen über den gesamten abgebildeten Zehnjahreszeitraum extrem hohe Wachstumsraten auf, in vielen anderen Ländern (z. B. Gambia) stagniert die Wirtschaft hingegen völlig und in einigen ist sie vollständig zusammengebrochen (z. B. im Bürgerkriegsland Jemen). Allerdings neigen Autokratien nicht dazu, ihre wirtschaftlichen Krisen statistisch zu dokumentieren. So fehlen die Werte für Nordkorea, Somalia und Syrien über den gesamten Beobachtungszeit‐ raum. Möglicherweise wäre die in der Abbildung dokumentierte Varianz des Wirtschaftswachstums innerhalb der Autokratien sonst noch größer. Bei den Demokratien ist die Varianz geringer; sie scheinen ihrer Bevöl‐ kerung zumindest ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Entwicklung zu garantieren. Das kann auch erklären, warum man in funktionierenden Demokratien keine Hungersnöte beobachtet (vgl. Abb. 3.8). Freie Medien und die Möglichkeit der Bevölkerung, in der Öffentlichkeit zu protestie‐ ren, dienen nicht nur als Frühwarnsystem für die Regierung, sondern sorgen in Ländern mit freien Wahlen gleichzeitig für den notwendigen politischen Druck, um rechtzeitige Hilfsmaßnahmen in Gang zu setzen (Drèze und Sen 1989). So gelang es Indien, seit der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft im Jahr 1947 Hungersnöte zu vermeiden, und die schwere bengalische Hungersnot im Jahr 1943 blieb bis heute die letzte, obwohl auch später immer wieder große Dürreperioden auftraten und regional zu erheblichen Ernteeinbußen führten. In China hingegen kam es noch zwischen 1958 und 1961 zu einer massiven Hungersnot mit 20-30 Millionen Toten, weil die lokalen Beamten dem „großen Führer“ Mao entgegen der ihnen vorliegenden Evidenz Planerfüllung bei der Produktion meldeten und aufgrund der Unterdrückung jeglicher Kritik das Ausmaß 3.6 Entwicklung durch Demokratie oder Diktatur? 141 <?page no="142"?> der Katastrophe der nationalen Regierung nicht einmal bekannt wurde. Trotz der Vermeidung derartiger Krisen in Demokratien ist allerdings die chronische Unterernährung (vgl. Kapitel 5.6.1) auch dort oft verbreitet, weil sie aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit als Teil der Normalität angesehen und auch von freien Medien wenig aufgegriffen wird (Drèze und Sen 1989: 210 ff.). Abb. 3.7: Regimetyp und Wachstum Autokratie: -10 bis -6 Anokratie: -5 bis 5 Demokratie: 6 bis 10 Anmerkung: Die Punkte entsprechen jeweils dem Durchschnittswert der realen Wachstumsrate des BIP pro Kopf für die Periode 2008-2017 und dem Polity 2-Index für das Jahr 2008 für das jeweilige Land. Quellen: Center for Systemic Peace (2018), Weltbank (2019) Zentralafrikanische Rep. Angola China Äquatorialguinea Eritrea Äthiopien Gambia Ghana Griechenland Indien Jamaika Kuwait Mongolei Sri Lanka Venezuela Vietnam Jemen -6 -4 -2 0 2 4 6 8 10 -10 -5 0 5 10 Wachstumsrate des BIP pro Kopf Polity 2 - Index Abb. 3.7: Regimetyp und Wirtschaftswachstum Anmerkung: Die Punkte entsprechen jeweils dem Durchschnittswert der realen Wachstumsrate des BIP pro Kopf für die Periode 2008-2017 und dem Polity 2-Index für das Jahr 2008 für das jeweilige Land. Quellen: Center for Systemic Peace (2018), Weltbank (2019) 3 Staat, Gesellschaft und Politik 142 <?page no="143"?> (Stand 2018). In 4 Ländern herrschte 2018 Hungersnot. Abb. 3.8: Keine Hungersnöte in Demokratien Anmerkung: Die vier Länder, in denen gemäß der Ernährungs- und Landwirtschafts‐ organisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organisation, FAO) 2018 ein Notzustand herrschte, waren Jemen, Nigeria, Somalia und Südsudan. Quellen: Goodwin und Burr (2013: 177), FAO (2019) Die große Varianz in der wirtschaftlichen Leistung innerhalb von Autokra‐ tien erklärt sich vermutlich teilweise dadurch, dass die Folgen der Unterdrü‐ ckung von Kritik nicht immer gleichermaßen dramatisch ausfallen. Heute ist China aus ökonomischer Sicht ein Vorbild für viele Entwicklungsländer, obgleich es sich nach wie vor um eine Autokratie handelt. Um die große Varianz in der wirtschaftlichen Leistung verschiedener Autokratien zu erklären, muss man auch nicht auf die Annahme der ent‐ wicklungsfreundlichen Gesinnung einzelner Herrscher bauen. Ein verbrei‐ tetes Modell der politischen Ökonomie der Diktatur stellt einen anderen Zusammenhang in den Vordergrund der Betrachtung. Das Modell geht von einem Herrscher aus, der ausschließlich an seinem eigenen Konsum interessiert ist. Dabei muss er seinen Machterhalt im Auge behalten: Wenn er viele Jahre an der Macht bleibt, kann er über alle diese Jahre hinweg einen gewissen Anteil des Volkseinkommens für seinen eigenen Konsum beanspruchen. Bei übermäßiger Ressourcenabschöpfung in einem Jahr riskiert er jedoch seinen Machterhalt und damit auch seine Konsummög‐ lichkeiten im nächsten Jahr. 3.6 Entwicklung durch Demokratie oder Diktatur? 143 <?page no="144"?> 4 Anders als in den zuvor diskutierten Modellen erfolgt innerhalb dieses Modells keine solche Differenzierung, da sie für die Vorhersagen des Modells unerheblich ist. Nur wenn der Diktator davon ausgehen muss, ohnehin nicht lange an der Macht bleiben zu können, wird er daher gleich zu Anfang versuchen, die Ressourcen des Landes maximal auszubeuten. Olson (1993, 2000) vergleicht die Situation des Diktators mit einem solchen kurzen Zeithorizont mit der Situation eines „marodierenden Banditen“: Er raubt alles aus und zieht dann weiter. Der „sesshafte Bandit“ hingegen will seine Opfer auch langfristig ausnehmen und lässt ihnen daher die nötigen Produktionsmittel. Analog profitiert auch der Diktator mit langem Zeithorizont am meisten, wenn er den Produktionsprozess und damit die gesamtwirtschaftliche Ent‐ wicklung vorantreiben kann. Offensichtlich ist für die Entwicklung des Landes also entscheidend, ob es sich um einen Diktator mit kurzem oder langem Zeithorizont handelt. Aber wovon hängt dies wiederum ab? Man kann argumentieren, dass die unterschiedlichen Typen der Diktatur zumindest teilweise von der wirt‐ schaftlichen Situation in der Ausgangslage bestimmt werden. Dies hängt damit zusammen, dass das Überleben des Regimes bei guter Wirtschaftslage wahrscheinlicher ist. Bei gegebenen allgemeinen Präferenzen und gegebe‐ ner Risikobereitschaft wird somit ein Diktator eher dann langfristig planen, wenn die wirtschaftliche Ausgangslage vielversprechend ist. Overland et al. (2005) konkretisieren und formalisieren diesen zunächst von Olson formulierten Gedanken und stellen dabei vor allem die Bedeutung des Kapitalbestands in der Ausgangssituation in den Vordergrund. Der Diktator bestimmt zu Beginn jeder Periode die öffentlichen Investitionen. Ein zunehmender Kapitalbestand ermöglicht ihm Gewinne und damit Transfers zum Erkaufen von Zustimmung sowie eigenen Konsum. Ist nun bereits zu Beginn der Kapitalbestand hoch, so sieht der Diktator für sein Regime gute Überlebenschancen. Somit maximiert er seinen langfristigen Konsum durch hohe Investitionen. Dadurch kommt es zu wirtschaftlicher Entwicklung, die Bevölkerung (oder der für den Autokraten relevante Teil dieser Bevölkerung 4 ) ist zufrieden und es ergeben sich auch in der nächsten Periode wieder gute Überlebenschancen für sein Regime. Folglich kommt es zu einem positiven Wachstumskreislauf mit stetiger wirtschaftlicher Entwicklung. Ist jedoch zu Beginn der Kapitalbestand niedrig, so hat das bestehende Regime nur geringe Überlebenschancen. Entsprechend wird der Konsum 3 Staat, Gesellschaft und Politik 144 <?page no="145"?> des Diktators durch sofortige Ausbeutung maximiert. Sollte sein Regime dennoch an der Macht bleiben, ergeben sich daraus in der nächsten Periode erneut geringe Überlebenschancen - ja sogar noch geringere als zuvor. Somit kommt es zu einem Negativkreislauf mit stetigem Niedergang. Das Modell bietet also eine mögliche Erklärung für die größere Varianz der Wirtschaftsentwicklung in autokratischen im Vergleich zu demokrati‐ schen Staaten. Ob im Ausgangszustand tatsächlich das verfügbare physische Kapital die wichtigste Rolle spielt, ist allerdings fraglich. Dem positiven Wachstums‐ kreislauf entspricht die Entwicklung in den Tigerstaaten Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong der 1960er bis 1990er Jahre oder auch in China und Vietnam. Im Anfangsstadium dieses Wachstumsprozesses waren sie oft nicht reicher als viele afrikanische Staaten. Allerdings könnten die jeweili‐ gen Machthaber ein größeres Vertrauen in das wirtschaftliche Potenzial der Bevölkerung oder in ihre eigenen wirtschaftspolitischen Fähigkeiten gesetzt und deswegen an eine Dauerhaftigkeit ihrer Regierung geglaubt haben. In allen diesen Fällen bleibt die Grundidee des Olson’schen Diktaturmodells erhalten und die Varianz zwischen verschiedenen autokratischen Ländern lässt sich erklären. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es keinen eindeutigen empirischen Zusammenhang zwischen politischem Regime und wirtschaftlicher Ent‐ wicklung gibt, auch wenn den Demokratien üblicherweise die extremsten Formen von Misswirtschaft und wirtschaftlichem Niedergang erspart blei‐ ben. Darüber hinaus bleiben demokratische Freiheiten natürlich ein Ziel an sich. Und der Mangel an Rechten, Freiheiten und Entfaltungsmög‐ lichkeiten ist Teil des in Kapitel 1.3.5 eingeführten mehrdimensionalen, über Einkommen hinausgehenden Armutsbegriffs. Die von der Weltbank (2000) gesammelten „Stimmen der Armen“ haben der Bedeutung dieser Dimension für die Menschen selbst einen deutlichen Ausdruck verliehen. Verständnisfragen: ■ Was versteht man unter fragiler Staatlichkeit? ■ Welche sinnvollen Aufgaben kann der Staat im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung übernehmen? ■ Was versteht man unter Marktversagen und Staatsversagen? 3.6 Entwicklung durch Demokratie oder Diktatur? 145 <?page no="146"?> ■ Welche Erwartungen ergeben sich bei einem theoretischen Vergleich von Demokratie und Autokratie für die Bereitstellung öffentlicher Güter? ■ Wie lässt sich erklären, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Autokratien extrem unterschiedlich verläuft? Literatur Acemoglu, D.; Robinson, J.A. (2017). Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, 4. Aufl. Frankfurt am Main: S. Fischer. Alatas, V.; Banerjee, A.; Hanna, R.; Olken, B.A.; Purnamasari, R.; Wai-Poi, M. (2016). Self-targeting: Evidence from a field experiment in Indonesia. Journal of Political Economy 124(2): 371-427. Alatas, V.; Banerjee, A.; Hanna, R.; Olken; B.A.; Tobias, J. (2012). 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Ka‐ pitel 1), für öffentliche Investitionen, die nachhaltiges Wachstum fördern (vgl. Kapitel 2), für die Bereitstellung öffentlicher Güter (vgl. Kapitel 3 und 6) und für politische Rahmenbedingungen, die langfristige Entwicklung fördern (vgl. Kapitel 3 und 7). Wie kann ein Staat die finanziellen Mittel für diese Ausgaben generieren? Ist es hierzu sinnvoll, sich auf internationalen Finanzmärkten zusätzliches Kapital zu leihen, wenn die eigenen Mittel zu gering sind? Und wie sollte der Staat auf intern und extern auftretende wirtschaftliche Krisen reagieren, um makroökonomische Stabilität zu sichern - ein wichtiges öffentliches Gut, das bisher in diesem Buch noch nicht diskutiert wurde? Vor diesem Hintergrund gibt Kapitel 4 erste Ant‐ worten auf folgende wirtschaftspolitische Fragen: Weshalb gestaltet sich die Generierung von Staatseinnahmen zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben in vielen Ländern so schwierig? Welche Probleme entstehen durch eine externe Finanzierung des Staatshaushaltes? Welche sozialpolitischen Instrumente stehen Staaten zur Reduktion von Ungleichheiten zur Verfügung? Wie kann der Staat auf externe Wirtschaftskrisen reagieren? Was versteht man unter makroökonomischer Stabilität und warum ist diese für die Entwicklung eines Landes so wichtig? 4.1 Welche Ausgaben haben Staaten? Es gibt im Wesentlichen zwei Arten staatlicher bzw. öffentlicher Aus‐ gaben: zum einen Investitionen, wie z. B. Straßen, Elektrizität, Schulen, Universitäten und Krankenhäuser, und zum anderen wiederkehrende Ausgaben, wie z. B. Gehälter für Angestellte im öffentlichen Sektor, Kos‐ ten der Instandhaltung von öffentlichen Gebäuden, Zinszahlungen und Transferzahlungen an Haushalte. In Ländern mit niedrigem Einkommen <?page no="150"?> (Low Income Countries, LICs) und Ländern mit mittlerem Einkommen (Middle Income Countries, MICs) wären vor allem öffentliche Investitionen wichtig, um das mittel- und langfristige Wirtschaftswachstum zu fördern (vgl. Kapitel 2.3). Die wiederkehrenden Ausgaben bilden in diesen Ländern jedoch häufig den Großteil der gesamten öffentlichen Ausgaben. Anteilig bleiben dementsprechend weniger Mittel für Investitionen in Sach- oder Humankapital übrig. In Nigeria beispielsweise sind die wiederkehrenden Ausgaben durch eine Ausweitung der Regierungsgröße (und die damit verbundenen erhöhten Ausgaben für Gehälter der Staatsbediensteten) sowie Treibstoff-Subventionen zwischen 1980 und 2011 stark angestiegen und machten zuletzt mehr als zwei Drittel der gesamten öffentlichen Ausgaben aus (Aigheyisi 2013). Im Vergleich dazu hatten die Schweiz und Deutschland wiederkehrende Ausgaben in Höhe von etwa 15 % der öffentlichen Ausgaben (Weltbank 2019). Öffentliche Ausgaben lassen sich auch nach Sektoren, wie z. B. Verteidi‐ gung, Gesundheit, Bildung oder soziale Sicherheit, unterteilen. Die meisten Länder mit hohem Einkommen (High Income Countries, HICs) weisen eine ähnliche Struktur der öffentlichen Ausgaben auf (vgl. Tab. 4.1). Tab. 4.1: Zusammensetzung der öffentlichen Ausgaben (in % der gesamten öffent‐ lichen Ausgaben), 2016 Bil‐ dung Ge‐ sund‐ heit Ver‐ teidi‐ gung Wirt‐ schaft So‐ ziale Siche‐ rung Öff. Dienst Andere Deutschland 9 16 6 7 44 13 5 Schweiz 15 7 7 12 39 15 5 Österreich 10 16 4 11 42 13 4 USA 16 24 14 9 20 15 2 Anmerkung: Die Kategorie „Andere“ beinhaltet Bereiche wie z. B. Kultur und Umwelt. Die Kategorie Öffentlicher Dienst beinhaltet u. a. allgemeine öffentliche Dienstleistungen, Grundlagenforschung und Personalkosten des öffentlichen Dienstes. Quelle: IWF (2019) 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 150 <?page no="151"?> Gemessen als Anteil an den gesamten öffentlichen Ausgaben geben die meisten HICS - einmal abgesehen von den USA - den größten Teil ihrer öffentlichen Ausgaben für die soziale Sicherung aus. In Österreich, Deutschland und der Schweiz lagen diese Ausgaben im Jahr 2016 bei etwa 40 %. In vielen LICs und MICs sind diese Ausgaben deutlich geringer mit circa 10 % (IFPRI 2015). Es sind jedoch gerade Ausgaben in diesem Sektor, die stark zur direkten Umverteilung und Armutsreduktion beitragen können. Gründe für diesen Unterschied zwischen LICs und HICs sind die in‐ stitutionellen Anforderungen von Systemen der sozialen Sicherung (vgl. Kapitel 3.3) und die geringen öffentlichen finanziellen Mittel, die LICs generell zur Verfügung stehen und bereits für Bildung und Gesundheit benötigt werden. Auch der Anteil öffentlicher Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) unterscheidet sich maßgeblich zwischen ärmeren und reicheren Staaten (vgl. Abb. 4.1 und Abb. 4.2). In LICs betrug dieser im Jahr 2017 durchschnittlich 20 %, während er in HICs im Durchschnitt bei etwa 40 % lag. Spitzenreiter waren Dänemark, Finnland und Frankreich mit etwa 55 % des BIP. In Bangladesch hingegen lagen die öffentlichen Ausgaben bei 14 % und in Nigeria bei nur 10 % des BIP (IWF 2018). Abb. 4.1: Durchschnittlicher Anteil der öffentlichen Ausgaben in % des BIP, 2017 Quelle: IWF(2018). >40 % 31-40 % 21-30 % 0-20 % Keine Daten Abb. 4.1: Anteil der öffentlichen Ausgaben in % des BIP, 2017 Quelle: IWF (2018) 4.1 Welche Ausgaben haben Staaten? 151 <?page no="152"?> Zum einen können Regierungen in HICs mehr ausgeben, weil sie nicht nur absolut sondern auch relativ zum BIP mehr öffentliche Einnahmen generieren können (vgl. Abb. 4.2 und Kapitel 4.2). Zum anderen übernimmt der Staat - von wenigen Ausnahmen abgesehen - generell mehr Aufgaben je reicher ein Land ist. Der Zusammenhang zwischen einem steigenden Einkommen und wachsender Staatstätigkeit wird als das „Wagner‐ sche Gesetz“ (Wagner 1893) bezeichnet. Abb. 4.2 zeigt die Entwicklung öffentlicher Ausgaben als Anteil des BIP über die letzten 30 Jahre. Während die Ausgaben in LICs relativ konstant bei 20 % des BIP geblieben sind, unterlagen die Ausgaben in MICs deutlichen Schwankungen. Die öffentlichen Ausgaben betrugen dort in den frühen 1980er Jahren etwa 35 % des BIP, sanken dann aber auf etwa 26 % des BIP bis Anfang der 2000er Jahre. Dies lag vor allem an den Schulden- und Finanzkrisen dieser Länder in den 1990er Jahren (vgl. Kapitel 4.3) und der darauffolgenden Fiskalpolitik, die zu dieser Zeit primär auf einen konsolidierten öffentlichen Haushalt und auf die Reduzierung (ausländischer) Schulden ausgerichtet war (vgl. Box 4.1). Abb. 4.2 zeigt zudem, dass die öffentlichen Ausgaben der LICs und MICs - im Gegensatz zu HICs - meist über deren öffentlichen Einnahmen liegen. Die getätigten öffentlichen Ausgaben sind in den meisten Ländern folglich nur zum Teil durch inländische Einnahmen (vgl. Kapitel 4.2) gedeckt und es bedarf zusätzlich öffentlicher Kredite von außen für ihre Finanzierung (vgl. Kapitel 4.3). 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 152 <?page no="153"?> Abb. 4.2: Entwicklung der öffentlichen Ausgaben (und Einnahmen) Anmerkung: Die Kategorisierung der Länder basiert auf dem Jahr 2018. Quellen: AfDB (2018), IWF (2018) 10 15 20 25 30 35 40 45 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 % des BIP HICs MICs LICs Ausgaben Einnahmen Abb. 4.2: Entwicklung der öffentlichen Ausgaben (und Einnahmen) Anmerkung: Die Kategorisierung der Länder basiert auf dem Jahr 2018. Quellen: AfDB (2018), IWF (2018) 4.2 Arme Bürger, arme Staaten? Entscheidend dafür, wie nachhaltig der Staat in öffentliche Infrastruktur und Humankapital investieren kann, ist die Mobilisierung öffentlicher Einnahmen. Staaten haben verschiedene Möglichkeiten, Einnahmen zu ge‐ nerieren: Steuern (inklusive Handelszölle, vgl. Kapitel 7.5), Kreditaufnahme durch Staatsanleihen (Bonds), Tantiemen (Englisch: royalties), z. B. von öl‐ produzierenden Unternehmen, Gebühren für öffentliche Dienstleistungen, Ausweitung der Geldmenge (vgl. Kapitel 4.5) und Gelder der internationalen Entwicklungszusammenarbeit (vgl. Kapitel 8). Steuern stellen weltweit mit etwa 60 % den größten Teil der staatlichen Einnahmen dar (Weltbank 2019). Sie sind daher ein Eckpfeiler der Fiskalpolitik eines Staates (vgl. Box 4.1). 4.2 Arme Bürger, arme Staaten? 153 <?page no="154"?> Box 4.1 | Fiskalpolitik Die Fiskalpolitik ist ein wirtschaftspolitisches Instrument des Staates für makroökonomische Stabilität (d. h. geringe Konjunkturschwankungen, vgl. Kapitel 4.5 und 2.1.4), um ein stabiles und langfristiges Wirtschafts‐ wachstum zu erzielen. Die Instrumente der Fiskalpolitik beziehen sich auf den Einsatz öffentlicher Einnahmen (hauptsächlich Steuern) und öffentlicher Ausgaben. Man unterscheidet allgemein zwischen einer ex‐ pansiven (nachfragesteigernden) und einer restriktiven (nachfragesenk‐ enden) Fiskalpolitik. Um die Nachfrage im Rahmen einer expansiven Fiskalpolitik zu steigern, kann der Staat z. B. die Steuern senken oder die Staatsausgaben erhöhen, indem er vermehrt öffentliche Aufträge vergibt, Sozialleistungen ausbaut und Beschäftigungsprogramme einlei‐ tet. Die expansive Fiskalpolitik geht üblicherweise mit einer Erhöhung des Staatsdefizits einher. Restriktive fiskalpolitische Instrumente sind hingegen eine Erhöhung der Steuern, der Abbau von Sozialleistungen und die Verringerung öffentlicher Aufträge. Die restriktive Fiskalpolitik soll das Staatsdefizit verringern. LICs und MICs generieren nicht nur absolut, sondern meist auch relativ zum BIP geringere öffentliche Steuereinnahmen als HICs, das heißt, sie haben eine niedrige Steuerquote. Unter den einkommensschwachen Ländern Afrikas (z. B. Madagaskar und Uganda) lag der durchschnittliche Anteil der Steuereinnahmen am BIP im Jahr 2013 bei 14 % (Beegle und Christiaensen 2019). In Ländern mit niedrigem mittlerem Einkommen (z. B. Ghana und Senegal) war sie etwas größer (19 %). Im Vergleich dazu lag der Durchschnitt in OECD Ländern im Jahr 2015 bei 34,3 % (OECD 2017). Mit zunehmendem Pro-Kopf-Einkommen steigt der Anteil der Steuerein‐ nahmen am BIP (vgl. Abb. 4.3). Wirtschaftlicher Wohlstand scheint folglich zu einer nicht nur absolut sondern auch relativ höheren Mobilisierung von öffentlichen Einnahmen zu führen, auch wenn die Unterschiede von Land zu Land sehr groß sind (vgl. Abb. 4.3). Die Gründe hierfür sind vielfältig. In vielen Ländern fehlen für die Generierung von Steuereinnahmen die notwendigen institutionellen Kapazitäten (Besley und Persson 2014). Neben mangelnder personeller Ausstattung ist das technische Wissen nicht vorhanden und die Infrastruktur von Steuerverwaltungen oftmals unzurei‐ chend. Laut Besley und Persson (2014) kann sich zudem die internationale 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 154 <?page no="155"?> Entwicklungszusammenarbeit (vgl. Kapitel 8.2.1) negativ auf den Anreiz ei‐ nes Staates auswirken, eine funktionsfähige Steuerverwaltung aufzubauen. Letztendlich spielen internationale Entwicklungsgelder aber nur in wenigen Ländern eine so große Rolle, dass sie einen Staat dazu verleiten könnten, auf Steuereinnahmen zu verzichten. Ein Beispiel ist Malawi, wo die öffentliche Entwicklungshilfe im Jahr 2015 mehr als zwei Drittel der öffentlichen Ausgaben finanzierte (Weltbank 2019). Abb. 4.3 Dem. Rep. Kongo Rwanda Togo Uganda Brasilien Indonesien Tunesien Cameroon Senegal Deutschland Frankreich USA Panama Thailand 05 10 15 20 25 30 35 40 45 50 1 10 100 Steuereinnahmen in % des BIP BIP pro Kopf, KKP (in Tausend internationale $) Länder mit niedrigem Einkommen Länder mit mittlerem Einkommen Länder mit hohem Einkommen Abb. 4.3: Steuereinnahmen versus BIP pro Kopf Anmerkung: Die Kategorisierung der Länder basiert auf dem Jahr 2018. Die x-Achse ist logarithmiert. Quelle: Weltbank (2019) Zu geringen institutionellen Kapazitäten kommen schwache Regierungs‐ führung und Korruption hinzu (vgl. Kapitel 3.4), die Steuerhinterziehung und Steuerflucht ins Ausland ermöglichen. Insbesondere steuervermei‐ dende Gewinnverschiebungen multinationaler Unternehmen werden seit mehreren Jahren in diesem Zusammenhang immer intensiver diskutiert (vgl. Abb. 8.6). Ist es für transnationale Unternehmen möglich, Gewinne dort zu deklarieren, wo es steuerrechtlich am günstigsten ist, anstatt in den Län‐ dern, in denen die Gewinne primär erzielt wurden, führt dies in letzteren zu 4.2 Arme Bürger, arme Staaten? 155 <?page no="156"?> enormen Steuerverlusten. Ein wichtiges Instrument der Steuervermeidung transnationaler Unternehmen sind interne Verrechnungspreise (Englisch: transfer pricing), mit Hilfe derer Unternehmen Gewinne von einem Land in ein anderes verschieben können. Aufgrund niedriger Produktionskosten in MICs siedeln viele Firmen ihre Produktionsstätten dort an. Steueroasen sind jedoch meist in HICs zu finden. Regierungen und Steuerbehörden arbeiten seit einigen Jahren an Gesetzen, welche die Berechnung von inter‐ nen Verrechnungspreisen regulieren sollen, um den damit verbundenen Verlusten von Steuereinahmen entgegenzuwirken (PWC 2012). Für die Generierung von Steuereinnahmen spielen in LICs vor allem indirekte Steuern eine zentrale Rolle. Bei diesen ist der Steuerschuldner (der die Steuer abführt) nicht mit dem Steuerträger (der wirtschaftlich belastet wird) identisch. Die Steuer wird auf Waren, Dienstleistungen oder über Handelssteuern (z. B. Zölle) erhoben. Da man davon ausgeht, dass Unternehmen die Steuern über den Preis auf die Konsumenten übertragen, wird letztlich der Konsument belastet und man spricht deshalb von einer indirekten Steuer. Direkte Steuern, bei denen der Steuerschuldner die volle Steuerlast trägt, also z. B. Steuern auf Einkommen und Vermögen, haben in LICs nur ein geringes Gewicht (vgl. Abb. 4.4). In HICs machen direkte Steuern hingegen einen Großteil der Steuereinnahmen aus. Die öf‐ fentlichen Einnahmen Deutschlands sind beispielsweise durch einen relativ hohen Anteil an Einnahmen aus Sozialversicherungsbeitragen und aus der Einkommenssteuer gekennzeichnet. Die meisten LICs erheben indirekte Steuern auf nahezu alle Produkte, beispielsweise in Form der Umsatzsteuer. Zusätzlich ist in LICs im Un‐ terschied zu HICs die Besteuerung von Importen in Form von Zöllen eine wichtige Einnahmequelle, wie in Abb. 4.4 zu sehen ist. Im Rahmen der Globalisierung und zunehmender Handelsliberalisierung werden Zölle allerdings immer weiter gesenkt (vgl. Kapitel 7.1), was viele LICs vor finan‐ zielle Herausforderungen stellt. Die Einnahmen aus Zöllen (bzw. indirekten Steuern) fallen für die Finanzierung öffentlicher Ausgaben weg und sind noch nicht durch direkte Einkommens- oder Vermögenssteuern ersetzbar. Demnach scheint nicht nur die Höhe der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben (vgl. Abb. 4.2 und Abb. 4.3) vom Wohlstand eines Landes abzuhän‐ gen, sondern auch die Art der Besteuerung (vgl. Abb. 4.4). Woran liegt das? Umsatzsteuern und Zölle sind einfacher zu erheben, weil die Steuer über den Preis einer Ware oder Dienstleistung erhoben wird. Zudem ist es schwieri‐ ger, diese Art von Steuern zu vermeiden, weil z. B. Transaktionen zwischen 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 156 <?page no="157"?> Unternehmen oder Zwischenhändlern Aufzeichnungen generieren, denen die Steuerbehörden leicht folgen können (Pomeranz 2015). Der Nachteil indirekter Steuern liegt darin, dass ärmere Bevölkerungsgruppen (relativ gesehen) durch die Steuern auf Konsumgüter mehr besteuert werden als reichere Bevölkerungsgruppen und somit eine regressive Steuer vorliegt (vgl. Kapitel 4.4). Jedoch fällt es den Regierungen ärmerer Länder aus verschiedenen Gründen schwer, Staatseinnahmen aus direkten Steuern wie Einkommenssteuern zu erzielen. Diese würden eine progressive Steuer, d. h. niedrigere Steuersätze auf niedrigere Einkommen, ermöglichen. Abb. 4.4: Zusammensetzung der Steuereinnahmen im Jahr 2017 Anmekung: Die Kategorisierung der Länder basiert auf dem Jahr 2018. Quelle: Weltbank (2019) 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Bangladesch Kambodscha Malawi Indonesien El Salvador Philippinen Kolumbien Thailand Mauritius Schweiz Deutschland Dänemark Niedriges Einkommen Niedriges mittleres Einkommen Hohes mittleres Einkommen Hohes Einkommen Steuereinnahmen in % des BIP Steuern auf den internationalen Handel (indirekte Steuern) Steuern auf Waren und Dienstleistungen (indirekte Steuern) Steuern auf Einkommen (direkte Steuern) Andere Steuern Abb. 4.4: Zusammensetzung von Steuereinnahmen im Jahr 2017 Anmekung: Die Kategorisierung der Länder basiert auf dem Jahr 2018. Quelle: Weltbank (2019) 4.2 Arme Bürger, arme Staaten? 157 <?page no="158"?> 1 Der Spitzensteuersatz gibt den höchsten zu zahlenden Steuersatz an. Der Spitzensteu‐ ersatz entspricht dem obersten Grenzsteuersatz. Dieser gibt an, welcher Anteil eines zusätzlich zu versteuernden SFr. oder € (oder einer anderen Währungseinheit) als Steuer abgeführt werden muss. Einerseits stellt die Erhebung direkter Steuern hohe institutionelle und technische Anforderungen an die Steuerverwaltung, da z. B. die Erfassung der steuerlichen Leistungsfähigkeit für die Berechnung der Einkommens‐ steuer kompliziert (und damit die Möglichkeit der Steuervermeidung grö‐ ßer) ist. Hinzu kommt, dass nur ein geringer Anteil der Bevölkerung im formellen Sektor und unter einem Arbeitsvertrag mit geregeltem Lohn arbeitet. Die Steuerbasis (Anzahl der Steuerzahler) in LICs ist daher oft klein. Häufig zahlen nur urbane Eliten und Staatsangestellte Einkom‐ menssteuern. Diese Personenkreise verfügen jedoch gleichzeitig über viel politische Macht. Diese ermöglicht es ihnen, geringere Steuersätze für sich selbst durchzusetzen. Viele LICs und MICs haben in den letzten Jahren Anstrengungen unter‐ nommen, mehr inländische Ressourcen durch direkte Steuern zu mobilisie‐ ren. Dies geschah sowohl durch Steuerreformen als auch die Ausweitung der Steuerbasis. Nigeria hat z. B. die Erklärung der Einkommenssteuer vereinfacht, um die Steuerbasis zu erhöhen (vgl. Box 4.2). Botswana und Kenia haben Maßnahmen zur Verbesserung der Steuerverwaltung ergriffen, wie beispielsweise die Einführung von Online-Steuersystemen (AfDB 2018). Äthiopien, Lesotho, Nigeria, Ruanda, Somalia und Simbabwe führten Grundsteuerreformen durch. Die Grundsteuer ist eine jährliche Steuer auf das Eigentum von Grundstücken. Diese kann eine wichtige Rolle bei der Generierung von Steuereinnahmen in LICs spielen. Erstens trifft die Grundsteuer reiche Haushalte stärker als arme Haushalte. Zweitens sind die Einnahmen im Vergleich zur Mehrwertsteuer relativ verlässlich, weil sie nicht vom Konsum und damit nicht von Konjunkturschwankungen abhängen (Balk 2015). Regierungen versuchen auch zunehmend die Steu‐ ermoral zu verbessern, um Steuerhinterziehung zu reduzieren und so ihre Steuereinnahmen zu erhöhen. Dabei stützt man sich vermehrt auf verhal‐ tensökonomische Studien. Zum Beispiel scheint schon eine häufigere und verbesserte Kommunikation der Steuerverwaltung mit den Steuerzahlern die Steuermoral zu verbessern (Hernandez et al. 2017). Eine weitere Maßnahme, die verschiedene Länder vor der Jahrtausend‐ wende ergriffen, war eine deutliche Reduktion der Spitzensteuersätze. 1 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 158 <?page no="159"?> Einige LICs und MICs hatten bis dahin im internationalen Vergleich sehr hohe Spitzensteuersätze. In Tansania und Botswana lagen diese beispiels‐ weise bei 75 % und in den Philippinen und in Pakistan bei 60 %, im Vergleich zu Deutschland, Österreich und der Schweiz, wo die Spitzensteuersätze bei 45 % bzw. bei 55 % und 34 % liegen. Die Entscheidung für eine Reduktion der Spitzensteuersätze hing eng mit der gestiegenen Mobilität von Kapital zusammen, die einen immer höheren administrativen Aufwand erfordert, um Steuern auf Einkommen und Kapital mit hohen Spitzensteuersätzen einzuziehen. Trotz Erfolgen in manchen Ländern ist ein funktionierendes Steuersystem für viele Entwicklungsländer weiterhin eine enorme Herausforderung. Reformen der Steuerverwaltung sind nicht nur mit einem erheblichen tech‐ nischen Aufwand verbunden. Sie haben immer auch Verteilungseffekte (vgl. Kapitel 1.5), was ihre Umsetzung weltweit politisch schwierig macht. Box 4.2 | Steuerreformen im Bundesstaat Lagos, Nigeria Der Bundesstaat Lagos in Nigeria ist zum Vorbild für die Mobilisierung inländischer Ressourcen geworden. In Lagos wohnen nur 10 % der nigerianischen Einwohner. Lagos erzielte im Jahr 2015 aber 40 % der gesamten öffentlichen Einnahmen (im Jahr 2001 waren es 21 %). Der Erfolg basiert weitgehend auf der Umsetzung innovativer Steuer- und Managementreformen innerhalb der Steuerverwaltung. Dazu gehören: ■ vereinfachte Steuererklärung, ■ Anreize für die freiwillige Begleichung von Steuerschulden, ■ verbesserter Zugang zur Steuerverwaltung (Kundendienste in Eng‐ lisch, Pidgin-Englisch und Yoruba), ■ Vereinfachung des Steuerzahlungsprozesses und Einführung einer elektronischen Steuererklärung, ■ effektive Kommunikationsstrategie zur Stärkung des Vertrauens in öffentliche Institutionen aufgrund einer höheren Transparenz. Quelle: Afrikanische Entwicklungsbank (AfDB 2018) 4.2 Arme Bürger, arme Staaten? 159 <?page no="160"?> 2 Die öffentliche Verschuldung setzt sich aus der internen und externen Verschul‐ dung zusammen. Die externe Verschuldung umfasst die gesamten Schulden eines Landes gegenüber ausländischen Gläubigern, also Gelder, die von ausländischen priva‐ ten Kreditgebern, d. h. kommerziellen Geschäftsbanken (Englisch: private debt), und öffentlichen Kreditgebern, d. h. Regierungen oder internationalen Finanzinstitutionen (bilateral und multilateral) (Englisch: public debt), geliehen wurden. Hinzu kommen die internen Schulden gegenüber inländischen Kreditgebern. 4.3 Schulden, Schuldenkrise und Schuldenerlass 4.3.1 Schulden Da die öffentlichen Einnahmen, z. B. über Steuern, oftmals nicht ausreichen, um den Staatshaushalt zu finanzieren, verschulden sich viele Regierungen. 2 Die Aufnahme von Krediten kann sinnvoll sein, um Investitionen zu täti‐ gen, die das Wirtschaftswachstum mittel- und langfristig fördern. Aufgrund der relativen Knappheit an Kapital in vielen LICs haben Investitionen in LICs das Potenzial, eine höhere Rendite (Englisch: return on investment) zu erzielen als Investitionen in HICs (vgl. Kapitel 2.3.2). Durch Kredite können ärmere Staaten in die Zukunft ihres Landes und ihrer Bürger investieren. Ein weiterer Vorteil der Aufnahme von Krediten ist, dass dies meist schneller möglich ist als die Erhöhung der Einnahmen durch Steuern oder ausländischen Direktinvestitionen. Zudem können Regierungen durch Kredite stabilisierend auf interne und externe ökonomische oder ökologi‐ sche Schocks durch eine expansive Fiskalpolitik reagieren (vgl. Box 4.1). Kritisch bei jeder Kreditvergabe ist das Ausfallrisiko. Indikatoren der Verschuldung unterscheiden zwischen Insolvenz und Illiquidität. Ist ein Land insolvent, ist es nicht mehr in der Lage, seine Schulden zukünftig zurückzuzahlen. Ist ein Land hingegen illiquide, kann es die aktuellen Tilgungsraten der Kredite nicht zahlen, obwohl es seine Schulden vielleicht langfristig begleichen könnte. Die am häufigsten verwendeten Indikatoren zur Messung der Solvenz eines Landes sind der Anteil der Schulden am BIP und der Anteil der Schulden an den Exporten. Diese sogenannte Schuldenquote misst die Fähigkeit eines Landes, genügend Ressourcen zur Rückzahlung der Schulden zu generieren. Zwar ist jedes Land unterschiedlich, jedoch wird die Schuldenquote für LICs unter dem Schulden-Nachhaltigkeitssystem (Eng‐ lisch: Debt Sustainability Framework) des Internationalen Währungsfonds (IWF) in drei Schulden-Belastbarkeitskategorien eingeteilt. Ein Anteil der 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 160 <?page no="161"?> Schulden von 35 % oder weniger am BIP gilt als unproblematisch, eine Quote von 36-55 % als etwas problematisch und Schulden in der Größenordnung von 56-70 % des BIP gelten als besonders problematisch (IWF 2019a). Für die Liquidität eines Landes wird der Anteil der Schuldendienst‐ zahlungen (Zins- und Rückzahlungen) an den öffentlichen Einnahmen bzw. an den Exporten als Indikator verwendet. Man konzentriert sich folglich auf die Fähigkeit eines Staates, Steuereinnahmen und Devisen aus Exporten zu generieren, um die jährlichen Zinszahlungen zu leisten. Die Sorge um eine aufkommende Schuldenkrise nimmt tendenziell zu, wenn der Schuldendienst für LICs mehr als 10 % (geringes Risiko) oder mehr als 20 % (hohes Risiko) der Exporte beträgt (IWF 2019a). Der Anteil der Staatsschulden am BIP betrug zwischen 2010 und 2015 in Lateinamerika durchschnittlich 54 %, im Vergleich zu 44 % in Sub-Sahara Afrika, 47 % in Asien (vgl. Tab. 4.2). In den 1980er und 1990er Jahren waren viele Länder in Lateinamerika und Sub-Sahara Afrika mit 80-100 % am BIP besonders hoch verschuldet (vgl. Kapitel 4.3.2). Tab. 4.2: Entwicklung der Verschuldung in % des BIP 1980-89 1990-99 2000-09 2010-15 Asien & Pazifik 47 60 56 47 Lateinamerika & Karibik 82 83 60 54 Sub-Sahara Afrika 70 99 86 44 Europa 45 54 44 57 Anmerkung: Die Zahlen entsprechen den Durchschnitten über zehn resp. fünf Jahre. Quelle: IWF (2018) 4.3.2 Schuldenkrisen Von einer Schuldenkrise spricht man, wenn Länder illiquide sind, d. h. nicht länger in der Lage sind, ihren Zahlungsverpflichtungen aus Krediten nachzukommen. Von einer Überschuldung spricht man hingegen, wenn ein Land nicht länger fähig ist, seinen Zahlungsverpflichtungen aus eigenen Mitteln nachzukommen (und wenn es daher z. B. neue Kredite aufnehmen muss). Um eine Schuldenkrise zu vermeiden, sollte eine Verschuldung zur Finanzierung der Entwicklung eines Landes finanziell nachhaltig ausgestal‐ 4.3 Schulden, Schuldenkrise und Schuldenerlass 161 <?page no="162"?> tet sein. Dies ist der Fall, wenn die Schulden bedient werden können, ohne die Einnahmen oder Ausgaben des Staates erheblich zu ändern. Damit geht einher, dass die Fähigkeit zur Rückzahlung trotz möglicher Phasen geringeren Wachstums bestehen bleiben muss. Schuldenkrisen haben sehr verschiedene Ursachen. Wenn Kredite nicht für langfristige produktive Investitionen in Sach- und Humankapital - zum Ausgleich niedrigerer Sparquoten aufgrund hoher Armut (vgl. Kapitel 2.4.1) -, sondern zur Finanzierung von hohen strukturellen Handelsdefiziten (d. h. Importe > Exporte) oder Haushaltsdefiziten (d. h. öffentliche Ausga‐ ben > Einnahmen) aufgenommen werden, kann dies erst zur Überschuldung und dann zu einer Schuldenkrise führen. Oft verfügen ärmere Länder außerdem nicht über ausreichende Möglichkeiten, selbst auf konjunktu‐ relle Schwankungen zu reagieren, und sie müssen stattdessen Kredite aufnehmen. In anderen Ländern sind zudem falsche Wachstumsprogno‐ sen die Ursache für eine Schuldenkrise. Aufgrund eines stark positiven Wachstums zum Zeitpunkt der Kreditaufnahme gehen die Staaten davon aus, dass dieses anhält und man Schulden in der Zukunft zurückzahlen kann. Schließlich führen oft auch externe Gründe wie Klimawandel, politische Unruhen, Pandemien, Preiseinbrüche von Exportgütern am Weltmarkt, ein Anstieg des Ölpreises und globale Finanzkrisen dazu, dass Staaten ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen können. Die Schuldenkrise mit der größten Auswirkung auf die Entwicklung von LICs und MICs war die 1980er Schuldenkrise in Lateinamerika und Afrika. Der Ursprung dieser Schuldenkrise ist nicht an einer einzigen Ursache festzumachen. Sowohl die starke Kreditaufnahme von 70-80 % des BIP vieler Länder in Lateinamerika und Afrika (vgl. Tab. 4.2) als auch die Änderung der Geld- und Zinspolitik in den USA (vgl. Kapitel 4.5) und eine Rezession in vielen Volkswirtschaften der Welt (vgl. Tab. 2.2) haben ihren Teil beigetragen. Letztendlicher Auslöser für diese Dynamiken waren die Erdölkrisen von 1973 und 1979 und der damit verbundene Anstieg des Ölpreises, der das globale Wachstum verringerte. Viele LICs, die auf Erdöl‐ importe angewiesen waren, sahen sich plötzlich mit einem extremen Liqui‐ ditätsengpass konfrontiert. Erdölexportierende Länder dagegen verfügten durch die gestiegenen Einnahmen aus den Ölexporten über eine besonders hohe Liquidität. Sie investierten das Geld bei internationalen Banken, die dieses wiederum in Form von Krediten vor allem in Lateinamerika anlegten (sogenanntes Petrodollar-Recycling), was die Auslandsschulden dieser Länder stark erhöhte (vgl. Tab. 4.3). Zudem kämpften die USA gegen Ende 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 162 <?page no="163"?> der 1970er Jahre mit hohen Inflationsraten (16 % in 1981). Um der Inflation entgegenzuwirken, erhöhte die US-Zentralbank den Leitzins (vgl. Box 4.8). Die steigenden Zinsen auf laufende Kredite führten zu einer Unfähigkeit vieler Länder, ihre angehäuften Schulden zu bedienen. Gleichzeitig gelang es vielen Ländern nicht, eine restriktive Fiskalpolitik durchzusetzen (vgl. Box 4.1), um mittels Steuererhöhungen und Ausgaben‐ kürzungen das Haushaltsdefizit zu verringern. Die hohen Ölpreise führten häufig zu noch höheren Staatsausgaben. Die meisten Regierungen gingen zudem von einer kurzen Dauer der Ölpreiskrise aus und versuchten ihr Haushaltsdefizit durch neues Geld vom Kapitalmarkt zu finanzieren: Die Schulden stiegen weiter an. Viele ausländische Geschäftsbanken trugen letztlich eine Mitschuld daran, dass sich manche Länder immer weiter verschuldeten. Da viele der betroffenen Länder vor der Krise positive Wachs‐ tumsraten aufwiesen, gingen Geschäftsbanken davon aus, dass Kredite an Staaten generell sichere Kredite sind, die ein geringes Ausfallrisiko auf‐ weisen. Obwohl bereits abzusehen war, dass die Schuldenaufnahme vieler Länder nicht mehr finanziell nachhaltig war, gaben sie diesen weiterhin Kredite. Die Schuldenkrise hatte enorm negative Effekte für die Entwicklungs‐ perspektiven vieler Länder. Öffentliche Ausgaben konnten nicht für wachs‐ tumsfördernde Investitionen eingesetzt werden, sondern mussten für die Zahlung der Schulden verwendet werden. Manche Länder erhöhten die Geldmenge, um einen Teil der Ausgaben zu finanzieren. Die Folge war eine höhere Inflation, was die Kaufkraft der Menschen verringerte (vgl. Tab. 4.3 und Kapitel 4.5) und die Wirtschaft weiter destabilisierte. Das Wirtschaftswachstum stagnierte (vgl. Tab. 4.3). Die durchschnittlichen Wachstumsraten des BIP pro Kopf in Lateinamerika sanken in den 1980er Jahren von 2 % auf -0,3 %. In Mexiko lag das Wachstum des Pro-Kopf-Ein‐ kommens in den Jahren von 1977-1981 beispielsweise bei durchschnittlich 5 %. Nach 1982 sank es auf -2,9 % (Weltbank 2019). Während sich viele Länder in Lateinamerika in den 1990er Jahren von der Krise erholten und ihre Verschuldung verringerten, kämpften Länder in Sub-Sahara Afrika zu dieser Zeit weiterhin mit den Folgen der Schuldenkrise. Die Schuldenquote blieb hoch und die Wachstumsraten niedrig, was schließlich zu einem internationalen Schuldenerlass führte (vgl. Kapitel 4.3.3). 4.3 Schulden, Schuldenkrise und Schuldenerlass 163 <?page no="164"?> 3 Ein paar Jahre später waren auch wieder einige Länder in Lateinamerika betroffen: Argentinien, Brasilien, Ecuador, Mexiko, Uruguay und Venezuela. Tab. 4.3: Die Schuldenkrise der 1980er Jahre 1977-81 1982-86 1987-91 1992-96 Ölpreise (US$ pro Barrel) 24,8 26,1 18,0 17,5 Jährliche Inflation in Afrika (%) 16,2 14,9 18,0 30,6 Jährliche Inflation in Lateinamerika (%) 53,6 95,7 273,2 167,6 Jährliche Wachstumsrate des BIP pro Kopf in Afrika (%) -0,9 -2,3 -0,3 -1,0 Jährliche Wachstumsrate des BIP pro Kopf in Lateinamerika (%) 2,0 -0,3 0,0 1,4 Schuldenquote in Afrika (% BIP) 40,0 69,7 87,7 99,2 Schuldenquote in Lateinamerika (% BIP) 46,3 83,2 111,1 79,8 Anmerkung: Die Zahlen entsprechen den Durchschnitten über fünf Jahre. Quelle: Statistica (2018), Weltbank (2019), IWF (2018) Ganz anders verlief die 1990er Asienschuldenkrise, von der Mitte der 1990er Jahre einige asiatische Länder (Indonesien, Korea, Thailand, Philip‐ pinen) betroffen waren. 3 Der Unterschied zu bisherigen Schuldenkrisen lag darin, dass diese Krise sehr plötzlich kam und auch Länder traf, die über eine gute makroökonomische Ausgangslage verfügten, d. h. in den Jahren vor der Krise sehr hohe Wachstumsraten erzielt hatten und ein geringes Haushaltsdefizit aufwiesen. All diese Länder hatten jedoch ihren Finanzmarkt liberalisiert, wo‐ durch sie für private Anleger attraktiv wurden. Private Kapitalzuflüsse aus dem Ausland (mit einer Verschuldung in US$) und mit kurzen Laufzeiten nahmen in den Jahren vor der Krise stark zu. Eine weitere Gemeinsamkeit der betroffenen Länder bestand darin, dass die inländische Währung in einem festen Umtauschverhältnis an den US$ gebunden war. Fixe Wechsel‐ kurse führen jedoch oft zu einer Überbewertung der heimischen Währung (vgl. Kapitel 4.5.2). Diese Überbewertung der eigenen Währung verbilligt 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 164 <?page no="165"?> zwar die Importe für ein Land, verteuert jedoch dessen Exporte. Als Folge wird häufig mehr importiert als exportiert, wodurch die Auslandsverschul‐ dung zunimmt. Auslöser der Krise waren dann die Spekulationen der Investoren, dass die Regierungen das System fixer Wechselkurse aufgeben würden, sobald sie nicht mehr genug Devisenreserven (Währungsreserven in US$) besäßen, um den Kurs der eigenen Währung gegenüber dem US$ konstant zu halten (vgl. Kapitel 4.5.2). Vor der Krise waren die kurzfristigen Schulden in US$ vieler betroffener Länder deutlich höher als die zur Tilgung verfügbaren Devisenreserven (vgl. Tab. 4.4). Dies führte zu einem verstärkten Druck auf den Wechselkurs, was die Devisenreserven der Länder weiter reduzierte. Die Gläubiger begannen, sich um die Rückzahlung ihrer Kredite zu sorgen, und zogen diese zurück bzw. gewährten keine Folgekredite. Die betroffenen Schuldnerländer konnten sich nicht mehr refinanzieren. Aus der Angst vor der Krise wurde letztlich eine Krise, eine sogenannte selbsterfüllende Prophezeiung (Englisch: self-fulfilling prophecy). Die Effekte der Asienkrise waren kurz und heftig. Die betroffenen Länder hatten starke Probleme, sich Kapitel am internationalen Finanzmarkt für neue Investitionen zu besorgen, weil die Banken und Investoren sich skeptisch über die Rückzahlungsfähigkeit der Länder zeigten. Als Folge sahen sich diese Länder mit einer Rezession konfrontiert. In Thailand beispielsweise sank das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens von 4,5 % in dem Jahr vor der Krise auf -3,9 % im Krisenjahr und im darauffolgenden Jahr sogar auf -8,7 % (vgl. Tab. 4.4). Zwei Jahre nach der Krise hatten sich die meisten Länder jedoch bereits wieder erholt und wiesen positive Wachstumsraten auf, da der Schulden‐ krise der 1990er keine strukturelle Verschuldung wie im Fall der 1980er Schuldenkrise zugrunde lag. Die meisten Länder holten sich Unterstützung beim IWF, um die gesamtwirtschaftlichen Kosten durch Umstrukturie‐ rungen der Schulden (vgl. Kapitel 4.3.3) gering zu halten. Zusätzlich wurden Anpassungsprogramme wie die Abwertung der Währung oder die Aufgabe des fixen Wechselkurses angegangen. 4.3 Schulden, Schuldenkrise und Schuldenerlass 165 <?page no="166"?> Tab. 4.4: Die Asienkrise von 1997 Kurzfristige Verschul‐ dung / Devi‐ senreserven (1996) Jährliche Wachstumsrate des BIP pro Kopf (in %) 1996 1997 1998 1999 Indonesien 1,66 6,2 3,2 -14,3 -0,6 Thailand 1,23 4,5 -3,9 -8,7 3,4 Korea 2,07 6,6 4,9 -6,2 10,5 Malaysia 0,37 7,2 4,6 -9,7 3,6 Philippinen 0,67 3,5 2,9 -2,7 0,9 Quelle: Weltbank (2019); Daten zu Verschuldung / Devisenreserven in Korea: IWF (2017) Auf die globale Finanzkrise von 2008, die vor allem Länder mit höherem Einkommen betraf, soll an dieser Stelle nur ganz kurz eingegangen werden, um eine weitere Ursache von Schuldenkrisen exemplarisch aufzuzeigen. Diese Krise, die 2007 in den USA durch das Platzen der kreditfinanzierten Immobilienblase ihren Anfang genommen hatte, überraschte vor allem dadurch, dass sie im Jahr 2008 fast die ganze Welt gleichzeitig erfasste. Im Gegensatz zu den Schuldenkrisen der 1980er und 1990er Jahre lag die Ursache der Krise nicht in einer extensiven Staatsverschuldung mehrerer Länder, sondern sie war vor allem die Folge eines aufgeblähten Immobilien‐ marktes in den USA. LICs waren im Gegensatz zu früheren Krisen weniger betroffen, da sie nicht stark in den globalen Finanzmarkt eingebunden waren und sind. Indirekt spürten viele Länder aber den globalen Rückgang der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen (vgl. Kapitel 7.1 und 7.2). Die daraus resultierenden negativen Wachstumseffekte fielen jedoch sehr unterschiedlich aus. Während die Wachstumsrate des BIP in Kambodscha beispielsweise von 6,5 % im Jahr 2008 auf 0,1 % im Jahr 2009 fiel, blieben die Wachstumsraten in Uganda, Sambia und Tansania zwischen 5 % und 8 % relativ konstant (Weltbank 2019). 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 166 <?page no="167"?> 4.3.3 Von der Umschuldung zum Schuldenerlass Seit Ende der 1980er Jahre arbeiten Gläubigerländer zusammen, um hoch‐ verschuldete Länder dabei zu unterstützen, sich aus der Verschuldung zu be‐ freien. Ein berühmtes Beispiel sind die Strukturanpassungsprogramme (Structural Adjustment Programs, SAPs) Ende der 1980er Jahre im Rahmen des Washingtoner Konsenses. Diese hatten neben der Umschuldung, z.B. durch Aushandeln von längeren Laufzeiten der Kredite, niedrigeren Zinsen und tilgungsfreien Zeiten, eine Erhöhung der Staatseinnahmen und eine Senkung der Staatsausgaben zum Ziel (vgl. Box 4.3). Box 4.3 | Der Washingtoner Konsens Der Washingtoner Konsens ist ein Wirtschaftsprogramm, das infolge der Schuldenkrise in den 1980er Jahren der Schuldenrestrukturierung dienen sollte. Schirmherren waren der IWF und die Weltbank. Unter der Bedingung, dass stark verschuldete Länder Strukturanpassungspro‐ gramme durchführten, erhielten sie zusätzliche Kredite vom IMF und der Weltbank, um ihre Schulden auf internationalen Kapitalmärkten zu bedienen. Die Anpassungsprogramme waren ein Bündel wirtschaftspo‐ litischer Maßnahmen, die den betroffenen Staaten zu wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum verhelfen sollten. Dazu gehörten: Steuerre‐ formen, Neuordnung der öffentlichen Ausgaben (mehr in Infrastruk‐ tur, weniger in Militär, weniger Subventionen), Einführung flexibler Wechselkurse, Privatisierung von Staatsunternehmen, Deregulierung, Handelsliberalisierung und Sicherung der Eigentumsrechte (vgl. Kapi‐ tel 3.2.1). Übergeordnete Ziele des Washingtoner Konsenses waren die Verringerung der Staatsausgaben und die Verringerung staatlicher Interventionen in den Markt. Quelle: Stiglitz (2006) Der Washingtoner Konsens wurde vielfach kritisiert. Die Hauptkritikpunkte waren, dass auch der freie Markt nicht immer zu einer effizienten Ressour‐ cenverteilung führt (vgl. Kapitel 3.2 und 3.3), dass viele Sparmaßnahmen die ärmsten Bevölkerungsschichten in diesen Ländern stark trafen und dass - insbesondere bei einer schlechten Regierungsführung (vgl. Kapitel 3.4) - Strukturanpassungsprogramme nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen. Zum Beispiel kann eine Privatisierung zu Problemen führen, wenn 4.3 Schulden, Schuldenkrise und Schuldenerlass 167 <?page no="168"?> die Gewinne aus dem Verkauf von Unternehmen den politischen Eliten zu‐ gutekommen. Einige Ökonomen argumentieren zudem, dass der Freihandel nicht immer im besten Interesse ärmerer Volkswirtschaften gewesen sei. Eine andere Kritik lautete, dass eine Senkung der Staatsausgaben während einer Rezession nicht sinnvoll ist, da eine expansive Fiskalpolitik helfen kann, die Konjunktur zu beleben. Der Erfolg des Programms ist nicht eindeutig zu bewerten. Während sich die Volkswirtschaften etwas stabilisierten und z. B. das Wirtschaftswachs‐ tum angekurbelt und die Inflationsraten reduziert werden konnten, wurde Mitte der 1990er Jahre offensichtlich, dass die Kombination aus bestehenden Instrumenten der Umschuldung und den Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft nicht ausreichte, um die Schulden aller betroffenen Länder auf ein Niveau zu senken, das für sie langfristig tragfähig war. Hinzu kamen hohe Armutsraten. Viele Länder steckten weiterhin in einer Schuldenkrise fest (vgl. Abb. 4.5) Der IWF und die Weltbank riefen deshalb im Jahr 1996 die Entschuldungs‐ initiative Hochverschuldete Arme Länder (Heavily Indebted Poor Count‐ ries, HIPC-Initiative) ins Leben (IWF 2000). In deren Zentrum stand der Schuldenerlass, welcher letztlich eine Form der (indirekten) finanziellen Unterstützung durch OECD-Länder war (vgl. Kapitel 8.1). Die HIPC-Initiative betonte nicht nur die Notwendigkeit, die Schulden auf ein tragfähiges Niveau zu senken, sondern auch die Notwendigkeit makroökonomische Reformen mit sozialen Politikmaßnahmen zu komplementieren. Die verschuldeten Länder sollten sich aus der Verschuldungskrise befreien, und gleichzeitig das Risiko zukünftiger Schuldenkrisen reduzieren. Förderfähig waren arme Länder, deren Schulden-Export-Verhältnis 250 % überschritten hatte. Im Rahmen der Erweiterten HIPC-Initiative (Englisch: Enhanced HIPC Initiative) im Jahr 1999 erfuhr das Programm nochmals Anpassungen. Unter anderem reduzierte man die Schwelle für ein nachhaltiges Verhältnis von Schulden zu Exporten auf 150 % und die Entschuldung wurde an den Nachweis einer guten Regierungsführung sowie an die Durchführung von Programmen zur Armutsbekämpfung geknüpft (Michaelowa und Stern 2013). Im Rahmen der HIPC-Initiativen wurden in 36 Ländern Programme zum Schuldenerlass lanciert, 30 davon in Afrika. Über einen Zeitraum von ca. 20 Jahren wurden diesen Staaten 76 Mrd. US$ Schulden von multilateralen Institutionen und Staaten erlassen, was etwa 50 % ihrer Schulden entspricht (IWF 2018a). 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 168 <?page no="169"?> Aber ist ein Schuldenerlass der richtige Weg? Seit langem wird debattiert, ob der Schuldenerlass ein nachhaltiges Instrument darstellt, um Länder aus einer Schuldenkrise zu befreien und deren Entwicklung langfristig zu för‐ dern. Hinsichtlich der Fragen, welchen Ländern ein Schuldenerlass gewährt wird, wo die Grenze zu „hochverschuldet“ liegt, welche Bedingungen an den Schuldenerlass geknüpft werden, wie hoch der Schuldenerlass ist und wer dessen Kosten übernimmt, steht die internationale Gemeinschaft vor einer Reihe konzeptioneller Herausforderungen. Befürworter eines Schuldenerlasses erwarteten, dass die betroffenen Länder sich nicht mehr primär auf die Tilgung von Schulden, sondern auf entwicklungspolitische Investitionen konzentrieren können. Sie beru‐ fen sich auf das Argument der sogenannten Schuldenüberhangtheorie, nach der eine Schuldenlast, die über einem bestimmten Niveau liegt, die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes stark beeinträchtigt (Krugman 1988). Dies liegt daran, dass Länder nicht in langfristig notwendiges Sach- und Humankapital (Bildung und Gesundheit) investieren können, solange sie jegliche Steuer- und Exporteinnahmen zuerst für den Zins- und Schuldendienst verwenden müssen. Kritiker hingegen argumentieren, dass Länder, die ihre Volkswirtschaften durch eine „unverantwortliche Politik“ ruinieren, nicht durch Schuldenerlass „belohnt“ werden sollten. Ein Schul‐ denerlass wäre ein falscher Anreiz für die Fortsetzung einer derartigen Politik (Easterly 1999). Vertraut eine Regierung darauf, dass ihr im Notfall durch externe Mittel geholfen wird, kann dies zu einem risikoreicheren Verhalten führen, als wenn diese Absicherung nicht gegeben wäre (vgl. Box 4.5). Die HIPC-Initiative hat die Schuldenlast in den Empfängerländern er‐ heblich verringert (vgl. Abb. 4.5) und einen wichtigen Beitrag zu makro‐ ökonomischer Stabilität geleistet. Die meisten Länder Sub-Sahara Afrikas konnten sich so von der Schuldenkrise, die ihren Anfang in den 1980er Jahren nahm, erholen. Seit einigen Jahren steigen die Schuldenstände in vielen afrikanischen Ländern allerdings wieder an, was die Furcht vor einer Wiederholung einer Schuldenkrise entfacht hat. Im Jahr 2017 wiesen 18 Länder in Afrika Schuldenbestände von mehr als 50 % des BIP auf (Weltbank 2019). 4.3 Schulden, Schuldenkrise und Schuldenerlass 169 <?page no="170"?> Abb. 4.5: Entwicklung der Schulden in Sub-Sahara Afrika Quelle: AfDB (2018). 0 20 40 60 80 100 120 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Verschuldung in % BIP 2016 Beginn bilateraler Schuldenerlass Beginn multilateraler Schuldenerlass Abb. 4.5: Entwicklung der Schulden in Sub-Sahara Afrika Quelle: AfDB (2018) Ein Grund für diese Entwicklung liegt zum Beispiel darin, dass ölprodu‐ zierende Länder (z. B. Angola und Nigeria) ihre gestiegenen öffentlichen Ausgaben wieder zunehmend durch ausländische Kredite finanzieren. Nach Jahren relativer Preisstabilität bei über 100 US$ pro Barrel zwischen 2011 und 2014 sind die Ölpreise seit Juni 2014 auf 50 US$ pro Barrel (2018) zurückgegangen. Diese Entwicklung übt großen Druck auf den Staatshaus‐ halt ölexportierender Länder aus, wohingegen Ölimporteuren dieser Trend zugutekommt. Besonders problematisch ist die Auswirkung des sinkenden Ölpreises für erdölexportierende Länder, wenn die Rückzahlung der Kredite an die erwarteten Einnahmen aus Ölexporten gekoppelt ist. Der staatliche Ölkonzern im Tschad lieh sich im Jahr 2014 z. B. 1,4 Mrd. US$ von Glencore, einem britisch-schweizerischen Rohstoffhändler. Der Kredit sollte durch zukünftige Ölverkäufe getilgt werden. Der Fall des Ölpreises führte jedoch dazu, dass die Schuldenzahlungen 85 % der Öleinnahmen des Tschads verschluckten. In der Folge kam es zu Streiks. Schulen und Krankenhäuser im Tschad wurden geschlossen. Erst zu Beginn des Jahres 2018 einigte man sich auf eine Umstrukturierung des Kredits (Weltbank 2019, IWF 2018). 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 170 <?page no="171"?> 4.4 Armutsbekämpfung 4.4.1 Soziale Sicherung Neben der Aufgabe des Staates, das Wirtschaftswachstum (vgl. Kapitel 2) und die Wirtschaftsstabilität (vgl. Kapitel 4.5) mit Hilfe der Fiskal- und Geldpolitik aktiv zu fördern, kommt ihm eine noch wichtigere Rolle bei der Bekämpfung von Armut und Ungleichheit zu. Märkte führen zwar oft, wenn auch nicht immer, zu effizienten Ergebnissen, aber selten zu gerechten. Zwar ist Wirtschaftswachstum für viele LICs noch immer eine notwendige Bedingung, um Armut in den nächsten 50 Jahren massiv zu reduzieren (vgl. Kapitel 1.5.2). Das Wohlergehen von Milliarden von Menschen in LICs und MICs ist jedoch auch davon abhängig, ob ihre Regierungen eine gut strukturierte Steuer- und Sozialpolitik umsetzen. Die Entwicklungsgelder internationaler Organisationen können die Aufgabe der Armutsbekämp‐ fung in diesen Ländern keinesfalls alleine leisten (vgl. Kapitel 8.2.1). Eines der wichtigsten Instrumente, um Ungleichheit und Armut zu redu‐ zieren und damit zu einer höheren Verteilungsgerechtigkeit beizutragen, ist die Steuerprogression bei der Einkommenssteuer: geringe Steuersätze in unteren Einkommensgruppen (z. B. in Deutschland 14 %, in Ghana 5 %) und ein Anstieg für höhere Einkommen (z. B. in Deutschland auf bis zu 45 %, in Ghana auf bis zu 25 %). Dieses Instrument im Rahmen der Ein‐ kommenssteuer gestaltet sich allerdings in LICs und MICs eher schwierig. Erstens ist die Ermittlung der Steuerbasis technisch und institutionell eine Herausforderung (vgl. Kapitel 4.2). Zweitens ist Steuerprogression in der Praxis oft schwer durchzusetzen. Gründe dafür liegen in den schwachen Institutionen und der unzureichenden Regierungsführung vieler Staaten, die wiederum Möglichkeiten zur Steuerflucht oder -hinterziehung vor allem für reichere Einkommensgruppen bieten. Zusätzlich sind wirtschaftliche Eliten oft mit politischen Entscheidungsträgern über Netzwerke verbunden, wo‐ durch sie Steuerprivilegien erhalten können. Aufgrund dieser generellen Schwierigkeit, direkte Steuern zu erheben, liegt die Haupteinnahmequelle von Staaten mit geringem und mittlerem Einkommen weiterhin oft in indirekten Steuern (vgl. Kapitel 4.2). Diese haben allerdings vielfach einen regressiven Charakter und wirken somit der Umverteilung entgegen. Dies liegt daran, dass höhere Umsatzsteuern durch Preiserhöhungen an den Konsumenten weitergereicht werden. Da arme Haushalte einen höheren 4.4 Armutsbekämpfung 171 <?page no="172"?> Konsumanteil als reichere Haushalte haben, tragen sie in der Folge häufig eine höhere (relative) Steuerlast. Öffentliche Investitionen in Bildung und Gesundheit sind ein weiteres wichtiges Instrument zur kurz- und langfristigen Verringerung von Armut und Ungleichheit. Armutsbezogene Ausgaben (Englisch: pro-poor spending) haben eine starke Umverteilungskomponente und sind ein wirksames Instrument zur Bekämpfung von Chancenungleichheit (vgl. Kapitel 1.5.4). Sie fördern darüber hinaus langfristig über eine Erhöhung des Humankapitals das Wirtschaftswachstum (vgl. Kapitel 2.4.3). Kritiker weisen allerdings darauf hin, dass z. B. hohe Bildungsausgaben nur unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen von ökonomischen Nutzen sind. Ohne einen wachsenden formellen Arbeitsmarkt, der höher qualifizierte Arbeitskräfte aufnimmt, führen diese nicht zu wirtschaftlicher Entwicklung (vgl. Kapitel 2.5 und 5.5). Neben der Steuerpolitik und den öffentlichen Investitionen ist die Sozialpolitik der dritte wichtige Pfeiler eines Staates zur Reduktion von Ungleichheit und Armut. Sie gewährleistet ein Minimum an sozialer Siche‐ rung, die zu einem ausreichenden Einkommen bzw. zu einem Minimum an Verwirklichungschancen (vgl. Kapitel 1.3.5) führen soll. Generell kann man zwischen Sozialhilfe oder sozialen Sicherungsnetzen (beitragsunabhän‐ gig zur Umverteilung) und Sozialversicherungen (meist beitragsabhängig zur Versicherung) unterscheiden (vgl. Tab. 4.5). Die meisten nationalen Systeme der sozialen Sicherung bestehen aus einem Versicherungs- und einem Umverteilungselement. Da Umverteilungselemente meist aus ei‐ nem Geldtransfer an Personen oder Haushalte unterhalb der Armutsgrenze bestehen, stellen diese Transferzahlungen in der Praxis neben dem Element der Umverteilung auch eine weitere Form der (beitragsunabhängigen) Versicherung für Familien dar, die sich eigentlich über der Armutsgrenze befinden, bei einem Schock jedoch unter die Armutsgrenze fallen und dadurch einen Anspruch auf finanzielle Leistungen haben. 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 172 <?page no="173"?> Tab. 4.5: Formen der sozialen Sicherung Ziele Programmtypen (Beispiele) Soziale Siche‐ rungsnetze bzw. Sozialhilfe (bei‐ tragsunabhängig) Reduktion von Armut und Ungleichheit ■ Bedingungslose und be‐ dingte Geldüberweisungen ■ Sozialrenten ■ Schulernährungspro‐ gramme ■ Öffentliche Arbeiten ■ Subventionen Sozialversiche‐ rungen (beitrags‐ pflichtig) Sicherung eines adäqua‐ ten Lebensstandards an‐ gesichts von lebensverän‐ dernden Ereignissen ■ Beitragspflichtige Alters‐ versicherung (Renten) ■ Invalidenversicherung ■ Arbeitslosenversicherung ■ Krankenkasse Quelle: Weltbank (2018) Weltweit geben LICs und MICs nur durchschnittlich 1,5 % des BIP für Programme zur sozialen Sicherung aus (vgl. Tab. 4.1 für HICs). Viele Länder weisen demnach große Lücken in ihren sozialen Sicherungssystemen auf, sowohl was die Anzahl der Instrumente (vgl. Tab. 4.5) als auch was deren Reichweite betrifft. Vor allem in Sub-Sahara Afrika und Südasien haben nur wenige Menschen Zugang zu Sozialhilfe und zu Sozialversicherungen. In diesen Regionen profitieren nur etwa 5 % der Haushalte, die zu den ärmsten 20 % gehören, von einem Instrument der Sozialhilfe. Im Vergleich dazu ist der Anteil armer Haushalte mit Zugang zu Instrumenten der Sozialhilfe in Lateinamerika und Ostasien deutlich höher. Der Zugang liegt allerdings auch hier deutlich unter 100 %. Die Sozialhilfe umfasst Maßnahmen wie bedingungslose und an Kon‐ ditionen geknüpfte Geldüberweisungen bzw. Transferzahlungen (vgl. Ka‐ pitel 4.4.2), Sachleistungen (z. B. Programme zur Bereitstellung von Mittag‐ essen in Schulen), kostenlose Kranken- und Rentenversicherungen und öffentliche Arbeitsmarktprogramme für die ärmsten Bevölkerungsgruppen. Allerdings gestaltet es sich in LICs und MICs oft schwierig, die ärmeren Bevölkerungsgruppen, die für ein soziales Sicherungsprogramm berechtigt sind, zu erreichen (vgl. Kapitel 3.3). Die Folge ist häufig der fälschliche Einschluss oder Ausschluss von Familien. Mit anderen Worten: Die Ärmsten profitieren oft nicht von den für sie vorgesehenen Leistungen und Personen, 4.4 Armutsbekämpfung 173 <?page no="174"?> 4 Im Unterschied zu chronischer Armut, in der Personen und Haushalte dauerhaft unterhalb der Armutslinie leben, beschreibt die transitorische Armut eine Situation, in der Personen und Haushalte nur vorübergehend unterhalb der Armutslinie leben, z. B. verursacht durch das Auftreten eines Schocks wie einer Krankheit oder einem Ausfall der Ernte. die keine Sozialhilfe benötigen, erhalten diese trotzdem (vgl. Kapitel 3.3 und Alatas et al. 2012). Möchte man die Fehlallokation von Sozialhilfe auf ein Minimum reduzie‐ ren, steigen die Verwaltungskosten der Zielgruppenorientierung (Eng‐ lisch: targeting). Eine Möglichkeit, dies zu vermeiden, bieten Programme mit einer sogenannten Selbstselektion. Ein Beispiel hierfür sind öffentliche Arbeitsprogramme. Diese stellen eine Form des bedingten Einkommenstransfers dar und sind beispielsweise an einen sehr niedrig bezahlten Arbeitseinsatz in einem Gemeinde-Projekt geknüpft. Aus diesen Umständen ergibt sich per se, dass nur sehr arme Haushalte die Leistungen in Anspruch nehmen. Erfolgreiche Beispiele sind Malawis „Social Action Fund“ (MASAF) sowie Indiens „Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act“ (NREGA). MASAF aus dem Jahr 1996 unterstützt Gemeinden bei der Finanzierung von Investitionen in Gesundheit, Bildung, Hygiene, Wasser, Transport, Energie und Ernährungssicherheit. Das Programm fördert somit sowohl Arbeitsplätze als auch soziale und wirtschaftliche Infrastruktur. NREGA aus dem Jahr 2005 garantiert allen Haushalten im ländlichen Indien 100 bezahlte Arbeitstage pro Jahr. Das Programm dient somit als eine allgemeine (temporäre) Arbeitslosenversicherung (vgl. Box 3.2). Neben der Sozialhilfe spielen beitragspflichtige Sozialversicherungen, z. B. in Form von Ernteausfall-, Kranken-, Renten- und Arbeitslosen‐ versicherungen, eine zunehmende Rolle in LICs und MICs. Dies verdeut‐ licht auch die Aufnahme der Sozialversicherungen in die SDGs von 2015 (vgl. Kapitel 1.3.1). SDG 3.8 zielt darauf ab, bis 2030 einen umfassenden Versicherungsschutz auch für die ärmsten Bevölkerungsschichten der Welt zu erreichen. Sozialversicherungen sollen die Widerstandsfähigkeit gegen verschiedene Arten von Schocks (zum Beispiel Dürren, Krankheit oder Arbeitslosigkeit) stärken. Studien zeigen, dass Versicherungen Menschen vor transitorischer Armut 4 bewahren können, indem sie ihre Verwund‐ barkeit (Englisch: vulnerability) gegenüber Schocks verringern ( Jalan und Ravallion 1999). Versicherungen bewahren jedoch nicht nur einzelne Familien davor, temporär unter die Armutslinie zu fallen. Sie haben auch eine transformative 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 174 <?page no="175"?> Wirkung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Dies liegt daran, dass viele arme Personen und Haushalte einen großen Teil ihrer mentalen Energie und ihrer materiellen Ressourcen für die Bewältigung von Schocks und das tägliche Überleben benötigen. Versicherungen ermöglichen es dieser Bevöl‐ kerungsgruppe, mehr Zeit und Ressourcen für langfristige Investitionen wie Bildung und Gesundheit aufzubringen (Dercon 2005). Versicherungen können somit auch chronische Armut reduzieren und die gesamtwirt‐ schaftliche Entwicklung fördern. Die größte Herausforderung in diesem Zusammenhang besteht allerdings darin, sowohl das Angebot als auch die Nachfrage nach Versicherungen zu erhöhen (vgl. Kapitel 4.4.3). 4.4.2 Ein Grundeinkommen für die Armen? Geldtransfers, die an bestimmte Bedingungen geknüpft sind (Englisch: conditional cash transfers, CCTs), haben sich seit den 1990er Jahren schnell zu einem der am weitesten verbreiteten Instrumente zur Armutsbe‐ kämpfung entwickelt. CCT-Programme überweisen armen Familien unter bestimmten Bedingungen (Konditionen) Geld, das zwischen 8 % und 20 % ihrer monatlichen Konsumausgaben ausmacht (Fiszbein und Schady 2009). Typische Beispiele für Konditionen, die mit CCTs verbunden werden, sind die Verpflichtung, die Kinder zur Schule zu schicken oder sie regelmä‐ ßigen Gesundheitskontrollen oder Impfungen zu unterziehen. Die größten CCT-Programme weltweit sind Brasiliens „Bolsa Família“, Boliviens „Bono Juancito Pinto“ und Mexikos „Prospera“ (vgl. Box 4.4). Sowohl die Zahl der Länder, die CCTs implementieren (1997: drei Länder, 2018: mehr als 50 Länder), als auch die Anzahl der Empfänger einzelner Programme sind in den letzten Jahren stark gewachsen. Prospera in Mexiko startete im Jahr 1997 mit 300.000 Empfängern. 2008 lag die Zahl bereits bei 5 Millionen (Fiszbein und Schady 2009). CCTs stellen zum einen ein zusätzliches Einkommen für ärmere Bevölkerungsgruppen dar, was direkt Armut und Ungleichheit reduziert. Zum anderen zielen CCTs darauf ab, das Verhalten von Familien so zu beeinflussen, dass sie sich langfristig aus der Armut befreien können. Die Bedingungen der Transferzahlungen werden damit gerechtfertigt, dass (arme) Haushalte oft zu wenig in die Bildung und Gesundheit ihrer Kinder investieren. Erstens können Eltern falsche Vorstellungen über die Rendite besserer Bildung haben. Zweitens haben Investitionen in Gesundheit und Bildung positive Externalitäten für die Gesellschaft und 4.4 Armutsbekämpfung 175 <?page no="176"?> werden somit aus gesamtgesellschaftlicher Sicht zu wenig nachgefragt (vgl. Kapitel 3.2.2). Drittens entstehen die Kosten von Investitionen in Bildung und Gesundheit von Kindern heute, während die Renditen von besserer Bildung und Gesundheit erst in der Zukunft zu spüren sind. Zum einen diskontieren ärmere Familien zukünftige Renditen oft zu stark ab und zum anderen haben diese Familien oft keinen Zugang zu Krediten (vgl. Kapitel 4.4.3), die heutige Kosten für zukünftige Renditen tragen würden. Aus beiden Gründen wird häufig zu wenig in die Zukunft von Kindern investiert. Ein weiteres Argument für CCTs im Vergleich zu unbedingten Geldtransfers (unconditional cash transfers, UCTs) umfasst politische Überlegungen. Steuerzahler und politische Entscheidungsträger akzeptie‐ ren direkte Geldüberweisungen, die an Konditionen geknüpft sind, eher als bedingungslose Geldüberweisungen an Familien (vgl. Kapitel 8.2.3). Box 4.4 | CCT in Mexiko: Prospera Das im Jahr 1997 eingeführte Programm Prospera (bis zum Jahr 2002 hieß das Programm „Progresa“ und dann bis 2014 „Oportunidades“) ist eines der wichtigsten Programme der mexikanischen Regierung zur Armutsbekämpfung. Das landesweite Programm umfasst drei grundle‐ gende soziale Dimensionen der Entwicklung: Gesundheit, Bildung und Ernährung. Es soll armen Familien dabei helfen, kurzfristig die Armut zu reduzieren und in Humankapital zu investieren, um ihre wirtschaftliche Zukunft zu verbessern. Die Zahlungen sind an den regelmäßigen Besuch von Schulen und Gesundheitseinrichtungen gekoppelt. Etwa 18 % der mexikanischen Bevölkerung profitieren von dem Programm, dessen Kosten sich im Jahr 2006 auf etwa 1,8 % der gesamten öffentlichen Ausgaben beliefen (etwa 0,4 % des BIP). Leistungsberechtigt sind Haus‐ halte mit einem geschätzten Pro-Kopf-Einkommen von unter 44 US$ pro Kopf im Monat in ländlichen und 75 US$ in städtischen Gebieten. Die Zahlungen werden dem weiblichen Familienoberhaupt gewährt, weil Frauen zusätzliche finanzielle Mittel eher in Kinder investieren als Männer (vgl. Schultz 2002). Das Programm verfügt zusätzlich über eine starke Präsenz vor Ort, was sowohl eine direktere Kommunikation mit den Begünstigten als auch eine regelmäßige Evaluierung ermöglicht. Quelle: Fiszbein und Schady (2009) 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 176 <?page no="177"?> 5 Je nach Studie und Programm schwanken die Zahlen für die gesteigerte Nutzung von Bildungseinrichtungen zwischen 2 % (Mexiko - Prospera) und 30 % (Kambodscha - Ja‐ pan Fund for Poverty Reduction) und für die erhöhte Nutzung von Gesundheitsdiensten zwischen 2,5 % (Chile - Chile Solidario) und 33 % (Kolumbien - Familias en Acción). Für eine gute Übersicht existierender Studien siehe Fiszbein und Schady (2009). Evaluationen verschiedener CCT-Programme (z. B. Kabeer et al. 2012, Filmer und Schady 2011) zeigen, dass das stetige Einkommen dazu beiträgt, arme Haushalte vor den schlimmsten finanziellen Auswirkungen von Krankhei‐ ten zu bewahren. Zudem erhöhen die CCT-Programme die Nutzung von Bildungs- und Gesundheitsdiensten erheblich. 5 Die Auswirkungen von CCTs auf die Bildung und Gesundheit von Kindern sind allerdings weniger eindeutig. CCTs erhöhen zwar die Wahrscheinlichkeit, dass Haushalte ihre Kinder zu Vorsorgeuntersuchungen schicken. Dies führt jedoch nicht immer zu einem besseren Ernährungszustand der Kinder (z. B. Fiszbein und Schady 2009, Duflo 2003). Eine noch nicht vollständig beantwortete Frage der Entwicklungsökonomik ist auch, ob die positiven Ergebnisse von CCTs vor allem durch das zusätzliche Einkommen oder die Bedingungen zu erklären sind; folglich, ob ähnliche Ergebnisse auch durch kostengünstigere unbedingte Geldtransfers (unconditional cash transfers, UCTs) bzw. durch ein bedingungsloses Grundeinkommen für ärmere Familien zu erzielen sind (Baird et al. 2011, vgl. Kapitel 8.2.3). Vielversprechend für die Reduktion der extremen Armut (vgl. Kapi‐ tel 1.1) scheinen auch sogenannte Graduierungsprogramme (Englisch: multifaceted graduation programs) zu sein. Diese unterstützen extrem arme Haushalte durch mehrere Maßnahmen, wie zum Beispiel Geldüberwei‐ sungen, Sensibilisierung für Finanzfragen, Ausbildung zu Gesund‐ heitsvorsorge, Coaching zu Lebenskompetenzen (Englisch: life skills) und Zugang zu formalen Krediten. Ziel ist, dass die Haushalte ihr Einkommen und ihre Lebensqualität selbständig und nachhaltig steigern. Eine in sechs Ländern (Äthiopien, Ghana, Honduras, Indien, Pakistan und Peru) durchge‐ führte experimentelle Studie zeigt z. B., dass ein derartiges Programm drei Jahre nach den ursprünglichen Geldtransfers weitere positive Auswirkun‐ gen auf den Konsum, die Ernährungssicherheit und die wirtschaftlichen Aktivitäten von Haushalten hatte (Banerjee et al. 2015). Graduierungspro‐ gramme sind wegen ihres komplementären und kontextspezifischen Ansat‐ zes sehr kostenintensiv. Sie scheinen aber dank ihrer Wirkung für die ärmsten Bevölkerungsgruppen trotzdem kosteneffizient zu sein. 4.4 Armutsbekämpfung 177 <?page no="178"?> 6 Im Gegensatz zu formalen Finanzmärkten werden informelle Finanzmärkte nicht von den Bankenbehörden reguliert oder überwacht. 4.4.3 Kredite und Versicherungen Funktionierende Kredit- und Versicherungsmärkte sind essenziell, um Armut zu reduzieren (vgl. Kapitel 1) und gesamtwirtschaftliche Ent‐ wicklung zu fördern (vgl. Kapitel 2). Finanzdienstleistungen erlauben es Menschen, die nicht über genügend Eigenkapital verfügen, in Human- und Sachkapital zu investieren. Dadurch können sie sowohl ihre eigene Lebensgrundlage verbessern als auch zum Wirtschaftswachstum ihres Lan‐ des beitragen. Kredite ermöglichen zudem Investitionen in Forschung und die Umsetzung neuer Ideen. Die Erfindung des Kredits im Altertum könnte somit zu einer der wichtigsten Innovationen (vgl. Kapitel 2.4.3) für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung von Menschen und Ländern zählen - trotz der Gefahren einer Überschuldung (vgl. Kapitel 4.3.2). Mit Versicherungen und Krediten können Menschen zudem die negativen finanziellen Auswirkungen einer Vielzahl von Schocks, wie zum Beispiel Dürren, Überschwemmungen und Krankheit, reduzieren. Dies ist vor allem für Menschen wichtig, die bereits nahe am Existenzminimum leben: Armuts‐ raten werden reduziert und diese Personen geraten weder in transitorische noch in chronische Armut (vgl. Kapitel 4.4.1). Viele Familien, deren Leben von Armut geprägt ist, sind jedoch mit einem Umfeld schlecht funktionierender oder nichtexistenter Versicherungs- und Kreditmärkte konfrontiert. Der Zugang zu formalen Versicherungen, z. B. Sozial- und Arbeitslosenversicherungen (vgl. Kapitel 4.4.1), Gesund‐ heitsversicherungen (vgl. Kapitel 5.6.2) oder Versicherungen gegen Ernteausfälle ist für viele Menschen in LICs und MICs nach wie vor schwierig. Auch haben viele Menschen weiterhin keinen Zugang zu forma‐ len Krediten (Weltbank Findex 2018). Lediglich 9 % der Erwachsenen in Entwicklungsländern haben sich im Jahr 2017 von einer Bank Geld geliehen, im Vergleich zu 20 % in Deutschland und 30 % in den USA (vgl. Abb. 4.6). Hinzu kommen hohe Zinssätze pro Jahr von bis zu 60 % in Madagaskar oder 47 % in Brasilien (Weltbank 2019). In den meisten Fällen nehmen die ärmsten Bevölkerungsgruppen deshalb informelle Kredite 6 z. B. von lokalen Geldverleihern, Pfandhäusern oder Landbesitzern auf, die meist noch deutlich höhere Zinssätze pro Jahr verlangen. 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 178 <?page no="179"?> 7 Neben Informationsasymmetrien stellen externe Effekte, öffentliche Güter und Marktmacht weitere Formen von Marktversagen dar. Diese werden in Kapitel 3.2.2 und 3.2.3 behandelt. Abb. 4.6: Anteil von Personen über 15, die 2017 von einem Finanzinstitut Geld geliehen haben Quelle: Weltbank Findex (2018) >20 % 11-20 % 6-10 % 0-5 % Keine Daten Abb. 4.6: Anteil von Personen über 15, die 2017 von einem Finanzinstitut Geld geliehen haben Quelle: Weltbank Findex (2018) Der limitierte Zugang zu formalen Krediten und Versicherungen spiegelt einen klassischen Fall von Marktversagen wider. Die beiden zentralen Probleme von Kredit- und Versicherungsmärkten (aber auch von Arbeits‐ märkten) sind die moralische Versuchung (Englisch: moral hazard) und die Negativauslese (Englisch: adverse selection). Beide Phänomene be‐ ruhen auf Informationsasymmetrien 7 zwischen Angebot und Nachfrage von Krediten und Versicherungen. Die moralische Versuchung (vgl. Box 4.5) beschreibt das Phänomen, dass ein Kreditnehmer einen Anreiz hat, ein Darlehen in besonders risi‐ koreiche Projekte zu investieren. Er oder sie akzeptiert damit ein hohes Ausfallrisiko, weil gegebenenfalls nicht er oder sie selbst, sondern der Kre‐ ditgeber für den Verlust einstehen muss. Im Fall von Versicherungsmärkten besteht das Risiko, dass der Versicherungsnehmer einer Krankenversiche‐ rung sich beispielsweise eher risikoreich verhält, da die Krankenhauskosten bei einem Unfall von der Krankenversicherung gedeckt sind. Weder die Bank noch die Versicherung (Angebotsseite) können das Verhalten der Kredit- und Versicherungsnehmer (Nachfrageseite) vollständig beobachten, was die Problematik auslöst. 4.4 Armutsbekämpfung 179 <?page no="180"?> Box 4.5 | Moralische Versuchung im Prinzipal-Agenten-Modell Im Prinzipal-Agenten-Modell geht es um die Delegation von Aufgaben durch einen Prinzipal an einen Agenten, bei der eine Informations‐ asymmetrie darüber besteht, was der Agent tatsächlich leistet. Diese Asymmetrie entsteht, da der Prinzipal in den wenigsten Fällen die Möglichkeit hat, den ausführenden Agenten rund um die Uhr zu be‐ obachten. Der Prinzipal kann daher oft nur die am Ende ersichtliche Leistung bewerten. Wie diese zustande gekommen ist, weiß nur der Agent. Verfolgen Prinzipal und Agent unterschiedliche Ziele, besteht ein Anreiz für den Agenten, die Informationsasymmetrie auszunutzen und sich nicht vollumfänglich für die Ziele des Prinzipals einzusetzen. Man spricht in diesem Zusammenhang von moralischer Versuchung. Die Negativauslese beruht auf dem Problem, dass der Kreditgeber die Eigenschaften der Kreditnehmer und damit ihre Kreditwürdigkeit nicht kennt. Bietet er seine Kredite zu einem Zinssatz an, der das durchschnittliche Risiko abdeckt, kommt er nicht auf seine Kosten, da Kreditnehmer mit niedrigeren Risiken (und Renditen) die Kredite zu teuer finden und nur Kreditnehmer mit höheren Risiken (und potentiell höheren Renditen) das Angebot als attraktiv einstufen. Um sein Geschäft ohne Verlust zu betreiben, muss der Kreditgeber letztlich so hohe Zinsen verlangen, dass er auch bei den schlechtesten Risiken auf seine Kosten kommt. Die Zinsen sind dementsprechend sehr hoch (vgl. Box 4.6 und Akerlof 1970). Ein ähnliches Problem gibt es auf dem Markt für Versicherungen. Versicherungsnehmer kennen ihre Risiken (bzw. ihre Schadenswahrscheinlichkeit) besser als die Versicherer. Beruht der Preis für die Versicherung auf der durchschnittlichen Schadenswahrscheinlichkeit, nehmen die Personen mit wenigen Risiken keine Versicherung mehr in Anspruch, weil sie ihnen zu teuer ist, und es bleiben nur noch die Personen mit hohen Risiken. Die Prämie steigt dementsprechend und die Nachfrage sinkt. 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 180 <?page no="181"?> Box 4.6 | Warum sind Zinssätze für die ärmsten Bevölkerungsgruppen so hoch? Der kritische Punkt bei der Vergabe von Krediten ist das Ausfallrisiko. Hierbei kann zwischen strategischen Risiken (moralische Versuchung) und Risiken ohne Schuld des Kreditnehmers (z. B. Ernteausfall) unter‐ schieden werden. Bei beiden Formen des Zahlungsausfalls ist es für den Kreditgeber schwierig, eine Rückzahlung zu erhalten, da die recht‐ lichen Rahmenbedingungen in LICs dafür oft nicht vorhanden sind. Das folgende vereinfachte theoretische Modell erklärt, wie das Ausfallrisiko den Zinssatz beeinflusst. Gehen wir von folgenden Parametern aus: p: Rückzahlungswahrscheinlichkeit i: Zinssatz für den Kreditnehmer r: Zinssatz der Bank (Kreditgeber) auf dem Kapitalmarkt L: Kredit Der erwarte Gewinn für den Kreditgeber (Bank) ergibt sich aus: π=p (1 + i) L - (1 + r) L Dabei ist p (1 + i) L der erwartete Wert des Kredits für den Kreditgeber und (1 + r) L sind die Kosten des Kredits für den Kreditgeber. Selbst wenn der Kreditgeber nur seine eigenen Kosten decken will (Gewinn π=0), ist die Höhe des geforderten Zinssatzes mindestens: i = (1 + r) / p - 1 Beispiel: p = 0,8 und r = 10 % → i = 37,5 %. Wenn die Rückzahlungswahrscheinlichkeit bei 80 % liegt, muss der jährliche Zinssatz für das Darlehen noch 37,5 % betragen. Quelle: Ray (1998) Warum aber stellen moralische Versuchung und Negativauslese eine grö‐ ßere Herausforderung in ärmeren Ländern dar? Sicherheiten der Kredit‐ nehmer (zum Beispiel Land- oder Hausbesitz oder ein stabiles monatliches Einkommen) wirken dem moralischen Risiko bei Krediten entgegen, senken das Ausfallrisiko und senken somit die Kosten für einen Kredit (vgl. Box 4.6). Ein anderes Beispiel sind Selbstbehalte bei Versicherungen. Die ärmsten Bevölkerungsgruppen besitzen jedoch oft keine Sicherheiten, insbesondere wenn keine klaren Eigentumsrechte definiert sind (vgl. Kapitel 3.2.1). Die Folge sind hohe Zinssätze, um das im Durchschnitt auf Grund von 4.4 Armutsbekämpfung 181 <?page no="182"?> unsichereren makroökonomischen Rahmenbedingungen sogar noch höhere Ausfallrisiko in LICs zu berücksichtigen. Ärmere Länder verfügen zudem oft über schlechtere rechtliche Insti‐ tutionen (um der moralischen Versuchung, einen Kredit nicht zurückzube‐ zahlen, entgegenzuwirken) und über eine schlechtere Informationsinfra‐ struktur (um der Negativauslese vorzubeugen). In Deutschland sammelt zum Beispiel die Schufa (Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsiche‐ rung) und in der Schweiz das Betreibungsamt kreditrelevante Informatio‐ nen. Versicherungs- und Kreditgeber können von potenziellen Kunden verlangen, dass sie die Informationen der Schufa oder des Betreibungsamtes offenlegen, bevor ein Vertrag abgeschlossen wird. In vielen Staaten besteht zudem eine Versicherungspflicht, zum Bei‐ spiel für Krankenversicherungen. Auch diese Institution vermeidet die negative Auslese, da alle versichert sein müssen und nicht nur Personen mit hohem Krankheitsrisiko, die bereit sind, höhere Versicherungsprämien zu zahlen. Vor allem in Sub-Sahara Afrika fehlt es jedoch immer noch an gut funktionierenden Geburtenbzw. Personenregistern. Hinzu kommt, dass viele Personen im nicht registrierten informellen Sektor arbeiten (vgl. Kapitel 2.5). Beide Aspekte führen dazu, dass eine Versicherungspflicht in vielen Ländern Afrikas und Asiens noch nicht umsetzbar ist. Eine weitere Herausforderung ist, dass viele arme Familien von der Landwirt‐ schaft leben. In diesem Sektor existiert eine starke Korrelation der Risiken zwischen den Haushalten (z. B. Wetterrisiko, Preisrisiko). Für Versicherungen wird das sogenannte Klumpen-Risiko zu hoch bzw. die Versicherungsprä‐ mien werden zu teuer, wenn ganze Gebiete von Schocks betroffen sind. Schließlich ist der Aufbau von Kredit- und Versicherungsmärkten in LICs und MICs dadurch erschwert, dass kleinere Kredite und Versicherungen höhere (re‐ lative) Transaktionskosten haben. Relativ zu der geborgten oder versicherten Summe sind die Kosten für die Vergabe und Verwaltung eines Kredits oder einer Versicherung zu hoch. Die Folge ist, dass Kredit- und Versicherungsmärkte entweder nicht existieren oder die einzigen Kredit- und Versicherungsgeber einzelne infor‐ melle Geldverleiher innerhalb der Dörfer sind, die die Sicherheiten, die ärmere Haushalte bieten können (z. B. ihre Arbeitskraft oder informellen Landbesitz), akzeptieren können. Dies führt nicht selten zu sogenannter Lohnsklaverei oder zu einer Situation, in der Haushalte langfristig ihr Land verlieren. Zudem nutzen diese Geldverleiher ihre Monopolstellung 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 182 <?page no="183"?> (vgl. Kapitel 3.2.3) aus und warten mit extrem hohen Zinsen oder Versiche‐ rungsprämien auf. Mikrokredite und Mikroversicherungen bieten eine erste Lösung, um den Zugang zu Krediten und Versicherungen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu verbessern. Ein prominentes Beispiel ist die Grameen Bank in Bangladesch, die der Wirtschaftswissenschaftler Muhammad Yunus im Jahr 1976 gründete, wofür er 2006 den Friedens‐ nobelpreis erhielt. Seine Forschungen wiesen darauf hin, dass Arme in Bangladesch nur wenig Kapital benötigen, um Geschäfte zu machen und ihr eigenes Einkommen zu erwirtschaften. Was ihnen fehlte, war der Zugang zu formellen Kreditmärkten, die den Ärmsten - aus den oben genannten Gründen - keine Kredite anboten. Um diesem Defizit entgegenzuwirken, bietet die Grameen Bank Mikro‐ kredite an: kleine Beträge unter 100 US$ mit jährlichen Zinssätzen bis zu 20 %. Die Kreditnehmer sind bei der Grameen Bank keine Einzelpersonen, sondern Gruppen. Bezahlt eine Person in der Gruppe den Kredit nicht zurück, erhält keine weitere Person einen Kredit. Eine Gruppe hat daher ein starkes Interesse, dass jeder Einzelne seinen Anteil zurückzahlt. Die moralische Versuchung sinkt. Das Problem der Negativauslese wird reduziert, da die Gruppe selbst ihre Mitglieder aussucht. Es handelt sich deshalb immer um Personen, die sich gegenseitig bereits kennen. Zudem werden zu Anfang nur kleine Beträge verliehen. Werden diese zurückbe‐ zahlt, kann ein größerer Kredit aufgenommen werden. Auch das senkt die moralische Versuchung, einen Kredit nicht zurückzubezahlen bzw. zu hohe Risiken einzugehen. Die Rückzahlungsquote der Grameen Bank liegt bei über 90 %. Es ist jedoch anzumerken, dass oft die höheren Transaktions‐ kosten von Mikrofinanzinstitutionen wie der Grameen Bank weiterhin oft subventioniert werden. Während noch Anfang der 2000er Jahre angenommen wurde, dass Mikrokredite stark zur Armutsreduktion beitragen, widersprechen dieser These die neuesten experimentellen Studien. Eine Studie von Banerjee et al. (2015a) zeigt beispielsweise, dass vor allem diejenigen Haushalte von einem Mikrokredit profitieren, die bereits ein Klein-Unternehmen führen, jedoch nicht die ärmsten Haushalte. Banerjee et al. (2015b) zeigen zudem, dass der Zugang zu Mikrokrediten zwar zu einem leicht höheren Einkommen der Haushalte, jedoch selten zu Verbesserungen in Bildung, Ernährung oder Gesundheit führt. 4.4 Armutsbekämpfung 183 <?page no="184"?> Andere Studien weisen sogar auf potenzielle negative Effekte von Mik‐ rokrediten hin. Vor allem Personen mit mangelnder mathematischer und finanzieller Bildung laufen Gefahr, sich durch die Aufnahme eines Mik‐ rokredits zu überschulden (Smits und Günther 2018). Die Erträge von Kleinunternehmen reichen entweder nicht immer aus, um die Zinssätze zu bezahlen, oder der Kredit wird für den Konsum und nicht produktive Investitionen genutzt. Neue Kredite werden aufgenommen, um Zinsen von alten Krediten zu tilgen, oder Kinder werden aus der Schule genommen, da aufgrund von Zinszahlungen keine Schulgeldzahlungen mehr möglich sind. Auch wenn ein Kredit ein Gut ist, zu dem jeder Mensch Zugang haben sollte, ist man heute nicht mehr der Auffassung, dass Kredite stark zur Armutsminderung beitragen. Aus diesem Grund wird vermehrt versucht, arme Haushalte zum Sparen zu bewegen (Karlan und Zinman 2018, Karlan et al. 2016) bzw. auch den ärmsten Bevölkerungsgruppen einen Zugang zu einem Sparkonto zu ermöglichen (vgl. Box 4.7). Box 4.7 | M-PESA-Technologischer Fortschritt in Kenia Im Jahr 2007 startete Safaricom in Kenia die Initiative M-PESA (M steht für mobil und Pesa ist ein aus Swahili stammender Ausdruck für Geld), um Personen ohne Zugang zum kommerziellen Bankwesen, insbesondere Armen, die Möglichkeit zu geben, ein Sparkonto zu eröff‐ nen. Kunden müssen sich bei einem autorisierten M-PESA-Agenten (z. B. Tankstelle, Supermarkt oder Safaricom-Filiale) registrieren und erhalten ein Konto, mit dem sie Bargeld an jeder M-PESA-Verkaufsstelle einzahlen oder abheben sowie mittels Textnachrichten bargeldlose Überweisungen an andere Nutzer tätigen können. M-PESA bietet so eine kostengünstige Alternative zu einem regulären Bankkonto oder einer Kreditkarte. Im Jahr 2018 benutzten mehr als 90 % der Haushalte in Kenia M-PESA (Weltbank 2018a). Eine aktuelle Studie schätzt, dass der Zugang zu M-PESA das Pro-Kopf-Einkommen kenianischer Haushalte signifikant erhöht hat und 2 % der kenianischen Haushalte aus der Armut befreien konnte (Suri und Jack 2016). Der Zugang zu Krankenversicherungen ist eine noch größere Herausfor‐ derung. Neben Informationsasymmetrien in Versicherungsmärkten fehlen vielfach auch die finanziellen Ressourcen sowie die institutionellen und personellen Kompetenzen, um ein funktionierendes Gesundheitssystem 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 184 <?page no="185"?> aufzubauen (vgl. Kapitel 5.6.2). Dieses ist essenziell, damit die Haushalte überhaupt bereit sind, die Prämien für eine Krankenversicherung zu zahlen. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass bei einer Versicherung der Haushalt - in Form von Prämien - in die Vorleistung gehen muss, während er bei einem Kredit Geld erhält, das erst später zurückgezahlt werden muss. Wenn ein ärmerer Haushalt lange in eine Krankenversicherung einzahlt, ohne davon zu profitieren, erneuert er oft seinen Vertrag nicht. In afrikanischen Ländern ist deshalb nur die Minderheit der Bevölkerung versichert (ca. 10 %), wobei es große Unterschiede zwischen den Ländern gibt. So reichen Krankenkassenversicherungsraten von 2 % in Lesotho und 3 % in Nigeria bis hin zu 38 % in Ghana. Eine absolute Ausnahme bildet Ruanda mit rund 82 % Krankenversicherten (Chemouni 2018). Im Gegensatz dazu stehen die OECD-Länder, bei welchen die Mehrheit eine Rate von 100 % aufweist (OECD 2016). 4.5 Makroökonomische Stabilität 4.5.1 Ursachen und Herausforderungen von Inflation Ein wichtiges öffentliches Gut, dessen Bereitstellung ein jeder Staat für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Landes anstreben sollte, ist makroökonomische Stabilität. Unter makroökonomischer Stabilität versteht man ein stabiles Preisniveau (keine Inflation), geringe Kon‐ junkturschwankungen (keine Rezessionen), geringe Arbeitslosigkeit und langfristig eine (einigermaßen) ausgeglichene Handelsbilanz (Ex‐ porte=Importe) und einen (einigermaßen) ausgeglichenen Staatshaushalt (nachhaltige Staatsverschuldung). Makroökonomische Instabilitäten, wie z. B. eine hohe Inflationsrate, können die langfristige ökonomische Entwick‐ lung schwächen. Zur Erreichung makroökonomischer Stabilität kommen neben der Fiskalpolitik (vgl. Box 4.1) die Geldpolitik (vgl. Box 4.8) und die Wechselkurspolitik (vgl. Box 4.10) zum Tragen: drei eng verzahnte Politikbereiche, auf die hier kurz eingegangen werden soll. Ein stabiles Preisniveau ist wichtig für die Entwicklung eines Landes, da eine Inflation zu einer realen Abwertung des Geldes führt: Mit der gleichen Menge an Geld kann weniger konsumiert oder investiert werden. Die Menschen mit Lohneinkommen werden in der Folge tenden‐ ziell ärmer, da Löhne meist langsamer steigen als das Preisniveau. Außer‐ 4.5 Makroökonomische Stabilität 185 <?page no="186"?> 8 Die Geldmenge M1 setzt sich aus dem Bargeldumlauf, den Sichteinlagen und Einlagen auf Transaktionskonten zusammen. Die Geldmenge M2 umfasst die Geldmenge M1 plus Spareinlagen. Die Geldmenge M3 schließt zusätzlich zu M2 noch die Termineinlagen ein. Kapitel 4.5 nimmt auf die Geldmenge M2 Bezug. dem kann eine Inflation Geldvermögen vernichten. Dies ist der Fall, wenn die Verzinsung der Ersparnisse hinter dem Preisanstieg zurückbleibt. Menschen, die ihr Geld gespart haben, sind die Verlierer, genauso wie Gläubiger von Krediten, wenn der Preisniveauanstieg nicht durch einen höheren Kreditzins ausgeglichen wird. Gewinner hingegen sind die Eigen‐ tümer von Sachvermögen wie Häusern und die Schuldner. Inflation hat folglich starke Verteilungseffekte, die auch zu sozialen Unruhen führen können. Zusätzlich zu finanziellen Verlusten tritt bei einer starken und anhaltenden Inflation aufgrund andauernder Verluste der Kaufkraft ein Vertrauensverlust in die Geldwertstabilität ein. Unter Umständen kann dies die Inflation beschleunigen, bis im Extremfall keiner mehr an den Wert der Währung glaubt und informell Ersatzwährungen wie US$ oder andere Tauschmittel wie Zigaretten (z. B. in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg) eingeführt werden. Box 4.8 | Geldpolitik und Geldmenge Die Geldmenge eines Staates ist die Summe aller liquiden Vermögens‐ gegenstände. 8 Die Geldpolitik umfasst alle wirtschaftlichen Instrumente zur Regelung der Geldmenge. Im Zentrum der Geldpolitik steht die Zen‐ tralbank. Sie ist verantwortlich für das Geldangebot und die Kontrolle der Inflation (Geldwertstabilisierung). Im Bereich der Geldpolitik lässt sich zwischen restriktiven und expansiven Maßnahmen unterscheiden. Eine restriktive Geldpolitik ist durch eine Verringerung der Geldmenge, eine expansive Geldpolitik durch eine Erhöhung der Geldmenge ge‐ kennzeichnet. Maßnahmen expansiver Geldpolitik dienen dazu, die Wirtschaft anzukurbeln. In diesem Fall erhöht die Zentralbank die ver‐ fügbare Geldmenge bei den Geschäftsbanken, wodurch diese vermehrt Kredite zu günstigeren Zinsen vergeben können. Dies wiederum führt zu einem Anstieg der kreditfinanzierten Ausgaben für Konsum- und Investitionsgüter, was die Produktion und den Beschäftigungsgrad er‐ höht und zumindest kurzfristig das Wirtschaftswachstum ankurbelt. Die Kehrseite einer expansiven Geldpolitik ist das Ansteigen der Inflation. 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 186 <?page no="187"?> Die Zentralbank kann jedoch durch den Verkauf von Staatsanleihen (Bonds) oder durch Erhöhung der Mindestreserven (Geld, das die Ge‐ schäftsbanken als Reserven für Einlagen halten müssen) die Geldmenge verringern. Die Inflationskontrolle ist auch durch die Regulierung des Zinssatzes möglich, zu dem sich Geschäftsbanken bei der Zentralbank Geld leihen können (Leitzins). Erhöht die Zentralbank den Leitzins, werden Kredite teurer. Folglich wird weniger Geld geliehen, wodurch die Geldmenge sinkt und die Inflation gebremst werden kann. Ein ähnliches Instrument ist die Kreditlimitierung. Durch Sondergebühren oder -zuschläge werden Kredite verteuert, was die Nachfrage verringert. Die Geldwertstabilität (vgl. Box 4.8) stellt viele ärmere Länder vor große Herausforderungen. Die Aufrechterhaltung der Geldwertstabilität ist nur durch eine unabhängige Zentralbank und damit eine unabhängige Geld‐ politik realisierbar. Die Geldpolitik umfasst alle wirtschaftlichen Instru‐ mente zur Regelung der Geldmenge und zur Kontrolle der Inflation (vgl. Box 4.8). Hat die Regierung direkten Einfluss auf die Zentralbank, was in manchen Ländern der Fall ist, wird die Geldmenge zu oft erhöht, ohne dass es dafür aus Gesichtspunkten der makroökonomischen Stabilität gewichtige Gründe gibt. Bei Regierungen ist dies jedoch ein beliebtes Instrument, da es die Konjunktur belebt und Mittel für öffentliche Ausgaben freisetzt. Entsprechend der Regel von Angebot und Nachfrage steigen als Folge die Preise der Güter und es kommt zu Inflation (vgl. Box 4.8). Der Grund, warum sich Regierungen für eine Geldexpansion entschei‐ den, ist beispielsweise ein starker Rückgang der landwirtschaftlichen Pro‐ duktion als Folge einer Missernte (z. B. in Simbabwe) oder der Einbruch des Ölpreises (z. B. in Venezuela, vgl. Box 4.9) oder die Finanzierung von Bürgerkriegen (z. B. in Angola, Georgien oder Kongo). Im Zuge eines sol‐ chen Schocks gehen die Steuereinnahmen häufig zurück und öffentliche Ausgaben sind nicht mehr finanzierbar. Die hohen und zunehmenden Staatsdefizite finanzieren Regierungen dann häufig mit Geldmengenexpan‐ sion, was die Inflation nach oben treibt, d. h. auf Kosten der Bevölkerung geht. Die Kontrolle des Haushaltsbudgets (Verringerung der Ausgaben oder Erhöhung der Einnahmen) bzw. die Fiskalpolitik (vgl. Box 4.1) ist folglich ein wichtiger Faktor zur langfristigen Stabilisierung der Preise. 4.5 Makroökonomische Stabilität 187 <?page no="188"?> Tab. 4.6: Inflationsraten (in %) nach Regionen 1985-89 1990-94 1995-99 2000-04 2005-09 2010-14 Afrika 15,6 28,1 17,0 8,0 8,1 8,0 Asien & Pazifik 8,3 12,0 8,4 3,5 4,2 4,3 Mittlerer Osten 12,4 10,2 9,1 5,1 9,2 7,8 Lateiname‐ rika 189,8 281,6 18,8 7,6 5,0 4,7 Welt 16,6 31,5 8,9 4,2 4,3 4,0 Deutschland 1,3 3,7 1,1 1,5 1,8 1,6 Schweiz 2,1 3,9 0,8 0,9 1,0 0,0 Anmerkung. Die Inflationsrate zeigt die jährliche Preissteigerung. Die Inflationsraten in der Tabelle entsprechen den Durchschnittswerten über fünf Jahre. Quelle: IWF (2018) Viele LICs und MICs durchliefen vor allem in den 1980er und 1990er Jahren (in den Jahren der Schuldenkrisen) lang andauernde Phasen chronischer Inflation (20-50 %), wobei die regionalen Durchschnittswerte die Extreme noch relativieren (vgl. Tab. 4.6). Phasen akuter Inflation (50-200 %) gab es beispielsweise in Angola (1997-2004) und Brasilien (1979-84). Phasen einer Hyperinflation (>200 %) traten in Argentinien (1989), Brasilien (1990-96), DR Kongo (1991-94), Peru (1988-91) und Simbabwe (2007-9) oder seit 2014 in Venezuela auf (vgl. Box 4.9). Die Hochinflationsphasen gingen in diesen Ländern früher oder später mit zunehmender Armut einher. Um die Inflation zu verringern, kann die Regierung eine restriktive Geldpolitik (vgl. Box 4.8) oder eine restriktive Fiskalpolitik (vgl. Box 4.1) verfolgen. Letz‐ tere Maßnahme hat allerdings nachfragemindernde Effekte (durch weniger öffentliche Investitionen oder Steuererhöhungen), was die wirtschaftliche Aktivität bremst und sich folglich negativ auf das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung auswirken kann. 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 188 <?page no="189"?> Box 4.9 | Hyperinflation in Venezuela Das einst wohlhabende ölproduzierende Land Venezuela befindet sich seit 2013 in einer wirtschaftlichen Krise. Die Inflation stieg in den letzten Jahren rasant an. Während sie zwischen 2000 und 2012 im Mittel bei 22 % lag, ist sie im Jahr 2018 auf mehr als 13.000 % angestiegen. Die Folgen für die Menschen sind verheerend, weil sie sich mit ihrem Geld praktisch nichts mehr kaufen können. Während der Amtszeit von Hugo Chavez (2000-2012) wurden die öffentlichen Ausgaben fast ausschließlich durch die Einnahmen des staatlichen Ölkonzerns PDVSA finanziert. Seit der Machtübernahme durch Nicolás Maduro im Jahr 2013 ist der Ölpreis drastisch eingebrochen (zwischen August 2013 und August 2016 um 60 %). Die Folge war ein Anstieg der Staatsverschuldung von 35 % des BIP im Jahr 2017 auf 162 % im Jahr 2018. Um dieses Defizit zu finanzieren, weitete die Regierung die Geldmenge aus, wodurch die Inflation stark stieg, was das Vertrauen in die Währung schwächte. Zur Bewältigung der Krise führte Nicolás Maduro eine neue Währung, den „souveränen Bolívar“, ein. Aus einer Million des bisherigen Bolívar wurden zehn „sou‐ veräne Bolívar“. Die Erfolgsaussichten dieser Strategie hängen davon ab, inwieweit Kreditgeber der neu geschaffenen Währung Vertrauen entgegenbringen, was notwendig ist, um die Inflation zu bremsen. Eine Alternative wäre die Stärkung einer unabhängigen Zentralbank. Zudem wäre es förderlich, die Abhängigkeit vom Erdölexport zu verringern, indem die brachliegende Produktion der Industrie und Landwirtschaft wiederbelebt wird. Quelle: The Economist (2018) 4.5.2 Flexible oder feste Wechselkurse? Die Geldmenge und damit verknüpft die Inflation eines Landes hängt auch von der Wahl des Wechselkursregimes ab. Länder steuern den Wechselkurs auf unterschiedliche Weise. Manche Länder haben einen Wech‐ selkurs, der sich (relativ) frei am Markt bewegt, abhängig von Angebot und Nachfrage. Andere Länder wählen ein System fester Wechselkurse (vgl. Box 4.10). Beide Systeme bringen Vor- und Nachteile für die Entwicklung eines Landes mit sich. 4.5 Makroökonomische Stabilität 189 <?page no="190"?> Box 4.10 | Wechselkurse Der nominale Wechselkurs gibt das Wertverhältnis zweier Währungen an, üblicherweise als Preis einer Einheit der ausländischen Währung in Einheiten der inländischen Währung, zum Beispiel SFr. je US$ (Preis‐ notierung), oder alternativ in Mengennotierung (US$ je SFr.). Durch das Angebot und die Nachfrage nach der Währung auf dem Devisen‐ markt (z. B. höhere Nachfrage nach Importen oder Exporten) kommt es zu Änderungen des Wechselkurses (Wechselkursschwankungen). Eine Verringerung des nominalen Wechselkurses entspricht einer Aufwer‐ tung der heimischen gegenüber der ausländischen Währung (SFr., die für einen US$ gezahlt werden müssen, sinken). Die Folgen sind ein Exportrückgang (Schweizer Erzeugnisse werden für Ausländer teurer), eine Importsteigerung (ausländische Erzeugnisse werden für Schweizer billiger), ein zunehmender Kapitalexport (Investitionen im Ausland werden günstiger) sowie ein Preisrückgang (weil die Gütermenge im In‐ land schneller wächst als die Geldmenge, aufgrund geringerer Exporte). Bei einer Abwertung des SFr. sinkt der Außenwert und der nominale Wechselkurs steigt (mehr SFr. pro US$). Die Folgen sind eine Steigerung der Exporte (Schweizer Erzeugnisse werden für Ausländer billiger), ein Importrückgang (ausländische Erzeugnisse werden für Schweizer teurer), eine Zunahme der Kapitalimporte (Ausländer investieren eher in der Schweiz) und eine Preissteigerung (weil die Geldmenge schneller wächst als die Gütermenge im Inland). Der größte Vorteil eines Systems flexibler Wechselkurse, welches da‐ durch gekennzeichnet ist, dass der Preis der eigenen Währung von Angebot und Nachfrage bestimmt wird, besteht in der Bewahrung der geldpoliti‐ schen Autonomie, d. h. in der Eigenständigkeit der Geldpolitik. Diese erlaubt es der Zentralbank, bei Bedarf in Form expansiver oder restriktiver Maßnahmen stabilisierend in den Markt einzugreifen (z. B. um Inflation zu bekämpfen) (vgl. Box 4.8). Ein weiterer Vorteil ist, dass es nicht zu einer Fehlbewertung der Währung kommen kann, da der Wechselkurs von Angebot und Nachfrage abhängt. Der Nachteil eines flexiblen Wechsel‐ kurssystems ist die höhere Volatilität des Wechselkurses und die damit verbundene Unsicherheit, z. B. über die Entwicklung der Import- und Ex‐ portpreise. 4 Wirtschafts- und Sozialpolitik 190 <?page no="191"?> In einem System fester Wechselkurse fixiert ein Land einseitig seinen Wechselkurs im Verhältnis zu einer ausländischen Währung, häufig dem US$. Der € ist ein typisches Beispiel für einen Übergang von einem System flexibler Wechselkurse europäischer Länder hin zu einem starren System fester Wechselkurse, das dann in einer gemeinsamen Währung mündete. Viele LICs und MICs hatten zeitweise ein System mit festen Wechselkursen (z. B. Argentinien 1991-2002) oder haben immer noch einen an den US$ oder den € gebundenen Wechselkurs: z. B. Dschibuti (US$), die Länder der ostkaribischen Währungsunion (US$) und die Länder der westafrikanischen Währungsunion (€). Die Vorteile dieses Systems liegen vor allem in der Vorhersehbarkeit bzw. der Stabilität des Kurses (im Gegensatz zum System flexibler Kurse). Als Hauptnachteil ist hingegen der Verzicht auf eine eigenständige Geldpolitik zu sehen. Wenn das Umtauschverhältnis der inländischen Währung an eine andere Währung fixiert ist, muss die Zen‐ tralbank dieses mittels An- oder Verkäufen von Devisen aufrechterhalten. Der Einsatz restriktiver oder expansiver geldpolitischer Maßnahmen zum Zweck der Wahrung der Geldwertstabilität oder zur Beeinflussung der Konjunktur steht ihr deshalb nicht mehr zur Verfügung. Zur Beeinflussung der Konjunktur bleiben nur die Instrumente der Fiskalpolitik übrig. Weitere Nachteile sind aufkeimende Spekulationen darüber, wie lange die Zentral‐ bank das System aufrechterhalten kann (vgl. Asienkrise, Kapitel 4.3.2), und die durch den Fixkurs importierte Inflation aus anderen Ländern. Die Fixierung des Wechselkurses (z. B. an den US$) geschieht, indem die Zentralbank auf dem Devisenmarkt Inlandswährung für US$ kauft und verkauft. Dies hat unterschiedliche Folgen für die Inflation. Besteht zum Beispiel die Tendenz zu einer Abwertung, verkauft die Zentralbank US$-Devisen, um die eigene Währung zu stützen (Nachfrage nach eige‐ ner Währung steigt). Die inländische Geldmenge sinkt, was die Inflation bremst, sich aber negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirken kann (vgl. Box 4.8). Sind die US$-Devisenreserven aufgebraucht, muss die Regierung bzw. die Zentralbank den Wechselkurs freigeben, was zu einer schnellen und starken Abwertung der inländischen Währung führt (z. B. in Argentinien im Jahr 2001). Besteht die Tendenz zu einer Aufwertung, kauft die Zentralbank US$-Devisen und verkauft eigene Währung. Der nominale Wechselkurs steigt, d. h. die eigene Währung wird abgewertet. Aufgrund der erhöhten Geldmenge der Inlandswährung steigt die Inflation, was sich negativ auf die Kaufkraft der Bevölkerung auswirkt (vgl. Kapitel 4.5.1). 4.5 Makroökonomische Stabilität 191 <?page no="192"?> Feste Wechselkurse können folglich die Inflation erhöhen, aber auch ein Instrument darstellen, um diese zu kontrollieren. Simbabwe konnte z. B. die Hyperinflation im Jahr 2008 durch die Kopplung der Währung an den US$ beenden. Der feste Wechselkurs konnte den Kreislauf aus Lohn- und Preiserhöhungen durchbrechen, weil eine beliebige Erhöhung der Geldmenge nicht mehr möglich war. Verständnisfragen: ■ Warum spielen Einnahmen aus direkten Steuern in vielen ärmeren Ländern im Vergleich zu reicheren Ländern eine geringere Rolle? Wie kann der Anteil der direkten Steuern an den öffentlichen Einnahmen erhöht werden? ■ Warum ist es für Länder mit niedrigem Einkommen schwieriger, die Inflation unter Kontrolle zu halten? ■ Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Inflation und dem Wechselkursregime eines Landes? Was spricht für und gegen ein System fester Wechselkurse? ■ Welche Argumente gibt es für und gegen einen (teilweisen) Schulden‐ erlass für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen? ■ Warum sind die Zinssätze für die meisten Menschen in Sub-Sahara Afrika höher als in Europa? Warum sind die Zinssätze bei Mikrokre‐ ditinstitutionen in Asien geringer als bei traditionellen Banken? ■ Halten Sie bedingte Transferzahlungen für eine erfolgversprechen‐ dere Methode, um die globale Armut zu verringern? Warum ja, warum nein? Literatur AfDB (2018). African economic outlook 2018. African Development Bank. Aigheyisi, O.S. (2013). 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Maßgeblich für die Entwicklung eines Landes ist das Humankapital, dessen Grundlage die Bildungs- und Gesundheitspolitik bilden. Trotz weltweit großer Verbesserungen im Zugang zu Schulen und Krankenhäusern sind die Un‐ terschiede zwischen ärmeren Ländern und Ländern mit hohem Einkommen bis heute enorm. Kapitel 5 geht näher auf das Zusammenspiel zwischen Bevölkerungswachstum, Bildung und Gesundheit ein. Folgende Fragen werden dabei vertieft behandelt: Warum stellt das hohe Bevölkerungswachstum für die Länder Afrikas eine Herausforderung dar? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Bevölkerungswachstum, Bildung und Gesundheit? Welche Rolle spielen Gesundheit und Bildung für die Armutsbekämp‐ fung und ökonomische Entwicklung eines Landes? Wie können Bildung und Gesundheit in Ländern mit niedrigem Einkommen verbessert werden? 5.1 Acht Milliarden Menschen und noch mehr? Pro Minute werden heute weltweit etwa 250 Kinder geboren. In einem Jahr sind das 130 Millionen Menschen. Diese oder ähnliche Zahlen stehen regelmäßig in den Medien. Schlagzeilen wie „Überbevölkerung ist größtes Problem der Menschheit“ (Welt 2011), „Eine Erde ist schon jetzt nicht mehr genug“ (Süddeutsche Zeitung 2017) oder „Ein Kind pro Frau, mehr nicht“ (Kucera 2016) zeichnen ein eher düsteres Bild der Auswirkungen des Bevölkerungswachstums. Ein etwas genauerer Blick auf die Zahlen zur Entwicklung der Weltbevölkerung relativiert solche Aussagen jedoch. <?page no="197"?> Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs die Erdbevölkerung kaum (vgl. Abb. 5.1). Die jährliche Geburtenrate entsprach lange der jährlichen Sterberate (vgl. Box 5.1). Zwischen 1900 und 1950 bremsten Kriege, Seuchen und weiterhin auftretende Hungersnöte das Bevölkerungswachstum zwar immer wieder aus. Trotzdem ist in Abb. 5.1 ein deutlicher Anstieg der Weltbevölkerung zu erkennen, die ab 1950 rasant zunahm. Vergingen 33 Jahre, bis die Weltbevölkerung von zwei auf drei Mrd. Menschen anstieg (1927-1960), wuchs die globale Bevölkerung nach 1960 innerhalb von nur 14 Jahren von drei auf vier Mrd. an (1960-1974) - eine Entwicklung, die man zunehmend als problematisch betrachtete. Innerhalb von 47 Jahren hatte sich die Weltbevölkerung verdoppelt. Im Jahr 1973 bezeichnete der damalige Weltbankchef Robert McNamara das hohe Bevölkerungswachstum als „das größte Hindernis für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt“ armer Länder (Population Research Institute 2003). Heute leben 7,5 Mrd. Menschen auf der Welt. Schätzungen zufolge wird diese Zahl bis 2050 auf neun bis zehn Mrd. Menschen anwachsen (UN Population Division 2017). 0,0 0,7 1,4 2,1 2,8 0 3.000 6.000 9.000 12.000 Wachstumsrate (jährlich in %) Weltbevölkerung (in Millionen) Länder mit hohem Einkommen Welt Wachstumsrate 83 % 17 % 1750 1800 1850 1900 1950 2000 2050 2100 Abb. 5.1: Bevölkerungswachstum 1750 - 2100 Quelle: UN Population Division (2017) 5.1 Acht Milliarden Menschen und noch mehr? 197 <?page no="198"?> Abb. 5.1 zeigt jedoch auch, dass die jährliche Wachstumsrate der Weltbe‐ völkerung bereits seit einigen Jahrzehnten sinkt. Sie erreichte in den 1960er Jahren mit etwa 2,1 % Bevölkerungswachstum ihren Höhepunkt. Im Jahr 2018 lag sie „nur“ noch bei 1,2 %. Mit anderen Worten: Die Weltbevölkerung wächst zwar weiter, aber die Geschwindigkeit, mit der dies geschieht, ist bereits langsamer als vor der Jahrtausendwende und hat sich seit 1950 fast halbiert. Von einer globalen Bevölkerungsexplosion kann daher nicht mehr die Rede sein. Allerdings würde sich bei einem zukünftigen kontinuierlichen Bevölkerungswachstum von 1,2 % die Weltbevölkerung innerhalb der nächsten 60 Jahre nochmal verdoppeln. Man geht aber von einer weiteren Reduktion der Wachstumsraten aus (vgl. Abb. 5.1 und UN Population Division 2017). Box 5.1 | Demografische Indikatoren Die Fertilitätsrate (total fertility rate, TFR) ist ein Maß, das angibt, wie viele Kinder eine Frau durchschnittlich im Laufe ihres Lebens zur Welt bringt. In Europa lag sie im Jahr 2016 bei 1,7 Kindern, in Ländern mit niedrigem Einkommen (Low Income Countries, LICs) bei 5,0 Kin‐ dern. Bei einer Fertilitätsrate von 2,1 bleibt die Bevölkerung konstant (natürliche Reproduktionsrate). Die Geburtenrate gibt Auskunft über die Anzahl der Geburten pro 1.000 Personen. Im Jahr 2014 lag sie in Ländern mit hohem Einkommen (High Income Countries, HICs) bei 11 Geburten. In Sub-Sahara Afrika lag sie im selben Jahr bei 36 Geburten. Die Sterberate ist die Zahl der jährlichen Todesfälle pro 1.000 Personen. Ebenso wie die Geburtenrate ist sie in ärmeren Ländern höher als in reicheren. Das Bevölkerungswachstum ergibt sich schließlich aus der Zahl der Geburten minus der Sterbefälle und der Nettomigration. Es wird meistens als Wachstumsrate (in %) angegeben. Das rasante Bevölkerungswachstum nach dem Ende des Zweiten Welt‐ krieges ist insbesondere auf Länder mit niedrigem Einkommen (Low Income Countries, LICs) zurückzuführen. Im Jahr 1960 lebten etwa 3 Mrd. Menschen auf der Welt, 53 % davon in Asien, 22 % in Europa und 8 % in Sub-Sahara Afrika (vgl. Tab. 5.1). 60 Jahre später zeichnet sich ein anderes Bild ab. Ei‐ nerseits hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdoppelt. Andererseits hat eine deutliche Verschiebung der Anteile der Weltbevölkerung zwischen den Regionen stattgefunden. Zwar lebt der Großteil der Weltbevölkerung weiterhin in Asien (alleine in China und Indien leben heute je 20 % der 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 198 <?page no="199"?> Weltbevölkerung). Der Anteil der Bevölkerung in Sub-Sahara Afrika ist jedoch von 8 % auf 14 % angestiegen. Der Anteil Europas ist dagegen von 22 % auf 12 % gesunken. Auch in den folgenden 50 Jahren wird die absolute Zunahme der Weltbevölkerung vor allem von ärmeren Ländern ausgehen. Etwa 84 % des weltweiten Bevölkerungszuwachses im 21. Jahrhundert wird dort stattfinden. Mit 2,8 % ist das Bevölkerungswachstum in Sub-Sahara Afrika auf einem historischen Hoch und die Bevölkerung Afrikas wird sich in den nächsten 25 Jahren verdoppeln. Tab. 5.1: Bevölkerungsgröße nach Regionen Absolut (Mio.) % Absolut (Mio.) % Absolut (Mio.) % 1960 2017 2050 Welt 3.032 100 7.511 100 9.693 100 Ostasien und Pazifik 1.041 34 2.314 31 2.394 25 Südasien 573 19 1.793 24 2.291 24 Sub-Sahara Afrika 227 8 1.050 14 2.204 23 Europa und Zentralasien 667 22 915 12 934 9 Lateinamerika und Karibik 220 7 636 8 770 8 Mittlerer Osten und Nord‐ afrika 105 3 441 6 663 7 Nordamerika 199 7 362 5 437 4 Anmerkung: Die Zahlen für 2050 sind Schätzungen der Weltbank. Quelle: Weltbank (2019), Weltbank (2019a) Ein Grund für den rasanten Anstieg der Weltbevölkerung ab 1900 war die enorme Produktionssteigerung im landwirtschaftlichen Sektor, ermög‐ licht durch eine zunehmende Technisierung der Landwirtschaft und die Entwicklung von Hochertragssaatgut. Etwa gleichzeitig verbesserte sich die medizinische Versorgung, z. B. durch die Entdeckung der Antibiotika, sowie der Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen. Dieses Zusammenspiel führte zunächst in Europa (ab 1900) und später in Asien und Afrika (ab 1950) zu sinkenden Sterberaten. Weltweit sanken die Sterberaten von 18 pro 1.000 Personen im Jahr 1960 auf 9 pro 1.000 5.1 Acht Milliarden Menschen und noch mehr? 199 <?page no="200"?> Personen im Jahr 2000, während die Lebenserwartung von 53 Jahren im Jahr 1960 auf 68 Jahre im Jahr 2000 stieg (Weltbank 2019). In Kombination mit nur langsam abnehmenden Geburtenraten (vgl. Box 5.2) hat dieser Fortschritt zu starkem Bevölkerungswachstum geführt. Global betrachtet hat sich die durchschnittliche Fertilitätsrate in den letzten 50 Jahren halbiert und liegt heute bei knapp 2,5 Kindern pro Frau (vgl. Abb. 5.2). Eine Reduktion der Fertilitätsrate hat in allen Regionen stattgefunden - eine Entwicklung, die sich weltweit weiter fortsetzen wird. In Deutschland, Öster‐ reich, der Schweiz und vielen anderen europäischen Ländern bekommen Frauen durchschnittlich nur noch 1,5 Kinder. Die Fertilitätsrate in diesen Ländern liegt damit unterhalb der natürlichen Reproduktionsrate (vgl. Box 5.1). Auch in Asien ist die Geburtenrate inzwischen auf ein Niveau von 1,8 Kindern pro Frau gesunken. In Sub-Sahara Afrika verläuft die Reduktion der Fertilitätsraten jedoch viel langsamer. Zwischen 1990 und 2016 sank die Fertilitätsrate lediglich von 6,1 auf 4,8 Kinder (vgl. Abb. 5.2). Abb. 5.2: Fertilitätsraten Anmerkung: Die Einteilung der Länder nach Einkommen basiert auf dem Jahr 2018. Quelle: Weltbank (2019) 0 1 2 3 4 5 6 7 8 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 Fertilitätsraten Länder mit hohem Einkommen Länder mit mittlerem Einkommen Länder mit niedrigem Einkommen Sub-Sahara Afrika Welt Abb. 5.2: Fertilitätsraten Anmerkung: Die Einteilung der Länder nach Einkommen basiert auf dem Jahr 2018. Quelle: Weltbank (2019) 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 200 <?page no="201"?> Der Prozess, der die Wechselwirkung von Geburten- und Sterberaten und deren Einfluss auf das Bevölkerungswachstum über die Zeit aufzeigt, wird als demografischer Übergang bezeichnet. Dieser beschreibt bei steigendem Pro-Kopf-Einkommen eines Landes den typischen Verlauf der Bevölkerungsentwicklung in vier Phasen (vgl. Box 5.2 und Abb. 5.3), wobei Länder in der letzten vierten Phase von niedrigen Geburten- und Sterberaten sowie einem geringen Bevölkerungswachstum geprägt sind. Allerdings gibt es große Unterschiede bezüglich des Beginns und der Geschwindigkeit, mit der Länder die verschiedenen Phasen durchlaufen. In heutigen LICs setzte der demografische Übergang viel später und dann meist langsamer ein als in HICs und in Ländern mit mittlerem Einkommen (Middle Income Countries, MICs). Viele Länder befinden sich weiterhin in Phase 2, die durch hohe Geburtenraten bei sinkenden Sterberaten und damit ein hohes Bevölkerungswachstum gekennzeichnet ist (vgl. Abb. 5.3). Box 5.2 | Der demografische Übergang Der demografische Übergang ist in vier Phasen unterteilt (vgl. Abb. 5.3). In der ersten Phase sind sowohl die Geburtenals auch die Sterberaten auf einem hohen Niveau. Die Geburtenrate ist zwar typi‐ scherweise leicht höher als die Sterberate, das Bevölkerungswachstum (Differenz zwischen Geburten- und Sterberate) bleibt jedoch vernach‐ lässigbar. Durch ökonomischen, technologischen und medizinischen Fortschritt sinkt die Sterberate in der zweiten Phase rapide, während die Geburtenrate zunächst fast unverändert bleibt. Das Bevölkerungs‐ wachstum ist daher sehr hoch. In der dritten Phase geht die Sterberate weiter zurück. Im Zusammenspiel mit anderen Faktoren, wie z. B. höherem Einkommen, Verstädterung oder besserer Bildung der Frauen reduziert sich in der dritten Phase jedoch vor allem die Geburtenrate. Das Bevölkerungswachstum ist weiterhin hoch, nimmt aber langsam ab. Die vierte Phase ist durch anhaltend geringe Geburten- und Sterberaten charakterisiert und dementsprechend durch ein niedriges Bevölkerungswachstum. Europa durchlief die 2. Phase von 1840 bis 1910. Die 3. Phase dauerte etwa von 1910 bis 1980 an. Heute befindet Europa sich in der 4. Phase. Viele LICs befinden sich immer noch in der 2. Phase. Die meisten MICs, unter ihnen auch einige afrikanische Län‐ 5.1 Acht Milliarden Menschen und noch mehr? 201 <?page no="202"?> der (Südafrika, Simbabwe, Botswana, Swasiland, Lesotho, Namibia), haben die 3. Phase erreicht. Die weltweit sinkenden Geburten- und Sterberaten beeinflussen nicht nur das globale Bevölkerungswachstum, sondern auch die Altersstruktur der Bevölkerung. Während im Jahr 1970 nur 5,3 % der weltweiten Bevölkerung über 65 Jahre alt waren, lag der Anteil im Jahr 2017 bereits bei 8,7 %. Schätzungen zufolge wird dieser Anteil bis in das Jahr 2050 auf 17 % der Bevölkerung anwachsen (Wan et al. 2016). Bereits heute übersteigt die Zahl der über 65-Jährigen die Zahl der Kinder in manchen Ländern, wie beispielsweise in Japan (Weltbank 2019). Zwar ist es ein Entwicklungs‐ erfolg, wenn Menschen immer länger leben. Für die langfristige ökono‐ mische und soziale Entwicklung ist es allerdings eine Herausforderung, wenn immer weniger junge, arbeitsfähige Menschen immer mehr ältere Personen versorgen müssen. Der sogenannte Abhängigkeitsquotient (Verhältnis der Bevölkerung im nicht erwerbsfähigen Alter zu derjenigen im erwerbsfähigen Alter) nimmt weltweit zu. Traditionelle Familienstruk‐ turen, im Rahmen derer alte Menschen durch jüngere Mitglieder der Fami‐ lie Unterstützung finden, sind dieser Belastung vielfach nicht gewachsen. Nur wenige Personen können in LICs und MICs auf beitragsbasierte Rentensysteme zurückgreifen, wie sie zum Beispiel in Europa existieren. Der Großteil der Menschen lebt auch heute noch von Subsistenzwirtschaft und Tätigkeiten im informellen Sektor, ohne regelmäßige Zahlungen an eine Versicherung zu leisten (vgl. Kapitel 4.4). Altersarmut wird so zu einer wachsenden Herausforderung des 21. Jahrhunderts. 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 202 <?page no="203"?> Abb. 5.3 I II III IV Sterberate Geburtenrate Geburtenrate Zeit Abb. 5.3: Die Phasen des demografischen Übergangs 5.2 Warum haben arme Familien mehr Kinder? Die Anzahl der Kinder pro Frau ist in den letzten 25 Jahren in allen Regionen der Welt im Durchschnitt gesunken. Insbesondere arme Familien in LICs haben aber weiterhin viele Kinder (vgl. Abb. 5.2 und Abb. 5.5). Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Eine erste Erklärung liefern die Erkenntnisse aus dem demografischen Übergang. In einer Umgebung mit hoher Kindersterb‐ lichkeit (Phase 1) bekommen Frauen tendenziell mehr Kinder, um sich gegen den Verlust von Kindern abzusichern. Mit abnehmender Kindersterblichkeit (Phase 2 und 3) lernen Eltern langsam und mit einer Verzögerung, dass sich die Überlebenschancen der Kinder verbessert haben und sie nur so viele Kinder bekommen müssen, wie sie tatsächlich wollen (Canning et al. 2013, Luis 2010). Länder mit hoher Kindersterblichkeit weisen demnach höhere Geburtenraten auf als Länder mit niedrigen Sterblichkeitsraten (vgl. Abb. 5.4). 5.2 Warum haben arme Familien mehr Kinder? 203 <?page no="204"?> 1 Die Zahl der ungewollten Geburten wird üblicherweise durch Haushaltsbefragungen ermittelt. Eine Geburt wird als gewollt angesehen, wenn die Anzahl lebender Kinder zum Zeitpunkt der Geburt kleiner als die von der befragten Frau angegebenen „idealen“ Anzahl von Kindern liegt (Croft et al. 2018). Abb. 5.4: Anzahl von Kindern im Vergleich zur Kindersterblichkeit Quelle: DHS (2018) Zentralafrikanische Rep. Sierra Leone Somalia Seychellen 0 1 2 3 4 5 6 7 8 0 20 40 60 80 100 Fertilität (pro Frau, 2016) Kindersterblichkeit (pro 1.000 Geburten, 2016) Sub-Sahara Afrika Rest der Welt Abb. 5.4: Anzahl von Kindern im Vergleich zur Kindersterblichkeit Quelle: DHS Programm (2018) Ein zweiter Erklärungsansatz für die hohe Anzahl von Kindern in ar‐ men Ländern sind ungewollte Schwangerschaften. Zwar können die meisten Unterschiede in der Fertilitätsrate zwischen LICs und HICs durch Unterschiede in der Zahl gewollter Kinder erklärt werden (Pritchett 1994). Viele Frauen, insbesondere in LICs, leben jedoch in einem Umfeld, das es ihnen erschwert, ungewollte Schwangerschaften zu verhindern. Studien zeigen, dass die Differenz zwischen gewollten und geborenen 1 Kindern insbesondere in Sub-Sahara Afrika groß ist (Günther und Harttgen 2016). Während die Zahl ungewollter Schwangerschaften in den letzten zwanzig Jahren in vielen Ländern gesunken ist, liegt sie in einigen Ländern weiterhin bei etwa einem Kind (vgl. Abb. 5.5). Die Ursachen für die hohe Zahl ungewollter Schwangerschaften können vielfältig sein: fehlende Bildung (insbesondere der Frauen), der unzureichende Zugang zu Instrumenten der 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 204 <?page no="205"?> Familienplanung wie modernen Verhütungsmethoden (vgl. Kapitel 5.3) sowie die geringe soziale und ökonomische Stellung der Frau innerhalb der Haushalte. Abb. 5.5: Gewollte und ungewollte Geburten Quelle: DHS (2018) 0 1 2 3 4 5 6 7 Kolumbien Dom. Republik Peru Bolivien Bangladesch Indonesien Philippinen Pakistan Türkei Marokko Ägypten Jordanien Kenia Ghana Madagaskar Tansania Burkina Faso Anzahl Geburten pro Frau Gewollt Ungewollt Abb. 5.5: Gewollte und ungewollte Geburten Quelle: DHS Programm (2018) Eine dritte Erklärung für die hohe Anzahl von Kindern liefert die Armut selbst. Arme Familien entscheiden sich tendenziell für mehr Kinder als Familien, die nicht von Armut betroffen sind. Bis ins 19. Jahrhundert gingen Ökonomen und Demografen davon aus, dass Eltern mit steigendem Ein‐ kommen mehr Kinder präferieren würden (Malthus 1798, vgl. Kapitel 5.3). Diesem Gedanken lag die Hypothese zugrunde, dass Eltern mit höherem Einkommen leichter für die Kosten von Kindern aufkommen können (z. B. für Essen, Bekleidung, Schule und Gesundheit) und sich aus diesem Grund mehr Kinder „leisten“ können. Mit dem Einsetzen des demografischen 5.2 Warum haben arme Familien mehr Kinder? 205 <?page no="206"?> Übergangs zeigte sich jedoch weltweit ein anderes Bild: Die Zahl der Kinder nahm mit steigendem Einkommen ab (Schultz 1997). Abb. 5.6 bestätigt diesen Zusammenhang sowohl zwischen den Ländern als auch zwischen Einkommensgruppen innerhalb von Ländern. Frauen, die zu den ärmsten 20 % der Bevölkerung in Entwicklungsländern gehören, bekommen fast doppelt so viele Kinder wie Frauen der reichsten 20 % in denselben Ländern. Abb. 5.6: Arme Länder und arme Familien haben mehr Kinder Anmerkung: Die Zahlen zu den reichsten und ärmsten 20% der Bevölkerung basieren auf dem Durschnitt für LICs und MICs. Quellen: Weltbank (2019), DHS (2018) 0 1 2 3 4 5 6 Ärmste 20 % Reichste 20 % Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen Länder mit hohem Einkommen Anzahl Geburten pro Frau Abb. 5.6: Arme Länder und arme Familien haben mehr Kinder Anmerkung: Die Zahlen zu den reichsten und ärmsten 20% der Bevölkerung basieren auf dem Durchschnitt für LICs und MICs. Quellen: Weltbank (2019), DHS Programm (2018) Gary Becker, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1992, lieferte eine erste ökonomische Erklärung für das beschriebene Phä‐ nomen. Er geht davon aus, dass die Entscheidung für oder gegen Kinder auf einer rationalen Kosten-Nutzen-Analyse basiert (Becker 1981). In länd‐ lichen Gebieten liegt der Nutzen von Kindern vor allem in deren Mitarbeit in der Landwirtschaft (Kinderarbeit) oder in der Altersabsicherung der El‐ tern. Kosten für Kinder bestehen hingegen zum einen aus direkten Kosten, z. B. für Nahrung, Kleidung und Bildung. Zum anderen verursachen Kinder indirekte Kosten in Form von Opportunitätskosten. Hierzu zählen z. B. die entgangenen Einkünfte aufgrund von Kinderbetreuung, typischerweise durch die Mutter. Bleibt die Mutter zu Hause, um auf die Kinder aufzupassen, so kann sie während dieser Zeit keinem Einkommenserwerb nachgehen. 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 206 <?page no="207"?> Da diese Opportunitätskosten mit zunehmender Bildung der Frau und entsprechend verbesserten Verdienstmöglichkeiten steigen, werden Kinder relativ immer teurer. Auf der anderen Seite sinkt der Nutzen von Kindern mit zunehmender Urbanisierung und Industrialisierung (Hazan und Berdugo 2002). Kinderarbeit nimmt ab. Dies erklärt, warum die „Nachfrage“ nach Kindern sinkt. Eine Reihe empirischer Studien bestätigen, dass eine höhere Bildung von Frauen mit einer niedrigeren Geburtenrate einhergeht (Duflo et al. 2015). Einen vierten und letzten Erklärungsansatz für die hohe Kinderzahl liefern soziale Normen. Der Einfluss sozialer Normen auf die Anzahl der Geburten pro Frau lässt sich zwar empirisch nur schwer untersuchen, da soziale Veränderungen selten in Ursachen und Wirkungen getrennt werden können. Einige Studien weisen allerdings darauf hin, dass Veränderungen sozialer Normen, wie sie beispielsweise durch den Zugang zu sozialen Medien oder Kabelfernsehen entstehen, zu einer Verringerung der Zahl der gewünschten Kinder führen. Diese Medien bieten Frauen Zugang zu neuen Informationen über die Außenwelt sowie zu anderen Lebensweisen, die ihre Einstellungen beeinflussen können. Viele Charaktere beliebter Seifenopern sind beispielsweise relativ gut ausgebildet, heiraten spät und haben kleine Familien. Frauen beginnen, diese Figuren nachzuahmen. Jensen und Oster (2009) finden entsprechend, dass mit der Einführung des Kabelfernsehens im ländlichen Indien die Akzeptanz häuslicher Gewalt gegenüber Frauen und die Fertilitätsrate signifikant sanken. Canning et al. (2013) zeigen zudem auf, dass die Anzahl der Kinder einer Frau - neben Kindersterblichkeit, Bildung und Wohlstand - auch stark von der Anzahl der Kinder von Frauen in ihrem direkten Umfeld abhängt. 5.3 Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Entwicklung Im vorherigen Kapitel wurde der Einfluss von Armut auf Fertilitätsraten und Bevölkerungswachstum beschrieben. Doch welchen Einfluss hat umgekehrt das Bevölkerungswachstum auf wirtschaftliche Entwicklung und Armut? Einerseits stellt die Bevölkerung Arbeitskräfte und sie ist eine Innovationsquelle (Humankapital), die genutzt werden kann, um die Produktion des Landes zu steigern (vgl. Kapitel 2.4.3). Andererseits sind Menschen auch Konsumenten, die die natürlichen Ressourcen eines Landes nutzen bzw. 5.3 Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Entwicklung 207 <?page no="208"?> 2 Trotzdem ist die Zahl der Menschen, die an Hunger leiden, immer noch groß. Der Großteil wird aber nicht durch Hungersnöte verursacht, sondern durch einen Zustand chronischer Unterernährung armer Bevölkerungsgruppen (vgl. Kapitel 5.6.1). Hungers‐ nöte entstehen eher durch politische Missstände als durch zu geringe Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln (vgl. Kapitel 3.5). teilen müssen (vgl. Kapitel 2.3.2). Dies kann nicht nur negative Folgen für das Wirtschaftswachstum, sondern auch für die Umwelt haben (vgl. Kapitel 6). Die Frage, ob der positive oder der negative Effekt dominiert, wird von Ökonomen sowie Demografen unterschiedlich beantwortet. Thomas Malthus argumentierte bereits im Jahr 1798, das Bevölkerungs‐ wachstum würde den Lebensstandard der Menschen mittelfristig verringern und langfristig konstant halten. Seine Theorie basierte auf den folgenden Annahmen: Ein höherer Lebensstandard erhöht zunächst die Nachfrage nach Kindern und damit das Bevölkerungswachstum. Angesichts einer festen Landmenge reduziert das Bevölkerungswachstum jedoch die Menge an landwirtschaftlichen Ressourcen, die jeder Einzelne bewirtschaften und verbrauchen kann. Dies führt zu Hunger und Krankheiten. Die Bevölkerung reduziert sich. Dies hat zur Folge, dass wieder mehr Land pro Einwohner zur Verfügung steht, woraufhin der Lebensstandard zu steigen beginnt. Malthus ging dabei von einer exponentiell wachsenden Bevölkerung mit einer nur linear wachsenden landwirtschaftlichen Produktion aus (Malthus 1798). Die Theorie von Malthus hat sich empirisch nicht bestätigt. Zum einen sinkt die Fertilität und entsprechend das Bevölkerungswachstum mit zu‐ nehmendem Pro-Kopf-Einkommen. Darüber hinaus unterschätzte Malthus die Möglichkeiten des technologischen Fortschritts. Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität (z. B. durch Bewässerungstechniken) hat dazu geführt, dass sich die weltweite Nahrungsmittelproduktion allein seit den 1960er Jahren mehr als verdreifacht hat. Nahrungsmittel sind dank dieses Produktivitätswachstums günstiger geworden. Immer weniger Menschen sterben an Hungersnöten. Während zwischen 1920 und 1960 jähr‐ lich weltweit noch etwa 60 Personen pro 100.000 durch Hungersnöte ums Leben kamen, hat sich die Zahl in den letzten 50 Jahren auf durchschnittlich 4 Personen pro 100.000 reduziert (Hasell 2018). 2 Allerdings sind diese Pro‐ duktivitätsfortschritte ungleich über Regionen verteilt. Insbesondere Länder in Sub-Sahara Afrika leiden weiterhin unter niedriger landwirtschaftlicher Produktivität (Fuglie et al. 2012). Obwohl sich die Theorie von Malthus nicht bestätigt hat, blieb sie bis in die 1970er Jahre einflussreich. Insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren, 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 208 <?page no="209"?> 3 In der 2. Phase ist der Abhängigkeitsquotient hingegen hoch und diese Phase ist deshalb durch eine sogenannte „demografische Belastung“ (Englisch: demographic burden) gekenn‐ zeichnet. der Periode des raschen Bevölkerungswachstums (vgl. Abb. 5.1), prägte sie die Agenda der internationalen Entwicklungspolitik. Knapp 200 Jahre nach Malthus prognostizierte der Biologe Paul Ehrlich eine Lebensmittelknapp‐ heit im Jahr 1980 (Ehrlich 1968). Aus ähnlichen Gründen wie Malthus ging auch er von einer unzureichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln aus, die 20 % der Weltbevölkerung das Leben kosten würde. Eine optimistischere Sichtweise des Zusammenhangs zwischen Bevölke‐ rungs- und Wirtschaftswachstum vertreten unter anderem Robert Solow und Julian Simon. Sie betrachten Menschen nicht nur als Konsumenten, sondern auch als Teil des Produktionsprozesses. Ruft man sich das Wachstumsmodell von Solow (1956) in Erinnerung, reduziert eine Erhöhung des Bevölkerungswachstums kurzfristig zwar das Pro-Kopf-Wachstum (vgl. Kapitel 2.3.2). Langfristig hat das Bevölkerungswachstum hingegen keinen Effekt auf die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkom‐ mens. Simon argumentiert sogar, dass sich das Bevölkerungswachstum positiv auf das Pro-Kopf-Einkommenswachstum auswirken würde. Ermög‐ licht würde dies durch den menschengemachten technologischen Fortschritt (Simon 1977) und die mit Innovationen verbundenen positiven Externa‐ litäten (vgl. Kapitel 2.4.3). Nach dem Motto: je mehr Menschen, desto mehr Innovationen, von denen alle profitieren können. Empirische Analysen der 1990er Jahre, die sich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung ostasiatischer Länder während der 1970er Jahre befassen, deuten darauf hin, dass ein Teil der rasanten Entwicklung dieser Länder auf hohe Investitionsraten zurückzuführen ist. Begründet werden diese mit den Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur im Rahmen des demogra‐ fischen Übergangs (Bloom et al. 2000, Bloom und Williamson 1998). Sinken die Geburtenraten in Phase 3 (vgl. Box 5.2 und Abb. 5.3), wächst der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung (Personen zwischen 15 und 65 Jahren) im Verhältnis zur wirtschaftlich abhängigen Bevölkerung (Kinder und Alte). Der Abhängigkeitsquotient sinkt. In diesem Zeitfenster kann ein Land seine Investitionsrate erhöhen, da relativ weniger für den Konsum benötigt wird, ein Phänomen, das als demografische Dividende (Englisch: demographic gift) bezeichnet wird. 3 Prominente Beispiele von Ländern, die von dieser Dividende profitiert haben, sind Südkorea und Singapur. Die Geburtenrate begann dort 5.3 Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Entwicklung 209 <?page no="210"?> zwischen 1950 und 1960 stark zu sinken. Gleichzeitig gab es weniger alte Menschen, weil die Menschen in den Jahren zuvor (Phase 2) früher starben. In beiden Ländern begann der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung in den 1960er Jahren stark zu steigen. Beide Länder konnten gegen Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre zum Teil zweistellige jährliche Wachstumsraten erzielen (Weltbank 2019). Eine Reihe von aktuellen länderübergreifenden empirischen Studien zeigen einen leicht negativen Zusammenhang zwischen Bevölkerungs- und Wirt‐ schaftswachstum auf, vor allem für LICs (Headey und Hodge 2009, Klasen und Lawson 2007, Birdsall und Sinding 2001). Diese Studien betonen insbesondere den Zusammenhang zwischen Fertilität und Armut. Sie postulieren, dass grö‐ ßere Familien mehr konsumieren, was weniger Ersparnisse und Investitionen zulässt, um die wirtschaftliche Situation der Familien zu verbessern und in die Zukunft der Kinder zu investieren (z. B. Investitionen in Schulbildung und Gesundheit). Auch Innovation benötigt Investitionen in Bildung (vgl. Kapi‐ tel 2.3.1). Es ist folglich unwahrscheinlich, dass höheres Bevölkerungswachstum in diesen Ländern zu mehr Innovation führt, wie von Julian Simon vermutet. Zusätzlich sind LICs weiterhin stark von der Landwirtschaft geprägt. Mehr Kinder führen daher tatsächlich zu weniger Land, d. h. Ressourcen, pro Person, während dieser direkte Zusammenhang in HICs mit einem größeren Industrie- und Servicesektor weniger ausgeprägt ist. 5.4 Macht Bevölkerungspolitik einen Unterschied? Eine Form der Bevölkerungspolitik sind Familienplanungsprogramme. Diese umfassen sowohl Aufklärungskampagnen und Subventionen von Verhütungsmitteln als auch rechtliche Bestimmungen bezüglich Ab‐ treibung, Heiratsalter und erlaubter Werbung für Verhütungsmethoden bis hin zu autoritären Ansätzen der Geburtenkontrolle. Das weltweit bekannteste autoritäre Familienplanungsprogramm ist die Ein-Kind-Politik Chinas (1979 bis 2015). Ziel der Ein-Kind-Politik war es, Hungersnöte zu verhindern (vgl. Malthus) und das wirtschaftliche Wachs‐ tum zu stärken. Der Erfolg des Programms ist bis heute umstritten, da der wirtschaftliche Aufschwung Chinas eventuell auch ohne die Ein-Kind-Poli‐ tik zu einer Senkung der Fertilität geführt hätte (Wang et al. 2013). Zudem widerspricht es unserem heutigen Verständnis von Entwicklung, Frauen die 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 210 <?page no="211"?> Freiheit zu nehmen, selbst über die gewünschte Anzahl von Kindern zu bestimmen (vgl. Kapitel 1.3.5). Inzwischen kämpft China mit den mittelbis langfristigen Folgen der dama‐ ligen autoritären Familienpolitik. Die alternde Gesellschaft übt starken Druck auf das öffentliche Gesundheits- und Rentensystem aus. Des Weiteren geht man von bis zu 100 Mio. Frauen aus, die in der chinesischen Gesellschaft „fehlen“ (Klasen und Wink 2003, Sen 1990). Dieses in der Literatur als „missing women“ beschriebene Phänomen ist auch auf die vielen geschlechtsspezifischen Abtrei‐ bungen während der Zeit der Ein-Kind-Politik zurückzuführen. In den meisten Ländern wurde ein anderer Weg eingeschlagen. Staatlich geförderte Aufklärungskampagnen vermitteln jungen Paaren, dass eine Familie auch „nur“ aus einem oder zwei Kindern bestehen kann. Das indische Gesundheitsministerium propagiert beispielsweise: „Control Population. Have fun with one! “ (Patel 2007). Ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche Umsetzung eines Programms zur Familienplanung stammt aus Matlab, einer Region Bangla‐ deschs. Seit 1977 besuchten Mitarbeiter des Programms regelmäßig Häuser, um verheirateten Frauen Verhütungsmittel, Gesundheitsleistungen für Mütter so‐ wie eine allgemeine Beratung zur Familienplanung anzubieten. Dies reduzierte die Fertilität um 17 % (Joshi und Schultz 2013). Teile dieses Programms wurden auf ganz Bangladesch ausgedehnt. Die Fertilitätsrate liegt dort inzwischen bei 2,1 Kindern, d. h. auf dem Niveau der natürlichen Reproduktionsrate, bei der die Bevölkerung konstant bleibt (vgl. Box 5.1). Unter welchen Rahmenbedingungen Familienplanungsprogramme er‐ folgreich sind, ist wissenschaftlich noch nicht vollständig geklärt. Klar ist jedoch, dass der bessere Zugang zu Verhütungsmitteln allein nicht ausreicht, damit Frauen ihren Kinderwunsch umsetzen können. Eine Studie aus Sam‐ bia zeigt beispielsweise, dass Frauen, die gemeinsam mit ihren Männern Zugang zu Verhütungsmitteln erhalten, diese deutlich seltener nutzen, als wenn der Ehemann nicht involviert ist (Ashraf et al. 2014). Dies kann unter anderem daran liegen, dass die Benutzung von Verhütungsmitteln in Konflikt mit sozialen Normen und Traditionen steht. Dennoch kann die Liberalisierung von Gesetzen zur Verwendung von Verhütungsmitteln einen Wandel in der reproduktiven Gesundheit fördern. Eine Studie von Finlay and James (2017) kommt beispielsweise zu dem Schluss, dass liberalere Ver‐ hütungsgesetze die Verwendung moderner Verhütungsmethoden erhöhen. Allerdings zeigen mehrere Studien (Pritchett 1994, Günther und Harttgen 2016), dass ein Großteil der nationalen Unterschiede in der Fertilitätsrate von Frauen immer noch durch deren Wunsch nach mehr Kindern erklärt 5.4 Macht Bevölkerungspolitik einen Unterschied? 211 <?page no="212"?> 4 Der deutsche Begriff „Einschulungsrate“ mag etwas missverständlich sein, denn es geht nicht nur um eine Messung zu Beginn, sondern auch um die Erfassung des Verbleibs im System. Man spricht daher präziser auch von „Bildungsbeteiligungsrate“. werden kann (vgl. Abb. 5.5). Ein anderer, indirekterer Weg, die Fertilität ohne Familienplanungsprogramme zu reduzieren, ist demnach die generelle sozioökonomische Entwicklung eines Landes. Diese geht meist mit einer veränderten Stellung der Frau in der Gesellschaft und höheren Opportunitäts‐ kosten der Kinder für die Frau einher. Im Jahr 1974 war die Aussage des damaligen indischen Gesundheitsministers „Die beste Pille ist Entwicklung“ noch revolutionär. Zwanzig Jahre später herrscht bereits ein breiter Konsens darüber, dass Bevölkerungspolitik mehr als nur Familienplanungsprogramme benötigt. Ein Erfolgsbeispiel für die Reduktion der Fertilität im Zuge der Ent‐ wicklung ist der Bundesstaat Kerala im Südwesten Indiens. Maßgeblicher Erfolgsfaktor für die kontinuierliche Reduktion der Geburtenrate seit den 1990er Jahren war die im Vergleich zu anderen Staaten Indiens hohe Alphabetisierungsrate der Bevölkerung, speziell der Frauen. Mehr als 90 % der Frauen in Kerala können lesen und schreiben (Office of the Registrar General and Census Commissioner 2011). Dies verbesserte nicht nur ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt und erhöhte die Opportunitätskosten der Kindererziehung, sondern versetzte die Frauen auch in die Lage, sich besser zu informieren. Sie konnten Informationsmaterialien über Verhü‐ tung sowie über die Folgen früher, vieler und eng aufeinanderfolgender Schwangerschaften lesen - ein Fortschritt, der zu weniger ungewollten Schwangerschaften führte (Dreze und Murti 2001). 5.5 Bildung 5.5.1 Mehr Schule führt nicht immer zu mehr Wissen Im Jahr 1800 konnten knapp 90 % der Weltbevölkerung im Alter von 15 Jah‐ ren oder älter weder lesen noch schreiben. Im Jahr 2014 waren dies nur noch 15 % (Roser und Ortiz-Ospina 2017). Insbesondere seit den 1970er Jahren hat sich weltweit die Schulbildung der Menschen stark verbessert. Sowohl die Einschulungsraten 4 (vgl. Abb. 5.7) als auch die Abschlussraten in der Primar- und Sekundarbildung sind stark gestiegen. 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 212 <?page no="213"?> Jahrzehntelange Investitionen haben vor allem zu einem beeindrucken‐ den Wachstum der Einschulungsraten in der Primarbildung geführt. Während die Bruttoeinschulungsrate in der Primarbildung in LICs im Jahr 1990 nur etwa 65 % betrug, lag sie im Jahr 2015 bei nahezu 100 %. Die Verbes‐ serung im Primarschulbereich hat zu einem starken Anstieg der Nachfrage nach Sekundarbildung geführt. In MICs ist die Einschulungsrate in der Sekundarschule auf fast 80 % gestiegen, während sie in LICs immer noch unter 50 % liegt. Nach wie vor bestehen enorme Unterschiede zwischen LICs und HICs in der Tertiärbildung (vgl. Abb. 5.7), die wichtig für Innovation, technologischen Fortschritt und somit wirtschaftliche Entwicklung ist (vgl. Kapitel 2.4.3). Die Abschlussraten auf allen Bildungsebenen liegen generell etwas unter den Einschulungsraten. Ein deutlicher Unterschied ist vor allem für die primäre Bildung in LICs zu beobachten. Abb. 5.7: Einschulungsraten nach Bildungssektoren Anmerkung: Die Bruttoeinschulungsrate (Englisch: gross enrolment rate) misst die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die ein bestimmtes Bildungsniveau besuchen, unabhängig von deren Alter, in % der Bevölkerung aus der Altersgruppe, für die dieses Bildungsniveau formal vorgesehen ist. Die Rate kann über 100 % betragen, da sie im Zähler auch Schüler umfasst, die älter oder jünger als die offizielle Altersgruppe sind (z.B. aufgrund von Wiederholungen von Schuljahren). Die Einteilung der Länder nach Einkommen basiert auf dem Jahr 2018. Quelle: Weltbank (2019) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 LIC MIC HIC LIC MIC HIC LIC MIC HIC Primär Sekundär Tertiär Einschulungsrate (brutto, %) 1990 2016 Abb. 5.7: Einschulungsraten nach Bildungsniveau Anmerkung: Die Bruttoeinschulungsrate (Englisch: gross enrolment rate) misst die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die ein bestimmtes Bildungsniveau besuchen, unabhängig von deren Alter, in % der Bevölkerung aus der Altersgruppe, für die die‐ ses Bildungsniveau formal vorgesehen ist. Die Rate kann über 100 % betragen, da sie im Zähler auch Schüler umfasst, die älter oder jünger als die offizielle Altersgruppe sind (z.B. aufgrund von Wiederholungen von Schuljahren). Die Einteilung der Länder nach Einkommen basiert auf dem Jahr 2018. Quelle: Weltbank (2019) 5.5 Bildung 213 <?page no="214"?> Das wirtschaftliche Wachstum, das man als Folge der Expansion der Bil‐ dungsjahre erwartete (vgl. Kapitel 2.4.3), blieb in vielen Ländern allerdings aus. Grund hierfür scheint die mangelnde Qualität der Ausbildung zu sein. Nicht die Quantität, sondern die Qualität der Bildung ist maßgeblich für deren Einfluss auf das wirtschaftliche Wachstum (Heckman et al. 2006). Um die Qualität der Bildung auf internationaler Ebene zu vergleichen, bedarf es standardisierter Prüfungen. Ein bekanntes Beispiel für eine sol‐ che international vergleichende Messung ist die PISA-Studie der OECD. Sie bewertet sowohl das Wissen 15-jähriger Sekundarschüler aus OECD Ländern als auch deren Fähigkeit, dieses in den Alltag zu übertragen. In OECD-Ländern erfüllen etwa 20 % der Sekundarschüler das Grundniveau der Lesefähigkeit nicht (OECD 2016). Ein Zusammenschluss von fünfzehn süd- und ostafrikanischen Bildungs‐ ministerien (Southern and Eastern Africa Consortium for Monitoring Edu‐ cational Quality, SACMEQ) führt seit 1995 etwa alle 5 Jahre standardisierte Erhebungen im Grundschulbereich durch. Ein ähnliches Programm existiert für die Länder des französischsprachigen Afrika (Programme d’analyse des systèmes éducatifs de la Conférence des ministres de l’éducation des pays ayant le français en partage, PASEC). Es bewertet die Fähigkeiten der Schüler in Mathematik und im Lesen. Fazit dieser Studien ist, dass Kinder in vielen Bildungssystemen sehr wenig lernen. Weltweit beherrschen 250 Mio. Kinder im Alter von ca. 10 Jahren (4. Primarklasse) nicht die Grundlagen im Lesen, Schreiben und Rechnen. In LICs sind diese Defizite besonders groß (vgl. Abb. 5.8). Dort weisen weniger als 20 % der Primarschüler ausreichende Kompeten‐ zen in Mathematik auf. Im Lesen sind es sogar weniger als 10 %. Große Unterschiede im Wissen bestehen auch innerhalb von Ländern zwischen sozioökonomischen Gruppen. Sozial benachteiligte Kinder, vor allem Mädchen, schneiden fast immer schlechter ab. Die PASEC-Ergebnisse ka‐ men beispielsweise zu dem Schluss, dass nur 5 % der Mädchen in Kamerun aus den ärmsten 20 % der Haushalte genug gelernt hatten, um die Schule fortzusetzen, während dies für 76 % der Mädchen der reichsten 20 % möglich war (PASEC 2014). SACMEQ führt zusätzlich einen Test für Lehrer durch. Dieser zeigt, dass auch sie häufig nicht in der Lage sind, die Aufgaben für die Schüler der 6. Klasse zu lösen (SACMEQ 2018). Ein großes Problem in LICs sind somit schlecht ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer (Weltbank 2018, Michaelowa 2001). Auf die weltweiten Anstrengungen der letzten Jahre hinsichtlich 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 214 <?page no="215"?> erhöhter Einschulungsraten müssen nun dringend Verbesserungen in der Bildungsqualität folgen. Nur so können junge Menschen ihr Potenzial entfalten, der Armut entrinnen und zur Entwicklung ihres Landes beitragen. Abb. 5.8: Primarschüler mit Kernkompetenzen in Mathematik und Lesen Anmerkung: Genügende Leistung in Mathematik bedeutet, dass Schüler ein grundlegendes Mathematikwissen haben, wie z.B. addieren oder subtrahieren ganzer Zahlen und dass sie geometrische Figuren erkennen können sowie einfache Grafiken und Tabellen interpretieren können. Genügende Leistung im Lesen bedeutet, dass Schüler Details beim Lesen von Texten finden und Information wiedergeben können. Quelle: Atlinok et al. (2018) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Länder mit niedrigem Einkommen Länder mit niedrigem mittlerem Einkommen Länder mit hohem mittlerem Einkommen Länder mit hohem Einkommen Anteil Schüler mit genügender Leistung (in %) Mathematik Lesen Abb. 5.8: Primarschüler mit Kernkompetenzen in Mathematik und Lesen Anmerkung: Genügende Leistung in Mathematik bedeutet, dass Schüler ein grund‐ legendes Mathematikwissen haben, wie z.B. addieren oder subtrahieren ganzer Zahlen und dass sie geometrische Figuren erkennen können sowie einfache Grafiken und Tabellen interpretieren können. Genügende Leistung im Lesen bedeutet, dass Schüler Details beim Lesen von Texten finden und Information wiedergeben können. Quelle: Altinok et al. (2018) 5.5.2 Lohnen sich staatliche Bildungsinvestitionen? Der Anteil von Kindern zwischen 0 und 14 Jahren an der Gesamtbevölke‐ rung liegt in LICs bei durchschnittlich 42 % (Weltbank 2019). In HICs liegt er bei 17 %. Der Anteil von Jugendlichen zwischen 14 und 25 liegt in LICs bei 20 % (und in HICs bei 12 %). In LICs machen Kinder und Jugendliche folglich mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus. Es ist die Bildung dieser Kinder und Jugendlichen, die in der Zukunft eine Wirkung entfalten wird, die weit über das bloße Erlernen von persönlichem Wissen und Fähigkeiten 5.5 Bildung 215 <?page no="216"?> hinausgeht und starke positive Externalitäten für die Gesellschaft haben wird (vgl. Kapitel 2.4.3). Menschen, die eine gute Schule besucht haben, sind gesünder und weniger oft arbeitslos. Die Bildung von Frauen führt zu einer höheren Impfrate, besserer Ernährung und niedriger Sterblichkeit von Kindern (Weltbank 2011). Darüber hinaus lässt sich empirisch zeigen, dass eine Person im Durchschnitt mehr verdient, je länger sie zur Schule gegangen ist (Hanushek und Wössman 2007). Die Rentabilität eines zusätzlichen Bildungsjahrs ist in LICs aufgrund der dort herrschenden relativen Knappheit an gut ausge‐ bildeten Arbeitskräften sogar noch größer als in HICs (Psacharopoulos und Patrinos 2004). Jedes zusätzliche Schuljahr ist mit einer Einkommenserhö‐ hung um 8 bis 10 % verbunden. Bei Frauen ist die Zunahme im Schnitt größer als bei Männern (Weltbank 2018). Simulationen zeigen, dass die Förderung kognitiver Fähigkeiten aller Schüler das wirtschaftliche Wachstum massiv steigern kann. Dies gilt insbesondere für LICs (Hanushek und Wössmann 2015). Darüber hinaus trägt Bildung zu funktionierenden Institutionen sowie zu einer höheren politischen und sozialen Stabilität bei (Weltbank 2018). Die öffentliche Finanzierung des Bildungssektors ist zentral, um die Einschulungs- und Abschlussraten in LICs auf 100 % zu erhöhen. Viele Länder sind bereit, in Bildung zu investieren. In der Regel macht Bildung den größten Einzelanteil des Staatsbudgets in LICs und MICs aus, im Durchschnitt etwa 15 % (Weltbank 2019, vgl. Kapitel 4 Tab. 4.1). Die Höhe der öffentlichen Bildungsausgaben als Anteil am Bruttoinlands‐ produkt (BIP) scheint allerdings nicht mit den Lernergebnissen der Schüler zu korrelieren. Dies kann unterschiedliche Gründe haben: Es gibt nicht ge‐ nügend ausgebildete und motivierte Lehrkräfte, den staatlichen Stellen fehlen die institutionellen und personellen Fähigkeiten, um die Mittel effektiv einzusetzen, die finanziellen Mittel erreichen die Schulen nicht oder sie werden nicht effektiv verwendet. All dies verringert die potenziell positiven Effekte erhöhter Bildungsausgaben. Was sind wirksame Maßnahmen, um diese Probleme zu lösen? Eine Möglichkeit sind kleinere Klassengrößen, die sowohl bei Lehrern als auch bei Eltern gern gesehen sind. Der Einfluss der Klassengröße auf die Schülerleistungen ist in der Literatur jedoch sehr umstritten (Hanushek 1995). Vieles spricht dafür, dass das Lehrpersonal zunächst eine geeignete pädagogische und fachliche Ausbildung benötigt, bevor es das Potenzial kleinerer Klassen nutzbar machen kann (Fehrler et al. 2009). Noch eindeu‐ 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 216 <?page no="217"?> tiger ist die empirische Evidenz im Hinblick auf den vielfach erwarteten Zusammenhang zwischen höheren Löhnen und der Steigerung der Schü‐ lerleistungen. Studien widerlegen diesen sehr deutlich (De Ree et al. 2018). Vertragsformen, bei denen den Eltern und lokalen Gemeinschaften ein größerer Einfluss auf die Beurteilung der Lehrkräfte zukommt, scheinen dagegen zu einem Anstieg des Lernerfolgs beizutragen (Bourdon et al. 2010). In vielen LICs sind die hohen Absenzraten der Lehrkräfte ein zusätz‐ liches Problem. Lohnerhöhungen allein können dieses nicht lösen. Vielmehr erweisen sich Anreize als hilfreich, die direkt mit der Überprüfung des gewünschten Verhaltens einhergehen. Eine Studie von Duflo et al. (2012) im indischen Rajasthan zeigt, dass eine Umstellung der Entlohnung auf eine anwesenheitsabhängige Bezahlung die Abwesenheit der Lehrkräfte halbieren konnte. Neben die Absenzen der Lehrer tritt die Herausforderung, sicherzustellen, dass die vorgesehenen Mittel die Schulen auch erreichen. Studien in Uganda wiesen darauf hin, dass bis zu 95 % der Mittel zweckentfremdet wurden (Reinikka und Svensson 2004). Die Regierung reagierte auf diesen Missstand mit Informationskampagnen. In Zeitungen und durch Poster an Schulgebäuden wurde veröffentlicht, welcher Schule wie viel Geld und Material zusteht. Die Schulen waren verpflichtet anzugeben, wie viel davon sie tatsächlich erhielten, und Differenzen wurden so offensichtlich und mittelfristig kleiner. Eine weitere Frage der Bildungspolitik in LICs ist, auf welche Bildungs‐ stufe die Ausgaben fokussiert werden sollten: primär, sekundär oder ter‐ tiär? LICs investieren etwa die Hälfte der öffentlichen Bildungsausgaben in die Primarbildung. Dies ist deutlich mehr als in HICs (vgl. Abb. 5.9). Höhere Bildungsstufen verursachen pro Schüler bzw. Student höhere Kosten (durch höhere Gehälter der Lehrer und teurere Infrastruktur wie beispielsweise. Laboreinrichtungen). Gleichzeitig sind Investitionen in den sekundären und tertiären Bildungsbereich zunehmend wichtig, um die wachsende Zahl von Kindern mit abgeschlossener Grundschulbildung aufnehmen zu können. Nur dann ist es möglich, das Humankapital zu bilden, welches den Struk‐ turwandel vorantreibt (vgl. Kapitel 2.5) und die wirtschaftliche Entwicklung langfristig sichert. Auf der anderen Seite profitieren ärmere Kinder eher von Investitionen in die Primarbildung. In der Sekundarbildung sind es nicht nur die direkten Kosten (z. B. für Schulgebühren, Schuluniformen, Bücher), die arme Familien davon abhalten, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Für viele Haushalte spielen 5.5 Bildung 217 <?page no="218"?> auch die indirekten Kosten (Opportunitätskosten) der Schulbildung eine wichtige Rolle. Obwohl Kinderarbeit im Zuge der allgemeinen Entwicklung gesunken ist, sind viele Familien weiterhin auf die Hilfe der Kinder in der Landwirtschaft angewiesen (Dumas 2013). Hinzu kommt, dass arme Familien weniger in die Bildung ihrer Kinder investieren, weil sie Investi‐ tionsentscheidungen eher mit Blick auf deren kurzfristige Erträge treffen müssen. Eltern sind vor allem dann bereit, in Bildung zu investieren, wenn sie überzeugt sind, dass diese Investition sich langfristig lohnt. Abb. 5.9: Öffentliche Bildungsausgaben nach Bildungssektoren Quelle: Weltbank (2019) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 LIC HIC LIC HIC LIC HIC Primär Sekundär Tertiär Anteil (in %) Anteil an öffentlichen Bildungsausgaben (2012) Einschulungsraten (brutto, 2012) Abb. 5.9: Öffentliche Bildungsausgaben nach Bildungsniveau Quelle: Weltbank (2019) Um die Schulbeteiligung zu erhöhen, werden in vielen Ländern mittlerweile sowohl die direkten als auch indirekten Bildungskosten für Haushalte durch finanzielle Unterstützung reduziert. Die Abschaffung der Gebüh‐ ren für die Grundschule sowie Schulstipendien für arme Familien sind Ansätze, die in vielen Ländern die Einschulungsraten erhöhen konnten. Bedingte Transferzahlungen (conditional cash transfers, CCTs), die eine finanzielle Unterstützung armer Haushalte an die Einschulung der Kinder knüpfen, sind inzwischen ebenfalls weit verbreitet, insbesondere in Lateinamerika (vgl. Kapitel 4.4.2). 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 218 <?page no="219"?> 5.6 Gesundheit 5.6.1 Sterblichkeit, Krankheiten und Unterernährung Neben der Bildung ist die Gesundheit zentral für die Lebensqualität auf individueller (vgl. Kapitel 1.3.1) und für das Humankapital (vgl. Kapi‐ tel 2.4.3) auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Was bedeutet es, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Sierra Leone bei ungefähr 52 Jahren liegt, während sie in Deutschland, Österreich und der Schweiz ca. 80 Jahre beträgt? Unterschiede in der Lebenserwartung weisen vor allem auf Unterschiede in der Kindersterblichkeit hin. Die Kindersterblichkeit steht für die Zahl der Kinder, die in ihren ersten fünf Lebensjahren sterben, bezogen auf 1.000 Lebendgeburten. Zwischen 1990 und 2015 wurde die Kindersterblichkeit weltweit halbiert (Weltbank 2019). Dieser Fortschritt liegt vor allem an den Impfkampagnen der letzten 25 Jahre (Vanderslott und Roser 2019). Die Unterschiede in der Kindersterblichkeit zwischen den Regionen sind jedoch weiterhin groß: Die Kindersterblichkeit ist in LICs 10-mal höher als in HICs (vgl. Abb. 5.10). 5.6 Gesundheit 219 <?page no="220"?> 0 50 100 150 200 Sub-Sahara Afrika Zentral- und Südasien Lateinamerika Ostasien LICs MICs HICs Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten Abb. 5.10: Kindersterblichkeit nach Regionen Quelle: UNICEF (2017) Auch die Müttersterblichkeit konnte in den letzten 25 Jahren von 385 auf 216 Frauen (bezogen auf 100.000 Lebendgeburten), die an Komplikationen bei der Geburt sterben, gesenkt werden (Roser 2017). In Sub-Sahara Afrika liegt die Müttersterblichkeit immer noch bei 546 im Vergleich zu 10 in Westeuropa - folglich 50-mal höher (Weltbank 2019). 99 % aller Frauen, die als Folge einer Schwangerschaft sterben, sterben in LICs. Schwanger‐ schaftskomplikationen sind in diesen Ländern die häufigste Todesursache von jungen Frauen (WHO 2016). 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 220 <?page no="221"?> Tab. 5.2: Häufigste Todesursachen von Erwachsenen und Kindern Todesursache % aller Tode Erwachsene (LICs, MICs, HICs) 1. Ischämische Herzerkrankung 2. Schlaganfall 3. Chronisch obstruktive Lungenerkrankung 4. Infektionen der Atemwege 5. Alzheimer und andere Demenzen 6. Luftröhren-, Bronchien- und Lungenkrebs 7. Diabetes mellitus 8. Verkehrsunfall 9. Durchfallerkrankungen 10. Tuberkulose 16,6 10,2 5,4 5,2 3,5 3,0 2,8 2,5 2,4 2,3 Erwachsene in Ländern mit niedrigem Einkommen (LICs) 1. Infektionen der Atemwege 2. Durchfallerkrankungen 3. Ischämische Herzerkrankung 4. HIV/ AIDS 5. Schlaganfall 6. Malaria 7. Tuberkulose 8. Frühgeburtskomplikationen 9. Geburtsasphyxie und Geburtstrauma 10. Verkehrsunfall 9,3 7,2 6,5 5,5 5,2 4,6 4,2 4,0 3,8 3,6 Kinder unter 5 Jahren (LICs, MICs, HICs) 1. Frühgeburt 2. Infektionen der Atemwege 3. Geburtsasphyxie und Geburtstrauma 4. Tuberkulose 5. Angeborene Geburtsfehler 6. Durchfallerkrankungen 7. Blutvergiftung und andere Infektionen 8. Malaria 9. Hirnhautentzündung 10. Masern 6,9 5,8 4,8 3,8 3,4 3,1 2,5 1,9 0,9 0,7 Quelle: WHO (2017). Die weltweit häufigsten Todesursachen unter Erwachsenen sind mittler‐ weile nicht-übertragbare Krankheiten, wie Erkrankungen des Herz‐ kreislaufsystems, Krebs oder Diabetes (vgl. Tab. 5.2). In LICs gehören neben Schwangerschaftskomplikationen aber weiterhin übertragbare Krank‐ heiten wie Tuberkulose, HIV/ AIDS und Malaria zu den Haupttodes‐ ursachen (vgl. Tab. 5.2). Die zwei häufigsten Todesursachen sind aller‐ dings Durchfallerkrankungen und Infektionen der Atemwege, beides Krankheiten, die praktisch vollkommen vermeidbar wären, wenn die be‐ 5.6 Gesundheit 221 <?page no="222"?> troffenen Haushalte nicht mit extremer Armut kämpfen müssten (vgl. Box 5.3). Kinder sterben weltweit meist an den Folgen frühgeburtlicher Komplikationen, an Malaria, Masern und Tuberkulose und wiederum an Durchfall und Infektionen der Atemwege. Fast all diese Krankheiten sind Krankheiten, an denen mit heutigem Wissen und bei geeigneter Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsversorgung kein Kind mehr sterben müsste (vgl. Box 5.3). Box 5.3 | Kranke Kinder - eine Folge von extremer Armut Viele Krankheiten bei Kindern mit Todesfolge, wie Malaria, Masern, Durchfallerkrankungen oder Infektionen der Atemwege (vgl. Tab. 5.2), würden bei geeigneter Behandlung nicht zum Tod führen. Vor allem könnten sie durch geeignete Vorsorge meist ganz vermieden werden. Durchfallerkrankungen sind oft die Folge von unzureichender Wasser‐ versorgung und/ oder Siedlungshygiene (Fink et al. 2011): 2,3 Milliarden Menschen haben immer noch keinen Zugang zu einer eigenen Toilette ( JMP 2019). Die Gefahr, sich mit Malaria anzustecken, kann um 50 % reduziert werden, wenn Kinder unter einem Moskitonetz schlafen (Lengeler 2004). Jedoch schlafen nur 50 % der Kinder in Afrika, die in Malariagebieten leben, unter einem solchen Netz (WHO 2018: 17). Gegen Masern gibt es seit den 1960er Jahren eine sehr effektive, sichere und kostengünstige Impfung. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun‐ derts weltweit 2 Millionen Menschen pro Jahr an Masern starben, sind es heute „nur“ noch 130.000 (WHO 2017a). Dennoch sind in vielen Ländern weniger als 90 % der Kinder geimpft. Viele Haushalte kochen im Haus ungeschützt mit Kerosin, Kohle, Holz oder Mist, was eine der Hauptursachen für die Infektionen von Atemwegen ist. Warum kaufen Haushalte keine Toilette, kein Chlor, kein Moskitonetz und keinen verbesserten Kochherd, wenn diese (kostengünstigen) Tech‐ nologien Kinder wirksam gegen Krankheiten schützen? Dies würde nicht nur die Lebensqualität der Haushalte verbessern, sondern auch Gesundheitskosten sparen. Den ärmsten Bevölkerungsgruppen fehlt es häufig an Informationen, aber vor allem an den finanziellen Mitteln, um heute Investitionen zu tätigen, die erst langfristig einen Nutzen bringen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass eine kostenlose oder stark subventionierte Versorgung von Haushalten mit Toiletten (Günther et al. 2016), Chlor (Kremer et al. 2011), Impfungen (Banerjee et al. 2010) 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 222 <?page no="223"?> oder Moskitonetzen (Cohen und Dupas 2010) nicht nur den Besitz dieser Güter, sondern auch deren Gebrauch massiv erhöht. Diese Studien widerlegen die lange bestehende Hypothese, dass ein Kostenbeitrag der Haushalte nötig wäre, um sicherzustellen, dass Gesundheitstechno‐ logien nur an Haushalte gelangen, die diese auch nutzen. In Bezug auf verbesserte Kochherde wurde allerdings gezeigt, dass die notwendige Verhaltensänderung, die von den Haushalten vor allem in Bezug auf die Instandhaltung „neuer“ Technologien gefordert ist, langfristig oft nicht gegeben ist (Hanna et al. 2016). Allerdings trägt bei Zugang zu einfachen alternativen Technologien wie Gaskochern bereits eine einfache Aufklärung über die massiven Gesundheitsgefährdungen zu gewissen Verhaltensänderungen bei (Zahno et al. 2020) (vgl. Kapitel 6.4.1). Auch Mangel- und Unterernährung ist die Folge von Armut. Zwar hat sich die globale Ernährungslage über die letzten 25 Jahre positiv entwickelt (vgl. Kapitel 1, Abb. 1.2); sie bleibt aber eine globale Herausforderung. Mangel- und Unterernährung führen zu einem geschwächten Immun‐ system. Dies wiederum hat zur Folge, dass Menschen schneller krank werden und Krankheiten stärker auftreten als bei einem gut ernährten Menschen. Die Welternährungsorganisation (Food and Agriculture Organization, FAO) misst Unterernährung basierend auf den Kalorien, die ein Mensch benötigt, um gesund zu leben (vgl. Box 5.4). Schätzungen der FAO zufolge sind nach wie vor 11 % der globalen Bevölkerung (821 Mio.) von akuter Unterernährung betroffen (FAO 2018). Ein weiterer Ansatz zur Messung von Unterernährung bedient sich anthropometrischer Indikatoren von Kindern. Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) misst die Unterernährung anhand von Wachstumsrückständen, die auf chronische Unterernährung hindeuten (vgl. Box 5.4). Der Anteil der Kinder mit Wachstumsrückständen liegt in Sub-Sahara Afrika weiter‐ hin bei deutlich über 30 % und in Asien bei etwa 20 %. Unterernährte Kinder leiden nicht nur unter schlechter Gesundheit, sondern lernen in der Schule auch weniger gut (vgl. Box 5.5). Dies wiederum führt zu geringeren Arbeitsmarktchancen im Erwachsenenalter (Hoddinott et al. 2013). 5.6 Gesundheit 223 <?page no="224"?> Box 5.4 | Ab wann gilt ein Mensch als unterernährt? Sowohl die FAO als auch die WHO haben einen Ansatz zur Messung von Unterernährung entwickelt. Der Ansatz der FAO orientiert sich an den 2.100 Kalorien, die ein Mensch benötigt, um gesund zu leben. Die Berechnung des Anteils der Bevölkerung, der unterernährt ist, erfolgt in zwei Schritten. Zunächst wird anhand von Daten zu Produktion, Handel und Lagerbeständen berechnet, wie viele Kalorien in einem Land zur Verfügung stehen. Zusätzlich nimmt die FAO einen durch‐ schnittlichen Verlust an Kalorien (z. B. durch Lebensmittelverfall) von 20 % an. In einem zweiten Schritt werden die verfügbaren Kalorien durch die Bevölkerungszahl geteilt, um die Zahl der Unterernährten abzuschätzen. Während der Ansatz der FAO alle Menschen eines Landes einbezieht, konzentriert sich die WHO auf anthropometrische Indika‐ toren bei Kindern unter fünf Jahren. Die Indikatoren zielen nicht auf die Nahrungsaufnahme ab, sondern auf die Folgen der Unterernährung. Die Indikatoren sind Wachstumsrückstände (Englisch: stunting), d. h. Größe für Alter, Auszehrung (Englisch: wasting), d. h. Gewicht für Größe, und Untergewicht (Englisch: underweight), d. h. Gewicht für Alter. Wachstumsrückstände deuten auf chronische Unterernährung hin, weil der Körper sich an eine dauerhaft zu niedrige Nahrungszufuhr angepasst hat. Auszehrung ist ein Indikator für akute Unterernährung. Der Ernährungsstatus eines Kindes wird bestimmt, indem man den individuellen Messwert des jeweiligen Indikators mit dem Median einer gut ernährten Referenzgruppe vergleicht. Daraus ergibt sich der sogenannte z-Wert. Ein Wert für Wachstumsrückstände von -2 besagt, dass die Größe eines Kindes zwei Standardabweichungen unter dem Median der Referenzgruppe liegt. Ab einem z-Wert unter -2 wird ein Kind als unterernährt eingestuft. Die Referenzgruppe ist zusammenge‐ setzt aus Kindern verschiedener Weltregionen (Brasilien, Indien, Ghana, Norwegen, Oman und USA). Unterernährung ist nicht nur Mangel an Nahrung. Unabhängig von der Kalorienzufuhr kann auch eine geringe Aufnahme wichtiger Vitamine und Mineralstoffe zu Mangelernährung führen. Anämie (Blutarmut), die vor allem durch Eisenmangel verursacht wird, ist ein zentrales Beispiel. Anämie ist mit allgemeiner Schwäche und Lethargie verbunden und kann 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 224 <?page no="225"?> in einigen Fällen (insbesondere für schwangere Frauen) lebensbedrohlich sein. Eine ausgewogene Ernährung oder die Einnahme von relativ billigen Nahrungsergänzungsmitteln (z. B. Eisentabletten) oder angereicherten Nah‐ rungsmitteln (z. B. jodiertes Salz) könnte Mikronährstoffmängel beheben (WHO 2014). Gerade in Ländern Sub-Sahara Afrikas gestaltet sich die Umsetzung einer ausgewogenen Ernährung besonders für arme Familien als schwierig. Neben mangelndem Zugang zu verschiedenen Nahrungsmitteln stellen sich unzureichende Ernährungspraktiken, wie zum Beispiel der zu‐ nehmende Verzehr ultra-verarbeiteter Lebensmittel, die oft zuckerreich und nährstoffarm sind, als besonders problematisch heraus (UNICEF 2018). Be‐ sonders arme Familien bevorzugen qualitativ minderwertige Lebensmittel, die weniger kosten. Hinzu kommt, dass kulturelle und soziale Normen und Gewohnheiten es oft schwierig machen, Ernährungspraktiken zu ändern, wie zum Beispiel die Einnahme angereicherter Lebensmittel, selbst wenn diese verfügbar sind (UNICEF 2019). Box 5.5 | Synergien in der Gesundheits- und Bildungspolitik Die Entwicklungsziele Bildung und Gesundheit können durch gezielte Programme erfolgreich verbunden werden. Mittagessen in der Schule sorgen nicht nur für eine bessere Ernährung, sie erhöhen gleichzeitig die Attraktivität des Schulbesuchs, was zu regelmäßiger Anwesenheit führt. Ein weiteres Beispiel sind Entwurmungsprogramme, die die Nahrungsmittelaufnahme von Kindern verbessern und deren Immun‐ system stärken. Ein Programm in Kenia hat in Schulen kostenlose Medikamente gegen den Wurmbefall angeboten. Die Zahl der Kinder, die nicht zur Schule gingen, nahm dort um 25 % ab (Miguel und Kremer 2004). Wurmkuren kosten etwa 0,50 US$ pro Kind und sind somit eine kosteneffektive Maßnahme, um die Gesundheit der Kinder zu steigern und gleichzeitig die Beteiligung am Unterricht und die Schulleistung zu erhöhen (Muralidharan 2017). 5.6.2 Warum sterben Menschen immer noch an Malaria? Malaria kann zum einen mit einer geeigneten Prävention (vgl. Box 5.3) vermieden werden. Aber auch im Fall einer Infektion müssten die meisten 5.6 Gesundheit 225 <?page no="226"?> Menschen nach heutigem medizinischem Wissensstand bei adäquater me‐ dikamentöser Behandlung nicht daran sterben. Was ist das Problem? Das dritte der 2015 verabschiedeten Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) fordert, ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters zu gewährleisten, einschließlich des Zugangs zu Gesundheitsdiensten, zu sicheren, wirksamen, und bezahlbaren Arzneimitteln und Impfstoffen und der Absicherung gegen finanzi‐ elle Risiken, die durch Krankheit entstehen. Dies ist eine ambitionierte Zielsetzung für viele Länder in Sub-Sahara Afrika angesichts der heutigen Ausgangslage (vgl. Tab. 5.3). Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Anzahl der Ärzte in LICs beträgt ein Zehntel derer in HICs. Nur 60 % der Frauen in LICs bringen ihr Kind unter ärztlicher Betreuung zur Welt und nur 75 % der Kinder werden binnen der ersten beiden Lebensjahre gegen Masern geimpft. In 41 von 135 Staaten kommt auf eine Million Einwohner nicht einmal ein Gerät zur Durchführung einer Computertomografie (WHO 2016a) - im Gegensatz zur Schweiz mit ca. 34 Geräten auf eine Million Einwohner. Tab. 5.3: Zugang zur Gesundheitsversorgung LICs MICs HICs Anzahl Ärzte (pro 1.000 Personen, 2013) 0,3 1,3 3,0 Geburten mit Hilfe von ausgebildetem Personal (% an allen Geburten, 2014) 58,6 82,9 99,0 Impfung gegen Masern (% Kinder zwi‐ schen 11 und 23 Monaten, 2017) 75,1 86,1 93,6 Öffentliche Ausgaben für Gesundheit (internationale $ pro Person, 2016) 93 588 5.600 Öffentliche Ausgaben für Gesundheit in % des BIP (2016) 1,3 2,8 10,1 Quelle: Weltbank (2019) Grund für diese Missstände sind zum einen die fehlenden finanziellen Ressourcen. Regierungen in LICs und MICs investieren durchschnittlich lediglich 2 % des BIP (93 resp. 588 internationale $ pro Person) in den Gesundheitssektor, im Vergleich zu 10 % (5.600 internationale $ pro Kopf) in HICs (vgl. Tab. 5.3). Hinzu kommt, dass die Gesundheitssysteme in LICs vor 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 226 <?page no="227"?> einer doppelten finanziellen Belastung stehen, die darauf zurückzuführen ist, dass die Zahl der nicht-übertragbaren Krankheiten, vor allem die Zahl der Verkehrsunfälle, zunimmt, während die Morbidität und Mortalität aufgrund übertragbarer Krankheiten weiterhin hoch ist (Maher et al. 2010). Aktuell werden etwa 30 % der Ausgaben für den Gesundheitssektor in LICs durch externe Ressourcen wie die öffentliche Entwicklungszusammen‐ arbeit finanziert (vgl. Kapitel 8). Einen mindestens genauso großen, wenn nicht sogar höheren Anteil an den Gesundheitskosten trägt die Bevölkerung selbst. Der Anteil der sogenannten „Out-of-Pocket“-Ausgaben an den totalen Gesundheitsausgaben, die für die Behandlung von Krankheiten bezahlt werden müssen, liegt in LICs und MICs bei knapp 40 %, im Vergleich zu etwa 10 % in HICs. In Sub-Sahara Afrika liegt der Anteil der Bevölkerung, die eine Krankenversicherung abgeschlossen hat, bei weniger als 10 %. Von finanzieller Absicherung gegen Krankheitskosten sind die meisten armen Länder also noch weit entfernt (vgl. Kapitel 4.4.3). Abgesehen von einer angemessenen Finanzierung ist ein funktionieren‐ des Gesundheitssystem eine komplexe Angelegenheit, dessen Aufbau sehr hohe personelle und institutionelle Anforderungen stellt: ein Logistiksystem, das es ermöglicht, Medikamente, Impfstoffe und Tech‐ nologien nach Bedarf in abgelegene Regionen zu verschicken (unter Ein‐ haltung der notwendigen Kühlketten), eine ausreichende Anzahl an gut ausgebildeten Ärzten, ein funktionierendes Versicherungssystem (vgl. Kapitel 4.4.3), gut ausgestattete Gesundheitsstationen und Krankenhäuser sowie eine Regierung, die gewillt und fähig ist, stetig Anpassungen und Verbesserungen vorzunehmen. Dass all diese Voraussetzungen erfüllt sein müssen und finanzielle Ressourcen nur notwendig, aber nicht hinreichend sind, zeigen viele Beispiele erfolgreicher Gesundheitsinterventionen in LICs (Levine und Kinder 2004). Generell stehen LICs vor vielfältigen Schwierigkeiten, wenn es um die Umsetzung eines funktionierenden Gesundheitssystems geht. Ein Beispiel ist der nicht nur limitierte, sondern auch kostspielige Zugang zu Medika‐ menten. Selbst die Preise für die billigsten Generika liegen in LICs teilweise erheblich über dem internationalen Referenzpreis; im Kongo, den Philippi‐ nen und Moldawien beispielsweise um bis zu 400 % (WHO-GHO 2017). Derartig hohe Preisabweichungen sind auf ein geringes Angebot (und eine hohe Nachfrage) aufgrund logistischer Probleme und auf intransparente Märkte aufgrund fehlender Informationen zurückzuführen. Wären Pharma‐ 5.6 Gesundheit 227 <?page no="228"?> unternehmen bereit, Sonderfreigaben von Medikamenten zuzulassen, die eine Produktion in LICs ermöglichen, könnte dies die Kosten reduzieren und das Angebot erhöhen. Ein anderer Weg wären internationale Abkommen über stark subventionierte Verteilung von Medikamenten in den ärmsten Ländern. Eine weitere Schwierigkeit hinsichtlich der Verfügbarkeit der in LICs not‐ wendigen Medikamente sind die geringen Anreize der Pharmaindustrie, überhaupt in die kostspielige und unsichere Forschung und Entwicklung von Medikamenten zu investieren, die speziell für tropische und ärmere Länder von Relevanz wären. Ökonomisch betrachtet sind die Märkte in LICs nicht attraktiv, da sie entweder zu klein sind oder die Menschen über eine zu geringe Kaufkraft verfügen (Berndt et al. 2007). Der von Bill und Melinda Gates gegründete Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria adressiert diese Problematik, indem Gelder speziell für die Erforschung der Medikamente gesammelt werden, die LICs benötigen. Eine weitere Möglichkeit sind sogenannte Advance Market Commitments (AMC), bei denen Regierungen oder Hilfsorganisationen einen marktbasierten Anreiz schaffen, in die Forschung und Entwicklung neuer Impfstoffe zu investieren. Im Rahmen eines AMC verpflichten sich Regierungen oder Hilfsorganisationen in rechtlich bindender Weise, einen noch nicht verfügbaren Impfstoff zu im Voraus definierten Konditionen zu kaufen. Gut ausgebildetes und in ausreichender Zahl vorhandenes Fachpersonal stellt eine weitere große Herausforderung dar. Es sind sowohl Investitionen in die Ausbildung des Personals notwendig als auch finanzielle und institu‐ tionelle Anreize, im eigenen Land tätig zu bleiben (vgl. Kapitel 7.7.3) sowie in abgelegenen Gebieten tätig zu werden. Letztlich ist es zentral, nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Gesundheitsdienstleistungen sicherzustellen. Eine immer wichtigere Rolle wird in dieser Hinsicht auch die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) einnehmen. Mobiltelefone, Online-Dienste und auch Künstliche Intelligenz (KI) können zum Beispiel verwendet werden, um Informationen über eine Impfkampagne zu verbreiten (z. B. durch einen SMS-Service), Diagnosen präziser zu stellen (auch durch weniger ausgebildetes Personal) und die Verbreitung von Krankheiten zu verfolgen (WHO 2019). 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 228 <?page no="229"?> 5.6.3 Gesundheit und Wirtschaftswachstum Verbesserungen der Gesundheit und des ökonomischen Wohlstands können sich gegenseitig beeinflussen. Der Demograf Samuel Preston zeigt in der nach ihm benannten Preston-Kurve einen positiven Zusammenhang zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen und der Lebenserwartung (Preston 1975). In Abb. 5.11 lässt sich gut erkennen, dass dieser Zusammenhang nicht linear ist: Mit zunehmendem Einkommen nimmt der Zuwachs an Gesundheit (gemessen an der Lebenserwartung) ab. Das bedeutet einerseits, dass ärmere Länder mit Wirtschaftswachstum, das zu einem etwas höherem Einkommen führt, eine deutliche Steigerung der Gesundheit realisieren können. Andererseits kommt es ab einem bestimmten Einkommen - in Abb. 5.11 bei etwa 40.000 internationalen $ pro Kopf - kaum noch zu Zuwächsen in der Lebenserwartung. Fraglich ist, in welche Richtung der kausale Zusammenhang verläuft. Folgt auf ein höheres Einkommen eine bessere Gesundheit oder sind ge‐ sunde Menschen produktiver und kurbeln das Wirtschaftswachstum an? Steigendes Einkommen führt zu besserer Gesundheit: Hat eine Familie oder auch eine Gesellschaft ein höheres Einkommen zur Verfügung, steigen die Ausgaben für Güter und Dienstleistungen, die die Gesundheit verbessern. Zum Beispiel können Familien mit einem höheren Einkom‐ men sich vielseitiger ernähren, werden seltener krank und können sich zudem einen Arztbesuch leisten. Auf staatlicher Ebene kann mit höheren Steuereinnahmen (vgl. Kapitel 4.2) in die medizinische Infrastruktur, die Ausbildung und die Gehälter der Ärzte sowie in Dienstleistungen des Gesundheitssektors investiert werden (Anyanwu und Erhijkpor 2009). Be‐ rechnungen zufolge führt ein Einkommenswachstum um 10 % zu einer zweibis vierprozentigen Reduktion der Kindersterblichkeit (Pritchett und Sumners 1996). Andere Gesundheitsindikatoren weisen jedoch nur eine schwache Korrelation mit dem Wirtschaftswachstum auf. Dies gilt beispielsweise für die Unterernährung (vgl. Box 5.4). Ein fünfprozentiger Anstieg im Pro-Kopf-Einkommen reduziert die Wahrscheinlichkeit, im Kindesalter unterernährt zu sein, um weniger als 0,3 % (Vollmer et al. 2014). Neben wirtschaftlichen Aspekten beeinflussen folglich weitere Faktoren den Gesundheitszustand einer Bevölkerung. Speziell zur Bekämpfung der Unterernährung sowie der Kinder- und Müttersterblichkeit zählen dazu unter anderem Impfkampagnen sowie die qualitative Verbesserung der vorgeburtlichen und postnatalen Versorgung. Schließlich bedarf es Investi‐ 5.6 Gesundheit 229 <?page no="230"?> tionen in Technologien, die den Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen verbessern. Auch diese tragen maßgeblich dazu bei, wie gesund Menschen leben können (Fink et al. 2011, Cutler et al. 2006). Abb. 5.11 Quelle: Weltbank (2019) 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 0 50.000 100.000 150.000 Lebenserwartung bei Geburt (in Jahren) BIP pro Kopf, KKP (2011 konstante internationale $) Abb. 5.11: Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Einkommen Quelle: Weltbank (2019) Bessere Gesundheit führt zu steigenden Einkommen: Auf der anderen Seite können gesündere Menschen ein höheres Einkommen erwirtschaf‐ ten. Gesunde Menschen sind oft ökonomisch leistungsfähiger als kranke Menschen. Gesunde Kinder lernen besser (vgl. Box 5.5). Ihre Verdienstmög‐ lichkeiten nach der Schule sind dementsprechend größer. In Ländern aller Einkommenskategorien lässt sich daher beobachten, dass Menschen, die gesünder sind, auch ein höheres Einkommen erzielen (Bloom und Canning 2000). Familien, die von Krankheiten betroffen sind, tragen zusätzlich zu geringeren Einkommen noch eine enorme ökonomische Last, vor allem in LICs. Sie müssen die Medikamente und Behandlungskosten oft zu einem großen Teil selbst finanzieren (vgl. Kapitel 5.6.2). Kinder von kranken Eltern können die Schule nicht mehr besuchen, da sie arbeiten oder ein Familien‐ mitglied pflegen müssen. Gleichzeitig entstehen hohe gesamtwirtschaftliche 5 Bevölkerung, Bildung und Gesundheit 230 <?page no="231"?> Kosten durch eine geringere Beteiligung am Erwerbsleben, geringere Steu‐ ereinnahmen und steigende Gesundheitsausgaben für den Staat. Verständnisfragen: ■ Welche Herausforderungen entstehen durch die wachsende Weltbe‐ völkerung für eine globale nachhaltige Entwicklung? ■ Afrikas demografischer Übergang: ökonomische Dividende oder Ka‐ tastrophe? ■ Welche konzeptionellen und praktischen Probleme treten bei der Messung von Unterernährung auf ? ■ Welche Herausforderungen müssen bei der Schaffung eines (verbes‐ serten) Zugangs zu Gesundheitsversorgung für arme Menschen be‐ wältigt werden? ■ Welche politischen Empfehlungen würden Sie abgeben, damit ein besserer Zugang zu Bildung zu mehr Entwicklung führen kann? Literatur Anyanwu, J.C.; Erhijakpor, A.E.O. (2009). Health expenditures and health outcomes in Africa. African Development Review 21(2): 400-433. Ashraf, N.; Erica, F.; Lee, J. (2014). Household bargaining and excess fertility: An experimental study in Zambia. American Economic Review 104(7): 2210-2237. Altinok, N.; Angrist, N.; Patrinos, H.A. (2018). 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Das zeigt sich auch an der großen Bedeutung, die dem Schutz natürlicher Ressourcen und der Reduktion von Treibhausgasen und anderen Schadstoffen in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Natio‐ nen (Sustainable Development Goals, SDGs) zukommt (vgl. Kapitel 1.3.1). Die SDGs betonen die notwendige Verbindung der verschiedenen Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung - ökonomisch, sozial und ökologisch: Alle drei Dimensionen müssen berücksichtigt werden, wenn Entwicklung langfristig erfolgreich sein soll. Die Umweltprobleme, unter denen die Menschen in vielen Entwick‐ lungsländern zu leiden haben, sind gewaltig. Sie reichen von verseuchtem Trinkwasser über extreme Luftverschmutzung bis hin zu den Folgen des Klimawandels wie Ernteeinbußen und Unterernährung. Vor diesem Hinter‐ grund beschäftigt sich dieses Kapitel mit den folgenden Fragen: Worin bestehen die besonderen Probleme bei der Schaffung und Bewahrung von Umweltgütern? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Umwelt und Entwicklung? Welche nationalen und internationalen Maßnahmen können Umwelt‐ probleme verringern? 6.1 Spezielle Eigenschaften von Umweltgütern Umweltgüter wie frische Luft, stabiles Klima, sauberes Grundwasser und Artenvielfalt gehören zu den öffentlichen Gütern mit deren charakteristi‐ schen Eigenschaften von Nichtausschließbarkeit und Nichtrivalität. Bei diesen Gütern versagt der Markt als Optimierungsmechanismus zwischen Angebot und Nachfrage: Sie werden nicht in ausreichendem Umfang produ‐ ziert bzw. im Rahmen individueller Produktionstätigkeit oder beim Konsum geschädigt, ohne dass der Verlust für die Gesellschaft dabei berücksichtigt wird (negative externe Effekte) (vgl. Kapitel 3.2.2). Eine geeignete Koor‐ <?page no="239"?> dination durch den Staat oder andere Institutionen ist beim Umweltschutz somit besonders wichtig. Was dies genau bedeutet, hängt jedoch von der Frage ab, wie weitreichend die Probleme von Nichtausschließbarkeit und Nichtrivalität im Einzelfall sind. Nur einige Umweltgüter erfüllen die Kriterien von Nichtausschließbar‐ keit und Nichtrivalität in vollem Umfang, wie zum Beispiel ein Deich gegen Sturmfluten, der alle dahinterliegenden Anwesen schützt. Ein einzelnes Haus kann von dem Schutz nicht ausgeschlossen werden (Nichtausschließ‐ barkeit) und ein solcher Ausschluss - wenn er denn möglich wäre - würde außerdem niemandem nutzen (Nichtrivalität). Ähnlich ist es beim Klimaschutz, von dessen Nutzen sich ebenfalls niemand ausschließen lässt, was aber auch wiederum dem Nutzen der anderen keinen Abbruch tut. Wenn die beiden Kriterien von Nichtausschließbarkeit und Nichtrivalität vollumfänglich erfüllt sind, so spricht man von reinen öffentlichen Gü‐ tern. Daneben gibt es eine Reihe von Umweltgütern, bei denen die Kriterien nur teilweise erfüllt sind (unreine öffentliche Güter). Einige häufige Fälle werden im Folgenden erläutert. 6.1.1 Die Tragik der Allmende Viele natürliche Ressourcen gehören zu den unreinen öffentlichen Gütern. Durch Rivalität bei gleichzeitiger Nichtausschließbarkeit kommt es zu Übernutzung. Dieses Phänomen ist als Tragik der Allmende (Hardin 1968) in die Literatur eingegangen. Beispiele sind Überweidung und Überfischung. So lässt sich der Ausschluss vom Zugang zu einem fischreichen Gewässer zwar grundsätzlich bewerkstelligen; er ist aber teuer, weil er eine Mauer oder eine ständige Überwachung erfordern würde, und daher nur bedingt praktikabel. Rivalität in der Nutzung tritt bei einer kleinen Zahl von Fischern zunächst nicht auf; wenn die Zahl der Fischer jedoch groß ist, wird der Fischbestand insgesamt gefährdet und alle Fischer verlieren langfristig ihre Einkommensgrundlage. Dies gilt analog bei der Nutzung vieler anderer natürlicher Ressourcen. Als Allmendegüter bezeichnet man dementsprechend solche Güter, bei denen ein Ausschluss von der Nutzung nicht oder nur schwer möglich ist, bei deren Nutzung aber durchaus Rivalität besteht, zumindest ab einer gewissen Anzahl von Nutzern. Die „Tragik“ ergibt sich, weil der Einzelne keinen unmittelbaren Vorteil daraus hat, zugunsten der Gemeinschaft die eigene Nutzung des Gutes (z. B. Weideland oder Fischbestände) zu verringern. 6.1 Spezielle Eigenschaften von Umweltgütern 239 <?page no="240"?> Wenn alle entsprechend handeln, ist die Ressourcennutzung irgendwann nicht mehr nachhaltig, d. h., es wird mehr verbraucht, als von der Natur neu generiert werden kann. Somit schrumpfen die Bestände, das Naturkapital (vgl. Kapitel 2.1.4) sinkt, Produktion und Einkommen gehen zurück. Diese Situation kann nur durch geeignete Institutionen (vgl. Box 3.1) - gesetzliche Nutzungsregelungen oder anderweitig durchsetzbare Normen - vermieden werden. Hardin (1968) geht davon aus, dass nur die Privatisie‐ rung dieser Güter oder eine staatliche Regulierung hier Abhilfe schaffen kann. Allerdings ist Privatisierung (z. B. durch Eigentumsrechte) naturge‐ mäß schwierig, wenn tatsächlich Nichtausschließbarkeit vorliegt (wie z. B. bei sauberer Luft). Insbesondere in ärmeren Ländern versagt zudem häufig die staatliche Regulierung (vgl. Kapitel 3.2). Sofern die Allmendeproblematik allerdings nur eine relativ kleine Bevölkerungsgruppe betrifft (vgl. auch Ol‐ son 2004), z. B. eine Dorfgemeinschaft mit gemeinsam genutztem Weideland, lassen sich auch durch sozialen Druck gewisse gemeinschaftliche Normen durchsetzen. Verhaltensökonomische Studien zeigen immer wieder, dass Menschen durchaus zu Kooperation bereit sind und oft auch altruistisch handeln, vor allem, wenn ihnen die Partner persönlich bekannt sind (Ostrom 2010, Frey und Bohnet 1996). 6.1.2 Umweltexternalitäten Die Allmende ist nicht das einzige Beispiel für Umweltgüter, bei denen die Kriterien von Nichtausschließbarkeit und Nichtrivalität zwar nicht vollumfänglich, aber doch teilweise ausgeprägt sind. Wenn beispielsweise Haushalte im ländlichen Indien vom traditionellen Kochen mit Holz und Kuhdung auf Kochen mit sauberen Energieformen (z. B. mit Gaskochern) umsteigen, nützt dies in allererster Linie der eigenen Gesundheit; aber gleichzeitig verringert sich dadurch die Feinstaubbelastung und damit die Gefahr von Atemwegserkrankungen im ganzen Ort. Wie im Falle reiner öffentlicher Güter profitieren also andere mit, nur nicht in vollem Umfang. Entsprechend handelt es sich um positive externe Effekte. Analog kann man auch den Schaden durch Umweltbelastung betrachten. Wenn Unternehmen in Indonesien den Regenwald für den Palmölanbau roden, so erwirtschaften sie dadurch einen höheren Gewinn, aber gleichzei‐ tig schaffen sie negative externe Effekte durch Verlust der Biodiversität und erhöhten CO 2 -Ausstoß. Generell entsteht die Schadensverursachung typischerweise als Nebeneffekt anderer wirtschaftlicher Tätigkeiten; wei‐ 6 Umwelt und Entwicklung 240 <?page no="241"?> tere Beispiele sind der Schadstoffausstoß von Industriebetrieben oder des Autoverkehrs sowie die Boden- und Grundwasserverseuchung durch Müll‐ ablagerung oder fehlende sanitäre Anlagen. Gesellschaftlich optimales Handeln erfordert eine Internalisierung aller externen Effekte, d. h. die volle Einbeziehung aller entstehenden gesell‐ schaftlichen Kosten und Nutzen im Kalkül der privaten Entscheidungsträger (vgl. Kapitel 3.2.2). Wenn die Eigentumsrechte für die Umweltressourcen klar definiert sind und von Informations- und Transaktionskosten abgesehen werden kann (d. h. die entstehenden Kosten und Nutzen sind be‐ kannt und der Aufwand, um die relevanten Verhandlungspartner zu finden und sich mit ihnen auszutauschen, ist vernachlässigbar), dann ergibt sich nach Coase (1960) die optimale Lösung automatisch aus einer Verhandlung zwischen den Betroffenen (vgl. Box 6.1). Allerdings ist die Definition der Eigentumsrechte an Umweltgütern nicht einfach, und ob die Informations- und Transaktionskosten tatsächlich vernachlässigbar sind, hängt u. a. von der Zahl relevanter Verhandlungspartner ab. Box 6.1 | Coase-Theorem Das nach dem Wirtschaftsnobelpreisträger von 1991 Ronald Coase be‐ nannte Theorem zeigt, dass die Internalisierung externer Effekte durch Verhandlungen erreicht werden kann. Dadurch wird ein sogenanntes Pareto-Optimum (benannt nach dem Soziologen und Ökonomen Vilf‐ redo Pareto) erreicht. Ein solches soziales, d. h. gesamtgesellschaftliches Optimum ist definiert als Situation, in der niemand mehr bessergestellt werden kann, ohne einen anderen schlechter zu stellen. Coase (1960) zeigt, dass in einem solchen Optimum die Grenzvermeidungskosten des Schädigers dem Grenznutzen der Schadensvermeidung entsprechen müssen und dass genau dies im Interesse aller Verhandlungspartner ist (Abb. 6.1). 6.1 Spezielle Eigenschaften von Umweltgütern 241 <?page no="242"?> Abb. 6.1: Verhandlungslösung bei Umweltschäden Grenznutzen (GN) der Grenzvermeidungs- Schadensvermeidung kosten (GK) GK 0 S 0 S* Schadensvermeidung (S) GN* GK* GN 0 GN: Nutzen der Reduktion des Schadens um eine Einheit GK: Kosten der Reduktion des Schadens um eine Einheit Abb. 6.1: Verhandlungslösung bei Umweltschäden Im Beispiel der obigen Abbildung ist die optimale Schadensvermeidung durch S* gekennzeichnet. Die dabei entstehenden Grenzkosten der Schadensvermeidung sind GK* und der Grenznutzen ist GN*. Bei gerin‐ gerer Schadensvermeidung (S 0 ) ist die Situation suboptimal, weil dem Geschädigten eine Reduktion des Schadens größeren Nutzen bringt, als sie dem Verschmutzer an Kosten verursacht (GN 0 >GK 0 ). Das Optimum wird erreicht, wenn der Verschmutzer eine dem Schaden entsprechende Ausgleichszahlung machen muss, die ihn zwingt, den Nutzenverlust des Geschädigten in sein Entscheidungskalkül einzubeziehen (z. B. durch Verpflichtung zum Kauf von Emissionsrechten). Ebenso wird es erreicht, wenn der Geschädigte den Verschmutzer dafür bezahlt, umweltfreund‐ licher zu produzieren (z. B. Preisaufschlag bei Bioprodukten). Bei einer größeren Zahl von Verhandlungspartnern (beispielsweise bei vie‐ len durch Umweltschäden betroffenen Personen) sind die Informations- und Transaktionskosten zu hoch und es bedarf institutioneller Regelungen, die über die Festlegung der Eigentumsrechte hinausgehen. In diesem Fall kann 6 Umwelt und Entwicklung 242 <?page no="243"?> der Staat beispielsweise eine Ökosteuer erheben, um die Verschmutzer zu zwingen, gesellschaftliche Kosten in ihr Optimierungskalkül einzubeziehen. Diese Ökosteuer entspricht der in Kapitel 3.2.2 diskutierten Pigou-Steuer. 6.2 Lokale, nationale und globale Umweltprobleme Externalitäten und öffentliche Güter können auf lokaler, nationaler, regionaler oder auch globaler Ebene bestehen. Daneben können auch lokale Externalitäten auf internationaler Ebene Bedeutung gewinnen, bei‐ spielsweise wenn Schadstoffe exportiert werden. Die politische Ebene, auf der die Koordination der Interessen stattfindet, sollte idealerweise der Ebene entsprechen, auf der die Externalitäten auftreten. Auf dieser Ebene sollten auch die entsprechenden institutionellen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um Externalitäten zu internalisieren. 6.2.1 Nationale Umweltprobleme Bei nationalen oder auch lokalen Umweltproblemen bleiben die negativen Auswirkungen auf die Menschen innerhalb eines Landes oder auf Teile eines Landes beschränkt. Neben den Problemen der Ressourcenübernut‐ zung (beispielsweise bei der in Kapitel 6.1.1 beschriebenen Tragik der Allmende) gibt es eine Reihe weiterer Beispiele für Umweltprobleme sowohl im ländlichen als auch im städtischen Bereich. Aufgrund zunehmender Urbanisierung (vgl. Kapitel 1.4.3) sind dabei inzwischen die Probleme in den Städten in den Vordergrund gerückt. Städte haben in vielen Ländern in den letzten Jahrzehnten eine erhebliche wirtschaftliche Dynamik entfaltet. Dabei fehlt es jedoch häufig an einer sinnvollen Infrastrukturplanung. Die städtische Bevölkerung nimmt rapide zu, ohne dass eine Anbindung neuer Siedlungen an geeignete Sys‐ teme der Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung gewährleistet wäre. Die Entsorgung von Abfall und Abwasser bleibt oft ebenfalls unberücksichtigt. In einigen Ländern mit hoher Korruption gilt das nicht nur für das Wachstum von Slums (vgl. Kapitel 1.4.3), sondern auch für teure moderne Wohnanlagen, deren neue Besitzer sich dann mit privat finanzierten Behelfs‐ lösungen Auswege suchen. Gleichzeitig führt die Korruption dazu, dass auch gesetzliche Vorschriften für neue Bauvorhaben nicht eingehalten werden - mit erheblichen Sicherheitsrisiken für die Bevölkerung, beispielsweise wenn 6.2 Lokale, nationale und globale Umweltprobleme 243 <?page no="244"?> die Stabilität oder die Feuersicherheit der Gebäude nicht gewährleistet ist. Darüber hinaus entsteht oft ein Wirrwarr neuer Straßen und Stadtviertel, die vom öffentlichen Nahverkehr nicht erreicht werden und bei denen selbst lokale Taxifahrer die Übersicht verlieren, was zum ohnehin bestehenden Verkehrschaos beiträgt. Die indische Millionenstadt Gurugram (früher Gur‐ gaon) im Süden der Metropole Delhi ist ein Beispiel eines solchen Mangels an Planung und Organisation (vgl. Box 6.2). Box 6.2 | Das Singapur Indiens - ohne Abwassersystem Gurgaon wuchs von 1991 bis 2011 um mehr als das Zehnfache von 121.000 auf 1,5 Mio. Einwohner. 2013 hatte bereits die Hälfte der Fortune-500-Unternehmen Standorte in Gurgaon, was zahlreiche hoch‐ qualifizierte Arbeitskräfte anzog. Der wirtschaftliche Aufschwung und die eindrucksvolle Skyline mit ihren zahlreichen Luxus-Hochhäusern brachten der Stadt bald den ruhmvollen Titel des Singapurs Indiens ein. Doch die Infrastrukturplanung konnte mit der wirtschaftlichen Entwicklung nicht mithalten (Rajagopalan und Tabarrok 2014). Stattdes‐ sen wurde improvisiert: Diesel-Generatoren sorgten für Strom, Straßen wurden ohne zentrale Planung von privaten Bauunternehmen gebaut und Grundwasser ohne Genehmigung angezapft. Bis heute hat Gurgaon kein Abwassersystem - stattdessen wird Abwasser von privaten Firmen in Tanks gesammelt, chemisch behandelt und anschließend in Flüssen entsorgt. Auch die unzureichende Wasserversorgung gerät regelmäßig in die Schlagzeilen (Doshi 2016). Beobachter befürchten, Gurgaon könne langfristig „am eigenen Abwasser ertrinken“ (Bouissou 2012). Gurgaon ist kein Einzelfall. Ähnliche Probleme gibt es in weiten Teilen der Welt. Monney et al. (2013) diskutieren den Fall des westafrikanischen Landes Ghana, wo zwischen 2003 und 2008 die städtische Bevölkerung von 8,3 auf 11,5 Millionen anstieg. Dabei erhöhte sich der Anteil der Slumbewohner überpropor‐ tional von 26 % auf 45 %. Millionen armer Menschen ließen sich in informellen Siedlungen ohne jegliche Infrastruktur an den Stadträndern nieder. Besonders drastisch war die Situation in Ghanas Hauptstadt Accra, wo 2008 etwa zwei Drittel der 2,5 Mio. Bewohner in Slums lebten. So standen in Old Fadama, dem größten Slum Accras, fast 80.000 Bewohnern Mitte der 2000er Jahre lediglich 635 Latrinen zur Verfügung. Für das Abwasser gab es zwar Abflusskanäle, diese waren jedoch oftmals undicht oder mit Abfall verstopft, so dass große Mengen 6 Umwelt und Entwicklung 244 <?page no="245"?> in die Lagune flossen, die durch den Slum verläuft. In Wasserproben wurden im Vergleich zum Richtwert der nationalen Umweltbehörde bis zu 90-fach erhöhte Konzentrationen von einzelnen organischen Nährstoffen sowie hohe Mengen an Kolibakterien gefunden. Das Wasser wies damit für jegliches Leben toxische Werte auf (Monney et al. 2013: 718f.). Dabei gehört Ghana innerhalb von Sub-Sahara Afrika nicht nur zu den wirtschaftlich prosperierenden, sondern auch zu den Ländern mit guter Re‐ gierungsführung. Dennoch war die Regierung auch in Ghana den massiven Herausforderungen der schnellen Urbanisierung nur bedingt gewachsen und konnte erhebliche Umweltschäden und die damit einhergehenden gesundheitlichen Belastungen nicht verhindern. In vielen Entwicklungsländern nimmt zudem auch auf dem Land die Um‐ weltverschmutzung zu. Trotz der zunehmenden Urbanisierung lebt dort im‐ mer noch der größte Teil der Armen. Menschen, die von der Landwirtschaft leben, sind ganz besonders auf den Erhalt natürlicher Ressourcen wie Vege‐ tation, Land und Wasser angewiesen. Auf dem Land werden Umweltschäden allerdings häufig weniger wahrgenommen, da sie weniger gut sichtbar sind als der Müll oder die Industrieabgase in den Städten. Zum Teil werden sie sogar von Regierungsstellen bewusst verdrängt, da die Leidtragenden nur über geringen politischen Einfluss verfügen (vgl. Kapitel 3.3). So behauptete das chinesische Landwirtschaftsministerium bis vor wenigen Jahren, dass die Landwirtschaft lediglich für einen verschwindenden Anteil an der Umweltverschmutzung des Landes verantwortlich sei (Watts 2010). Bei einer umfassenden Bestandsaufnahme im Jahr 2010 stellte sich jedoch die Verschmutzung der Gewässer als doppelt so hoch wie zuvor angenommen heraus, wobei der landwirtschaftliche Sektor sich für 67 % des Phosphor- und 57 % des Stickstoffgehalts verantwortlich erwies (gem. Ministerium für Umweltschutz der Volksrepublik China, Online Bericht, inzwischen nicht mehr verfügbar). Der übermäßige Dünger- und Pestizidverbrauch der chinesischen Bauern war damit die größte Wasserverschmutzungsquelle, noch vor den Fabrikabwässern der Großindustrie. Auch Entscheidungen über die angebauten Feldfrüchte können eine über die einzelnen Produzenten hinausgehende Relevanz für die Umwelt besitzen. Monokulturen, die kurzfristig höheren Ertrag versprechen, ver‐ ringern vielerorts die biologische Vielfalt, was zu höherer Anfälligkeit für Schädlingsbefall und klimatische Extremereignisse führt. Wenn die angebauten Sorten nicht variiert werden, kommt es zudem zu Nährstoffver‐ lusten, was wiederum zu erhöhtem Düngemittelbedarf führt. Eine solche 6.2 Lokale, nationale und globale Umweltprobleme 245 <?page no="246"?> Entwicklung der Produktion wird oft begünstigt durch eine mangelhafte In‐ formation der Verbraucher über den Nährstoffgehalt der unterschiedlichen Sorten sowie durch - oft durch Werbung unterstützte - soziale Normen über eine vermeintlich „moderne“ Ernährung. In einigen Ländern Sub-Sahara Afrikas wird heute versucht, dieser Entwicklung durch die Aufklärung über gehaltvolle und resistente indigene Sorten entgegenzutreten (Krause et al. 2017). Staatliche Stellen können für die Erarbeitung und Verbreitung zuverlässiger Informationen sorgen und zudem durch finanzielle Anreize die Bauern dazu bewegen, die negativen Externalitäten ihrer Produktions‐ tätigkeit bei ihren Anbauentscheidungen zu berücksichtigen. Häufig sind Regierungen jedoch nicht willens oder in der Lage, einen geeigneten wirtschaftlichen Handlungsrahmen vorzugeben. Oft führen Partikularinteressen innerhalb der Regierung oder ihrer Administration sowie die Einflussnahme politisch relevanter Interessengruppen (vgl. Kapitel 3.5.2) sogar zu Entscheidungen, die die Umweltschäden erhöhen. So erreichte in Indien die mächtige, von großen Landbesitzern dominierte Agrarlobby eine so starke Subventionierung des elektrischen Stroms, dass elektrische Pumpen in großem Stil zur Bewässerung von umfangreichen Ländereien eingesetzt werden konnten. Das führte vielerorts zu einem Absinken des Grundwasserspiegels, was die Lebensbedingungen der ärme‐ ren Bevölkerungsschichten erheblich verschlechterte. Diese haben häufig keinen Zugang zu Elektrizität und können daher von den Subventionen nicht profitieren. Gleichzeitig trocknen ihre eigenen Felder zunehmend aus und sie verlieren sogar den sicheren Zugang zu Trinkwasser (TERI 2012). Ein weiteres Problem für die Landwirtschaft ist die Kontamination durch industrielle Schadstoffe über Luft und Wasser. So sind etwa 20 % von Chinas Agrarböden mit organischen und anorganischen Chemikalien wie Blei und Arsen verseucht (Minter 2014). Neben der Gefahr, die dies für das lokale Ökosystem birgt, stellen belastete Lebensmittel von den verseuchten Böden ein massives Gesundheitsrisiko für die chinesische Bevölkerung dar. Auch wenn offensichtliche Kontamination durch Industrieabfälle vorliegt, sind Klagen der betroffenen Bevölkerung oft wenig erfolgversprechend (The Economist 2017), denn gerade den Armen auf dem Land fehlt der politische Einfluss (vgl. Kapitel 3.5). Wenn die notwendigen staatlichen Eingriffe dennoch erfolgen, kommen sie oft mit erheblicher Verzögerung (vgl. Box 6.3). Durch die unregulierte industrielle Tätigkeit gehen knappe landwirtschaftliche Ressourcen langfristig verloren. 6 Umwelt und Entwicklung 246 <?page no="247"?> Box 6.3 | Chinas unregulierte Industrieproduktion und ihre Folgen Chinas millionenschwere Plastikrecyclingindustrie hatte drei Jahr‐ zehnte lang ihren Sitz im ländlichen Kreis Wen’an. Seit 2011 verbieten neue Regulierungen die Kunststoffwiederverwertung an diesem Stand‐ ort. Doch die langjährigen, intensiven Recycling-Tätigkeiten mit rudi‐ mentären Mitteln haben einschneidende Spuren in der Region hinter‐ lassen. Nicht verwertbares Plastik wurde über Jahre im Freien verbrannt oder in Flüssen und Tümpeln entsorgt. Giftige Dämpfe aus den Fabriken gelangten ohne jegliche Filterung in die Luft. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung leidet an gesundheitlichen Folgewirkungen. Zudem ist zuvor fruchtbares Ackerland heute nicht mehr bewirtschaftbar und die einst fischreichen Ströme sind verseucht. Quelle: Minter (2014) Die oben genannten Beispiele zeigen, dass staatliche Behörden schon beim Schutz lokaler Umweltgüter häufig überfordert sind bzw. aus politischem oder finanziellem Eigeninteresse darauf verzichten, durch lokale oder nationale Institutionen dafür zu sorgen, dass die Verursacher von Um‐ weltschäden die vollständigen Kosten ihrer Tätigkeiten zu tragen haben. Korruption sowie ein Mangel an Ausbildung bei den öffentlichen Entschei‐ dungsträgern einerseits und fehlende Transparenz sowie fehlende politische Einflussmöglichkeiten der Betroffenen andererseits führen dazu, dass eine Internalisierung der Externalitäten nicht stattfindet. Gesundheitliche Schä‐ den für die Bevölkerung oder Umweltrisiken anderer Art werden zugunsten wirtschaftlicher und politischer Interessen Einzelner in Kauf genommen. Zudem ist das Interesse der Politiker vielfach eher einseitig auf kurzfristiges wirtschaftliches Wachstum ausgerichtet und die Bevölkerung nimmt das Ausmaß der damit verbundenen Probleme zunächst oft nicht wahr, so dass kaum politischer Druck entsteht. Auf diese Weise kommt es zu gravierenden Fehlentwicklungen mit den oben dargestellten Konsequenzen. Die Armen sind als Bevölkerungsgruppe mit besonders schlechtem Infor‐ mationszugang und mit den geringsten politischen Einflussmöglichkeiten in der Regel am stärksten betroffen (vgl. Kapitel 3.5) 6.2 Lokale, nationale und globale Umweltprobleme 247 <?page no="248"?> 6.2.2 Exportierte Umweltprobleme Im Kontext der Allmendeproblematik und auch bei der Darstellung des Coase-Theorems wurde bereits angesprochen, dass die Schwierigkeit, zu überzeugenden Lösungen zu kommen, von der Zahl und den sozialen Beziehungen innerhalb der Gruppe der Betroffenen abhängt. Bei kleinen Gruppen, innerhalb derer man sich kennt und das Verhalten der anderen jeweils beobachten kann, kommt es leichter zu Lösungen von Umweltproblemen als bei einer großen Zahl anonymer Geschädigter. Dies gilt schon innerhalb eines Landes. Man kann sich daher vorstellen, dass sich die Probleme noch verstärken, wenn die Umweltprobleme nicht auf einzelne Länder beschränkt bleiben. Neben Umweltschäden, die von vornherein grenzübergreifender Natur sind (vgl. Kapitel 6.2.3), können Umweltpro‐ bleme auch „exportiert“ werden und auf diese Weise eine internationale Dimension erhalten. Ein solcher Export von Umweltproblemen geschieht durch Auslage‐ rung von umweltschädlichen Produktionsprozessen oder durch Ver‐ schiffung von Industrieabfällen aus stärker regulierten wohlhabenden Ländern in weniger regulierte Entwicklungsländer. Dies lässt sich anhand des bereits genannten Beispiels der Recyclingindustrie in China verdeut‐ lichen. Das zu recycelnde Material stammt aus Produktionsprozessen in reicheren Ländern, die durch Verschiffung der Abfälle günstige Entsor‐ gungsmöglichkeiten finden und dabei von der mangelhaften Regulierung in China profitieren. Auch durch die Auslagerung von umweltschädigen‐ den Produktionsprozessen in weniger regulierte Länder können Produ‐ zenten ihre Kosten verringern (vgl. Kapitel 7.1). Die Länder mit schwacher Regulierung werden so zum Anziehungspunkt für umweltschädliche In‐ dustrien (Verschmutzungshafen-Effekt). Somit haben einige der bereits diskutierten lokalen Umweltprobleme in Entwicklungsländern letztlich eine internationale Ursache und es handelt sich eigentlich um Probleme reicherer Länder. Negative Externalitäten bei der Produktion industrieller Güter (wie bei‐ spielsweise elektronischer Geräte) werden in diesem Fall nicht internali‐ siert, sondern durch die Verschiffung der Abfälle internationalisiert. Teilweise setzen Regierungen in Entwicklungsländern sogar gezielt auf mangelhafte Regulierung als Strategie zum Anziehen umweltschädlicher Produktionstätigkeiten aus dem Ausland (Unterbietungswettkampf). Ein Beispiel sind die Schiffsabwrackwerften in Indien und Bangladesch. In 6 Umwelt und Entwicklung 248 <?page no="249"?> diesem Fall ergibt sich die Internationalisierung der negativen Externalitä‐ ten aufgrund einer unheilvollen Allianz von Produzenten in Hocheinkom‐ mensländern und einzelnen lokalen Profiteuren in Entwicklungsländern - implizit gebilligt von Verbrauchern in den reichen Ländern, die die günstigen Preise der Güter ungern hinterfragen. Wenn für Ölpalmplantagen allein in Asien (insbesondere in Indonesien und Malaysia) stündlich etwa eine Fläche von rund 300 Fußballfeldern Urwald abgebrannt oder gerodet wird, so ist dies ebenfalls weitgehend auf die Nachfrage nach günstigen Konsumgütern im reicheren Ausland zurückzuführen (Brot für alle und Fastenopfer 2017). Palmöl ist ein wesent‐ licher Bestandteil einer Vielzahl von Produkten von Schokolade, Backwaren, Pizza und Margarine über Waschmittel und Kerzen bis zu Futtermitteln. In deutschen, schweizerischen und österreichischen Supermärkten können entsprechende Produkte billig erworben werden, weil die Umweltkosten nicht in die Preise einbezogen werden. Davon abgesehen entspricht auch der Umfang des Ressourcenver‐ brauchs pro Kopf in vielen reicheren Ländern, wenn man ihn auf die Weltbevölkerung hochrechnet, einem Vielfachen der verfügbaren Ressour‐ cen. Das Konzept des ökologischen Fußabdrucks fasst den Ressourcen‐ verbrauch mit den damit verbundenen Umweltschäden zusammen. Dabei wird berechnet, welche Produktionsfläche gebraucht wird, um den Bedarf eines Landes zu decken und die entstehenden Abfälle zu neutralisieren (vgl. Abb. 6.2). 6.2 Lokale, nationale und globale Umweltprobleme 249 <?page no="250"?> Abb. 6.2: Ökologischer Fußabdruck Quelle: Goodwin und Burr (2012: 179) Abb. 6.2: Ökologischer Fußabdruck Quelle: Goodwin und Burr (2013: 179) Es ergibt sich, dass Länder wie die Schweiz, Deutschland oder Österreich pro Kopf etwa das Dreifache der global pro Person verfügbaren Umweltleis‐ tungen und -ressourcen konsumieren. In Ländern wie den USA, Kanada, den Vereinigten Arabischen Emiraten, aber auch Dänemark ist es sogar das Vierfache (Bundesamt für Statistik 2018). Die in Kapitel 1.5 dargestellte glo‐ bale Ungleichheit spiegelt sich also auch in der Nutzung der natürlichen Ressourcen. 6.2.3 Grenzüberschreitende und globale Umweltprobleme Im Gegensatz zu den oben genannten lokalen Umweltproblemen, die durch ausländische Konsumnachfrage, Produktionsverlagerung oder Abfallexporte eine internationale Dimension erhalten, gibt es auch Um‐ weltschäden, die von vornherein nationale Grenzen überschreiten. Beispiele sind die Verschmutzung grenzüberschreitender Gewässer, Luftverschmut‐ zung, die vom Wind in benachbarte Länder übertragen wird, oder die Zerstörung der Artenvielfalt (z. B. durch Abholzung von Regenwäldern) 6 Umwelt und Entwicklung 250 <?page no="251"?> 1 „Klimawandel“ und „Klimaveränderung“ werden im deutschen Sprachgebrauch häufig als Synonyme verwendet. Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Begriff „Klimawandel“ eher ein von außen gegebenes Phänomen suggeriert, während „Klimaveränderung“ stärker zum Ausdruck bringt, dass der Mensch selbst aktiv zu diesem Phänomen beiträgt. Mit der zum Teil stark politisch geprägten Begriffsbildung in diesem Bereich beschäftigt sich ein eigener Strang der wissenschaftlichen Literatur (vgl. Sprachkom‐ pass 2016). mit international bedeutsamen Folgen beispielsweise für die Entwicklung von Medikamenten oder für die Verhinderung von Schädlingsentwicklung. Unter der Schädigung globaler Umweltgüter haben Entwicklungslän‐ der selbst dann zu leiden, wenn sie keinerlei Mitverantwortung tragen. Das zentrale Beispiel hierfür ist die globale Klimaveränderung 1 , die neben einer Erwärmung der Erdatmosphäre zu einer Häufung an klimatischen Extremereignissen führt. Dazu gehören insbesondere Überschwemmungen, Dürren und Wirbelstürme. In vielen ärmeren Ländern ist der eigene Ausstoß der für den Klimawandel verantwortlichen Treibhausgase vernachlässig‐ bar. Einige aufstrebende Entwicklungsländer (Schwellenländer) haben zwar inzwischen einen erheblichen Anteil an den jährlich neu hinzukommenden Treibhausgasemissionen. Gemessen an den über die Jahre kumulierten historischen Emissionen, ist ihr Beitrag jedoch weiterhin gering. Zudem relativiert sich das Bild, wenn man im Sinne der Idee gleicher Verschmutzungsrechte für alle den CO 2 -Ausstoß pro Kopf anstelle der Gesamtemissionen eines Landes betrachtet. Selbst für China, dessen jährli‐ che Gesamtemissionen seit 2007 sogar diejenigen der Vereinigten Staaten übertreffen (was das Land zum weltweit größten Emittenten werden lässt), entspricht der CO 2 -Ausstoß pro Kopf eher der Größenordnung von Deutsch‐ land oder Österreich (7,5 t/ Kopf in China gegenüber 6,9 t in Österreich und 8,9 t in Deutschland, aber 16,5 t in den USA). In Indien, das häufig mit China in einem Atemzug genannt wird, liegen die Emissionen pro Kopf noch deutlich niedriger. Mit 1,7 t pro Kopf betragen sie nicht einmal die Hälfte des im europäischen Vergleich niedrigen Wertes von 4,4 t für die Schweiz (vgl. Abb. 6.3). 6.2 Lokale, nationale und globale Umweltprobleme 251 <?page no="252"?> Abb. 6.3: CO 2 -Ausstoß und BIP, pro Kopf 2014 Anmerkung: Achsen mit logarithmierter Skala. Quelle: Weltbank (2019) Liechtenstein Katar Schweiz Deutschland USA Österreich Südkorea Uruguay China Ecuador Indien Senegal Burundi 0,01 0,1 1 10 100 100 1.000 10.000 100.000 1.000.000 CO 2 -Emissionen (in t/ Kopf) BIP pro Kopf (in US$) Abb. 6.3: CO 2 -Ausstoß und Bruttoinlandsprodukt (BIP), pro Kopf 2014 Anmerkung: Achsen mit logarithmierter Skala. Quelle: Weltbank (2019) Bei globalen Umweltgütern ist es offensichtlich nicht ausreichend, wenn eine einzelne Regierung entsprechende Regulierungen erlässt. Stattdessen muss eine Einigung auf internationaler Ebene erfolgen. Da auch hier die Möglichkeit des Trittbrettfahrens besteht (vgl. Kapitel 3.2.2) und dar‐ über hinaus die Nutzen von globalen Umweltgütern oft unterschiedlich verteilt sind, ist es noch schwieriger, effiziente (d. h. gesamtwirtschaftlich optimale) Regelungen zu finden. Die Einigung wird auch dadurch erschwert, dass in jedem einzelnen Land verschiedene Interessengruppen auf die Verhandlungsposition ihrer Regierung Einfluss zu nehmen versuchen. Vor diesem Hintergrund haben in den letzten Jahrzehnten internationale Verhandlungen zu einer Vielfalt von Umweltthemen stattgefunden und zu einer großen Zahl an Abkommen geführt (vgl. Box 6.4) - mit unterschied‐ lichem Erfolg hinsichtlich der Stringenz der Zielvereinbarungen und der tatsächlichen Umsetzung der Ziele. Das Abkommen zur Verringerung der Fluorkohlenwasserstoffe (FCKW) (Montrealer Protokoll, 1987) und die verschiedenen Abkommen zur Entsorgung von Sondermüll und industriellen Abfällen werden allgemein als relativ erfolgreich angesehen. Bei Letzteren werden jedoch immer wieder erhebliche Verstöße aufgedeckt (Baldé et al. 2015, Huisman et al. 2015, Ludg‐ ren 2012). Und beim Montrealer Protokoll kann die Einigung weitgehend 6 Umwelt und Entwicklung 252 <?page no="253"?> darauf zurückgeführt werden, dass zum Zeitpunkt der Verhandlungen für die ozonzerstörenden FCKW bereits wirtschaftlich effiziente Ersatzstoffe gefunden worden waren (Benedick 1991). Box 6.4 | Internationale Umweltabkommen Das Datenbankprojekt zu internationalen Umweltabkommen der Uni‐ versität Oregon weist insgesamt über 1.300 multilaterale und 2.200 bi‐ laterale Umweltabkommen aus (einschließlich Änderungsabkommen). Zudem gibt es Abkommen mit anderen Schwerpunkten, die gleichzeitig umweltrelevante Regelungen beinhalten, beispielsweise im Handelsbe‐ reich, oder mit umfassenderen Zielen wie die Vereinbarung über die SDGs (vgl. Kapitel 1.3.1). Die Datenbank gliedert die verschiedenen Umweltabkommen anhand der folgenden, teilweise überlappenden Ka‐ tegorien: ■ Energie (v. a. Nuklearenergie und Wasserkraft) ■ Frischwasserressourcen (bei grenzüberschreitenden Flüssen und Seen) ■ Lebensraum (v. a. Tierschutz, oft bzgl. Walfang; Lärmschutz) ■ Natur (Naturschutz, oft verbunden mit Tier- und Pflanzenschutz) ■ Ozean (Verschmutzung durch Schifffahrt, Öl, Plastik; Überfischung) ■ Verschmutzung (Unterthemen: Luft, Land, Wasser, Abfall) ■ Artenschutz (Unterthemen: Landwirtschaft, Vögel, Fische, Säuge‐ tiere) ■ Waffen und Umwelt (derzeit ausschließlich Nuklearbereich) Quelle: Mitchell (2018) Im Bereich der internationalen Klimapolitik konnte - nach einem für viele Beobachter überraschend erfolgreichen Start mit dem 1997 beschlossenen Kyoto-Protokoll - für die Zeit nach 2012 keine verbindliche Zielverein‐ barung zur Minderung der Treibhausgasemissionen (Englisch: mitigation) mehr erzielt werden. Das Pariser Klimaabkommen von 2015 garantiert immerhin die Fortsetzung der internationalen Verhandlungen, aber es basiert allein auf nationalen Zielen, bei deren Nichteinhaltung keinerlei Konsequenzen vorgesehen sind und die darüber hinaus zum Teil an unrea‐ listisch hohe externe Finanzierungsforderungen geknüpft sind. 6.2 Lokale, nationale und globale Umweltprobleme 253 <?page no="254"?> Konfliktlinien bei den Verhandlungen bestehen zum einen zwischen verschiedenen Industriestaaten, die sich ihre Verantwortung für den Klima‐ wandel in unterschiedlichem Maße eingestehen. Dabei spielen unterschied‐ liche parteipolitische Ideologien der Regierungen ebenso eine Rolle wie die Macht emissionsrelevanter Wirtschaftssektoren und ihrer Lobby. So kommt es zu unterschiedlichen Positionen, wobei selbst die Vorreiter unter den Industrieländern derzeit nicht bereit sind, Ziele zu formulieren, die ehrgeizig genug wären, um auch nur annähernd das in Paris formulierte Gesamtziel einer Erderwärmung von unter 2°C zu erreichen. Zum anderen gibt es Konflikte zwischen der in der Klimarahmenkonven‐ tion definierten Gruppe der Industrieländer und den Schwellenländern, die trotz ihrer inzwischen erheblich angestiegenen Emissionen keine ver‐ bindlichen Minderungsziele annehmen wollen. Dabei verweisen sie darauf, dass man ihnen zumindest zunächst für die weitere wirtschaftliche Ent‐ wicklung dieselben Möglichkeiten zugestehen sollte, die auch von den Industrieländern über Jahrzehnte hinweg in Anspruch genommen wurden. An dieser Position zeigt sich deutlich, dass wirtschaftliche Entwicklung und Klimaschutz - bzw. Umweltschutz im Allgemeinen - nicht immer nur als komplementäre, sondern durchaus auch als konfligierende Ziele wahrgenommen werden. Auch innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer zeigen sich zuneh‐ mend unterschiedliche Positionen. Sie ergeben sich insbesondere aus einem unterschiedlichen Grad an Verwundbarkeit durch die globale Klimaver‐ änderung, aus dem jeweiligen Entwicklungsstand des Landes und aus der nationalen Industriestruktur (Michaelowa und Michaelowa 2018). Insbeson‐ dere die kleinen Inselstaaten, die wegen des durch die globale Erwärmung verursachten Meeresspiegelanstiegs den Verlust großer Landesteile oder gar den vollständigen Untergang befürchten müssen, verlangen auch von den Schwellenländern eine aktivere Klimapolitik. 6.3 Umweltschutz und Entwicklung: ein Zielkonflikt? Bestehen tatsächlich Zielkonflikte zwischen Umweltschutz und Entwick‐ lung oder sind diese Ziele komplementär? Das Zusammenspiel ist komplex, wobei einerseits die Entwicklung auf die Umwelt und andererseits die Umwelt auf die Entwicklung wirkt. Zudem kann sich der Zusammenhang im Laufe des Entwicklungsprozesses verändern. 6 Umwelt und Entwicklung 254 <?page no="255"?> 6.3.1 Komplementäre Ziele Die bisherige Diskussion hat gezeigt, welche erheblichen Probleme im Umweltbereich bestehen und wie sie die Lebens- und Entwicklungsmöglich‐ keiten der Menschen in Entwicklungsländern beeinträchtigen. Dabei zeigen sich Umweltschutz und wirtschaftliche Entwicklung als komplementäre Ziele: Erfolgreicher Umweltschutz verbessert die Entwicklungschancen, und eine sinnvolle Entwicklungsstrategie beinhaltet deshalb einen rück‐ sichtsvollen Umgang mit der Umwelt. Auch am Beispiel des Klimawandels lässt sich dies gut illustrieren, denn gerade die Ärmsten haben die größten Lasten zu tragen, wenn die entsprechende Politik versagt. Dies liegt insbe‐ sondere daran, dass viele arme Länder in geografischen Regionen liegen, die durch die Klimaveränderung besonders gefährdet sind. So wird in ohnehin warmen Ländern der weitere Temperaturanstieg zu besonders hohen Ern‐ teeinbußen führen. In der trockenen Klimazone der Sahelregion muss zudem mit einem weiteren Rückgang der Niederschläge gerechnet werden, obwohl diese in anderen Weltregionen zunehmen. Die zu erwartende stärkere Va‐ riabilität der Niederschläge ist ein weiteres Problem. Plötzlicher Starkregen kann von hartem, trockenem Boden nicht aufgenommen werden und führt zu Überschwemmungen, anstatt die Pflanzen mit der dringend benötigten Feuchtigkeit zu versorgen. Der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) geht davon aus, dass aufgrund der Kombination dieser Faktoren für Sub-Sahara Afrika bis Mitte des Jahrhunderts mit einem Rückgang der Maisernte um etwa 20 % und einem Rückgang der Weizenernte um etwa 35 % zu rechnen ist. Zunehmende Trockenheit wird zudem auch die Viehhaltung beeinträchtigen. Selbst bei anhaltend positiver wirtschaftlicher Entwicklung kann aus diesen Gründen für weite Teile Afrikas nicht mit einer Abnahme der Unterernährung (vgl. Kapitel 5.6.1) gerechnet werden (IPCC 2014). Neben der höheren Anfälligkeit für Klimarisiken ist in armen Ländern zudem die Fähigkeit zur Anpassung an die Klimaveränderung (Englisch: adaptation) geringer. Die Anpassungsfähigkeit hängt einerseits von den finanziellen Möglichkeiten, andererseits vom Bildungsstand der Be‐ völkerung, von der verfügbaren Technologie und von institutionellen Rahmenbedingungen ab. So werden in der Schweiz durch geeignete Infrastrukturmaßnahmen Ausbrüche von Gletscherseen verhindert, die große Schäden verursachen können. In dem touristisch bedeutenden Alpen‐ dorf Grindelwald wurden beispielsweise 15 Mio. SFr. für den Bau eines 6.3 Umweltschutz und Entwicklung: ein Zielkonflikt? 255 <?page no="256"?> Entwässerungsstollens ausgegeben, der Ausbrüche eines Sees im Vorfeld des zurückschmelzenden unteren Grindelwaldgletschers verhindern soll (Lehmann 2010). In Ländern des Himalaya wie Bhutan, Nepal, Pakistan und Indien, wo die Zahl gefährlicher Gletscherseen mit dem Rückgang der Gletscher stark zunimmt, kommen solch kostspielige Lösungen kaum in Frage. Die Entscheidung in Grindelwald wurde zudem aufgrund einer technisch aufwändigen Modellierung der weiteren Entwicklung des Glet‐ schers und der zu erwartenden Schäden aus Seeausbrüchen getroffen. Für solche Berechnungen ist ein umfangreiches Wissen notwendig, das in Entwicklungsländern oft noch nicht verfügbar ist (vgl. Kapitel 5.5). Auch im landwirtschaftlichen Bereich erlauben der höhere Bildungsstand und die bessere Technologie in reicheren Ländern häufig eine einfachere Umstellung auf geeignetes Saatgut und an den Klimawandel angepasste Landwirtschaftsmethoden. Abb. 6.4 zeigt die Verwundbarkeit unterschiedlicher Länder durch die globale Klimaveränderung. Der verwendete Index berücksichtigt die zu erwartenden negativen Auswirkungen in den Bereichen Nahrung, Wasser, Gesundheit, Ökosystemdienstleistungen, menschlicher Lebensraum und Infrastruktur. Sub-Sahara Afrika - und dort insbesondere die Länder der Sahelzone - sowie Afghanistan und eine Reihe anderer süd- und südostasia‐ tischer Länder sind demnach besonders gefährdet. Zusätzliche Probleme, die aufgrund finanzieller Engpässe, sozialer Ungleichheit und schlechter Regierungsführung im Umgang mit den Problemen des Klimawandels zu erwarten sind, werden in dem Index nicht einmal berücksichtigt. 6 Umwelt und Entwicklung 256 <?page no="257"?> Abb. 6.4: Gefährdung durch Klimaveränderung, 2017 Anmerkung: Hohe Werte des Verwundbarkeitsindex (obere Dezile) stehen für starke Gefährdung. Quelle: Notre Dame Global Adaptation Initiative (2019) Verwundbarkeits -index (Dezile) 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 Keine Daten Abb. 6.4: Gefährdung durch Klimaveränderung, 2017 Anmerkung: Hohe Werte des Verwundbarkeitsindex (obere Dezile) stehen für starke Gefährdung. Quelle: Notre Dame Global Adaptation Initiative (2019) Innerhalb der Entwicklungsländer sind typischerweise wiederum die ärmsten Bevölkerungsgruppen am stärksten vom Klimawandel betroffen und am we‐ nigsten anpassungsfähig. Familien aus höheren Einkommensgruppen leben normalerweise nicht in den Stadtteilen, die überflutet werden, und haben feste Häuser sowie die Möglichkeit, sich mit Kühlschrank und Klimaanlage auch bei hohen Temperaturen adäquate Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen. Sie haben zudem in der Regel weniger anfällige Berufe (ein Bauer ist stärker auf stabiles Klima angewiesen als ein Ingenieur) und können durch ihre bessere Ausbildung notfalls auch an neuen Orten und in anderen Berufsfeldern wieder einen Neueinstieg finden. Humankapital ist ein mobilerer Faktor als Sachkapital oder gar Land. Generell sind wohlhabendere Haushalte von Krisensituationen nicht nur weniger stark betroffen als arme Haushalte, sondern sie können sich auch schneller wieder erholen (vgl. Abb. 6.5). Die ärmsten Bevölkerungsgruppen verlieren hingegen in einer Krise oft ihre letzten Produktionsgüter - das letzte Stück Land oder Vieh - und kommen daher nie wieder auf das Wohl‐ standsniveau vor der Krise zurück (Dercon 2004). Man spricht in diesem Zusammenhang von der sogenannten Armutsfalle (vgl. Kapitel 8.4.1). Oft verschlechtert sich die ökonomische Situation der Betroffenen aufgrund der 6.3 Umweltschutz und Entwicklung: ein Zielkonflikt? 257 <?page no="258"?> fehlenden Produktionsmittel sogar nach der Krise noch weiter (Abwärts‐ spirale). Häufig sind Menschen dann auch gezwungen, Schulden zu hohen Zinsen bei informellen Geldverleihern auf sich zu laden, um zwischenzeit‐ lich das unmittelbare Überleben zu sichern; Versicherungsschutz besitzen sie fast nie (vgl. Kapitel 4.4.3). Abb. 6.5: Die besondere Betroffenheit der Armen bei Krisensituationen Quelle: Carter et al. (2007: 837); vereinfachte Darstellung Vermögenswerte Zeit Armutsfalle Reiche Haushalte Arme Haushalte Schock Bewältigung Erholung Abb. 6.5: Die besondere Betroffenheit der Armen bei Krisensituationen Quelle: Carter et al. (2007: 837); vereinfachte Darstellung Ein weiteres Argument für die Komplementarität von Umweltschutz und Entwicklung ist, dass arme Menschen aus wirtschaftlicher Not und Mangel an Alternativen häufig selbst zur Umweltzerstörung beitragen. Dies gilt zum Beispiel im Zusammenhang mit der Abholzung der tropischen Regen‐ wälder, die nicht immer auf große Konzerne, sondern teilweise auch auf einzelne Dorfgemeinschaften zurückzuführen ist. Diese gewinnen durch die Abholzung Ackerland oder zusätzliches Einkommen durch Holzverkauf. Am Beispiel Laos zeigen Nguyen et al. (2018) jedoch, dass gerade für die Ärmsten Holzschlag nur ein Mittel ist, um Ernteeinbrüche oder andere Schocks auszugleichen, da sie den Wald vorzugsweise für andere Produkte nutzen. Würde man diese Menschen vor der Krise bewahren, so käme es auch nicht zur Abholzung. 6 Umwelt und Entwicklung 258 <?page no="259"?> Umweltschutz kann zudem auch ein wirtschaftliches Potenzial mit sich bringen. Zum Beispiel trug die Entwicklung und Implementierung innova‐ tiver Methoden zur Regenerierung verwüsteten Ackerlandes zur Armutsre‐ duktion in Burkina Faso bei (Kaboré und Reij 2004). 6.3.2 Konfligierende Ziele Dass zwischen Umwelt- und wirtschaftlichen Entwicklungszielen auch Konflikte auftreten können, lässt sich am Beispiel der Abholzung weiter erläutern. So wurde für die frühen 2000er Jahre ein signifikant positiver Zusammenhang zwischen Städtewachstum und Entwaldung identifiziert. Die wachsende urbane Bevölkerung verfügt in der Regel über ein höheres Einkommen, was unter anderem die Nachfrage nach tierischen Produkten erhöht und mit der Schaffung von Weideland zu einer schnelleren Abhol‐ zung des Regenwaldes führt. Zudem werden die in die Städte ausgewander‐ ten Kleinbauern oft durch industrielle Landwirtschaftsbetriebe ersetzt, die keineswegs schonender mit dem Regenwald umgehen (DeFries et al. 2010). Es lassen sich eine Menge weiterer Bereiche nennen, in denen eher die wohlhabende Bevölkerung für Umweltzerstörung verantwortlich ist. Schwefeldioxidemissionen, Treibhausgasemissionen, Abgase durch Perso‐ nenverkehr und Müllaufkommen - all dies sind Beispiele für Umweltpro‐ bleme, die zumindest eine Zeitlang mit höherem Wohlstand zunehmen. Für den CO 2 -Ausstoß zeigt sich dieser Zusammenhang in Abb. 6.3 und Abb. 6.7. Analog ist die Situation bei Feststoffabfällen. Gemäß einer Weltbankstudie des Jahres 2018 beträgt die Müllproduktion pro Kopf in Sub-Sahara Afrika und Südasien (also in den ärmsten Ländern der Welt) nur etwa die Hälfte von derjenigen in Lateinamerika und diese wiederum beträgt weniger als die Hälfte von derjenigen in den USA. Insgesamt sind die Menschen in Niedrigeinkommensländern nur für 5 % des globalen Müllaufkommens verantwortlich (Kaza et al. 2018: 22, 27). Auch die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zeigen einige der Zielkonflikte zwischen Umwelt und Entwicklung auf. So wird im Rahmen von SDG 8 zu wirtschaftlichem Wachstum explizit auf die Notwendigkeit verwiesen, dieses Wachstum von seinem bisher üblichen negativen Einfluss auf die Umwelt zu entkoppeln (SDG 8.4). Es gilt also, neue Wege zu suchen, um ein Wachstum zu generieren, das nicht auf Kosten der Umwelt geht. 6.3 Umweltschutz und Entwicklung: ein Zielkonflikt? 259 <?page no="260"?> 6.3.3 Veränderungen im Entwicklungsprozess Bisweilen wird die Meinung vertreten, dass bei zunehmendem Einkommen langfristig die Umweltprobleme jedoch auch von selbst wieder zurückgehen könnten. In Anlehnung an die Überlegungen von Simon Kuznets (1955) zur Ungleichheit (vgl. Kapitel 2.2) wird für den Zusammenhang zwischen Pro-Kopf-Einkommen und Umweltverschmutzung ebenfalls ein umgekehrt U-förmiger Zusammenhang vermutet (umweltbezogene Kuznets-Kurve). Demnach würde mit zunehmendem Einkommen die Umweltverschmutzung zunächst steigen, dann aber wieder sinken (vgl. Abb. 6.6). Somit wäre zunächst ein Zielkonflikt zwischen Umweltschutz und wirtschaftlicher Entwicklung zu vermuten, später jedoch eine Komplementarität. Zur Begründung der umweltbezogenen Kuznets-Kurve lassen sich ver‐ schiedene theoretische Argumente heranziehen: Wenn in den Anfängen der Entwicklung der Schwerpunkt allein auf Wirtschaftswachstum gesetzt wird, geht dies zulasten der Umwelt. Im Laufe der weiteren Entwicklung werden jedoch die dadurch entstehenden Schäden deutlich. Zudem wertet die in ihren ökonomischen Grundbedürfnissen abgesicherte Gesellschaft den Nutzen der Umweltgüter höher als zuvor. Dadurch entsteht Druck für politischen Wandel. Häufig werden zudem im fortgeschrittenen Ent‐ wicklungsstadium neue, kostengünstigere technologische Lösungen ent‐ wickelt, die eine umweltfreundlichere Produktionstätigkeit ermöglichen. Abb. 6.6: Stilisierte Kuznets-Kurve im Umweltbereich Umweltverschmutzung Pro-Kopf-Einkommen Abb. 6.6: Stilisierte Kuznets-Kurve im Umweltbereich 6 Umwelt und Entwicklung 260 <?page no="261"?> Allerdings ist diese Argumentation nicht für alle Arten von Umweltgütern gleichermaßen plausibel. Während bei lokalen und nationalen öffentli‐ chen Gütern eine Reaktion der Bevölkerung auf eine starke Umweltbe‐ lastung wahrscheinlich erscheint - beispielsweise bei Luftverschmutzung durch Feinstaub, Stickoxide oder Schwefeldioxid -, ist diese bei der Schaf‐ fung globaler öffentlicher Güter wie dem Klimaschutz weniger zu erwar‐ ten. Sie ist eigentlich nur dann plausibel, wenn sich die Bevölkerung in irgendeiner Form auch für den von ihr im Ausland angerichteten Schaden verantwortlich fühlt. Dies hängt damit zusammen, dass das eigene umwelt‐ schädigende Verhalten nur zu einem Bruchteil im eigenen Land zu spüren ist. Tatsächlich gibt es, wenn man den Verlauf des Schwefeldioxidausstoßes in den heutigen Industrieländern betrachtet, einige empirische Belege für die Kuznets-Kurve (vgl. z. B. Stern 2004). Bei den global wirksamen Treib‐ hausgasemissionen hingegen flacht der Ausstoß mit hohem Einkommen nur sehr zögerlich ab (vgl. Abb. 6.3). Hinzu kommt, dass die allgemein verfügbaren Statistiken in diesem Bereich auf Produktionsdaten beruhen, was dazu führt, dass die Verant‐ wortung der Länder mit hohem Einkommen für den globalen CO 2 -Ausstoß eher unterschätzt wird. Dies hängt damit zusammen, dass ein relevanter Teil der von den heimischen Konsumenten genutzten emissionsintensiven Güter aus dem Ausland importiert wird (vgl. Kapitel 6.2.2). In der Schweiz ist die Situation besonders auffällig: Dort liegen die Treibhausgasemissionen für den nationalen Konsum um mehr als 50 % höher als die Emissionen durch die heimische Produktion ( Jungbluth et al. 2007: 11). Dasselbe Phänomen erklärt auch den niedrigen in Abb. 6.3 ausgewiesenen Wert für Liechtenstein. Auch andere Umweltschäden nehmen bei hohen Einkommen nicht wieder ab, wie die Kuznets-Kurve vorhersagen würde. Bereits erwähnt wurde die Müllproduktion, die mit dem Einkommen kontinuierlich zunimmt. Dies ist der Fall, obwohl die entsprechenden Umweltschäden lokaler Natur sind. Die mit zunehmendem Wohlstand einhergehende Veränderung der gesellschaftlichen Prioritäten und der entsprechende politische Druck führen hier nur dazu, dass der Abfall durch verbesserte Entsorgungssysteme oder Verschiffung ins Ausland schneller aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwindet. Generell mahnen empirische Studien zur Vorsicht bei der Generalisierung der Zusammenhänge (z. B. Stern 2004). Selbst bei Schadstoffen, deren Aus‐ stoß in der Vergangenheit dem Verlauf der Kuznets-Kurve zu folgen schien, zeigt sich heute oft eine andere Dynamik, z. B. durch den frühzeitigen Einbau 6.3 Umweltschutz und Entwicklung: ein Zielkonflikt? 261 <?page no="262"?> von SO 2 -Filtern bei Kraftwerken. Dabei wird deutlich, dass der Zusammen‐ hang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Umweltbelastung auch von außen beeinflusst werden kann - insbesondere durch Technologie‐ transfer, durch die Verbreitung von Information über Umweltschäden und durch die Unterstützung von politischen Reformen (Dasgupta et al. 2002). Internationale Abkommen können ebenso wie die Entwicklungs‐ zusammenarbeit (vgl. Kapitel 8) umweltfreundliche Entwicklungspfade un‐ terstützen. Um zu verstehen, welche Wege grundsätzlich möglich sind, ist es hilf‐ reich, die Erfahrungen einzelner Länder im Entwicklungsprozess genauer zu betrachten. Michaelowa und Michaelowa (2009) zeigen anhand einer vergleichenden Diskussion der Emissionspfade verschiedener Länder, wie spezifische Politikentscheidungen zu einer äußerst unterschiedli‐ chen Entwicklung des Treibhausgasausstoßes führen können. Während bei sehr niedrigem Entwicklungsniveau generell kaum Treibhausgase emittiert werden, ist in den Ländern mit mittlerem Einkommen eine frühzeitige politisch-institutionelle Weichenstellung von erheblicher Bedeutung, um Produktions-, Konsum- und Mobilitätsentscheidungen eine langfris‐ tige Orientierung zu geben und die Fehler der Industrieländer zu vermei‐ den. Viele an diesem Punkt getroffene Entscheidungen sind langfristiger Natur, wie beispielsweise die Anlage der (öffentlichen) Verkehrsinfrastruk‐ tur, die Stadtplanung, Investitionen in energieeffiziente Gebäude oder die Anschaffung von langlebigen Haushaltsgeräten wie Kühlschränken oder Klimaanlagen. Geeignete politische Weichenstellungen ermöglichen die Entkoppelung von CO 2 -Emissionen und Wirtschaftswachstum und damit grünes Wachstum - häufig mit Fokus auf neuen Technologien, z. B. im Bereich der Solarenergie (zum grünen Wachstum im Sinne eines ressourcenschonenden Wachstums, vgl. auch Kapitel 2.1.4). Abb. 6.7 stellt beispielhaft die CO 2 -Emissionspfade verschiedener fort‐ geschrittener Entwicklungsländer seit Mitte der 1980er Jahre dar. Dabei zeigt sich, dass China bei allen Einkommensniveaus einen deutlich höheren CO 2 -Ausstoß aufweist als die Vergleichsländer, was unter anderem auf die in diesem Land reichlich vorhandenen und intensiv eingesetzten Kohlevor‐ kommen, die dort aufgebaute Schwerindustrie und den mit wachsendem Einkommen zunehmend energieintensiven Konsum der Bevölkerung zu‐ rückzuführen ist. Thailand hat mit weitaus weniger CO 2 -Ausstoß ein ähnlich hohes Ein‐ kommensniveau erreicht. Schon in den 1990er Jahren wurde Thailand durch 6 Umwelt und Entwicklung 262 <?page no="263"?> seine innovativen Energieeffizienzprogramme bekannt. Das Land verfügt anders als China kaum über Kohlevorkommen und hat bei seiner Energie‐ versorgung von vornherein stark auf Wasserkraft gesetzt. Zudem wurde anstatt in Schwerindustrie in Industriezweige mit höherer Wertschöpfungs‐ intensität investiert (z. B. Zulieferer für Automobilindustrie und Computer‐ hardware). Der tunesische Emissionspfad liegt ab einem Pro-Kopf-Einkom‐ men von etwa 2.500 US$ noch unter dem thailändischen, was vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass das Einkommen vorwiegend in noch emis‐ sionsärmeren Sektoren erwirtschaftet wurde (Nahrungsmittelverarbei‐ tung, Textilien, Tourismus), während Thailand auf dieser Einkommensstufe auch die Produktion in Industrien mittlerer Emissionsintensität begann (z. B. Automobilzulieferindustrie). Für die Energieversorgung konnte in Tunesien auf Erdgas gesetzt werden, das etwa halb so treibhausgasintensiv ist wie Kohle. Honduras zeigt in dieser Hinsicht durch die frühzeitige Umstellung auf Wasserkraft noch größere Erfolge. Diese Umstellung der Energieversorgung kann den scharfen Rechtsknick im Emissionspfad des Landes und die insgesamt seit 2004 praktisch nicht mehr angestiegenen CO 2 -Emissionen erklären. Abb. 6.7: Emissionspfade für ausgewählte Schwellenländer, 1985-2014 Anmerkung: Die Markierungen auf den Linien stehen für die Messwerte im Fünfjahresabstand. Quelle: Weltbank (2019) 0 1 2 3 4 5 6 7 8 0 2.000 4.000 6.000 8.000 CO 2 -Emissionen (in t/ Kopf) BIP pro Kopf (in konstanten 2010 US$) China Honduras Indien Thailand Tunesien Abb. 6.7: Emissionspfade für ausgewählte Schwellenländer, 1984-2014 Anmerkung: Die Markierungen auf den Linien stehen für die Messwerte im Fünfjah‐ resabstand. Quelle: Weltbank (2019) 6.3 Umweltschutz und Entwicklung: ein Zielkonflikt? 263 <?page no="264"?> Indien befindet sich heute bei einem Pro-Kopf-Einkommen, das in etwa demjenigen Chinas Mitte der 2000er Jahre oder Thailands und Tunesiens Anfang der 1990er Jahre entspricht. Man fragt sich, welchem Emissionspfad Indien bei seiner weiteren wirtschaftlichen Entwicklung folgen wird. Trotz erheblichen Fortschritts in den letzten Jahrzehnten werden knapp 20 % der Bevölkerung bisher noch nicht und viele weitere nur sehr unregelmäßig mit Strom versorgt (IEA 2017: 49) und es ist ein wichtiges Ziel der Regierung, diese „Energiearmut“ zu beenden. Das Land verfügt über erhebliche Kohlevorkommen, ist sich aber bewusst, dass diese für den Energiebedarf der gesamten Bevölkerung und der wachsenden Industrie nicht ausreichen werden. Bisher sind die für das ökonomische Wachstum ausschlaggebenden Produktionsbereiche anders als in China stark auf Dienstleistungen aus‐ gerichtet. Wird es Indien durch Investitionen in erneuerbare Energien und durch geeignete Regulierung gelingen, einem Emissionspfad zu folgen, der dem tunesischen entspricht? Da Indien mit einer Bevölkerung von über 1,3 Mrd. derzeit im Begriff ist, China als weltweit bevölkerungsreichstes Land zu überholen (Weltbank 2019), wird die Antwort auf diese Frage erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung der globalen Emissionen haben. 6.4 Nachhaltige Lösungen finden Welche Instrumente stehen Indien und anderen Ländern zur Lösung der verschiedenen Umweltprobleme zur Verfügung - möglichst ohne dabei die ökonomischen und sozialen Entwicklungsmöglichkeiten ihres Landes einzuschränken? 6.4.1 Technologische Entwicklung und Information In den 1970er Jahren begann mit der berühmten Studie des Club of Rome (Meadows et al. 1972) die Diskussion über die Grenzen des Wachstums (vgl. Kapitel 2.1.4). Die Autoren vertreten die These, dass der fortschreitende Rohstoffabbau langfristig zu einem Ende des Wirtschaftswachstums führen werde. Dagegen gehen Autoren wie Julian L. Simon (1989) von einem Wachstum der Grenzen aus, das durch zunehmendes Wissen und die dadurch ermöglichte beschleunigte technologische Entwicklung hervorge‐ rufen werden könne. In der Tat konnte der technologische Fortschritt in den 6 Umwelt und Entwicklung 264 <?page no="265"?> letzten Jahren einige Umwelt- und Ressourcenprobleme entschärfen. So hat beispielsweise die Entwicklung im Bereich der erneuerbaren Energie dazu geführt, dass Haushalte im ländlichen Afrika oder in abgelegenen Gebie‐ ten Chinas heute kostengünstig mit Solarenergie versorgt werden können (z. B. Rom et al. 2017). Zudem haben technologische Veränderungen in den Anbauprozessen und beim Saatgut dazu geführt, dass die Erde heute sehr viel mehr Menschen ernähren kann als noch vor hundert Jahren. Dabei sind allerdings wieder neue Umweltprobleme entstanden, beispielsweise durch Verlust von Artenvielfalt. Auch andere neue Technologien haben aus Um‐ weltgesichtspunkten ihre Schattenseiten. Der jährliche Energieverbrauch zur computerbasierten Schaffung von Bitcoins entspricht beispielsweise heute demjenigen eines Landes wie Dänemark (Truby 2018). Daneben sind auch bei der Nutzung umweltschonender Technologien mögliche Zielkon‐ flikte zu beachten. Wenn beispielsweise gutes Ackerland geflutet und Men‐ schen aus ihrer Heimat vertrieben werden, um ein großes Staudammprojekt zu ermöglichen, so ist dies aus sozialer Sicht nicht nachhaltig, auch wenn es zu einer emissionsärmeren Energieversorgung durch Wasserkraft führt. Sofern Innovationen nachhaltige Entwicklung ermöglichen, gilt es, sie bestmöglich zu nutzen. Nicht jedes Land hat dazu allerdings dieselben Möglichkeiten. In diesem Zusammenhang gewinnen Fragen des Technolo‐ gietransfers aus technisch weiter fortgeschrittenen Ländern an Bedeutung (vgl. Kapitel 8.2.3). Aber auch das Potenzial kostengünstiger Technologien bleibt oft ungenutzt, was u. a. auf die Trägheit bürokratischer Prozesse und mangelndes Interesse der Entscheidungsträger zurückgeführt werden kann (vgl. Kapitel 3.5). Man findet dieses Phänomen jedoch auch auf der Ebene einzelwirtschaft‐ licher Produktions- und Konsumentscheidungen (Gerarden et al. 2014). So zeigen Studien zum Konsumentenverhalten, dass Haushalte sich vielfach gegen den Einkauf energieeffizienter Geräte entscheiden, selbst wenn diese Geräte sich langfristig auch finanziell für sie lohnen würden. Insbesondere bei Gütern mit sehr langer Nutzungsdauer (z. B. bei Wohngebäuden) kann dies zu erheblichen zusätzlichen Emissionen führen. Teilweise entstehen Fehlentscheidungen bei Konsumenten einfach auf‐ grund von fehlender Information. So zeigen Zahno et al. (2020), dass Information über die gravierenden gesundheitlichen Folgen der Feinstaub‐ belastung durch traditionelles Kochen mit Dung und Feuerholz bei ländli‐ chen Haushalten im indischen Staat Rajasthan zu einer höheren Nutzung von Flüssiggas als alternativem Energieträger führt. Auch kleine und 6.4 Nachhaltige Lösungen finden 265 <?page no="266"?> mittlere Unternehmen treffen ihre Investitionsentscheidungen oft ohne hinreichende Kenntnisse über neuere Entwicklungen. Ein weiterer einschränkender Faktor bei der Übernahme einer neuen Technologie ist oftmals die fehlende Liquidität für nötige Ausgangsinves‐ titionen. Arme ländliche Haushalte in Burkina Faso verzichten deshalb auf die Nutzung energieeffizienterer Kochherde (Bensch et al. 2015) und arme Haushalte in Kenia auf Solarlampen (Rom et al. 2017). Regierungen können hier durch gezielte Förderung des Informationsflusses und die Sicherstellung eines funktionierenden Kreditmarktes (vgl. Kapitel 4.4.3) ohne größere finanzielle Maßnahmen unterstützend eingreifen. Gleichzeitig können Regierungen auch Anreize für die notwendige technologische Ent‐ wicklung setzen. Ein gelungenes Beispiel stellt die chinesische Entwicklung der Solar- und Windenergietechnologie dar, die durch geeignete Einspeise‐ vergütungen und Subventionen in den letzten Jahren gewaltig expandiert ist. 6.4.2 Staatliche Regulierung Aufgrund der mit Umweltgütern verbundenen Externalitäten ist die Infor‐ mation über technologisch effiziente Lösungen und die Sicherung der Liquidität durch funktionierende Kredit- und Kapitalmärkte in der Regel nicht ausreichend, um ein gesellschaftliches Optimum zu erreichen. Die komplementäre staatliche Regulierung umfasst Ge- und Verbote ebenso wie Subventionen und Steuern (vgl. Kapitel 4.1 und 4.2). Ge- und Verbote (Regulierung im engeren Sinne) sind oftmals problematisch, weil sie den Markt völlig ausschalten, anstatt Marktversagen zu korrigieren. Wenn der Marktprozess durch staatliche Vorgaben vollständig ersetzt wird, kann der Preismechanismus nicht mehr für eine Anpassung von Angebot und Nachfrage an individuelle Präferenzen sorgen. Da die Regierung diese Präferenzen oft schlecht einschätzen kann, führt dies häufig zu einem suboptimalen Ergebnis. Ge- und Verbote können jedoch sinnvoll sein, wenn aufgrund mangelnder Information eine optimale Anpassung über den Preismechanismus ohnehin unwahrscheinlich erscheint. Zu den Geboten gehören beispielsweise Effizienzstandards für Konsumgüter. In der Praxis haben sich solche Standards häufig auch als zielführend erwiesen, um die Technologieentwicklung voranzutreiben und um Skaleneffekte bei der Produktion umweltschonender Güter zu erzielen (vgl. Box 6.5). 6 Umwelt und Entwicklung 266 <?page no="267"?> Box 6.5 | Ghanas Energieeffizienzstrategie Mitte der 2000er Jahre war die Wasserkraft, mit der in Ghana traditionell der Strombedarf gedeckt wurde, für die wachsende Volkswirtschaft nicht mehr ausreichend. Zudem wurde das Problem durch mehrere Dürreperioden verstärkt. Daher entschloss sich die Regierung neben der Förderung alternativer erneuerbarer Energiequellen zwischen 2005 und 2010 zur Einführung einer Reihe von Regulierungen, um den Energieverbrauch zu senken. So durften keine gewöhnlichen Glüh‐ birnen, sondern nur noch Energiesparlampen mit vorgeschriebener Mindestleistung und Lebensdauer im Land produziert und verkauft werden. Darüber hinaus forderte die Regierung die Konsumenten dazu auf, ineffiziente alte Geräte zurückzugeben, und stellte dafür Kredite zur Anschaffung neuer Geräte zur Verfügung. Neue Geräte mussten mit Labels zur Energieeffizienz gekennzeichnet werden und gewisse Mindestvorschriften erfüllen. Damit folgte Ghana einer Politik, die sonst eher in wohlhabenderen Ländern üblich ist. Mindeststandards und Labels sind inzwischen anerkannte Politikinstrumente, besonders in Situationen, in denen Konsumenten einen schlechten Zugang zu Informationen haben. Durch regelmäßige Prüfungen verhinderte die ghanaische Regierung die Umgehung ihrer Politik. Quelle: UNEP (2016: 340ff.) Subventionen und Steuern (Regulierung im weiteren Sinne) verän‐ dern hingegen nur die Preise und erlauben eine Optimierung von Angebot und Nachfrage anhand der individuellen Präferenzen und technischen Mög‐ lichkeiten. Ein wirkliches Optimum wird allerdings nur erreicht, wenn die Steuern bzw. Subventionen den durch die Externalitäten bedingten gesamt‐ gesellschaftlichen Nutzenverlust oder -gewinn vollumfänglich erfassen (vgl. Kapitel 3.2.2). Die geeignete Höhe von Steuern und Subventionen festzule‐ gen, ist daher eine ähnlich schwierige Aufgabe wie die sinnvolle Festlegung von Ge- und Verboten. Hinzu kommen häufig Schwierigkeiten bei der politischen Umsetzung. Subventionen sind naturgemäß beim Empfänger beliebt, aber sie müssen mittelfristig durch staatliche Einnahmen in anderen Bereichen finanziert werden. Umweltsteuern generieren dem Staat Einnah‐ men, werden aber häufig von starken Interessengruppen bekämpft. So wurden Emissionssteuern, obwohl sie lange Zeit als das ideale Instrument 6.4 Nachhaltige Lösungen finden 267 <?page no="268"?> zur Internalisierung der negativen Externalitäten von Treibhausgasausstoß betrachtet wurden, weltweit nur sehr zögerlich eingeführt. In den 2010er Jahren hat sich die Umsetzung dann allerdings stärker ausgeweitet. Vor allem in Europa, aber auch in Ländern wie Chile, Kolumbien, Mexiko und Singapur wurden in den letzten Jahren Emissionssteuern eingeführt. Typischerweise sind die Steuersätze allerdings eher niedrig, und gerade emissionsintensive Branchen werden aufgrund des Drucks der entsprechen‐ den Interessengruppen (vgl. Kapitel 3.5.2) häufig ganz befreit, was die Wirkung der Emissionssteuern erheblich einschränkt. 6.4.3 Marktlösungen Wie von Coase dargelegt (vgl. Box 6.1), kann bei einer klaren Zuteilung der Eigentumsrechte auch der Marktmechanismus direkt zu einem optimalen Ergebnis führen. Wenn aus ethischen Gründen sichergestellt werden soll, dass der Verursacher die Kosten seiner umweltschädigenden Tätigkeit zu tragen hat, so müssen die Eigentumsrechte an dem Umweltgut den (poten‐ ziell) Geschädigten zugesprochen werden. Dies geschieht beispielsweise, wenn Unternehmen Emissionsrechte einkaufen müssen und auf diese Weise für ihre Emissionen bezahlen. In den meisten existierenden Emissionshan‐ delssystemen wurde jedoch den Unternehmen selbst eine gewisse Menge an Emissionsrechten zugesprochen. Der Markt sorgt dann nur noch - ganz im Sinne von Coase - für deren effiziente Verteilung zwischen den Unternehmen. Diejenigen, die relativ kostengünstig Emissionen reduzieren können, verkaufen in diesem System Emissionsrechte an andere, denen die ausgegebenen Rechte nicht genügen und für die eine Reduktion teurer wäre. Um bei einem globalen öffentlichen Gut wie dem Klimaschutz maximale Effizienz zu ermöglichen, wäre es ideal, den Austausch über alle Länder hinweg im Rahmen eines einzigen Systems zu ermöglichen. Funktionie‐ rende Emissionshandelssysteme existieren jedoch bisher nur auf regionaler und nationaler Ebene, beispielsweise im Rahmen der Europäischen Union. Für den Austausch auf internationaler Ebene gibt es darüber hinaus soge‐ nannte internationale Marktmechanismen wie den „Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung“ (Clean Development Mechanism, CDM) im Rahmen des Kyoto-Protokolls. Durch den CDM können Unternehmen in Entwicklungsländern für Emissionsreduktionen Zertifikate erhalten, die sie an Regierungen in Industrieländern oder dortige Unternehmen verkaufen 6 Umwelt und Entwicklung 268 <?page no="269"?> können. Im Rahmen von Artikel 6 des Pariser Abkommens gibt es ähnliche Marktmechanismen. Auch für eine Marktlösung kommt dem Staat eine wichtige Rolle zu. Das liegt daran, dass ein solcher Markt nicht von Natur aus existiert, sondern erst durch politischen Willen überhaupt entsteht. Die Eigentums‐ rechte an Umweltgütern sind in den wenigsten Fällen von vornherein festgelegt. Die Preise auf dem Markt hängen zudem entscheidend davon ab, wie hoch die (rein politisch determinierte) anfängliche Zuteilung der Verschmutzungsrechte ausfällt. Ehrgeizige umweltpolitische Ziele lassen sich durch eine entsprechende Knappheit an verfügbaren Verschmutzungs‐ rechten erreichen. Auch dies lässt sich am Beispiel des Emissionshandels illustrieren. Nachdem im Frühjahr 2018 angekündigt wurde, dass ab 2019 Emissionszertifikate des Europäischen Emissionshandelssystems aus dem Verkehr gezogen würden, hat sich deren Nachfrage unmittelbar erhöht und ihr Preis hat sich innerhalb eines Jahres vervierfacht. Schon 2011 wurde seitens der EU-Gremien beschlossen, ab 2013 die Zertifikate aus dem CDM im europäischen Emissionshandelssystem nicht mehr anzuerkennen. Dadurch ist allerdings die Nachfrage im Rahmen des CDM fast gänzlich zusammengebrochen und der Preis dieser Zertifikate notiert nahe null. So wurde der gut funktionierende internationale Marktmechanismus zerstört (Michaelowa et al. 2019). 6.4.4 Polyzentrische Lösungen Im Prinzip ist es naheliegend, für lokale öffentliche Güter und Externalitäten lokale Lösungen und für globale öffentliche Güter und Externalitäten globale Lösungen zu suchen. Letzteres gilt zudem für „exportierte“ Exter‐ nalitäten, d. h. bei den exportierten Umweltproblemen. In diesem Kapitel wurde daher bisher argumentiert, dass generell zur Internalisierung von Externalitäten Lösungen auf derjenigen Ebene nötig sind, auf der die entsprechenden Externalitäten entstehen. Die Politikwissenschaftlerin und Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom weist jedoch in ihren Arbeiten zu einem polyzentrischen An‐ satz darauf hin, dass die zusätzliche Einbeziehung der tieferen Ebenen zu verbesserten Lösungsansätzen führen kann. Natürlich lassen sich globale Umweltprobleme nicht allein auf nationaler oder lokaler Ebene lösen. Man kann nicht erwarten, dass lokale Kleinbauern bei der Rodung von Waldflä‐ chen in Laos in ihre Überlegung einbeziehen, wie dies über den Verlust 6.4 Nachhaltige Lösungen finden 269 <?page no="270"?> an Biodiversität die zukünftige Herstellung wichtiger Medikamente auf globaler Ebene beeinträchtigen könnte. Somit reicht hier lokale Kooperation zur Lösung des Problems nicht aus. Gleichzeitig verliert aber auch die lokale Gemeinschaft (völlig unabhängig von globalen Fragen der Biodiversität) mittelfristig Einkommensmöglichkeiten, die der Wald für sie geboten hat. Damit hat auch sie ein gewisses Interesse am Schutz der entsprechenden Ressourcen. Die lokale Gemeinschaft weiß auch am besten, welche Anreize geeignet sind, diese Ressourcen zu schützen, und innerhalb dieser kleinen Gemeinschaft besteht die Möglichkeit, das Verhalten der jeweils anderen zu beobachten und mittels sozialem Druck zu einem gewissen Grad zu beeinflussen. Wird nun ohne Berücksichtigung der lokalen Kenntnisse und Anreiz‐ strukturen nur auf globaler Ebene über das Problem der Biodiversität diskutiert, so werden wichtige Faktoren ignoriert, was eine optimale Lösung verhindert. Ideal wäre hingegen die Verknüpfung der verschiedenen Ebe‐ nen. Ostrom (2010) illustriert ihren Vorschlag des Polyzentrismus wiederum am Klimaschutz, der neben globalem Nutzen erhebliche lokale Zusatznutzen generiert. So reduziert klimafreundliche Technologie in der Regel auch den Ausstoß lokaler Schadstoffe. Zudem können Investitionen in erneuerbare Energie die Abhängigkeit von Ölimporten senken und damit die nationale Energiesicherheit erhöhen und den inländischen Markt gegen internatio‐ nale Preisschwankungen absichern. Dadurch entsteht ein komplexes System von Interessen auf verschie‐ denen Ebenen, die es für eine optimale Politik auszunutzen gilt. Wenn beispielsweise auf lokaler oder nationaler Ebene politischer Druck zur Verringerung der lokalen Luftverschmutzung aufkommt, die durch eine neue, klimafreundliche Technologie geleistet werden kann, oder wenn aus der Förderung klimafreundlicher Industriezweige eine wirtschaftliche Dy‐ namik erwartet wird, dann werden Regierungen auch aus eigenem Antrieb entsprechende klimafreundliche Technologien unterstützen. So wurden in Indien und China in den letzten Jahren auch ohne formelle Verpflichtun‐ gen auf internationaler Ebene eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die dem Klimaschutz dienlich sind. Allerdings bleiben diese Fortschritte ohne Einbettung in ein globales System hinter dem zurück, was durch eine geschickte Kombination nationaler und internationaler Anreizsysteme möglich wäre. 6 Umwelt und Entwicklung 270 <?page no="271"?> Regelmäßige internationale Verhandlungen tragen zu einer solchen Ein‐ bettung bei, aber nicht für alle Länder in gleichem Maße. Bei Indien und China handelt es sich um Länder, die aufgrund ihrer schieren Größe und aufgrund ihres beeindruckenden ökonomischen Wachstums auch auf internationaler Ebene erhebliches Gewicht haben. Bei vielen kleineren Entwicklungsländern ist dies nicht der Fall. Ihre Perspektive erfolgreich in die internationalen Verhandlungen einzubringen, bleibt daher eine Her‐ ausforderung - ebenso wie es in vielen Ländern eine Herausforderung bleibt, lokalen Gemeinschaften und vor allem den ärmsten und schwächsten Gruppen der Gesellschaft auch im nationalen Rahmen Gehör zu verschaffen. Verständnisfragen: ■ Was versteht man unter der Internalisierung von Externalitäten und wieso ist dies für Umweltgüter relevant? Nennen Sie Beispiele für Umweltgüter mit lokalen und globalen Externalitäten und insbeson‐ dere für solche, die sich als reine lokale und globale öffentliche Güter bezeichnen lassen. ■ Weshalb ist gute Regierungsführung im Kontext des Umweltschutzes besonders wichtig? ■ Anhand der Emissions- und Einkommensdaten unterschiedli‐ cher Länder lässt sich die folgende Gleichung schätzen: e it = ∝ i + β 1 y it + β 2 y it 2 + … + ε it , wobei e it die Pro-Kopf-Emissionen, y it das Pro-Kopf-Einkommen und ε it den Fehlerterm darstellt - jeweils für Land i im Jahr t. Es ergibt sich ein negativ signifikanter Schätzer für β 2 . Welchen Zusammenhang beschreibt dieses Ergebnis? Um die Emission welches Schadstoffes könnte es sich handeln? ■ Erläutern Sie die Gründe für die unterschiedlichen CO 2 -Emissionsp‐ fade verschiedener Länder im Laufe ihrer wirtschaftlichen Entwick‐ lung. ■ Illustrieren Sie anhand verschiedener Beispiele, wie wirtschaftliche Entwicklung und Umweltschutz sich gegenseitig beeinflussen kön‐ nen. Berücksichtigen Sie dabei sowohl positive als auch negative Zusammenhänge. 6.4 Nachhaltige Lösungen finden 271 <?page no="272"?> Literatur Baldé, C.P.; Wang, F.; Kuehr, R.; Huisman, J. (2015). The global e-waste monitor - 2014. United Nations University. Bonn: IAS - SCYCLE. Benedick, R. (1991). Ozone diplomacy: New directions in safeguarding the planet. Cambridge: Cambridge University Press. Bensch, G.; Grimm, M.; Peters, J. (2015). Why do households forego high returns from technology adoption? Evidence from improved cooking stoves in Burkina Faso. Journal of Economic Behavior; Organization 116: 187-205. Bouissou, J. (2012). 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Literatur 275 <?page no="276"?> 1 Die im Rahmen der Globalisierung stattfindende zunehmende Verflechtung von sozia‐ len Netzwerken sowie die Angleichung von Präferenzen und soziokulturellen Normen können aus Platzgründen in diesem Buch leider nicht behandelt werden. 2 Die Rolle der internationalen Finanzmärkte für die Entwicklung wurde bereits in Kapitel 4 diskutiert und die Auswirkungen der ökonomischen und politischen Globa‐ lisierung auf die Umwelt in Kapitel 6. 7 Globalisierung Unter Globalisierung versteht man eine weltweit zunehmende Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Kultur. Die Senkung von Transport- und Kom‐ munikationskosten sowie eine Liberalisierung des grenzüberschreiten‐ den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs haben die Globalisierung in den letzten Jahren stark vorangetrieben. Die wesentlichen Dimensionen der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung sind internationaler Handel, internationale Finanzmärkte und internationale Migration. 1 Kapitel 7 konzentriert sich auf die Auswirkungen des internationalen Handels von Gütern und Dienstleistungen auf wirtschaftliche Entwicklung. Darüber hinaus behandelt Kapitel 7 die Ursachen und Konsequenzen der internationalen Migration 2 und gibt erste Antworten auf die folgenden Fragen: Welchen Einfluss hat der internationale Handel auf wirtschaftliche Entwicklung und Armut? Wer sind die Gewinner und Verlierer der wirtschaftlichen Globalisie‐ rung? Können ärmere Länder von einer offenen Handelspolitik profitieren? Führt „Fairer Handel“ zu einer gerechteren Weltwirtschaft? Was sind die Herausforderungen der internationalen Migration? Welche Chancen ergeben sich aus der Migration für Armutsreduktion und wirtschaftliche Entwicklung? <?page no="277"?> 7.1 Globalisierung im Wandel Wann begann die Globalisierung? Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Schon in der Antike und im Mittelalter gab es Perioden der vermehrten internationalen wirtschaftlichen und kulturellen Ver‐ flechtung, wie etwa die Handelsbeziehungen Ägyptens, Chinas und der Induskultur oder die Handelsbeziehungen in der Antike zwischen China und Europa (Seidenstraße) sowie die Verflechtung innerhalb Europas im Mittelalter. Die wirtschaftliche Integration aller fünf Kontinente setzte im 15. Jahrhundert mit dem Zeitalter des Kolonialismus ein. Diese erste Phase der Globalisierung dauerte bis ins 18. Jahrhundert. Ausgehend von Europa wurde die Welt in dieser Phase durch die Erschließung neuer Seewege wirtschaftlich und politisch erschlossen, verbunden und unterworfen. Der internationale Handel beschränkte sich allerdings noch auf Luxuswaren (z. B. Gold, Silber und Zucker) und Menschen. Dies änderte sich mit dem Einsetzen der zweiten Phase der Globalisie‐ rung (Baldwin 2016, Huwart und Verdier 2014), die um 1820 mit der indus‐ triellen Revolution in Europa begann. Sie führte innerhalb von 100 Jahren dazu, dass fast die ganze Welt durch Dampfschiff, Eisenbahn und Telegraf wirtschaftlich verbunden war. Die internationale Arbeitsteilung und der weltweite Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Kapital wurden reguläre Bestandteile der Wirtschaftsentwicklung eines jeden Landes mit hohem Einkommen (High Income Countries, HICs). Die zweite Phase der Globalisierung dauerte, unterbrochen von den beiden Weltkriegen, bis in die 1990er Jahre. Seit den 1990er Jahren befinden wir uns in einer dritten Phase der Globalisierung, die zum einen durch eine massive Beschleunigung der Globalisierung und zum anderen durch eine neue Einbindung der Länder mit mittlerem Einkommen (Middle Income Countries, MICs) und Länder mit niedrigem Einkommen (Low Income Countries, LICs) gekennzeichnet ist (vgl. Abb. 7.1). Ging es bei der zweiten Phase der Globalisierung zudem hauptsächlich um grenzüberschreitende Güterströme, ist die heutige Glo‐ balisierung vor allem auch durch grenzüberschreitende Wissensströme und eine Fragmentierung der Produktion von internationalen Konzer‐ nen in MICs und LICs gekennzeichnet (Baldwin 2016). Ein weiterer Unter‐ schied betrifft die Migration. Während Migration im 19. Jahrhundert vor allem zwischen Ländern mit hohem Einkommen stattfand, dominiert heute 7.1 Globalisierung im Wandel 277 <?page no="278"?> die Migration zwischen Ländern mit niedrigem Einkommen, gefolgt von der Migration von armen zu reicheren Ländern (vgl. Kapitel 7.5). Abb. 7.1. Globalisierungs-Index Anmerkung: Der KOF Globalisierungsindex geht von 0 bis 100 wobei 0 den geringsten und 100 den höchsten Grad der Globalisierung aufzeigt. Quelle: Gygli et al. (2019). 20 30 40 50 60 70 80 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 Globalisierungsindex HICs MICs LICs Wirtschaftlich Politisch Abb. 7.1: KOF-Globalisierungsindex Anmerkung: Der KOF-Globalisierungsindex geht von 0 bis 100 wobei 0 den gerings‐ ten und 100 den höchsten Grad der Globalisierung aufzeigt. Quelle: Gygli et al. (2019) Entscheidende Faktoren für die zunehmende Geschwindigkeit der Globali‐ sierung und die Verlagerung von Produktionsstandorten von HICs in MICs und LICs waren enorme technologische Fortschritte in der Informati‐ ons- und Kommunikationstechnologie (IKT) und dem Luftverkehr. Diese Errungenschaften haben einerseits zu einer erheblichen Verringe‐ rung der globalen Transportkosten und Transportzeiten von Waren und Dienstleistungen geführt (vgl. Abb. 7.2). Andererseits erlauben sie den globalen Austausch von Informationen in Echtzeit. Dies ermöglichte es Unternehmen aus HICs, komplexe Aktivitäten über große Entfernungen 7 Globalisierung 278 <?page no="279"?> hinweg zu koordinieren und arbeitsintensive Produktionsstufen in MICs und LICs (Länder mit vergleichsweise niedrigen Löhnen) zu verlagern. Es besteht allerdings immer noch eine digitale Kluft zwischen LICs und HICs. Obwohl es in LICs zwischen 2006 und 2014 fast zu einer Verdopplung des Anteils der Unternehmen kam, die das Internet nutzen, von 21 % auf etwa 40 %, ist der Zugang immer noch gering. In OECD-Ländern nutzten im Jahr 2014 mehr als 90 % der Unternehmen das Internet (Weltbank 2016). Insbe‐ sondere afrikanische Länder sind durch langsame Übertragungsgeschwin‐ digkeiten von Daten gekennzeichnet, was den afrikanischen Kontinent vor große Herausforderungen stellt, wenn er in der Zukunft vom globalen Handel profitieren will. Abb. 7.2 0 20 40 60 80 100 120 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 Kosten relativ zu 1930 (in %) Fernsprechverbindungskosten (dreiminütiger Anruf; New York nach London) Personen-Lufttransportkosten (pro Passagiermeile) Seefracht-Kosten (pro Tonne) Abb. 7.2: Entwicklung der weltweiten Transportkosten Quelle: OECD (2007) Ein Großteil des internationalen Handels findet heute also nicht mehr als Austausch von Gütern zwischen Ländern, sondern als Austausch von Wis‐ sen und Zwischenprodukten statt. Der Handel mit Zwischenprodukten 7.1 Globalisierung im Wandel 279 <?page no="280"?> macht inzwischen rund 40 % des Welthandels aus (UNCTAD 2013). Immer mehr Teilprozesse der Produktion werden als Konsequenz der immer stär‐ keren Zerlegung von Produktionsprozessen (Fragmentierung) durch sogenanntes Outsourcing (organisatorische Verlagerung unternehmeri‐ scher Funktionen) oder Offshoring (geografische Verlagerung unterneh‐ merischer Funktionen) an Tochterunternehmen und Fremdfirmen in MICs und LICs ausgelagert. Die Auslagerung einzelner Produktionsprozesse hat die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften in MICs und LICs steigen lassen (vgl. Kapitel 2.5) und eine Reihe von Ländern zu wettbewerbsfähigen Anbietern handelbarer Zwischenprodukte und Dienstleistungen gemacht, wie z. B. Indien im Bereich der Informations- und Kommunikationstechno‐ logie und China in der Elektronikindustrie. Die Folge der Fragmentierung der Produktion ist die zunehmende Integration der globalen Märkte durch globale Wertschöpfungsketten, vorangetrieben durch multinationale Unternehmen und ausländische Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI). Diese geschehen in Form von Vermögensanlagen durch multinationale Unternehmen in Toch‐ terunternehmen sowie in Fremdfirmen, um die Produktion im Ausland auf- oder auszubauen. Während 1990 nur etwa 15 % der globalen ausländischen Direktinvestitionen in LICs flossen, waren es im Jahr 2017 etwa 45 % (UNCTAD 2018, vgl. Kapitel 8.5.1). Wenn die Informations- und Kommunikationstechnologien zukünftig noch effizienter werden, wird die wissenschaftliche Analyse der Effekte der zunehmenden Fragmentierung der Produktion und des damit einher‐ gehenden Wissenstransfers weiter an Bedeutung gewinnen, sowohl in der Handelstheorie als auch in anderen verwandten Bereichen wie der Wettbewerbstheorie oder in Fragen des Steuerrechts (vgl. Kapitel 7.3 und Kapitel 4.2). Hieraus ergeben sich auch vielfältige neue Fragestellungen für die Entwicklungsperspektiven von LICs und MICs. Seit den 1940er Jahren ist die Welt auch aufgrund vieler multinationa‐ ler Bemühungen wirtschaftlich weiter zusammengewachsen. Wesentliche Triebkräfte sind hier die Vereinbarungen des Allgemeinen Zoll- und Han‐ delsabkommens (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) aus dem Jahr 1947 und die im Jahr 1994 gegründete Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO). Die WTO stellt Regeln für den globalen Handel auf, baut Handelsbeschränkungen ab und definiert multilaterale Mindeststandards für den Schutz der Rechte am geistigen Eigentum (vgl. Box 7.1). Zusätzlich haben Abkommen zur Handelsliberalisierung in‐ 7 Globalisierung 280 <?page no="281"?> 3 Die USA stellten das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) seit 2008 immer wieder in Frage. Im November 2018 löste das Nachfolgeabkommen United States-Mexico-Canada Agreement (USMCA) zwischen Mexiko, Kanada und den USA das NAFTA-Abkommen schließlich ab. nerhalb von spezifischen Regionen zu einer verstärkten Handelsverflech‐ tung geführt. Beispiele sind das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) 3 , der „gemeinsame Markt Südamerikas“ (Mercosur) oder der Eu‐ ropäische Binnenmarkt. Box 7.1 | GATT, WTO und TRIPS Das Bretton-Woods-Abkommen von 1944 führte zur Entstehung des Internationalen Währungsfonds (IWF), der für ein stabiles internatio‐ nales Währungssystem sorgen soll (vgl. Kapitel 4.5), das als Voraussetzung für einen dynamischen internationalen Handel gilt. Einige Länder einigten sich im Jahr 1947 auf das Allgemeine Zoll- und Han‐ delsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT), das im Wesentlichen die weltweite Handelsliberalisierung vorantreiben sollte. Die im Rahmen mehrjähriger Verhandlungsrunden verabschie‐ deten Maßnahmen des GATT verringerten und beseitigten weltweit eine Reihe von Zöllen und andere staatliche Handelshemmnisse. Die Gründung der WTO im Jahr 1994 festigte diese Entwicklung. Die WTO vereint drei zentrale Abkommen: GATT, GATS (General Agreement on Trade in Services - Handel mit Dienstleistungen) und TRIPS (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights - Schutz des geistigen Eigentums). Die WTO hat heute 164 staatliche Mitglieder, auf die mehr als 90 % des Welthandels entfallen. Das Ziel der WTO, den gesamten Welthandel schrittweise von Zöllen und anderen Han‐ delshemmnissen zu befreien, ist in den letzten Jahren allerdings immer wieder ins Stocken geraten und die Integration des Welthandels bleibt in vielen Bereichen unausgewogen. Verhandlungen über gemeinsame Abkommen unter Wahrung der Interessen aller Mitgliedsländer gestal‐ ten sich als schwierig. Dies zeigt sich beispielsweise an den weiterhin bestehenden Subventionen und Zöllen auf Industrie- und Agrargüter in HICs oder an den Handelsstreitigkeiten zwischen der EU und den USA. Quelle: Huwart und Verdier (2014) 7.1 Globalisierung im Wandel 281 <?page no="282"?> 7.2 Internationaler Handel in Zahlen 1970-2015 In den letzten 20 Jahren wuchs der Welthandel, gemessen am Anteil der Exporte und Importe von Waren und Dienstleistungen am weltweiten Brut‐ toinlandsprodukt (BIP), um durchschnittlich 6 % pro Jahr und stieg damit doppelt so schnell wie das globale BIP mit 3 % pro Jahr (Weltbank 2019). Abb. 7.3 zeigt zwischen 1970 und 2008 ein deutliches Handelswachstum von Waren und Dienstleistungen in allen Weltregionen. Ein besonders starker Zuwachs, der vor allem durch Chinas zunehmende Integration in den Weltmarkt erklärt werden kann, ist in Ostasien zu erkennen. Der Anteil des Handels am BIP fällt in Nordamerika mit 30 % vergleichsweise gering aus. Dies liegt vor allem daran, dass Nordamerika über einen sehr großen Binnenmarkt verfügt. Misst man den Handel Nordamerikas als Anteil des weltweiten Handels, liegt dieser bei über 10 % des gesamten Welthandels. Abb. 7.3: E ntwicklung des Handels Quelle: Weltbank (2019). 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 Anteil Güter- und Dienstleistungshandel (% des BIP) Ostasien & Pazifik Europa & Zentralasien Lateinamerika & Karibik Nordamerika Sub-Sahara Afrika Abb. 7.3: Entwicklung des Handels Quelle: Weltbank (2019) In Abb. 7.3 sind auch die Nachwirkungen der Finanzkrise aus dem Jahr 2008 deutlich zu erkennen. Die Krise führte in vielen Ländern zu einem Rückgang 7 Globalisierung 282 <?page no="283"?> von Produktion und Beschäftigung. Zahlreiche HICs reagierten mit protek‐ tionistischen Maßnahmen, um nationale Interessen zu schützen. Dies hatte eine Verringerung der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen und einen Rückgang der weltweiten Handelsströme zur Folge (vgl. Abb. 7.3). Die dadurch gebremste Dynamik der Globalisierung (vgl. Abb. 7.1) und der damit verbundene Rückgang der Exporte stellte viele LICs und MICs - vor allem in Ostasien - vor wirtschaftliche Herausforderungen. Weltweite Importe von und Exporte in LICs und MICs machen heute mehr als 60 % des weltweiten Handelsvolumens aus, gegenüber 25 %in den frühen 1970er Jahren. Zum Vergleich: Der Anteil des BIP der Entwick‐ lungsländer macht heute nur 40 % am weltweiten BIP aus, ohne China sogar nur 25 %. Der Anteil der Bevölkerung der Entwicklungsländer an der Weltbevölkerung liegt dagegen bei 84 %, ohne China bei etwa 65 % (Weltbank 2019). Allerdings bestehen erhebliche regionale Unterschiede. Der Anteil der Exporte und Importe von Ländern Sub-Sahara Afrikas am gesamten Welthandel liegt nur bei 2 %. Zum Vergleich: Der Anteil Sub-Sahara Afrikas am weltweiten BIP liegt bei 2 % während der Anteil der Bevölkerung bei 14 % liegt (Weltbank 2019, UNCTAD 2018). Neben den weltweiten Handelsströmen haben seit 1990 auch regionale Handelsströme zwischen Entwicklungsländern stark zugenommen. Der Anteil des Handels zwischen diesen Ländern, gemessen an deren gesamten Exporten, beläuft sich mittlerweile auf ungefähr 25 %, im Vergleich zu 5 % im Jahr 1970 (UNCTAD 2018, Weltbank 1980). Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang China und Indien, aber auch andere ostasiatische Länder wie beispielsweise Vietnam, welches zunehmend industriell gefer‐ tigte Zwischenprodukte an China liefert (Huwart und Verdier 2014). 7.3 Was sind die Gründe für internationalen Handel? Seit mehr als 200 Jahren beschäftigt Ökonomen die Frage, warum Länder Güter und Dienstleistungen handeln, welche Güter und Dienstleistungen sie handeln und welche Konsequenzen sich aus dem Handel für die Länder und deren Bevölkerung ergeben. Einer der ältesten Erklärungsansätze ist die Theorie der komparativen Kostenvorteile des Wirtschaftswissenschaft‐ lers David Ricardo. Gemäß Ricardos Theorie kann jedes Land durch Handel den durchschnittlichen Lebensstandard seiner Bevölkerung erhöhen. Das Ricardo-Modell stützt sich bei der Erklärung für internationalen Handel 7.3 Was sind die Gründe für internationalen Handel? 283 <?page no="284"?> auf Unterschiede in der Technologie zwischen Ländern. Laut Ricardos Theorie profitieren Länder vom Handel im Gegensatz zur Situation ohne Handel (Autarkie), wenn sich jedes Land auf die Produktion von jenen Waren konzentriert, die es relativ am effizientesten produzieren kann, und andere Waren importiert. Das Prinzip der komparativen (relativen) Vorteile lässt sich mittels eines konkreten (fiktiven) Beispiels leicht veranschaulichen, das zwei Län‐ der, Kenia und Ghana, und die Produktion von zwei Gütern, Smartphones und Tomaten, betrachtet. Dieses einfache Modell basiert allerdings auf drei vereinfachenden Annahmen. Erstens, die Menschen in beiden Ländern haben identische Präferenzen. Personen in den beiden Ländern schätzen den Nutzen eines jeden Gutes also gleich ein. Zweitens, die Länder verfügen über eine fixe Ausstattung an Produktionsfaktoren (in diesem Beispiel nur der Faktor Arbeit). Drittens, der Produktionsfaktor (Arbeit) ist nicht über Ländergrenzen hinweg transferierbar (keine Migration), aber für die Herstellung von verschiedenen Produkten innerhalb beider Länder flexibel einsetzbar. Tab. 7.1 zeigt, welchen Arbeitseinsatz beide Länder benötigen, um zwei Güter herzustellen: Tomaten und Smartphones. Der Aufwand unterscheidet sich stark zwischen Kenia und Ghana. Für die Produktion von einer Tonne Tomaten werden in Ghana 50 und in Kenia 25 Stunden benötigt. Für die Produktion eines Smartphones benötigt Ghana 600 und Kenia 200 Stunden. Beide Produkte können in Kenia - dank technologischem Vorsprung - mit weniger Arbeitsaufwand, d. h. absolut effizienter, hergestellt werden (50 % geringerer Aufwand bei Tomaten und 66 % geringerer Aufwand bei der Smartphoneherstellung). 7 Globalisierung 284 <?page no="285"?> Tab. 7.1: Das Prinzip der komparativen Kostenvorteile Arbeitsstunden für die Produktion von Ghana Kenia 1 Tonne Tomaten 50 25 1 Smartphone 600 200 Relative Kosten (Preis) Ghana Kenia Tonnen Tomaten pro Smartphone 12 8 Smartphones pro Tonne Tomaten 1/ 12 1/ 8 Möglicher Konsum bei Autarkie Ghana Kenia Tonnen Tomaten 20 (1.000/ 50) 40 (1.000/ 25) Smartphones 1,6 (1.000/ 600) 5 (1.000/ 200) Möglicher Konsum mit Handel Ghana Kenia Tonnen Tomaten 20 60 (5*12) Smartphones 2,5 (20/ 8) 5 Anmerkung: Für die Berechnung des möglichen Konsums wird von 1.000 Arbeitsstun‐ den in jedem Land ausgegangen. Trotz des absoluten technischen Vorteils von Kenia in der Produktion von Tomaten und Smartphones ist Handel zwischen den Ländern für beide Länder von Vorteil. Um dies zu veranschaulichen, muss man die Produk‐ tionskosten (gemessen in Arbeitsstunden) anhand der relativen Kosten oder der sogenannten Opportunitätskosten bewerten, anstatt die absoluten Arbeitsstunden zu vergleichen. Opportunitätskosten geben an, auf wie viel von einem Gut verzichtet werden muss, um eine Einheit mehr von einem anderen Gut zu produzieren. Ein Land verfügt bei der Produktion eines Gutes über einen komparativen Vorteil, wenn die Opportunitätskosten für dessen Herstellung niedriger sind als in anderen Ländern. Um eine weitere Tonne Tomaten zu produzieren, muss Kenia auf 1/ 8 Smartphone verzichten, Ghana auf 1/ 12 Smartphone. Der relative Preis einer Tonne Tomaten (gemessen an Smartphones) ist in Ghana folglich niedriger als in Kenia. Ghana hat dementsprechend einen komparativen Vorteil bei der Produktion von Tomaten. 7.3 Was sind die Gründe für internationalen Handel? 285 <?page no="286"?> 4 Die Faktorintensität dient zur Klassifizierung von Gütern. Ein Gut ist arbeitsintensiv (z. B. Tomaten), wenn bei seiner Produktion im Vergleich zu einem anderen Gut (z. B. Smartphone) relativ mehr Arbeit eingesetzt wird als Kapital. Umgekehrt ist ein Gut kapitalintensiv (z. B. Smartphone), wenn bei seiner Produktion im Vergleich zu einem anderen Gut (z. B. Tomaten) relativ mehr Kapital notwendig ist als Arbeit. Die möglichen Wohlfahrtsgewinne durch Handel sind folgende: An‐ genommen, beiden Ländern stehen jeweils 1.000 Arbeitsstunden zur Verfügung, die sie zwischen der Produktion von Tomaten und Smartphones aufteilen können. In der Situation ohne Handel könnte Ghana bei vollstän‐ diger Spezialisierung auf ein Gut entweder 20 t Tomaten (1.000/ 50) oder 1,6 Smartphones (1.000/ 600) produzieren. Handelt Ghana jedoch mit Kenia und exportiert die 20 t Tomaten, könnte Ghana hierfür 2,5 Smartphones (20/ 8) importieren. Ghana profitiert vom Handel. Kenia profitiert ebenfalls von einer Spezialisierung und vom Handel, obwohl Kenia beide Produkte mit weniger Arbeitsaufwand (d. h. effizienter) produzieren kann. Kenia könnte mit 1.000 Arbeitsstunden entweder 40 t Tomaten (1.000/ 25) oder 5 Smartphones (1.000/ 200) produzieren. Zieht man die Arbeiter von der Tomatenproduktion ab und lässt sie stattdessen nur Smartphones produzie‐ ren (und diese exportieren), erhält Kenia für die 1.000 Stunden anstatt 40 t Tomaten 60 t Tomaten (5*12) aus Ghana, weil eine Tonne Tomaten in Ghana nur 1/ 12 Smartphone kostet. Die Ökonomen Eli Heckscher und Bertil Ohlin entwickelten das Modell der komparativen Kostenvorteile in den 1920er Jahren weiter, indem sie zwei unterschiedliche Produktionsfaktoren berücksichtigten (Arbeit und Kapital). Die Erklärung des Handels stützt sich in ihrem Modell auf die unterschiedliche Faktorausstattung von Ländern (vgl. Kapitel 2.3) mit Rohstoffen, Boden, Sachkapital, Arbeit oder Humankapital. Im Unter‐ schied zum Modell von Ricardo, der die komparativen Vorteile durch Tech‐ nologieunterschiede erklärt, kommen im Heckscher-Ohlin-Modell die komparativen Vorteile durch die unterschiedliche Faktorausstattung und unterschiedliche Faktorintensitäten in der Produktion zustande (d. h. bei der Produktion eines Gutes wird z. B. relativ mehr Arbeit eingesetzt als bei der Produktion eines anderen Gutes). 4 Laut dem Heckscher-Ohlin-Modell produziert und exportiert ein Land typischerweise jene Güter, die den Produktionsfaktor intensiv benötigen, mit dem das Land relativ reichlich ausgestattet ist. Angesichts ihrer vergleichsweise günstigen Ausstattung mit dem Faktor Arbeit weisen viele LICs bei der Herstellung von Gütern, die eine relativ hohe Arbeitsintensität erfordern, einen komparativen Vorteil 7 Globalisierung 286 <?page no="287"?> auf. Im obigen Beispiel ist Ghanas Exportgut (Tomaten) arbeitsintensiv, sein Importgut (Smartphones) hingegen kapitalintensiv. Viele HICs hingegen haben komparative Vorteile bei der Herstellung von Gütern, die sich durch eine vergleichsweise hohe Kapitalintensität auszeichnen. Trotz der Erkenntnis, dass alle Länder (und/ oder Länder, die weniger effizient in der Produktion aller Güter sind als andere Länder) durch Handel Wohlfahrtsgewinne erzielen können, führt internationaler Han‐ del innerhalb der einzelnen Länder zu Gewinnern und Verlierern. Die Gewinner im obigen Beispiel sind die Tomatenproduzenten in Ghana und die Smartphoneproduzenten in Kenia. Beide können ihre Produkte zu höheren Preisen absetzen. Die Verlierer hingegen sind die ghanaischen Smartphonehersteller sowie die Tomatenproduzenten in Kenia, da sie mit einer stärkeren Konkurrenz durch billigere Importe konfrontiert werden. Weitere Verteilungseffekte lassen sich anhand des sogenannten Stol‐ per-Samuelson-Theorems nach den Ökonomen Wolfgang Stolper und Paul Samuelson erklären. Dem Heckscher-Ohlin-Modell folgend besagt das Theorem, dass der Anstieg der Preise durch den Handel die Entlohnung desjenigen Produktionsfaktors erhöht, welcher intensiver in der Produktion des betreffenden Exportgutes verwendet wird. Die Entlohnung des anderen Faktors sinkt dagegen. Das heisst, der Faktor Arbeit gewinnt in Ghana (To‐ maten) und der Faktor Kapital in Kenia (Smartphones), während der Faktor Arbeit in Kenia (Tomaten) und der Faktor Kapitel in Ghana (Smartphones) verliert. Sofern die negativ betroffenen Produktionsfaktoren gut organisiert sind, ist mit erheblichem Lobbying gegen den Freihandel zu rechnen. Zu den Gewinnern gehören auch die Konsumenten von Tomaten in Kenia und von Smartphones in Ghana, da beide weniger für das jeweilige Produkt zahlen müssen. Und ebenfalls zu den Verlierern zählen die Konsumenten von Smartphones in Kenia sowie ghanaische Tomatenkonsumenten, da beide höhere Preise für das Produkt zahlen müssen. Der gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsgewinn übersteigt allerdings den Verlust einzelner Gruppen. Bis in die 1970er Jahre wurde die Handelstheorie von der Idee der kom‐ parativen Kostenvorteile geleitet. Die Theorie der komparativen Vorteile sowie das Heckscher-Ohlin-Modell können jedoch weder die Ursachen des Handels noch die Wohlfahrtseffekte des Handels abschließend erklären. Beispielsweise wird die mögliche Migration von Arbeitskräften zwischen Ländern und eine beschränkte Mobilität der Arbeitskräfte zwischen Industriesektoren innerhalb der Länder nicht berücksichtigt. Außerdem bleibt die Bedeutung von internationalen Kapitalbewegungen und die Rolle 7.3 Was sind die Gründe für internationalen Handel? 287 <?page no="288"?> multinationaler Unternehmen, die ihre Produktion auf verschiedene Länder aufteilen, im internationalen Handel unberücksichtigt. In der gegen‐ wärtigen Phase der Globalisierung spielen demnach komparative Vorteile von multinationalen Unternehmen im Vergleich zu den komparativen Vor‐ teilen von Ländern eine immer wichtigere Rolle. Schließlich wird ignoriert, dass sich aus der Spezialisierung der Produktion langfristige Produktivitätsfortschritte ergeben können. Smart‐ phone-Produzenten in Ghana könnten zum Beispiel über die Zeit effizienter werden. Wenn dies der Fall ist, müssten solche jungen Industrien zumindest über einen gewissen Zeitraum hinweg zum Beispiel durch Zölle geschützt werden (vgl. Kapitel 7.5.1). Zudem sind bestimmte Produkte für die Ent‐ wicklung von neuen Erkenntnissen und entsprechenden technologischen Fortschritt eher geeignet als andere (vgl. Kapitel 2.4.3). Je nachdem, auf welches Gut sich ein Land spezialisiert, kann somit die gesamtwirtschaft‐ liche Produktivität langfristig gefördert oder beeinträchtigt werden (vgl. Kapitel 7.4) auch wenn kurzfristig alle Länder vom Handel profitieren. Die Neue Handelstheorie (auch endogene Handelstheorie), welche in den 1980er Jahren entwickelt wurde, versucht auf diese Aspekte einzu‐ gehen, indem sie die strikten Annahmen des Ricardo-Modells und des Heckscher-Ohlin-Modells aufhebt und der technologischen Entwicklung einen größeren Einfluss bei der Erklärung des Handels und dessen Entwick‐ lung einräumt und somit Erkenntnisse aus der neuen (endogenen) Wachs‐ tumstheorie berücksichtigt (vgl. Kapitel 2.4.3). Vor allem der Ökonom Paul Krugman, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 2008, prägte diese Theorie und es gelang ihm, auch den Handel zwischen Ländern zu erklären, die über eine ähnliche Faktorund/ oder Technologieausstattung verfügen (was durch das Ricardo- und das Heckscher-Ohlin-Modell nicht er‐ klärt werden konnte). Internationaler Handel zwischen ähnlichen Ländern beruht demnach nicht auf komparativen Vor- oder Nachteilen, sondern auf Skaleneffekten, die durch Spezialisierung erzielt werden können. Die Länder können in diesem Fall Produktionskosten senken, indem sie sich auf die Herstellung großer Mengen konzentrieren (Krugman 1994). Vor allem im Fall von Skalenerträgen innovationsträchtiger Industrien können zudem positive Externalitäten zu gesamtwirtschaftlichen Effizienzgewinnen bei‐ tragen und somit das Wachstum der gesamten Volkswirtschaft vorantreiben (Krugman 1991). Die Neue Handelstheorie berücksichtigt außerdem die Verteilung der durch den Handel entstehenden Wohlfahrtsgewinne stärker 7 Globalisierung 288 <?page no="289"?> (Evenett und Keller 2002), auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen wird. 7.4 Handel und Entwicklung Die Effekte des internationalen Handels auf die ökonomische und soziale Entwicklung von LICs und MICs werden kontrovers diskutiert. Befürworter der Globalisierung argumentieren, dass Konsumenten in LICs und MICs durch den internationalen Handel Zugang zu mehr, günstigeren und qualitativ besseren Gütern bekommen. Produzenten erhalten Zugang zu einem größeren Absatzmarkt. Globalisierungskritiker betonen dagegen die ungleichen Verteilungsef‐ fekte des Handels und die damit verbundenen Risiken für lokale Industrien. Sie führen zudem Lohndumping durch multinationale Firmen, mangelnde Sicherheits- und Sozialstandards für Arbeitnehmer sowie Umweltschä‐ den als Folgen des internationalen Handels auf. Fraglich ist auch, ob ärmere Länder, deren komparativer Vorteil und damit Fokus auf Rohstoffexpor‐ ten liegt, langfristig Entwicklungserfolge realisieren können. 7.4.1 Exportpessimismus: Fluch der natürlichen Ressourcen? Nach der Theorie des Heckscher-Ohlin-Modell produziert und exportiert ein Land vor allem jene Güter, für deren Produktion es über relativ reichlich Produktionsfaktoren verfügt. LICs spezialisieren sich daher zumeist auf die Produktion und den Export arbeitsintensiver Primärgüter (vgl. Tab 7.2), zu denen insbesondere landwirtschaftliche Produkte (z. B. Kakao, Kaffee, Baumwolle) gehören, und den Export von Rohstoffen (z. B. Gold, Erdöl, Kupfer). Durch diese Spezialisierung und Nutzung der komparativen Vorteile in der Produktion ist die Realisierung von Effizienz- und Wohl‐ fahrtsgewinnen möglich (vgl. Kapitel 7.3). Bezieht man zudem die dynamischen Effekte aus der Neuen Handels‐ theorie in diese Überlegungen mit ein, erhoffen sich die Länder durch eine offene Handelspolitik zusätzlich zu den Effizienzgewinnen vergrößerte Absatzmärkte, was Skalenerträge ermöglicht. Die Skalenerträge ermög‐ lichen dann langfristige Wachstumseffekte, um die Produktion von kapi‐ tal- und technologieintensiveren Gütern sukzessive auszuweiten und den Strukturwandel voranzutreiben (vgl. Kapitel 2.5). Der Anteil der Primär‐ 7.4 Handel und Entwicklung 289 <?page no="290"?> güterproduktion (-exporte) an der Gesamtproduktion (-exporte) würde in diesem Fall langfristig abnehmen. Zudem erhöht der internationale Handel die ausländischen Direktinvestitionen (vgl. Kapitel 7.1 und Kapitel 8, Abb. 8.8), was zu einem Transfer von Technologien und damit einhergehend zu steigender Produktivität führen kann (Hoekman und Javorcik 2006, Edwards 2001). Viele LICs konnten die Exporte von industriellen Gütern und Dienst‐ leistungen im Vergleich zu Primärgüterexporten zwischen 1960 und 2017 steigern (um durchschnittlich 15 Prozentpunkte). In Sub-Sahara Afrika bleiben landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe allerdings weiterhin die wichtigsten Exportgüter (vgl. Tab. 7.2). Tab. 7.2: Anteil von Rohstoffen an den Exporten Rohstoffe und Primärgüter Äthiopien Kaffee & Tee (34 %), Gemüse (19 %), Speiseöl (16 %) Botswana Edelsteine & -metalle (92 %), Fleisch & Fisch (2 %) Burundi Kaffee & Tee (48 %), Edelsteine & -metalle (12 %), Tabak (4 %) Elfenbein‐ küste Kakao (58 %), Gummi (11 %), Brennstoffe (9 %) Ghana Edelsteine & Metalle (34 %), Brennstoffe (25 %), Kakao (24 %) Kenia Kaffee & Tee (29 %), Pflanzen (10 %), Brennstoffe (6 %) Namibia Fleisch & Fisch (21 %), Edelsteine & -metalle (19 %), Kupfer (17 %) Ruanda Erze und Schlacke (41 %), Kaffee & Tee (38 %), Gemüse (1 %) Anmerkung: Anteile der drei wichtigsten Rohstoffe an den Exporten. Quelle: Worlds‐ topexports (2018) Trotz potenzieller positiver Wachstumsaussichten des Handels mit Primär‐ gütern waren die Erfolge dieser Strategie gemischt (vgl. Kapitel 7.4.2). Die Gründe hierfür sind vielfältig: negative Externalitäten auf andere Exportsektoren (vgl. Box 7.2), stark fluktuierende Exporteinnahmen in Abhängigkeit von starken Preisschwankungen (vgl. Abb. 7.4), ein Ausblei‐ ben des Strukturwandels (vgl. Kapitel 2.5) sowie eine sinkende (relative) Nachfrage nach Primärgütern, die zu einem langfristigen (relativen) 7 Globalisierung 290 <?page no="291"?> 5 Die Einkommenselastizität der Nachfrage nach Nahrungsmitteln gibt an, um wie viel Prozent sich die Nachfrage nach Nahrungsmitteln ändert, wenn das Einkommen um 1 % steigt. Ein Wert von 0,5 bedeutet beispielsweise, dass bei einer Einkommenssteigerung um 1 % die Nachfrage nach Nahrungsmittel um 0,5 % steigt. Die Einkommenselastizität der Nachfrage nach Nahrungsmitteln ist laut dem Engel’schen Gesetz kleiner als 1. Preisrückgang bei diesen Gütern führt und mit einer Verschlechterung des Austauschverhältnisses von Exporten zu Importen einhergeht. Das letztgenannte Argument ist in der Literatur als Prebisch-Sin‐ ger-Hypothese bekannt (Prebisch 1950, Singer 1950). Warum geht man davon aus, dass die Nachfrage nach Primärgütern langfristig sinkt? Eine Erklärung aus mikroökonomischer Perspektive bietet das sogenannte En‐ gel’sche Gesetz (nach dem Statistiker Ernst Engel aus dem Jahr 1857). Dieses besagt, dass die Ausgaben für Primärgüter (z. B. Nahrungsmittel) mit zunehmendem Wohlstand prozentual zum Einkommen abnehmen. Diese Entwicklung lässt sich empirisch beobachten: Während Nahrungsmittelausgaben anteilig an den gesamten Konsumausgaben von Haushalten in Nigeria im Jahr 2015 bei 56 % lagen, waren es in der Schweiz durchschnittlich nur 9 % (Weforum.org 2016). Die Einkommenselastizität 5 der Nachfrage nach Primärgütern ist folglich gering, im Gegensatz zu derjenigen von industriellen Produkten. Eine weitere Erklärung für sinkende relative Preise von Primärgütern findet sich im technologischen Fortschritt. Dieser führt einerseits zu einer effizienteren Nutzung von natürlichen Ressourcen (z. B. die Nutzung kleinerer Flächen und weniger Einsatz von Wasser bei gleichem Ertrag durch besseres Saatgut und Bewässerungstechniken). Andererseits ermöglicht der technologische Fortschritt die zunehmende Substitution von Rohstoffen durch günstigere synthetische Ersatzstoffe (z. B. Vanillesubsti‐ tute oder Synthetik anstelle von Baumwolle), wodurch die Nachfrage nach den Primärgütern weiter sinkt. Box 7.2 | Die „Holländische Krankheit“ Die Bezeichnung „Holländische Krankheit“ (Englisch: Dutch disease) geht auf die Wohlfahrtseffekte nach der Entdeckung von Erdgasvor‐ kommen in den Niederlanden im Jahr 1959 zurück. Anstatt von dem neuen Wohlstand durch die Exporte zu profitieren, litt die Wirtschaft der Niederlande damals unter Inflation, sinkenden Industrieexporten und steigender Arbeitslosigkeit. Ein ähnliches Phänomen erlebten auch 7.4 Handel und Entwicklung 291 <?page no="292"?> Nigeria, Mexiko und Saudi-Arabien nach dem Öl-Boom. Was waren die Ursachen? Da durch den Verkauf des Erdgases mehr ausländische Devisen ins Land flossen, die in die heimische Währung getauscht wurden, kam es zu einer Aufwertung der inländischen Währung (vgl. Box 4.9). Die Aufwertung der inländischen Währung hatte zur Folge, dass Exporte teurer wurden und die Nachfrage nach Exporten sank. Die Folge waren sinkende Löhne und steigende Arbeitslosigkeit in den Exportsektoren außerhalb des prosperierenden Erdgas-Sektors, der relativ wenig neue Arbeitsplätze generierte. Das führte zu einem Rück‐ gang der Konsumnachfrage. Die Abwertung der heimischen Währung (vgl. Kapitel 4.5) und Investitionen aus dem Export-Boom-Sektor in die Industrie oder Landwirtschaft sind Maßnahmen, um den negativen Folgen der „Holländischen Krankheit“ entgegen zu wirken. Indonesien verfolgte beispielsweise in den 1970er Jahren erfolgreich eine solche Politik während des Öl-Booms. Die relativ sinkende Nachfrage nach Primärgüterexporten würde dann zu einer langfristigen Verschlechterung des realen Austauschverhältnisses (Englisch: terms of trade) für die vorwiegend von Entwicklungsländern ex‐ portierten Primärgüter führen. Die Terms of Trade beschreiben die Preis‐ relation zwischen Exporten (Primärgüter) und Importen (Industriegüter). Diese Verschlechterung der Terms of Trade für Entwicklungsländer hat zur Folge, dass diese langfristig ein immer größeres Volumen an Primärgütern exportieren müssten, um die gleiche Menge an Industriegütern importieren zu können. Abb. 7.4 zeigt jedoch, dass eine langfristige Verschlechterung der Terms of Trade für Primärgüter empirisch nicht beobachtbar ist. 7 Globalisierung 292 <?page no="293"?> Entwicklung der Terms of Trade für Primärgüter Anmerkung: Landwirtschaft beinhaltet u.a. Kaffee, Tee, Kakao Früchte, Fleisch und Rohstoffe (z.B. Holz, Baumwolle). Unedle Metalle beinhalten u.a. Aluminium, Kupfer, Nickel, Zinn und Zink. Energie beinhaltet Kohle, Erdöl und Gas. Es handelt sich um gewichtete Mittelwerte. Quelle: Weltbank (2019) 0 50 100 150 200 250 300 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 Index (1980 = 100) Globales BIP Landwirtschaft Unedle Metalle Energie Abb. 7.4: Entwicklung der Terms of Trade für Primärgüter Anmerkung: Landwirtschaft beinhaltet u.a. Kaffee, Tee, Kakao, Früchte, Fleisch und Rohstoffe (z.B. Holz, Baumwolle). Unedle Metalle beinhalten u.a. Aluminium, Kupfer, Nickel, Zinn und Zink. Energie beinhaltet Kohle, Erdöl und Gas. Es handelt sich um gewichtete Mittelwerte. Quelle: Weltbank (2019) Ausgehend von dem Jahr 1980 ist bis zur Jahrtausendwende zwar ein Rückgang der Terms of Trade sowohl für landwirtschaftliche Produkte als auch für Metalle und Brennstoffe zu erkennen. Zu Beginn der 2000er Jahre verzeichneten LICs allerdings einen starken Anstieg der Terms of Trade, der zum einen auf die steigende Nachfrage nach Primärgütern aus aufstre‐ benden und bevölkerungsreichen Ländern wie China zurückzuführen ist. Zudem stiegen die Preise für Nahrungsmittel sowohl aufgrund der wach‐ senden Weltbevölkerung als auch bedingt durch den Rückgang der welt‐ weiten Nahrungsmittelproduktion zugunsten von Biokraftstoffkulturen an (Harvey et al. 2010). Die Nachfrage nach Metallen nimmt zu, da aufgrund des technologischen Fortschritts die Nachfrage nach Elektrogeräten und vor allem nach Computern und Mobiltelefonen angestiegen ist. Trotz der unklaren empirischen Evidenz für die Prebisch-Singer-Hypothese hat diese 7.4 Handel und Entwicklung 293 <?page no="294"?> die Handelsstrategien vieler Länder in der zweiten Hälfte der 1900er Jahre stark beeinflusst (vgl. Kapitel 7.5). 7.4.2 Zusammenhang zwischen Handel, Wachstum und Armut Aus den theoretischen Überlegungen ergeben sich sowohl eine Reihe po‐ tenzieller positiver als auch negativer Effekte des internationalen Handels für ärmere Länder, die sich zumindest zu Beginn ihrer wirtschaftlichen Entwicklung auf den Export von Rohstoffen (und den Import von Industrie‐ gütern) konzentrieren. Verschiedene empirische Studien deuten darauf hin, dass eine offene Handelsstrategie im Durchschnitt langfristig mit höheren Wachstumsra‐ ten aufgrund von Produktivitätssteigerungen durch Spezialisierung und der Erzielung von Skalenerträgen durch vergrößerte Absatzmärkte ver‐ bunden ist (Alcalá und Ciccone 2004, Dollar und Kraay 2004, Lee et al. 2004, Frankel und Romer 1999). Andere Studien zeigen, dass der Erfolg einer Handelsöffnung für die Bevölkerung daran geknüpft ist, inwieweit Länder mögliche Anpassungskosten, wie eine vorübergehende Erhöhung der Arbeitslosigkeit in den zuvor geschützten Industriesektoren, abfedern können. Wieder andere Studien sehen den Zusammenhang zwischen Handel und ökonomischer Entwicklung kritisch, vor allem für Länder, die sich fast ausschließlich auf den Export von Primärgütern fokussieren. Sie verweisen unter anderem auf die stärkere Anfälligkeit gegenüber ökonomischen (vgl. Kapitel 4.3.2) oder klimatischen (vgl. Kapitel 6.2.3) externen Schocks und die damit verbundenen Preisschwankungen (in der Landwirtschaft). Da sich vor allem afrikanische Länder auf den Export weniger Primärgüter spezia‐ lisieren (vgl. Tab. 7.2), sind sie von diesen Preisschwankungen besonders betroffen (Kose und Riezman 2001). Abb. 7.5 zeigt die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten des BIP pro Kopf für die Perioden von 1975 bis 2000 (blau) und von 2001 bis 2016 (grau) für LICs und MICs. Länder, die sich auf den Export von mineralischen Rohstoffen und Holz konzentrierten, erzielten zwischen 2001 und 2016 im Durchschnitt ähnliche Wachstumsraten wie andere Länder. Zwischen 1975 und 2000 lässt sich eine schwache negative Korrelation zwischen dem Wirtschaftswachstum und der Abhängigkeit von Rohstoffexporten beobachten. Es erstaunt daher nicht, dass ärmere Länder während dieser Zeit zum Exportpessimismus neigten. 7 Globalisierung 294 <?page no="295"?> Primärgüterexporte und Wirtschaftswachstum Quelle: Weltbank (2019) China Dem. Rep. Kongo Malaysia Oman Kongo Iran 0,01 0,1 1 10 0 10 20 30 40 50 60 70 Durchschnittliches jährliches Wachstum des BIP pro Kopf Einkünfte aus Rohstoffexporten (% BIP im ersten Jahr der Periode) 1975 - 2000 (76 Länder) 2001 - 2016 (76 Länder) Abb. 7.5: Rohstoffexporte und Wirtschaftswachstum Quelle: Weltbank (2019) Eine Reihe von Studien betont des Weiteren die Bedeutung von Insti‐ tutionen (vgl. Box 3.1) in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Pri‐ märgüterhandel und Wachstum. Schlecht funktionierende Institutionen (z. B. mangelnde Rechtsstaatlichkeit) verhindern, dass die Gewinne des Handels der Gesamtbevölkerung zugutekommen. Gut funktionierende In‐ stitutionen können dagegen die positiven Effekte erhöhen, z. B. durch Investitionen der Einnahmen aus Primärgüterexporten in anderen Sekto‐ ren (Mehlum et al. 2006). Natürliche Ressourcen können Institutionen aber auch schwächen und zu gewalttätigen Konflikten führen (vgl. Ka‐ pitel 3.1). Dies ist z. B. der Fall, wenn die Rohstoffeinnahmen korrup‐ tes Verhalten von Bürokraten und Politikern anregen (Sachs und War‐ ner 1995). Dieses Phänomen ist unter dem Begriff Ressourcenfluch bekannt (vgl. Kapitel 3.1). Es gibt viele Beispiele für ein langsames Wachstum ressourcenreicher Länder mit schwachen Institutionen, wie z. B. Nigeria und Venezuela (Tornell und Lane 1999). Im Gegensatz dazu machen Botswanas Diamantenexporte etwa 40 % des BIP aus, und das Land verzeichnete zwischen 1965 und 2000 die weltweit höchsten Wachs‐ tumsraten (Weltbank 2019), wofür vielfach dessen gute Regierungsführung verantwortlich gemacht wurde (Acemoglu et al. 2002). 7.4 Handel und Entwicklung 295 <?page no="296"?> Wie bereits in Kapitel 7.3 aufgezeigt wurde, führt internationaler Handel zu einer Umverteilung der Einkommen. Empirische Studien haben in den letz‐ ten Jahren darauf verwiesen, dass sich der Handel für einige Personengruppen negativ auf deren Einkommen und Beschäftigung auswirkt und so zu mehr Ungleichheit und Armut beitragen kann (Autor et al. 2013). Beispielsweise konkurrieren Arbeiter in arbeitsintensiven Sektoren in Europa mit Arbeitern aus China, die zu niedrigeren Löhnen arbeiten. Auf der anderen Seite führt eine stärkere Integration in den Weltmarkt oft zu einer höheren Nachfrage nach Arbeit in den Exportsektoren von LICs und MICs (und somit zu höheren Löhnen), was die Armut verringern kann (Kis-Katos und Sparrow 2015). Wenn dafür in anderen Bereichen internationale Importe billiger sind als die heimische Produktion, kann dies aber auch dazu führen, dass lokale Anbieter vom Markt verdrängt werden und die Arbeitslosigkeit in diesen Sektoren steigt (Dorn und Hanson 2013). Eine Studie aus dem Jahr 2017 mit Fokus auf LICs und MICs kommt zu dem Schluss, dass die Auswirkungen des Handels auf Ungleichheit vor allem von der Art der Handelspolitiken (vgl. Kapitel 7.5) abhängen sowie von der Mobilität von Arbeitnehmern und Kapital zwischen Unternehmen, Branchen und geografischen Standorten (Pavnik 2017). Darüber hinaus legen empirische Studien nahe, dass Handel zur Armutsminderung beiträgt, wenn er von Investitionen in Infrastruktur sowie dem Ausbau von Schul- und Ge‐ sundheitssystemen begleitet wird (vgl. Kapitel 5.5 und 5.6), um Humankapital zu bilden und so den mit Handel verbundenen internationalen Transfer von Wissen und Technologie nutzen zu können (Winters et al. 2004). Diese Ergebnisse betonen demnach die wichtige Rolle nationaler Poli‐ tiken zur Realisierung der positiven Effekte der Globalisierung für die (ärmeren) Bevölkerungsgruppen. 7.5 Handelspolitik 7.5.1 Importsubstitution Ziel der Importsubstitution ist meist der temporäre Schutz und dann der Aufbau des inländischen Industriesektors, um den Strukturwandel zu beschleunigen (vgl. Kapitel 2.5). Hinter dieser Handelsstrategie stehen drei Überlegungen. Erstens: Der Aufbau eines Industriesektors dauert sehr lange. Zweitens: Der Industriesektor ist langfristig wichtig für eine ökonomische 7 Globalisierung 296 <?page no="297"?> Entwicklung. Drittens: Die anfängliche Konkurrenzfähigkeit einheimischer Unternehmen auf dem Weltmarkt ist gering. Ein temporärer staatlicher Schutz des industriellen Sektors soll deshalb helfen, internationale Wett‐ bewerbsfähigkeit zu erlangen (Erziehungszollargument, Englisch: infant industry argument). Die Importsubstitution wird durch temporäre Ein‐ fuhrzölle auf importierte Konsum- und Investitionsgüter, Einfuhroberg‐ renzen und Subventionen der inländischen Produktion realisiert. Die Funktionsweise einer Importsubstitution und die sich daraus ergeben‐ den Folgen für ein Land können am Beispiel von Einfuhrzöllen gut illustriert werden. Abb. 7.6 zeigt exemplarisch für Kenia die inländische Nachfrage- und Angebotskurve von Schuhen als Funktion des inländischen Preises. Mit steigendem Preis sinkt die nachgefragte Menge und steigt die angebotene Menge an Schuhen. Ohne Handel würde sich das Marktgleichgewicht bei einem inländischen Preis P I einstellen: Die Nachfrage entspricht dem Ange‐ bot. Bei Freihandel hingegen ergäbe sich für kenianische Konsumenten die Möglichkeit, die Schuhe zum Weltmarktpreis P W zu erwerben, der geringer ist als der kenianische Preis P I . Zu diesem günstigeren Preis läge die Nachfrage nach Schuhen in Kenia bei der Menge M 1. Produziert würde jedoch nur die Menge M 2 und damit weniger als zuvor, weil sich für einige kenianische Produzenten zum Preis P W die Produktion nicht mehr lohnt und diese vom Markt verdrängt würden. Um die Nachfrage zu befriedigen, würde Kenia die Menge M 1 - M 2 importieren. Zu vollständigem Freihandel kommt es allerdings nicht, weil die Regie‐ rung die inländischen Produzenten vor der ausländischen Konkurrenz durch einen Zoll (t) schützt. Derzeit liegt dieser Zoll bei t=35 % (Africa 2019). Dies führt zu einem inländischen Preis von P Z =(P W (1+t)) und damit zu einer Situation zwischen vollständiger Autarkie und Freihandel. Im Vergleich zum Freihandel kommt es zu einer geringeren inländischen Nachfrage nach Schuhen (M 3 statt M 1 ) sowie zu einer Ausweitung der heimischen Produktion an Schuhen (von M 2 auf M 4 ). Die importierte Menge an Schuhen sinkt von M 1 - M 2 auf M 3 - M 4 . Da inländische Unternehmen Schuhe nun zu einem höheren Preis abset‐ zen können, erhöht sich die Produzentenrente (Differenz zwischen Erlös und Kosten). Der Anstieg der Produzentenrente wird durch die Fläche a beschrieben. Auch der Staat profitiert durch die Einführung des Zolls in Form zusätzlicher Staatseinnahmen (Fläche c). Für die Konsumenten wirkt sich der Zoll durch höhere Preise für Schuhe und einen Rückgang des Konsums jedoch negativ aus (Flächen a, b, c und d). Transfers, die bei den 7.5 Handelspolitik 297 <?page no="298"?> Produzenten (a) und dem Staat (Zolleinnahmen c) anfallen, kompensieren diesen negativen Effekt nur teilweise. Die Flächen b + d stellen die stati‐ schen Wohlfahrtsverluste des Landes durch Zölle dar. Diese entstehen zum einen durch den ineffizienten Einsatz der Produktionsfaktoren. Es wäre effizienter, Schuhe zu importieren und die heimischen Produktions‐ faktoren gemäß den komparativen Kostenvorteilen in anderen Sektoren einzusetzen. Zum anderen entstehen die Wohlfahrtsverluste durch die Kosten, die sich aus den höheren Preisen für Schuhe ergeben, und durch ein reduziertes Angebot für die Konsumenten. Abb. 7.6 a b c d Inländische Nachfrage Inländisches Angebot M 1 M 3 M 4 M 2 Preis ohne Handel (P I ) Preis mit Zoll (P Z ) Weltmarkt Preis (P W ) P Z =P W (1+t) Menge an Schuhen Preis pro Paar Schuhe Abb. 7.6: Effekte von Zöllen auf Produktion und Preise Trotz dieser statischen negativen gesamtwirtschaftlichen Effekte von Schutzzöllen gegenüber dem Freihandel können durch Importsubstitution langfristige positive inländische Wachstumseffekte erzielt werden, wenn von der Entwicklung des geschützten Industriezweigs durch Skale‐ nerträge, Innovation und Arbeitsplätze positive Externalitäten für die 7 Globalisierung 298 <?page no="299"?> wirtschaftliche Entwicklung insgesamt entstehen und es dadurch möglich ist, einen funktionierenden Industriesektor aufzubauen (vgl. Kapitel 7.3 und 2.4.3). Branchen, die zu einer solchen gesamtwirtschaftlichen Dynamik führen, sollten mittelfristig internationale Wettbewerbsfähigkeit erlangen, so dass die Importsubstitution zeitlich begrenzt werden kann. Ob es sich bei der kenianischen Schuhindustrie wirklich um eine solche Branche handelt, ist offen. Generell ist die Gefahr groß, dass Schutzzölle eher aus klientelisti‐ schen Motiven bzw. aufgrund des Lobbyings bestimmter Interessengruppen eingeführt werden als aus einer wirtschaftlichen Entwicklungsperspektive (vgl. Kapitel 3.3 und 3.4.2). Wenn es bei Importsubstitution letztlich um positive Externalitäten auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung geht, stellt sich ferner die Frage, warum zur Unterstützung der Schuhindustrie nicht Subventionen anstatt Importzölle gewählt werden. Durch Subventionen könnte die Industrie gefördert werden, ohne die heimischen Konsumenten durch die Reduktion der Konsumentenrente zu benachteiligen und ohne den Staat von Zollein‐ nahmen „abhängig“ zu machen. Die Antwort auf diese Frage liegt vermutlich in erster Linie bei den in Kapitel 4.2 beschriebenen Problemen der LICs und MICs, Steuern zu erheben, um solche Subventionen zu finanzieren. Viele LICs und MICs, insbesondere in Lateinamerika (z. B. Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko und Venezuela), setzten zwischen 1930 und 1980 auf Importsubstitution. Dies führte zunächst vielfach zu einer starken Expansion des geschützten Sektors, wie z. B. in der Textil- und Schuh‐ industrie in Chile. Diese hielt an, bis die inländische Nachfrage befriedigt war. In den 1970er Jahren zeigte sich, dass die anfänglichen Erfolge nicht aufrechterhalten werden konnten und das Wirtschaftswachstum stagnierte. Die unterstützten Industrien wurden oft zu lange geschützt, weil Unterneh‐ men und Arbeiter sich durch Lobbytätigkeiten für die Aufrechterhaltung des Schutzes einsetzten. Unternehmen hatten jedoch gerade durch den Außen‐ schutz keine Anreize, ihre Produktivität sowie die Qualität der Produkte zu verbessern, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu werden (WTO 2003). Hinzu kam, dass der inländische Markt, einmal abgesehen von Ländern wie Indien, China, Nigeria oder Bangladesch, meist nicht groß genug war, um die Produktionskosten hinreichend zu senken und von Skaleneffekten zu profitieren. Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass die Importsubsti‐ tution vielfach durch eine künstliche Überbewertung der eigenen Währung unterstützt wurde, z. B. in Chile und Argentinien, um den Import von 7.5 Handelspolitik 299 <?page no="300"?> Vor- und Zwischenprodukten zu verbilligen (vgl. Kapitel 4.5). Diese Politik verteuerte allerdings die Exporte und verringerte die Wettbewerbsfähigkeit des Exportsektors. 7.5.2 Exportorientierte Handelsstrategie Seit den 1980er Jahren orientieren sich viele LICs und MICs an einer liberaleren und offeneren Handelspolitik. Viele Länder verfolgen dabei eine exportorientierte Handelsstrategie. Der Grundgedanke dieser Stra‐ tegie ist die sukzessive Öffnung des heimischen Marktes, um durch den Wettbewerb auf dem Weltmarkt die Produktivität der heimischen Industrie zu erhöhen. Der theoretische Vorteil der Exportorientierung gegenüber der Importsubstitution ist, dass die Exportindustrien dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, was die Gefahr einer ineffizienten Ressour‐ cenallokation verringert und die Möglichkeit, durch die Ausweitung der Produktion für die weltweite Nachfrage innerbetriebliche Skalenerträge zu erzielen, erhöht. Die wesentlichen handelspolitischen Instrumente einer exportorientierten Handelsstrategie bestehen zum einen aus dem direkten Abbau von Handelshemmnissen wie Schutzzöllen und vor allem aus der konkreten Förderung der Exportsektoren (vgl. Box 7.3). Hierzu zählen insbesondere die Wechselkurspolitik (vgl. Kapitel 4.5) sowie vergüns‐ tigte Kredite (vgl. Kapitel 4.4.3) und Steuervergünstigungen. Box 7.3 | Äthiopien - aufstrebender Produktionsstandort in Afrika Steigende Arbeitskosten in asiatischen Ländern haben dazu geführt, dass Unternehmen zunehmend in Afrika neue Produktionsstandorte suchen. Äthiopien gehört mit einem BIP pro Kopf von 767 US$ im Jahr 2017 zu den ärmsten Ländern der Welt. Die äthiopische Regierung verfolgt derzeit einen ehrgeizigen strukturellen Transformationsplan (vgl. Kapitel 2.5) und die Förderung des Exportsektors, um das pro-Kopf Einkommen der Bevölkerung zu erhöhen. Im Zentrum dieses Vorhabens stehen die Weiterentwicklung des verarbeitenden Gewerbes (z. B. Tex‐ tilien) und die Transformation der Landwirtschaft (Produktivitätsstei‐ gerungen durch Mechanisierung und den Einsatz von leistungsfähigem Saatgut). Hinzu kommen Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur (Afrikas erste elektrisch betriebene Eisenbahn und Ethiopian Airlines) sowie die Entwicklung und Expansion von Industrieparks. Diese sollen 7 Globalisierung 300 <?page no="301"?> die Effizienz der genannten Sektoren durch Spezialisierung steigern und die Befreiung von der Einkommensteuer soll Investitionsanreize setzen. Durch den Einsatz erneuerbarer Energien sollen zudem höhere Standards im Umweltschutz eingehalten werden. Äthiopien hat sich mit Hilfe dieser Maßnahmen zu einem bevorzugten Ziel für ausländische Direktinvestitionen entwickelt, die seit 2010 im Durchschnitt um fast 50 % pro Jahr gestiegen sind (Weltbank 2019). Zwischen 2010 und 2017 beliefen sich die jährlichen Wachstumsraten Äthiopiens auf durch‐ schnittlich 10 %. Die extreme Armut sank von 44 % im Jahr 2000 auf 24 % im Jahr 2016. Eine weiteres Instrument der exportorientierten Handelspolitik ist die Einrichtung von Freihandelszonen (Export Processing Zones, EPZs) in‐ nerhalb von Ländern. Die Idee der EPZs liegt darin, Exportindustrien in der Übergangsphase bis zum vollständigen Abbau der Handelshemmnisse be‐ sonders zu fördern. Unternehmen in den EPZs profitieren z. B. von günstigen Krediten sowie von Steuererleichterungen. EPZs sollen zusätzliche FDIs anziehen, die sowohl mit zusätzlichen finanziellen Mitteln, als auch mit internationalem Wissenstransfer einhergehen. Der Erfolg der EPZs hängt stark von deren Management und institutionellen Rahmenbedingungen ab. Während einige Länder in Asien (z. B. Singapur) und Lateinamerika (z. B. Panama) positive Erfahrungen machten, blieben die erwarteten positiven Effekte in den meisten afrikanischen Ländern (z. B. Senegal, Tschad und Burkina Faso) bisher aus (Weltbank 2001). Neben geografischen Faktoren (z. B. kein Zugang zur Küste) wirken die mangelnde Qualität der Trans‐ portinfrastruktur, bürokratische Hürden und Korruption sowie das relativ geringe Bildungsniveau der Bevölkerung dem Erfolg der Freihandelszonen entgegen. Die in den letzten drei Jahrzehnten ökonomisch erfolgreichen asiatischen Länder, wie China, Indonesien, Malaysia und Vietnam, haben sich für eine exportorientierte Handelsstrategie entschieden und die Importsubsti‐ tution nach und nach reduziert. Zwischen 1993 und 2003 sind die durch‐ schnittlichen Einfuhrzölle für nichtlandwirtschaftliche Erzeugnisse und Industriegüter in Ostasien um 13 Prozentpunkte gesunken, im Vergleich zu 2 Prozentpunkten in Lateinamerika und Afrika (Weltbank 2019). Die Länder konzentrierten sich zu Beginn auf die Förderung von arbeitsintensiven Sektoren, wie die Fertigung von Textilien und Möbeln. Mit zunehmender 7.5 Handelspolitik 301 <?page no="302"?> Produktivitätssteigerung fand eine stetige Diversifizierung in kapital- und wissensintensivere Sektoren statt, wie beispielsweise die Fertigung von elektronischen Geräten sowie computerbasierte Dienstleistungen. Wachstumserfolge durch eine exportorientierte Handelspolitik sind allerdings keine Selbstverständlichkeit. Der Erfolg hängt z. B. von der Nach‐ frage auf dem Weltmarkt ab. Solange LICs nur einen beschränkten Zugang zu den Märkten Europas haben, können sie nicht den vollen Nutzen aus einer exportorientierten Handelspolitik ziehen. Tendenziell unterliegen die von LICs produzierten Waren hohen Handelshemmnissen in HICs (Weltbank 2015). Ein Beispiel hierfür ist der Protektionismus des Agrarsektors durch die EU oder die Schweiz in Form von Zöllen und Subventionen. Nichttarifäre Handelshemmnisse, wie beispielsweise Mindestquali‐ tätsstandards, können die Exportmöglichkeiten von LICs ebenfalls stark einschränken. Würde man die Beschränkungen nichttarifärer Maßnahmen in ein Zolläquivalent umrechnen, käme man laut Schätzungen auf einen durchschnittlichen Zoll für landwirtschaftliche Güter aus Entwicklungslän‐ der von 27 % (UNCTAD 2012). Eine weitere (indirekte) Herausforderung der Exportorientierung liegt in der bereits angesprochenen Verteilung der Wohlfahrtsgewinne. Nicht alle Personen profitieren gleichermaßen vom Handel. Hinzu kommen nied‐ rige Sozial- und Umweltstandards in vielen LICs, die zu sogenannten Sweatshops führen können, die durch unzumutbare Arbeitsbedingungen (z. B. mangelnde Sicherheit, wenige Pausen, hohe Wochenstundenzahl) und niedrige Löhne gekennzeichnet sind (Blattman und Dercon 2017). In der öffentlichen Diskussion werden Entwicklungsländer deshalb auch häufig als Niedriglohnländer bezeichnet, weil die Löhne in diesen Ländern bei gleicher Bildungsqualifikation weit unter den Löhnen in HICs liegen. Die Unterschiede in den Löhnen können gemäß dem Ricardo-Modell zum Teil durch Unterschiede in der Produktivität erklärt werden. Das heisst, die relativ geringen Löhne in LICs spiegeln deren relativ geringes Produk‐ tivitätsniveau wider. Allerdings führen auch die niedrigeren staatlichen Sozial-, Arbeits-, und Umweltstandards sowie oftmals mangelnde Al‐ ternativen für Arbeitnehmer oder Monopolstellungen von internationalen Arbeitgebern zu niedrigeren Löhnen in LICs. Langfristig wird erwartet, dass durch Fortschritte in der Arbeitsproduktivität die Lohnunterschiede zurückgehen und sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Vor allem die im Jahr 1919 gegründete Internationale Arbeitsorganisation (International Labor Organization, ILO) setzt sich für die Entwicklung und Umsetzung 7 Globalisierung 302 <?page no="303"?> 6 Die acht wichtigsten Übereinkommen der ILO, die auch als Kernarbeitsnormen bezeich‐ net werden, sind: Abkommen gegen die Zwangsarbeit (von 1930, ratifiziert von 162 Ländern), Abkommen über die Aufhebung von Zwangsarbeit (von 1957, ratifiziert von 160 Ländern), Abkommen gegen die Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf) (von 1958, ratifiziert von 143 Ländern), Abkommen über die Gleichheit des Entgelts (von 1951, ratifiziert von 147 Ländern), Abkommen über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes (von 1948, ratifiziert von 159 Ländern), Abkommen über das Vereinigungsrecht und Kollektivverhandlungen (von 1949, ratifiziert von 153 Ländern), Abkommen über das Mindestalter in der Beschäftigung (von 1973, ratifiziert von 130 Ländern), Abkommen über die schlimmsten Formen der Kinderarbeit (von 1999, ratifiziert von 143 Ländern) (Humanrights 2009). 7 Dieses Ziel ist auch in dem SDG-Ziel 8 (dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle) verankert. 8 Liegt der globale Marktpreis unter dem festgelegten Mindestpreis, bekommen die Bau‐ ern den Mindestpreis. Liegt der globale Marktpreis über dem festgelegten Mindestpreis, erhalten die Bauern den tatsächlichen Marktpreis. internationaler Arbeits- und Sozialstandards ein. 6 Im Jahr 1999 verabschie‐ dete die ILO das Ziel der menschenwürdigen Arbeit (Englisch: decent work), welches über die Einhaltung von Kernarbeitsnormen hinausgeht und z. B. die Verbesserungen von Chancen auf produktive Arbeit und ein gerechtes Einkommen, die Sicherheit am Arbeitsplatz, die soziale Absicherung für Familien sowie die Chancengleichheit im Hinblick auf die Behandlung von Frauen und Männern umfasst. 7 7.6 Fairer Handel? Wer hat nicht schon einmal Produkte (z. B. Kaffee, Bananen oder T-Shirts) mit einem Label für „Fairen Handel“ (vgl. Box 7.4) gekauft und sich dabei die Frage gestellt, ob dieser Kauf den Bäuerinnen oder Näherinnen in ärme‐ ren Ländern zu einem höheren Lebensstandard verhilft? Aus ökonomischer Perspektive stellt sich die Frage: Kann der sogenannte „Faire Handel“ (Englisch: fair trade) eine Lösung für das Problem niedriger Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen in LICs sein (vgl. Kapitel 7.5)? Diese Frage ist von besonderer Relevanz, weil zwei Drittel aller weltweit in Armut lebenden Menschen in direkter oder indirekter Form von der Kleinland‐ wirtschaft abhängig sind (FAO 2015). Fairer Handel zeichnet sich meist durch mehrere der folgenden Eigen‐ schaften aus: (1) die Zahlung von Mindestpreisen für die Produkte 8 , (2) 7.6 Fairer Handel? 303 <?page no="304"?> Prämien, die die Produzenten für Infrastruktur- oder soziale Projekte (wie zum Beispiel Bildung) nutzen können, (3) langfristige und partnerschaftliche Handelsbeziehungen, (4) die Organisation von Bauern in Produzenten‐ kooperativen zur Stärkung der Verhandlungsmacht sowie (5) die Umsetzung nachhaltiger Sozial- und Umweltstandards (Swiss Fair Trade 2018) und (6) Zugang zu Mikrokrediten (vgl. Kapitel 4.4.3). Entsprechend diesen Kriterien hergestellte Produkte werden durch ver‐ schiedene Organisationen zertifiziert und für die Konsumenten kenntlich gemacht (vgl. Box 7.4). Dabei handelt es sich in der Regel um Nichtregie‐ rungsorganisationen (NROs), die sich gleichzeitig für die Interessen der Produzenten und die Vermarktung des Labels in den Konsumentenländern einsetzen. Für Produkte mit komplexen Lieferketten, wie im Textilbereich, bemühen sie sich zudem um mehr Transparenz bezüglich der Produkti‐ onsbedingungen ihrer Produkte, um beispielsweise die Einhaltung von Arbeitsnormen der ILO durchzusetzen. Zertifizierte Produkte machen immer noch einen sehr kleinen, wenn auch steigenden, Marktanteil aus. In der Schweiz wird weltweit am meisten für fair gehandelte Produkte ausgegeben. Aber auch hier betrugen die Pro-Kopf-Ausgaben der Konsumenten im Jahr 2017 nicht mehr als 91 SFr. für fair gehandelte Produkte (Swiss Fair Trade 2018a); Konsumenten in Deutschland gaben nur 18 € aus (Forum Fairer Handel 2019). Die Markt‐ anteile verschiedener fair gehandelter Produkte zeigen allerdings große Unterschiede, von fair gehandelten Bananen mit einem Marktanteil von 53 % in der Schweiz, zu Kaffee mit 10 % und Kakao mit einem Marktanteil von nur 6 % (Fairtrade Max Havelaar-Stiftung 2017). Abb. 7.7 zeigt die Aufteilung des Ladenpreises für Kaffee, der mit dem Gütesiegel Fairtrade Max Havelaar zertifiziert ist, im Vergleich zu konven‐ tionellem Kaffee (pro kg). Sowohl der Ladenpreis für zertifizierten Kaffee als auch der Preis, den zertifizierte Kaffeebauern erhalten, ist bei Fairtrade ca. 15 % höher (15,3 vs. 13,5 SFr. und 2,45 vs. 2,10 SFr.). Die Abbildung zeigt allerdings auch deutlich, dass nicht der gesamte höhere Preis, den der Konsument zahlt (15,3 - 13,5 = 1,8 SFr.), dem Kleinbauern zugutekommt (2,45 - 2,10 = 0,35 SFr.). 0,49 SFr. dieser Differenz für Fairtrade-Kaffee geht an die Fairtrade-Organisation in Form von Lizenzgebühren, um deren Dienstleistungen zu finanzieren (z. B. Produzentenunterstützung, Qualitäts‐ sicherung, Sensibilisierungsarbeit). 7 Globalisierung 304 <?page no="305"?> Aufteilung der L adenpreise von konventionellen und Fairtrade K affee Fairtrade Max Havelaar-Kaffee Herkömmlicher Kaffee Schiffstransport Fairtrade-Kooperative Kleinbauer Zwischenhandel Fairtrade-Lizenzgebühr Vearbeitung, Handelsmarge, Zölle, Verpackung, Distribution Fairtrade Prämie Total: 15,30 SFr./ kg Total: 13,49 SFr./ kg 2,45 SFr. 1,05 SFr. 10,75 SFr. 0,25 SFr. 0,25 SFr. 0,40 SFr. 2,10 SFr. 9,74 SFr. 1,40 SFr. 0,40 SFr. Abb. 7.7: Aufteilung des Preises von konventionellem und Fairtrade-Kaffee Quelle: Fairtrade Max Havelaar (2015) Interessant an Abb. 7.7 ist vor allem, dass in der Wertschöpfungskette zwar ein großer Unterschied zwischen Ladenpreis und Produzentenpreisen besteht, Zwischenhändler jedoch nur einen kleinen Teil des Kaffeepreises erhalten. Dieser Umstand widerspricht der Hypothese, dass Informations‐ asymmetrien (vgl. Kapitel 4.4) dazu führen, dass lokale Zwischenhändler ihre Marktmacht ausnutzen, um die Preise der Produzenten zu drücken. Die größte Wertschöpfung findet im Einzelhandel statt oder geht in Form von Zöllen an das importierende Land, d. h. Deutschland, die Schweiz oder Österreich. Eine Reduktion von Zöllen auf Kaffee und vor allem eine höhere Wertschöpfung in der Kaffeeverarbeitung in den Produzentenlän‐ 7.6 Fairer Handel? 305 <?page no="306"?> dern würde letztendlich einen größeren Effekt auf das Einkommen der Produzenten in den LICs haben als der faire Handel mit Primärgütern. Das Modell des Fairen Handels sollte jedoch nicht nur aus rein han‐ delstheoretischer Perspektive betrachtet werden. Auch die Dimension der Entwicklungszusammenarbeit ist in eine Bewertung einzubeziehen (vgl. Kapitel 8), da eine reine Marktlösung das Problem niedrigerer Löhne und schlechterer Arbeitsbedingungen nicht zu beheben vermag. Konsumenten in Europa sind eher bereit, einen höheren Preis für gewisse Produkte zu zahlen, als zum Beispiel an eine NRO zu spenden (Günther und Veronesi 2019). Die ausgezahlten Prämien an Kooperativen werden zum Beispiel für den Bau von Schulen eingesetzt und unterstützen hiermit die langfristige Entwicklung von Gemeinden. Fair gehandelte Produkte können zudem dazu führen, dass sich Konsumenten in Europa der sozialen und ökologischen Auswirkungen ihres Konsums eher bewusst werden. Box 7.4 | Label für Fairen Handel Ein Produkt mit einem Label für Fairen Handel muss bei seiner Herstel‐ lung bestimmte ökonomische, soziale und auch ökologische Kriterien erfüllen. Das bekannteste Label für Fairen Handel ist jenes der Fairtrade Labeling Organisation International (FLO), einer im Jahr 1997 gegrün‐ dete Dachorganisation für Fairen Handel. Daneben gibt es weitere Labels des Fairen Handels wie etwa das der im Jahr 1975 in Deutschland gegründeten Fair Trade Company (GEPA). Derzeit produzieren rund 1,5 Mio. Kleinbauern in 74 Ländern - von weltweit geschätzten 500 Mio. Kleinbauern (Nagayets 2005) - unter dem Fairtrade Label der FLO. Die 1992 von sechs großen Schweizer Hilfswerken gegründete Max Havelaar-Stiftung Schweiz ist eine NRO, die in der Schweiz das Fairtrade-Label der FLO für fair gehandelte Produkte vergibt und das Ziel verfolgt, die Lebensbedingungen von Kleinbauern durch Fairen Handel zu verbessern. Max Havelaar selbst betreibt keinen Handel, leistet aber Informations- und Sensibilisierungsarbeit für den Fairen Handel in der Schweiz. Quelle: Fairtrade Max Havelaar-Stiftung (2015) 7 Globalisierung 306 <?page no="307"?> Eine Meta-Studie aus dem Jahr 2017, die 168 wissenschaftliche Studien zu den Effekten von Fairem Handel auf das Leben der Kleinbauern zusam‐ menfasst, kommt zum Schluss, dass die Prämien an die Kooperativen und die Mindestpreise das Einkommen bei Kleinbauern im Schnitt um 11 % erhöhen. Die Studien finden kaum Verbesserungen in der Bildung und Gesundheit der Familien (Oya et al. 2017). Zum einen lag der für viele Produkte, wie z. B. Kaffee, festgelegte Mindestpreis in den letzten Jahren oft unter dem Marktpreis. Die Idee eines erhöhten Preises und somit eines erhöhten Einkommens kam daher nicht zum Tragen. Zum anderen macht das Einkommen aus dem Handel mit Tee oder Kaffee oft nur 10-50 % des Gesamteinkommens der Kleinbauern aus. Zu den größten Herausforderungen der Bauern und der Wirksamkeit von Zertifikaten des Fairen Handels gehören die weiterhin geringe Nachfrage nach fair gehandelten Produkten in reicheren Ländern. Hinzu kommt, dass der Bauer bei vielen Organisationen zwar seine ganze Produktion auf Fairen Handel umstellen muss (mit höheren Kosten durch höhere Sozial- und Umweltstandards), aber keine Abnahmegarantie erhält. Es wird nur so viel zu den Bedingungen von Fairem Handel abgenommen, wie letztendlich vom Konsumenten nachgefragt wird. Im Jahr 2012 wurden zum Beispiel 3,3 Mio. Tonnen Kaffee unter Bedingungen des Fairen Handels produziert, den Bauern aber nur 840.000 Tonnen zu den bei Fairem Handel geltenden Konditionen abgekauft (Potts et al. 2014). Kritiker des Fairen Handels weisen zudem darauf hin, dass die zertifi‐ zierten Bauern oft nicht die ärmsten Bauern sind. Um eine Zertifizierung zu erhalten, müssen gewisse Qualitäts- und Sozialstandards erfüllt sein, was ein gewisses Maß an Bildung und Kapital voraussetzt, über das die Ärmsten nicht verfügen. Andererseits können sich auch nicht alle Bauern zertifizieren lassen. Dies ist nur für solche Bauern möglich, deren Betriebe eine bestimmte Größe nicht überschreiten und die einer demokratisch geführten Kooperative angehören. Weder Einzelbauern noch Großbauern können bisher ihren Kaffee zertifizieren lassen, auch wenn sie sonst alle Be‐ dingungen (gute Bezahlung, umweltverträgliche Produkte, Bau von Schulen und Kliniken für die Gemeinschaften) erfüllen. Die Folge ist, dass nur sehr wenige Bauern weltweit zertifiziert sind (vgl. Box 7.4). 7.6 Fairer Handel? 307 <?page no="308"?> 7.7 Migration Neben dem internationalen Handel ist die grenzüberschreitende Migration eine wichtige Dimension der Globalisierung. Durch die Medien, das Internet und den Austausch über soziale Netzwerke erhalten Menschen weltweit Zugang zu Informationen über Chancen und Risiken des Lebens und Arbei‐ tens an anderen Orten der Welt (Weltbank 2016b). Die Suche nach Arbeit, Bildung und Lebensqualität wurde weltweit kosten- und zeiteffizienter. Während jedoch die meisten Länder bemüht sind, Handelsbeschränkungen abzubauen, steigt die Tendenz zu strengeren Kontrollen bei der Migration (BMZ 2018). Die Ursachen (vgl. Kapitel 7.7.2) und Folgen (vgl. Kapitel 7.7.3) internationaler Migration werden in den Medien und der Politik oft disku‐ tiert und zum Teil auch instrumentalisiert. Um Migrationspolitik effektiv anzugehen, ist es wichtig, die internationale Migration und ihre verschiede‐ nen Erscheinungsformen (vgl. Box 7.5) zu verstehen. Nur so ist es möglich, einerseits auf die vielfältigen Bedürfnisse von Migranten einzugehen und andererseits die Chancen internationaler Migration für Menschen in den Herkunfts- und Zielländern zu nutzen. Box 7.5 | Definition und Typisierung von Migration Migrant: Eine Person, die sich innerhalb eines Staates oder über eine internationale Grenze bewegt, unabhängig von ihrem rechtlichen Sta‐ tus, der Dauer und den Ursachen der Migration sowie der Frage, ob sie ihre Heimat freiwillig oder unfreiwillig verlassen hat. Arbeitsmigration: Personen, die innerhalb ihres Heimatstaates oder in einen anderen Staat zum Zwecke der Beschäftigung, d. h. aus wirtschaft‐ lichen Gründen, migrieren. Flüchtlinge: Personen, die sich „aus der begründeten Furcht vor Verfol‐ gung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.“ (Artikel 1A der Genfer Flüchtlingskonvention, UNHCR 1951). Erzwungene Migration: Migration, die ein Element der Nötigung be‐ inhaltet, das sich aus natürlichen oder vom Menschen verursachten Ursachen ergibt (z. B. aufgrund von Gewalt, Krieg oder Umweltkatastro‐ phen), einschließlich der Bedrohung des Lebens. 7 Globalisierung 308 <?page no="309"?> Asylsuchende: Personen, die in einem anderen Land Schutz vor Verfol‐ gung suchen und eine Entscheidung über den Antrag auf Anerkennung als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention erwarten. Binnenvertriebene: Personen, die gezwungen sind zu fliehen, jedoch keine internationale Grenze überschreiten. Ursachen für ihre Flucht sind die Folgen oder die Vermeidung bewaffneter Konflikte sowie natürlicher oder von Menschen verursachter Katastrophen. Umsiedlung: Eine meist staatlich gelenkte und staatlich organisierte Migration von Menschen (Flüchtlinge, Binnenvertriebene usw.) in ein anderes geografisches Gebiet. Irreguläre Migration: Internationale Migration von Personen, die ohne einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus oder eine Genehmigung oder außerhalb internationaler Übereinkünfte (siehe UNHCR) stattfindet. Quelle: IOM (2018) 7.7.1 Wie hat sich die internationale Migration verändert? Im Jahr 2017 migrierten 258 Mio. Menschen zwischen Ländern, verglichen mit 173 Mio. im Jahr 2000 (vgl. Abb. 7.8). Bei einer Weltbevölkerung von 7,5 Mrd. Menschen bedeutet dies, dass 3 % der Weltbevölkerung nicht in ihrem Geburtsland lebt (IOM 2018). Die internationale Migration ist somit schneller gewachsen als die Weltbevölkerung und hat den Bevölkerungs‐ rückgang in einigen Ländern kompensiert. 7.7 Migration 309 <?page no="310"?> Trends der internationalen Migration weltweit Quelle: IOM (2018) 142 161 167 191 216 247 266 0 % 1 % 2 % 3 % 4 % 0 50 100 150 200 250 300 1990 1995 2000 2005 2010 2013 2017 Anteil Migranten an Weltbevölkerung Migranten (in Millionen) Anzahl Migranten Anteil Migranten an Weltbevölkerung Abb. 7.8: Trends der internationalen Migration weltweit Quelle: IOM (2018) Wohin migrieren die meisten Menschen und woher kommen sie? Die internationale Migration findet hauptsächlich zwischen Ländern derselben Region statt (Abb. 7.9). Ungefähr 90 % der Migranten in afrikanische Länder kamen im Jahr 2017 aus Afrika und 83 % der internationalen Migranten in asiatische Länder kamen vom asiatischen Kontinent. 53 % der europäischen Immigranten kamen aus Europa. Obwohl der mediale Fokus auf der Migra‐ tion in OECD-Länder liegt, macht die Süd-Nord-Migration verglichen mit der Süd-Süd-Migration lediglich einen kleinen Anteil aus. Das derzeitige Migrationsmuster deutet drauf hin, dass dies auch so bleiben wird, da die intraregionale Migration (Süd-Süd-Migration) schneller zunimmt als die Süd-Nord-Migration. Dies liegt vor allem an den sich verschärfenden Mi‐ grationsregimen im Norden. 7 Globalisierung 310 <?page no="311"?> Abb. 7.9: Internationale Migranten nach Ziel- und Herkunftsregionen, 2017 Quelle: Weltbank (2019) 14% 31% 4% 27% 83% 6% 14% 14% 53% 10% 4% 5% 12% 6% 89% 47% 67% 6% 0 % 50 % 100 % Nordamerika Lateinamerika und Karibik Europa Asien Afrika Zielregion Nordamerika Asien Europa Afrika Lateinamerika und Karibik Herkunft Abb. 7.9: Migranten nach Ziel- und Herkunftsregionen, 2017 Quelle: Weltbank (2019) Die absoluten Zahlen der afrikanischen Migranten bestätigen diese Beob‐ achtung. Abb. 7.10 stellt Migration nach und von Afrika zwischen 2010 und 2017 dar. Der linke Teil der Grafik zeigt die deutliche Zunahme der internationalen Migration innerhalb Afrikas. Wichtige Zielländer sind Süd‐ afrika, Elfenbeinküste, Nigeria, Kenia und Äthiopien. Der mittlere Teil der Abbildung zeigt die Migrationsbewegung von Afrika in andere Regionen. Die meisten, die den afrikanischen Kontinent verlassen, migrieren nach Europa. Aufgrund von gewalttätigen Konflikten ist die Anzahl der Binnenvertriebenen (vgl. Box 7.5) weltweit im Jahr 2016 auf 40,3 Mio. gestiegen und die der Flüchtlinge (vgl. Box 7.5) auf 22,5 Mio. Dies entspricht 10 % aller internationalen Migranten. Die meisten Flüchtlinge kommen im Jahr 2017 aus Afghanistan, dem Süd-Sudan und der Arabischen Republik Syrien. 7.7 Migration 311 <?page no="312"?> Allein aus diesen drei Ländern stammten 55 % der Flüchtlinge (UNHCR 2017). Der überwiegende Teil der weltweiten Flüchtlingsbewegungen findet innerhalb der jeweiligen Region statt. Mehr als 80 % der Flüchtlinge im Jahr 2017 hielten sich in LICs und MICs auf. Die Türkei beherbergte weltweit den größten Anteil von Flüchtlingen und Asylsuchenden (14 %), gefolgt von Jordanien (13 %) und Palästina (10 %) (IOM 2018). Die Aufnahme dieser großen Zahl an Flüchtlingen stellt diese Länder vor enorme wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen. Abb. 7.10: Migranten nach, innerhalb und von Afrika Quelle: Weltbank (2016a) - 5 10 15 20 25 2010 2013 2017 Migranten (in Millionen) Migranten innerhalb von Afrika 2010 2013 2017 Migranten nach Afrika 2010 2013 2017 Migranten von Afrika Abb. 7.10: Migranten nach, innerhalb und von Afrika Quelle: Weltbank (2016a) 7.7.2 Warum migrieren Menschen? Die der Migration zugrundeliegenden Ursachen sind vielfältig und umfassen sogenannte Push-Faktoren, wie Gewalt, Konflikte, schlechte Regierungs‐ führung, Diskriminierung, Armut, Ungleichheit und Umweltschäden, sowie 7 Globalisierung 312 <?page no="313"?> 9 Auf der anderen Seite erleichtern bestehende soziale Netzwerke in den Zielländern die Migration, was sich positiv auf die Migrationsentscheidung auswirken kann (IOM 2018). Pull-Faktoren, wie höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, Netzwerke und bessere Bildungschancen für Kinder. Traditionell wird internationale und nationale Migration durch Einkom‐ mensunterschiede zwischen Ländern (oder zwischen Regionen) erklärt (Harris und Todaro 1970). Die Löhne, die Migranten im Ausland verdienen, können ein Vielfaches dessen sein, was sie mit einer ähnlichen Arbeit und Ausbildung in ihrer Heimat verdienen würden. Ein Taxifahrer verdient zum Beispiel in Rom sechs Mal mehr (kaufkraftbereinigt) als in Addis Abeba (ILO 2013). Diese Erklärung für Migration basiert auf der Annahme, dass Migration eine individuelle Entscheidung ist. Familien entscheiden jedoch häufig als Kollektiv über die Migration und verfolgen das Ziel der Diversifizierung des Einkommens und der Reduzierung von Risiken (Stark und Bloom 1985). Dies hat zur Folge, dass einige Mitglieder migrieren und andere zurückbleiben (vgl. Kapitel 7.7.3). Hinzu kommen die hohen sozialen Kosten, welche der Migration entgegenwirken. Dies ist beispielsweise bedingt durch den Verlust persönlicher Beziehungen, durch das Zurücklassen von Familien‐ mitgliedern, aber auch durch das Zurücklassen von Kultur-, Sprach- und Lebensgewohnheiten. 9 Würde die Migrationsentscheidung allein auf Lohnunterschieden basie‐ ren, wären die Ärmsten diejenigen, die zuerst ins Ausland gehen müssten. In der Realität zeigt sich jedoch ein anderes Bild. Trotz der Lohnunterschiede neigen die Ärmsten dazu, intern zu migrieren (z. B. im Rahmen der Migration vom Land in die Stadt, vgl. Kapitel 1.4.3). Aufgrund der hohen Kosten, die mit der internationalen Migration verbundenen sind, können sie sich diese oft nicht leisten. Die Frage, ob der Migrationsdruck sinkt, wenn sich arme Länder wirtschaftlich entwickeln, ist deshalb empirisch nicht abschließend geklärt. Möglich erscheint eine umgekehrte U-Beziehung zwischen Entwicklung und Migration (Lanati und Thiele 2018, Clemens 2014), bei der in den ärmsten Ländern die Migration mit wirtschaftlicher Entwicklung zuerst steigt, während bei weiterer ökonomischer Entwicklung die internationale Migration wieder sinkt. Die Hypothese ist, dass steigende Einkommen zuerst mehr Menschen die Migration erlauben, indem sie die Finanzierung der Migrationskosten erleichtern. Bei weiterer wirtschaftli‐ 7.7 Migration 313 <?page no="314"?> cher Entwicklung nehmen die relativen wirtschaftlichen Gewinne durch Migration ab. Andererseits können sich durch wirtschaftliche Entwicklung auch die Institutionen, die Regierungsführung und die öffentlichen Dienstleistungen verbessern, was die Motivation zur Migration auch in den ärmsten Ländern zu senken scheint (Lanati und Thiele 2018). Demografische Faktoren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Erklärung der Zunahme von internationaler Migration. In diesem Zusam‐ menhang sind insbesondere die derzeit demografisch sehr unterschiedlichen Entwicklungen in HICs und LICs von Relevanz (vgl. Kapitel 5.1). Die Alterung der Gesellschaften in HICs hat einerseits Auswirkungen auf deren Renten- und Sozialsysteme und andererseits auf den Arbeitsmarkt. Die alternde Bevölkerung und das zunehmende Bildungsniveau in vielen HICs führen zu einem sinkenden heimischen Angebot an gering qualifi‐ zierten Arbeitskräften. Betroffen sind unter anderem die Sektoren der Landwirtschaft, des Baugewerbes und der Pflege. Dies sind Sektoren, in denen auch durch Importe der entsprechenden arbeitsintensiven Güter und Dienstleistungen keine Abhilfe geschaffen werden kann, weil die Güter oder Dienstleistungen nicht handelbar sind z. B. Gebäude und Pflegedienstleis‐ tungen. In anderen Sektoren wie dem Agrarsektor besteht durch protektio‐ nistische Maßnahmen eine weitgehende Abschirmung von Importen. Daher steigt auch in diesen Bereichen die Nachfrage nach Immigranten. Dem gegenüber steht die Zunahme der arbeitsfähigen Bevölkerung in vielen LICs. Trotz sinkender Geburtenraten herrscht in vielen LICs weiter‐ hin ein rasches Bevölkerungswachstum (vgl. Kapitel 5.1). Sofern es die LICs nicht schaffen, die zusätzlichen Arbeitskräfte in den eigenen Arbeitsmarkt zu integrieren, wird diese demografische Entwicklung dazu führen, dass die internationale Migration (auch von LICs nach HICs) in den nächsten Jahrzehnten ansteigen wird. Umweltschäden und Klimaveränderung können ebenfalls zu einer erhöhten Migration führen. Die Auswirkungen der Klimaveränderung auf die internationale Migration waren bislang zwar relativ gering, insbeson‐ dere im Vergleich zu Arbeitsmarktfaktoren wie Lohn- und Bildungsunter‐ schieden. Die aktuellen Entwicklungen deuten allerdings darauf hin, dass sich in der Zukunft aufgrund zunehmender Dürre und Wüstenbildung, stei‐ gender Meeresspiegel und wiederholter Missernten insbesondere die Bin‐ nenmigration, letztlich aber auch die internationale Migration verstärken 7 Globalisierung 314 <?page no="315"?> könnte (IPCC 2014). Arme Bevölkerungsgruppen sind besonders anfällig für umweltbedingte Schocks (vgl. Kapitel 6.3). Letztendlich, spielen politische Faktoren bei der Erklärung der Migra‐ tion eine wichtige Rolle. Fehlende politische Freiheiten, Diskriminierung, Verletzungen der Menschenrechte sowie politische (gewaltsame) Konflikte sind bedeutende Triebkräfte von Migration (Weltbank 2016b). 7.7.3 Was sind die Folgen von Migration? Migration wirkt sich zunächst einmal auf die Lebensqualität der Migran‐ ten und auf die soziale und wirtschaftliche Situation der zurückgelassenen Familien aus. Zusätzlich ergeben sich aus internationaler Migration sowohl gesamtgesellschaftliche Nutzen als auch Kosten für die Herkunfts- und Zielländer. Welcher Aspekt überwiegt, ist Gegenstand heftiger Debatten sowohl in der Politik als auch in der Öffentlichkeit. Für viele Menschen aus LICs ist die Migration die wahrscheinlich erfolgversprechendste Strategie, um der Armut zu entkommen und ihr Ein‐ kommen und ihre Bildungschancen zu verbessern (Clemens und Pritchett 2008). Laut Schätzungen realisieren Migranten aus den ärmsten Ländern im Durchschnitt eine Verdoppelung der Einschulungsraten ihrer Kinder und eine mehr als zehnfache Reduzierung der Kindersterblichkeit (Weltbank 2016b). Auf der anderen Seite gehören Immigranten häufig zu den besonders gefährdeten Mitgliedern der Gesellschaft in den Zielländern. Sie verlieren häufig als erste ihren Arbeitsplatz, arbeiten für weniger Lohn und haben längere Arbeitszeiten als im Inland geborene Arbeiter. Manche Migranten erleiden zudem Menschenrechtsverletzungen, Missbrauch und Diskriminie‐ rung. Insbesondere Frauen und Kinder, die migrieren, laufen große Gefahr, dem Menschenhandel oder anderen Formen der Ausbeutung zum Opfer zu fallen (IOM 2018). Darüber hinaus kann Migration die wirtschaftliche und soziale Entwick‐ lung in den Herkunftsländern auf vielfältige Weise fördern (IOM 2018). Neben der direkten Reduktion der Arbeitslosigkeit und Armut durch Mi‐ granten ergibt sich ein wichtiger positiver Entwicklungseffekt durch den Rücktransfer von Human- und Sachkapital der Emigranten. Finanzielle Rücküberweisungen (Englisch: remittances), die Migranten direkt an ihre Familien in den Herkunftsländern zurückschicken, nehmen dabei eine besonders wichtige und immer bedeutendere Rolle ein - für das Einkommen der zurückgebliebenen Familien und damit auch für die Gesellschaft in den 7.7 Migration 315 <?page no="316"?> Herkunftsländern. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene zeigen Studien, dass finanzielle Rücküberweisungen positiv mit Wirtschaftswachstum verbun‐ den sind (Meyer und Shera 2017, Catrinescu et al. 2009). Rücküberweisungen haben zudem einen armutsmindernden Effekt. Gemäß einer Studie von 77 LICs und MICs geht ein 10-prozentiger Anstieg der Rücküberweisungen mit einem Rückgang der extremen Armut um 3,5 % einher (Adams und Page 2005). Zwischen 1990 und 2018 sind die internationalen Rücküberweisungen in LICs und MICs von 29 Mrd. US$ auf 529 Mrd. US$ gestiegen. Zum Vergleich: Die globalen öffentlichen Zahlungen der Entwicklungszusam‐ menarbeit betrugen im Jahr 2017 161 Mrd. US$ (vgl. Abb. 8.8, Weltbank 2019). In einigen Ländern machen Rücküberweisungen inzwischen einen signifikanten Anteil des verfügbaren Einkommens von Haushalten aus. Zudem sind Rücküberweisungen im Vergleich zu anderen Kapitalströmen - wie beispielsweise der Entwicklungszusammenarbeit - eine relativ stabile Quelle für Fremdwährungen in vielen LICs. Betrachtet man die Rücküber‐ weisungen als Prozentsatz des BIP, sind die drei wichtigsten Empfängerlän‐ der Kirgistan (mit 35,4 %), Nepal (29,7 %) und Liberia (29,6 %) (IOM 2018). Migration kann jedoch auch Kosten für die Herkunftsländer verursachen. Zu den am häufigsten diskutierten negativen Auswirkungen der internatio‐ nalen Migration gehört der sogenannte Brain-Drain. Darunter versteht man die Migration qualifizierter Arbeitskräfte, die das Humankapital im Herkunftsland reduziert (Docquier 2014). Laut einer Studie aus dem Jahr 2015 sind mehr als ein Fünftel der Hochqualifizierten aus LICs abgewan‐ dert (Artuc et al. 2015). Sofern diese hochqualifizierten Personen auch im Herkunftsland produktiv eingesetzt hätten werden können und sofern sie entsprechend verdient und Steuern bezahlt hätten, wirkt sich ihre Migration negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung und die öffentlichen Finanzen aus. Die Finanzierung der Ausbildung der dann abwandernden Arbeitskräfte stellt aus dieser Perspektive eine Fehlinvestition eines Staates dar. Brain-Drain für die Herkunftsländer bedeutet Brain-Gain für die Ziel‐ länder in Form der Zuwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften. Die Zielländer profitieren von der Migration, da Migranten häufig Lücken auf dem Arbeitsmarkt füllen und Steuern zahlen. Migranten tragen darüber hinaus durch Wissenstransfer zur Entwicklung von Wissenschaft und Technologie in den Zielländern bei und bereichern die Aufnahmegemein‐ schaften durch kulturelle Vielfalt (Weltbank 2016). Teilweise werden Einreise-, Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen explizit davon abhängig 7 Globalisierung 316 <?page no="317"?> gemacht, ob das Profil der Migranten für die wirtschaftliche Entwicklung im Zielland besonders vielversprechend erscheint. Viele Bürger und politische Entscheidungsträger in Zielländern sehen die Migration jedoch auch als Belastung. Sie befürchten, dass die Einwanderung zu Arbeitsplatzverlusten oder Lohndruck führt, die öffentlichen Dienst‐ leistungen belastet, den sozialen Zusammenhalt schwächt und die Krimina‐ lität erhöht. Zeiten von weltweiten wirtschaftlichen Krisen verschärfen eine solche negative Wahrnehmung zusätzlich. Auch die Zivilgesellschaft ist mit Fragen der Anpassung und der Integration konfrontiert. Die empirische Literatur zeigt jedoch, dass die Auswirkungen der Immigration auf den Arbeitsmarkt, die Löhne und die Preise für Konsumenten im Durchschnitt langfristig positiv sind (Peri 2016, OECD 2013). Mehrere Studien für die USA und Europa zeigen beispielweise, dass mögliche kurzfristige Kosten wie gestiegene öffentliche Ausgaben (z. B. für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen) mittel- und langfristig durch positive Effekte auf den Ar‐ beitsmarkt und auf den Staatshaushalt überkompensiert werden (Furlanetto und Robstad 2019, Kancs and Lecca 2018). 7.7.4 Architektur der globalen Migrationspolitik Angesichts der politischen, ökologischen und ökonomischen Ursachen und Folgen der Migration ist ein globales Handeln erforderlich, das über nationalstaatliche Interessen hinausgeht. Staaten haben in den letzten Jahrzehnten Anstrengungen unternommen, um die globale Steuerung der Migration zu verbessern. Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung erkennt z. B. an, dass die internationale Migration für die Entwicklung der Herkunfts- und Zielländer von großer Bedeutung ist und ein kohärentes und umfassendes Handeln erfordert. Die Regierungen verpflichteten sich in der Agenda 2030, „[e]ine geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen zu erleichtern, unter anderem durch die Anwendung einer planvollen und gut gesteuerten Migrationspolitik“ (SDG-Ziel 10.7). Weitere Ziele umfassen eine Reduktion der Gebühren für Rücküberweisungen (SDG-Ziel 10.c), die Beseitigung von Menschenhandel (SDG-Ziel 8.7) und darüber hinaus die Förderung von Arbeitsstandards für Wanderarbeiter (SDG-Ziel 8.8). Die New Yorker Erklärung für Flücht‐ linge und Migranten von 2016 ist ein zusätzliches Beispiel für globale entwicklungspolitische Bemühungen im Bereich der internationalen Migra‐ tion. Als Reaktion auf die große Flüchtlings- und Migrationsbewegung aus 7.7 Migration 317 <?page no="318"?> dem Jahr 2016 verständigten sich die Mitgliedsstaaten der Vereinten Natio‐ nen darauf, ein globales Paket an Maßnahmen zur sicheren und geordneten Migration auszuarbeiten. Obwohl der genaue Inhalt noch nicht festgelegt wurde, werden mit dem Pakt folgende übergreifende Ziele angestrebt: Aufnahmeländer entlasten, Eigenständigkeit der Flüchtlinge erhöhen, Lö‐ sungen zur Aufnahme in Drittstaaten ausweiten, in den Herkunftsländern Bedingungen für eine Rückkehr in Sicherheit und Würde fördern (UNHCR 2017). Verständnisfragen: ■ Warum spezialisieren sich bevölkerungs- und rohstoffreiche Länder nach der Theorie der komparativen Kostenvorteile auf den Export von Primärgütern? Was könnten die Nachteile einer solchen Strategie sein? ■ Der amerikanische Präsident hat eine restriktive Handelspolitik mit Einfuhrzöllen (vor allem auf Importe von chinesischem Aluminium und Stahl) eingeführt. Welche positiven Effekte erhofft er sich für die amerikanische Wirtschaft? Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer? ■ Was versteht man unter einer exportorientieren Handelsstrategie und warum waren die Erfolge dieser Strategie in Afrika im Vergleich zu Asien bislang begrenzt? ■ Würden Sie einer NGO empfehlen, sich für Fairen Handel oder für Freihandel einzusetzen? ■ Ist internationale Migration eine wirksame Maßnahme zur Reduktion extremer Armut? Literatur Acemoglu, D.; Johnson, S.; Robinson, J.A. (2002). An African success: Botswana. In: Rodrik, D. (Hrsg.) In search of prosperity: Analytic narratives on economic growth. Princeton: Princeton University Press: 80-119. Adams, R.H.; Page, J. (2005). Do international migration and remittances reduce poverty in developing countries? World Development 33(10): 1645-1669. Alcalá, F.; Ciccone, A. (2004). Trade and productivity. 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Heute sind viele neue wichtige Geber hinzugekommen und die klare Trennung zwischen Geber- und Empfängerland ist verschwunden. Zudem haben sich die Ziele der Entwicklungszusammenarbeit stark erweitert. Zu traditionellen Zielen wie Wirtschaftswachstum und Kampf gegen die Armut sind neue Ziele hinzugekommen. Dazu gehören beispielsweise die Stärkung demokratischer Strukturen, die Förderung besserer Arbeits‐ bedingungen, der Abbau von Ungleichheiten, ein verantwortungsvoller Ressourcenabbau und der Umweltschutz. Um diese Ziele zu erreichen, sind andere Politikfelder, wie zum Beispiel die internationale Umwelt-, Handels, oder Steuerpolitik, genauso relevant wie die Entwicklungszusammenarbeit. Die zunehmende Diversität der Entwicklungszusammenarbeit ei‐ nerseits sowie das komplexe Zusammenspiel mit der internationalen Politik andererseits machen es noch schwerer als zuvor, die in den Medien und der Politik viel diskutierte Frage ihrer Wirksamkeit eindeutig zu beantworten. Vor diesem Hintergrund soll dieses Kapitel ein erstes Verständnis für folgende Fragen ermöglichen: Was ist Entwicklungszusammenarbeit? Wie und warum hat sich diese über die Zeit verändert? Gibt es zu wenig oder zu viel Entwicklungszusammenarbeit? Was kann Entwicklungszusammenarbeit bewirken und was nicht? Was ist die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit? <?page no="324"?> 1 George Marshall war damaliger Außenminister der USA (1947-1949). Im Jahr 1953 erhielt er den Friedensnobelpreis für seine Bemühungen um den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. 2 Vier-Punkte-Programm (eigene Übersetzung): „1. Wir werden die Vereinten Nationen und die damit verbundenen Organisationen weiterhin unermüdlich unterstützen, ihre Autorität stärken und ihre Wirksamkeit steigern. 2. Wir werden unsere Programme zur Erholung der Weltwirtschaft fortsetzen. 3. Wir werden freiheitsliebende Nationen ge‐ gen die Gefahren der Aggression stärken. 4. Wir müssen ein gewagtes neues Programm in Angriff nehmen, um die Vorteile unseres wissenschaftlichen und industriellen Fortschritts für die Förderung und das Wachstum unterentwickelter Gebiete verfügbar zu machen.“ Truman Library (2019). 8.1 Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit Die Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit (vgl. Box 8.1) beginnt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der EntKolonialisierung und der Gründung der Vereinten Nationen (United Nations, UN), der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) im Jahr 1945. Die Ziele und Prinzipien der UN waren (und sind) primär politischer Natur: die Wahrung des internationalen Friedens, der Sicherheit und der Souveränität der Staaten. Die Gründung der Weltbank und des IWF basierte vor allem auf wirtschaftli‐ chen Zielen. Die Weltbank hatte die Bereitstellung von Krediten für den Wiederaufbau und für Entwicklung zum Ziel. Aufgabe des Internationalen Währungsfonds war es, die weltweite Währungsstabilität durch die Unterstüt‐ zung von Ländern mit Zahlungsschwierigkeiten zu garantieren. Die Unterstützung der Weltbank und des IWF galt zunächst den durch den Zweiten Weltkrieg geschwächten Ländern Europas. Das groß angelegte Wirtschaftswiederaufbauprogramm für Europa mit 17 Mrd. US$ (zu Preisen von 2019: 164 Mrd. US$) von 1948-51 wurde als Marshallplan bekannt. 1 Inzwischen hat sich der Aufgabenbereich und der geografische Fokus der Weltbank sowie des IWF geändert und erweitert. Seit den 1990er Jahren beschränkt sich die Weltbank in ihrer Arbeit nicht mehr auf rein wirtschaftli‐ che Themen, sondern adressiert de facto auch Themen sozialer, ökologischer und politischer Natur. Der US-Präsident Harry Truman (1945-1953) prägte das Konzept der Entwicklungshilfe (vgl. Box 8.1), das zwischen „entwickelten” und „unter‐ entwickelten“ Ländern differenzierte. In seiner Antrittsrede im Jahr 1949 plädierte er in seinem Vier-Punkte-Programm 2 dafür, das in den Indus‐ trienationen vorhandene Wissen und Kapital zu nutzen, um das Leiden der Menschen in den weniger entwickelten Ländern zu beenden. Jedoch 8 Internationale Zusammenarbeit 324 <?page no="325"?> verfolgte Truman nicht nur rein altruistische Ziele. Entwicklungshilfe war vor allem auch ein geopolitisches Instrument, das dazu dienen sollte, Konflikte zu reduzieren und die Ausdehnung des Kommunismus zu begren‐ zen, indem man sich die „Blockzugehörigkeit“ der Entwicklungsländer im Kalten Krieg durch zusätzliche Gelder sicherte. Box 8.1 | Was ist Entwicklungshilfe, humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit? Unter Entwicklungszusammenarbeit versteht man eine Vielzahl an In‐ terventionen zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen in Entwicklungsländern. Lange sprach man von Entwicklungshilfe. Über die letzten 30 Jahre wurde der Begriff der Entwicklungshilfe allerdings vermehrt durch den der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) ersetzt. Dadurch wird hervorgehoben, dass eine Kooperation zwischen finanziellem Geber und Empfänger die EZ prägen soll. In der Praxis ist dies jedoch nicht immer der Fall. Seit einigen Jahren wird zudem vermehrt von internationaler Zusammenarbeit (IZA) gesprochen. Die IZA soll neben der Armutsbekämpfung verschiedene globale Heraus‐ forderungen wie den Klimaschutz oder die Bekämpfung von globalen Pandemien angehen - Themen, die auf globaler Ebene angegangen werden müssen. Die EZ wäre demnach nur noch als Teilbereich einer viel breiter gefassten internationalen Zusammenarbeit zu verstehen. Die EZ im engeren Sinne ist dabei abzugrenzen von der Humanitären Hilfe (HH), auch wenn die Grenzen zwischen EZ und HH immer weiter auf‐ weichen. Wie bei der EZ sind Staaten und Individuen zwar die primären Empfänger und Geber der Leistungen der HH. Der Zeitrahmen sowie der Kontext der HH unterscheiden sich jedoch von der EZ. Die HH ist eine Reaktion auf politische Krisenfälle sowie Natur- oder Hungerkata‐ strophen. Sie leistet unmittelbare Unterstützung der Betroffenen vor Ort und sollte sich an den vier humanitären Prinzipien der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit ausrichten - auch wenn dies in der Realität nicht immer gelingt (Bommer et al. 2018). Im Vergleich zur EZ ist die HH normalerweise nicht auf langfristige, struk‐ turelle Veränderungen ausgerichtet. Inzwischen ist allerdings auch die Prävention vor weiteren humanitären Katastrophen zu einem zentralen Teil der HH geworden. Die globalen Gesamtausgaben für HH betragen etwa 10 % der EZ-Gelder. 8.1 Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit 325 <?page no="326"?> 3 Der Club of Rome ist ein Zusammenschluss von Experten aus unterschiedlichen Ländern, die sich als gemeinnützige Organisation für eine nachhaltige Entwicklung einsetzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich nicht nur die Politik mit der Entwicklungszusammenarbeit zu befassen, sondern auch die Wissenschaft stellte sich vermehrt die Frage, wie die weltweit zu beobachtenden Entwick‐ lungsunterschiede erklärt und verringert werden könnten. Lange herrschte Konsens dahingehend, dass arme Länder eine sogenannte Investitions- oder Kapitallücke aufweisen (vgl. Kapitel 2.3.1), die die Entwicklungshilfe füllen kann. Zudem sollte ein struktureller Wandel, d. h. der Übergang von einer Agrarzu einer Industriegesellschaft, forciert werden (Rostow 1960). Nach einem sogenannten finanziellen „Big Push“ durch die Entwicklungshilfe könnten sich Staaten aus eigener Kraft weiterentwickeln, so die These. Diese Theorien bildeten die Grundlagen für die ersten Ansätze der Entwicklungs‐ zusammenarbeit, die sich darauf konzentrierten, Entwicklungsländer mit Krediten und Kapital für Infrastrukturinvestitionen zu unterstützen. In den 1970er Jahren erkannte man die Grenzen dieses Ansatzes. Eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung blieb in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas aus verschiedensten Gründen aus (vgl. Kapitel 8.4). Statt großer Industrie- und Infrastrukturprojekte prägten nun kleine Projekte in ländlichen armen Gebieten unter Beteiligung der Bevölkerung die EZ. Man hoffte, auf diese Weise zumindest die Grundbedürfnisse der Bevölkerung am Existenzminimum zu befriedigen, wenn große staatliche Veränderungen nicht stattfanden. Der Fokus auf kleine Projekte führte jedoch oft zu einer fehlenden Einbettung in einen sinnvollen politischen Gesamtrahmen. Langfristige Entwicklung wurde auf diese Weise nicht immer unterstützt und im schlechtesten Fall führten diese vielen kleinen, am Staat vorbei initiierten Projekte zu einer schlechteren Regierungsführung (vgl. Kapitel 8.4.5). Die 1970er Jahre waren auch durch eine vermehrte Kritik am Entwick‐ lungsmodell der Industrieländer geprägt, das hauptsächlich auf wirtschaft‐ liches Wachstum ausgerichtet war, ohne die ökologischen Auswirkungen zu berücksichtigen. Der Club of Rome 3 veröffentlichte den Bericht „Grenzen des Wachstums“ (vgl. Kapitel 6.4.1). Zudem erlangte die sogenannte De‐ pendenztheorie in der politischen Debatte verstärkt Aufmerksamkeit. Sie postuliert, dass ärmere Länder sich besser entwickeln würden, wenn sie sich aus dem globalen Handel ausklinken und somit aus der „Abhängigkeit“ von 8 Internationale Zusammenarbeit 326 <?page no="327"?> den Industrienationen und der globalen Weltwirtschaft loslösen könnten. Diese Theorie führte in den 1970er Jahren in vielen Ländern zu einer verstärkten Importsubstitution. Diese war jedoch in der Regel wenig erfolgreich (vgl. Kapitel 7.5.1). Ende der 1970er Jahre kam die Ölkrise hinzu, die eine weltweite Schuldenkrise hervorrief (vgl. Kapitel 4.3.2). Das Pro-Kopf-Einkommen in vielen ärmeren Ländern der Welt war Ende der 1980er Jahre nahezu wieder auf dem Niveau der 1960er Jahre. In der Literatur werden die 1980er Jahre daher auch als das verlorene Jahrzehnt der Entwicklung bezeichnet. Um die staatliche Verschuldung und deren negative wirtschaftliche Aus‐ wirkungen zu reduzieren, wurden unter Federführung der Weltbank und des IWF Ende der 1980er Jahre in vielen Entwicklungsländern Struk‐ turanpassungsprogramme durchgeführt. Im Gegenzug für Kredite der Weltbank und des IMF forderten diese Institutionen verschiedene Maß‐ nahmen zur makroökonomischen Stabilisierung, die unter dem Begriff Washingtoner Konsens bekannt wurden (vgl. Kapitel 4.3.3). Zu diesen Forderungen gehörte auch die Kürzung der Staatsausgaben und damit auch der sozialen Ausgaben, die zwar die Schuldenlast reduzierte, jedoch die ärmeren Bevölkerungsgruppen belastete. Die Reduktion der Armut war kein explizites Ziel der Strukturanpassungsprogramme. Durch das Ende des Kalten Kriegs im Jahr 1991 bekamen Forderungen nach politischen Reformen zur Verbesserung der Entwicklungschancen Aufwind, die bis dahin aus geopolitischen Gründen wenig Gehör gefunden hatten. Entsprechende institutionelle Reformen und die Professionalisie‐ rung der öffentlichen Verwaltung, die im Rahmen der Strukturanpassungs‐ programme noch vernachlässigt worden waren, standen neu im Fokus der EZ. Nach makroökonomischer Stabilität und freier Marktwirtschaft in den 1980er Jahren war gute Regierungsführung (Englisch: good go‐ vernance) das Konzept der 1990er Jahren (vgl. Kapitel 3.1), zu dem sich die Entwicklungsländer verpflichten mussten um Entwicklungshilfe zu erhalten. Eine gute Regierungsführung umfasst neben der wirtschaftlichen Komponente auch eine politische Komponente, wie die Achtung der Men‐ schenrechte, die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, eine effiziente öffentliche Verwaltung, die Vermeidung von Korruption und demokratische Struktu‐ ren. Viele Programme der EZ greifen seit den 1990er Jahren diese Themen verstärkt auf. Allerdings sind Veränderungen der Regierungsführung nur schwer messbar und bedürfen eines langen Zeithorizonts. Darüber hinaus wird die Förderung einer guten Regierungsführung oft als Eingriff in die 8.1 Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit 327 <?page no="328"?> 4 Die Erklärung von Paris über die Wirksamkeit der EZ baute auf früheren, ähnlichen Dokumenten auf [Rom (2003), Marrakesch (2004)] und wurde durch nachfolgende Konsul‐ tationen bestärkt: Accra (2008), Busan (2011), Nairobi (2016). inneren Angelegenheiten eines anderen Staates wahrgenommen, was im Rahmen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit problematisch ist und durch die Statuten internationaler Organisationen explizit ausgeschlossen wird. Zu Beginn der 2000er Jahre entbrannte insbesondere in den Geberländern (erneut) eine politische und wissenschaftliche Kontroverse um die Effektivi‐ tät der EZ, weil deren Auswirkung auf Wirtschaftswachstum und Armutsre‐ duktion sich nicht klar nachweisen ließ. Insbesondere der Wissenschaftler William Easterly, ein ehemaliger Mitarbeiter der Weltbank, wurde durch seine Bücher „The elusive quest for growth“ (2001) und „The white man’s burden“ (2005) bekannt, in denen er die EZ kritisch hinterfragte. Der Ökonom Jeffrey Sachs argumentierte hingegen, dass für eine deutlichere Wirksamkeit der EZ eine massive Erhöhung der Entwicklungsgelder notwendig sei, denn nur so könnten relevante Wachstumseffekte ausgelöst werden (vgl. Kapitel 8.4.1). Die zentralen politischen Akteure der EZ, allen voran die OECD und die UN, reagierten auf den Diskurs mit Vereinbarungen zur Stärkung der Wirksamkeit der EZ. Höhepunkt der Bemühungen war die Pariser Erklärung im Jahr 2005, die zu einer verstärkt ergebnisorientierten (vgl. Kapitel 8.3) und zwischen den Gebern koordinierten (vgl. Kapitel 8.4.4) Kooperation aufrief. 4 Neben der Debatte um die unzureichende Wirksamkeit der EZ prägten die 2001 im Rahmen der UN verabschiedeten Millennium-Entwicklungs‐ ziele (Millennium Development Goals, MDGs). Die inhaltliche Ausrich‐ tung der Entwicklungskooperation. Mit den MDGs wurde zum ersten Mal eine klare, international legitimierte Schwerpunktsetzung auf Ar‐ mutsreduktion erreicht, einschließlich der Verbesserung von Bildung und Gesundheit in den Entwicklungsländern (vgl. Kapitel 5.5 und 5.6). Die Zielsetzungen der MDGs schlossen jedoch kaum ökologische Ziele mit ein - eine Kritik, die im Rahmen der 2015 verabschiedeten SDGs aufgegriffen wurde (vgl. Kapitel 1.3.1). Seit den 2010er Jahren werden auch verhaltensökonomische Erkennt‐ nisse in die Ausgestaltung von Entwicklungsprojekten mit einbezogen. Dabei tritt neben dem „Was“ und „Weshalb“ der EZ das „Wie“ vermehrt in den Fokus, d. h. Details der Ausgestaltung und Implementierung von Programmen. Mehrere wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass bereits kleine Unterschiede in Entwicklungsprojekten einen großen Einfluss auf das 8 Internationale Zusammenarbeit 328 <?page no="329"?> 5 Australien, Österreich, Belgien, Kanada, Tschechien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Grie‐ chenland, Deutschland, Ungarn, Island, Irland, Italien, Japan, Korea, Luxemburg, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Polen, Portugal, Slowenien, Slowakei, Spanien, Schweden, Schweiz, USA, Großbritannien. 6 Ein Beitrag der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit (z. B. UN oder Weltbank) erfüllt dieses Kriterium ebenfalls. menschliche Verhalten haben können und somit entscheiden, ob beispiels‐ weise ein Kind geimpft und in die Schule geschickt wird oder nicht oder ob arme Haushalte ihr monatliches Einkommen sparen oder nicht (Banerjee und Duflo 2011, Weltbank 2015). Die Entwicklungszusammenarbeit mit dem primären Ziel der Armutsbe‐ kämpfung hat eine lange Tradition. Die internationale Zusammenarbeit (vgl. Box 8.1) mit dem Ziel der weltweit nachhaltigen ökologischen und sozialen Entwicklung unter systematischer Einbeziehung von wissenschaft‐ lichen Erkenntnissen (vgl. Kapitel 8.3) hat hingegen gerade erst begonnen. 8.2 Entwicklungszusammenarbeit heute 8.2.1 Aktuelle Zahlen und Akteure Das Budget für die EZ wird hauptsächlich durch Steuern in den Geberlän‐ dern finanziert. Die OECD-Staaten als traditionelle Geber stellen weiterhin den größten Anteil der finanziellen Mittel der EZ zur Verfügung. Sie kooperieren im Rahmen des Entwicklungshilfeausschusses (Development Assistance Committee, DAC) der OECD. Dem DAC gehören 29 Staaten sowie die EU an. 5 Die DAC-Mitglieder legen die sogenannten DAC-Kriterien fest, die erfüllt sein müssen, damit eine Leistung als „offizielle Entwicklungshilfe“ (Official Development Assistance, ODA) anerkannt wird. Dabei muss es sich zunächst um eine Leistung handeln, die von DAC-Mitgliedern an Entwicklungsländer erfolgt. 6 Finanziert eine Privatperson oder ein Land, das kein DAC-Mitglied ist, eine Schule in Bolivien, wird dies nicht als ODA gezählt. Welches Land als Empfänger von Entwicklungshilfe in Frage kommt, wird anhand des Pro-Kopf-Einkommens bestimmt. Im Jahr 2018 waren alle Länder mit einem Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf bis zu 12.055 US$ zum Empfang von Entwicklungshilfe berechtigt (vgl. Kapitel 2.1.3). Des Weiteren muss es sich bei Leistungen der ODA um Schenkungen oder vergünstigte Kredite handeln, die der wirtschaftlichen Entwicklung dienen 8.2 Entwicklungszusammenarbeit heute 329 <?page no="330"?> oder zur Verbesserung der Lebensqualität der Menschen in Entwicklungslän‐ dern beitragen. Die Industrienationen haben sich selbst verpflichtet, 0,7 % ihres BNE in die EZ zu investieren. Die wenigsten Länder kommen dieser unverbindli‐ chen Vereinbarung nach (vgl. Abb. 8.1) und viele geraten daher immer wie‐ der unter öffentlichen Druck. Umso stärker ist das Interesse der Geberländer, einen möglichst großen Anteil ihrer Leistungen als ODA zu kategorisieren. Rüstungsexporte in Entwicklungsländer stellen offensichtlich keine ODA dar, da sie weder dem wirtschaftlichen Wachstum noch der Verbesserung des Lebensstandards dienen. Die Einordnung anderer Zahlungen ist jedoch nicht immer so eindeutig, wie die Beteiligung an Friedensmissionen oder Ausgaben für Flüchtlinge in OECD-Staaten. So können Unterhalts-, Trans‐ portsowie Bildungskosten für Flüchtlinge im ersten Jahr ihres Aufenthalts im Gastland als ODA angerechnet werden. Abb. 8.1: Geberländer. Netto ODA (% BNE, 2017) Quelle: OECD (2018) 1,31 1,01 1,00 0,99 0,95 0,72 0,70 0,66 0,60 0,46 0,45 0,43 0,41 0,30 0,30 0,29 0,29 0,26 0,23 0,23 0,23 0,22 0,19 0,18 0,18 0,0 0,3 0,6 0,9 1,2 Arabische Emirate Schweden Luxemburg Norwegen Türkei Dänemark Großbritannien Deutschland Niederlande Schweiz Belgien Frankreich Finnland Österreich Irland Italien Island Kanada Neuseeland Japan Australien Malta Spanien USA Portugal BNE (in %) 0,7 Abb. 8.1: Geberländer - Netto-ODA (in % des BNE, 2017) Quelle: OECD (2018) 8 Internationale Zusammenarbeit 330 <?page no="331"?> Seit 1960 hat sich der Gesamtbetrag der ODA - mit einem kurzen Rückgang in den 1990er Jahren - kontinuierlich erhöht. Während 1960 die globale ODA 35 Mrd. US$ betrug (inflationsbereinigt, zu 2015 konstanten Preisen), stieg sie bis 2015 auf 150 Mrd. US$ an. 73 % dieses Budgets flossen in die bilaterale EZ und 27 % (35 Mrd. US$) in die multilaterale EZ: über die Weltbankgruppe wurden 5,8 Mrd. US$ und über die UN 5,7 Mrd. US$ investiert. Die multilaterale Zusammenarbeit sollte theoretisch weniger an den außen- und wirtschaftspolitischen Interessen der Geberländer ausgerichtet sein (vgl. Kapitel 8.4.2). Da die Entwicklungsländer zusammen mit den Industrienationen in internationalen Organisationen an einem Tisch sitzen, verfügen sie zumindest theoretisch über bessere Mitwirkungsmöglichkei‐ ten. Das Prinzip, dass jedem Staat gleichberechtigt eine Stimme zusteht (Ein-Staat-eine-Stimme-Prinzip), gilt allerdings nur in den UN-Organi‐ sationen. In der Weltbank und den meisten regionalen Entwicklungsbanken hängt das Stimmgewicht der einzelnen Länder vor allem von ihrem Kapital‐ anteil ab. Wirtschaftsstarke Industrienationen, allen voran die USA, können daher auch dort - zumindest bis zu einem gewissen Grad - ihre nationalen Interessen durchsetzen (Nunnenkamp und Thiele 2006). Die 150 Milliarden US$ ODA verteilen sich jährlich auf etwa 150 Emp‐ fängerländer. Die Beurteilung der Größenordnung an Entwicklungsgeldern, die ein Land erhält, kann anhand der Gesamtsumme, der ODA pro Kopf oder anhand des Anteils der ODA am BNE erfolgen (vgl. Abb. 8.2). So erhalten Tuvalu, Nauru und Palau, alles Länder mit einer Bevölkerung unter 25.000, am meisten ODA pro Kopf. Für Geber ist es oft erst ab einer bestimmten Summe organisatorisch sinnvoll, in einem Land aktiv zu werden. Länder mit einer kleinen Bevölkerung erhalten deshalb oft mehr Entwicklungshilfegelder pro Kopf. Liberia, die Zentralafrikanische Republik, Afghanistan und Burundi, alles Länder mit einem sehr niedrigen Pro-Kopf-Einkommen, erhalten hingegen relativ zum BNE am meisten ODA. Weltweit erhalten 20 Länder mehr als 10 % des BNE an ODA (vgl. Abb. 8.2). Gemäß diesen Zahlen sind nur wenige Länder finanziell von den Industrienationen abhängig und nur in wenigen Ländern können substanzielle makroökonomische Wachstumseffekte durch die ODA erwartet werden. Zusätzlich zur ODA leisten im wahrsten Sinne des Wortes unzählige Nichtregierungsorganisationen (NRO, Englisch: non-governmental or‐ ganizations, NGOs) Entwicklungshilfe. NRO sind zivilgesellschaftliche Gruppierungen, die vom Staat unabhängig agieren und keine kommerziellen 8.2 Entwicklungszusammenarbeit heute 331 <?page no="332"?> Zwecke verfolgen. Sie finanzieren sich primär aus Beiträgen der Mitglieder und Spenden. Größere NRO werden oft auch durch ODA gefördert. Die Zahl der NROs, die in der EZ tätig sind, hat sich in den letzten Jahrzehnten sowohl in den Industrienationen als auch in den Entwicklungsländern vervielfacht. Alleine zwischen 2008 und 2011 ist das geschätzte jährliche Gesamtvolumen der durch NRO finanzierten Projekte von 23 Mrd. US$ auf ca. 30 Mrd. US$ gestiegen (OECD 2014). Von der Zivilgesellschaft durchgeführte Projekte entsprechen somit ca. 20 % des Volumens staatlicher, durch ODA finanzierter Projekte. Man ging lange davon aus, dass sich NRO im Vergleich zu staatlicher Entwicklungshilfe stärker an den Bedürfnissen der Menschen in den Emp‐ fängerländern ausrichten, da Gelder weniger nach politischen und wirt‐ schaftlichen Interessen vergeben werden. Die Empirie zeigt jedoch, dass NRO bei der Allokation ihrer Projekte oft den Geberländern folgen bzw. ähnliche Prioritäten haben (Koch et al. 2009). Außerdem sind vor allem bei kleinen NRO die Koordinationsprobleme oft noch größer als bei staatlicher Unterstützung (vgl. Kapitel 8.4.4), die Fungibilität des Geldes ist eine größere Herausforderung (vgl. Box 8.5), Skaleneffekte können weniger genutzt werden und administrative Kosten sind relativ höher. Ihre enge Zusammenarbeit mit armen Bevölkerungsgruppen, ihre Arbeit in der Aufklärung der Bevölkerung und ihre politische Arbeit in armen und reicheren Ländern machen NRO jedoch weiterhin zu einem wichtigen Akteur der Entwicklungszusammenarbeit. 8 Internationale Zusammenarbeit 332 <?page no="333"?> Abb. 8.2: ODA E mpfänger L änder. Netto ODA (Pro-Kopf und % BIP, 2017) (20,100] (5,20] [0,5] No data (100,4000] (30,100] [0,30] No data Note: For Cuba, Somalia, Syria, Venezuela data from the most recent available year was used. Netto-ODA (in % BNE, 2017) > 20 % 6 - 20 % 0 - 5 % Keine Daten Netto-ODA (pro Kopf in US$, 2017) > 100 31 - 100 0 - 30 Keine Daten Abb. 8.2: Netto-ODA (pro Kopf in US$ und in % BNE) Quelle: Weltbank (2019) 8.2.2 „Neue“ Geber „Neue“ Geber steht als Synonym für die Geberländer, die keine DAC-Mit‐ glieder sind. Das Attribut „neu“ suggeriert, dass diese Geber bisher keine EZ geleistet hätten. Dies ist jedoch nicht immer richtig. Die arabischen Länder, die häufig auch als „Neue“ Geber bezeichnet werden, sind bereits seit 20 Jahren in der EZ tätig (Manning 2006). Auch Indien und China waren in geringem Umfang schon lange als Geber tätig. Neu ist vielmehr das Volumen, das diese Länder investieren (vgl. Abb. 8.3), und die damit einhergehende starke Aufmerksamkeit, die den Programmen zukommt 8.2 Entwicklungszusammenarbeit heute 333 <?page no="334"?> (Fuchs und Dreher 2015). Im Jahr 2014 investierte China Schätzungen von AidData zufolge 6,9 Mrd. US$ in Projekte der EZ (Dreher et al. 2017). Zusätzlich zu Chinas „offizieller Entwicklungshilfe“, die mit der ODA der DAC-Länder vergleichbar ist, investierte China jedoch noch weitere 30,4 Mrd. US$ an staatlichen Geldern in Entwicklungsländern. Zum Vergleich: Deutschland investierte 25 Mrd. US$ und die Schweiz 3,6 Mrd. US$. Die Neuen Geber erfahren auch aufgrund der Ausgestaltung ihrer EZ ein großes Interesse. China beispielsweise verfolgt das Konzept der „aid without any strings attached“. Guter Regierungsführung oder der Einhaltung von Menschenrechten in den Empfängerländern misst China keine Bedeu‐ tung bei und lehnt es ab, Entwicklungsgelder von solchen Bedingungen abhängig zu machen. China will mit den Ländern Afrikas wirtschaftlich kooperieren und betont in diesem Sinne allein das beiderseitige ökono‐ mische Interesse. Im Fokus stehen daher häufig, wie zu den Anfängen der Entwicklungszusammenarbeit in Europa, Infrastrukturprojekte. Ob die von den DAC-Gebern seit den 1990er Jahren immer wieder betonte Relevanz der guten Regierungsführung die Wirksamkeit der EZ einschränkt, ist wissenschaftlich umstritten (vgl. Kap. 8.3). Genauso lässt sich nicht eindeutig zeigen, dass Chinas Ansatz die Bemühungen der DAC-Geber hinsichtlich der Förderung von guter Regierungsführung oder der Einhaltung von Menschenrechten in Entwicklungsländern untergräbt (Fuchs und Dreher 2015). Viele Entwicklungsländer begrüßen Formen der Unterstützung, die das Prinzip der Eigenverantwortung für Entwicklung wörtlich nehmen und sich aus innerstaatlichen Angelegenheiten nicht nur formal, sondern auch de facto heraushalten. Zu den Neuen Gebern im weiteren Sinn zählen auch große philanth‐ ropische Stiftungen (z. B. die Bill & Melinda Gates Stiftung), deren Fi‐ nanzierungsvolumen in den letzten Jahren enorm angewachsen ist (vgl. Abb. 8.3). 6-7 % der EZ werden mittlerweile durch Stiftungen finanziert (OECD 2015). Angesichts der beschränkten finanziellen Mittel der ODA gelten private Stiftungen als wichtige zusätzliche Geber. Kritiker des philanthropischen Engagements in der EZ verweisen allerdings auf die fehlende Rechenschaftspflicht der Stiftungen. Da Stiftungsgelder nur aus privatem Kapital gespeist werden, existiert weder gegenüber Spendern noch gegenüber Steuerzahlern eine Rechenschaftspflicht und die Gründer der Stiftungen können meist alleine über deren Ausrichtung entscheiden. Kritiker weisen darüber hinaus auf die Gefahr einer instabilen Finanzierung und der Schwächung staatlicher Strukturen hin: Stiftungen arbeiten zum 8 Internationale Zusammenarbeit 334 <?page no="335"?> Teil nicht mit den Regierungen der Partnerländer zusammen. Eine höhere internationale Transparenz hinsichtlich der Arbeit von Stiftungen würde ein gewisses Maß an Kontrolle gewährleisten. Abb. 8.3: Entwicklungsgelder der „Neuen“ Geber Anmerkung: Privat beinhaltet NROs und Stiftungen, Daten für China nur bis 2014 verfügbar. DAC steht für den Entwicklungshilfeausschuss der OECD (Development Assistance Committee) und AfDB für die Afrikanische Entwicklungsbank (African Development Bank). US$ zu 2015 konstanten Preisen. Quellen: OECD (2018), Weltbank (2019), AfDB (2018), AidData (2018) 0 1 10 100 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 US$ (in Milliarden) Privat China DAC Weltbank AfDB Abb. 8.3: Entwicklungsgelder der „Neuen“ Geber Anmerkung: Privat beinhaltet NRO und Stiftungen, Daten für China nur bis 2014 verfügbar. DAC steht für den Entwicklungshilfeausschuss der OECD (Development Assistance Committee) und AfDB für die Afrikanische Entwicklungsbank (African De‐ velopment Bank). US$ zu 2015 konstanten Preisen. Quellen: OECD (2018), Weltbank (2019), AfDB (2018), AidData (2018) Ein weiterer Akteur, der in letzter Zeit an Bedeutung gewonnen hat, sind regionale Entwicklungsbanken. Sie finanzieren nur Projekte der Mit‐ gliedsstaaten ihrer Region und setzen sich darüber hinaus für die regionale wirtschaftliche Integration ein. Regionale Entwicklungsbanken stellen eine Alternative zur Finanzierung durch die Weltbank dar und funktionieren häufig ähnlich. Darlehen sind meist an Beratungsleistungen geknüpft, die der wirtschaftlichen Entwicklung des jeweiligen Partnerlands dienen sollen. Schon seit den 1960er Jahre existieren regionale Entwicklungsbanken für Afrika, Asien und Lateinamerika. Neue regionale Entwicklungsbanken ka‐ men erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts hinzu. Ein besonders prominentes 8.2 Entwicklungszusammenarbeit heute 335 <?page no="336"?> Beispiel ist die von China im Jahr 2015 initiierte Asiatische Infrastruktu‐ rinvestmentbank (AIIB) (Wang 2019). Auslöser für die Gründung von (regionalen) Entwicklungsbanken ist meist der unzureichende Zugang der Entwicklungsländer zu internatio‐ nalen Kapitalmärkten. Die gemeinschaftliche Haftung erhöht - ins‐ besondere bei Beteiligung einer ausreichenden Zahl wohlhabender Länder als Anteilseigner - die Kreditwürdigkeit der Banken und ermöglicht es ihnen, günstige Konditionen am internationalen Kapitalmarkt zu erhalten, die sie an die Mitgliedsländer weitergeben. Bei einigen regionalen Entwick‐ lungsbanken können auch Staaten, die nicht in der Region angesiedelt sind, Anteilseigner werden. In den meisten Fällen ist dies attraktiv für tra‐ ditionelle Geberländer, die durch ihren finanziellen Beitrag die Möglichkeit der Einflussnahme erhalten. Je nach Statut der regionalen Bank kann der Einfluss nicht-regionaler Anteilseigner stark variieren. Eine vermeintlich zu starke Einflussnahme von reicheren Ländern führt häufig zur Gründung neuer Institutionen. Durch das wirtschaftliche Erstarken einiger Länder mittleren Einkommens werden dabei zunehmend auch Banken attraktiv, die überhaupt keinen Einfluss traditioneller Geberländer zulassen (Humphrey und Michaelowa 2013). Beispiele sind die Entwicklungsgesellschaft für die Andenregion (CAF) und die 2014 gegründete Neue Entwicklungsbank der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). 8.2.3 „Neue“ Instrumente Zu Beginn bestand die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit meist aus einem Kapitalund/ oder einem Technologietransfer für einen bestimmten Sektor (vgl. Box 8.2) von einer Regierung an die Regierung eines anderen Staates. NRO fokussierten sich von Anfang an auf die Projektför‐ derung, um eine direkte Wirkung auf ärmere Haushalte sicherzustellen. Da die gewünschten Erfolge sowohl des Kapital- und Technologietransfers als auch der Projektförderung aus verschiedenen Gründen (vgl. Kapitel 8.4) oft ausblieben, ist die EZ über die letzten 50 Jahre nicht nur hinsichtlich der Geber diverser geworden (vgl. Kapitel 8.2.2). Es sind auch eine Vielzahl an „neuen“ EZ-Instrumenten und Prozessen hinzugekommen, von denen im Folgenden die Wichtigsten kurz erläutert werden. 8 Internationale Zusammenarbeit 336 <?page no="337"?> Box 8.2 | Ausgewählte Sektoren und Programme der EZ Bildung: Zugang zu Bildung, Gendergleichheit, Qualität der Bildung, stärkere Akzeptanz von Bildung, Kinder- und Erwachsenenbildung, verbesserte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Gesundheit: Direkte Gesundheitsprogramme wie Impfkampagnen und Hygienebildung und indirekte Maßnahmen wie Versicherungssysteme. Landwirtschaft & Ernährung: Nachhaltige Bewirtschaftung, ertragrei‐ cheres Saatgut, gesündere Ernährung, Marktzugang für Bauern, Zerti‐ fizierungen wie Fair Trade. Regierungsführung: Förderung der Rechtsstaatlichkeit, Dezentralisie‐ rung, Mitbestimmungsrechte, Mediation, Menschenrechtsarbeit, Kor‐ ruptionsbekämpfung. Infrastruktur: Straßen- und Brückenbau, Elektrizität, Brunnen, Abwas‐ sersysteme. Privatsektor: Förderung der Privatwirtschaft, Markt für die Armen (Market for the Poor, M4P), Mikrokredite. Im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank in den 1980er Jahren (vgl. Kapitel 4.3.3) wurden formal bindende Politik-Kon‐ ditionen der Mittelfreigabe eingeführt. So konnte beispielsweise die nächste Tranche einer Kreditauszahlung an die Deregulierung des Arbeitsmarktes oder an eine Verschlankung des Staatsapparats geknüpft werden. Regierungen, die nicht hinter diesen Politikreformen standen, fanden jedoch häufig Möglichkei‐ ten, die Konditionen zu umgehen. Schließlich agierten auch die Geber selbst zum Teil sehr nachsichtig, da sie Budgetkürzungen für die EZ im eigenen Land zu befürchten hatten, wenn sie ihre Mittel nicht komplett ausgaben. Selbst wenn die Konditionen nicht erfüllt wurden, hatten viele Geber daher einen Anreiz, die versprochenen Mittel auszuzahlen. Konditionalität in dieser Form erwies sich daher als wenig erfolgreich. Gegen Ende der 1990er Jahre fand daher ein Wandel von der Politik-Kon‐ ditionalität auf eine verstärkte Prozess-Konditionalität statt, die eine stärkere Eigenverantwortung der Empfängerländer gewährleisten sollte (vgl. auch Kapitel 8.1). Die Regierungen waren zu möglichst transparen‐ ten, partizipativen Entscheidungsfindungsprozessen bei der Erarbeitung ihrer eigenen Entwicklungspläne (Poverty Reduction Strategy Papers, PRSPs) aufgefordert. Die PRSPs sollten den Gebern aufzeigen, in welcher 8.2 Entwicklungszusammenarbeit heute 337 <?page no="338"?> 7 Aufgrund der damit verbundenen Kanalisierung bilateraler Mittel durch multilaterale Organisationen verschwimmen die Grenzen zwischen bi- und multilateraler EZ und man spricht in diesem Zusammenhang von „multi-bi“ EZ. Hinsicht sie koordiniert durch die Regierung des Empfängerlandes einen Entwicklungsbeitrag leisten konnten. Als Alternative zur klassischen Projektförderung etablierte sich zudem die Budgethilfe als eine neue Form der EZ. Gelder der Budgethilfe fließen dabei direkt in die Staatskasse der Empfängerländer und werden entspre‐ chend nationaler Regeln und Prozesse verwaltet. Die Budgethilfe stellt die konsequenteste Form der Wahrung der Souveränität und der Förderung der Eigenverantwortung des Empfängerlandes dar. Der Empfängerstaat muss sich allerdings zu einem Politikdialog mit den Geberländern hinsichtlich der Verwendung der Gelder sowie zu einer regelmäßigen Berichterstat‐ tung verpflichten. Auf die Selbstverantwortung der Empfängerländer zu bauen funktioniert jedoch nur, wenn funktionierende Institutionen und gute Regierungsführung bereits vorhanden sind. Daher setzte sich der Ge‐ danke durch, Budgethilfe und auch Entwicklungsprojekte von vornherein an bestimmte Mindestkriterien, beispielsweise im Hinblick auf Menschen‐ rechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, zu binden (Selektivität bzw. Ex-ante-Konditionalität). Evaluationen von Budgethilfe fallen in der Regel positiv aus (Orth et al. 2017). Trotz dieser Resultate wird die Budgethilfe nur sehr zurückhaltend verwendet. Viele Geber ziehen sich derzeit wieder ganz aus der Budgethilfe zurück. Im Jahr 2015 flossen lediglich 1,2 % der gesamten ODA in die Budgethilfe. Im Vergleich zur klassischen Projektfinanzierung ist es schwieriger, die Budgethilfe in den Geberländern politisch zu rechtfertigen. Die Bevölkerung und das Parlament befürchten schnell eine Veruntreuung der Mittel, wenn exakte Vorgaben zu deren Nutzung fehlen. Zudem kann das Wirken der nationalen Entwick‐ lungshilfe im Empfängerland nicht aufgezeigt werden, wenn keine konkreten Projekte finanziert werden, sondern die EZ in Form der Budgethilfe geleistet wird (vgl. Box 8.3). Dieselbe Haltung erschwert auch die im Rahmen des Pariser Abkommens 2005 vereinbarte Zusammenarbeit unter den Gebern. Neben der Budgethilfe stehen den Gebern für die Zusammenarbeit unterein‐ ander auch die von multilateralen Organisationen geführten Treuhandfonds zur Verfügung, die den bilateralen Gebern die Möglichkeit geben, ihre Mittel für bestimmte Themen zunächst zu bündeln und dann an Staaten weiter zu ver‐ geben (Reinsberg et al. 2015). 7 In den überwiegenden Teil der Treuhandfonds 8 Internationale Zusammenarbeit 338 <?page no="339"?> zahlt allerdings oft nur ein einziger Geber ein, um das spezifische Wissen der multilateralen Organisation zu nutzen, gleichzeitig aber als Geber sichtbar zu bleiben. Diese Entwicklung ist problematisch. Innerhalb der Weltbank existieren inzwischen über tausend Treuhandfonds, die erhebliche Transak‐ tionskosten verursachen. Auch bei einer Reihe von UN-Organisationen ist zu beobachten, dass sich der Mittelzufluss von dauerhaft zugesagten und für die Organisation frei einsetzbaren Ressourcen zunehmend dahingehend verschiebt, dass die Mittel an bestimmte Themenbereiche geknüpft sind. Das schränkt nicht nur die Macht der offiziellen Entscheidungsgremien ein, sondern reduziert auch die Planbarkeit des Budgets. Ein weiterer neuer Ansatz, der sich aufbauend auf konditionierten Geld‐ transfers (conditional cash transfers, CCTs, vgl. Kapitel 4.4.2) innerhalb der letzten 10 Jahre entwickelte, ist die Idee der direkten Geldtransfers (unconditional cash transfers, UCTs) an arme Haushalte. Bedürftige Familien erhalten entweder einmalig zwischen ca. 500 und 1.000 US$ oder monatlich ca. 10-20 US$. Die Befürworter dieses Ansatzes betonen die Stärkung der Autonomie der Haushalte und die niedrigen Administrationskosten dieser Form der EZ. Zudem wird mit UCTs die Freiheit von armen Haushalten, ein selbstbestimmtes Leben führen (vgl. Kapitel 1.3.5), eher gefördert als mit vordefinierten Entwicklungsprogrammen. Die Gegner verweisen auf das Risiko, dass die Empfänger die Gelder vor allem für Konsumgüter ausgeben, die keinen nachhaltigen Nutzen für die Haushalte aufweisen, und dass diese Art der Unterstützung eine passive Einstellung der Empfänger stärken könne. Empirische Studien widerlegen diese Argumente und zeigen auf, dass Familien die erhaltenen Gelder aktiv nutzen, um ihre Situation unabhängig von externen Vorgaben zu verbessern (Haushofer und Shapiro 2016). Haushalte investieren zum Beispiel in die Schulbildung ihrer Kinder, in dringend notwendige Medikamente, ein Mobiltelefon oder ein neues Hausdach. Auch konnte aufgezeigt werden, dass sich das psychische Wohlbefinden der Empfänger verbessert. Die langfristigen Auswirkungen sind bisher jedoch wenig erforscht. Hinzu kommt, dass ein solcher Ansatz nur für Familien in extremer Armut finanzierbar ist (vgl. Kapitel 1.3.3) und das Problem fehlender öffentlicher Güter in vielen Entwicklungsländern (vgl. Kapitel 3.2.2) nicht löst. In der Humanitären Hilfe (vgl. Box 8.1) werden UCTs in Krisensitua‐ tionen immer häufiger der traditionellen Form der Unterstützung durch Sachleistungen vorgezogen. Wenn es an lokaler Kaufkraft mangelt, wäh‐ rend Nahrungsmittel und sonstige Güter vorhanden sind, profitieren die 8.2 Entwicklungszusammenarbeit heute 339 <?page no="340"?> Betroffen stärker von UCTs als von Sachleistungen (Doocy et al. 2016). Die UCTs erlauben es Haushalten, innerhalb der lokalen Wirtschaft ihren eigenen Präferenzen entsprechend zu konsumieren. Verteilte Lebensmittel hingegen werden oft weiterverkauft, um ein Einkommen zu generieren. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Umsetzung von UCT-Programmen in humanitären Krisen viel schneller und zu niedrigeren Kosten erfolgen kann als die Verteilung von Sachmitteln. 8.3 Reduziert Entwicklungszusammenarbeit Armut? Die Frage, ob die EZ ihr Ziel erreicht und einen positiven Einfluss auf die Lebensbedingungen der Menschen in Entwicklungsländern hat, speist Diskussionen sowohl in Geberals auch in Empfängerländern. In den Geberländern geht es dabei vor allem um die Frage, inwiefern es sinnvoll ist, Steuergelder in die EZ zu investieren. Die Entwicklungsländer beschäftigt, ob die EZ die wirtschaftliche und soziale Entwicklung nicht eher verlangsamt als beschleunigt. Allerdings ist die Frage der Wirksamkeit der EZ angesichts der Vielfalt an Sektoren (vgl. Box 8.2), Akteuren (vgl. Kapi‐ tel 8.2.2) und Instrumenten (vgl. Kapitel 8.2.3) in einer solch aggregierten Form kaum (mehr) sinnvoll zu beantworten. Es erstaunt daher nicht, dass die Mehrzahl ökonomischer Studien, die sich auf die gesamthafte Wirkung der Entwicklungszusammenarbeit konzentrieren (d. h. deren Einfluss auf das Pro-Kopf-Einkommen), keine oder nur sehr kleine Effekte findet (Arndt et al. 2011, Rajan und Subramanian 2008). Einige Studien finden stärkere positive Wirkungen, aber abnehmende Grenzerträge der Entwicklungshilfe (Hansen und Tarp 2000). Abnehmende Grenzerträge sind durch die begrenzte Absorptionskapazität armer Län‐ der in Bezug auf externe Finanzzuflüsse zu erklären. Mit wachsenden internationalen Mitteln nimmt die Kapazität, weitere Finanzmittel sinnvoll einzusetzen, ab. Eine andere oft zitierte Studie findet eine höhere Wirkung der Entwicklungszusammenarbeit bei guter Regierungsführung (Burnside und Dollar 2000). Trotz theoretischer Plausibilität, sind diese Ergebnisse wissenschaftlich stark umstritten und im Hinblick auf die gewählten Ana‐ lysemethoden wenig robust (vgl. z. B. Easterly et al. 2004). Neuere Studien differenzieren zwischen unterschiedlichen Formen der EZ und kommen zu positiveren Resultaten. Clemens et al. (2011) be‐ rücksichtigen beispielsweise gezielt nur diejenigen Arten der EZ, bei denen 8 Internationale Zusammenarbeit 340 <?page no="341"?> bereits innerhalb relativ weniger Jahre ein Einfluss auf das Wirtschafts‐ wachstum wahrscheinlich ist, wie zum Beispiel Infrastrukturprojekte. An‐ dere Studien analysieren die Erfolge der EZ in einzelnen Sektoren. Sie kommen unter anderem zu dem Schluss, dass EZ-Gelder im Bereich Bildung und Gesundheit einen positiven Einfluss auf den Besuch der Grundschule haben (Birchler und Michaelowa 2016, Dreher et al. 2008) und die Kinder- und Müttersterblichkeit verringern (Mishra und Newhouse 2009). Selbst wenn eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Typen der EZ erfolgt, bleiben erhebliche methodische Probleme für statistische Analysen auf Makro-Ebene bestehen. Vor allem besteht die Gefahr, nicht für alle relevanten weiteren Einflussfaktoren kontrollieren zu können (vgl. Abb. 8.4), was zu einer Verzerrung der Ergebnisse führt. Kausale Zusammen‐ hänge zwischen EZ und Entwicklung sind nur im Rahmen wissenschaftli‐ cher Experimente klar zu testen (vgl. Box 8.3). Deren Durchführbarkeit ist jedoch auf die Projektebene beschränkt und auf gesamtwirtschaftlicher Ebene nicht möglich. Unabhängig von methodischen Herausforderungen ist ein Fokus der Wirkungsmessung auf wirtschaftliches Wachstum zu einseitig. Die Ziele der EZ gehen darüber hinaus, das Pro-Kopf-Einkommen der Ent‐ wicklungsländer zu erhöhen. Zentrale Themen der EZ wie die direkte Armutsbekämpfung, die Verbesserung sozialer Dienstleistungen sowie die langfristige Förderung von Rechtsstaatlichkeit spiegeln sich nicht in einer Studie wider, die nur die Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum un‐ tersucht. Makrostudien, die den Zusammenhang zwischen der EZ und dem Wirtschaftswachstum analysieren, werden aus den genannten Gründen in den letzten Jahren immer seltener durchgeführt. Viel zentraler ist die Frage nach dem Wirkungsgrad spezifischer EZ-Maß‐ nahmen, mit der sich Wissenschaftler, Politiker und Praktiker im Rahmen sogenannter Wirkungsevaluationen (vgl. Box 8.3) seit ca. 15 Jahren in‐ tensiv befassen. Eine Wirkungsevaluation analysiert, welchen Einfluss eine spezifische entwicklungspolitische Maßnahme auf die Lebensbedingungen armer Bevölkerungsgruppen hat. Hierbei kann es sich um jegliche Art von Projekten handeln, wie zum Beispiel eine Informationskampagne, Zugang zu Mikrokrediten, UCTs (vgl. Kapitel 8.2.3), Brunnen- oder Straßenbau, höhere Löhne für Lehrer, Zertifizierung von Fair Trade oder Einführung einer Ge‐ sundheitsversicherung. Dabei ist irrelevant, wer diese Intervention finanziert (ODA, NROs oder eine Finanzierung durch Steuern). Dank des Fortschritts in den Informations- und Kommunikationstechnologien und der damit verbun‐ 8.3 Reduziert Entwicklungszusammenarbeit Armut? 341 <?page no="342"?> denen Kostenreduktion in der Datensammlung hat sich die Anzahl der Wirkungsevaluationen von Programmen zur Armutsreduktion in den letzten 15 Jahren um ein Vielfaches gesteigert (von ca. 250 Wirkungsevaluationen im Jahr 2000 auf über 4.000 im Jahr 2015) (Brown et al. 2016). Box 8.3 | Wirkungsevaluation, Kontrafakt und RCT Für eine Wirkungsevaluation (ETH-NADEL und SDC 2017) eines Pro‐ jekts bedarf es eines sogenannten Kontrafakts, das die Frage beantwor‐ tet: Was wäre ohne das von der EZ finanzierte Projekt passiert? (vgl. Abb. 8.4). Während es verschiedene statistische Methoden gibt, die eine solche Untersuchung erlauben, dominiert eine Methode in den letzten Jahren den wissenschaftlichen Diskurs: das randomisierte kontrollierte Experiment (Englisch: randomized controlled trial, RCT). Die generelle Idee hinter einem RCT ist einfach: Wie bei der Erforschung von Medi‐ kamenten in der Medizin wird die Zielgruppe zufällig in eine Interven‐ tionsgruppe (in der EZ: mit Projekt) und in eine Kontrollgruppe (in der EZ: ohne Projekt) aufgeteilt (Banerjee 2007). Durch die Randomisierung und eine genügend große Stichprobengröße in der Interventions- und Kontrollgruppe weisen die beiden Gruppen - abgesehen von der Durch‐ führung eines Entwicklungsprojekts - die gleichen Charakteristika auf. Unterschiede in der Entwicklung der beiden Gruppen über die Zeit sind folglich das Resultat des Entwicklungsprojektes. Wirkungsevaluationen führen zu vielfältigen Erkenntnissen. Sie zeigten beispielsweise auf, dass Mikrokredite weniger zur Armutsreduktion beitra‐ gen als theoretisch vermutet (Banerjee 2007, vgl. Kapitel 4.4.3), dass ein bedingungsloses Grundeinkommen an arme Bevölkerungsgruppen zumin‐ dest kurz- und mittelfristig zur Armutsreduktion beitragen kann und nicht für kurzfristigen Konsum genutzt wird (Haushofer und Shapiro 2016, vgl. Kapitel 8.2.3), dass einer der effizientesten Wege zur Verbesserung der Bil‐ dung die Bekämpfung von Wurmkrankheiten sein kann (Miguel und Kremer 2004, vgl. Box 5.5) und dass selbst die geringsten Selbstbeteiligungsbeiträge dazu führen, dass die Ärmsten nicht in präventive Gesundheitsmaßnahmen, wie z. B. ein Moskitonetz, investieren (Dupas 2014, vgl. Box 5.3). Diese Studien zeigen, dass von der EZ finanzierte Projekte zur Armutsreduktion sowohl sehr wirksam sein können als auch eine Verschwendung von Steuer- 8 Internationale Zusammenarbeit 342 <?page no="343"?> oder Spenden-Geldern darstellen können. Letztendlich kommt es immer auf die konkrete Intervention an. Abb. 8.4 Ausgangslage Kontrafakt (Vergleichsgruppe) Messdaten (Interventionsgruppe) Zeit Projektbeginn Wirkung Total beobachtete Veränderung Externe Faktoren Entwicklungsindikator Abb. 8.4: Was ist ein Kontrafakt? Interessanterweise weisen neueste Studien darauf hin (Metzger und Gün‐ ther 2019, Karlan und Wood 2017), dass der individuelle Spender kaum ein Interesse an der Effektivität der von ihr oder ihm finanzierten Projekte zeigt. Dies steht im Gegensatz zur öffentlichen Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit, deren Effektivität sowohl von Wissen‐ schaftlern (Deaton 2015, Easterly et al. 2004) als auch von der Politik und den Medien (Signer 2018) immer wieder hinterfragt wird. Der Ruf nach Entwicklungszusammenarbeit, deren Wirkung überprüft wird, scheint sich deshalb (zumindest bisher) eher auf aus Steuergeldern finanzierte ODA als auf Spendengelder zu beziehen. Eine methodische Herausforderung für Wirkungsevaluationen ist, dass sie meist nur auf Projektebene anwendbar sind, da es für Interventionen auf staatlicher oder globaler Ebene fast unmöglich ist, eine Kontrollgruppe zu bilden. Würde man die zukünftige EZ auf Interventionen beschränken, deren Wirkung schon statistisch untersucht wurde, müssten Maßnahmen auf nationaler und globaler Ebene ausbleiben. Dies wäre problematisch, da gerade institutionelle Reformen auf staatlicher Ebene in vielen Ländern eine zentrale Rolle hinsichtlich des langfristigen Wandels gespielt haben (vgl. 8.3 Reduziert Entwicklungszusammenarbeit Armut? 343 <?page no="344"?> Kapitel 3) und der Schutz globaler öffentlicher Güter (wie zum Beispiel die Umwelt und das Klima) extrem wichtig ist (vgl. Kapitel 6). Zudem führt selbst eine große Anzahl wirkungsvoller Einzelprojekte nicht immer zu erkennbaren makroökonomischen oder gesellschaftlichen Veränderungen. Dieses Phänomen ist in der Literatur unter dem Begriff Mikro-Makro-Paradoxon bekannt. Erfolgreiche Entwicklungsprojekte können zum einen zu falschen Anreizen auf staatlicher Ebene führen und wichtige staatliche Politikreformen verlangsamen (vgl. Kapitel 8.4.5). Zum anderen kann die Fungibilität von Geldern (vgl. Box 8.5) dazu führen, dass weniger lokale Gelder in den sozialen Sektoren investiert wird, in denen EZ-Projekte effektiv sind. Auch sind die Ergebnisse einer Wirkungsevaluation nicht immer auf einen anderen Kontext übertragbar. Um diese Einschränkung anzugehen, hat die Organisation 3ie sogenannte „Evidence Gaps Maps“ entwickelt. Für die Erstellung einer solchen Karte werden Ergebnisse verschiedener Stu‐ dien zu bestimmten Sektoren, z. B. Landwirtschaft oder Wasserversorgung, gesammelt und zusammengefasst. Dadurch lässt sich aufzeigen, welche Entwicklungsinterventionen funktionieren und zu welchen Themenberei‐ chen es nur wenige wissenschaftliche Studien gibt. Entwicklungspolitische Akteure könnten Instrumente wie die „Evidence Gaps Maps“ nutzen, um die Ausrichtung zukünftiger Projekte vermehrt auf wissenschaftliche Evidenz zu stützen (International Initiative for Impact Evaluation 2019). Nicht zuletzt gelangen RCTs dafür in die Kritik, dass sie Experimente an „den Armen“ durchführen, da RCTs die Personen der Kontrollgruppe aktiv von potenziell effektiven Entwicklungsprojekten ausschließen. Das Gegenargument ist, dass es genauso unethisch ist, die limitierten finanzi‐ ellen Mittel der EZ in Interventionen zu investieren, deren Wirksamkeit nicht klar ist. Hinzu kommt, dass de facto auch ohne RCTs in den meisten EZ-Projekten Personengruppen aufgrund eines nicht ausreichenden Bud‐ gets ausgeschlossen werden müssen. Eine Zufallsauswahl ist eine faire Allokation von beschränkten EZ-Geldern. 8.4 Was sind die Herausforderungen einer effektiven Entwicklungszusammenarbeit? Methodische Herausforderungen und Datenprobleme können möglicher‐ weise erklären, warum ein Teil der makroökonomischen Wirkung der Ent‐ 8 Internationale Zusammenarbeit 344 <?page no="345"?> wicklungsgelder nicht statistisch nachgewiesen werden kann (vgl. Kapitel 8.3). Gleichzeitig zeigen neuere experimentelle Studien, dass Entwicklungs‐ zusammenarbeit sowohl eine stark positive als auch gar keine Wirkung entfalten kann. Woran die Unterschiede in der Wirksamkeit liegen könnten, soll in den folgenden Abschnitten diskutiert werden. 8.4.1 Zu wenig Geld? Jeffrey Sachs (2005) argumentiert, dass zu geringe Entwicklungsgelder der Grund für das Problem moderater Effektivität von Entwicklungszu‐ sammenarbeit auf gesamtwirtschaftlicher Ebene sind. 150 Milliarden US$ pro Jahr verteilt auf ca. 150 Länder ergibt im Durchschnitt eine Milliarde pro Land und Jahr. Im Vergleich dazu erzielen einzelne international agierende Konzerne zwischen 30 und 200 Milliarden US$ Umsatz pro Jahr; und auch das BIP eines so kleinen Landes wie der Schweiz liegt schon bei 700 Milliarden US$. Sachs argumentiert, dass sich Entwicklungsländer in einer Armutsfalle befinden, die es ihnen fast unmöglich macht, ein positives Wirtschafts‐ wachstum aus eigener Kraft zu erreichen. Als Armutsfalle gilt ein Zustand, in dem die Armut selbst die Ursache der wirtschaftlichen Stagnation ist (vgl. Abb. 8.5 und Kapitel 6, Abb. 6.5). Sachs führt drei wesentliche Ursachen für eine Armutsfalle auf: ■ Armut führt dazu, dass sämtliche Einnahmen benötigt werden, um alltägliche Grundbedürfnisse zu befriedigen und keine Ersparnisse gebildet werden können. Ohne Ersparnisse werden keine privaten Investitionen getätigt oder Steuern für öffentliche Investitionen bezahlt, die für wirtschaftliche Entwicklung notwendig wären. ■ Armut führt zu hohen Geburtenraten, da die relativen Kosten für Kinder in armen ländlichen Gebieten gering sind. Viele Kinder und somit hohes Bevölkerungswachstum wirken sich negativ auf das Kapital pro Kopf aus und führen zu wirtschaftlicher Stagnation. ■ Armut führt zu niedriger Produktivität. Sehr arme Bevölkerungs‐ gruppen können keine Produktivitätsgewinne durch den globalen technologischen Fortschritt realisieren, und nationale Innovation findet wegen der Armut und fehlender Investitionen in Bildung und Forschung kaum statt. 8.4 Was sind die Herausforderungen einer effektiven Entwicklungszusammenarbeit? 345 <?page no="346"?> Abb. 8.5: Armutsfalle nach Sachs KEIN Wirtschaftswachstum pro Kopf konstantes Kapital pro Kopf ARME Haushalte KLEINES öffentliches Investitionsbudget KEINE Haushaltsersparnisse KEINE Steuerzahlung en HOHES Bevölkerungswachstum NIEDRIGE Produktivität Abb. 8.5: Armutsfalle nach Sachs Viele Wachstumsmodelle betrachten die Sparquote, das Bevölkerungs‐ wachstum und die Produktivität als wesentliche Faktoren, die das Wirt‐ schaftswachstum mitbestimmen (vgl. Kapitel 2.3.2). Nach Sachs handelt es sich hierbei um endogene Faktoren. Je ärmer ein Land ist, desto niedriger die Sparquote, desto niedriger die Produktivität und desto höher das Bevölkerungswachstum. Laut Sachs kann nur eine massive externe finanzielle Unterstützung ein Land aus der Armutsfalle befreien. Mit Hilfe der Entwicklungszusammenarbeit könnten die nötigen Investitionen getä‐ tigt werden, um Entwicklungsprozesse anzustoßen. Diese Mittel sind Sachs Meinung nach bisher jedoch zu gering, weshalb Länder immer wieder zurück in die Armut fallen. Sachs weist auf einige Erfolgsbeispiele der EZ hin, bei denen große Investitionen zu einer länderübergreifenden Verbesserung der Lebensbedin‐ gungen beigetragen haben. Dazu gehören die Entwicklung von Hochleis‐ tungssaatgut, das in Asien zu einer rapiden Steigerung der Weizenproduk‐ tion geführt hat, Investitionen in Impfkampagnen, die eine erhebliche Senkung der Kindersterblichkeit in Entwicklungsländern zur Folge hatten, sowie die Mikrokredit-Revolution, die in Bangladesch begann und sich inzwischen auf viele Länder ausgeweitet hat. Unbeantwortet lässt Sachs die Frage, warum manche ursprünglich sehr arme Staaten, wie zum Beispiel 8 Internationale Zusammenarbeit 346 <?page no="347"?> 8 Allerdings muss erwähnt werden, dass durch langjährige (auch wenn historisch koloniale) Beziehungen und sprachliche Überschneidungen durchaus Effizienzgewinne durch diese Art der Allokation zu erwarten sind. Bolivien, Ägypten, China oder Malaysia, trotz moderater Entwicklungshilfe mittlerweile zu den Ländern mit mittlerem Einkommen (MICs) zählen. 8.4.2 Eigeninteresse anstatt Altruismus? Angesichts des übergeordneten Ziels der EZ - der Bekämpfung der Ar‐ mut - müssten sich EZ-Maßnahmen primär an den Bedürfnissen der Zielgruppe orientieren, um wirksam zu sein. In welchem Umfang eine solche Bedürfnisorientierung tatsächlich stattfindet, wird unterschiedlich beurteilt. Während manche Studien aufzeigen, dass die Armutsrate eines Landes in der Praxis generell eher eine geringe Rolle für die Vergabe von Entwicklungsgeldern spielt (Hoeffler und Outram 2011, Nunnenkamp und Thiele 2006, Alesina und Weder 2002, Alesina und Dollar 2000), weisen andere Studien auf erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Gebern hin (Claessens et al. 2009, Thiele et al. 2007, Berthélemy 2006, Dollar und Levin 2006). Für einige Geber scheinen altruistische Überlegungen im Vordergrund zu stehen (z. B. Norwegen). Für andere dient die EZ primär der Förderung eigener politischer oder wirtschaftlicher Interessen. Einige europäische Geber konzentrieren sich beispielsweise auf ihre ehema‐ ligen Kolonien, um mittels der Entwicklungszusammenarbeit abzusichern, dass sie ihren Einfluss dort nicht vollständig verlieren. 8 Über 80 % der portu‐ giesischen ODA und 50 % der französischen ODA fließen beispielsweise in ehemalige Kolonien. Andere Geber verfolgen geopolitische Interessen. Seit den terroristischen Anschlägen 2001 ist für die USA zudem die nationale Sicherheit ein politisch relevantes Auswahlkriterium der Empfängerländer. Afghanistan, Pakistan, Jordanien und der Irak erhalten daher einen sehr großen Anteil der amerikanischen ODA. Ein weiterer Aspekt der politisch motivierten bilateralen EZ ist das Ziel, Verbündete für Abstimmungen in der UN-Ge‐ neralversammlung zu gewinnen, bei denen jedes Land eine Stimme innehat. In diesem Kontext ist es sinnvoll, durch die EZ gute Beziehungen zu möglichst vielen Ländern aufzubauen (Dreher et al. 2009). Innerhalb Europas dominiert zudem derzeit das Ziel, die Zahl der einreisen‐ den Flüchtlinge zu reduzieren, die Überlegungen zur Ausrichtung der EZ. Aus diesem Grund werden EZ-Mittel von einigen Gebern bevorzugt an solche 8.4 Was sind die Herausforderungen einer effektiven Entwicklungszusammenarbeit? 347 <?page no="348"?> Regierungen vergeben, die sich bereit erklären, die Migration einzudämmen, indem sie Flüchtlinge von der Grenzüberschreitung zurückhalten (BMZ 2018) oder bei einer Rückführung wieder aufnehmen. Ob Entwicklungszusammenar‐ beit kurz- oder mittelfristig zu einer Reduktion von Migrationsströmen führen kann, ist wissenschaftlich stark umstritten (Lanati und Thiele 2018, Dreher et al. 2019), ganz davon zu schweigen, dass es aus ökonomischer und ethischer Perspektive schwierig ist, gute Gründe zu finden, Migration zu unterbinden (vgl. Kapitel 7.7.3). Die Welt hat sich als globale Gemeinschaft auf die Gleichheit der Menschen verständigt und diese in der Erklärung der Menschenrechte niedergeschrieben, aus welcher sich direkt die Chancengleichheit für alle Menschen ableitet. Heutzutage sind die sozialen und ökonomischen Chancen von Menschen vor allem davon abhängig, in welchem Land sie zur Welt kommen. Die „lottery of birth“ verträgt sich schlecht mit dem Recht auf Chancengleichheit (vgl. Kapitel 1.5.4). Länder vergeben Entwicklungsgelder auch aus wirtschaftlichen Inter‐ essen. Beispielsweise wird EZ zur Exportförderung eingesetzt (Barthel et al. 2014). Früher geschah dies oft sehr direkt, indem EZ-Gelder nur für Importe aus dem Geberland ausgegeben werden durften (Lieferbindung). Diese Praxis verweigerte es Entwicklungsländern, den kostengünstigsten Exporteur auszusuchen, was zu starken Effizienzverlusten der EZ führte. Ende der 1990er einigte man sich daher innerhalb des DAC darauf, diese Praxis einzuschränken. EZ-Gelder können allerdings auch ohne Lieferbin‐ dung für Exporteure des Geberlandes von Nutzen sein. Zum Teil übersteigt der Nutzen für Firmen in Geberländern sogar die Kosten der EZ, wenn die EZ als Katalysator funktioniert und durch sie der Zugang zu neuen Märkten geschaffen wird (Martinez-Zarzoso et al. 2009). Andere wirtschaftliche Nut‐ zen für die Geber sind der Zugang zu Öl und anderen Rohstoffen. Während traditionelle Geber ihre wirtschaftlichen Interessen im Rahmen der EZ eher relativieren, artikuliert insbesondere China das eigene ökonomische Interesse an der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit ärmeren Ländern sehr offen (vgl. Kapitel 8.2.2). Von einer EZ, die von den Eigeninteressen der Geber geleitet wird, ist nicht zu erwarten, dass sie maßgeblich zur globalen Armutsreduktion beiträgt (Kilby und Dreher 2010). Die unzureichende Erfüllung zentraler entwicklungspolitischer Ziele basiert dann eher auf der von vornherein an‐ deren Ausrichtung der Mittelvergabe als auf der mangelnden Wirksamkeit entwicklungspolitischer Interventionen. 8 Internationale Zusammenarbeit 348 <?page no="349"?> 8.4.3 Fehlende Politikkohärenz? Politikkohärenz liegt vor, wenn politische und institutionelle Maßnahmen zur Erreichung politischer Ziele aufeinander abgestimmt sind. Übertragen auf die EZ bedeutet dies, dass die verschiedenen Politikfelder innerhalb eines Landes, wie beispielsweise die EZ und die Umwelt- und Handelspolitik, aufeinander abgestimmt sind und dass sich verschiedene internationale Ak‐ teure (innerhalb eines Entwicklungslandes) koordinieren und widersprüch‐ liche Maßnahmen vermeiden. Insbesondere durch Maßnahmen in Bereichen, die nur zu einem kleinen Teil von der EZ beeinflussbar sind, können entwicklungspolitische Ziele im Fall mangelnder Politikkohärenz nicht erreicht werden. Beispielhaft sind hier die Außenpolitik, Handelspolitik, Umweltpolitik und Steuerpolitik zu nennen (vgl. Abb. 8.6). Abb. 8.6: ODA im Vergleich zu unlauteren Finanzflüssen und Agrarsubventionen Anmerkung: Unlautere Finanzströme umfassen entsprechende Geldflüsse in alle Entwicklungsländer. Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit bezieht sich auf Gelder aus den DAC-Ländern. Agrarsubventionen enthalten Subventionen, die von OECD-Ländern gezahlt werden. US$ inflationsbereinigt zu 2018 Preisen. Quellen: Kar und Spanjers (2015), Weltbank (2019), OECD (2018) 0 200 400 600 800 1.000 1.200 2004 2010 2013 US$ (in Milliarden) unlautere Finanzströme Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit Agrarsubventionen Abb. 8.6: ODA im Vergleich zu unlauteren Finanzflüssen und Agrarsubventionen Anmerkung: Unlautere Finanzströme umfassen entsprechende Gelder, die aus Ent‐ wicklungsländern abfliessen. Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit bezieht sich auf Gelder aus den DAC-Ländern. Agrarsubventionen enthalten Subventionen, die von OECD-Ländern gezahlt werden. US$ inflationsbereinigt zu 2018 Preisen. Quellen: Kar und Spanjers (2015), Weltbank (2019), OECD (2018) 8.4 Was sind die Herausforderungen einer effektiven Entwicklungszusammenarbeit? 349 <?page no="350"?> Die Unterstützung autoritärer Regime in Entwicklungsländern auf‐ grund geopolitischer Interessen widerspricht dem Ziel der EZ, inklusive und partizipativ ausgerichtete Strukturen zu fördern. Hohe Agrarsub‐ ventionen in den Industrienationen wirken sich negativ auf die landwirt‐ schaftliche Produktion in den Entwicklungsländern aus (vgl. Abb. 8.6 und Kapitel 7.5.2). Ferner rauben Steuerhinterziehung oder die Ausgestaltung von Verrechnungspreisen innerhalb von internationalen Konzernen, die Gewinne in Niedrigsteuerländer verschieben, vielen Ländern wichtige na‐ tionale Einnahmequellen für Sozialleistungen (vgl. Abb. 8.6 und Kapitel 4.2). Zudem gefährdet die bisher fehlende Bereitschaft der Industrienationen, massiv CO 2 -Emissionen zu reduzieren, die Lebensbedingungen in Ent‐ wicklungsländern, die schon heute am stärksten vom Klimawandel betrof‐ fen sind (vgl. Kapitel 6.3.1). Die Gründe für eine fehlende Politikkohärenz sind oft Interessenkonflikte oder auch die fehlende Koordination zwi‐ schen verschiedenen Politikbereichen. Die EU hat die Notwendigkeit einer besseren Kohärenz zwischen der Entwicklungspolitik und anderen Politikfeldern zur Realisierung einer hö‐ heren Wirksamkeit der EZ zumindest formell anerkannt. Der Ministerrat beschloss zum Beispiel im Jahr 2005 den Prozess Policy Coherence for Development. Die Praxis hinkt dem Vorsatz jedoch hinterher. Letztendlich stellt sich die Frage, ob man sich von einer umfassenden Politikkohärenz verabschieden muss und es vielmehr um einen Ausgleich der Interessen geht. Politikkohärenz in der internationalen Zusammenarbeit, verstanden als die Ausrichtung aller internationalen politischen Maßnahmen auf das Ziel der globalen Armutsreduktion, erscheint in der Praxis nicht realisierbar, auch wenn sich die Länder auf UN-Ebene zur Agenda 2030 und somit zur Beendigung der extremen Armut verpflichtet haben. 8.4.4 Fragmentierung der Geber? Seit den frühen 1990er Jahren wird auch die zunehmende Fragmentierung der EZ als ein Grund für deren eingeschränkte Wirksamkeit aufgeführt (Bigsten und Tengstam 2015). Die Fragmentierung der Entwicklungszusam‐ menarbeit verläuft auf zwei Ebenen. Einerseits geht es um die inhaltliche Fragmentierung, womit die Vielzahl der Ziele gemeint ist, die die Entwick‐ lungsagenda abdeckt. Die Fragmentierungsdiskussion bezieht sich aber vor allem auf die stark gewachsene Anzahl an EZ-Akteuren. 8 Internationale Zusammenarbeit 350 <?page no="351"?> Die Zahl der bilateralen Geber konnte man im Jahr 1960 noch an zwei Händen abzählen. Im Jahr 2017 waren bereits 60 Staaten in der EZ aktiv (in Kenia sind zum Beispiel 26 Geberstaaten aktiv). Die Anzahl der multila‐ teralen EZ-Institutionen liegt heute bei über 200. Die NRO sind kaum noch zählbar. Eine starke Fragmentierung der EZ führt zu erhöhten direkten wie indirekten Transaktionskosten (Anderson 2012). Direkte Transakti‐ onskosten entstehen in den Empfängerländern, indem die bereits geringen zeitlichen Ressourcen öffentlicher Amtsinhaber in die Abwicklung der EZ-Projekte fließen, anstatt diese zur Wahrnehmung innerstaatlicher An‐ gelegenheiten zu nutzen (vgl. Box 8.4). Es obliegt zumeist den Empfänger‐ ländern, die Berichterstattung über die Verwendung von EZ-Geldern und die erzielten Fortschritte für jeden Geber entsprechend dessen Vorgaben aufzubereiten. Dies hat zur Folge, dass im Extremfall mehr Zeit in die Bewältigung administrativer Anforderungen fließt als in die Realisierung der Projekte (Kanbur 2003). Indirekte Transaktionskosten entstehen in den Empfängerländern durch falsche Anreize; beispielsweise, wenn geschulte Mitarbeiter ihren Job in der öffentlichen Verwaltung verlassen, um in den EZ-Sektor zu wechseln, da sie dort höhere Gehälter beziehen können (Knack und Rahman 2007). Box 8.4 | Fragmentierung der Entwicklungszusammenarbeit Die Zahl der multilateralen Geber, staatlichen Entwicklungsorganisa‐ tionen und NRO ist insbesondere im sozialen Sektor hoch, da dieser eine unmittelbar erkennbare Bedeutung für die Armen aufweist. Was dies in der Praxis bedeutet, lässt sich anhand eines Beispiels in Burkina Faso erläutern: Die staatliche japanische Entwicklungsorganisation ( JICA) möchte dort eine Schule bauen. Sie schickt eine Delegation ins Bildungsministerium, lässt sich beraten, schaut sich verschiedene Orte an und sucht dann ein Dorf aus, in dem sie den Bau der Schule als besonders dringlich empfindet. Sie kehrt nach Japan zurück und dort beginnt der administrative Prozess: Das Projekt wird ausgearbeitet und den relevanten Entscheidungsträgern vorgelegt. Nach etwa zwei Jahren ist der Antrag für die Schule in Japan bewilligt. Eine neue Delegation reist in das Dorf, wo eine kleine NRO die Schule in der Zwischenzeit gebaut hat. Die Dorfbewohner wollten die Schule verständlicherweise möglichst schnell und sahen keinen Grund, auf den Einsatz der JICA 8.4 Was sind die Herausforderungen einer effektiven Entwicklungszusammenarbeit? 351 <?page no="352"?> zu warten. Die JICA kann nun die auf den spezifischen Ort festgelegten Gelder nicht mehr anderweitig ausgeben und beschwert sich beim Bildungsministerium in Burkina Faso über mangelnde Koordination. Sie beginnt mit der Suche nach einem neuen Ort und der Prozess beginnt von vorn. Dem zuständigen Ministerialbeamten lagen nach seinem Amtsantritt innerhalb weniger Wochen bereits Dutzende derartiger Beschwerden vor. Quelle: Interviews mit Beamten des Ministeriums für Grundbildung und Alpha‐ betisierung, Burkina Faso 2010 Zumindest formell fand deshalb im Rahmen der Pariser Erklärung im Jahr 2005 eine Einigung über eine bessere Harmonisierung und Koordination der EZ statt (vgl. Kapitel 8.1). Nach dieser ist es die Aufgabe der Geber, auf eine Arbeitsteilung hinzuwirken oder stärker zusammenzuarbeiten. Empirische Studien konnten aber bisher kaum eine bessere Koordination der Geberländer aufzeigen (Nunnenkamp et al. 2015, Aldasoro et al. 2009). Neueste empirische Studien beurteilen die Auswirkungen der EZ-Frag‐ mentierung allerdings so oder so weniger negativ (Gehring et al. 2017, Klingebiel et al. 2016). Eine Vielzahl von Gebern führt nicht nur zu höheren Transaktionskosten, sondern auch zu Wettbewerb und damit zu einer Stärkung der Verhandlungsposition des Empfängerlandes und zu einer ODA, die weniger durch Geberinteressen geprägt ist (vgl. Kapitel 8.4.2). Eine Fragmentierung der ODA scheint sich deshalb nur dann negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes auszuwirken, wenn die administrativen Kapazitäten des Staates schwach sind. 8.4.5 Schlechte Regierungsführung und Korruption? William Easterly (2001, 2005), Angus Deaton (2015) und andere Ökonomen vertreten die Ansicht, dass schlechte Regierungsführung sowohl eine zentrale Erklärung für die ausbleibende Entwicklung in vielen Ländern ist als auch zu unproduktiven Investitionen der Entwicklungsgelder führt. Zudem wird argumentiert, dass die EZ die Regierungsführung in vielen Ländern sogar noch verschlechtert. Inwiefern man dieser Argumentation zustimmen kann, beschäftigt nicht nur die Wissenschaft, sondern ist auch eine in der Öffentlichkeit oft diskutierte Frage. 8 Internationale Zusammenarbeit 352 <?page no="353"?> Easterly macht die schlechte Regierungsführung (und nicht die Armut) dafür verantwortlich, dass die Investitionsquote in Entwicklungsländern so niedrig ist. Investoren befürchten negative Auswirkungen der Politik auf den Ertrag ihrer Investition (vgl. Kapitel 2.4.2) und entscheiden sich daher eher, im Ausland zu investieren. Das Wirtschaftswachstum bleibt in diesen Ländern entsprechend aus. Betrachtet man Indikatoren wie Rechtsstaatlichkeit, politische Stabilität, Mitspracherechte der Bevölkerung, Effizienz der Regierungsführung, Qualität der Verwaltungsmechanismen und das Ausmaß an Korruption, bestätigt sich, dass Entwicklungsländer diesbezüglich schlechter abschneiden als Industrienationen (vgl. Kapitel 3, Abb. 3.5). Entwicklungsländer benötigen laut Easterly daher vor allem eine bessere Regierungsführung und nicht zusätzliche Entwicklungshilfegelder, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Des Weiteren argumentieren Easterly und weitere Wissenschaftler, dass Gelder der EZ oft nicht zu steigenden Investitionen führen. Zum einen kritisiert Easterly die „großen Pläne“ und „Bürokratie“ der Entwicklungs‐ organisationen, für die es zudem unmöglich ist, „von außen“ sinnvolle lang‐ fristige Investitionen für ein Land zu identifizieren (Easterly 2005). Hinzu kommt, dass Entscheidungsträger in Entwicklungsorganisationen selten die Konsequenzen von schlecht geplanten, schlecht durchgeführten oder von vornerein ineffektiven Entwicklungsprojekten (vgl. Kapitel 8.3) tragen müs‐ sen. Entwicklungsgelder können auch dazu führen, dass vermehrt Projekte finanziert werden, von denen politische Amtsträger profitieren (Bommer et al. 2018), und nicht die Gesamtbevölkerung. Dabei muss es sich nicht zwingend um die Veruntreuung von Entwicklungshilfegeldern, sprich um Korruption, handeln. Zusätzliche Gelder für die Projekte von politischen Amtsträgern können auch die Folge der Fungibilität der EZ-Gelder sein (vgl. Box 8.5). Eine wichtige Erklärung dafür, weshalb EZ-Gelder dazu führen, dass die staatlichen Ausgaben für die von der Entwicklungszusammenarbeit unterstützten Sektoren, zum Beispiel Gesundheit oder Bildung, gekürzt werden (vgl. Box 8.5), aber auch warum Gelder der EZ veruntreut werden, liefert das Prinzipal-Agenten-Modell (vgl. Kapitel 4, Box 4.5). Wendet man das Prinzipal-Agenten-Modell auf einen Staat an, ist die Bevölkerung als Prinzipal und die Regierung als Agent zu betrachten. Der Bürger finanziert die Regierung durch Steuern, wohingegen die Regierung sich verpflichtet, ihre Wahlversprechen umzusetzen. Ist die Regierung jedoch einmal an der Macht, kann der Bürger nur in sehr beschränktem Rahmen verfolgen, 8.4 Was sind die Herausforderungen einer effektiven Entwicklungszusammenarbeit? 353 <?page no="354"?> ob die Regierung gemäß ihren Wahlversprechen handelt. Es entstehen Informationsasymmetrien zwischen dem Bürger (Prinzipal) und der Regierung (Agent). Verfolgt die Regierung Eigeninteressen, die zu denen der Bürger im Widerspruch stehen, kann sie die Informationsasymmetrie zu ihren Gunsten ausnutzen. In demokratischen Systemen existiert für die Bevölkerung jedoch nach jeder Legislaturperiode die Möglichkeit, die Regierung abzuwählen. Dadurch gibt es eine direkte Rechenschaftspflicht zwischen Bürgern und Regierung. Diese schmälert zwar nicht die Informa‐ tionsasymmetrien, jedoch die Anreize der Politiker, diese auszunutzen. Box 8.5 | Fungibilität in der Entwicklungszusammenarbeit Fungibilität ist die Eigenschaft eines Gutes (in diesem Fall Geld), durch andere Güter gleicher Art vollständig austauschbar zu sein. Für EZ ist diese Eigenschaft von Geld eine Herausforderung, was an folgendem Beispiel kurz erläutert werden soll: Einem Empfängerstaat werden Gelder zur Aufstockung der Sozialausgaben zur Verfügung gestellt, die dieser auch zu diesen Zwecken nutzt (das lässt sich kontrollieren). Trotzdem erhöhen sich die Sozialausgaben nur minimal, da staatliche Gelder, die zuvor in das Sozialsystem geflossen sind, dort teilweise gekürzt und zu anderen Zwecken, wie beispielsweise erhöhten Infra‐ strukturausgaben, genutzt werden. Dasselbe Problem kann sogar dann entstehen, wenn die Entwicklungshilfe direkt in Form von Sachleistun‐ gen vergeben wird. Wenn eine Entwicklungsbank eine Schule baut, dann kann sie kaum ausschließen, dass die dortige Regierung selbst eine Schule weniger baut als ursprünglich vorgesehen und die freiwer‐ denden Geldmittel für andere Zwecke verwendet. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Problematik der Fungibilität nicht nur für die staatliche Entwicklungszusammenarbeit gilt. Projekte, die von NRO finanziert und durchgeführt werden, sind mindestens in gleicher Weise betroffen. Bei staatlichen Kooperationen können EZ-Gelder für Schulen im Prinzip an die Bedingung geknüpft werden, dass die staatlichen Bildungsausgaben insgesamt um einen bestimmten Prozentsatz steigen. Bei einer von einer NRO gebauten Schule hat die NRO selten Einfluss auf die Staatsausgaben. 8 Internationale Zusammenarbeit 354 <?page no="355"?> Wendet man das Prinzipal-Agenten-Modell auf die EZ an, verstärkt sich die Problematik der Informationsasymmetrien, da keinerlei direkte Rückkopplung zwischen denjenigen besteht, die EZ primär finanzieren (Steuerzahler in Geberländern), und denen, die einen Nutzen daraus ziehen sollen (Bürger in Entwicklungsländern). Wie anhand Abb. 8.7 zu erkennen ist, stehen zwei Agenten (Regierungen im Geber- und Empfängerland) zwi‐ schen zwei Prinzipalen (Steuerzahler im Geber- und Empfängerland). Des‐ halb spricht man auch von einer doppelten Prinzipal-Agenten-Problematik. Zusätzlich besteht eine Prinzipal-Agenten-Konstellation zwischen der Re‐ gierung des Empfängerlandes (Agent) und der des Geberlandes (Prinzipal), die zu falschen Anreizen der Politiker führen kann. Da EZ-Gelder einen Teil der sozialen Ausgaben für die Bevölkerung finanzieren, müssen Politi‐ ker nicht unbedingt ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum anstreben, um Steuern zu erheben oder wiedergewählt zu werden. Diese Situation kann zu einer geschwächten Rechenschaftspflicht der Amtsträger gegenüber den Bürgern in Entwicklungsländern führen. Abb. 8.7 Anmerkung: P=Prinzipal, A=Agent. Rechenschaftspflicht Geldfluss Geberregierung Steuerzahler in Geberland Empfängerregierung Steuerzahler in Empfängerland Prinzipal-Agenten-Problematik P A P P A A Abb. 8.7: Doppelte Prinzipal-Agenten-Problematik Anmerkung: P=Prinzipal, A=Agent. 8.4 Was sind die Herausforderungen einer effektiven Entwicklungszusammenarbeit? 355 <?page no="356"?> 8.4.6 Zu komplex? Einfache Antworten auf Fragen der Entwicklungspolitik gibt es kaum. Die Gründe dafür sind vielseitig. Ein zentraler Grund ist jedoch, dass für jede Intervention die dadurch ausgelösten Verhaltensanreize sowohl für die Bevölkerung als auch für die mit den relevanten Aufgaben im Land betrauten Politiker und Staatsangestellten mitbedacht werden müssen. Günther und Schipper (2013) und Gross et al. (2018) zeigen beispielsweise, dass der Bau von Trinkwasserbrunnen in Dörfern in Benin zwar einen höheren Trinkwasserkonsum ermöglicht hat, aber weder zu einer Verbesserung der Trinkwasserqualität im Haushalt noch zu einer Zeitersparnis für Frauen geführt hat, die im ländlichen Benin zwei Stunden pro Tag benötigen, um ihre Familien mit Trinkwasser zu versorgen. In Dörfern mit neuem Trink‐ wasserbrunnen wurde „dank“ der neuen Technologie Wasser im Haushalt seltener abgekocht und in größeren Mengen konsumiert. Zudem hängt der Erfolg von Entwicklungsprojekten in einem Bereich oft von komplementären Rahmenbedingungen in anderen Bereichen ab. Ein verbesserter Zugang zu Bildung (vgl. Kapitel 5.5) beispielsweise ist nur bedingt hilfreich, wenn sich nicht parallel ein funktionierender Arbeitsmarkt entwickelt (vgl. Kapitel 2.5), auf dem gut ausgebildete junge Menschen ihr Wissen einbringen können. Für die Entwicklung des Arbeits‐ marktes wiederum sind in der Regel Reformen in der Administration und im Rechtssystem nötig (vgl. Kapitel 3.1) sowie eine geeignete und stabile Wirtschaftspolitik (vgl. Kapitel 4.5). Ein anderes Beispiel sind UCTs (vgl. Kapitel 8.2.3), die nur dann zu einer nachhaltigen Armutsreduktion führen können (indem Familien in die Bildung und Gesundheit ihrer Kinder investieren), wenn es in einem Land ein funktionierendes Bildungs- und Gesundheitssystem gibt (vgl. Kapitel 5.5 und 5.6). Für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit müssen letztendlich nachhaltige Reformen in einem extrem schwierigen Umfeld unter Einbeziehung der verschiedensten Akteure im In- und Ausland durchge‐ führt werden. Wenn man überlegt, wie schwierig es ist, selbst in Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz erfolgreich einschneidende soziale oder wirtschaftliche Reformen zu beschließen und umzusetzen, wird deutlich, um wie viel schwieriger dies in vielen Ländern - mit weniger Ressourcen, höherem Risiko und weniger administrativen Kapazi‐ täten - sein muss. 8 Internationale Zusammenarbeit 356 <?page no="357"?> Dennoch sollte die dargestellte Komplexität nicht dazu führen, dass der Versuch sinnvoller Reformen in Entwicklungsländern von vornherein unterlassen wird. Letztlich muss es darum gehen, die diesbezüglichen Erfolgserwartungen sowohl in der Praxis als auch im öffentlichen Diskurs anzupassen. Das Hervorbringen wichtiger technologischer und sozialer Innovationen verlangt eine gewisse Risikobereitschaft. Man kann davon ausgehen, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit neuer Entwicklungsprojekte ähnlich groß ist, wie die von Start-up-Unternehmen. Auch diese bewegen sich auf unsicherem Terrain und müssen das Potential ihrer Lösungen erst testen. Die Überlebenschance von Start-ups liegt fünf Jahre nach deren Gründung in Deutschland bei 40 % und in der Schweiz bei 55 % (Ecoplan 2016). Während die Gesellschaft fehlgeschlagene Start-ups als völlig normal erachtet, wird in der Entwicklungspolitik häufig eine hundertprozentige Erfolgsquote erwartet. „Jeder Franken (oder Euro) wirkt“, möchten viele gern hören, wenn sie eine Spende an eine NRO leisten. 8.5 Die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit 8.5.1 Entwicklungszusammenarbeit: ein Auslaufmodell? Beurteilt man die weltweite Entwicklung anhand des Pro-Kopf-Einkom‐ mens, hat die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, kontinuier‐ lich abgenommen. Die globale (extreme) Armut konnte in den letzten 25 Jahren von 47 % (1990) auf 14 % (2015) reduziert werden (vgl. Kapitel 1.1). Die Zahl der Länder mit niedrigem Einkommen hat kontinuierlich abge‐ nommen (vgl. Kapitel 1.4.2). Große Fortschritte wurden auch auf sozialer Ebene erzielt. Unabhängig von der Diskussion darüber, welchen Beitrag die Entwicklungszusammenarbeit zu diesen Fortschritten geleistet hat (vgl. Kapitel 8.3), steht angesichts dieser Entwicklung die Frage im Raum, ob die Entwicklungszusammenarbeit überhaupt noch nötig ist. Die dargestellten Erfolge basieren zu einem großen Teil auf der enormen Entwicklung einiger sehr bevölkerungsreicher Länder. So konnte China die Anzahl der Menschen in extremer Armut zwischen 1990 und 2015 um ca. 90 % reduzieren. Auf dem afrikanischen Kontinent hat lediglich ein Rückgang um ca. 30 % stattgefunden und 40 % der Bevölkerung gilt weiterhin als extrem arm (vgl. Kapitel 1.4.1), auch wenn es große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern gibt. Selbst wenn man - was unwahrscheinlich 8.5 Die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit 357 <?page no="358"?> ist - davon ausgeht, dass es möglich ist, die extreme Armut (mit einem Konsum von weniger als 1,90 internationalen $ pro Kopf und Tag) bis zum Jahr 2030 weltweit zu eliminieren (SDG 1), wird Armut, definiert als weniger als 10 internationale $ pro Kopf und Tag, lange weiter existieren (vgl. Kapitel 1, Abb. 1.5). Es ist folglich nicht absehbar, dass das zentrale Thema der EZ an Bedeutung verlieren wird. Die Relevanz der ODA, die auf eine rein finanzielle Unterstützung ausgerichtet ist, wird für die meisten Entwicklungsländer jedoch immer geringer. Während die ODA im Jahr 1990 mit ca. 60 Milliarden US$ noch ein Viertel der gesamten internationalen Finanzflüsse in die Entwicklungslän‐ der ausmachte, waren dies im Jahr 2015 - trotz eines Anstiegs der ODA auf 150 Milliarden US$ - nur noch weniger als 10 % (Wickstead 2015). Private Rücküberweisungen von Migranten aus dem Ausland, deren Höhe mehr als das Doppelte der ODA beträgt, sowie ausländische Direktinvestitio‐ nen, deren Niveau sich auf das mehr als Dreifache der ODA beläuft, tragen heute substanziell zur Gesamtsumme der internationalen Finanzflüsse in Entwicklungsländer bei (vgl. Abb. 8.8). Zudem haben Länder mit mittlerem Einkommen, die vor einigen Jahren noch zu den Ländern mit niedrigem Einkommen gezählt haben, einen besseren Zugang zu internationalen Kapitalmärkten. Das wirtschaftliche Wachstum sowie die Steuerreformen vieler Länder haben auch zu einem Bedeutungsverlust der ODA gemessen an deren Anteil an den öffentlichen Ausgaben beigetragen. Eigene Steuereinnahmen leisten einen immer wichtigeren Beitrag zur Entwicklungsfinanzierung. Im Fall von Ghana lag beispielsweise im Jahr 1990 der Anteil der ODA am BIP bei 9,5 % und derjenige der Steuereinnahmen bei 7,6 %. 2015 war der Anteil der ODA am BIP auf 3,6 %, gesunken, während der Anteil der Steuereinahmen am BIP auf 17,6 % gestiegen war (OECD 2018, Weltbank 2019). Dieses Bild verändert sich jedoch fundamental, wenn man die internatio‐ nalen Finanzflüsse (Rücküberweisungen, ausländische Direktinvesti‐ tionen und kommerzielle Kredite) in die ärmsten Länder sowie die nationalen Steuereinnahmen von den ärmsten Ländern betrachtet, die sehr viel niedriger ausfallen. LICs sind immer noch stark auf die finanzielle Unterstützung durch die ODA angewiesen (vgl. Abb. 8.2) um Armut zu bekämpfen. 8 Internationale Zusammenarbeit 358 <?page no="359"?> Abb. 8.8: Internationale Finanzflüsse in Entwicklungsländer Anmerkung: Entwicklungsländer beinhalten Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Tragbares Eigenkapitel beinhaltet den Nettozufluss aus Beteiligungspapieren, die nicht als Direktanalgen erfasst werden. US$ inflationsbereinigt zu 2019 Preisen. Quelle: Weltbank (2019) 0 100 200 300 400 500 600 700 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 US$ (in Milliarden) Ausländische Direktinvestition Rücküberweisungen von Migranten Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit Abb. 8.8: Internationale Finanzflüsse in Entwicklungsländer Anmerkung: Entwicklungsländer beinhalten Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen. US$ inflationsbereinigt zu 2019 Preisen. Quelle: Weltbank (2019) 8.5.2 Globale öffentliche Güter - der neue Fokus? Die Eindämmung von ansteckenden Krankheiten, die Förderung des internationalen Wissenszugangs, der Schutz der Biodiversität, geregelte internationale Migration, der Klimaschutz - all dies sind Themen der EZ und zugleich globale öffentliche Güter (Global Public Goods, GPGs). Global wird ein öffentliches Gut dann, wenn die zentralen Kriterien von Nichtausschließbarkeit und Nichtrivalität über nationale Grenzen hinweg gelten und somit der Kontrolle einzelner Staaten entzogen sind (vgl. Kapi‐ tel 6.2.3). Die Globalisierung (vgl. Kapitel 7) ist Ausgangspunkt dafür, dass die Konsequenzen einer Vielzahl an Ereignissen sich immer weniger auf einen Staat oder eine Region begrenzen lassen, sondern globale Folgen haben. Glo‐ bale Krisen, wie Finanzkrisen, die Klimaveränderung oder sich ausbreitende 8.5 Die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit 359 <?page no="360"?> Infektionskrankheiten, entstehen durch eine Unterversorgung mit GPGs, d. h. durch mangelnde Finanzstabilität, unzureichenden Klimaschutz und die fehlende Kontrolle von Krankheiten. Da aufgrund der Nichtausschließbar‐ keit bei öffentlichen Gütern ein angemessenes Angebot durch den Markt nicht möglich ist, bedarf es einer Bereitstellung durch die öffentliche Hand (vgl. Kapitel 3.2.2). Dies impliziert zwar nicht unbedingt, dass auch die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln erfolgen müsste. Es ist jedoch die Aufgabe der Staaten, die Rahmenbedingungen für eine Bereitstellung der GPGs zu schaffen, was eine verstärkte internationale Kooperation voraussetzt. Unabhängig davon, welcher Staat die GPGs finanziert bzw. bereitstellt, nützen sie Bürgern in allen Ländern. Trotz der enormen Aufmerksamkeit, die das Konzept der GPGs momen‐ tan erfährt, existieren bisher kaum eigene Finanzierungsquellen für GPGs - einmal abgesehen von der internationalen Klimafinanzierung im Rahmen der UN-Klimarahmenkonvention. Das Verhältnis zwischen Geldern für die Klimafinanzierung und solchen für die Entwicklungshilfe ist um‐ stritten, da einerseits umfangreiche inhaltliche Schnittstellen zwischen den beiden bestehen, andererseits aber Bedenken geäußert werden, dass die Klimafinanzierung bei einer Anrechnung an Entwicklungshilfeverpflich‐ tungen auf Kosten bestehender Engagements in der Entwicklungszusam‐ menarbeit gehen würde. In der Schweiz beispielsweise wurde die EZ vor einigen Jahren auf 0,5 % des BNE erhöht, um den versprochenen Beitrag an Klimafinanzierung zu leisten. Gleichzeitig hat sich die Schweiz aber eigentlich auch zu einem EZ-Anteil am BNE von 0,7 % verpflichtet - ohne Berücksichtigung der Klimafinanzierung, die im Prinzip zusätzlich sein sollte. Zudem sind die Unterschiede hinsichtlich der politischen und wirtschaft‐ lichen Ausgangslage und Ausrichtung zwischen den Staaten bisher zu groß, als dass eine globale Politik, ausgerichtet auf die gemeinschaftliche Bereitstellung von GPGs, realistisch wäre. Stattdessen werden schätzungs‐ weise 10 % der EZ-Gelder für die Finanzierung der GPGs verwendet (Development Initiatives 2016). Bei den derzeit stark begrenzten finanziellen Mitteln der EZ (vgl. Kapitel 8.4.1) hat dies zu deren Überforderung geführt, sowohl hinsichtlich des Budgets als auch in Bezug auf die zu bewältigenden Aufgaben. Die EZ kann mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, nicht gleichzeitig die globale Armut, den Klimawandel und globale Finanzkrisen wirkungsvoll angehen. Welche Akteure in welcher Form diesbezüglich in Zukunft in die Pflicht genommen werden sollten (vgl. Kapitel 8.4.3) und 8 Internationale Zusammenarbeit 360 <?page no="361"?> welche Mittel zu diesem Zweck mobilisiert werden müssen, wird aktuell sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft debattiert. Würden die Staaten in Zukunft vermehrt kooperieren und sich auf die Bereitstellung von GPGs im Rahmen einer internationalen Zusammenarbeit (vgl. Box 8.1) einigen, würde dies der EZ ermöglichen, einen Fokus auf wenige, besonders arme (und fragile) Staaten (vgl. Kapitel 3.1) zu legen mit dem Ziel, dort die Armut und die Ungleichheit zu bekämpfen. Alternativ wird die EZ zu einer IZA, mit einer umfassenden Verantwortung für die Bereitstellung und die Bewahrung von GPGs, was jedoch zusätzliche finanzielle Mittel voraussetzen würde. Würde die EZ das Thema der globalen öffentlichen Güter in Zukunft in Form einer IZA angehen, würde dies auch zu einer geografischen Neuaus‐ richtung führen. Im Sinne einer potenzialorientierten Allokation, würde der größte Anteil des IZA-Budgets nicht mehr zwingend in die ärmsten Länder fließen. Es ist zum Beispiel effizienter, einen Impfstoff gegen Malaria nicht in den ärmsten Ländern Afrikas zu entwickeln, die am stärksten von der Krankheit betroffen sind, sondern in einem Land, das über eine bessere Infrastruktur für medizinische Forschung verfügt (Bagchi et al. 2016). 8.5.3 „Big Data“ und Wissensmakler Während die mögliche Ausrichtung der EZ auf die Bereitstellung von GPGs im Moment noch auf konzeptioneller Ebene verharrt, sind die ersten Folgen einer immer schnelleren, einfacheren und besseren Gewinnung von Daten bereits heute zu spüren. Diese Entwicklung kann für die EZ eine große Chance darstellen. Durch die Nutzung von Daten können EZ-Programme stärker basierend auf bestehender Evidenz geplant und durchgeführt wer‐ den. Außerdem könnte die Bevölkerung einen leichteren Zugang zu den Informationen erlangen, die für die Gestaltung der Entwicklung ihres Landes entscheidend sind. Schließlich könnte ein besserer Zugang zu Daten die Abhängigkeit nationaler Entscheidungen von politischen Prozessen verringern. Je transparenter der Entscheidungsprozess und dessen Folgen, desto leichter können Organisationen und Politiker zur Verantwortung gezogen werden. Bis zur Umsetzung dieses Gedankens sind allerdings noch einige Heraus‐ forderungen zu meistern. Die Vervielfachung der Datenmenge ist lediglich der erste Schritt. Eine Datenrevolution verlangt zusätzlich eine systemati‐ sche Auswertung und Nutzung sowie ein besseres Verständnis der Daten. 8.5 Die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit 361 <?page no="362"?> In den ärmsten Ländern ist auch bis heute selbst der erste Schritt einer Datenrevolution nicht verwirklicht. Es fehlt dort weiterhin an Daten zu grundlegenden entwicklungsrelevanten Aspekten (vgl. Kapitel 1.3.1) wie Gesundheit, Schulbildung oder Einkommen. Von „Big Data“ kann in vielen Ländern folglich noch nicht die Rede sein. Um eine Datenrevolution für die Entwicklungsagenda fruchtbar zu ma‐ chen, müssen Themen wie die Stärkung des Wissensaufbaus nationaler Statistikdienste, die Erschließung neuer Datenquellen und Schulun‐ gen zur professionellen Nutzung der Daten eine zentrale Bedeutung erhalten. Auch müssen Fragen des Datenschutzes zum Schutz der Men‐ schenrechte und der Demokratie diskutiert und angegangen werden. Die Expertengruppe zur Datenrevolution der UN fordert den Erlass globaler Standards hinsichtlich des Austauschs der Daten, die Gründung von Netz‐ werken zur gemeinschaftlichen Verbesserung des Zugangs zu Daten und der Nutzung von Daten sowie die Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen für den Wissensaufbau und den Technologietransfer (IEAG 2014). Ließen sich diese Herausforderungen meistern, könnte die EZ neue Formen annehmen. Der Wissensaustausch sowie die Wissensschaffung könnte in Zu‐ kunft mehr ins Zentrum der EZ treten. Die EZ wäre dann nicht mehr durch die immer noch bestehende Kategorisierung der Beteiligten in finanzielle Geber- und Empfängerländer dominiert. Vielmehr könnte es zu einem Austausch von Wissen kommen, der den Austausch von Geld und Gütern ersetzt oder zumindest komplementiert, zu dem sämtliche Staaten und deren Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und Universitäten einen gewinnbringen‐ den Beitrag leisten könnten. Im Fokus stünde der Diskurs über erfolgreiche Lösungsansätze für nationale und globale Entwicklungsherausforderungen. Verständnisfragen: ■ Die Neue Zürcher Zeitung stellte dem Direktor der Schweizer Ent‐ wicklungszusammenarbeit vor einigen Jahren die folgende Frage: „Empirische makroökonomische Studien zeigen, dass die Korrelation von Entwicklungshilfe und wirtschaftlichem Wachstum gegen Null tendiert. Wie leben Sie mit diesem Befund? “ Wie würden Sie auf diese Frage antworten? ■ Was spricht aus Sicht der Prinzipal-Agenten-Theorie dafür, dass bei Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit mehr Evaluierungen durchgeführt werden als bei Projekten der Sozialpoli‐ 8 Internationale Zusammenarbeit 362 <?page no="363"?> tik im eigenen Land, auch wenn beide Instrumente zur Armutsreduk‐ tion beitragen sollen? ■ Erläutern Sie, was mit folgender Aussage gemeint ist: „Die primären Ursachen von Armutsfallen sind nicht in Finanzierungs-, sondern in Regierungslücken zu suchen.” ■ Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile der Budgethilfe im Vergleich zur traditionellen, projektbasierten Entwicklungszusammenarbeit. ■ Wie würden Sie auf folgende Aussage reagieren: „RCTs experimen‐ tieren mit den Armen und sind deshalb unethisch“? Erklären Sie bei Ihren Ausführungen auch die Logik, die einem RCT zugrunde liegt. ■ Wie beurteilen Sie die Aussage: „Entwicklungshilfe ist ein Auslauf‐ modell“? 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Entwicklungszusammenarbeit, EZ 26, 43, 52, 84, 262, 323-325, 329, 348 Ernährung 56, 176, 216, 337 Ethnie 55, 113 Existenzminimum 27, 33, 326 Exporte 243, 248, 283, 290, 294, 300, 302 Externalitäten 99, 120, 175, 209, 216, 240, 243, 266f., 269, 288, 290, 298 <?page no="370"?> Externe Effekte 238, 240 Fairen Handel 303 Familienplanungsprogramme 205, 210 Finanzkrise 166 Fiskalpolitik 152, 154, 163, 185 Flucht 113 Flüchtlinge 113, 308, 311, 330, 347 Fortschritt, technologischer 25, 84f., 93-95, 99, 102, 208, 291, 345 fragile Staaten 111 Freiheit 28, 39, 339 Geburtenrate 197f., 201, 345 Geldmenge 163, 186 Geldpolitik 185f. Gesundheit 27, 56, 172, 176, 211, 225, 229, 307, 337, 341f. Gesundheitssystem 184, 227, 296 Gewaltmonopol 111 Gini-Koeffizient 48 Globalisierung 55, 276f., 283 Globalisierungskritiker 289 Grameen Bank 183 Grenznutzen 241 Grenzproduktivität 88 Grenzvermeidungskosten 241 Güter, handelbare 66f. Güter, öffentliche 86, 94, 99, 119, 135, 238, 269, 339 Güter, private 119, 134 Handel 279, 282, 284, 290 Handelsdefizite 162 Handelsliberalisierung 167, 280f. Handelspolitiken 296 Haushaltsdefizite 162 Heckscher-Ohlin-Model 286 HIPC-Initiative 168 HIV/ AIDS 221 Human Development Index (HDI) 29 Humanitäre Hilfe 325, 339 Humankapital 75, 84, 97, 99, 153, 169, 176, 178, 196, 219, 257, 286, 315f. Hunger 27, 123, 208, 325 Hungersnöte 141, 197, 208 Illiquidität 160 ILO 302 Impfkampagnen 219, 229, 346 Impfrate 216 Impfstoffe 86, 226, 361 Impfungen 27, 120 Importe 156, 283 Importsubstitution 296, 299, 301 Indien 20, 56, 82, 140f., 212, 240, 244, 246, 251, 264, 270, 280, 283 Industrialisierung 78 Industrie 241, 246, 248, 252 Inflation 66, 185, 189 Informationen 27, 82, 182, 217, 222, 227, 246, 265, 267, 305, 308, 341, 361 Informationsasymmetrien 179, 354 Informations- und Kommunikationstechnologie, IKT 228, 278, 280, 341 Infrastruktur 96, 153, 174, 243, 337 Innovation 84, 86, 99, 178, 213, 265, 298, 357 Insolvenz 160 institutionelle Rahmenbedingungen 132 Institutionen 96, 114f., 119, 127, 182f., 216, 240, 295, 314 Interessengruppen 138, 246, 252, 268 internationale $ 18, 36, 66, 70 Internationale Währungsfond, IWF 324 Internationale Währungsfonds, IWF 160, 165, 167, 281, 324 Register 370 <?page no="371"?> Kapital 74, 78, 84, 87, 97, 117, 144, 286, 326, 334, 336, 345 kapitalintensiv 286 Kapitallücke 84 Kaufkraft 163 Kaufkraftparitäten 66f. Kinderarbeit 206 Kindersterblichkeit 21, 219, 229, 315 Klientelismus 130, 139, 299 Klima 162, 344 Klimaschutz 325, 359 Klimaveränderung 251, 255, 314, 350 Kolonialisierung 26, 324, 347 komparative Kostenvorteile 283, 289, 298 Konflikt 111, 131, 254, 259, 295, 311, 315 Konjunktur 72 Konsum 24, 51, 249, 261f., 265, 267, 339, 342 Korruption 96, 122, 129, 243, 247, 327, 337, 353 Kosten-Nutzen-Analyse 206 Krankenversicherung 184, 227 Krankheiten 216, 221 Kredit 84, 160, 163, 176, 178, 266f., 300, 304, 324, 326f., 329, 341, 358 Krieg 78, 111, 114, 141, 186f., 197f., 277, 308, 324-327 Kuznets-Kurve 77, 260 Landwirtschaft 86, 103, 138, 199, 208, 210, 245, 256, 289, 294, 300, 303, 314, 337, 350 Lebenserwartung 21, 200, 219 Lebensqualität 219 Lehrer 214 Lobbying 246, 254, 287, 299 Lohnarbeit 126 Lohndumping 289 Löhne 24, 64, 82, 217, 292, 296, 302f., 306, 313, 315, 317 Lohnsklaverei 182 Lorenzkurve 46 Malaria, Masern 30, 97, 221f., 225, 228, 361 Malthus 25, 208 Marktmacht 122, 305 Marktversagen 26, 115f., 179, 266 Marshallplan 324 Medianwählertheorems 137 Medien 141 Migration 56, 113, 198, 277f., 284, 287, 308, 348, 358f. Mikrokredit 183, 342, 346 Millennium Development Goals, MDGs 29, 328 Mittelschicht 54 Mobiltelefonie 86 Monopolstellung 122, 182 moralische Versuchung 179, 183 Müttersterblichkeit 21, 220 Nachhaltigkeit 32, 68, 74, 76, 240 Nahrungsmittel 208, 225, 291, 293 Naturkapital 75, 84 Natürliche Ressourcen 295 Nichtregierungsorganisationen, NRO 16, 304, 306, 331f., 335f., 341, 351, 354, 357 Nobelpreis 39, 206, 288, 324 öffentliche Güter 359 ökologischen Fußabdruck 249 Ökosteuer 243 Öl 292, 348 Ölpreis 162, 170, 189 Opportunitätskosten 206, 212, 218, 285 Palma-Index 50 Pareto-Optimum 241 Register 371 <?page no="372"?> Patronage 130, 136 Pigou-Steuer 120, 243 Politik 110, 338, 350, 360 Politiker 354, 356, 361 Prebisch-Singer-Hypothese 291 Preise 120, 123, 242, 249, 287, 297, 303f. Preisregulierung 123 Preston-Kurve 229 Primärgüter 289, 295 Prinzipal-Agenten-Modell 180, 353 Privatisierung 167, 240 Produktivität 81, 85, 208, 290, 300, 302, 345 randomisierte kontrollierte Experiment, RTCs 342 Rechte 26, 251 Rechtsstaat 115 Rechtsstaatlichkeit 327, 337f., 341 Rechtssystem 118, 129 Regierungsführung 33, 92, 96, 115f., 167, 295, 312, 326f., 334, 337 Regulierung 240, 252, 266 Ressourcen 74, 96, 112, 239, 241, 243, 245f., 249, 265 Ressourcenfluch 111, 295 Ricardo-Modell 283, 288, 302 Risiko 27, 357 Rohstoffe 264, 289, 294, 348 Rücküberweisungen 315, 317 Schock 174, 178, 258, 294, 315 Schuldenerlass 168 Schuldenkrise 152, 161, 168 Schuldenquote 160 Sektor, formeller 101, 158 Sektor, informeller 51, 101f., 125, 131, 182, 202 Selektorat 134 Sen, Amartya 26, 39 Skaleneffekte 266, 288, 299, 332 Skalenerträge 100, 103, 289, 294 Smith, Adam 24, 34 Solow-Modell 87, 209 soziale Sicherung 100, 151 Sozialhilfe 172f. Sozialpolitik 25, 80, 171f. Sparquote 88, 91 Spende 332, 334, 343 Staatsversagen 123 Städte 43, 243, 259 Standards 289, 302, 304, 307 Sterberate 197-199 Sterblichkeit, Krankheiten 219 Steuer 77, 101, 125, 153, 156f., 171, 229, 299-301, 316, 329, 340, 345, 358 Steuerbasis 158, 171 Steuerflucht 155 Steuerhinterziehung 155, 350 Steuermoral 158 Steuerprogression 171 Steuerquote 154 Strukturanpassungsprogramme 167, 327, 337 Strukturwandel 103f., 217, 289f., 296 Subventionen 121, 299, 350 Sustainable Development Goals (SDGs) 32, 68, 76, 226, 238, 259, 328 Sweatshops 101, 302 Technologie 87, 222, 255, 262, 265, 284, 290, 296, 316, 336, 356 Terms of Trade 292 Transaktionskosten 116, 119, 131, 182f., 241, 351 Transportkosten 97, 278 Treibhausgase 251 Umverteilung 81, 151, 171f., 296 Umwelt 32, 68 Register 372 <?page no="373"?> Umweltschäden 289, 312, 314 Umweltschutz 254 Umweltverschmutzung 74 Unconditional Cash Transfer, UCT 176f., 339, 356 Ungleichheit 26, 51-53, 55, 69, 77, 81, 94, 113, 171, 250, 296, 312 United Nations (UN) 29, 324, 331 Unterernährung 21, 142, 219, 223f., 229 Unternehmen, multinationale 155, 280, 288 Urbanisierung 44 Verhütungsmittel 211 Vermögen 48, 52, 75 Versicherung 172 Versicherungssystem 227 Verstädterung 44, 201 Verteilung 46f., 71, 302 Verteilungseffekte 159, 186, 287, 289 Verteilungsgerechtigkeit 24, 171 Verteilungspolitik 125 Verwundbarkeit 254, 256 Wachstumstheorie 87, 99 Wagnersche Gesetz 152 Währung 65f., 165, 190, 281, 292, 299, 324 Washingtoner Konsens 167, 327 Wasser 230, 244, 356 Wechselkurse 164, 167, 189f. Wechselkurspolitik 185 Weltbank 69, 167, 324 Welthandels 281 Welthandelsorganisation 280 Wirtschaftswachstum 24f., 28, 52, 57, 62, 72, 90f., 172, 208, 214, 229, 247, 262, 264, 288f., 298f., 316, 328, 331, 345, 353, 358 World Health Organisation (WHO) 223 Zielgruppe 125, 174 Zölle 156, 281, 288, 297, 300, 302, 305 Register 373 <?page no="375"?> Boxverzeichnis Box 1.1: Leben in Armut - drei Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Box 1.2: Armutsrate, Armutslücke und Armutsintensität . . . . . . . . 38 Box 1.3: Der Gini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Box 2.1: BIP, BNE, BIP pro Kopf, BNE pro Kopf . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Box 2.2: US$ - Kaufkraftparität (KKP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Box 2.3: Variablen des Solow Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Box 3.1: Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Box 3.2: Sozialleistungen in Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Box 3.3: Patronage in Simbabwe und der Machtwechsel 2017 . . . . 136 Box 4.1: Fiskalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Box 4.2: Steuerreformen im Bundesstaat Lagos, Nigeria . . . . . . . . . 159 Box 4.3: Der Washingtoner Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Box 4.4: CCT in Mexiko: Prospera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Box 4.5: Moralische Versuchung im Prinzipal-Agenten-Modell . . . 180 Box 4.6: Warum sind Zinssätze für die ärmsten Bevölkerungsgruppen so hoch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Box 4.7: M-PESA-Technologischer Fortschritt in Kenia . . . . . . . . . . 184 Box 4.8: Geldpolitik und Geldmenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Box 4.9: Hyperinflation in Venezuela . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Box 4.10: Wechselkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Box 5.1: Demografische Indikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Box 5.2: Der demografische Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Box 5.3: Kranke Kinder - eine Folge von extremer Armut . . . . . . . 222 Box 5.4: Ab wann gilt ein Mensch als unterernährt? . . . . . . . . . . . . 224 Box 5.5: Synergien in der Gesundheits- und Bildungspolitik . . . . . 225 Box 6.1: Coase-Theorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Box 6.2: Das Singapur Indiens - ohne Abwassersystem . . . . . . . . . 244 Box 6.3: Chinas unregulierte Industrieproduktion und ihre Folgen 247 Box 6.4: Internationale Umweltabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Box 6.5: Ghanas Energieeffizienzstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Box 7.1: GATT, WTO und TRIPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Box 7.2: Die „Holländische Krankheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Box 7.3: Äthiopien - aufstrebender Produktionsstandort in Afrika 300 Box 7.4: Label für Fairen Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 <?page no="376"?> Box 7.5: Definition und Typisierung von Migration . . . . . . . . . . . . . 308 Box 8.1: Was ist Entwicklungshilfe, humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Box 8.2: Ausgewählte Sektoren und Programme der EZ . . . . . . . . . 337 Box 8.3: Wirkungsevaluation, Kontrafakt und RCT . . . . . . . . . . . . . 342 Box 8.4: Fragmentierung der Entwicklungszusammenarbeit . . . . . 351 Box 8.5: Fungibilität in der Entwicklungszusammenarbeit . . . . . . . 354 Boxverzeichnis 376 <?page no="377"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1.1: Weltbevölkerung in extremer Armut 1820-2015 . . . . . 19 Abb. 1.2: Gesundheit, Bildung, Wasser und Energie 1990-2015 . 23 Abb. 1.3: Korrelation BIP pro Kopf und Schulbildung . . . . . . . . . 31 Abb. 1.4: Sustainable Development Goals (SDGs) . . . . . . . . . . . . . 32 Abb. 1.5: Weltweite Armut gemessen an verschiedenen Armutslinien, 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Abb. 1.6: Wo leben Menschen in Armut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Abb. 1.7: Armutszahlen versus Armutsraten (2013) . . . . . . . . . . . 42 Abb. 1.8: Beispiel einer Lorenzkurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Abb. 1.9: Nationale Einkommensungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Abb. 1.10: Arme Länder oder ungleiche Länder? . . . . . . . . . . . . . . 53 Abb. 1.11: Einkommenssteigerung der Weltbevölkerung 1988- 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Abb. 2.1: Pro-Kopf-Einkommen verschiedener Regionen 1820- 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Abb. 2.2: Nachteile des BIP als Maßstab wirtschaftlicher Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Abb. 2.3: Verteilung des globalen Konsums 1975 und 2015 . . . . . 71 Abb. 2.4: Kuznets-Kurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Abb. 2.5: Zusammenhang zwischen Einkommen und Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Abb. 2.6: Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Abb. 2.7: Faktorakkumulation versus Produktivitätssteigerung . 89 Abb. 2.8: Solow-Modell und Steady State . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Abb. 2.9: Einfluss von Bevölkerungswachstum im Solow-Modell 92 Abb. 2.10: Unbedingte Konvergenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Abb. 2.11: White elephant in Ouagadougou . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Abb. 2.12: Nord- und Südkorea bei Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Abb. 3.1: Kriegstote nach Region, 1989-2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Abb. 3.2: Effizienteres Wirtschaften durch Eigentumsrechte . . . 117 Abb. 3.3: Regulierung des Brotpreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Abb. 3.4: Der Zusammenhang zwischen Einfluss und Wohlstand 128 Abb. 3.5: Verbreitung von Korruption 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 <?page no="378"?> Abb. 3.6: Weltweite Entwicklung der Regierungssysteme . . . . . . 133 Abb. 3.7: Regimetyp und Wirtschaftswachstum . . . . . . . . . . . . . . 142 Abb. 3.8: Keine Hungersnöte in Demokratien . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Abb. 4.1: Anteil der öffentlichen Ausgaben in % des BIP, 2017 . . 151 Abb. 4.2: Entwicklung der öffentlichen Ausgaben (und Einnahmen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Abb. 4.3: Steuereinnahmen versus BIP pro Kopf . . . . . . . . . . . . . . 155 Abb. 4.4: Zusammensetzung von Steuereinnahmen im Jahr 2017 157 Abb. 4.5: Entwicklung der Schulden in Sub-Sahara Afrika . . . . . 170 Abb. 4.6: Anteil von Personen über 15, die 2017 von einem Finanzinstitut Geld geliehen haben . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Abb. 5.1: Bevölkerungswachstum 1750 - 2100 . . . . . . . . . . . . . . . 197 Abb. 5.2: Fertilitätsraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Abb. 5.3: Die Phasen des demografischen Übergangs . . . . . . . . . . 203 Abb. 5.4: Anzahl von Kindern im Vergleich zur Kindersterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Abb. 5.5: Gewollte und ungewollte Geburten . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Abb. 5.6: Arme Länder und arme Familien haben mehr Kinder . 206 Abb. 5.7: Einschulungsraten nach Bildungsniveau . . . . . . . . . . . 213 Abb. 5.8: Primarschüler mit Kernkompetenzen in Mathematik und Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Abb. 5.9: Öffentliche Bildungsausgaben nach Bildungsniveau . . 218 Abb. 5.10: Kindersterblichkeit nach Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Abb. 5.11: Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Abb. 6.1: Verhandlungslösung bei Umweltschäden . . . . . . . . . . . . 242 Abb. 6.2: Ökologischer Fußabdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Abb. 6.3: CO 2 -Ausstoß und Bruttoinlandsprodukt (BIP), pro Kopf 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Abb. 6.4: Gefährdung durch Klimaveränderung, 2017 . . . . . . . . . 257 Abb. 6.5: Die besondere Betroffenheit der Armen bei Krisensituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Abb. 6.6: Stilisierte Kuznets-Kurve im Umweltbereich . . . . . . . . . 260 Abb. 6.7: Emissionspfade für ausgewählte Schwellenländer, 1984-2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Abb. 7.1: KOF-Globalisierungsindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Abb. 7.2: Entwicklung der weltweiten Transportkosten . . . . . . . 279 Abb. 7.3: Entwicklung des Handels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Abbildungsverzeichnis 378 <?page no="379"?> Abb. 7.4: Entwicklung der Terms of Trade für Primärgüter . . . . 293 Abb. 7.5: Rohstoffexporte und Wirtschaftswachstum . . . . . . . . . . 295 Abb. 7.6: Effekte von Zöllen auf Produktion und Preise . . . . . . . . 298 Abb. 7.7: Aufteilung des Preises von konventionellem und Fairtrade-Kaffee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Abb. 7.8: Trends der internationalen Migration weltweit . . . . . . 310 Abb. 7.9: Migranten nach Ziel- und Herkunftsregionen, 2017 . . . 311 Abb. 7.10: Migranten nach, innerhalb und von Afrika . . . . . . . . . . 312 Abb. 8.1: Geberländer - Netto-ODA (in % des BNE, 2017) . . . . . . 330 Abb. 8.2: Netto-ODA (pro Kopf in US$ und in % BNE) . . . . . . . . 333 Abb. 8.3: Entwicklungsgelder der „Neuen“ Geber . . . . . . . . . . . . . 335 Abb. 8.4: Was ist ein Kontrafakt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Abb. 8.5: Armutsfalle nach Sachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Abb. 8.6: ODA im Vergleich zu unlauteren Finanzflüssen und Agrarsubventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Abb. 8.7: Doppelte Prinzipal-Agenten-Problematik . . . . . . . . . . . 355 Abb. 8.8: Internationale Finanzflüsse in Entwicklungsländer . . . 359 Abbildungsverzeichnis 379 <?page no="381"?> Tabellenverzeichnis Tab. 1.1: Übersicht nationaler Armutslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Tab. 1.2: Gini- und Palma-Index im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Tab. 2.1: Wirtschaftliche Kennzahlen verschiedener Länder: BIP in US$, BIP pro Kopf in US$, BIP pro Kopf in internationalen $ 73 Tab. 2.2: Wirtschaftswachstum ausgewählter Regionen (in %) . . . . 74 Tab. 2.3: Gesamtkapital pro Kopf, 2010 und 2014 . . . . . . . . . . . . . . . 75 Tab. 2.4: Kapitalausstattung in ausgewählten Ländern . . . . . . . . . . . 85 Tab. 2.5: Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Erwerbsarmut 102 Tab. 3.1: Hauptaussagen der Selektoratstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Tab. 4.1: Zusammensetzung der öffentlichen Ausgaben (in % der gesamten öffentlichen Ausgaben), 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Tab. 4.2: Entwicklung der Verschuldung in % des BIP . . . . . . . . . . . 161 Tab. 4.3: Die Schuldenkrise der 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Tab. 4.4: Die Asienkrise von 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Tab. 4.5: Formen der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Tab. 4.6: Inflationsraten (in %) nach Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Tab. 5.1: Bevölkerungsgröße nach Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Tab. 5.2: Häufigste Todesursachen von Erwachsenen und Kindern 221 Tab. 5.3: Zugang zur Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Tab. 7.1: Das Prinzip der komparativen Kostenvorteile . . . . . . . . . . 285 Tab. 7.2: Anteil von Rohstoffen an den Exporten . . . . . . . . . . . . . . . 290 <?page no="382"?> uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik schaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Stat te \ te \ \ M \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschicht tik \ tik \ Spra Spraacherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidakt mus mus DaF DaFF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourism tik \ tik \ \ VW \ VW WL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanist haft haft Theo Theoologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissensc aft \ aft \ \ Li \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha nik \ nik \ Hist Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn sen sen Mat Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss -aft \ aft \ scha schaaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha nik \ nik \ Hist Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn sen sen Mat Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss -esen esen scha schaaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwe istik istik \ Fr \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinav gie \ gie \ \ BW \ BWWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilolog Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ \ \ \ g \ \ g \ \ \ p \ p rt \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosoph ien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc ien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc d Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturw BUCHTIPP Reinhard Wesel Die UNO Aufgaben und Arbeitsweisen 1. Auflage 2019, 300 Seiten €[D] 34,99 ISBN 978-3-8252-5292-2 e ISBN 978-3-8385-5292-7 BUCHTIPP Die Kooperation der Staaten bei transnationalen und globalen Problemen - Frieden/ Sicherheit, Menschenrechte, Weltwirtschaft, Entwicklung, Umwelt/ Klima - ist orientiert am Mandat der UNO: Die „Charta der Vereinten Nationen“ legt als Kernstück des Völkerrechts seit 1945 nahezu unverändert die Pflichten und Rechte der Organisation und ihrer nun 193 sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten fest, bestimmt also Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO und regelt ihre Funktionsweise. Über 75 Jahre haben sich jedoch die Arbeitsweisen und Methoden der multilateralen Diplomatie ausdifferenziert. Das Handbuch erklärt in überblickenden und zugleich gewichtenden Darstellungen die Grundlagen und oft schwer durchschaubaren Regelungen internationaler Zusammenarbeit in der und durch die UNO, veranschaulicht das nötige Informationswissen mittels zahlreicher Schaubilder, Synopsen, Tabellen und Pro-/ Contra-Listen, gibt strukturierende Orientierung, wo und wie die Phänomene und Probleme, Institutionen und Prozesse eingeordnet werden können - und bietet Interpretationen für eine eigenständige kritische Beurteilung an. UVK Verlag. Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 9797 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="383"?> uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik schaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Stat \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ anagement \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschicht Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ acherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidakt DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus F \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourism \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ WL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanist Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft ologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissensc \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ nguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ orische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen hematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss schaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ aft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ orische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen hematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss schaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen aft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwe \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik emdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinav \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ WL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilolog Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ rt \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosoph ien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissensc BUCHTIPP Michael Bohnet Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik Strategien, Innenansichten, Erfolge, Misserfolge, Zeitzeugen, Herausforderungen 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2019, 331 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-5138-3 eISBN 978-3-8385-5138-8 Michael Bohnet Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik 2. Auflage Die deutsche Entwicklungspolitik war unter den bislang 13 Ministerinnen und Ministern durch ein Wechselbad von Strategien geprägt. Außen- und Sicherheitspolitik, Wirtschafts- und Rohstoffpolitik sowie Umwelt- und Friedenspolitik waren stets durchwoben von ethisch-humanitären Motiven. Der Autor skizziert diese häufigen Paradigmenwechsel und vermittelt eine eindrucksvolle Innenansicht der Etappen der deutschen Entwicklungspolitik. Zu allen Perioden werden Stimmen von Zeitzeugen wiedergegeben. Neu in dieser Auflage: Der Autor bettet die 15 Etappen der deutschen Entwicklungspolitik (von 1960 bis heute) stärker in den geschichtlichen Zusammenhang ein und er skizziert die aktuelle Entwicklungspolitik unter Gerd Müller in einem erweiterten Kapitel. Auch die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen berücksichtigt er stärker. Die Erfolge und Misserfolge der letzten 60 Jahre stellt er ausführlich dar und ein 15-Punkte-Programm für die künftige Entwicklungspolitik vor. Auch weitere Zeitzeugen kommen mit Kurzbeiträgen zu Wort. Das Geleitwort verfasste Dirk Messner. UVK Verlag. Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="384"?> ,! 7ID8C5-cfbcai! ISBN 978-3-8252-5120-8 In den letzten Jahren haben sich viele Länder schnell entwickelt, andere scheinen in der Armut zu versinken. Und auch innerhalb der Länder gibt es große Unterschiede zwischen Arm und Reich. Diese Einführung geht den Ursachen hierfür auf den Grund. Aus Sicht der Entwicklungsökonomik zeigen Isabel Günther, Kenneth Harttgen und Katharina Michaelowa Möglichkeiten auf, Entwicklung positiv zu beeinflussen, und diskutieren zukünftige Herausforderungen. Ausgewählte Themen dieser Einführung in die Entwicklungsökonomik sind Armut und Ungleichheit, wirtschaftliche Entwicklung, Staat und Politik, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Bevölkerungswachstum, Bildung und Gesundheit, Umwelt, Globalisierung und Internationale Zusammenarbeit. Das Buch richtet sich an Studierende der Ökonomie und Politik. Wirtschaftswissenschaften Politikwissenschaft Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Mit zahlreichen Beispielen