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Selbstoptimierung und Enhancement

Ein ethischer Grundriss

0611
2019
978-3-8385-5127-2
978-3-8252-5127-7
UTB 
Dagmar Fenner

Selbstoptimierung ist der derzeit am meisten diskutierte gesellschaftliche Trend. Die ethische Einführung konzentriert sich auf die Selbstoptimierung im engen Sinn oder das Enhancement, d. h. auf technikbasierte, vorwiegend biomedizinische Methoden zur menschlichen Selbstverbesserung. Zunächst erfolgt eine begriffliche Klärung der grundlegenden normativen Bezugsgrößen Glück, Gerechtigkeit, Freiheit, menschliche Natur und Würde. Danach wird ein Überblick über die verschiedenen Formen des Enhancements (Körper-Enhancement, Neuro-Enhancement und genetisches Enhancement) gegeben. Es werden die verschiedenen Problemebenen herausgearbeitet und die wichtigsten Argumente für und gegen einzelne Optimierungsmaßnahmen systematisiert und kritisch geprüft. Damit verfolgt der Band auch das Ziel, zur Versachlichung und Rationalisierung der öffentlichen Selbstoptimierungsdebatte beizutragen.

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 0000 5127 <?page no="2"?> Prof. Dr. Dagmar Fenner ist Titularprofessorin für Philosophie am Departement Künste, Medien, Philosophie der Universität Basel und Autorin zahlreicher Bücher über Ethik (www.ethik-fenner.de). Bei utb sind von ihr bereits die Bände „Ethik“ (2008) und „Einführung in die Angewandte Ethik“ (2010) erschienen. <?page no="3"?> Dagmar Fenner Selbstoptimierung und Enhancement Ein ethischer Grundriss Narr Francke Attempto Verlag Tübingen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Cleaning operations and half-yearly maintenance for Michelangelo © dpa Picture Alliance, Abdruck mit freundlicher Genehmigung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart utb-Nr.: 5127 ISBN 978-3-8252-5127-7 (Print) ISBN 978-3-8385-5127-2 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5127-7 (ePub) <?page no="5"?> Prof. Christoph Horn gewidmet für all die vielen intensiven philosophischen Diskussionen <?page no="7"?> 7 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext Inhalt 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Analyse der Begriffe „Selbstoptimierung“, „Selbst“ und „Enhancement“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2 Normative Bezugsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.1 Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab . . . . . . 62 2.2 Gerechtigkeit als sozialethischer Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.3 Freiheit und Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2.4 Normalität und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3 Körperliches Enhancement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.1 Schönheitsoperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3.2 Unsterblichkeit und Lebensverlängerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3.3 Digitale Selbstvermessung und Quantified Self . . . . . . . . . . . . . . 154 3.4 Doping im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 4 Neuro-Enhancement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4.1 Emotionales Enhancement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4.2 Kognitives Enhancement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 4.3 Moralisches Neuroenhancement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 5 Genetisches Enhancement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 6 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 <?page no="8"?> 8 1 Inhalt Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 <?page no="9"?> 9 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext Immer mehr Journalisten, Zeitdiagnostiker und Wissenschaftler aus den verschiedensten Disziplinen beschäftigen sich mit der Selbstoptimierung, einem gegenwärtig kontrovers diskutierten gesellschaftlichen Trend. „Selbstoptimierung“ ist ein gesellschaftliches Leitbild oder Orientierungsmuster, das dem Einzelnen zur Regulierung seines eigenen Handelns und zur individuellen Lebensgestaltung zur Verfügung gestellt wird. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich insofern von einem Trend sprechen, als dieses Selbst- und Lebenskonzept in westlichen Gesellschaften eine enorme öffentliche und mediale Aufmerksamkeit genießt und Optimierungsprogramme immer stärker die Lebenswelt und die persönliche Lebensführung der Menschen prägen. Zahlreiche historisch-soziologische zeitdiagnostische Untersuchungen stimmen darin überein, dass es sich bei den hochkomplexen, dynamischen und beschleunigten modernen Gesellschaften um „Optimierungsgesellschaften“ mit einer bis dahin unbekannten Radikalisierung und Omnipräsenz der menschlichen Optimierungsbestrebungen handelt (vgl. Balandis u. a., 133; 135/ Straub u. a., 15). Das permanente Ringen um Selbstoptimierung sei zu einer der „gegenwärtig bedeutsamsten kulturellen Leitvorstellungen“ geworden (vgl. King u. a., 283). Von der Trendforscherin Corinna Mühlhausen wurde das 21. Jahrhundert als „Zeitalter der Selbstoptimierung“ ausgerufen (vgl. Mühlhausen u. a. 2013). Auch wird bisweilen von einem „Optimierungsglauben“ als einer Art „säkularer Religion“ gesprochen mit ihrem Credo des modernen Fortschrittsoptimismus, dass alles immer besser werde und optimierbar sei (vgl. Gugutzer, 2). Je mehr dieses neue gesellschaftliche Rollenangebot zur allgemeinen Norm avanciert, wächst seitens der Gesellschaft die Erwartungshaltung, dass die Individuen selbstverantwortlich das Beste aus sich und ihrem Leben machen. Im neuen Selbstverständnis mutiert der Einzelne ökonomisch-technisch ausgedrückt zum „Manager“ oder „Unternehmer“, in der Sprache der Kunst zum „art“ oder „creative director“ seines Selbst und seines Lebens (vgl. Gamm, 34). Ulrich Bröckling bezeichnet das „unternehmerische Selbst“ als wirkmächtige Realfiktion, die sowohl ein normatives Menschenbild als auch die Gesamtheit von Selbst- und Sozialtechnologien umfasst und auf die Ausrichtung der ganzen Lebensführung abzielt (vgl. Bröckling, 46 f.). Da zentrale Voraussetzungen für das Gelingen des Selbstoptimierungs-Projekts die kontinuierliche Selbsterforschung, erhöhte Selbstthematisierung und Selbst- <?page no="10"?> 10 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext kontrolle sind, wird eine Fülle verschiedenster Methoden zur Selbstvermessung und Potentialanalyse professionell vermarktet und massenmedial umworben. Wie bei vielen anderen „Trends“ ist allerdings nicht leicht auseinanderzuhalten, wie weit die Medienberichterstattung und philosophisch-literarische Zeitdiagnostik die Entwicklungsrichtung nur passiv widerspiegeln und beschreiben oder aktiv beeinflussen und verstärken (vgl. dazu Wagner, 54). Nach einer repräsentativen Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung kannten 2014 nicht einmal 40 % der befragten Deutschen den Begriff „Selbstoptimierung“, sodass es sich noch nicht um einen „Volkssport“ handeln könne (vgl. GfK). Wenn sich nach einer Befragung des TNS Infratest 2016 bereits 59 % aller Deutschen „mehr oder weniger“ zur Selbstoptimierung „bekennen“, dürfte „Selbstoptimierung“ dabei sehr weit gefasst worden sein (vgl. Mühlhausen u. a. 2016, 5). In Einzelfällen mögen die Kritiker den Kommentatoren mit gewissem Recht vorwerfen, der behauptete Trend sei ein bloßer „Medienhype“ (vgl. Wagner, 27 f./ Schoilew, 29): Mit plakativen Titeln wie „Die Hoffnung auf schnelleres Denken verführt Akademiker zu Gehirndoping“ oder „Immer mehr Menschen greifen zu Glückspillen oder legen sich um der Schönheit willen unters Messer“ wird eine exponentiell zunehmende Verbreitung suggeriert. Eine direkte empirische Überprüfung ist aber insbesondere bei den z. B. für die Leistungssteigerung verwendeten Psychopharmaka schwierig, weil die meisten davon in Deutschland offiziell nur beim Vorliegen bestimmter Krankheiten verordnet werden dürfen. Zwar könnte die mediale Botschaft von einem dramatischen Anstieg des Konsums im Sinne einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“ dazu führen, dass tatsächlich mehr Menschen sich für einen nichtmedizinischen Gebrauch von angeblich optimierenden Substanzen entschließen. Mutmaßlich geht aber die Entwicklung des neuen Trends und die Verbreitung biotechnologischer Hilfsmittel tatsächlich langsamer vonstatten als von den Medien dargestellt, zumal viele Optimierungstechniken noch Utopien oder Science Fiction sind. Nichtsdestotrotz braucht es schon jetzt dringend eine öffentliche gesellschaftliche Debatte, um Indizien drohender negativer kultureller Entwicklungen möglichst frühzeitig erkennen und mittels geeigneter Forschungsstrategien oder politischer Regulierungsmaßnahmen korrigieren zu können. Für eine ethische Beurteilung ist es daher zweitrangig, wie weit bestimmte technologische Optimierungsmaßnahmen überhaupt schon realisierbar oder bereits verbreitet sind. Es reicht die Tatsache aus, dass unter den sich selbst optimierenden Personen, in Forschung oder Industrie bestimmte Veränderungen menschlicher Fähigkeiten oder Eigenschaften als erstrebenswert angesehen werden. <?page no="11"?> 11 1.1 Analyse der Begriffe „Selbstoptimierung“, „Selbst“ und „Enhancement“ 1.1 Analyse der Begriffe „Selbstoptimierung“, „Selbst“ und „Enhancement“ 1.1.1 Selbstoptimierung Vom lateinischen „optimus“: „der Beste, Tüchtigste“ abgeleitet, meint „Selbstoptimierung“ ganz formal und allgemein jede Selbst-Verbesserung eines Subjekts hin zum bestmöglichen oder vollkommenen Zustand. Unmittelbares Objekt solcher Verbesserungs-Handlungen ist also wörtlich verstanden das „Selbst“ der handelnden Personen, das aber begrifflich ebenfalls nicht leicht zu fassen ist und weiter unten genauer analysiert wird (1.1.2). Während Verbesserung generell jede Veränderung in Richtung auf einen besseren, vollkommeneren Zustand meint, zielen Handlungen des Optimierens oder des „Perfektionierens“ strenggenommen direkt auf die höchstmögliche Stufe oder den Bestzustand ab. Denn das Optimum ist der bestmögliche oder vollkommene Zustand, den ein System, ein Mensch oder auch eine Institution unter den gegebenen Voraussetzungen tatsächlich erreichen kann. Wer sich also zu optimieren oder perfektionieren trachtet, will nicht nur besser werden, sondern so gut wie möglich. Damit unterscheidet sich das „Optimum“ einerseits vom „Ideal“ als der schlechthin besten denkbaren Variante ohne Rücksicht auf Realisierungsbedingungen und andererseits vom „Maximum“ als absolut höchster Steigerung mit Blick auf verschiedene Parameter und ein anvisiertes Ziel. Je nach Kontext ist ein quantitatives „Maximum“ nämlich nicht immer auch das qualitativ verstandene „Optimum“, was besonders für komplexe Systeme wie den menschlichen Organismus zutrifft. So bedeutet beispielsweise hinsichtlich des menschlichen Gedächtnisses eine Steigerung bis zu einem Maximum an Gedächtnisinhalten schwerlich das Optimum, weil das Speichern sämtlicher verfügbarer Informationen und somit auch aller negativer Erinnerungen kein wünschenswerter Zustand wäre. Die Begriffskombination „Selbst-Optimierung“ („self-optimization“) entstammt den noch jungen Neurowissenschaften und bezeichnet den charakteristischen Lernprozess des Nervensystems, durch Rückkoppelungsmechanismen und ständige Verbesserungen der vorangegangenen Vorgehensweisen immer optimalere Funktionen zu erzielen (vgl. Stangl). Später wurde der Begriff auch im technischen Bereich insbesondere in der Netzwerktechnologie benutzt, bis er in jüngerer Zeit auch auf den Menschen übertragen wurde. Frühe Formen der Selbstoptimierung wie das „Tracking“ spiegeln genau dieses gezielte, rationale und selbstdistanzierte Vorgehen einer Verbesserung durch Rückkoppelung und <?page no="12"?> 12 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext Selbststeuerung wider: Dank digitalen Helfern wie Apps oder „Fitness-Trackern“ werden Schritte gezählt und Vitalität und Schlafrhythmus gemessen und kontrolliert, um Arbeitsproduktivität, Fitness oder Schlafqualität zu verbessern (vgl. Duttweiler, 7 f./ Kap. 3.3). Da die oben erläuterten exakten begrifflichen Differenzierungen zwischen „Verbessern“ und „Optimieren“ weder im gesellschaftlichen Diskurs noch unter den praktizierenden Selbstoptimierern eine Rolle spielen, können sie im Folgenden als Synonyme verwendet werden. Statt um eine radikale Wandlung hin zu einem vollkommeneren oder perfekten Menschen geht es fast immer um eine graduelle Verbesserung bestimmter menschlicher Eigenschaften oder Fähigkeiten: Zumeist wird unter Selbstoptimierung ein kontinuierlicher, allmählicher Prozess der Veränderung verstanden, der über ständige Rückmeldungen, Selbstkontrolle und Verbesserung der Lebensführung sukzessive zur bestmöglichen persönlichen Verfassung hinführt (vgl. Duttweiler, 3 f.). Optimiert werden können prinzipiell alle Dimensionen des Selbst: physische, psychische, soziale und geistige Zustände oder Eigenschaften, Handlungsabläufe, Arbeitsprozesse und Kompetenzen in sämtlichen menschlichen Lebensbereichen. Selbstoptimierung ist aber nicht nur für die verschiedensten Ziele offen, sondern auch für alle nur denkbaren Mittel. Selbstoptimierung im weiten Sinn umfasst alle von Menschen je ins Auge gefassten Verbesserungen mit allen möglichen Methoden, also sowohl neuste Technologien als auch traditionelle und technikfreie Praktiken wie Bildung, Erziehung, Meditation und Training. In programmatischen Beiträgen zur Debatte wird der Begriff zwar häufig derart ausgeweitet, dass letztlich alle menschlichen Tätigkeiten und Phänomene darunter verbucht werden. Damit die weite Begriffsverwendung nicht inflationiert und der Begriff bedeutungslos wird, müssen aber typische Merkmale von Selbstoptimierungsprozessen wie systematisches und rationales Vorgehen, Selbstreflexion und Verbesserung durch gezielte Rückmeldungen vorliegen. Es ist also z. B. zu unterscheiden zwischen dem Gang zum Frisör zwecks routinemäßigen Haareschneidens ohne eigene Verbesserungswünsche und dem Ziel der Annäherung an ein bestimmtes Schönheits- oder Lifestyle-Ideal. Auch ist eine vom Jobcenter zum Zweck der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt angeordnete Weiterbildungsmaßnahme genauso wenig eine Selbstoptimierung wie das Zubereiten von Speisen zur ausschließlichen Stillung primärer Bedürfnisse. Diesen Schwierigkeiten einer weiten Begriffsverwendung entgeht man bei einer Einschränkung der Mittel auf neue technologische Verfahren: Selbstoptimierung im engen Sinn bezieht sich lediglich auf technikbasierte, zumeist <?page no="13"?> 13 1.1 Analyse der Begriffe „Selbstoptimierung“, „Selbst“ und „Enhancement“ biomedizinische oder pharmakologische Methoden. Viele Missverständnisse in der aktuellen Selbstoptimierungs-Debatte ließen sich vermeiden, wenn klar zwischen einem „engen“ und „weiten Begriff “ von Selbstoptimierung unterschieden würde (vgl. Röcke, 321). Notwendigkeit der Bestimmung normativer Standards „Verbesserung“ und „Optimierung“ sind insofern normative, d. h. wertende Begriffe, als sie eine Bewertung der Veränderung enthalten. Denn eine Verbesserung oder Optimierung meint im Gegensatz zu einer Verschlechterung stets eine begrüßenswerte Veränderung zum Positiven oder zum Guten hin. Der Begriff „Selbstoptimierung“ ist also nicht neutral, sondern positiv konnotiert und impliziert eine positive Bewertung der bezeichneten Phänomene (vgl. Schleim, 181/ Schoilew, 9). Um Handlungsweisen oder Veränderungen als „Optimierung“ oder „Verbesserung“ ausweisen zu können, müssten daher korrekterweise Bewertungskriterien oder normative Standards angegeben werden (vgl. Ach 2016, 118/ Röcke, 321). Statt die dahinterstehenden normativen Maßstäbe oder Wertstandards offen zu legen suggerieren aber Befürwortern neuer Selbsttechnologien häufig, es handle sich bei sämtlichen Selbstoptimierungs-Maßnahmen schon aus begriffslogischer Notwendigkeit um Verbesserungen hin zu einem positiven Zustand (vgl. exemplarisch Harris 2007, 9; 36). Damit greifen sie einer ethischen Beurteilung der verschiedenen Selbstoptimierungs-Praktiken vor, die jedoch erst das Resultat ihrer kritischen Prüfung anhand bestimmter ausgewiesener Wertstandards sein kann. Zum Zweck einer näheren Untersuchung sollen hier zwar unter „Selbstoptimierung“ erst einmal aus einer rein deskriptiven Perspektive sämtliche Praktiken, Methoden und Veränderungen in Richtung auf einen Zustand hin gezählt werden, der von den Betroffenen aus ihrer jeweiligen Perspektive zu einem bestimmten Zeitpunkt subjektiv als wünschenswert empfunden wird. Aus dieser deskriptiven Zuordnung bestimmter Veränderungen zur Klasse der „Selbstoptimierungen“ wird aber nicht automatisch auf eine positive normative Bewertung geschlossen werden. Vielmehr ist in Rechnung zu stellen, dass es sich im Einzelfall vielleicht statt um Verbesserungen genau besehen um Verschlechterungen hinsichtlich des persönlichen oder gesellschaftlichen Lebens handelt. Denn es ist grundsätzlich möglich, dass Selbstoptimierer oder die Gesellschaft bestimmte Selbstoptimierungsziele oder -methoden fälschlicherweise für gut oder unbedenklich halten. Aus ethischer Sicht kommen als grundlegende Beurteilungshinsichten primär das gute Leben <?page no="14"?> 14 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext oder eine gesteigerte Lebensqualität der handelnden Personen selbst und sekundär die Gerechtigkeit in Frage, wobei allerdings beide normativen Bezugsgrößen inhaltlich sehr verschieden konkretisiert werden können (Kap. 2.1/ 2.2). Die normativen Standards zur Bestimmung der Richtung von „Verbesserungen“ müssen daher selbst zum Gegenstand der Selbstoptimierungs-Debatte gemacht werden, da sie einer rationalen Begründung mittels Argumente bedürfen. Was eine Selbst-Verbesserung oder das „Optimum“ eines Menschen oder gar „der“ Menschen sein soll, steht also nicht von Anfang an fest. Hierin unterscheiden sich Optimierungsprozesse des „Selbst“ von Optimierungsaufgaben in der Mathematik oder der Wirtschaft, bei denen ein bestimmtes Ziel in maximaler Weise erreicht werden soll (vgl. Meißner, 221 f.). Der DUDEN behauptet allerdings mit seiner Definition, dass das „Optimum“ und die normativen Standards den Individuen von außen vorgegeben werden und sie zur Anpassung gezwungen werden: „Selbstoptimierung“ sei „jemandes (übermäßige) freiwillige Anpassung an äußere Zwänge, gesellschaftliche Erwartungen oder Ideale“. Obgleich die Einzelpersonen ihre Wert- und Zielvorstellungen stets in einer hochkomplexen Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld entwickeln, ist diese Darstellung allzu verkürzt. Der von Kritikern des Selbstoptimierungstrends vielfach beklagte soziale Druck soll zwar ein wichtiges Thema dieser Studie sein, ohne dass aber mit einer solchen definitorischen Festlegung schon eine pauschale Vorverurteilung vorgenommen wird. Die Reduktion auf „Anpassung an äußere Zwänge“ ist auch deswegen einseitig, weil die gesellschaftlichen Normen und Ideale auf die Anerkennung der Menschen angewiesen sind und sich mit einem Wandel ihrer Wertvorstellungen verändern. Umfragen deuten auf eine Verlagerung der individuellen Zielsetzungen seit dem Aufkommen des Trends weg von außenorientierten instrumentellen Bewertungsmaßstäben wie Produktivität, Effizienz und Leistungssteigerung hin zu innenorientierten Werten wie Gesundheit, Lebensqualität und Entspannung hin (vgl. Mühlhausen u. a. 2016, 5; 7). Aus der Teilnehmerperspektive hat Selbstoptimierung weniger mit Druck, Erfolg und Ehrgeiz zu tun, sondern viel mehr mit Gestaltungsfreiheit, Selbstbestimmtheit und Selbstverwirklichung. Nach einer neueren Befragung des Markt- und Meinungsforschungsinstituts TNS Infratest aus dem Jahre 2016 optimieren die Menschen ihr Leben konkret dadurch, dass sie „für Ruhe und Entspannung sorgen“ (62 %), sich um „gute Ernährung“ (59 %) und „genug Schlaf “ (56 %) kümmern, „regelmäßig Sport treiben“ (46 %) und „auf eine Balance von Arbeit und Freizeit achten“ (32 %) (vgl. ebd., 5). Selbstoptimierung bedeutet also keineswegs zwingend die Anpassung an Ideale des olympischen <?page no="15"?> 15 1.1 Analyse der Begriffe „Selbstoptimierung“, „Selbst“ und „Enhancement“ „höher, schneller, weiter“, sondern im Rahmen einer „Selbstoptimierung 2.0“ vermehrt auch ein „ruhiger, langsamer, weniger“ (vgl. ebd.). Gegensatzmodell zu der immer noch dominierenden „Selbsteffektivierung“ ist die „Selbststeigerung“ als ästhetische Selbstverwirklichung, bei der gesellschaftliche Anforderungen gerade zurückgewiesen und neue Selbsterfahrungen gesucht werden (vgl. Meißner, 224; 228 f.). Definitorische Verengung auf wirtschaftliche und technische „Optimierung“ Viele Selbstoptimierungsgegner stoßen sich bereits am Begriff Optimierung, der einen unsympathischen technoiden Klang aufweist und dem technisch-ökonomischen Bereich entstammt. Denn er wurde im 20. Jahrhundert zunächst im Bereich der angewandten Mathematik z. B. in der Informatik für die Effizienzsteigerung von Computerprogrammen verwendet, später auch in der Wirtschaft für die Gewinnmaximierung eines Unternehmens. Während der Begriff „Optimierung“ für technische Prozesse oder Wirtschaftsunternehmen gut passt, scheint er für die menschliche Lebensführung und das praktische Selbstverhältnis von Personen gänzlich unangemessen zu sein (vgl. Kipke 2011, 83). Insbesondere in der Soziologie avancierte Selbstoptimierung zur „Chiffre für die neoliberale und/ oder technisch basierte Transformation der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Subjekte“, zur „zentralen neuzeitlichen Metapher unserer marktförmig ausgerichteten Wettbewerbsgesellschaft“ (Röcke, 331/ Becker u. a., 5/ vgl. Uhlendorf u. a., 32). Nach dieser Interpretation stellen die individuellen Bemühungen um Selbstoptimierung eine Reaktion auf einen zunehmenden Leistungsdruck in einem ausbeuterischen Wirtschaftssystem dar, das mit seiner unerbittlicher Steigerungslogik zu mehr Effizienz und Leistungsfähigkeit und damit zur Selbstausbeutung antreibt. Seit Bröckling wird Selbstoptimierung gern im Kontext der neoliberalismuskritischen These der Ökonomisierung des Sozialen gelesen, derzufolge die Regulierungsmechanismen des Marktes wie etwa Konkurrenz, Vorteils-Nachteils-Kalkulationen, Nutzenmaximierung und Durchorganisation immer mehr Bereiche der Lebenswelt durchdringen und am Ende auch soziale und Selbstbeziehungen prägen (vgl. Bröckling, 244/ King u. a., 284 ff.). Diese Zeitdiagnose erfreut sich zwar einer so großen gesellschaftlichen Plausibilität, dass sogar die Begriffsbestimmung von „Selbstoptimierung“ regelmäßig über diese Deutung erfolgt. Wird Selbstoptimierung ausschließlich als Symptom einer inhumanen Ökonomie betrachtet und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit kritisiert, handelt es sich aber um <?page no="16"?> 16 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext einen „Kurzschluss in der wissenschaftlichen Beobachtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ (Meißner, 332). Ohne Frage ist das ökonomische Menschenbild des homo oeconomicus und die damit verbundene Vorstellung vom guten Leben auch aus philosophisch-ethischer Sicht zu verurteilen (vgl. Fenner 2010, 256 ff.). Anstatt Selbstoptimierung pauschal zu verwerfen und sozusagen ein „Symptom“ zu bekämpfen, sollte jedoch die auf der Praxis menschlicher Individuen basierende kapitalistische Wirtschaft mit ihren nicht wünschenswerten Mechanismen und Wertmaßstäbe verändert werden (vgl. Ach 2016, 125). Deskriptiv gesehen wird nicht nur die beliebte neoliberalismuskritische begriffliche Reduktion der Selbstoptimierung auf einen ökonomischen Auswuchs dem komplexen Phänomen Selbstoptimierung mit verschiedensten Praktiken und Zielsetzungen nicht gerecht. Auch die gängige Einschränkung der Selbstoptimierung auf Mittel der Technik, Medizin, Pharmazie und Neurowissenschaft im Sinne des engen Selbstoptimierungsbegriffs führt zu einem einseitigen Bild von gegenwärtigen Selbstoptimierungsbestrebungen. Denn auch im Zeitalter der Selbstoptimierung verbessern sich die Menschen keineswegs nur mit technischen Mitteln, sondern auch oder sogar vorwiegend durch ihre Lebensführung und die Arbeit an sich selbst (vgl. Kipke 2012, 269 f.): Der Selbstoptimierungstrend hat einen riesigen Selbstentwicklungsmarkt mit Lebenshilfeliteratur, Internetforen, Beratungsangeboten und Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung hervorgebracht. Allgegenwärtig sind Appelle zum lebenslangen Lernen und zur Steigerung verschiedenster kognitiver, sozialer und emotionaler Kompetenzen (vgl. Balandis u. a., 133). Unüberschaubar ist das Angebot an Erziehungs- und Beziehungsberatung, zum Zeit- und Selbstmanagement oder zum Willens- und Motivationstraining, die alle gänzlich ohne den Einsatz technischer Hilfsmittel auskommen (vgl. ebd., 14 f.). Problematisch ist zudem die normative These, die Rede von „Optimierung“ statt von „Verbesserung“ sei symptomatisch für den Wandel von einer moralischen hin zu einem technizistischen Menschenbild (vgl. Liessmann, 9). Es wird dabei unterstellt, dass die traditionelle Verbesserung des Menschen durch Moral, Aufklärung und eine humanistische Kultur verdrängt oder gar abgelöst wird durch moderne Technik und Gentechnik. Diese weiterführende Verdrängungsthese muss aber gesondert diskutiert werden und rechtfertigt nicht den Generalverdacht konservativer Technikkritik, sämtliche technischen Entwicklungen stellten eine Bedrohung der Humanität dar. In der vorliegenden Studie wird zwar „Selbstoptimierung“ durchaus in einem weiten Sinn verstanden, ohne dass ihr von vornherein bestimmte Zielsetzungen wie ökonomisch-technische <?page no="17"?> 17 1.1 Analyse der Begriffe „Selbstoptimierung“, „Selbst“ und „Enhancement“ Effizienz, Gewinn- oder Leistungssteigerung unterstellt würden. Es werden aber in den Kapiteln 3-5 aus dem Grund ausschließlich technikbasierte Formen der Selbstoptimierung genauer analysiert, weil diese wegen ihrer noch unbekannten Folgen für Individuum und Gesellschaft ganz anders auf dem Prüfstand stehen als traditionelle Verbesserungsbestrebungen durch Bildung, mentales Training oder Ernährungsprogramme. Dieser ethische Grundriss erhebt also nicht den kaum erfüllbaren Anspruch, die ganze Breite gegenwärtiger Selbstoptimierungs-Praktiken mit ihren anvisierten Zielen und zugrundeliegenden Wertvorstellungen kritisch zu sichten. 1.1.2 Das „Selbst“ Das „Selbst“ ist bei Selbstoptimierungs-Handlungen sowohl das Subjekt als auch das Objekt. Allerdings ist das „Selbst“ ein sehr komplexes, aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven unterschiedlich darstellbares Phänomen, sodass es keine einheitliche Begriffsverwendung gibt. Grundlegende Voraussetzung für jedes zielgerichtete Handeln ist jedoch, dass sich das „Selbst“ in einem theoretischen Selbstverhältnis bewusst wird: Ein „Selbst-Bewusstsein“ entsteht, indem sich ein „kognitives Ich“ oder „reines Selbst“ auf seine Bewusstseins-Akte wie Meinen, Urteilen, Wünschen und Erleben zurückwendet und sich selbst zum Objekt macht. Das Sich-Wiedererkennen und Identifizieren-Können in einem Spiegel dient gerne als Symbol und Zeichen für ein „Selbst“ bzw. „Selbstbewusstsein“, weshalb in der empirischen Forschung ein sogenannter Spiegeltest eingesetzt wird. Gemäß den Sozialpsychologen William James und George Mead lässt sich das Selbst oder die Ich-Identität als ein Gleichgewicht zwischen a) dem aktiven, vollzugshaften Moment des „I“ oder „reinen Selbst“ und b) dem passiven, objektivierten Moment des „me“ oder „empirischen Selbst“ verstehen. Das reine Selbst, das „Ich“ oder „erkennende Selbst“ (a) meint die mentale Fähigkeit, zu den charakterlichen, biographischen und situativen Gegebenheiten bewusst und reflexiv Stellung zu beziehen. Demgegenüber setzt sich das empirische Selbst (b) aus einem „materiellen Selbst“ mit Körper, Kleidung etc., dem „sozialen Selbst“ mit Status und sozialen Rollen und dem „geistigen Selbst“ mit psychischer Disposition und Charaktereigenschaften zusammen. Ein Selbst, eine Ich-Identität oder persönliche Identität ergibt sich aber erst, wenn die empirischen Aspekte mit den persönlichen kognitiven Deutungen und Bewertungen dieser Tatsachen vermittelt werden. Das verbindende Dritte <?page no="18"?> 18 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext in diesem Strukturmodell des „Selbst“ ist das „Selbstkonzept“ oder „Selbstbild“ eines Menschen, das erst eine gewisse zeitliche Stabilität der persönlichen Identität herzustellen vermag: In der Psychologie wird das Selbstkonzept meist deskriptiv verstanden als das auf eigenen Erinnerungen basierende Wissen davon, wer man selbst ist. Philosophen interessieren sich vornehmlich für die normative Dimension des Selbstkonzepts und sprechen von einem „normativen Selbst“ oder „normativen Selbstbild“ (vgl. Kipke 2011, 61/ Fenner 2007, 98 f.): Das normative Selbst oder normative Selbstbild ist ein prospektiver Selbstentwurf, der auf der Grundlage einer umfassenden Interpretation und Bewertung der materiellen, körperlichen, sozialen und geistigen Dispositionen die wichtigsten Lebensziele und Ideale für die zukünftige Entwicklung festlegt. Bei einem auf Handlungen ausgerichteten praktischen Selbstverhältnis bestimmt das „reine Selbst“ in einem solchen persönlichen Selbstentwurf, welche Anlagen, Fähigkeiten und sozialen Rollen im eigenen Leben wichtig sind und in welcher Form sie realisiert werden sollen. Wenn jemand allerdings ein völlig realitätsfremdes „normatives Selbst“ oder „Ideal-Selbst“ entwirft, wird dieses ein bloßes Phantasieprodukt bleiben. Ein erfolgreicher Selbstoptimierungsprozess vom Istzum Soll-Zustand setzt daher eine möglichst genaue deskriptive Analyse des bereits in Erscheinung getretenen „empirischen Selbst“ voraus. Dem Projekt der Selbstoptimierung sind aber nicht nur durch die genetischen Anlagen und die Faktizität Grenzen gesetzt, sondern auch durch kulturelle und gesellschaftliche Bewertungsmaßstäbe, Idealvorstellungen und faktische Selbsttechnologien. Schon hinsichtlich der Genese eines Selbstbilds und eines prospektiven Selbstentwurfs wäre es ein individualistisches Missverständnis anzunehmen, es handle sich um Kreationen sozial isolierter Einzelindividuen (vgl. dazu Kipke 2011, 63). Vielmehr findet der Einzelne in seinem sozialen Umfeld Inhalte und Methoden der deskriptiven Selbstbeschreibung und eine Vielfalt an kulturellen normativen Selbstbildern vor, mit denen er sich auseinanderzusetzen hat. Was jemand ist und sein will ist nicht völlig abgekoppelt von anthropologischen und kulturellen Vorstellungen davon, was ein Mensch ist oder sein sollte. Natürlich können sich die Individuen zu den sozialen Deutungsmustern und normativen Standards von gelingender Selbstverwirklichung oder Selbstoptimierung verhalten und sich davon distanzieren, aber sie bleiben doch stets auf diese Maßstäbe bezogen (vgl. ebd., 65). Nicht zuletzt sind auch die Möglichkeiten und Grenzen der konkret zur Verfügung stehenden Praktiken und Techniken zur Selbstverbesserung kulturell vorgegeben. Von der anderen Seite aus gedacht erhebt der Einzelne mit seinem normativen Selbstkonzept oder seinen <?page no="19"?> 19 1.1 Analyse der Begriffe „Selbstoptimierung“, „Selbst“ und „Enhancement“ Selbstoptimierungszielen implizit auch immer schon den Anspruch, dass das von ihm Angestrebte und für wichtig Erachtete auch von den anderen geschätzt und als gut beurteilt werden sollte. Aufgrund der Angewiesenheit auf soziale Anerkennungsverhältnisse dürfte ein grundlegender Widerspruch zwischen einem persönlichen „Optimum“ oder „normativen Selbstbild“ zu den Menschenbildern und Wertvorstellungen im sozialen Umfeld dazu führen, dass das eigene Selbstwertgefühl mehr und mehr untergraben wird. Auf lange Sicht wird es niemanden glücklich machen, wenn er erfolgreich Selbstoptimierungs-Ziele verwirklicht, die von allen anderen Menschen als völlig wertlos eingestuft und verachtet werden (vgl. Fenner 2007, 65 f.). 1.1.3 Enhancement Der aus dem Englischen übernommene Neologismus „Enhancement“ von „to enhance“: „Steigerung, Erhöhung“ wurde bereits in den 1990er Jahren in der Bioethik und der Technikfolgenabschätzung geprägt, als in verschiedenen Bereichen wie Humangenetik, Chirurgie und Pharmakologie neue wirkmächtige Technologien entwickelt wurden (vgl. Coenen u. a., 11). Zwar scheint beim „Enhancement“ anders als bei der „Optimierung“ die Vorstellung eines zu erreichenden „Optimums“ zu fehlen, aber wie gesehen meint auch Selbstoptimierung letztlich immer den Prozess einer schrittweisen Selbstverbesserung (1.1.1). Anders als die „Selbstoptimierung im weiten Sinn“ beschränkt sich das „Enhancement“ jedoch auf naturwissenschaftlich fundierte und technisch voraussetzungsvolle Methoden zur menschlichen Verbesserung, vornehmlich aus Medizin, Biochemie und den Neurowissenschaften. „Enhancement“ kann also mit der Selbstoptimierung im engen Sinn gleichgesetzt werden und stellt eine Sonderform von Selbstoptimierung dar (vgl. Balandis u. a., 137/ Röcke, 321 f.). Gemäß der in der Bioethik geläufigen Begriffsbestimmung meint Enhancement im Allgemeinen bzw. das biomedizinische Enhancement im Besonderen sämtliche Verbesserungen menschlicher Eigenschaften oder Fähigkeiten durch technologische bzw. biomedizinische Interventionen, die nicht dem Zweck einer Therapie von Krankheiten dienen, sondern über ein bestimmtes Maß an „Normalität“ oder „normalem Funktionieren“ eines Menschen hinausgehen (vgl. Gesang, 4/ Heilinger, 91 f./ Woyke, 21 f.). Demgegenüber umfasst im alternativen Definitionsansatz der Transhumanisten (welfarist definition) „Enhancement“ alle biologischen oder psychischen Veränderungen, die zu einer Steigerung der Chancen auf ein gutes Leben der betreffenden Person führen (vgl. <?page no="20"?> 20 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext Savulescu u. a., 7). Auch wenn bei dieser Betonung der allgemeinen normativen Bewertungshinsicht ohne Einschränkung der Mittel eine sehr weite Begriffsverwendung vorzuliegen scheint, setzen doch gerade Trans- und Posthumanisten auf neueste Technologien (Kap. 1.4). Im Gegensatz zur bioethischen Definition würden hingegen auch therapeutische Interventionen mit dem Resultat einer verbesserten Lebensqualität zu den Enhancement-Maßnahmen zählen, obwohl die deskriptive Abgrenzung von „Enhancement“ und „Therapie“ durchaus ethisch relevant ist (Kap. 1.3). Da sich diese Einführung auf neue technologische und insbesondere biomedizinische Verbesserungen konzentriert, kann für die thematische Gliederung die in der Enhancement-Debatte bereits gebräuchliche Einteilung in Körper-Enhancement (Kap. 3), Neuro-Enhancement (Kap. 4) und genetisches Enhancement (Kap. 5) verwendet werden. 1.2 Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends 1.2.1 Kulturelle Voraussetzungen Individualisierung Ideengeschichtlich betrachtet lässt sich der Trend zur Selbstoptimierung als konsequente und logische Fortsetzung verschiedener neuzeitlicher Individualisierungsschübe verstehen: Auf gesellschaftlicher Ebene verloren traditionelle Sozialzusammenhänge wie Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Religionsgemeinschaft immer mehr an Bindungskraft. Zu den großen sozialen und geistesgeschichtlichen Umbrüchen auf diesem Weg zählen die Reformation und die Glaubenskriege mit dem Zerbröckeln eines einheitlichen, stabilen Orientierungssystems, der besonders im Calvinismus geförderte, mit erhöhter Selbstbeobachtung und Selbstdisziplinierung verbundene religiöse Individualismus, die Idealisierung der Innerlichkeit in der Romantik und der drastische Rückgang der religiösen Sozialisierung seit den 1960er Jahren in Europa (vgl. Leefmann, 102). Auf individueller Ebene hat sich in der Aufklärung das in der Renaissance aufkommende Selbstverständnis eines einzigartigen und autonomen Subjekts durchgesetzt, das sich mittels seiner subjektiven Rationalität sein eigenes Gesetz gibt. Dank des Siegeszugs der sich aus ihrem metaphysischen und religiösen Korsett befreienden Naturwissenschaften und der Technik <?page no="21"?> 21 1.2 Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends macht sich der neuzeitliche Mensch die äußere Wirklichkeit verfügbar, um seine eigenen Bedürfnisse zu stillen. Unter Zurückweisung vorgegebener traditioneller Rollenbilder und Lebensmuster orientieren sich die Menschen zunehmend an selbst gesetzten Zielen, sodass in den 1960er Jahren ein Wertewandel weg von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu ästhetischen und Selbstentfaltungswerten diagnostiziert wurde (vgl. Fenner 2003, 467). Auf wirtschaftlicher Ebene wurde die Individualisierung durch eine liberalistische Ökonomie und eine kapitalistische Kultur mit dem Prinzip des freien Marktes begünstigt, in der das individuelle Streben nach Gewinn und dem maximalen Erfüllen der subjektiven Wünsche den zentralen Motor darstellt. Neben seinen zahlreichen negativen Seiten hat der Kapitalismus den meisten Menschen in den westlichen Wohlfahrtsstaaten infolge des Wirtschaftswachstums einen hohen Lebensstandard, eine enormen Erweiterung der Lebensmöglichkeiten, mehr Freiheit, Flexibilität und Mobilität gebracht. Nicht zuletzt auch dank mehr freier Zeit wurden damit die Bedingungen dafür geschaffen, dass die Menschen sich vermehrt mit sich selbst und ihrem Leben beschäftigen konnten. Der aus der Soziologie stammende Begriff der Individualisierung bezeichnet also den historischen Prozess eines Zugewinns an Autonomie und Wahlmöglichkeiten der Individuen, die sich aus fragwürdig gewordenen metaphysischen, religiösen und sozialen Ordnungssystemen und Strukturen herauslösen. Je weniger der Einzelne von Gott, dem Schicksal oder der Tradition vorgegebene Aufgaben und Rollenmuster zu übernehmen gewillt ist, desto mehr rückt nun das eigene Selbst als einziger Orientierungspunkt in den Vordergrund und wird zur neuen Quelle von Normativität. Individuelle Selbstgestaltung und Lebensplanung gelten als die großen existentiellen Herausforderung des modernen Menschen, der alle Entscheidungen über Ausbildung, Beruf, Familie und Wohnort selbstreflexiv und selbstverantwortlich treffen und seinen individuellen Lebenslauf selbst entwerfen muss (vgl. Beck 2003, 216 ff./ Selke 2014a, 188). Noch vor der Konjunktur des Schlagworts „Selbstoptimierung“ war in den 1970er und 80er Jahren der Begriff „Selbstverwirklichung“ für diese neue Innenorientierung in Mode gekommen, der gleichfalls eine Schlüsselkategorie des modernen Selbstverständnisses darstellt. Obgleich das Konzept der „Selbstverwirklichung“ von den deutschen Idealisten in die Philosophie eingeführt wurde, verhalf ihm erst die humanistische Psychologie in den 1970er Jahren zum Durchbruch. Selbstverwirklichung meint allgemein die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, indem man seine eigenen Möglichkeiten und Talente ungeachtet gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ausschöpft. Dabei hat auch <?page no="22"?> 22 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext die Vorstellung von „Selbstverwirklichung“ eine Individualisierung erfahren, da grundsätzlich zwei Deutungsmöglichkeiten offen stehen (vgl. Fenner 2007, 92): Im essentialistischen capacity-fulfillment-Modell wird von einem bereits vorgegebenen metaphysischen oder biologisch angeborenen „Selbst“ ausgegangen, das lediglich in der Welt realisiert werden muss. Dieses von vielen humanistischen Psychologen von Goldstein über Fromm bis Maslow vertretene Entfaltungsmodell der Selbstverwirklichung wird gern mit der Analogie zum Wachstum eines Samenkorns illustriert, bei der allerdings die zentrale Rolle von Vernunft, Erziehung und Bildung in der menschlichen Entwicklung unterschätzt wird. Denn die genetischen Anlagen und Fähigkeiten sind beim Menschen so unbestimmt, dass sie zu höchst unterschiedlichen positiven oder negativen Zwecken einsetzbar sind (vgl. dazu Fenner 2003, 372; 472 f.). Aufgrund dieser zweifelhaften Prämissen dominiert heute das individualistische aspirationfulfillment-Modell, bei dem die Freiheit der Individuen viel stärker betont wird. Es gilt dann nicht ein vorgegebenes „Selbst“ zu realisieren, sondern die wichtigsten Wünsche oder Ziele eines Individuums (vgl. Kipke 2011, 82 f.; 209). Subjektivierung und Psychologisierung des Glücks Dieser vielschichtige Prozess der Individualisierung und die Suche nach neuen innerlichen Quellen normativer Handlungsorientierung haben zu einer Renaissance der antiken Individualethik geführt: Nachdem Themen der individuellen Lebensführung wie die Frage nach dem Glück und guten Leben sowohl in der Philosophie als auch in der Öffentlichkeit jahrhundertelang zugunsten moralischer Belange vernachlässigt wurden, genießen sie seit den 1970er Jahren erneut hohe Aufmerksamkeit (vgl. Fenner 2007, 7). Die Dominanz der Fremdorientierung und des Ideals der Selbstlosigkeit war gebrochen, sodass Selbstorientierung und Selbstsorge nicht länger als egoistisch verpönt waren. Während allerdings in Antike und Mittelalter von objektiven Kriterien für menschliches Glück ausgegangen wurde, hat im Laufe der neuzeitlichen Individualisierungsprozesse eine Subjektivierung und Individualisierung des Glücks stattgefunden: Das Individuum soll keine vorgegebenen Aufgaben mehr im Kosmos oder einem göttlichen Schöpfungsplan erfüllen, sondern seine ganz persönlichen Wünsche und Ziele realisieren und sein Glück in der Selbstverwirklichung finden (vgl. Höffe, 19/ Kipke 2011, 209 f.). Im Zeichen eines anhaltenden „Glücksbooms“ wird der Büchermarkt überschwemmt von einer Fülle populärwissenschaftlicher, spiritueller bis hin zu kabarettistischer <?page no="23"?> 23 1.2 Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends Ratgeberliteratur, die zusammen mit Feuilletonbeiträgen und Blogs den Weg zum Glück weisen. Es wird im Sinne des typisch neuzeitlichen Macht- und Machbarkeitsdenkens suggeriert, das Glück sei planbar und herstellbar und jeder könne sein eigenes Glück „schaffen oder aufbauen“ (Lyubomirksy, 24). In ihrer schlichtesten Form bietet die Lebenshilfeliteratur Anleitungen zum Selbermachen und gibt einfache Rezepte, wie man sein Leben zu einem glücklichen machen kann. So soll man etwa „Krisen als Chancen“ betrachten und widrige Umstände positiv deuten, „achtsam“ oder „authentisch“ leben, sich selbstgewählte Ziele setzen und sich selbst optimieren. Je aufdringlicher die Werbeindustrie den Menschen Glück durch den Erwerb bestimmter Güter oder die Nutzung spezifischer Dienstleistungsangebote verspricht, scheint das Glück selbst zur Pflicht erhoben zu werden. Kritische Zeitgenossen sprechen angesichts der omnipräsenten Glücksverheißungen von einer „Diktatur des Glücks“ und einer „Glückshysterie“, weil jedem eingeimpft wird: „Du musst glücklich sein, sonst lohnt sich dein Leben gar nicht“ (Schmid 2012, 8). Das intensivierte Glücksstreben und die Betrachtung des individuellen Glücks als Indiz für eine gelingende Selbstverwirklichung und Lebensführung haben dem Selbstoptimierungstrend den Weg bereitet und ihn angekurbelt. Nachdem in der Antike vornehmlich die Philosophie für Fragen der Lebenskunst und des Glücks der Einzelnen zuständig war, scheinen sie aber seit ihrer Renaissance in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie gerückt zu sein: Von einer Therapeutisierung oder Psychologisierung des Glücks lässt sich insofern sprechen, als sich immer häufiger Psychologen und Psychotherapeuten für Experten menschlichen Glücks erklären und Unterstützung bei einer gelingenden Selbstverwirklichung bieten. In den 1970er Jahren kam es zu einem allgemeinen „Psycho-Boom“, weil das Interesse der Bevölkerung an einer im weitesten Sinn verstandenen Therapie als sozialer Praxis wuchs und sich immer mehr Zeitungen, Zeitschriften und Ratgeber therapeutischer Konzepte bedienten (vgl. Elberfeld, 176). Einen Beitrag zur Popularisierung der Psychologie leistete auch die 1990 gegründete Positive Psychologie, die nach der ausschließlichen Beschäftigung der Psychologie mit psychischen Krankheiten bzw. Störungen die Steigerung der psychischen Gesundheit und positiver Gefühle wie Glück zum Programm erhob (vgl. Seligman, 11). Neben die psychologischen Therapie- und Beratungsangebote trat seit den 1980er Jahren das Coaching, das verschiedene Trainings- und Beratungsmethoden umfasst. Ursprünglich aus dem Sport stammend wurde das Coaching zunächst auf das Training von Führungskräften übertragen und später auf individuelle Beratung <?page no="24"?> 24 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext aller Menschen ausgedehnt, sodass aus dem Management-Coaching Anleitungen zum Selbstmanagement wurden (vgl. Eberfeld, 189 ff.): Coaches helfen den Kunden, ihre persönlichen Potentiale, Stärken und Perspektiven besser einzuschätzen und zu entwickeln, neue Kompetenzen und Strategien zur besseren Bewältigung von Krisen zu erwerben und sich adäquater und erfolgreicher an ihren persönlichen Zielen zu orientieren. Während es beim Selbstmanagement in den frühen Phasen vorwiegend um die Steigerung der Arbeitsproduktivität mittels Zeitplanung und To-do-Listen ging, rückte mit jeder Generation mehr die Verbesserung der Lebensqualität mit Zielen wie etwa persönliches Wachstum, Erarbeiten inspirierender Zukunftsperspektiven und befriedigender Beziehungen zu anderen ins Zentrum. Ähnlich wird im Glücks-Coaching typischerweise die Stärkung des Selbstwertgefühls und Selbstvertrauens, mehr Freude in Beruf und Partnerschaft, Gelassenheit und Kreativität im Umgang mit Um- und Mitwelt versprochen. Je populärer die sich auf psychologisches Wissen beziehenden Programme zum Überschreiten des Gesunden und Normalen auf Selbstoptimierung hin werden, desto mehr avancieren therapeutische Praktiken zu „universell einsetzbaren Technologien des Selbst“ (Elberfeld, 194). 1.2.2 Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends 1) Positive Aspekte Das Programm des Selbstoptimierungstrends erscheint als ein grundsätzlich positives, da es zu einem positiven Denken, einem optimistischen Selbstverhältnis und einer auf Verbesserungen abzielenden, aktiven Lebensführung auffordert. Die Kernbotschaft lautet, dass jeder jederzeit unliebsame schädliche Gewohnheiten und Einstellungsweisen verändern, sein Schicksal in die eigene Hand nehmen und etwas für seine Gesundheit und sein Glück tun kann. Es geht bei diesem neuen gesellschaftlichen Leitbild nicht wie in vergangenen Jahrhunderten vorwiegend um den Kampf gegen Entbehrung, Leid und Krankheit, sondern um positive Zielvorstellungen wie Gesundheit, Kreativität, Produktivität und Zufriedenheit. Die allgegenwärtige Motivation zur Arbeit am eigenen Selbst und am eigenen Glück durch sukzessives Feilen an der persönlichen Lebensgestaltung fördert aus Sicht der Befürworter die individuelle Freiheit und Verantwortung der Einzelnen und bestenfalls auch ihr Wohlergehen (vgl. Duttweiler, 8). Im gegenwärtigen Streben nach individueller Selbstverbesserung <?page no="25"?> 25 1.2 Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends komme das moderne Ideal persönlicher Autonomie oder Selbstbestimmung zum Ausdruck, das in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft als oberster Wert gilt (vgl. Gamm, 47 ff.): Der Einzelne versteht sich nicht mehr als Opfer der Verhältnisse und muss nicht religiöse oder traditionelle Aufgaben erfüllen, sondern tritt als selbstbewusster Autor seiner selbst und seines Lebens in Erscheinung und führt die Eigenregie bei seiner Selbstdarstellung. Während für vergangene Generationen selbstverständlich war, dass Frauen Kinder großziehen und den Haushalt führen und Männer den Beruf ihres Vaters erlernen und den väterlichen Betrieb oder Hof übernehmen, kann heute jeder zwischen schier unüberblickbaren Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten das für ihn Passende auswählen. Dank des hohen Lebensstandards steht nicht mehr die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse im Zentrum, sondern die Suche nach einem eigenen Lebensstil hinsichtlich Bildung, Freizeitaktivitäten, Ernährung und Umgang mit dem eigenen Körper (vgl. Schimank, 2). Anstelle der ehemaligen Stände oder gesellschaftlichen Milieus hat sich eine Vielfalt von Lebensstil-Szenen zu verschiedenen Möglichkeiten der Selbst- und Lebensgestaltung ausdifferenziert, so z. B. der „Lifestyle of health and sustainability“ (LOHAS). Aus dieser Perspektive steht also das moderne Projekt der Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung für den Übergang von einer autoritätsgläubigen unterwürfigen Persönlichkeit zu einem emanzipierten autonomen Subjekt, der als Befreiungsschlag und höchst positive Errungenschaft bewertet wird. Aus kritischer Distanz erscheint der hinter dem Selbstoptimierungs-Trend stehende Individualismus und Liberalismus allerdings oft als einseitig und realitätsfremd. Denn Anleitungen zur Selbstoptimierung und populäre Glücksratgeber suggerieren mitunter, ein erfolgreiches und glückliches Leben sei nur das Resultat der Arbeit am eigenen Selbst oder gar von Autosuggestion (vgl. Hirschhausen, 154/ Lyubomirsky, 16). Genährt werden unter Umständen sogar trügerische Omnipotenzphantasien, mit mehr Eigenaktivität, Selbstwirksamkeit und Resilienz alle äußeren Hindernisse überwinden zu können (vgl. dazu Uhlendorf u. a., 35). Kritiker der Individualisierung und Psychologisierung des Glücks bezeichnen es als „kollektive Selbsttäuschung“, dass jeder Mensch als ein freies, gestaltungsfähiges Individuum allein mit den richtigen Einstellungen und Taten sein Glück in der Welt schmieden könne (vgl. Hampe, 56). Denn unbestreitbar findet er zum einen eng gezogene individuelle biologische Grenzen vor, weil auch mit Schönheitsoperationen Alterungsprozesse lediglich verzögert und ein fehlendes Bewegungstalent oder ein niedriger IQ durch Training oder Enhancement nicht kompensiert werden können. Zum anderen <?page no="26"?> 26 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext wird ein Mensch nach wie vor hineingeboren in bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse mit gewissen Ressourcen und Beschränkungen und kann jederzeit Opfer von Naturkatastrophen oder Gewalttaten werden. Angesichts dessen mutet die positiv-anspornend gemeinte individualistische Lesart des Sprichworts „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ naiv an, jeder brauche nur positiv zu denken oder an seiner persönlichen Lebensgestaltung zu arbeiten. Das Pochen auf den Zugewinn an Chancen und Möglichkeiten dank des modernen Individualismus und Liberalismus wird dann sozialethisch bedenklich, wenn es zur Verweigerung einer Auseinandersetzung mit den bestehenden sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen führt. Ein naiver Optimismus ist aber auch individualethisch problematisch, weil eine durchgängig positive Einstellung zum Leben und zur Zukunft zu einer Überschätzung der eigenen Kontrollfähigkeit und Kompetenzen führt und gegen berechtigte Kritik immunisiert. Damit kommen Optimisten aber die Voraussetzungen für ein „lernendes System“ abhanden, weil sie nicht aus Fehlern in der Vergangenheit lernen und Gefahren und Risiken rechtzeitig erkennen und verhindern können (vgl. dazu Schmied 2012, 44/ Seligman, 73). Individualethisch günstig ist nur ein funktionaler Optimismus, bei dem Probleme nicht ausgeblendet, sondern als Herausforderungen betrachtet und stets die offen stehenden Chancen in den Fokus gerückt und voll ausgeschöpft werden (vgl. Fenner 2007, 134 f.). Zur Verteidigung des Programms der Selbstoptimierung wird gern auf die Kontinuität verwiesen, mit der die Menschen seit Jahrtausenden auf Selbstverbesserung ausgerichtet sind. In der Tat waren die Menschen noch nie einfach zufrieden damit, wie sie waren, sondern versuchten sich und ihr Leben stets mittels physischer, psychischer und mentaler Anthropotechniken zu verbessern (vgl. Leuthold, 11/ Wiesing 2006, 324). Das Streben nach Höherem und Besserem scheint im Menschen angelegt zu sein und bildet sozusagen seinen Lebensmotor und den Antrieb zur kulturellen Weiterentwicklung. So lässt sich der Mensch anthropologisch als „homo modificans“ und „das sich optimierende und normierende Lebewesen“ bestimmen (Straub u. a., 19). Allerdings haben sich die theoretischen Zielvorstellungen und praktischen Methoden im Laufe der Geschichte stark gewandelt, und die angestrebten oder erlangten Veränderungen erscheinen von außen nicht immer als „Verbesserungen“ (vgl. ebd.). Für die Menschen der Antike war das „Optimum“ in der teleologischen Ordnung der Natur vorgegeben, und alle Maßnahmen sollten nur das vollenden, was in der Natur angelegt ist (vgl. Wiesing 2006, 324 ff.). Dieser Vorstellung immanenter Zwecke in der Natur folgte im Mittelalter der Glaube an die vollkommene <?page no="27"?> 27 1.2 Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends göttliche Schöpfungsordnung, wobei Abweichungen des Menschen von der gottgewollten Vollkommenheit als Resultat der Ursünde verstanden wurden. Sie sollten vorwiegend mit geistigen und religiösen Anstrengungen so weit wie möglich schon im Diesseits abgeschwächt werden, auch wenn das eigentliche „Optimum“ erst dank Gottes Gnade im Jenseits erreichbar war. Das Streben nach Perfektionierung gewann in der Aufklärung als umfassendes Denk- und Lebensmodell mächtigen Auftrieb, weil der Mensch einerseits als grundsätzlich veränderbares und erziehbares Wesen, andererseits zugleich als mangelhaft und verbesserungswürdig galt (vgl. Glockentöger u. a., 74 f.). Es wurde in der Aufklärungsphilosophie geradezu als moralische Pflicht angesehen, seine leiblichen, seelischen und geistigen Kräfte zu vervollkommnen (vgl. Kant, 55 f./ Lenk, 50 f.). Im Laufe der Neuzeit verloren die Vorstellungen der Naturteleologie und einer göttlichen Ordnung immer mehr an Bedeutung, sodass sich die Eingriffsmöglichkeiten nicht länger vor traditionellen Orientierungsvorgaben legitimieren mussten. Mit dieser Entgrenzung der Möglichkeiten gingen aber die normativen Kriterien für die bahnbrechenden technischen und medizinischen Errungenschaften im 19. und 20. Jahrhundert wie etwa Mensch-Maschine- Verbindungen oder Gentechnik verloren, anhand derer sich „Verbesserungen“ und ein „Optimum“ des Menschen bestimmen lassen. 2) Negative Aspekte Der enorme Zuwachs an Wahlmöglichkeiten und individueller Autonomie im Zuge der verschiedenen Individualisierungsschübe weist offenkundig auch Schattenseiten auf wie die Zunahme an Entscheidungszumutungen und persönlicher Selbstverantwortung (vgl. Schimank, 3). Nachdem sichere normative Orientierungsstrukturen abhanden gekommen sind und es zu jeder Handlungsoption zahllose Alternativen gibt, quälen sich viele Menschen mit ständigen Selbstzweifeln: Hätte ich es nicht vielleicht anders machen sollen und hätte es nicht noch besser laufen können oder müssen? Das sich selbst optimierende „unternehmerische Selbst“ scheint notwendig ein „unzulängliches Individuum“ zu sein, das nie mit sich selbst zufrieden ist, weil es stets hinter seinen eigenen Ansprüchen zurückbleibt (Bröckling, 289). Als „Tragödie des Erfolgs“ bezeichnet Leon Kass, dass die Menschen trotz enormen wissenschaftlichtechnischen Fortschritten z. B. in der Medizin nicht zufriedener mit ihrem Gesundheitszustand geworden sind (vgl. 133 f.). Da das Streben nach Perfektion zu Intoleranz gegenüber Fehlern und dem Unvollkommenen führe, gelte das <?page no="28"?> 28 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext Paradox: „Je perfekter der Mensch werden will, desto unvollkommener wird er.“ (Maio 2018, 251) Wenn individuelle Unsicherheit und Selbstunzufriedenheit mit dem omnipräsenten gesellschaftlichen Appell zur Perfektionierung und Selbstverantwortung zusammentreffen, können sie sich leicht zu einem negativen Lebensgefühl verdichten und zu Erschöpfungszuständen führen. Das erschöpfte Selbst ist nach Alain Ehrenberg ein ausgebranntes Selbst, das kaum mehr Orientierungsstrukturen und Regeln im Außen vorfindet, sondern sich flexibel und mobil an eine komplexe, sich ständig verändernde provisorische Welt anpassen und dabei alles selbst entscheiden und verantworten muss (vgl. Ehrenberg, 141; 222; 277). Die in westlichen Ländern steigende Zahl von Burn-out-Vorkommnissen, Depressionen und Angststörungen wird in direkten Zusammenhang gebracht mit den gegenwärtigen Welt- und Selbstdeutungen mit ihren maßlosen Perfektionsidealen. In vielen Bestsellern wie etwa Ariadne von Schirachs Du sollst nicht funktionieren (2015) oder Arnold Retzers Miese Stimmung (2012) wird daher eine radikale Abkehr vom Optimierungswahn und dem Diktat des positiven Denkens gefordert, wohingegen Pessimismus und negative Gefühle aufzuwerten seien. Der Perfektionierungsthese wird von Philosophen wie Harry Frankfurt und Michael Slote die Suffizienzthese entgegengesetzt, derzufolge eine Haltung der zufriedenen Selbstbescheidung und Mäßigung rationaler ist als eine unbegrenzte Optimierung der Lebenssituation (vgl. Slote, 10/ Knell, 368 f.). Kritiker des Selbstoptimierungstrends bestreiten auch einen ursprünglichen inneren Drang der Individuen zur Selbstverbesserung, weil sich die Subjekte lediglich dem steigenden sozialen Druck anpassen (vgl. King u. a., 285). Gemäß vielen aktuellen Gesellschaftsdiagnosen stellt die Selbstoptimierung für den Einzelnen längst keine Option mehr dar, sondern eine gesellschaftliche Pflicht oder einen „moralischen Imperativ“ (vgl. Selke 2014a, 189/ Gamm, 34). Der von außen kommende Fremd-Zwang werde zum Selbst-Zwang umverwandelt, wobei sich der Einzelne die „Illusion der Autonomie“ erschaffe (vgl. King u. a., 286; 289): Die institutionelle „Verbesserungslogik“ knüpfe nur an das moderne Autonomieideal und Selbstverwirklichungsstreben an, um das „Maß der Unterwerfung“ zu kaschieren (vgl. King u. a., 286). Zu unterwerfen hätten sich die Menschen den Idealen der Effizienz- und Leistungssteigerung, wie sie v. a. für die Arbeitswelt mit ihrem verschärften Wettbewerbsdruck, hohen Ansprüchen an Flexibilität, Mobilität und Selbstorganisation und einer Beschleunigung der Arbeit typisch sind. Aufgrund der Totalität beruflicher Anforderungen und einer fortschreitenden Ökonomisierung der Lebenswelt <?page no="29"?> 29 1.2 Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends weite sich dieses ökonomische Effizienz- und Konkurrenzdenken des neoliberalen Kapitalismus von der Arbeitswelt auf das Privatleben, die sozialen Beziehungen und die gesamte Lebensführung aus (vgl. ebd., 284/ Becker u. a., 5/ Kap. 1.2). Da die ungünstigen Arbeits- und Lebensbedingungen bestehen bleiben, bedeute die „Ermächtigung“ zu Freiheit und Selbstverbesserung paradoxerweise eine Anleitung zur ständigen kompromissbereiten Anpassung an gegebene Umstände (vgl. Duttweiler, 8). Die Einzelnen unterwerfen sich aus dieser Sicht den gesellschaftlichen Anforderungen lediglich aus Angst vor dem Verlust an Anerkennung, dem sozialen Abstieg und dem Scheitern im permanenten Ausscheidungswettkampf (vgl. Bröckling, 289/ Uhlendorf u. a., 32; 46). Statt um einen Imperativ zur Selbstoptimierung handle es sich dabei genau genommen um einen „Imperativ zur Selbstausbeutung“, weil die Getriebene unter den Zwängen leiden (vgl. Uhlendorf u. a., 46). Während viele Menschen die destruktiven Risiken und psychischen und somatischen Symptome bagatellisieren, liegen bei anderen Erschöpfung und ohnmächtiges Leiden offen zutage (vgl. ebd., 32 f./ Salfeld u. a., 10 f.). Obwohl es für das mediale Schlagwort Burnout bis heute keine validen allgemeingültigen Diagnosekriterien gibt und die komplexen inneren und äußeren Ursachen noch erforscht werden, fungiert der Begriff in öffentlichen Selbstoptimierungs-Debatten geradezu als Synonym für Leistungsträger, die rund um die Uhr erreichbar sind und bis zur Erschöpfung arbeiten (vgl. Mühlhausen 2013, 122 f.). Diese neoliberalismuskritische Darstellung des Selbstoptimierungsstrebens als einverleibter Fremd-Zwang ist allerdings genauso einseitig und tendenziös wie die radikale Autonomiethese. Die skizzierten neuzeitlichen Emanzipations- und Individualisierungsbestrebungen lassen sich schwerlich auf eine reaktive Anpassung an wirtschaftliche Anforderungen reduzieren, weil sich die Menschen vom Kampf um mehr Freiheit und ein individualisiertes Glücksstreben vielmehr eine Steigerung der Lebensqualität erhofften. Die „Verschmelzung“ steigender individueller Ansprüche und marktrelevanter Forderungen ist also viel komplexer und konzeptuell schwer zu fassen (vgl. King u. a., 286). Auch gibt es in der gegenwärtigen Optimierungsgesellschaft durchaus positive Muster der Lebensführung, bei denen eine begeisterte Bejahung der zahllosen Möglichkeiten des Optimierens mit angemessener Selbst- und Fremdsorge einhergehen (vgl. Salfeld u. a., 10/ Uhlendorf u. a., 34). Menschen scheitern offenkundig nur, wenn bestimmte ungünstige psychische Startbedingungen wie niedriges Selbstbewusstsein und mangelnde Zuwendung in Primärbeziehungen und unerfüllbare äußere berufliche Anforderungen oder unsichere Arbeitsverhältnisse <?page no="30"?> 30 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext aufeinandertreffen (vgl. ebd., 32; 44/ King u. a., 287). Sie zerbrechen dann aber nicht am generalisierten Zwang zur permanenten Selbstoptimierung, sondern an Überlastung z. B. infolge von Arbeitsverdichtung, unrealistischen Arbeitserwartungen oder entgrenzter Arbeitszeit, prekärer befristeter Arbeitsverhältnisse, Doppelbelastung durch Beruf und Familie etc. Folgerichtig müsste sich die Kritik auch gegen solche ganz konkreten Missstände richten. Da nur unter bestimmten problematischen Bedingungen der Appell zur Selbstoptimierung negativ als Zwang und nicht positiv als Motivationsschub erlebt wird, gibt es keinen einfachen Zusammenhang zwischen Optimierungs- und Leistungsdruck und Erschöpfungsreaktionen oder Burnout (vgl. Uhlendorf u. a., 33; 47). Aus psychologischer Sicht sind die wenigsten Menschen masochistisch veranlagt und verschreiben sich auf Dauer Selbstoptimierungsprogrammen, die autodestruktiv sind und weder Vergnügen noch Befriedigung bringen (vgl. Balandis u. a., 148). Die befürchtete Entsolidarisierung der individualisierten Gesellschaft drohte nur dann, wenn der gesellschaftliche Ruf nach Selbstoptimierung zur Entlastung von Politik und Gesellschaft führte und der Einzelne ungeachtet unwürdiger Erwerbs- und Lebensbedingungen auch für sein Unglück selbst verantwortlich sein soll. Der sozialethisch höchst problematische Umkehrschluss zur positiven liberalen Maxime „Jeder ist seines Glückes Schmied“ lautete dann: Wer im Leben nicht alles erreicht hat und nicht sein Glück macht, hat sich nicht genug angestrengt! 3) Notwendigkeit einer Ambivalenztoleranz Klare Einordnungen der Selbstoptimierung in oppositionelle Kategorien wie „positiver Ansporn“ oder „Selbstausbeutung“, „Freiheitszuwachs“ oder „sozialer Druck“, „Weg zum Glück“ oder „Wahn“ werden der Komplexität der Thematik nicht gerecht und behindern die gesellschaftliche Debatte. Bei multifaktoriellen und vielschichtigen kulturellen Entwicklungsprozessen ist es nicht leicht auseinanderzuhalten, was „von innen“ von den Menschen selbst oder „von außen“ von der Gesellschaft kommt, deren Teil die Menschen sind. Individuelle Autonomie und gesellschaftliche Orientierungsmuster und Wertstandards schließen einander in demokratischen Gesellschaften keineswegs kategorisch aus. Optimierungsbemühungen führen nicht zwingend zu Selbstausbeutung und Erschöpfung, sondern viele Menschen haben Spaß an den neuen Möglichkeiten der Weiterentwicklung, der erhöhten Selbstkontrolle und Selbstverantwortung und dem besseren Erreichen ihrer Ziele (vgl. Balandis u. a., 134; <?page no="31"?> 31 1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement 148/ King u. a., 292). Schwerlich ist schon das typisch menschliche Bestreben problematisch, sich selbst zu verändern und das Beste aus sich und seinem Leben zu machen. Nur unangemessene, unerreichbare Perfektionsideale und ein übersteigerter Perfektionismus und Kontrollzwang führen zu Selbstüberforderung und Minderwertigkeitsgefühlen. Weder ein erfolgszuversichtliches, strukturiertes und effektives Handeln und lebenslanges Lernen zum ständigen Erwerb neuer Kompetenzen noch auch erhöhte Selbstverantwortung, Eigeninitiative und Selbstorganisation sind einem guten Leben abträglich, sondern begünstigen es im Gegenteil. Verwerflich sind nur die sich darauf abstützenden, maßlos gesteigerten und unerfüllbaren beruflichen oder gesellschaftlichen Anforderungen an die Einzelnen. Werden auch unverantwortete, sozial oder natürlich bedingte Kosten und Risiken dem Einzelnen angelastet, so werden die Ansprüche an die individuelle Selbstverantwortung deutlich überzogen und die „Pflicht zum Glück“ wird „asozial“ (vgl. Schmid 2012, 7 ff./ Gugutzer, 2). Es braucht eine gelassene und sachlich-nüchterne Einstellung, um diese grundlegende und hochgradige Ambivalenz der Selbstoptimierung erst einmal wahrnehmen zu können (vgl. Balandis u. a., 148). Ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatten sollten dann jedoch die zukunftsgerichteten Fragen rücken, welche Aspekte des Selbstoptimierungstrends sich positiv oder negativ auf das individuelle oder gesellschaftliche Leben auswirken und mit welchen Regulierungsmaßnahmen sich seine Weiterentwicklung gezielt beeinflussen lässt. Die Anwendungskontexte und verschiedenen Formen von Selbstoptimierung sind allerdings so vielfältig, dass pauschale Urteile wenig sinnvoll sind und sorgfältige Einzelfallanalysen durchgeführt werden müssen (vgl. Ach 2016, 141). 1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement Zum Zwecke der Selbstoptimierung werden immer stärker auch die ständig erweiterten und präziseren Verbesserungsmöglichkeiten der Medizin nachgefragt. Parallel zum Selbstoptimierungstrend wird infolgedessen auch ein Gestaltwandel im traditionellen Grundverständnis der Medizin hin zu einer wunscherfüllenden Medizin diagnostiziert (vgl. Kettner, 81 f./ Junker u. a., 66 f.): Während die traditionelle Medizin wesentlich kurativ war und der Heilung und Prävention von Krankheiten diente, werden medizinische Verfahren in der modernen Medizin zunehmend zur Erfüllung individueller Wünsche nach Vitalität, Lifestyle, Lebensplanung, Verschönerung des Körpers und Opti- <?page no="32"?> 32 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext mierung der normalen Funktionsfähigkeiten eingesetzt. Traditionell war die Medizin am Krankheitsbegriff orientiert und konzentrierte sich auf die Pathogenese als Entstehung von Krankheiten, wohingegen Gesundheit negativ als Abwesenheit von Krankheit definiert wurde. Im Gegensatz dazu wendet sich die wunscherfüllende Medizin der Gesundheit als einer positiven und beliebig steigerbaren komplexen „soziobiologischen Qualität“ zu und kümmert sich um die Salutogenese, d. h. die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit (vgl. Kettner, 86). Zu diesen tiefgreifenden Strukturveränderungen gehört auch ein grundlegender Wandel im Rollenverständnis und in der wechselseitigen Beziehung von Arzt und Patient: An die Stelle des zu behandelnden Patienten als einem bedürftigen, kranken oder krankheitsgefährdeten Menschen in der kurativen Medizin tritt im Rahmen der wunscherfüllenden Medizin ein gesunder und autonomer Klient oder Kunde, der eine von ihm gewünschte individualisierte Dienstleistung nachfragt. In seiner traditionellen Rolle beurteilt der Arzt mit objektivem Blick und nach etablierten Kriterien die Indikation, d. h. die Behandlungsbedürftigkeit des Patienten und übernimmt die Verantwortung für die allenfalls einzuleitende angemessene Therapie. Im neuen wunschorientierten Modell wird das Angebot hingegen nicht durch den Arzt mit seinem medizinischen Wissen und Können gesteuert, sondern letztlich durch die Nachfrage der Klienten (vgl. ebd., 87). Im Verlauf des Paradigmenwechsels in der Medizin gewinnt somit die Patientenautonomie gegenüber dem ärztlichen Paternalismus an Bedeutung, und es kommt zu einer Deregulierung und Kommerzialisierung des Gesundheitssystems. Aufgrund der dabei vorwiegend zum Einsatz kommenden biomedizinischen Methoden ist die wunscherfüllende Medizin zu einem großen Teil Enhancement-Medizin. Zur wunscherfüllenden Medizin zählen außerdem noch die gegen die „Schulmedizin“ gerichtete „Komplementär“- oder „Alternativmedizin“ mit einem ganzheitlichen Gesundheitsbegriff und die von den Kunden selbst zu zahlenden, medizinisch sinnvollen, aber nicht notwendigen „individualvertraglichen Gesundheitsleistungen (IGeL)“ (vgl. Kettner, 84 ff./ Junker u. a., 64 f.). Da die geschilderten medizinischen Strukturveränderungen in komplexe kulturelle Prozesse wie politische Programme zur Förderung medizinischer Forschung und Entwicklung, soziale Gesundheitssysteme und gesellschaftliche Hintergrundannahmen von Gesundheit und Krankheit eingebettet sind, bedarf es öffentlicher ethischer Diskurse über den Wandel im Grundverständnis der Medizin. Denn im Wettbewerb um Mitglieder geraten beispielsweise die Krankenkassen zunehmend unter Druck, über die kurativen Maßnahmen hinaus <?page no="33"?> 33 1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement entsprechend der Wünsche der Kunden auch alternative und medizinisch nicht indizierte Leistungen anzubieten. Indem Ärzte von heilenden Versorgern zu medizinischen Dienstleistern und Helfern individueller Wunscherfüllung mit ganz neuen Einkommensmöglichkeiten werden und die Kunden die gewünschten Gesundheitsleistungen selbst zahlen, droht Gesundheit zu einem Konsumgut im freien Wettbewerb der kapitalistischen Marktwirtschaft zu werden. Entgegen weit verbreiteter impliziter Unterstellungen ist der neue medizinische Leitbegriff einer präferenzorientierten Dienstleistung keineswegs „wertneutral“, sondern muss kritisch reflektiert werden (vgl. Maio 2006, 340). Befürchtet wird von Skeptikern eine problematische Verschiebung im ärztlichen Ethos von der traditionellen altruistischen „Humanität des Arztes“ zur „Egozentrik des ‚Patienten‘“ (Eberbach, 13). Ärzte und Kliniken könnten sich statt an Werten wie Gemeinwohl und Volksgesundheit bzw. an einem allgemeinmenschlichen Recht auf Gesundheit immer mehr an ökonomischen Eigeninteressen orientieren. Abzulehnen ist klarerweise ein radikalliberales Modell mit einer totalen Kommerzialisierung medizinischer Leistungen und der Einebnung des Unterschieds zwischen medizinisch indizierten und wunschmedizinischen Behandlungen, weil eine marktförmige Verteilung leicht zu einer „Fehlallokation“ der Gesundheitsleistungen führt (vgl. Kettner, 88/ Kap. 3.1, Argument 2): Während zahlungskräftige Kunden ihre Luxusbedürfnisse befriedigen können, bleiben berechtigte Ansprüche auf eine medizinische Grundversorgung möglicherweise unerfüllt. Im vorliegenden Kapitel soll es aber erst einmal nur um eine deskriptive Unterscheidung von „Enhancement“ und „Therapie“ gehen, die für eine definitorische Bestimmung des „Enhancements“ unverzichtbar ist (vgl. Synofzik 2006, 37/ Kap. 1.1). Die Möglichkeit einer solchen trennscharfen Unterscheidung wird vielfach bestritten, weil schon die Begriffe „Krankheit“ und „Gesundheit“ höchst unterschiedlich gebraucht werden. Es ist also erst einmal mittels einer Analyse der wichtigsten Krankheits- und Gesundheitsmodelle zu klären, ob das Enhancement überhaupt eine eigene, klar abgrenzbare Klasse von Handlungen bezeichnet, die im Kontrast zur ethisch unkontroversen Krankheitsbehandlung einen abgesonderten ethischen Problembereich darstellt. <?page no="34"?> 34 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext 1.3.1 Deskriptive Analyse verschiedener Krankheits- und Gesundheitsmodelle 1) Objektives biostatisches Krankheitsmodell In der medizinischen Praxis äußerst beliebt ist das auf Christopher Boorse zurückgehende objektive biostatische Krankheitsmodell, bei dem „Gesundheit“ negativ als Abwesenheit von Krankheit und „Krankheit“ als Abweichung von einem speziestypischen „normalen Funktionieren“ definiert wird (vgl. Boorse, 567/ Daniels, 28). Naturalistisch ist dieses in der Tradition der physiologischen Medizin entworfene Modell, insofern es die Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit „wertfrei“ in Bezug auf objektive, naturwissenschaftlich überprüfbare Fakten zu treffen beansprucht. Unter „normaler Funktionsfähigkeit“ wird dabei eine statistische Norm einer typischen, alters- und geschlechtsspezifischen Referenzklasse des jeweiligen Organismus verstanden. Anders als bei einem rein statistischen Normalitätsbegriff werden beim biologischen Funktionsbegriff nur diejenigen Abweichungen von einem statistischen Mittelwert als krankhaft interpretiert, die speziestypische Funktionen verhindern. Damit sind aber nicht alle Probleme einer statistischen Krankheitsdefinition überwunden, weil bezogen auf die altersspezifische Referenzklasse statistisch häufige Erscheinungen wie z. B. Karies, Osteoporose oder Prostatakrebs trotz einschränkender biologischer Funktionen „normal“ und damit eigentlich keine „Krankheiten“ wären (vgl. Werner, 146). Zudem lassen sich bei vielen organischen Funktionen durch statistische Erhebungen nur gewisse Normbereiche festlegen, wobei die Grenze zwischen „normal“ und „krankhaft“ von kulturellen Deutungen abhängt und somit nicht völlig wertfrei ist. Ein typisches Beispiel wäre ein niedriger Blutdruck jenseits eines bestimmten Normbereichs, der nur in Deutschland als Indiz für eine Krankheit aufgefasst und in Großbritannien spöttisch „German disease“ genannt wird. An seine Grenzen stößt das biostatische Modell v. a. auch im psychosozialen Bereich, da psychische Krankheiten bzw. Störungen noch viel stärker von kulturellen Vorstellungen von „normalem“ und „nichtnormalem“ Verhalten und von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen abhängen. Boorses Definition von psychischen Krankheiten als Störungen der Wahrnehmung und der kognitiven Funktionen analog zu physischen Funktionsstörungen erscheint als reduktionistisch und inadäquat (vgl. Lenk 117 f.; 120 f.). Die Kritik am biostatischen Krankheitsmodell richtet sich entsprechend gegen den Anspruch auf naturwissenschaftliche Exaktheit und Wertfreiheit, ob- <?page no="35"?> 35 1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement schon durchaus nicht alle Anhänger einen Naturalismus im strengen Sinn vertreten (vgl. etwa Daniels, 30/ Buchanan u. a., 151). Auf der physiologischen Ebene von Zellen und Organen lassen sich jedoch unwillkürliche Funktionsstörungen wie beispielsweise entartete und unkontrolliert wuchernde Tumorzellen, eine Lungenventilationsstörung oder eine Störung des Bewegungsapparates relativ wertfrei und deskriptiv als „Krankheiten“ ausweisen, sodass auch die Grenze zwischen Therapie und Enhancement klar gezogen werden könnte. 2) Subjektivistischer lebensweltlicher Wohlbefindens-Ansatz Im Kontrast zum objektiven Krankheitsmodell geht der subjektive lebensweltliche Wohlbefindens-Ansatz von einem positiven, maximalistischen Begriff von „Gesundheit“ als einem Idealzustand subjektiven Wohlbefindens aus. „Krankheit“ hingegen stellt eine Beeinträchtigung des subjektiven Wohlbefindens dar. Exemplarisch dafür ist die bekannte Definition der WHO von „Gesundheit“ als „Zustand vollkommenen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit und Behinderung“ (WHO 1946). Im Zuge des Selbstoptimierungstrends kam es zu einer Individualisierung des Gesundheitsverständnisses und einem Erstarken des sogenannten zweiten Gesundheitsmarktes (vgl. Mühlhausen u. a. 2013, 5 f.; 17): Gesundheit wird nicht mehr allein über die Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern von rund 80 % der Befragten mit persönlichem Wohlbefinden assoziiert. Statt mit „Wohlbefinden“ wird „Gesundheit“ auch mit „Glück“ oder „Lebensqualität“ gleichgesetzt, so etwa von Horst Baier oder Lennart Nordenfelt (vgl. Baier, 100/ Nordenfelt, 7). Für das medizinische Gesundheitssystem und eine klare Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit eignen sich solche subjektive lebensweltliche Modelle von Gesundheit allerdings nicht, weil positive Gesundheitsvorstellungen von Wohlbefinden oder Glück nach oben hin keine Grenze kennen. Da sich die meisten Menschen weit weg vom Zustand vollkommenen Glücks oder maximaler Lebensqualität entfernt wähnen und sich eine Steigerung ihres aktuellen Wohlbefindens wünschen, wären dann strenggenommen alle Menschen krank. Auch die Trennung von Therapie und Enhancement wäre obsolet, weil jede das subjektive Wohlbefinden und damit die Gesundheit befördernde Maßnahme als Therapie zu bezeichnen wäre. Aus einer wissenschaftlichen philosophischen und medizinischen Perspektive können das subjektive Erleben einer Störung des Wohlbefindens und ein subjektives Leid lediglich dafür bedeutsam sein, ob sich der Einzelne als krank <?page no="36"?> 36 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext ansieht oder nicht. Sie können aber nicht die Kernbedeutung des Krankheitsbegriffs ausmachen und bestimmen, was Krankheit ist, sondern stellen nur Zusatzkriterien dar (vgl. Schramme 2013, 10). Da die Quellen von vermindertem Wohlbefinden oder subjektivem Leid neben organischen Ursachen ganz unterschiedliche sein können, drohte bei einer lebensweltlichen Interpretation von Krankheit und Gesundheit die Gefahr einer Medikalisierung von Umwelt- und Lebensproblemen: Würden beispielsweise auch Beeinträchtigungen aufgrund ungünstiger gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen als individuelle Krankheiten interpretiert, fielen auch sie irrtümlicherweise in den Zuständigkeitsbereich der Ärzte und mutierten zum Gegenstand individueller Therapie (vgl. Lenk, 145; 177). 3) Relationale Ansätze von Gesundheit und Krankheit Zur Überwindung der Einseitigkeit in der Betonung der subjektiven und objektiven Komponenten der anderen Modelle beziehen relationale Krankheitsmodelle die äußere Umwelt mit ein und definieren Krankheit als Unfähigkeit zur Erreichung selbstgesetzter Ziele oder zur Bewältigung von äußeren gesellschaftlichen Anforderungen (vgl. Heiliger, 66 f./ Walcher, 52 f.). „Krankheit“ bedeutet in diesem Verständnis also ein gestörtes Verhältnis oder ein Ungleichgewicht zwischen internen Ressourcen oder Fähigkeiten des Individuums und externen Umweltfaktoren. Es lassen sich dabei Adaptionstheorien mit ähnlichem empirischem Selbstverständnis und dem Anspruch auf universelle Geltung wie biostatische Modelle sowie normativistische und stärker lebensweltlich geprägte handlungstheoretische Ansätze unterscheiden (vgl. Lenk, 40 f.). Während in naturalistischen Krankheitsmodellen „Krankheit“ und „Gesundheit“ wie gesehen objektive, wertfrei beschreibbare Zustände darstellen, sind sie in handlungstheoretischen normativistischen Theorien Zuschreibungen vor dem Hintergrund individueller Handlungsziele oder gesellschaftlich anerkannter Wertvorstellungen und Normen. Gemäß dem Vertreter der individualistischen Spielart handlungstheoretischer Ansätze und schärfsten Kritiker des biostatischen Krankheitsmodells Lennart Nordenfelt ist eine Person „vollkommen gesund“, wenn sie „fähig ist, unter gegebenen normalen Umweltbedingungen alle ihre maßgeblichen Ziele zu realisieren.“ (Nordenfelt, 96) Bei kulturalistischen Varianten treten an die Stelle individueller Ziele gesellschaftliche Vorgaben, sodass je nach den spezifischen Anforderungen einer Gesellschaft etwa an Körperkraft oder kognitiven Fähigkeiten ein Unvermögen wie Legasthenie entweder <?page no="37"?> 37 1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement gänzlich unbedeutend oder eine psychische Störung sein kann (vgl. Lenk, 194 f.). Für den psychosozialen Bereich bieten normativistische Modelle gegenüber naturalistischen ein angemesseneres Krankheits- und Gesundheitsverständnis an, weil psychische Gesundheit als Fähigkeit zur Bewältigung von internen oder externen Anforderungen dank persönlicher Strategien besser charakterisiert ist (vgl. Bobbert, 414). Allerdings ist ein relationales Krankheitsverständnis sehr vage und enthält relativistische und dezisionistische Momente. Denn ob jemand gesund oder krank ist, hinge dann von beliebigen subjektiven Wünschen oder gesellschaftlichen Erwartungshaltungen ab. Außerdem suggeriert die Etikettierung als „krank“ das Vorliegen einer internen Abnormität, obwohl ein Ungleichgewicht von Individuum und Umwelt nicht zwangsläufig auf einen pathologischen Lebensprozess hindeutet (vgl. Lenk, 216 f.). Vielmehr können entweder die gewählten subjektiven Ziele mit Blick auf gegebene persönliche Fähigkeiten oder Umweltbedingungen völlig unangemessen oder aber die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse repressiv und ungerecht sein. 4) Integratives Krankheitsmodell für die Therapie-Enhancement- Unterscheidung Insbesondere in dem für die Enhancement-Debatte relevanten medizinischen Kontext vermag das objektive biostatische Krankheitsmodell am meisten zu überzeugen: Krankheit als wissenschaftlicher Begriff ist im Wesentlichen eine Störung („disorder“) speziestypischer normaler physischer oder psychischer Funktionen, die zumindest im physisch-organischen Bereich relativ wertfrei auf der Grundlage statistischer und biomedizinischer Erkenntnisse beschreibbar sind (vgl. Schramme 2013, 10). Es lassen sich aber Naturalismus und Normativismus prinzipiell vereinbaren und die von den drei Krankheitsmodellen hervorgehobenen Aspekte sinnvoll in einem integrativen Krankheitsmodell kombinieren, das Offenheit und Spielräume eingesteht (vgl. Lenk, 226 f.; 230 f.): Der objektive Aspekt einer empirisch feststellbaren funktionalen Störung oder Abnormität als eindeutiger Hinweis auf eine Krankheit muss zwar unbedingt vorhanden sein und spielt somit eine zentrale Rolle, reicht aber allein nicht aus. Vielmehr muss diese pathologische Abweichung zusätzlich das subjektive Wohlbefinden vermindern oder die Verwirklichung subjektiver wichtiger Lebensziele oder Einhaltung gesellschaftlicher Normen behindern. Kritiker der Gesundheits-Krankheits-Unterscheidung wenden allerdings ein, insbesondere im psychischen Bereich gebe es keine klare Grenze zwischen voller und einge- <?page no="38"?> 38 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext schränkter Funktionsfähigkeit der psychischen Funktionen bzw. zwischen optimalem Wohlergehen und schwerer Beeinträchtigung, konkret etwa zwischen Vergesslichkeit und schwerer Demenz oder zwischen Niedergeschlagenheit und krankheitswertiger Depression (vgl. Synofzik 2006, 38/ Walcher, 57 ff.). Tatsächlich sind Krankheit und Gesundheit insofern graduierbare Phänomene, als es ein Kontinuum zwischen leichten bis schweren Krankheiten oder Störungen gibt und Gesundheit jenseits medizinischer Indikation auf einer nach oben hin offenen Skala steigerbar ist. Das Fehlen einer absoluten und trennscharfen Grenze beweist jedoch keineswegs die Unhaltbarkeit des Krankheitsbegriffs, da auch viele andere Begriffe wie „Kunst“ oder „Religion“ im Bereich sozialer bzw. institutioneller Tatsachen weder aufgrund von Grauzonen noch ihrer Abhängigkeit von gesellschaftlichen Werten verabschiedet werden müssen. Würde man aber wie im subjektivistischen Wohlbefindens-Modell nur einen Maximalbegriff einer Gesundheit als vollkommenen Idealzustand gelten lassen und einen medizinischen Minimalbegriff bzw. negativen Begriff von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit ablehnen, wären alle Menschen krank und die in der Medizin erforderliche Krankheits-Gesundheits-Unterscheidungen unhaltbar. Auch könnte es wie gesehen einer Medikalisierung Vorschub leisten, wenn Krankheit ausschließlich über ein subjektives Leid oder das Nichtbewältigen interner oder externer Anforderungen definiert würde. Unabhängig von der Enhancement-Debatte ist also eine Grenzziehung von Krankheit und Gesundheit in einem deskriptiven Sinn sehr wohl möglich und hat sich in der Praxis bewährt: Nicht nur im solidarisch finanzierten medizinischen Gesundheitssystem, sondern in zahlreichen anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie der Rechtsprechung oder dem Absenzensystem der Arbeitswelt ist eine einigermaßen klare Bestimmung pathologischer Zustände unverzichtbar. Diese deskriptive Krankheits-Gesundheits-Unterscheidung bildet eine hinlänglich solide Basis, um Therapie und Enhancement voneinander abzugrenzen und einen Strukturwandel im Medizinsystem von einer kurativen hin zu einer wunscherfüllenden oder Enhancement-Medizin mit unterschiedlichen Zielsetzungen festzustellen: Während es in der traditionellen Medizin um Therapie mit den Zielen der Heilung oder Prävention von Krankheiten gemäß einer objektiven medizinischen Indikation geht, zielt die Enhancement-Medizin auf eine medizinisch nicht indizierte Steigerung der Gesundheit auf den subjektiven Wunsch der Kunden hin. Obwohl sich mit dieser deskriptiven Analyse „Enhancement“ als Diskussionsgegenstand besser eingrenzen und als eigen- <?page no="39"?> 39 1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement ständige Klasse von Handlungen ausweisen ließ, ist damit noch nichts gesagt über die normative Bewertung der jeweiligen Handlungstypen. Zu vermeiden sind voreilige Schlüsse von der deskriptiven Treatment-Enhancement-Unterscheidung auf die normative Differenz von ethisch gebotener Therapie und ethisch illegitimem Enhancement (vgl. dazu Synofzik 2009, 50 ff.). Im Einzelfall kann eine unterschiedliche Beurteilung nämlich ethisch fragwürdige Konsequenzen haben, wie das in der Enhancement-Debatte vieldiskutierte Beispiel von Dan Brock zeigt (vgl. Buchanan u. a., 115): Der 11jährige Jonny hat ein Wachstumshormondefizit und ist aufgrund dieser Funktionsstörung im Sinne eines naturwissenschaftlichen biostatischen Krankheitsbegriffs „krank“ und damit behandlungsbedürftig. Dem gleichaltrigen Billy hingegen fehlen zwar keine Hormone, aber er wird als Kind extrem kleiner Eltern auch höchsten 1.60-m groß und genauso wie Jonny gehänselt werden und unter dem abnormen Kleinwuchs leiden. Wäre eine normative Verwendung eines objektiven naturalistischen Krankheitsbegriffs bei diesem gleichen empirischen Phänomen und gleichem subjektivem Leidensdruck nicht ungerecht? Wieso ist eine „Therapie“ überhaupt moralisch geboten und wieso sollen normale speziestypische Funktionen oder wertneutrale statistische Referenzwerte eine Obergrenze legitimer medizinischer Eingriffe bilden? Wäre nicht vielmehr die Erweiterung des gegebenen biologischen Spektrums der Gattung geboten, weil eine Verbesserung beispielsweise des Immunabwehrsystems oder intellektueller Fähigkeiten über die Spezies-Grenze hinaus grundsätzlich wünschenswert sind (vgl. Buchanan u. a., 127/ Juengst, 33 f.)? 1.3.2 Notwendigkeit einer normativen Rechtfertigung von Therapie und Enhancement Die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ sind nicht neutral, sondern wertend und bringen mit ihren Konnotationen lebensweltlich kaum hinterfragte implizite Werthaltungen zum Ausdruck: „Gesundheit“ gilt allgemein als hoher Wert und hohes Gut, wohingegen „Krankheit“ eine negative Wertung enthält und ein Übel oder eine Notsituation anzeigt. Zudem ist der Krankheitsbegriff ein „praktisch normativer Begriff “, weil er mit der Aufforderung zur Bekämpfung des unerwünschten Krankheitszustandes und zur Wiederherstellung von Gesundheit mittels therapeutischer Maßnahmen verbunden ist (vgl. Boppert, 417). Ein in Europa jedem Individuum zugesprochener moralischer und rechtlicher Anspruch auf Gesundheit ergibt sich aber keineswegs automatisch <?page no="40"?> 40 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext aus deskriptiven Tatsachenbeschreibungen, sondern erfordert eine rationale Begründung mittels ethischer Argumente und allgemein nachvollziehbarer rationaler Gründe. Letztlich ist die Therapie eindeutig Kranker daher genauso rechtfertigungspflichtig wie das Enhancement eindeutig Gesunder. Insofern wird in der Enhancement-Debatte zu Recht verlangt, die Beurteilung der ethischen Notwendigkeit oder Unzulässigkeit von medizinischen Eingriffen müsse unabhängig von der Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit bzw. Enhancement und Therapie erfolgen (vgl. Talbot u. a., 260). Unzureichend sind willkürliche Einzelfallentscheidung z. B. anhand des scheinbar voraussetzungsarmen ethischen Kriteriums des Nutzens einer gewünschten Maßnahme, solange sich die Abwägung auf die faktischen subjektiven Präferenzen der beteiligten Ärzte und Patienten beschränkt und die tieferliegenden normativen Hintergrundannahmen unreflektiert bleiben (vgl. Synofzik 2006, 39). Unabdingbar sind gesellschaftliche Verständigungsprozesse über die für alle Menschen wichtigen Eigenschaften und Fähigkeiten sowie die Aufgaben der Medizin. Denn es müssen gesellschaftliche Entscheidungen über die Verwendung der begrenzten Ressourcen an medizinischem Personal und öffentlichen Geldern für die Entwicklung und Bereitstellung neuer Technologien getroffen werden. Einerseits sind mit den immer stärker werdenden individuellen Wünschen nach Selbstoptimierung Ansprüche und Forderungen auf eine jedem Menschen zustehende medizinische Unterstützung verbunden, die eine Umgestaltung des Gesundheitswesens bedingen. Andererseits beeinflussen die öffentliche Legitimierung, die Schaffung entsprechender institutioneller Rahmenbedingungen und ein immer häufigerer Einsatz neuer medizinischer Praktiken das menschliche Selbstverständnis, die Vorstellungen von Lebensqualität und das Zusammenleben in der Gesellschaft. Eindeutig ungerecht wäre eine Regulierung des medizinischen Angebots über den freien Wettbewerb von Angebot und Nachfrage, weil dann Menschen mit seltenen, aber stark beeinträchtigenden Störungen keine Chance auf Hilfe hätten. Zur Rechtfertigung einer solidarisch zu finanzierenden Therapie bietet sich etwa der handlungsreflexive Ansatz an, wie er von Alan Gewirth und Klaus Steigleder vorgelegt wurde. Den methodischen Ausgangspunkt dieser Moraltheorie bildet die Reflexion auf die notwendigen Bedingungen menschlicher Handlungsfähigkeit, ohne die sich ethische Fragen nach dem richtigen Handeln überhaupt nicht stellen würden (vgl. dazu Fenner 2007, 116 ff.). Zu den grundlegendsten Voraussetzungen für freiwilliges und zielgerichtetes menschliches Handeln gehören Freiheit und „Elementargüter“ wie Leben, physische und <?page no="41"?> 41 1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement psychische Integrität (vgl. Steigleder, 158 f.). Als ethisch geboten lassen sich auf diese Weise zum einen medizinische Maßnahmen ausweisen, die das Überleben und die Intaktheit grundlegender physischer und psychischer Funktionen gewährleisten: Während lebensbedrohliche, Lebensfunktionen mindernde oder schmerzhafte Krankheiten klarerweise die physische Integrität beeinträchtigen, gefährden psychische Störungen wie Ängste oder Depressionen die psychische Integrität der Handlungssubjekte. Zum andern kann durch die gleichen Krankheiten sowohl die Handlungsfreiheit aufgrund von Einschränkungen der körperlichen Bewegungsmöglichkeiten als auch die Willensfreiheit oder Selbstbestimmung infolge verzerrter psychischer Funktionen des Wahrnehmens, Fühlens und Urteilens eingeschränkt werden (Kap. 2.3). Vor dem Hintergrund individuell sehr unterschiedlicher Lebensziele und -konzepte können sich zwar dieselben Krankheiten sehr unterschiedlich auf die Handlungsfähigkeit verschiedener Personen auswirken. So schränkt eine Mehlstauballergie einen Bäcker, nicht aber das Vorstandsmitglied einer Bank ein, und Probleme mit der Handsehnenscheide bedeuten für einen Berufsmusiker eine viel stärkere Beeinträchtigung als für einen Gesprächspsychotherapeuten (vgl. Bobbert, 430). Gemäß Norman Daniels Konzept des „normal functioning“ sollen Krankheiten aber unabhängig von solchen divergierenden Auswirkungen aufgrund unterschiedlicher Talente behandelt werden, damit allen Menschen ein normales Chancenspektrum zukommt: Gemeint ist die Gesamtheit aller Lebenspläne, die vernünftige Personen in einer bestimmten Gesellschaft zur jeweiligen Zeit wählen und von denen jedes Handlungssubjekt den zu seinen individuellen Fähigkeiten am besten passenden realisieren können soll (vgl. Daniels, 33 f.). Letztlich ist die durch eine medizinische Grundversorgung zu schützende allgemeine „Handlungsfähigkeit“ also in der jeweiligen Gesellschaft zu konkretisieren, weil z. B. eine Dyslogie nur in einer litteralen Gesellschaft eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bedeutet (vgl. dazu Buchanan, 122 f.). Die ethische Legitimität des Enhancements zu prüfen ist Aufgabe der kommenden Kapitel. <?page no="42"?> 42 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext 1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten 1.4.1 Elementare Differenzierungen von Verbesserungs-Handlungen Kompensatorische - progrediente Verbesserungen Für eine differenzierte Beurteilung der Selbstoptimierung sind neben der äußeren Abgrenzung gegenüber therapeutischen Maßnahmen noch einige Binnendifferenzierungen erforderlich. Das wichtigste begriffliche Gegensatzpaar ist dasjenige von „kompensatorischen“, d. h. „ausgleichenden“, und „progredienten“ oder „progressiven“ Verbesserungen (vgl. Nagel u. a., 32/ Gesang, 70/ Fink, 15): Kompensatorisches Enhancement meint Verbesserungen menschlicher Eigenschaften oder Fähigkeiten, die unterdurchschnittlich ausgeprägt sind und auf ein „normales“ oder durchschnittliches Niveau in einer Gesellschaft angehoben werden. Strenggenommen ist die Begriffsfügung „kompensatorisches Enhancement“ jedoch widersprüchlich, nachdem oben das „Enhancement“ als biomedizinische Verbesserung des menschlichen Organismus über ein bestimmtes Maß an Normalität oder normalem Funktionieren eines Menschen hinaus definiert wurde (Kap. 1.1). In einem engen oder eigentlichen Sinn wäre nur das in der Debatte zumeist im Zentrum stehende „progressive“ oder progrediente Enhancement überhaupt ein „Enhancement“, weil es sich nur bei diesem um eine Steigerung über das Normalmaß hinaus handelt. Wird das Adjektiv „kompensatorisch“ statt mit dem Neologismus „Enhancement“ mit den allgemeineren Begriffen einer prozessual verstandenen „Verbesserung“ oder „Selbstoptimierung“ kombiniert, verschwindet zwar der begriffliche Widerspruch, aber die Grenze zur Therapie verwischt. Denn jede Therapie zur Behandlung von Krankheiten ist genau besehen nichts anderes als eine kompensatorische Verbesserung, weil durch die Heilung der Krankheit als einer Funktionsstörung ein speziestypisches Normalniveau erreicht werden soll. Das „kompensatorische Enhancement“ ließe sich jedoch als eine Zwischenstufe zwischen „Therapie“ und „progredientem Enhancement“ interpretieren, in der anders als bei der Therapie keine medizinische Indikation bzw. kein Krankheitswert vorliegt. Ein „kompensatorisches Enhancement“ oder eine „kompensatorische Selbstoptimierung“ wären somit Verbesserungen von Eigenschaften oder Fähigkeiten, die nach dem objektiven biostatischen Modell nicht krankhaft verändert sind, sich aber unterhalb des Durchschnitts bzw. der rein statistischen <?page no="43"?> 43 1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten gesellschaftlichen „Normalität“ befinden (Kap. 1.3; 2.4). Ethisch relevant ist der Unterschied zwischen „kompensatorischem“ und „progredientem Enhancement“, weil „kompensatorische“ Verbesserungen nicht in gleicher Weise wie „progrediente“ mit Gerechtigkeitsproblemen und der Gefahr eines weiteren Auseinanderdriftens der Schere in der Gesellschaft verknüpft sind (vgl. unten). Autonome - heteronome Verbesserungen Eine weitere elementare Unterscheidung ist die zwischen einem „autonomen, dezentralen, individuellen“ und einem „heteronomen“ und in den meisten Fällen „zentralen, staatlichen“ Enhancement (vgl. Gesang, 38 f./ Brock 1998, 52 ff.). In aktuellen Diskussionen über Selbstoptimierung und Enhancement wird ohne weitere Angaben stets von einem autonomen, freiwilligen Enhancement ausgegangen, bei dem ein freies, autonomes Wesen Urheber der Optimierungsmaßnahmen ist. Es ist also das Individuum selbst, das sich freiwillig für Veränderungen entscheidet, die es persönlich für Verbesserungen hält. Diese Form der Selbstoptimierung wird auch als „liberales Enhancement“ bezeichnet, weil im Liberalismus die individuelle Freiheit großgeschrieben wird (vgl. Agar 2004, 5/ Gesang, 38). Beim heteronomen, staatlichen Enhancement legen im Gegensatz dazu der Staat oder andere Menschen fest, was eine Verbesserung sein soll. Die Optimierungsziele werden den Einzelnen also von außen vorgegeben und eventuell sogar mit einem geeigneten Sanktionensystem durchgesetzt. Formen eines repressiven „heteronomen, staatlichen Enhancements“ finden sich real nur in totalitären Staaten, wo ein diktatorisches Regime auf der Grundlage demokratiefeindlicher politischer Programme fragwürdige „Verbesserungen“ durchzusetzen versucht wie in der Vergangenheit im nationalsozialistischen Deutschland mit seinem Eugenik-Programm oder in der Gegenwart im kommunistischen China mit einem noch im Aufbau befindlichen Social-Credit-System. Da ein solches diktatorisches heteronomes Enhancement mit den in liberalen Demokratien garantierten Freiheitsrechten unvereinbar ist, geht es in aktuellen Debatten fast ausschließlich um ein autonomes, freiwilliges Enhancement. Als gangbares Zwischenmodell zwischen einem radikalen marktliberalen und einem diktatorischen heteronomen Enhancement-Modell werden am Rande aber auch die demokratisch legitimierte Form eines sozialdemokratischen Enhancements diskutiert, bei dem zentral gesteuerte Maßnahmen zur Förderung von menschlichen Grundgütern und -fähigkeiten oder zur Vermeidung großer Nachteile für Individuum oder Gesellschaft auf demo- <?page no="44"?> 44 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext kratische Weise beschlossen werden (vgl. Brock 1998, 53/ Glover, 51). Letztlich kommt ein bürgerliberaler Staat mit einer sozialen Marktwirtschaft zumindest um eine gesellschaftliche Rahmenordnung mit Restriktionen für ein marktliberales Enhancement nicht herum, um eine weitere Verschärfung gesellschaftlicher Ungleichheit zu vermeiden (vgl. Gesang, 52 f./ Buchanan u. a., 339 f.). Die Bürger könnten dann aber unter den staatlich erlaubten oder sogar finanziell unterstützten Hilfsmitteln immer noch frei auswählen oder darauf verzichten. Moderate - radikale Verbesserungen Als wichtig erachtet wird oft auch der Gegensatz von „moderaten“ und „radikalen“ Verbesserungen (vgl. Agar 2014, 2 f./ Gesang, 39 f.): Bei moderaten Verbesserungen werden die beim Menschen bereits vorhandenen Eigenschaften und Fähigkeiten in moderaten, d. h. bescheidenen oder gemäßigten Schritten gesteigert, sodass sie innerhalb oder nahe an den bereits menschenmöglichen bleiben. Die etwa von Trans- oder Posthumanisten anvisierten radikalen Verbesserungen sind demgegenüber extreme Steigerungen auf Spitzenwerte, die bisher von Menschen noch nicht erreicht wurden. So könnte beispielsweise eine Steigerung der Intelligenz bis etwa 10 Punkte im IQ-Test als moderat, die um 100 Punkte hingegen als radikal bezeichnet werden. Die Verteidiger dieser begrifflichen Abgrenzung geben zwar zu, dass die Trennlinie zwischen moderatem und radikalem Enhancement nur vage und grob angegeben werden kann (vgl. Agar 2014, 3/ Gesang, 41). Sie sei aber aus ethischen Gründen außerordentlich wichtig, weil nur moderate Verbesserungen ethisch erlaubt werden könnten. Dafür werden zum einen moralische Gründe geltend gemacht, die auf negative Folgen eines radikalen Enhancements für andere Menschen oder die Gesellschaft aufmerksam machen: Da solche radikale Verbesserungen durch traditionelle Methoden wie Training und Bildung nicht mehr kompensiert werden können, wären Naturbelassene stark benachteiligt und es könnte schlimmstenfalls zu einer Spaltung der Gesellschaft kommen (vgl. Agar 2014, Kap. 8/ Gesang, 52 f.). Zum anderen werden individualethische, das Glück der Einzelnen betreffende Gründe angeführt (vgl. Agar, Kap. 2-5): Obwohl objektiv betrachtet jede Steigerung wünschenswerter Fähigkeiten eine Verbesserung darstelle, nehme die Bedeutung von neuen, sich von bisherigen Standards weit entfernenden Erfahrungen für die Menschen selbst von einem bestimmten Punkt an notwendig wieder ab (vgl. 3 f.; 17). Allerdings erfolgen selbst die von Posthumanisten angestrebten radikalen Verbesserungen faktisch immer <?page no="45"?> 45 1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten schrittweise im Laufe einer längeren technischen Entwicklungsphase, während der sich menschliche Vorstellungskraft, Tätigkeitsfelder und Normen kontinuierlich anpassen können. Individualethisch fatal wären nur eher unwahrscheinliche Identitätsverluste oder Entfremdungserfahrungen infolge radikaler plötzlicher Veränderungen (vgl. ebd., Kap. 4). Gegen die angeblich ethisch zentrale Unterscheidung zwischen radikalem und moderatem Enhancement spricht außerdem, dass moderates Enhancement prinzipiell kumulierbar ist und viele moderate Verbesserungen ein radikales Enhancement ergeben. Um die erwähnte moralische Gefahr zu bannen, müsste die Grenze eines moderaten Enhancements daher absolut angegeben und staatlich kontrolliert werden können (vgl. Gesang, 65). Intrinsische - extrinsische Verbesserungen Zumeist eher implizit werden „intrinsische“ und „extrinsische“ Optimierungsziele und damit „intrinsische“ und „extrinsische Verbesserungen“ voneinander abgegrenzt (vgl. Agar, 18; 26/ Gesang, 47): Intrinsische Verbesserungen tragen ihren Wert in sich selbst, indem sie den optimierten Individuen zu in sich wertvollen Eigenschaften und Fähigkeiten oder zu dadurch ermöglichten selbstzweckhaften Tätigkeiten verhelfen. Intrinsische Güter sind Zustände oder Tätigkeiten, die wie z. B. Freude, Lust, Spazieren oder Musizieren ungeachtet ihrer nützlichen Folgen um ihrer selbst willen gewünscht werden und zu einem guten Leben beitragen (Kap. 2.1). Extrinsische Verbesserungen jedoch haben lediglich instrumentellen Wert und werden aufgrund „externer“ äußerer Vorteile für die Betroffenen selbst oder andere Personen geschätzt. Typische externe Ziele sind äußere Belohnungen, soziale Anerkennung und beruflicher Erfolg. Diese begrifflich scharfe Entgegensetzung suggeriert jedoch fälschlicherweise eine Aussließlichkeit. Denn die meisten im Rahmen der Selbstoptimierung vorgenommenen Veränderungen stellen ebenso intrinsische wie auch extrinsische Verbesserungen dar, weil die erreichten besseren Eigenschaften oder Fähigkeiten sowohl von intrinsischem als auch extrinsischem Wert sind: So können z. B. pharmakologisch optimierte kognitive Fähigkeiten nicht nur die Karriere befördern, sondern auch viel Freude und Zufriedenheit beim effizienteren Erlernen neuer Sprachen, beim verfeinerten Kunstgenuss oder wissenschaftlichem Arbeiten mit sich bringen. Infolgedessen greift der häufige Vorwurf gegen das Selbstoptimierungsstreben insgesamt oder gegen ein radikales Enhancement zu kurz, es gehe dabei statt um intrinsische lediglich um extrinsi- <?page no="46"?> 46 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext sche Güter. Da individuelle Optimierungsmaßnahmen prinzipiell auch wegen intrinsischer Güter vorgenommen werden können, sind Selbstoptimierung und Enhancement nicht notwendig auf externe, instrumentelle Gütern eingeschränkt. Lediglich bestimmte Formen oder Mittel der Selbstoptimierung wie beispielsweise die digitale Selbstvermessung drohen die intrinsische Motivation etwa am Laufen zu schmälern, sofern sie zu einer permanenten Fokussierung auf die angezeigten Zahlenwerte oder Lob bzw. Ermahnungen durch die Geräte verleiten (Kap. 3.2). Nicht überzeugend begründen oder belegen lässt sich auch die abstrakt-allgemeine These, nur der instrumentelle Wert nehme mit einem Enhancement immer weiter zu, wohingegen der intrinsische bei radikalen Veränderungen irgendwann notwendig abnehme (vgl. Agar, 28/ oben). Absolute, nichtkompetitive - relative, kompetitive Verbesserungen Unmittelbar verknüpft mit dem Gegensatzpaar „intrinsisch“ und „extrinsisch“ ist dasjenige von „absoluten, nichtkompetitiven“ und „relativen, kompetitiven“ Verbesserungen, wobei „kompetitiv“ so viel wie „wetteifernd, sich mitbewerbend“ meint: Absolute, nichtkompetitive Verbesserungen sind intrinsische Verbesserungen, deren Wert oder Nutzen völlig unabhängig von einem Vergleich mit anderen Menschen für sich besteht. Demgegenüber bemisst sich der Wert oder Nutzen von relativen, kompetitiven Verbesserungen in Relation zu Eigenschaften oder Fähigkeiten der Konkurrenten. Da es also um einen Vergleich mit der „Position“ oder Stellung der Mitmenschen geht, spricht man statt von kompetitiven auch von positionalen Gütern in Unterschied zu absoluten Gütern (vgl. Ranisch u. a., 46 f./ Ach 2016, 124). Typische Beispiele für solche positionale Güter sind Körpergröße, Schönheit oder geistige Leistungsfähigkeit, deren Nutzen sich einem „Mehr“ gegenüber Menschen mit geringerer Körpergröße, Schönheit oder Leistungsfähigkeit zu verdanken scheint. Der gängige Vorwurf gegen Enhancement allgemein oder speziell ein solches relatives, kompetitives Enhancement lautet, dieses sei unfair und selbstwidersprüchlich (vgl. Brock 1998, 60/ Schleim, 200 f.): Aus moralischer Perspektive sei das Enhancement in Wettbewerbssituationen verwerflich, weil sich nicht alle die Optimierungsmaßnahmen leisten könnten und der Nutzen des einen zwangsläufig auf Kosten anderer gehe (vgl. dazu oben/ Kap. 4.4). Wenn sich hingegen alle Menschen gewisse Verbesserungen wünschten und auch erzielen könnten, wäre das Enhancement widersprüchlich und selbstzerstörerisch. Denn in diesem Fall würde niemand von der vermeintlichen Verbesserung profitieren, <?page no="47"?> 47 1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten weil es zu einem sinnlosen „Wettrüsten“ käme, bei dem niemand seine Position verbessern könnte. Würden beispielsweise alle Menschen ihre Körpergröße manipulieren oder ihr Hirn „dopen“, würde sich lediglich die Durchschnittsgröße bzw. die Leistungsgrenze nach oben verschieben und alle müssten die Kosten für den Aufwand sowie allfällige Risiken der Medikamente tragen. Bei dieser Kritik wird aber einseitig der außenorientierte Leistungsaspekt hervorgehoben und fälschlicherweise unterstellt, alle Formen von Enhancement würden nur extrinsische, kompetitive Vorteile mit sich bringen. Neben den oben erwähnten absoluten privaten Vorteilen wie Freude an der Schönheit oder Wertschätzung des differenzierteren Denkens könnten zudem noch absolute gesellschaftliche Vorteile erzielt werden, indem geistig leistungsfähigere Gesellschaftsmitglieder einen objektiv größeren Beitrag zum Allgemeinwohl z. B. durch wissenschaftliche Entdeckungen leisten. 1.4.2 Opposition zwischen Biokonservativen und Bioliberalen Wo ein Überblick über die Enhancement-Debatte gegeben werden soll, wird diese meist in Anlehnung an ein politisches Lagerdenken als Opposition zweier widerstreitender Richtungen dargestellt (vgl. Ranisch, 201 f./ Eissa, 24/ Schoilew, 6): Auf der einen Seite befinden sich die oft religiös oder metaphysisch geprägten Biokonservativen, die technologischen Methoden der menschlichen Selbstoptimierung im Gegensatz zu traditionell-konservativen skeptisch bis klar ablehnend begegnen. Auf der anderen Seite stehen die Bioliberalen, die neue Biotechnologien grundsätzlich als Erweiterung der menschlichen Handlungsmöglichkeiten begrüßen. Bei dieser Gegenüberstellung handelt es sich aber keineswegs um eine bloß akademische Auseinandersetzung, sondern umgekehrt soll der insbesondere in den USA in den letzten Jahrzehnten geführte „Kulturkampf “ von Gesellschaft und Politik auf die Bioethik „übergeschwappt“ sein (vgl. Ranisch, 202 f.). Obwohl pauschale und dramatisierende Zuspitzungen etwa zu einem Antagonismus zwischen fortschrittsfeindlichen Apokalyptikern und technikbegeisterten Euphorikern wenig hilfreich sind, kann eine Gegenüberstellung der kontrastierenden ethischen Grundhaltungen durchaus zum Verständnis der Debatte beitragen. Um die gravierenden Unterschiede im moralischen Fundament besser erfassen zu können, lässt sich beispielsweise das von Jonathan Haidt und Kollegen entwickelte sozialpsychologische Modell der „Moral Foundation Theory“ heranziehen (vgl. ebd., 205): Von den insgesamt fünf eruierten Grundpfeilern der Moral berücksichtigen die Liberalen lediglich <?page no="48"?> 48 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext die ersten beiden, nämlich 1. „Schaden/ Sorge“ und 2. „Fairness/ Reziprozität“. Denn Bioliberalen geht es primär um die Autonomie und den Schutz der Individuen sowie die von John Rawls und Lawrence Kohlberg profilierten ethischen Prinzipien der Gegenseitigkeit, Fairness und Gerechtigkeit. Demgegenüber sind aus Sicht der Konservativen die Grundlagen menschlicher Moralsysteme viel reichhaltiger und komplexer. Zu den psychologischen Mechanismen der Herausbildung moralischer Überzeugungen und Praktiken in den verschiedenen Kulturen gehören auch Gruppen, religiöse Einstellungen und Gefühle, konkret die weiteren „foundations“: 3. „Gruppe/ Loyalität“, 4. „Autorität/ Respekt“ und 5. „Reinheit/ Heiligkeit“. Einen anderen Versuch einer ethischen Kategorisierung stellen die zwei von Erik Parens in die Enhancement-Debatte einführten Orientierungssysteme eines „Dankbarkeitsrahmen“ mit dem Aufruf zur Treue und zum Bewahren des Gegebenen und eines „Kreativitätsrahmen“ mit der Aufforderung zur ständigen Selbstverbesserung dar, die sich grob vereinfachend der konservativen und liberalen Grundhaltung zuordnen lassen (vgl. Parens, 37 f.). Im Folgenden sollen die wichtigsten Positionen kurz erläutert und kritisch diskutiert werden: 1. Biokonservative 2. Bioliberale allgemein 3. bioliberale Trans- und Posthumanisten 1) Biokonservative Biokonservative wie Leon Kass, Francis Fukuyama, George Annas und Jürgen Habermas treten im Sinne des Dankbarkeitsrahmens für den Schutz menschlichen Lebens und die Bewahrung von Tradition, Schöpfung und menschlicher Natur ein und appellieren an eine Haltung der Ehrfurcht und Demut gegenüber der natürlichen Ordnung. Das eigene Leben und die persönlichen Fähigkeiten und Talente sollen als Geschenke statt als etwas zu Formendes betrachtet werden, und die Endlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen gelte es grundsätzlich anzuerkennen (vgl. Kass u. a., 286 ff./ Sandel, 107). Biokonservative stehen neuen Biotechnologien daher skeptisch bis klar ablehnend gegenüber und mahnen zumindest zu einem Innehalten und zum kritischen Hinterfragen des Optimierungsstrebens. Dahinter steht ein substantielles Verständnis einer in sich wertvollen „menschlichen Natur“, eines „menschlichen Wesens“ oder „menschlichen Gedeihens“, das zu einer „Moralisierung der menschlichen Natur“ führt (Habermas, 46). Obgleich Biokonservative sich der Schwierigkeit <?page no="49"?> 49 1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten einer Verbalisierung ihres Unbehagens gegenüber Biotechnologien bewusst sind, ist immer wieder die Rede von einer „Entmenschlichung“ sowie dem drohenden „Verlust des Menschseins“, der „Menschenwürde“ oder unabdingbarer Elemente des menschlichen Daseins (vgl. Kass 2002, 48; 15 ff./ Fukuyama, 142 f.; 147/ Kass u. a., 287 f.). Am besten lässt sich der unantastbare Eigenwert einer nicht vom Menschen hervorgebrachten „Natur“ in einem metaphysischen oder religiösen Weltbild begründen, in dem die Wirklichkeit dank eines übersinnlichen Grundprinzips eine strukturierte Ordnung und jedes Ding und jedes Ereignis seinen Platz und seinen Sinn hat. Offen oder verdeckt steht hinter der biokonservativen Verwerfung des Enhancements häufig die christliche Überzeugung, die sich technologisch perfektionierenden Menschen würden ihren Ort in der göttlichen Schöpfung gründlich missverstehen und wollten Gott spielen (vgl. Sandel, 107/ Fukuyama, 130 ff./ Kass u. a., 287). Die Forderung nach Rücksichtnahme auf das natürlich Gegebene soll jedoch auch in einem säkularen Rahmen gut begründbar sein, weil immer weitergehende Eingriffe in die menschliche Natur zu einer schrittweisen Erosion gesellschaftlicher und moralischer Verbindlichkeiten führen würden: Zurück blieben Menschen ohne Liebe, Solidarität, Verantwortung, Freiheit und Würde, wie Aldous Huxleys sie in seiner Dystopie Brave New World visionistisch vorweggenommen habe (vgl. Sandel, 107 f./ Kass 2002, 45-49/ Kass u. a., 285). Betont wird immer wieder auch die wichtige Rolle von Gefühlen wie Angst, Unbehagen, Abneigung oder Ekel, die auf moralische Grenzüberschreitungen hinweisen (vgl. Kass 1998, 18 f./ Sandel, 27 f./ Fukuyama, 147). Liberale Kritiker diskreditieren ein solches Festhalten am Gegebenen und Gewohnten oder die Privilegierung von Bauchgefühlen als unmoralisch, amoralisch oder irrational, da sich viele biokonservative Bedenken als argumentativ nicht stichhaltige Vorurteile entlarven lassen (vgl. dazu Ranisch, 215). Sie werfen den Biokonservativen vor, mit suggestiven und stark emotional aufgeladenen Begriffen wie „Würde“ oder „Natur“ und diffusen pessimistischen Zukunftsperspektiven die Enhancement-Diskussion unnötigerweise zu dramatisieren (vgl. Heilinger, 142 f.). Denn der Mensch hat sich als das einzige nicht-festgestellte Tier im Laufe der natürlich-biologischen und kulturellen Evolution so stark gewandelt, dass die Idee einer feststehenden „Natur“ des Menschen als unhaltbar und die Rede vom „Verlust“ des Menschseins oder des menschlichen Selbstverständnisses als völlig übertrieben und unangemessen erscheinen (Kap.-2.4). Nach dem starken Schwinden der Bindungskraft der christlichen Religion sind auch von religiösen Menschen in öffentlichen ethischen Debatten Gründe und <?page no="50"?> 50 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext Argumente zu erwarten, die keinen bestimmten Glauben voraussetzen und allein kraft der menschlichen Vernunft nachvollziehbar sind (vgl. dazu Fenner 2016, 219 f.). Während ein Generalverdacht gegen das Streben nach mehr Gesundheit, Lebensqualität und Glück mittels medizinischer Fortschritte rational nicht gerechtfertigt werden kann, geben christliche Grundeinstellungen wie die Ehrfurcht vor dem Leben oder der Topos vom Leben als Geschenk Gottes keinen Aufschluss über die Legitimität oder Verwerflichkeit konkreter einzelner Eingriffe in die Natur (vgl. ebd., 248/ Kass u. a., 289). Heftig umstritten ist selbst unter Biokonservativen Kass’ Postulat einer „moralischen Weisheit des Ekels“, die sich mit der Vernunft nicht vollständig erfassen lasse (vgl. Kass 1998, 18 f.). Ganz grundsätzlich werden zwar die meisten unserer moralischen Überzeugungen von normengebundenen Gefühlen wie Achtung, Empörung oder Ekel begleitet, die in aller Regel in der moralischen Erziehung zusammen mit den moralischen Urteilen gelernt werden (vgl. Fenner 2008, 209). Solche Gefühle moralischer Billigung oder Missbilligung sind aber keineswegs an sich schon „weise“, sondern ihre Angemessenheit und Legitimität hängt von den ihnen zugrunde liegenden rationalen Überzeugungen ab. Negative Gefühle von Ekel oder Empörung können daher immer nur Indizien für moralische Verstöße sein, nicht aber Beweise für die moralische Falschheit bestimmter Handlungsweisen. Aus Sicht einer säkularen rationalistischen Ethik ist die Orientierung an moralischen Grundpfeilern wie „authority/ respect“ (4) oder „purity/ sanctity“ (5) problematisch, weil diese höchstens zu einer moralpsychologischen Erklärung von Standpunkten, nicht aber zu ihrer Begründung beitragen. 2) Bioliberale allgemein Innerhalb des „Mainstream“ des Bioliberalismus findet sich eine große Bandbreite von gemäßigten bioliberalen Positionen bis hin zu radikalen Trans- oder Posthumanisten, die allesamt das ethische Prinzip der Freiheit als das höchste betrachten. In der akademischen Enhancement-Debatte dominieren gemäßigte bioliberale Publikationen mit teilweise programmatischen gemeinsamen Manifesten etwa der Gruppe um Martha Farah oder Thorsten Galert und Bettina Schöne-Seifert. Sofern das höchste individualethische Prinzip der Freiheit oder Autonomie überhaupt näher erläutert oder definiert wird, beschränken sich Bioliberale meist auf einen Minimalbegriff (vgl. dazu Ranisch, 208): Freiheit meint dann die in liberalen Gesellschaften garantierte Fähigkeit einer Person, ihr Leben ohne äußeren Zwang seitens von Staat oder Gesellschaft nach eigenen <?page no="51"?> 51 1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten Wertvorstellungen und Zielen leben zu können und über ihren Körper und ihr Wohlergehen selbst bestimmen zu dürfen (vgl. Galert, 41/ Gesang, 82). Was ein gutes Leben sei, welche technologischen Neuerungen für jemanden eine Verbesserung darstellen und welche Risiken er dafür in Kauf nehmen will, soll ganz dem Einzelnen überlassen bleiben und dürfe nicht allgemein geregelt werden. Bioliberale bewerten Enhancement-Methoden grundsätzlich positiv und plädieren für ihre moralische Erlaubnis, weil dank immer neuer Verbesserungsmöglichkeiten unliebsamer Eigenschaften oder Dispositionen die individuellen Wahlmöglichkeiten und die Chancen auf ein besseres Leben mit mehr Lebensqualität stetig ansteigen. Viele lehnen Unterscheidungen zwischen „natürlichen“ und „künstlichen“, „normalen“ oder „anormalen“ oder „gesundheitsbezogen“ und „nicht gesundheitsbezogen“ Maßnahmen ab, sodass es für persönliche Ziele wie etwa die Steigerung der eigenen Leistungsfähigkeit oder Verbesserung des seelischen Wohlbefindens keine verbindlichen moralischen Obergrenzen gebe (vgl. Galert, 40 f.). Wichtig sei lediglich die öffentliche und ärztliche Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen einzelner Selbstoptimierungsmaßnahmen, damit die Einzelnen eine rationale Kosten-Nutzen-Abwägung vornehmen und eine informierte Einwilligung in allfällige medizinische Eingriffe geben können. Gerechtfertigt werden muss daher aus bioliberaler Sicht nicht das individuelle Streben nach Selbstoptimierung mit welchen Mitteln auch immer, sondern vielmehr das Einschränken der individuellen Wahlfreiheit (vgl. ebd., 41 f.). Im Hintergrund des bioliberalen Paradigmas des Optimierens steht eine Art „negative Anthropologie“ mit der Vorstellung des Menschen als noch nicht genau bestimmtem Mängelwesen, das seine zahlreichen Schwächen seit jeher durch Überformung seiner selbst oder seiner Umwelt zu kompensieren versuchte (vgl. dazu Schoilew, 5; 23). Vielen Bioliberalen wird zu Recht ein undifferenziertes Freiheitsverständnis vorgeworfen, weil „Freiheit“ als negative Freiheit von äußeren politischen oder sozialen Handlungsschranken unterbestimmt ist und z. B. auch subtilere Formen eines sozialen Drucks zu berücksichtigen wären (Kap. 2.3). Des Weiteren blenden Bioliberale oftmals die Schwierigkeit aus, dass bei vielen neueren Enhancement-Methoden schlicht noch zu wenige Forschungsergebnisse insbesondere aus Langzeituntersuchungen für eine umfassend aufgeklärte Kosten-Nutzen-Abwägung vorhanden sind. Typischerweise verteidigen sie neue Technologien unter der hypothetischen Annahme, die diskutierten Optimierungsmaßnahmen könnten eines Tages ganz gezielt, hochwirksam und nebenwirkungsfrei die gewünschten Verbesserungen herbeiführen (vgl. dazu <?page no="52"?> 52 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext Schoilew, 12). Bioliberale leugnen darüber hinaus zwar in aller Regel nicht, dass durch die Verbreitung des Enhancements sozialethische Probleme im zwischenmenschlichen Zusammenleben entstehen können. Bezüglich grundlegender moralischer Prinzipien wie etwa des Nichtschadens beachten sie aber wiederum nur direkte Schadenszufügungen, nicht etwa auch strukturelle Nachteile Dritter (vgl. Ranisch, 209). Wo die Gefahren eines zunehmenden sozialen Drucks, unfairer Wettbewerbsverzerrungen und verstärkter sozialer Ungleichheit zur Sprache kommen, werden sie häufig relativiert: Verwiesen wird etwa darauf, Selbstoptimierung finde auch außerhalb kompetitiver Zusammenhänge statt, oder das Verbot von kognitivem Neuroenhancement am Arbeitsplatz oder an Universitäten sei ein mindestens ebenso großer Zwang wie der Druck zur Medikamenteneinnahme durch verbesserte Kollegen oder Kommilitonen (vgl. Galert u. a., 43/ Farah u. a., 423). Da soziale Ungleichheit auch sonst in der Gesellschaft in allen Lebensbereichen toleriert werde, dürfe der Fortschritt hinsichtlich Gesundheit oder Lebensqualität der Menschen nicht aufgrund der Gefahr einer ungerechten Verteilung der Enhancement- Methoden beschränkt werden. Oft wird auch einfach auf den Staat mit seinen Möglichkeiten der Sozial- und Steuerpolitik vertraut, der ein weiteres Auseinanderdriften der Schere zwischen den Lebenschancen der Bürger ausgleichen müsse (vgl. Galert, 45/ Farah u. a., 423). Im Zeichen seines „Liberalismus mit Auffangnetz“ schlägt etwa Bernward Gesang vor, nur moderate und reversible Verbesserungen mit „unbedenklichen sozialen Folgen“ zuzulassen (vgl. 11; 64; 96). Angesichts des klaren Primats individueller Selbstbestimmung und eines großen Fortschrittsoptimismus drohen jedoch soziale Probleme leicht unterschätzt und die staatlichen Möglichkeiten gezielter Sicherheitsvorkehrungen und Regulierungsmaßnahmen überschätzt zu werden. 3) Bioliberale Trans- und Posthumanisten Beim Trans- und Posthumanismus handelt es sich um breite und nur lose definierte politisch-philosophische Bewegungen, die dank radikaler Formen neuer Enhancement-Technologien und vollständiger Kontrolle der natürlichen Evolution die biologischen Unzulänglichkeiten des Menschen überwinden und durch sprunghafte Verbesserungen menschlicher Fähigkeiten eine perfekte menschliche Lebensform oder einen neuen Menschen erreichen wollen (vgl. Sorgner, 28 f./ Bostrom, Kap. 1). Während der Begriff „transhuman“ auf den Biologen und Schriftsteller Julian Huxley zurückgeht, wurde das Schlagwort <?page no="53"?> 53 1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten „posthumanist“ vom Kulturtheoretiker Ihab Hassan geprägt (vgl. Loh, 34; 94). Neben einer bunten Vielfalt von Science-Fiction-Autoren, Hackern, Robotik- und Zukunftsforschern wie dem Posthumanisten Ray Kurzweil bekennen sich auch Philosophieprofessoren wie Nick Bostrom, Julian Savulescu oder John Harris zum Transhumanismus. Da Trans- und Posthumanisten dem bioliberalen „Lager“ angehören, teilen sie die oben bereits erwähnten Grundhaltungen und verfolgen auch die gleichen Ziele wie etwa Verlängerung der Lebensbzw. Gesundheitsspanne, Steigerung von physischen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten und allgemein bessere Kontrolle von Geist und Gefühl (vgl. Bostrom, Kap. 1/ Savulescu 2009, 212 ff.). Radikaler sind aber häufig die dafür vorgesehenen und größtenteils noch in der Entwicklungsphase steckenden Mittel wie Gentechnik, Informationstechnologie, molekulare Nanotechnologie oder Künstliche Intelligenz. Weit verbreitet ist z. B. die Utopie, das Ziel der Lebensverlängerung statt durch ein Hinausschieben des biologischen Todes über ein unbegrenztes Fortbestehen des menschlichen Geistes in intelligenten Maschinen im Sinne einer „kybernetischen Unsterblichkeit“ zu erreichen. Unklar und unter den Vertretern selbst umstritten ist, durch welche Merkmale sich der Trans- und Posthumanismus genau voneinander unterscheiden (vgl. Sorgner, 18; 66). Nach einem groben Abgrenzungsversuch will der Transhumansismus „durch“ (lateinisch: „trans“) den gegenwärtigen Menschen dessen Weiterentwicklung oder Transformation bewirken, wobei neue Technologien lediglich ein Mittel darstellen (vgl. Loh, 11 f.; 92 f.). Demgegenüber zielt der Posthumanismus auf die Überwindung des heutigen Menschen („homo sapiens“) und die Erschaffung einer neuen Menschenart als maschinelle Superspezies ab, sodass die Technik in gewissem Sinn zum Ziel mutiert. Sich innerhalb des Posthumanismus gegen die geistige Strömung des „kritischen Posthumanismus“ abhebend, lässt sich dieser für die Selbstoptimierung relevante technologische Posthumanismus somit als extreme Zuspitzung des Transhumanismus bezeichnen (vgl. ebd., 14; 122). Welche Anthropologie dem Trans- und Posthumanismus zugrunde liegt und inwiefern es sich überhaupt um einen „Humanismus“ handelt, wird sehr unterschiedlich beurteilt. Die meisten Repräsentanten bekennen sich implizit zum frühneuzeitlichen und aufklärerischen rationalen Humanismus, weil sie den Optimismus hinsichtlich der Perfektibilität des Menschen teilen und dabei auf die Vernunft und die Wissenschaften setzen (vgl. Bostrom u. a., Kap. 1.1/ Loh, 20 f.; 34 f.). Während sich aber der historische Humanismus auf traditionelle Methoden der Erziehung und Bildung beschränkte, wollen Trans- und Posthu- <?page no="54"?> 54 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext manisten das humanistische Programm der Selbstverbesserung mit technischen Mitteln fortsetzen und den vermeintlichen Gegensatz zwischen „Humanität“ und „Technologie“ auflösen. Eher abgelehnt wird demgegenüber der für den „christlichen“ und „kantischen Humanismus“ typische Dualismus von Geist und Körper, der tendenziell im Transhumanismus zugunsten einer naturalistischen Anthropologie und eines materialistischen Monismus und im Posthumanismus durch die Überwindung des biologischen Körpers zugunsten eines idealistischen Monismus überwunden wird (vgl. Sorgner, 10/ Loh, 27; 31). Meist wird zwar von einem kontinuierlichen Optimierungsprozess des Menschen durch Selbsttechnisierung in Richtung auf Superintelligenz, starke Physiologie etc. ausgegangen. Gleichwohl soll es irgendwann einen kategorialen Bruch geben, an dem „transhumans“ als Schimären oder Cyborgs mit einigen signifikant nichtmenschlichen Eigenschaften zu „posthumans“ als in jeder Hinsicht von „humans“ verschiedene Angehörige einer neuen Art Mensch übergehen (vgl. Savulescu 2009, 214/ Loh, 90). Cyborgs sind Mensch-Maschine-Mischwesen, für die in einem weiten Sinn bereits das Vorliegen einer Beinprothese oder eines Herzschrittmachers ausreichen und in einem engeren Sinn kognitive Optimierungsmaßnahmen durch Neurotechnologien bis hin zur vollständigen Verschmelzung von Mensch und Computertechnologie vorliegen müssen (vgl. Müller 2009, 491 f.). Einen kategorialen Umbruch stellte zweifellos die Substitution des biologischen Gehirns als zentraler Steuerungseinheit des Menschen durch einen Siliziumchip mit künstlicher Intelligenz dar, selbst wenn der ganze restliche Körper aus biologischen Organen und Gliedmaßen weiterbestünde (vgl. dazu Birnbacher 2006, 176). Der postbiologische Mensch existierte schließlich nur noch als Cyberspace-Entität, technologische Singularität oder artifizielle Superintelligenz im digitalen Netz ohne räumlichen Körper, wobei sich die verschiedenen Superintelligenzen zu einer Supergemeinschaft oder einem Super-Bewusstsein planetarischen Maßstabs verbinden könnten (vgl. Kurzweil, 358; 370/ Loh, 106-110; 117). Hilfreich ist die Unterscheidung zwischen einem kohlenstoff-basierten und einem silizium-basierten Trans- und Posthumanismus, wobei auch einige Transhumanisten verwirrenderweise das Ideal völlig synthetisch hergestellter „Posthumaner“ teilen (vgl. Sorgner, 76). Als Wege zur Realisierung artifizieller Superintelligenz werden zum einen die ständig weiterentwickelte künstliche Intelligenz mit den vielversprechenden künstlichen „neuronalen Netzen“ genannt, die ähnlich wie das menschliche Gehirn zu komplexen parallelen Verarbeitungsprozessen, selbständigem Lernen und kontinuierlicher Selbstver- <?page no="55"?> 55 1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten besserung fähig sind (vgl. Kurzweil, 166/ Loh, 97; 114 ff.). Zum andern wird das noch weit von seiner Realisierbarkeit entfernte mind uploading oder whole brain emulation vorgeschlagen, d. h. das Herunterladen der Persönlichkeit auf einen Computer entweder nichtinvasiv über Computertomographie oder invasiv durch das Einscannen des in dünne Schichten zerlegten Gehirns (vgl. Sorgner, 76/ Loh, 100). Gegen diese Methoden lassen sich zahlreiche Argumente des Ersetzbarkeitsdiskurses anführen, der im Kontext des philosophischen Leib-Seele-Problems und der Künstliche-Intelligenz-Forschung geführt wird: Vorausgesetzt wird ein reduktionistischer Funktionalismus oder Informationismus, denenzufolge Geist und Person nichts anderes sind als funktionale Zusammenhänge oder Informationen (vgl. Brüntrup, 98 f./ Loh, 105). Während dabei die Bedeutung von Körperlichkeit und Emotionalität in der menschlichen Erkenntnisweise und Lebensform deutlich unterschätzt wird, ist die Herstellbarkeit geistiger und körperlicher Qualitäten des Fühlens und Erlebens oder gar eines künstlichen Bewusstseins bei Computern höchst fraglich. Nur weil Menschen einen vergleichbaren Körper haben und ähnliche sensomotorische und psychische Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Um- und Mitwelt machen, können sie Wörtern wie „Ball“ oder „Liebe“ ähnliche Bedeutungen zuschreiben und miteinander interagieren. Nicht nur würde wohl kein Mensch auf positive Gefühle wie Liebe oder Glück verzichten wollen, sondern ohne Gefühle fehlte den Menschen die Entscheidungs- und Planungsfähigkeit (vgl. Lenzen, 132). Auch ist völlig unklar, wie bei einer „artifiziellen Superintelligenz“ etwa dank „mind uploading“ noch so etwas wie „persönliche Identität“ oder ein „Selbst“ mit einem kritischen und distanzierten Selbstverhältnis als Subjekt der Selbstoptimierung möglich sein soll (vgl. Loh, 105 f.). Noch fundamentaler ließe sich gar nicht mehr sinnvoll von „Verbesserungen“ sprechen, wenn Posthumane keine körperlichen Bedürfnisse und auf individuellen Begabungen basierenden Wünsche hätten und nach erfolgter Selbstoptimierung nicht glücklicher wären als zuvor (vgl. Gesang, 126; 132). Je radikaler und exakter geschildert oder sogar datiert technologische Zukunftsvisionen als Krönung einer scheinbar unaufhaltsamen evolutionären Entwicklung ausfallen, desto spärlicher sind wie etwa bei Kurzweil systematische theoretische und ethische Reflexionen. Es gibt im Trans- und Posthumanismus eine merkwürdige Spannung zwischen der liberalen Überzeugung einer irreduziblen Pluralität an Vorstellungen vom guten Leben der einzelnen Individuen einerseits und einer subjektunabhängigen „objektiven“ Bestimmung des für die Spezies Mensch „Guten“ andererseits (vgl. Siegetsleitner, 201 f.): Wo <?page no="56"?> 56 1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext technikbegeisterte Trans- und Posthumanisten für die moralische Erlaubtheit oder gar Pflicht zur Entwicklung und Anwendung neuer Technologien eintreten, scheinen sie von einem bestehenden allgemeinen Konsens über „Verbesserungen“ auszugehen. Sie sind sich aber keineswegs einig über die für eine hohe Lebensqualität notwendigen Eigenschaften und halten die Suche nach allgemeinen Kriterien oft für schwierig, weil die Menschen erst im Zuge technologischer Innovationen bislang unzugängliche Wertbereiche entdecken würden und noch gar keine Vorstellung vom Besitz völlig neuer Eigenschaften hätten (vgl. ebd./ Bostrom, Kap. 3). Wenn genauso wie im gemäßigten Bioliberalismus das individuelle Enhancement im Zentrum steht und gesellschaftliche und politische Konsequenzen vernachlässigt werden, ist dies angesichts der Radikalität der Selbstoptimierungs-Methoden noch viel gravierender. Eine weit verbreitete Befürchtung einer unerwünschten sozialen Auswirklung lautet beispielsweise, die viel intelligenteren „posthumans“ könnten die naturbelassenen „humans“ verdrängen, versklaven oder ausrotten (vgl. Annas u. a., 162). Transhumanisten selbst schlagen die simple Lösung vor, bei kohlenstoffbasierten Menschen hohe Moralvorstellungen zu fördern und den künstlichen Intelligenz-Maschinen einen entsprechenden Moralkodex mit Werten der Toleranz und Achtung gegenüber Menschen einzuprogrammieren (vgl. Bostrom u. a., Kap. 3.3). Bei einer vollständigen Substitution eines biologischen Gehirns mit unterstützenden Gehirn-Computer-Schnittstellen durch künstliche Intelligenz stellten sich die Fragen der klassischen Roboterethik, wie Computer Moral bzw. das situationsbezogene Abwägen von Gründen und Argumenten lernen und ethische Verantwortung übernehmen könnten. Viele Transhumanisten betonen zwar, Gefahren und Risiken wie z. B. auch einer externer Überwachung seien sehr ernst zu nehmen und es brauche dazu öffentliche Diskussionen und internationale Institutionen (vgl. ebd./ Sorgner, 143). Fraglich bleibt aber, wie demokratische Verfahren zur ethischen Steuerung des „Fortschritts“ und digital vernetzte technologische Singularitäten vereinbar sein sollen. <?page no="57"?> 57 1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten Kommentierte Kurzbibliographie zu Kapitel 1 Um sich in die verschiedenen bioethischen Grundpositionen der Selbstoptimierungs-Debatte einzulesen, empfehlen sich folgende „Klassiker“: Bei den Biokonservativen Fukuyama (2002), Habermas (2002) und Kass u. a. (2003), bei gemäßigten Bioliberalen Gesang (2007) oder Aufsätze der Medizinethikerin Schöne-Seifert, die zudem eine hilfreiche Sammlung klassischer Texte mitherausgebracht hat (2009a), unter den etwas radikaleren Trans- und Posthumanisten Beiträge von Savulescu und Bostrom, die gemeinsam einen Sammelband (2009) zusammenstellten, Harris (2007) oder Sorgner (2016) mit einführendem Charakter. <?page no="59"?> 59 1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten 2 Normative Bezugsgrößen Um sich ein umfassendes Bild über den aktuellen Selbstoptimierungstrend zu machen, sind Kenntnisse und Forschungsmethoden aus verschiedensten Disziplinen und letztlich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unverzichtbar. Bei einem empirisch-deskriptiven Zugang etwa im Rahmen medizinischer, naturwissenschaftlich-technischer, soziologischer und psychologischer Studien über Selbstoptimierung wird Wissen aus der Erfahrung gewonnen mit dem Ziel einer möglichst exakten und intersubjektiv überprüfbaren Beschreibung und Erklärung dessen, was der Fall ist. Im Gegensatz dazu geht es bei dem hier gewählten normativ-wertenden Zugang nicht um eine wertneutrale Beschreibung des Ist-Zustandes oder eine Prognose wahrscheinlicher zukünftiger Veränderungen von Technologien, gesellschaftlichen Verhältnissen oder psychischen Zuständen, sondern um normative, d. h. wertende Aussagen über bestimmte Selbstoptimierungspraktiken. Im Zentrum philosophisch-ethischer Reflexionen steht anstelle des „Seins“ das „Sollen“. Die Allgemeine Ethik ist eine Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage nach dem richtigen menschlichen Handeln zu begründen versucht (vgl. Fenner 2007, 16). Anders als eine theologische Ethik setzt eine säkulare philosophische Ethik keine bestimmte Religion oder Weltanschauung voraus, sondern ihre Reflexionen und Begründungen sollen dem Anspruch nach für alle vernunftfähigen Lebewesen einsichtig sein. Während sich empirische Vorgehensweisen auf Beobachtungen, Umfragen oder Experimente stützen, bedienen sich normativ-wertende Betrachtungen philosophischer Methoden der kritischen Hermeneutik und des rationalen Argumentierens und Begründens. Wichtig ist daher eine Argumentationslehre, die den richtigen Umgang mit sich teilweise widerstreitenden Gründen und Argumenten klärt und das Auge für starke und schwache oder logisch gültige und ungültige Argumente schult. Neben der Ethik ist es zusätzlich noch das Recht, das klar wertend und noch stärker vorschreibend und verordnend zu menschlichen Handlungen Stellung bezieht: Die in Gesetzestexten schriftlich fixierten rechtlichen Regelungen neuer Biotechnologien sind zwar nur dann legitim, wenn sie sich mit ethischen Argumenten rechtfertigen lassen. Sie können aber die allein an die innere Selbstverpflichtung appellierenden Normen besser durchsetzen, indem sie die schwachen moralischen Sanktionen wie gesellschaftlicher Tadel <?page no="60"?> 60 2 Normative Bezugsgrößen oder Ausgrenzung zusätzlich durch staatliche Sanktionen wie Bußen oder Gefängnisstrafen unterstützen. Um menschliche Handlungen bewerten, kritisieren oder rechtfertigen zu können, beziehen wir uns in aller Regel auf gesellschaftlich anerkannte Werte, Normen, Prinzipien oder Rechte. Während in alltäglichen Diskussionen die Richtigkeit solcher normativer Maßstäbe meist stillschweigend vorausgesetzt wird, prüft die wissenschaftliche Disziplin der philosophischen Ethik die Legitimität der dabei erhobenen Geltungsansprüche. In diesem Kapitel sollen vier normative Bezugsgrößen, Konzepte oder Prinzipien genauer untersucht werden, die bei der ethischen Positionierung für oder gegen Selbstoptimierung eine große Rolle spielen: „Glück“ und „gutes Leben“ als individualethischer Maßstab (Kap. 2.1), „Gerechtigkeit“ als sozialethischer Maßstab (Kap. 2.2), „Freiheit“ und „Würde“ (Kap. 2.3) sowie „Normalität“ und „Natürlichkeit“ (Kap. 2.4). Auf sie wird zwar in der Enhancement-Debatte häufig ohne weitere Erläuterungen Bezug genommen, aber bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als äußerst mehrdeutig und vielschichtig. Die seit den Anfängen der philosophischen Ethik in der griechischen Antike präsenten Begrifflichkeiten sind bis heute Gegenstand philosophischer Kontroversen, ohne dass sich einheitliche und allgemein anerkannte Definitionen durchgesetzt hätten. Um eine differenzierte und gut begründete Positionierung für oder gegen Selbstoptimierungs- oder Enhancement-Praktiken entwickeln zu können, empfiehlt sich daher eine Klärung der Konzepte „Glück“, „Gerechtigkeit“, „Natürlichkeit“, „Freiheit“ und „Würde“. Diese Liste menschlicher Grundwerte oder Prinzipien beansprucht keine Vollständigkeit, sondern ist auf die Selbstoptimierungs-Debatte zugeschnitten. Ganz allgemeine Grundwerte wie „Leben“ oder „Verantwortung“ bilden gleichsam die Grundlage der Diskussion über Selbstoptimierung, weil eine Optimierung natürlich das Leben der Betroffenen voraussetzt und ethische Reflexionen nur sinnvoll sind unter der grundsätzlichen Möglichkeit und Bereitschaft der Menschen zur Übernahme von Verantwortung. Viele weitere Werte oder Prinzipien werden in anderen Kapiteln ausführlich erörtert, z. B. „Gesundheit“ (Kap. 1.3), „Schönheit“ (Kap. 3.1), „Authentizität“ (Kap. 4.1) oder „Bildung“ (Kap. 4.2). In den darauffolgenden Kapiteln 3-5 stehen dann nicht mehr ethische Begründungsfragen und begrifflich-konzeptuelle Schwierigkeiten im Zentrum, sondern einzelne Verbesserungspraktiken. Diese Reflexionen sind daher nicht mehr der begründungsorientierten, theorielastigen „allgemeinen Ethik“ zuzurechnen, sondern einer problembezogenen, praxisorientierten „angewandten Ethik“: Angewandte Ethik ist eine noch junge Teildisziplin der Ethik, die allge- <?page no="61"?> 61 2 Normative Bezugsgrößen meine Prinzipien oder Beurteilungskriterien auf spezifische Handlungsbereiche und konkrete gesellschaftliche Probleme anwendet (vgl. Fenner 2010, 10 ff.). Entsprechend der verschiedenen menschlichen Handlungsfelder mit unterschiedlichen moralischen Konflikten haben sich mittlerweile klassische Bereichsethiken wie Bio-, Wirtschafts- und Medienethik etabliert. Aufgrund des deutlichen Schwerpunkts auf dem biomedizinischen Enhancement in diesem Buch wären Fragen der Selbstoptimierung zunächst der weiteren Bereichsethik der Bioethik zuzuordnen, die sich mit den ethischen Problemen im Umgang mit allem Lebendigen widmet. Angesichts der Dreiteilung des Lebendigen in menschliches, tierliches und pflanzliches Leben gehören sie im engeren Sinn zur Medizinethik, die sich mit den ethischen Problemen beim Umgang mit medizinischen Möglichkeiten im Gesundheitswesen befasst (vgl. ebd., 53). Angewandte Ethik versteht sich generell nicht mehr als rein wissenschaftliche Disziplin, sondern weitet sich aus zu einer Tätigkeit des gemeinsamen demokratischen Sich-Beratens in der Öffentlichkeit. Aufgabe der Ethiker in solchen Meinungsbildungsprozessen besteht wesentlich darin, Diskurse zu strukturieren und zu ihrer Versachlichung beizutragen. Statt einfache und klare Antworten zu geben und damit den Beteiligten die Urteils- und Entscheidungsfindung abzunehmen, sollen vielmehr deren Reflexions- und Argumentationskompetenzen durch begriffliche Differenzierungen und das Aufdecken unhinterfragter Wertvorstellungen gefördert werden. Als eine Art Rahmentheorie kann dabei die von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas begründete Diskursethik dienen, die beim ethischen Begründen des Moralprinzips von den Voraussetzungen moralischen Urteilens ausgeht (vgl. Fenner 2008, 110 ff.). Denn wenn wir über ethisch strittige Praktiken wie z. B. biotechnologisches Enhancement diskutieren, orientieren wir uns den Diskursethikern zufolge immer schon an allgemeinen Diskursregeln: etwa die Regeln, dass alle sprach- und handlungsfähigen Wesen als vernünftige und gleichberechtigte Gesprächsteilnehmer respektiert werden und ihre Standpunkte einbringen können, alle ihre Positionen statt mit emotionalen Appellen oder Gewalt mit Argumenten und Gründen rechtfertigen und am Ende das beste Argument gelten lassen. Wer diese Regeln akzeptiert, erkennt aber implizit zugleich das diskursethische Moralprinzip an: Ethisch legitim kann diesem zufolge nur diejenige Norm sein, die bei allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung finden könnte. Nicht jeder faktische Konsens, sondern nur ein begründeter rationaler Konsens verbürgt wohlgemerkt nach diesem Prinzip die Legitimität von Normen. <?page no="62"?> 62 2 Normative Bezugsgrößen 2.1 Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab Innerhalb der normativen Ethik lassen sich zwei grundlegende Bewertungshinsichten unterscheiden, die in zwei aufeinanderfolgenden Kapiteln beleuchtet werden sollen: die prudentielle Perspektive der Individual- oder Strebensethik, die sich der persönlichen Lebensführung des Einzelnen und dem für das Individuum Guten widmet, und die moralische Perspektive der Sozial- oder Sollensethik, die sich mit dem menschlichen Zusammenleben und dem für die Gemeinschaft Guten befasst (vgl. Fenner 2008, 8 f.). Dabei unterscheidet sich der normative Anspruch der beiden ethischen Bereiche: Während die Individualethik Ratschläge und Empfehlungen für die je eigene Lebensgestaltung gibt, zielt die Sozialethik auf allgemeingültige Sollensforderungen oder Regelungen ab. Allerdings bildet das gute Leben der vom Handeln betroffenen Mitmenschen eine zentrale Hinsicht für die gebotene moralische Rücksichtnahme, sodass individualethische Reflexionen auch für die Sozialethik bedeutsam sind. Obgleich es in der Debatte um Selbstoptimierung und Enhancement nicht immer klar benannt wird, geht es bei den verschiedenen Optimierungsmaßnahmen im Grunde immer um ein glückliches oder gutes Leben bzw. größere Chancen auf ein solches (vgl. exemplarisch Kass u. a., 19/ Nagel, 72/ Heilinger, 39). Nach der sogenannten welfarist definition wird Enhancement ausdrücklich bestimmt als jede biologische oder psychologische Veränderung einer Person, die ihre Chancen auf ein gutes Leben erhöht (vgl. Savulescu u. a., 7). Nicht nur in dieser „welfarist“-Definition, sondern in der Selbstoptimierungs-Debatte ganz allgemein wird aber zumeist nicht näher angegeben, was das „gute Leben“ oder „Glück“ genau bedeuten sollen (vgl. dazu Bayertz u. a., 11). Häufig wird lediglich auf die Vielfalt philosophischer Theorien des guten Lebens verwiesen, ohne einem der systematischen Ansätze den Vorzug zu geben. Statt bei ihren Überlegungen eine bestimmte verbindliche Theorie des Guten vorauszusetzen, sollen diese offen bleiben für eine ganze Bandbreite unterschiedlichster individueller Vorstellungen von menschlichem Wohlergehen (vgl. ebd., 12/ Heilinger, 95). Ganz unabhängig von der empirischen Frage nach konkreten Inhalten des Glücks einzelner Menschen ist aber die philosophisch-begriffliche Klärung sinnvoll, was menschliches Glück ganz allgemein und formal gesehen ist (vgl. Birnbacher 2005, 2). Im Folgenden wird ein Mittelweg eingeschlagen zwischen einem paternalistisch-konservativen objektivistischen und einem radikalliberalen subjektivistischen Verständnis vom guten Leben oder Glück. Denn die mehr oder weniger bewussten subjektiven Glücksvorstellungen der Menschen <?page no="63"?> 63 2.1 Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab sind sehr wohl einer philosophischen Reflexion und Kritik zugänglich, sodass sie beispielsweise auf immanente Widersprüche oder problematische Konsequenzen hin geprüft werden können. Wie lassen sich also das „gute Leben“ und das „Glück“ näher bestimmen? 2.1.1 Definitionen vom „Glück“ oder „guten Leben“ In der Antike benutzte man für das Höchst- und Letztziel allen menschlichen Strebens das griechische Wort „eudaimonia“, das in gleicher Weise „Glück“ wie „gutes Leben“ meinte. Unter einem guten Leben kann in einer noch sehr allgemeinen Formulierung eine bestimmte Form der aktiven Gestaltung des Lebens verstanden werden, bei der das Leben im Großen und Ganzen positiv beurteilt und entsprechend gefühlsmäßig bejaht werden kann. Der Begriff „Glück“ hingegen ist nicht nur notorisch vieldeutig, sondern hat sich in der Neuzeit erheblich gewandelt: In der Antike dominierte ein objektivistisches Glücksverständnis mit dem Postulat allgemeiner objektiver Kriterien, anhand derer sich das Glück oder Unglück der Menschen gleichsam vom Außenstandpunkt aus feststellen ließ. Im Laufe der neuzeitlichen Individualisierungsprozesse wurde jedoch der Glücksbegriff zunehmend subjektiviert, privatisiert und psychologisiert (Kap. 1.2). Gemäß dem heute allgemein verbreiteten subjektivistischen Glücksverständnis meint „Glück“ einen innerlichen, subjektiven, empirischen Gefühlszustand, über den letztlich nur die Betroffenen selbst Auskunft geben können. Ökonomische, sozialwissenschaftliche oder psychologische Studien der noch jungen empirischen Glücksforschung verzichten entsprechend bei ihren großangelegten Befragungen auf eine vorgängige Glücksdefinition, und auch einige Philosophen der Gegenwart verwenden den Glücksbegriff rein subjektivistisch und lassen nur subjektive Bewertungsmaßstäbe gelten (vgl. vgl. Frey u. a., 21/ Birnbacher 2005, 12 ff./ Sumner, 140). In jüngerer Zeit hat sich aber in der Philosophie die Tendenz durchgesetzt, im Rückgriff auf antike Glücksmodelle wieder objektive Bewertungsmaßstäbe zu statuieren. Glück ist dann nicht lediglich ein innerer psychischer Zustand, sondern bemisst sich am Vorliegen bestimmter objektiver Güter oder Lebensbedingungen. Typologisch vereinfachend wird dem in der Neuzeit dominierenden empirisch-psychologisch verstandenen subjektiven Empfindungsglück ein auf die Antike zurückgehendes objektives Erfüllungsglück entgegengesetzt, das ein objektiv günstig verlaufendes und erfüllendes Leben wie beispielsweise als erfolgreicher Pianist, geachteter Mitbürger und Familienvater voraussetzt (vgl. Horn 2011, 382). Häu- <?page no="64"?> 64 2 Normative Bezugsgrößen fig werden bei dieser Entgegensetzung die Glücksbegriffe durch andere differenziertere Ausdrücke ersetzt: Statt von „Empfindungsglück“ wird dann etwa vom gleichermaßen subjektiv und psychologisch verstandenen Wohlbefinden gesprochen, statt von „Erfüllungsglück“ von einem weniger subjektivistisch konnotierten Wohlergehen („well-being“) oder von „Wohlfahrt“ („welfare“). Viele Philosophen meiden den Begriff „Glück“ aber aufgrund seiner subjektivistischen Konnotationen ganz und bevorzugen den als Übersetzung für das griechische „eudaimonia“ eingeführten künstlichen Terminus „das gute Leben“, der offener für externe objektive Beurteilungskriterien ist (vgl. Steinfath 2011, 297). Hilfreich für die Selbstoptimierungsdebatte ist nicht nur diese elementare Unterscheidung zwischen subjektivem „Wohlbefinden“ und objektivem „Wohlergehen“, sondern die damit zusammenhängende zeitspezifische Abgrenzung von einem „episodischen“ und einem „Lebensdauerglück“ (vgl. Seel 1995, 62 f.): Das episodische Glück ist ein herausragendes Hochgefühl, das zeitlich begrenzt ist auf eine „Episode“ im Leben eines Menschen und sich auf seine jeweilige augenblickliche psychische Verfassung bezieht. Es kann sich um ein rein subjektives Empfindungsglück handeln, aber auch um ein komplexeres Glück als Momentaufnahme einer fesselnden, herausfordernden Tätigkeit oder eines sich insgesamt erfreulich entwickelnden Lebens. Typisch ist der rezeptive oder passive Charakter solcher Augenblicke des akuten Bewusstwerdens des eigenen Glückszustandes, da sie nicht willentlich steuerbar sind und die Betroffenen meist unerwartet „überkommen“ (vgl. Birnbacher 2005, 4 f.). Im Gegensatz zum „episodischen Glück“ bezieht sich das übergreifende Glück auf einen größeren Lebensabschnitt, im Fall des „Lebensdauerglücks“ sogar auf das ganze Leben. Es ist nicht bloß ein augenblicklicher positiver Gefühlszustand, sondern setzt vielmehr eine reflexive Distanz zu den vorübergehenden Gefühlsregungen, Bedürfnissen und Wünschen sowie eine positive Bewertung der Lebensperiode voraus. Das Lebensdauerglück kann definiert werden als eine anhaltende, höchst positive Stimmung aufgrund der Beurteilung des eigenen Lebens als eines guten, wobei sowohl die Vergangenheit als auch die zu erwartende zukünftige Entwicklung der Lebenssituation mitberücksichtigt werden (vgl. Fenner 2003, 621). „Stimmungen“ sind im Unterschied zu zeitlich begrenzten, auf konkrete Ereignisse bezogenen „Gefühlsregungen“ relativ stabile, atmosphärische Hintergrundtönungen des gesamten Erlebens. Eine solche positive Grundstimmung kann viele vorübergehende Phasen des Leids und der Entbehrungen überdauern, durch die sie nur zeitweilig eingetrübt wird. Anders als das episodische Glück weist das übergreifende Glück eines guten <?page no="65"?> 65 2.1 Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab Lebens insofern gleichsam einen aktivischen Charakter auf, als es gerade einen geeigneten Umgang mit dem Wechsel von schmerzhaften und ekstatischen Erlebnissen voraussetzt: Die übergreifende Qualität eines Lebens zeigt sich darin, dass durch alle Krisen hindurch immer wieder eine insgesamt erfüllende und bejahenswerte Lebenssituation geformt werden kann (vgl. Seel 1995, 67 f.). Bezüglich menschlicher Selbstoptimierungs-Bestrebungen zielen traditionelle philosophische, aber auch moderne psychologische und populärwissenschaftliche Methoden der Ratgeberliteratur und Coachingangebote fast durchgängig auf den Kompetenzenerwerb für ein aktives Lebensdauerglück ab. Die in der Enhancement-Debatte diskutierten neueren biomedizinischen Verfahren wirken jedoch auf einer rein (neuro)physiologischen Ebene, sodass sie bestenfalls ein episodisches Empfindungsglück bewirken zu können scheinen (Kap. 4.1). Die Beziehung zwischen „gutem Leben“ und „Lebensdauerglück“ lässt sich nun folgendermaßen näher bestimmen: Das „Lebensdauerglück“ setzt das „gute Leben“ voraus, das sozusagen eine Vorstufe oder Vorbedingung des Glücks ausmacht und die kognitive Komponente des übergreifenden Glücks bildet (vgl. Fenner 2007, 144). Während das gute Leben etwa durch die geeignete Wahl von Lebenszielen oder den Erwerb wichtiger Kompetenzen aktiv gestaltet werden kann, lässt sich das glückliche Leben entsprechend dem sogenannten Glücksparadox nicht direkt anpeilen (vgl. ebd., 52 f./ Birnbacher 2005, 3). Es stellt vielmehr eine Folge bzw. Begleiterscheinung einer gelingenden Lebensführung dar, wobei das Erleben eng mit der reflexiven Einstellung und der Bewertung des Lebens verbunden bleibt. Damit rückt das „Lebensglück“ in die Nähe der Lebenszufriedenheit als einem eng verwandten positiven Gefühl, bei dem aber die kognitive Komponente noch stärker betont wird. Zwischen einem gelingenden guten Leben und einem sich einstellenden Lebensglück gibt es zudem keinen direkten kausalen und linearen Zusammenhang, weil zusätzlich noch psychische Variablen wie Persönlichkeit oder Temperament dazwischen treten können. Ein gutes Leben ist also nicht zwingend schon ein glückliches, scheint aber auch kein gänzlich unglückliches sein zu können (vgl. Steinfath 2013, 174). Mit Befragungen von Tausenden von Zwillingen über die Einschätzung ihres Glückszustandes über einen längeren Zeitraum hinweg hat die empirische Glücksforschung die große Rolle der genetischen Faktoren nachgewiesen, die gleichsam einen persönlichen „set point“, „Glücksfixpunkt“ oder „Glücks-Grundwasserspiegel“ eines jeden Menschen festlegen (vgl. Bauer, 21/ Bruni, 407): Je nach Studie soll das Ausmaß an Glück zu 50 % oder gar 80 % von diesem „set point“ abhängen, auf den sich die Individuen nach starken <?page no="66"?> 66 2 Normative Bezugsgrößen positiven wie negativen Erfahrungen wie z. B. einem Lottogewinn oder einer Beinamputation nach einer gewissen Phase der Abweichung immer wieder einpendeln. Ob diese individuell unterschiedlichen biologisch-genetischen „Voreinstellungen“ des Glücks von einzelnen Genen oder der Dichte und Funktionsweise bestimmter Botenstoffe im Hirn abhängen und wie genau sie gemessen werden können, ist jedoch bislang noch unklar (vgl. Esch, 164/ Kap. 4.1). Aufgrund des offenbar viel größeren Einflusses des „hedonistischen set points“ auf das Glück als bessere Lebensumstände oder günstige Ereignisse forderte der Transhumanist und Philosoph David Pearce im Online-Manifest The Hedonistic Imperativ (1995), die biologische subjektive Ausstattung des Menschen mithilfe von Gen- und Nanotechnologie zu optimieren. In philosophischen und Neuroenhancement-Debatten ist umstritten, ob es so etwas wie ein „illusionäres Glück“ geben kann. Das illusionäre Glück wird definiert als ein positives Gestimmtsein oder Wohlbefinden, das die Betroffenen über die „Wirklichkeit ihrer Lage täuscht“ (Seel 1994, 147). Als Beispiel kann das Liebesglück eines Mannes dienen, der nicht weiss, dass er von seiner Partnerin dreist betrogen wird. Wüsste er um diesen Betrug, wäre sein Glück mit Sicherheit dahin. Oder es fühlt sich jemand subjektiv wohl, obwohl er medizinisch gesehen schwer krank ist. Nur beim episodischen Empfindungsglück oder Wohlbefinden in einem radikal subjektivistischen Glücksverständnis spielt es keine Rolle, ob das innere Empfinden und die äußere Wirklichkeit auseinanderklaffen. Beim objektiven Erfüllungsglück, Wohlergehen oder übergreifenden Glück hingegen ist jemand nicht schon deswegen glücklich, weil er sich glücklich fühlt. Vielmehr muss sein Leben ihm in einer distanzierten und reflexiven Einstellung auch tatsächlich einen Grund dazu geben, glücklich zu sein (vgl. Seel 1995, 56 f./ Knell, 236). Wie in der empirischen Wohlfahrtsforschung erkannt wurde, lassen sich Wohlfahrt und Lebensqualität weder ausschließlich über beobachtbare objektive Faktoren wie den Lebensstandard noch an einem rein über Selbsteinschätzung erhobenen subjektiven Wohlbefinden oder Glück bemessen (vgl. Mayring, 31 ff.; 92 f.). Soziologen entwickelten daher zweidimensionale transaktionale Modelle für Lebensqualität (vgl. exemplarisch Glatzer/ Zapf, 7). Auch wird in der empirischen Psychologie unterschieden zwischen einer Adaption, wenn sich jemand trotz objektiv schlechter Lebensbedingungen subjektiv wohl fühlt, und einer Dissonanz im umgekehrten Fall. Im Gegensatz zu diesen beiden Formen von Missverhältnissen sind beim individualethisch optimalen Wohlergehen die objektiven Lebensbedingungen ebenso gut wie das subjektive Wohlbefinden, wohingegen bei der Deprivation die schlechten <?page no="67"?> 67 2.1 Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab objektiven Lebensbedingungen mit subjektiven Unglücksgefühlen zusammenpassen (vgl. Neumaier, 34). Da ein Lebensdauerglück die „Übereinstimmung“ oder „Passung“ von subjektiven und objektiven Komponenten, innerem Gestimmtsein und äußerem Lebensverlauf voraussetzt, lässt es sich inhaltlich näher charakterisieren als „gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis“ (vgl. Fenner 2003, 157). Neben Individuums- und Umweltfaktoren treten aber als drittes Element noch die meist soziokulturell geprägten Wertmaßstäbe hinzu, nach denen die Qualität dieses Verhältnisses bewertet wird. Glück und gutes Leben sind so gesehen immer auch eine Frage des Bezugsystems. In der Philosophie lassen sich drei Theorierichtungen auseinanderdividieren, die jeweils ganz unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe zur Beurteilung eines Lebens als gut und glücklich ansetzen und sich miteinander kombinieren lassen (vgl. Parfit, 493-502, Fenner 2007, 31-140): 1. Hedonistische Theorie 2. Wunsch- oder Zieltheorie 3. Gütertheorie oder Objektive-Liste-Theorie 4. Hybridtheorie als Kombination der drei Theorien 2.1.2 Philosophische Theorien des Glücks oder guten Lebens 1) Hedonistische Theorie Gemäß der hedonistischen Theorie von griechisch „hedone“ („Lust“) ist ein Leben dann gut oder glücklich, wenn es möglichst viele subjektive Erlebnisse der Lust oder Freude und möglichst wenig Schmerz oder Leid aufweist. Als egoistische individualethische Position wurde sie bereits in der Antike vom Philosophen Epikur begründet und dann im 18. und 19. Jahrhundert in einer universalistischen sozialethischen Variante von den Utilitaristen Jeremy Bentham und John Stuart Mill vertreten. Seit der Antike wurde gegen den Hedonismus nicht immer zu Recht eingewendet, er verabsolutiere die rein sinnliche Lust angenehmer Sinnesreizungen oder der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse, sodass sich der Mensch zum Sklaven seiner natürlichen Neigungen mache (vgl. Aristoteles, 1095b, 16). Dabei ist ein naiver und unreflektierter Hedonismus schon deswegen sowohl unklug als auch verwerflich, weil die natürlichen Bedürfnisse keineswegs immer schon in einem harmonischen Zusammenhang stehen und bestimmte Arten von Lustbefriedigungen für die Betroffenen selbst <?page no="68"?> 68 2 Normative Bezugsgrößen oder andere schädlich sind wie z. B. der Lustgewinn aus einem Suchtverhalten oder einer Vergewaltigung. Pragmatisch sowie konzeptuell gesehen kommt daher nur ein reflektierter oder aufgeklärter Hedonismus in Frage, bei dem die Vernunft die verschiedenen Formen von Lust oder Freude aus Distanz bewertet und selektiert. Aber auch dann noch droht das Leben bestenfalls eine Summe bzw. eine ununterbrochene Kette einzelner Momente episodischen Glücks zu bilden, ohne dass zwischen diesen ein Zusammenhang besteht und sich daraus ein sinnvolles Ganzes ergibt. Für ein übergreifendes Glück oder Lebensdauerglück kommt es aber wie gesehen nicht so sehr auf einzelne freudvolle oder schmerzhafte Erlebnisse an, sondern auf den Umgang mit ihnen und ihre Integration und Deutung mit Blick auf persönliche Wertmaßstäbe und das ganze Leben (vgl. Fenner 2007, 54 ff./ Birnbacher 2005, 11). Anthropologisch höchst fragwürdig ist jedoch bereits der häufig zur Begründung des ethischen Hedonismus herangezogene psychologische Hedonismus, demzufolge alles menschliche Tun auf Lust abzielt. Offenkundig streben Menschen nämlich keineswegs ausschließlich nach positivem Wohlbefinden und wollen ihr Glück keineswegs ausschließlich aus dem Erleben starker Lustgefühle beziehen, sondern verfolgen viele andere Ziele wie Erkenntnis oder Macht und nehmen für deren Erreichen viel Mühsal und Entbehrungen in Kauf. Als hedonistischen Fehlschluss bezeichnet man den falschen Schluss von der Tatsache, dass Aktivitäten wie wissenschaftliche Forschungen oder das Zusammensein mit Freunden den Menschen Freude bereiten, darauf, dass sie es nur auf die Lust abgesehen haben (vgl. Forschner, 156). In aller Regel sind den Menschen auch die Quellen der Lust nicht gleichgültig und sie möchten sich nicht über die Dinge, Personen oder Vorgänge in der Welt täuschen, über die sie sich freuen. Um die hedonistische Grundannahme des menschlichen Strebens nach einem Maximum an inneren Zuständen des Wohlbefindens zu widerlegen, wird häufig Robert Nozicks Gedankenexperiment von der Erlebnismaschine herangezogen (vgl. Nozick, 52 ff.): Niemand würde sich wohl dauerhaft über Elektroden im Gehirn an eine Maschine anschließen lassen, die ihm suggeriert, er gehe beglückenden Tätigkeiten nach wie etwa dem Schreiben eines Romans oder dem Zusammensein mit Freunden, auch wenn in ihm gleichzeitig die damit normalerweise verbundenen positiven Erfahrungen induziert werden. Bezüglich des emotionalen Neuroenhancements wird daher diskutiert, ob eine Stimmungsaufhellung mittels Psychopharmaka im Subjekt nicht zu positiven Gefühlen ohne adäquaten Bezug zur Außenwelt führt (Kap. 4.1). Als Reaktion auf diese diversen Kritikpunkte haben sich viele Vertreter des Hedonismus <?page no="69"?> 69 2.1 Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab ausdrücklich von einem rein quantitativen sensorischen Hedonismus distanziert und für Qualitätsunterschiede zwischen verschiedenen Arten von Lüsten plädiert. Dabei wird dem stark mit sinnlichem Genuss assoziierten Begriff „Lust“ meist der Ausdruck „Freude“ vorgezogen, der für höhere Lustformen aus geistigen und sozialen Aktivitäten besser geeignet ist. Allerdings kommt es bei solchen Erweiterungen des ursprünglichen Hedonismus zu Inkonsistenzen und es ist umstritten, ob die Bezeichnung „Hedonismus“ dann noch angemessen ist. Dies gilt z. B. für Mills qualitativen Hedonismus, bei dem neben dem rein quantitativen Maß an Freude Qualitätsunterschiede je nach Quelle und Art der Freude gemacht werden. Dabei seien diejenigen Freuden viel wertvoller und würden von kompetenten Richtern vorgezogen, bei denen im Unterschied zu rein animalischen sinnlichen Genüssen typisch menschliche Fähigkeiten beteiligt sind wie etwa bei intellektuellen Freuden (vgl. Mill, 14 ff.). Sollten aber die „höheren Freuden“ nicht aufgrund ihrer internen Qualität, Freude zu bereiten, wertvoller sein als „niedrige“, ergibt sich ein Widerspruch zum hedonistischen Grundprinzip der Maximierung von Freude (vgl. Köhne, 92-101). Dasselbe trifft auch für Fred Feldmans attitudinalen Hedonismus zu, bei dem „Freude“ als intentionale, auf bestimmte Objekte gerichtete Einstellung („attitudinal pleasure“) aufgefasst wird. Da sämtliche gerichteten Freuden immer einen Weltbezug enthalten, soll die Qualität oder der Wert einer Freude an bestimmten Eigenschaften der Objekte gemessen werden. So sollen die freudvollen Erlebnisse nicht wie bei Nozicks Erlebnismaschine auf Irrtümern, sondern auf wahren Annahmen beruhen, und die Bezugsobjekte müssten die Freude „verdienen“ (vgl. Feldman, 112; 121). Das Verdienst- oder Wertkriterium bleibt allerdings sehr vage und es ist unklar, ob es sich bei den Objektivitätskriterien noch um intrinsische Eigenschaften einer subjektiv empfundenen Freude handelt oder ob zusätzliche hedonismusfremde Elemente einer Wunsch- oder Gütertheorie ins Spiel kommen (vgl. Köhne, 106 f.; 110ff./ Steinfath 2013, 175). 2) Wunsch- oder Zieltheorie Obgleich es selten explizit gemacht wird, scheinen die meisten liberalen Befürworter der Selbstoptimierung von diesem zweiten Grundmodell auszugehen: Aus der Warte der Wunsch- oder Zieltheorie („desire-fulfillment“ oder „preference-satisfaction theory“) ist ein Leben dann gut oder glücklich, wenn in ihm die wichtigsten Wünsche oder Lebensziele eines Menschen realisiert werden. Individualethisch zu befürworten wären demnach sämtliche Verbesse- <?page no="70"?> 70 2 Normative Bezugsgrößen rungsmaßnahmen, mit denen sich die Betroffenen wesentliche subjektive Ziele erfüllen können. Stärker als bei Feldmans „attitudinalen Hedonismus“ findet bei diesen Ansätzen die anthropologische Tatsache Beachtung, dass Menschen ihr Leben aktiv gestalten und dabei stets nach dem Erreichen selbstgesetzter Ziele streben. Da alle zur Reflexion fähigen Wesen Wünsche entwickeln und diese auch in der Realität erfüllen möchten, macht die Wunschtheorie äußerst anspruchslose und unstrittige Voraussetzungen. Zudem ist sie offen für den Pluralismus an Vorstellungen des guten Lebens und überlässt das Urteil über das Gelingen des eigenen Lebens jedem selbst, weshalb sie gegenwärtig breite Zustimmung erfährt (vgl. Seel 1995, 78 f./ Kipke 2011, 203). In der Philosophie der Gegenwart wird sie etwa von John Rawls, James Griffin oder Martin Seel vertreten, die allerdings strenggenommen eher Theorien über Ziele, Lebenspläne oder Selbstverwirklichung vorlegen: Während ein spontan auftauchender Wunsch häufig fantastisch und realitätsfremd ist und sich an einer subjektiven Idealität orientiert, ist das Ziel ein sorgfältig geprüfter, realitätsorientierter Wunsch, den zu verwirklichen und entsprechende Handlungsschritte einzuleiten eine Person beschlossen hat. Auch diverse psychologische Studien bestätigen, dass das Ausmaß an Zufriedenheit und Glück eines Menschen von der Entwicklung und der Art persönlicher Lebensziele abhängt (vgl. Bowi, 8/ Mayring, 95). Menschen haben jedoch sehr viele verschiedene und teilweise in Widerspruch zueinander stehende Wünsche und Ziele, die sich nicht in einem Leben oder doch nicht alle gleichzeitig realisieren lassen. Daher müssten die einzelnen Ziele in einem Lebensplan in eine zeitliche und hierarchische Ordnung gebracht und miteinander koordiniert werden (vgl. Fenner 2007, 81 f.). Bedeutsam für die Bewertung eines Lebens als gelingend sind dabei v. a. weitreichende Lebensziele oder Projekte wie eine berufliche Karriere oder das Gründen einer Familie, die einen großen Regelungsumfang für ganze Lebensbereiche aufweisen. Da der Lebensplan viele identitätsstiftende Lebensziele enthält und gewissermaßen eine Konkretisierung eines normativen Selbstentwurfs darstellt, bedeutet die schrittweise Realisation eines Lebensplans zugleich eine Selbstverwirklichung (vgl. ebd., Kap. 4.4). Glücklich wäre also ein Mensch dann, wenn es ihm gelingt, seinen Lebensplan mit identitätsstiftenden Zielen kontinuierlich und mit guten Zukunftsaussichten zu erfüllen (vgl. Rawls, 447/ Seel 1995, 96). Wie damit schon deutlich geworden sein dürfte, vertritt kein Philosoph eine naive und unaufgeklärte Wunschtheorie, die zur Erfüllung sämtlicher faktischer, spontan auftauchender und teilweise konfligierender Wünsche auffor- <?page no="71"?> 71 2.1 Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab dert. Anders als zu mentalen Zuständen der Lust oder Freude haben Menschen zu ihren Wünschen immer schon ein kritisches Verhältnis und fragen sich, ob sie diese oder jene Wünsche haben sollten. Auch ist der Bezug zur objektiven Außenwelt insofern vorausgesetzt, als sich die allermeisten Wünsche nur in der Realität verwirklichen lassen. Folglich spräche eindeutig gegen den Anschluss an die Erlebnismaschine, dass sich die Wünsche, einen Roman zu schreiben oder mit Freunden zusammen zu sein, dann nur vermeintlich erfüllen würden. Im Rahmen einer reflektierten und aufgeklärten Wunschtheorie werden nur bestimmte qualifizierte und für das gute und glückliche Leben relevante Wünsche berücksichtigt (vgl. Fenner 2007, 62-69/ Köhne, 186-202): Für das eigene Leben sind zunächst überhaupt nur diejenigen Wünsche relevant, die einen Subjektbezug aufweisen und deren Erfüllung auch subjektiv erfahren werden kann. Genauso wichtig ist die Einschränkung auf informierte oder aufgeklärte Wünsche, weil sich die Erfüllung unaufgeklärter und irrationaler Wünsche nachteilig auf das gute Leben auswirken würde. Unaufgeklärt und irrational sind Wünsche, die auf falschen Annahmen über die Wirklichkeit oder logisch fehlerhaften Schlüssen basieren. So könnte jemand sich aufgrund völlig unrealistischer Idealvorstellungen eine Schönheitsoperation wünschen und sich über die tatsächlichen Möglichkeiten, Gefahren und Risiken täuschen (Kap. 3.1). Neurotisch und damit gleichfalls irrational wären Wünsche, die einer krankhaften psychischen Verfassung entspringen und deswegen im Fall einer Erfüllung zu keiner Befriedigung führen. Entwickelt jemand beispielsweise den Wunsch nach einer Schönheitsoperation aus übertriebener Selbstunsicherheit oder infolge einer krankhaft verzerrten Körperwahrnehmung, wird er durch die Operation keineswegs glücklicher (vgl. ebd.). Inadäquat oder irrational kann ein Wunsch aber nicht nur aufgrund falscher Annahmen über die Wirklichkeit sein, sondern auch wegen falscher Werturteile über die gewünschten Objekte oder Zustände (vgl. Fenner 2008, 6 ff.). Man denke an Rawls Beispiel eines berühmten Harvard-Mathematikers, der seine Forschung aufgibt und stattdessen alle Grashalme auf dem Campus der Universität zählen will (vgl. Rawls, 471). Da sich persönliche Wertvorstellungen von Anfang an in einem soziokulturellen Kontext entwickeln, ist die Gemeinschaft wesentlich mitverantwortlich dafür, was die Menschen wünschen und wie positiv sie die Wunscherfüllung erleben. Wenn Wunschtheorien jedoch Zusatzkriterien für die Auswahl der Wünsche angeben wie z. B. die Reichhaltigkeit der zu erwartenden „Erfüllung“, scheinen sie in die Nähe von objektivistischen oder hedonistischen Theorien zu rücken (vgl. Griffin, 34/ Steinfath 2013, 176). <?page no="72"?> 72 2 Normative Bezugsgrößen 3) Gütertheorien oder Objektive-Listen-Theorien Konservative Gegner der Selbstoptimierung verweisen häufig auf den Schwachpunkt liberaler subjektivistischer Positionen, dass sich Menschen in ihren Wünschen und Gefühlen täuschen können. Statt das Glück oder gute Leben von subjektiven Einstellungen der Individuen abhängig zu machen, seien vielmehr objektive subjektunabhängige Bewertungsmaßstäbe erforderlich. Gemäß den Gütertheorien oder Objektive-Listen-Theorien gibt es bestimmte Güter, also Voraussetzungen, Rahmenbedingungen oder Strebensziele, die im Leben aller Menschen wichtig und „intrinsisch gut“, d. h. in sich wertvoll sind und über das Gutsein eines Lebens entscheiden. Sollen sie eine systematische Alternative zu subjektivistischen Theorien bieten, müsste es sich dann vom Außenstandpunkt und völlig unabhängig von subjektiven Einstellungen wie Wünschen oder empfundener Freude feststellen lassen, ob ein Leben gut oder glücklich ist. Viele objektivistische Ansätze etwa von Martha Nussbaum, Philippa Foot oder Richard Kraut sind insofern neoaristotelisch und essentialistisch, als sie das Glück und gute Leben wie Aristoteles an eine „menschliche Natur“ bzw. typische menschliche Eigenschaften oder Fähigkeiten knüpfen. Nussbaum hat zwei Listen mit wesentlichen menschlichen Grundfähigkeiten und -tätigkeiten zusammengestellt, die entweder ein Leben überhaupt erst zu einem menschlichen oder darüber hinaus zu einem guten menschlichen Leben machen: Zu einem guten menschlichen Leben gehören die Fähigkeiten, 1. ein Leben von „normaler Länge“ zu leben und nicht vorzeitig zu sterben; 2. sich guter Gesundheit zu erfreuen und seine Grundbedürfnisse zu stillen; 3. unnötige Schmerzen zu vermeiden und Freude zu erleben; 4. seine Sinne, seine Phantasie und seine Denkvermögen zu gebrauchen; 5. tiefe Verbindungen zu Menschen einzugehen; 6. eine Vorstellung vom guten Leben und einen Lebensplan zu entwickeln; 7. sich am gesellschaftlichen und politischen Leben zu beteiligen; 8. in Verbundenheit mit der Natur zu leben; 9. zu lachen, zu spielen und sich erholen zu können; 10. sein eigenes Leben selbstbestimmt zu leben (vgl. Nussbaum, 200 f.). In Analogie zum „Gedeihen“ („flourishing“) von Pflanzen und Tieren postulieren auch Foot und Kraut, ein gutes menschliches Leben oder Wohlergehen bestehe im Entwickeln und Entfalten artspezifischer menschlicher Fähigkeiten und Kompetenzen (vgl. Foot, 65 ff./ Kraut, 135 ff.). Die aufgeführten physischen, affektiven, sozialen, kognitiven und sexuellen Bedingungen der artspezifischen Lebensform bleiben sehr allgemein und anspruchslos, können allerdings durch Kunst, Wissenschaft und Kultur verfeinert werden (vgl. Kraut, 148-180). So <?page no="73"?> 73 2.1 Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab werden ganz basale kognitive Fähigkeiten wie das Erlernen einer Sprache, Erinnerungs- und Wiedererkennungsvermögen benannt und in affektiver Hinsicht gehörten sowohl positive als auch negative Gefühle zum menschlichen Leben, wobei aber grundsätzlich nur situationsangemessene gut seien und die negativen nicht Überhand nehmen dürften (vgl. ebd., 164; 153-158). Kritiker befürchten, dass objektivistische Ansätze einen Paternalismus und antiliberale politische Praktiken befördern (vgl. Bayertz u. a., 18). Auch ist es höchst unplausibel und kontraintuitiv, ein gutes oder gar glückliches Leben ganz unabhängig von reflexiven Selbstbewertungen oder subjektivem Wohlbefinden an das pure Vorhandensein der aufgelisteten Güter zu koppeln. Dies stünde im Widerspruch zur alltäglichen Erfahrung, dass Menschen aufgrund großer individueller Differenzen auf verschiedene Güter wie beispielsweise Autonomie, Sicherheit oder familiäre Geborgenheit unterschiedlichen Wert legen. Aus objektivistischer Sicht kann es jedoch an mangelnden kognitiven Fähigkeiten oder ungünstigen naturalen oder sozialen Gegebenheiten liegen, wenn jemand das für ihn objektiv Gute nicht erkennt (vgl. Runkel, 106 ff.). Im Gegensatz zu radikalen Gütertheorien beziehen zumindest gemäßigte Theorien auch die subjektive hedonistische Komponente menschlichen Glücks mit ein, die allerdings an bestimmte objektive Güter gebunden bleibt. Nach Kraut beispielsweise ist nicht schon der Besitz oder das Entfalten der artspezifischen Fähigkeiten intrinsisch gut, sondern erst die Freude an ihrem Gebrauch, und Foot definiert Glück als „Freude am Guten“ (vgl. Kraut, 164/ Foot, 129). Kritisch zu fragen ist aber, woher man überhaupt wissen kann, was für Menschen objektiv gut sein soll. Sobald es nicht mehr bloß um biologische Grundfunktionen geht, die sich wie bei Orchideen, Bienen oder Löwen unmittelbar aus der Natur ablesen lassen, ist die „menschliche Lebensform“ offenkundig äußerst komplex und variabel. Nach Ansicht der Objektivisten bildet die Bezugnahme auf die Idee des natürlichen Gedeihens allerdings lediglich einen generellen theoretischen Rahmen, und die sehr offenen und vorläufigen Listen müssen in verschiedenen Zeiten und Kulturen konkretisiert werden (vgl. Nussbaum, 189/ Kraut, 146 ff.). Je allgemeiner und konsensfähiger solche objektiven Listen gehalten sind, desto geringer sind die Gefahren eines naturalistischen Fehlschlusses oder Zirkelschlusses sowie paternalistischer Konsequenzen (Kap. 2.4). Objektivisten bedienen sich selten naturwissenschaftlicher Methoden zur Ermittlung der „Natur“ des Menschen oder einer statistischen Norm, sondern kombinieren Erfahrungen der Menschen mit kritisch-aufklärerischen normativen Reflexionen auf das historisch-kulturelle Selbstverständnis (vgl. Nussbaum, 189). Der <?page no="74"?> 74 2 Normative Bezugsgrößen scheinbar subjektunabhängige objektive Bezugspunkt der menschlichen Natur entpuppt sich damit letztlich als rationaler gesellschaftlicher Konsens, sodass es sich um eine rekonstruktive diskursive Begründungsmethode handelte. Mit Blick auf die aktuelle Selbstoptimierungs-Debatte bleibt aber meist offen, ob bei einer perfektionistischen Auslegung neoaristotelischer Ansätze das Ausüben arttypischer menschlicher Eigenschaften oder Fähigkeiten wie etwa Denkvermögen oder Empathie bereits ausreicht oder ob sie in besonderer Weise kultiviert oder perfektioniert werden müssen. 4) Hybridtheorie zwischen aufgeklärtem Subjektivismus und kriteriologischem Objektivismus Überzeugende Theorien des guten und glücklichen Lebens verbinden subjektivistische mit objektivistischen Elementen, d. h. sie berücksichtigen sowohl die subjektiven Einstellungen der Individuen als auch subjektunabhängige Lebensumstände, Güter und Kriterien (vgl. Köhne, 35 f.). Im Unterschied zu den eindeutig „objektivistischen“ Objektive-Liste-Theorien lassen sich die hedonistische und Wunschtheorie in dem Sinn als „subjektivistisch“ bezeichnen, als sich ihnen zufolge das Glück oder gute Leben an den Empfindungen, Gefühlen, Wünschen oder Zielen der jeweiligen Subjekte bemisst. Sie sind aber nicht im radikalen Sinn subjektivistisch, weil sie keineswegs jedem sein ganz persönliches Glücksverständnis belassen und damit Glück gleichsam zur Privatsache oder subjektiven Geschmacksfrage erklären, sondern allgemeine und in diesem Sinn „objektive“ Bewertungskriterien entwickeln und begründen. Es ist ohnehin ein weit verbreiteter Irrtum, Menschen hätten von Geburt an eine rationale und untrügliche Vorstellung vom Glück oder guten Leben (vgl. dazu Hampe, 56). Zu undifferenziert ist daher die These des radikalen oder einfachen Subjektivismus des Glücks oder guten Lebens, Glück sei für jeden Menschen vor dem Hintergrund seiner persönlichen biographischen Erfahrungen, Wertvorstellungen und Wünsche etwas ganz anderes und es ließen sich daher keine allgemeinen Aussagen machen. Objektivistische Positionen wenden berechtigterweise gegen subjektivistische ein, dass subjektive Wünsche das Resultat von Irrtümern sein können und dass ihre Ausbildung sowohl durch menschliche Grundbedürfnisse und -fähigkeiten als auch durch gesellschaftliche Ideale und Wertstandards beeinflusst werden (vgl. Steinfath 2011, 301). Konzeptuell überzeugen kann daher nur ein aufgeklärter oder reflektierter Subjektivismus mit der Forderung an den Einzelnen, die Interpretation seiner Lebenssituation, <?page no="75"?> 75 2.1 Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab seine Wünsche und sein Lebenskonzept bezüglich allgemeiner Gesichtspunkte zu reflektieren und zu hinterfragen sowie der rationalen Kritik durch andere zu öffnen. Da sich der Einzelne grundlegend über seine Lebenssituation täuschen kann, müsste zumindest die Realitätsforderung einer Übereinstimmung des positiven subjektiven Glückszustandes mit einem objektiv günstigen Lebensverlauf erfüllt sein. Abzulehnen ist neben einem von Bioliberalen gern vertretenen radikalen Subjektivismus genauso aber auch der unter Biokonservativen beliebte radikale oder absolute Objektivismus, demzufolge es nur genau eine richtige, durch die „Natur“ des Menschen, durch Gott oder tradierte Vorstellungen vom guten Leben festgelegte menschliche Lebensform gibt. Vertretbar ist wiederum nur die gemäßigte Variante eines kriteriologischen Objektivismus mit diskursiv-rational begründeten allgemeinen Kriterien oder normativen Standards, die eine zentrale Rolle bei der Gestaltung und Beurteilung des eigenen Lebens und zur Aufrechterhaltung der glückskonstitutiven sozialen Anerkennungsverhältnisse spielen. Statt die vorhandenen philosophischen Theorien des Glücks und guten Lebens einfach als gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen und damit einen individualethischen Relativismus zu befördern, lassen sich die vorzugswürdigen Merkmale der drei Theorien in einer „Hybridtheorie“ oder „Hybridkonzeption“ kombinieren (vgl. dazu Weber, 272/ Bayertz u. a. 18): Dem Hedonismus ist sicherlich insofern Recht zu geben, als ein Leben ohne subjektiv empfundene Lust oder Freude weder ein glückliches noch auch ein gutes sein kann. Ein passives Erleben noch so intensiver und lückenloser Glücksmomente allein ist jedoch kaum ausreichend für menschliches Glück, weil Menschen in aller Regel noch viele andere Ziele außer Lustempfindungen verfolgen und ihr Leben aktiv führen und gestalten wollen (vgl. Bayertz u. a., 14). Anders als der theoretisch unhaltbare unreflektierte und rein quantitative sensorische Hedonismus definieren neuere Versionen im Sinne eines aufgeklärten oder reflektierten Subjektivismus objektive Kriterien für die Beziehung zwischen Selbst und Welt. Außerdem kann ein Leben nur dann als sinnvolles Ganzes beurteilt und bejaht werden, wenn in ihm sukzessive eine planvolle Ordnung wichtiger Wünsche oder Ziele verwirklicht wird und dieser Prozess als erfüllend erlebt werden kann. Kern einer kombinierten Theorie müsste daher eine reflektierte und aufgeklärte Wunsch- oder Zieltheorie bilden, derzufolge nur bestimmte nach objektiven Kriterien geprüfte Wünsche zu einem guten und glücklichen Leben beitragen können (vgl. Griffin, 34). Darüber hinaus führen Wunschtheoretiker auch zentrale Inhalte oder Dimensionen des Glücks wie etwa Arbeit, <?page no="76"?> 76 2 Normative Bezugsgrößen Interaktion, Spiel und Betrachtung an, die im Leben aller Menschen wichtig sind (vgl. Seel 1995, 138-170). Solche grundlegenden menschlichen Güter stellen auch Gütertheorien oder Objektive-Liste-Theorien zusammen, die allerdings im Rahmen eines radikalen und absoluten Objektivismus Tendenzen zum Paternalismus und Totalitarismus aufweisen können. Wenn das persönliche „gute Leben“ und „Wohlergehen“ nur noch von außen festgestellt wird und nicht vom betroffenen Subjekt auch gespürt wird, entfernt man sich zudem allzu weit vom allgemeinen neuzeitlichen Sprachgebrauch von „Glück“. Gemäßigte Gütertheorien nähern sich jedoch einem kriteriologischen Objektivismus an, weil die Güter diskursiv-rekonstruktiv begründet werden und die große Rolle der praktische Vernunft und der Fähigkeit zur selbstbestimmten Lebensplanung nach eigenen Wunschvorstellungen betont werden (vgl. Nussbaum, 214/ Foot, Kap. 4). Ihre Listen sind zudem so allgemein gehalten, dass sie sich als Orientierungsrahmen für eine Zieltheorie eignen. Ein gutes und glückliches menschliches Leben wäre nach einer kombinierten oder Hybridtheorie ein gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis, bei dem die betreffende Person die ihr wesentlich erscheinenden Ziele und Güter auf emotional erfüllende Weise realisiert und sich dabei nicht über relevante deskriptive Tasachen und normative Standards täuscht (vgl. Steinfath 2013, 177). 2.1.3 Empirische Untersuchungen zum Glück Nachdem die Philosophen trotz zweieinhalbtausendjähriger Bemühungen keine einheitliche Antwort auf die Frage nach dem Glück fanden, versprechen heute Naturwissenschaftler eine klare Antwort in Form einer belastbaren Wissenschaft vom Glück (vgl. dazu Bayertz 2013, 38). In der empirischen Glücksforschung mit Schwerpunkt in der Psychologie und den Wirtschaftswissenschaften wird zwar auf eine Glücksdefinition verzichtet und von einem radikal subjektivistischen Glücksverständnis ausgegangen. Sie versucht aber allgemeine glücksförderliche Faktoren zu ermitteln, indem in repräsentativen Umfragen nach Korrelationen, d. h. Wechselwirkungen zwischen dem selbstgeschätzten Grad an Glück und anderen Faktoren wie Alter, Zivilstand oder sozioökonomischem Status gesucht wird (vgl. ebd., 43/ Frey u. a., 29; 43): Bezüglich des Zusammenhangs von Glück und Geld haben viele Studien das sogenannte Easterlin-Paradox nachgewiesen, demzufolge steigende Einkommen in einer Gesellschaft ab einem bestimmten für die Stillung der Grundbedürfnisse ausreichenden Einkommensniveau weder durchschnittlich noch <?page no="77"?> 77 2.2 Gerechtigkeit als sozialethischer Maßstab für die reichgewordenen Mitglieder zu mehr Glück und Zufriedenheit führen (vgl. Weimann u. a., 22 ff.; 114 f./ Binswanger, 42 ff./ Frey u. a., 54 ff.). Auch wenn die wohlhabenderen Menschen in einer Gesellschaft aufgrund eines Vergleichs mit den anderen durchschnittlich eine höhere Lebenszufriedenheit angeben als die ärmeren, schwächt sich die Zunahme nach oben hin ab, und nach einer Schweizer Studie kommt es sogar ab einem Einkommen von 10.000 Franken zu einer leichten Abnahme (vgl. Frey u. a., 50 f.). Bezüglich der Korrelation von Glück und Arbeit sind der Verlust des Arbeitsplatzes und die Arbeitslosigkeit die am besten nachgewiesenen Unglücksfaktoren im Leben eines Menschen, und das Glück bei der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit hängt maßgeblich von der Bezahlung, dem Grad an Selbständigkeit und Selbstbestimmung sowie an intrinsischer Motivation und Wertschätzung der Leistung ab (vgl. Popp u. a., 193 f./ Binswanger, 45 f./ Frey, 95 f.). Demgegenüber wird die Gesundheit irrtümlicherweise von sehr vielen Menschen als am meisten glücksrelevant eingestuft, obgleich der Zusammenhang zwischen Glück und objektivem Gesundheitszustand gering ist und kranke und verunfallte Menschen wegen des Vergleichs mit noch kränkeren relativ gut mit ihrer Gesundheitssituation zurechtkommen (vgl. Frey u. a., 15). Grundsätzlich gilt allerdings zu beachten, dass die Korrelation bestimmter Variablen strenggenommen noch nichts über die Kausalbeziehung z. B. zwischen Glück und Ehe aussagt: Eine Heirat muss nicht Glück zur Folge haben, sondern glückliche Menschen könnten auch einfach leichter einen Partner finden (vgl. ebd., 19). Zudem besteht zwischen den ermittelten Glücksfaktoren und dem Glück der Einzelnen keine logische und notwendige Beziehung, sodass sich beim Vorliegen bestimmter Quellen menschlichen Glücks nur mit gewisser Wahrscheinlichkeit tatsächlich ein persönliches Glück einstellt (vgl. Birnbacher 2005, 8). 2.2 Gerechtigkeit als sozialethischer Maßstab Während „Glück“ bzw. das „gute Leben“ die Grundbegriffe der individual- oder strebensethischen Perspektive bilden, ist das Ideal der Sozial- oder Sollensethik die Gerechtigkeit. Im Gegensatz zum vertikalen Selbstbezug bei der prudentiellen Suche nach dem persönlichen Glück tritt bei moralischen Reflexionen über die gebotene Rücksichtnahme auf andere die horizontale Achse mit Interaktionen zwischen den Menschen in den Fokus. Insbesondere wenn es um das Enhancement auf der Basis neuerer Biotechnologien wie etwa Psychopharmaka oder Gentechnik geht, wirft die Selbstoptimierung neben der Frage nach der <?page no="78"?> 78 2 Normative Bezugsgrößen Verbesserung der Lebensqualität der Einzelnen oft auch diejenige nach der Qualität des Zusammenlebens auf. Aus einer sozialethischen oder moralischen Perspektive befürchten viele Kritiker des Selbstoptimierungstrends den Zerfall der Gemeinschaft in egozentrische und narzisstische Einzelindividuen, die asozial sind und sich nicht mehr um das Gemeinwohl kümmern (vgl. Balandis u. a., 149/ King u. a., 295). Es wird mit Sorge beobachtet, wie sich das ausgeprägte Streben der Individuen nach Selbstoptimierung mit immer wirksameren Mitteln auf ihr Verhältnis zu den Mitmenschen und auf die Gerechtigkeit und Chancengleichheit in einer Gesellschaft auswirkt. Was „Gerechtigkeit“ genau bedeutet, darüber gibt es allerdings nicht weniger vielfältige Vorstellungen und Konzeptualisierungsweisen als beim Glücksbegriff. Die alltäglichen Gerechtigkeitsvorstellungen genauso wie die philosophischen Gerechtigkeitstheorien basieren aber in aller Regel auf einer der beiden grundlegenden Intuitionen: Zumeist bildet die Idee der Gleichheit („Egalität“) sowohl im Alltagsverständnis als auch in der philosophischen Tradition den Kern von Gerechtigkeit: Es wird ein interpersonaler Vergleich zwischen den Menschen vorgenommen und als gerecht gilt, wenn alle in ähnlichen Situationen gleich behandelt werden. Es stellt sich dann jedoch die von Amartya Sen aufgeworfene Frage „Equality of what? “, also worauf genau die Gleichheit ganz konkret bezogen werden soll. Wie zu sehen sein wird, kann es z. B. die Gleichheit an Regeln, Gütern, Chancen oder Wohlergehen sein. Im Kontrast zu dieser Idee der Gleichheit und des interpersonalen Vergleichs ist es nach der zweiten Grundidee von Gerechtigkeit vielmehr gerecht, wenn jede Person ohne Vergleich das bekommt, was sie verdient: Es steht dann einzelnen Menschen etwas an sich oder absolut gesehen zu, ganz unabhängig davon, was andere haben (vgl. Krebs, 7 ff.). Diese grundlegende Alternative spiegelt sich auch in der aktuellen philosophischen Gerechtigkeitsdebatte mit den gegensätzlichen Positionen des „Egalitarismus“ und „Non“- oder „Inegalitarismus“ wider, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist: ▶ Egalitarismus: komparative egalitäre Gerechtigkeit (Kap. 2.2.1) ▶ Nonegalitarismus: adressatenbezogene inegalitäre Gerechtigkeit (Kap. 2.2.2) <?page no="79"?> 79 2.2 Gerechtigkeit als sozialethischer Maßstab 2.2.1 Egalitarismus: komparative, egalitäre Gerechtigkeit 1) Wirtschaftsliberaler Egalitarismus: Verfahrensgerechtigkeit in der freien Marktwirtschaft Eine mögliche Konkretisierung der egalitären Idee der Gleichheit ist ein formaler Verfahrensegalitarismus, bei dem wie in einem Sportwettkampf für alle Beteiligten ungeachtet ihrer Herkunft oder Religion und ohne jede Privilegierung die gleichen Regeln gelten. Gerecht oder ungerecht können nämlich nicht nur Personen und ihre Handlungen genannt werden, sondern auch Institutionen oder Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen, die das Zusammenleben der Menschen regeln. Wirtschaftsliberale halten die liberale Marktwirtschaft für gerecht, weil für alle Marktteilnehmer die gleichen Regeln gelten und sich jeder frei nach seinen persönlichen Interessen am Tausch von Gütern oder Dienstleistungen beteiligen kann: Ein Tausch kommt nur dann zustande, wenn beide Interaktionspartner vor dem Hintergrund ihrer subjektiven Präferenzen das Eingetauschte als gleich wertvoll erachten. In dem etwa von Friedrich von Hayek und Robert Nozick vertretenen Libertarismus stellen die uneingeschränkte Herrschaft des Marktprinzips und die Handlungsfreiheit der Einzelnen die obersten normativen Orientierungsmaßstäbe dar (vgl. dazu Kymlicka, 98 ff./ Hinsch 2016, 83 f.). Die allgemein geltenden Normen beschränken sich dabei im Wesentlichen auf ökonomische Regeln eines fairen Tausches und das Recht auf Eigentum, d. h. insbesondere das Recht auf die Erträge aus den je individuellen Begabungen und Leistungen. Gemäß Nozicks Anspruchstheorie der Gerechtigkeit haben die Bürger einen Anspruch auf alle Besitztümer, die sie durch Tausch, Kauf oder Schenkung erworben haben (vgl. Nozick, 144 f.). Die Rolle des Staates beschränkt sich im Sinne eines Minimal- oder Nachtwächterstaates auf den Schutz der Rechte auf Leben und Eigentum seiner Bürger, das Verhindern von Betrug und die Durchsetzung von Verträgen, ohne dass er aber ein öffentliches Schul-, Gesundheits- oder Verkehrswesen bereitstellen würde. Denn eine Besteuerung zu solchen allgemeinen Zwecken sowie eine staatliche Umverteilung von persönlich erwirtschafteten Gütern wird als eine ungerechtfertigte Form von Gewaltausübung und Verletzung individueller menschlicher Freiheitsrechte angesehen (vgl. ebd., 11; 143). Abgelehnt werden damit die Ideen einer Verteilungs- und sozialen Gerechtigkeit, die gegen das liberale Marktprinzip verstoßen und aus libertärer Sicht auf einem Missverständnis von Gerechtigkeit basieren. Die Marktwirtschaft als spontane Ordnung lässt beliebige soziale <?page no="80"?> 80 2 Normative Bezugsgrößen und ökonomische Ungleichheit zu, die als Resultat eines gerechten Verfahrens stets als gerecht gelten. Bezüglich der teilweise kostspieligen, neu auf den Markt kommenden Enhancement-Methoden wäre gemäß Libertarismus folglich jede Verteilung in der Gesellschaft gerecht, wenn sich nur alle an die geltenden Regeln des freien Wettbewerbs halten. Aus Sicht der Kritiker des libertären Gerechtigkeitsverständnisses kann aber das Marktprinzip solange nicht zu einer gerechten Güterverteilung führen, als dabei die sehr ungleichen Startbedingungen in keiner Weise berücksichtigt werden (vgl. Kymlicka, 102/ Fenner 2010, 364 f.). Zu denken ist v. a. an das Erbe von Vermögen oder Privateigentum und die stark abweichenden persönlichen physischen und psychischen Dispositionen. Fast ebenso gravierend wie angeborene Charakterschwächen oder Behinderungen sind aber die ungleichen sozialen Entwicklungschancen, weil Kinder aus einkommensschwachem oder bildungsfernem Elternhaus in viel geringerer Weise unterstützt und gefördert werden. Sie bilden entsprechend weniger Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl aus und entwickeln geringere Marktkompetenz, d. h. verfügen über weniger gute Ausbildungsmöglichkeiten, Produktivität und Fähigkeiten zur Selbstvermarktung (vgl. Kymlicka, 128 f.). Da diese ungleiche Erstausstattung an Gütern und Eigenschaften nicht auf eigene Verdienste und Leistungen zurückgeht, steht sie den Begünstigten schwerlich berechtigterweise zu und scheint damit nicht als gerecht bezeichnet werden zu können. In der Gerechtigkeitsdebatte wird der Einfluss von Glück, Zufall oder Schicksal (englisch „luck“) von den Vertretern des Schicksals-Egalitarismus („Luck Egalitarianism“) thematisiert, der im Deutschen irreführend als „Glücks-Egalitarismus“ übersetzt wird (vgl. Wollner, 249). Ihnen zufolge ist eine ungleiche Verteilung aufgrund unterschiedlicher Herkunft, Anlagen und Talente moralisch problematisch, weil diese zufällig sind und niemand „etwas dafür kann“. Gerecht können nach dieser überzeugenden Argumentation nur diejenigen Ungleichheiten sein, die sich auf individuelle Entscheidungen, Anstrengungen und Handlungen zurückführen lassen. Die ungleichen Marktchancen werden aber in der liberalen Marktwirtschaft nicht beseitigt, sondern vielmehr weiter ausgebaut und durch Lohnunterschiede bestätigt. Ohne staatliche Umverteilung kommt es zu einer großen Ungleichverteilung der Einkommen und des Wohlstands, die wiederum unterschiedliche Chancen zum Erwerb von Gütern oder zur Erfüllung der persönlichen Wünsche und Interessen mit sich bringen. Nur formal besteht dann für alle Marktteilnehmer die gleiche negative Handlungsfreiheit, weil auch die Schlechtergestellten von niemandem am Nachfragen von Gütern und <?page no="81"?> 81 2.2 Gerechtigkeit als sozialethischer Maßstab der Stillung ihrer Bedürfnisse auf dem Markt gehindert werden. Da ihnen aber unter Umständen die notwendigen materiellen Ressourcen und Kompetenzen beispielsweise zum Erwerb der neusten Enhancement-Technologien fehlen, können sie ihre Handlungsfreiheit nicht ausüben und ihre Wünsche nicht verwirklichen (Kap. 2.3). 2) Sozialer Egalitarismus: Verteilungsgerechtigkeit im Sozialstaat Während Libertäre sämtliche Eingriffe in die liberale Wirtschaftsordnung zur Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit für ungerecht erklären, geht es dem sozialdemokratischen egalitären Liberalismus um Gleichheit als Resultat einer gerechten Sozialordnung. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit wurde erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts anlässlich der sogenannten sozialen Frage gestellt. Sie erlebte Ende des 20. Jahrhunderts nach dem Erscheinen von John Rawls Theorie der Gerechtigkeit (1967) eine Renaissance, worin eine soziale Grundstruktur von Gesellschaften zur Herstellung einer substantiellen Verteilungsgerechtigkeit entworfen wird. Gerecht oder ungerecht ist gemäß der Verteilungs- oder distributiven Gerechtigkeit die Art und Weise, wie Handlungssubjekte, Institutionen oder der Staat bestimmte Rechte und Pflichten, Güter oder Lasten verteilen. Soziale Gerechtigkeit bzw. spezifischer eine soziale Verteilungsgerechtigkeit kann als Gesamtheit von Regeln zur Verteilung von Gütern und Lasten durch gesellschaftliche Institutionen verstanden werden, die auf eine Gleichverteilung von gesellschaftlichen Gütern abzielt und Ungleichverteilungen nur unter triftigen Gründen akzeptiert (vgl. Koller, 121 f./ Hinsch 2016, 82). Zu „gesellschaftlichen Gütern“ zählen sämtliche Güter, die erstens unabhängig von individuellen Lebensentwürfen grundlegende Voraussetzungen für ein gutes Leben bilden und zweitens anders als natürliche angeborene Güter im Besitz der Gesellschaft sind und von dieser verteilt werden. Welche konkreten Güter genau dazuzurechnen sind, wird in verschiedenen Gesellschaften und auch im Egalitarismus verschieden beurteilt. Übereinstimmung herrscht aber zumindest darüber, dass elementare Grundrechte und Grundfreiheiten wie etwa die Rechte auf Leben, Eigentum, Wahlrecht, Meinungsfreiheit und freie Berufswahl allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen zukommen sollen. Etwas weniger strikt fällt die Gleichheitsforderung in aller Regel gegenüber ökonomischen Gütern oder Ressourcen wie materiellen Mitteln, Ausbildung und Zugangsmöglichkeiten zur Arbeitswelt sowie sozialen Stellungen aus, d. h. beruflichen Positionen und öffentlichen Ämtern, die mit unterschiedlich <?page no="82"?> 82 2 Normative Bezugsgrößen viel Einkommen, Macht und Ansehen verbunden sind (vgl. ebd.). Nach Rawls sind wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten nur ethisch zulässig, wenn alle gleich Begabten und Motivierten die gleichen Chancen auf den Erwerb höherer sozialer und wirtschaftlicher Positionen haben und alle anderen Gesellschaftsmitgliedern von den mit solchen Positionen verbundenen Vorteilen profitieren können (vgl. 81; 122 f.). Durch ein gesellschaftliches Institutionensystem und geeignete Maßnahmen wie Besteuerungen soll dafür gesorgt werden, dass dank des gestiegenen Wirtschaftswachstums den am wenigsten Begünstigten mehr Güter zugeteilt werden können. Kritisiert wird an Rawls sozialem Egalitarismus die unzureichende Chancengerechtigkeit bzw. Chancengleichheit, also Gleichheit an effektiven Chancen zum Erwerb sozialer und wirtschaftlicher Güter und Positionen. Dabei ist aber zwischen einer formalen und einer materiellen Chancengleichheit zu unterscheiden (vgl. Meyer, 164.): Die durch eine rechtliche Ausgestaltung gesellschaftlicher Institutionen zu gewährleistende formale Chancengleichheit liegt bereits dann vor, wenn sich die Kriterien der Vergabe von Positionen sinnvoll aus dem jeweiligen Aufgabenbereich einer Institution ergeben und ohne jede Diskriminierung allein die Qualifikation der Bewerber ausschlaggebend ist. Eine solche formale Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit ist in Rawls Gerechtigkeitsmodell gewährleistet, weil die Menschen relativ zu ihren individuellen Begabungen die gleichen Zugangschancen zum Erwerb gesellschaftlicher Güter und Positionen erhalten sollen (vgl. Rawls, 81). Materielle Chancengleichheit erfordert jedoch zusätzlich eine Gleichheit der Startbedingungen, die sich auch auf ungleiche natürliche Ausstattungen und auf unterschiedliche, für die Entwicklung der Bedürfnisstruktur und Persönlichkeit der Heranwachsenden bedeutsame Umstände erstrecken. Es werden dann nicht lediglich gleiche Chancen für gleich begabte Individuen gefordert, sondern gleiche Chancen für alle Individuen. Rawls begrüßt zwar im Sinne einer materiellen Chancengleichheit umfassende Sozialprogramme wie etwa öffentliche Bildungseinrichtungen zum Abbau sozialer Benachteiligungen. Gemäß seinem „Differenzprinzip“ sind aber Vorteile durch unverdient bessere Startbedingungen nicht ungerecht, sofern sich die langfristigen Aussichten der am schlechtesten Gestellten dadurch verbessern (vgl. 122 f.). Es ist jedoch fraglich, wie das gestiegene Wirtschaftswachstum oder verbesserte Dienstleistungen etwa im Gesundheitsbereich tatsächlich den am schlechtesten Gestellten zugutekommen und Chancengleichheit auf sozialen Aufstieg der Lebensaussichten schaffen sollen (vgl. Meyer, 365). Arbeitslose oder Menschen mit einer <?page no="83"?> 83 2.2 Gerechtigkeit als sozialethischer Maßstab Behinderung sind auch dann benachteiligt, wenn sie gleich viel Einkommen und Besitz erhalten oder sich dank Innovationen der besonders geförderten Talentierten langfristig die Lebensbedingungen zukünftiger Generation ihres Gesellschaftssegments verbessern sollten. Während bei Rawls nur unverdiente Nachteile sozialer Herkunft beseitigt werden, könnten in Zukunft durch immer bessere Enhancement-Verfahren zusätzlich unverschuldete natürliche Defizite an physischen oder psychischen Fähigkeiten und Talenten angeglichen und so noch weitergehende materielle Chancengleichheit erzielt werden (Kap. 4.4). 3) Wohlergehens-Egalitarismus: Gleichheit an Wohlergehen / Chancen auf gutes Leben An Rawls sozialem Verteilungsegalitarismus wurde ganz grundsätzlich immer wieder kritisiert, dieses Gerechtigkeitskonzept sei zu einseitig auf die Verteilung von materiellen und sozialen Grundgütern fokussiert (vgl. dazu Hinsch 2016, 80 f./ Mazouz, 374). Gerechtigkeit dürfe aber nicht ausschließlich an der Menge der zur Verfügung stehenden Güter bemessen werden, da aufgrund der großen Verschiedenheit der Menschen mit ihren individuellen Voraussetzungen, Bedürfnissen und Lebensplänen ein Mehr an Gütern nicht zwangsläufig für jeden eine Verbesserung darstelle (vgl. Sen, 365 f.). Irrtümlich gerate dann aus dem Blick, dass Menschen mit einer unverschuldeten schwächlichen physischen oder psychischen Konstitution und wenig Talenten oder ihrer Herkunft aus bildungsfernem Elternhaus nicht den gleichen Nutzen aus der gleichen Menge an gesellschaftlichen Gütern ziehen können. Veranschaulichen lässt sich dies am Beispiel eines Menschen mit schwerer Behinderung, bei dem die Gleichheit an Bewegungsfähigkeit unter Umständen ein ganz unterschiedliches Maß an Gütern verlangt. Zudem bedeutet die Gleichheit an Einkommen und Besitz noch lange keine Gleichheit an Lebensaussichten oder Wohlergehen. Amartya Sen und Martha Nussbaum haben mit ihrem Fähigkeiten-Ansatz („capabilities approach“) eine Alternative zu Rawls Grundgüteransatz entwickelt, der den erheblichen Unterschieden in den natürlichen individuellen Anlagen und Fähigkeiten der Menschen sowie ihrer verschiedenen sozialen und kulturellen Situation Rechnung trägt (vgl. ebd., 367 f.): Maßgebliche Hinsicht der Gleichverteilung sollen nicht elementare Güter sein, sondern die realen Entfaltungsmöglichkeiten grundlegender menschlicher Fähigkeiten („capabilities“). Denn niemand schätze Einkommen und Besitz um ihrer selbst willen, sondern nur mit Blick auf sinnvolle Tätigkeiten oder Funktionen, zu denen sie befähigen. <?page no="84"?> 84 2 Normative Bezugsgrößen Dabei gelten beim Fähigkeiten-Ansatz nur diejenigen Fähigkeiten als ethisch relevant, die für ein gutes menschliches Leben und menschliches Wohlergehen wichtig sind (vgl. Nussbaum, 200 f.). Der Fähigkeiten-Ansatz rückt damit in die Nähe des Wohlfahrts-Egalitarismus („welfare-Egalitarianism“) oder Wohlergehens-Egalitarismus, demzufolge in Abgrenzung von einem Güter- oder Ressourcen-Egalitarismus die Gleichheit am Grad des persönlichen Wohlergehens bemessen werden soll (vgl. dazu Hinsch 2016, 80/ Meyer, 166). Es liegt dann ein ergebnisorientiertes Gleichheitsideal vor, bei dem es auf den tatsächlich aus bestimmten Gütern gezogenen Nutzen bzw. das Wohlergehen ankommt. Damit wird der Bezugspunkt der Chancengleichheit auf die allgemeine Dimension menschlichen Wohlergehens oder wesentlicher menschlicher Fähigkeit für ein gutes Leben ausgeweitet. Solche „equality of welfare“-Ansätze haben allerdings die schwierige Aufgabe, in pluralistischen Gesellschaften ein umfassendes, konsensfähiges Konzept von Glück oder Wohlergehen vorzulegen (vgl. dazu Kap. 2.1). Utilitaristische Konzeptionen etwa, die Glück als Maximum an Lustempfindungen oder Erfüllung von Präferenzen definieren, kämpfen mit den allgemeinen Problemen des Utilitarismus (vgl. Hinsch 2016, 81/ Knell, 578): So hinge dann das Wohlergehen der Menschen von beliebigen faktischen Bedürfnissen und Wünschen ab, die im Utilitarismus keiner Kritik unterzogen werden. Darunter könnten sich aber die Lust und Befriedigung am Quälen oder Vergewaltigen anderer Menschen („offensive tastes“) befinden, die aus moralischer Perspektive höchst verwerflich sind. Darüber hinaus scheinen exquisite und äußerst kostspielige Wünsche oder Vorlieben der in Wohlstand aufgewachsenen Gesellschaftsmitglieder („expensive tastes“) zu einer ungerechten Verteilung zu führen, wenn gleichzeitig die aus bildungsfernem Milieu Stammenden viele Wünsche zur Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten gar nicht ausbilden können und mit ganz Wenigem zufrieden sind („adaptive Präferenzen“). Prominente Vertreter wie Richard Arneson und John Roemer fordern aus diesen Gründen nicht die Gleichheit des faktischen Wohlbefindens, sondern die Gleichverteilung der realen Chancen auf das Erlangen von Wohlergehen (vgl. Meyer, 166/ Knell, 581 ff.). Bei Arnesons Chancen-auf-Wohlergehen-Egalitarismus werden nur reflektierte, rationale Präferenzen berücksichtigt, nicht aber unerfüllbare, auf Fehlentscheidungen basierende Vorlieben beispielsweise für erlesenen Champagner (vgl. Arneson, 336 f.). Im Sinne des erwähnten Schicksals-Egalitarismus sollen nicht solche selbst vergebenen, sondern nur unverschuldet eingeschränkte Chancen auf Wohlergehen kompensiert werden, die beispielsweise auf ver- <?page no="85"?> 85 2.2 Gerechtigkeit als sozialethischer Maßstab minderte Intelligenz oder körperliche Gebrechen zurückgehen. Verfechter des Chancen-auf-Wohlfahrts-Egalitarismus blenden die praktische Schwierigkeit nicht aus, dass ein Staat kaum über die notwendigen Informationen über die Selbstkontrollmöglichkeit der Bürger verfügt und allen in vergleichbaren Lebenslagen ein gleichwertiges Spektrum an Optionen zum Befriedigen ihrer Neigungen verschaffen kann (vgl. ebd., 340 ff.). Letztlich verschieben sich bei dieser Konkretisierung materieller Chancengleichheit also lediglich die Schwierigkeiten der begrifflichen Bestimmung sowie der empirischen Messbarkeit und Vergleichbarkeit von „Wohlergehen“ auf die „Chancen“ zum Wohlergehen. 2.2.2 Nonegalitarismus: adressatenbezogene inegalitäre Gerechtigkeit Gegen alle diese hier kurz skizzierten egalitaristischen Gerechtigkeitsmodelle opponieren die Verfechter eines Non- oder Inegalitarismus wie Avishai Margalit oder Michael Walzer, die das komparativ-interpersonelle und relative Kriterium der Gleichheit für unangemessen halten (vgl. Krebs, 70 ff.). Denn bei der Frage nach Gerechtigkeit komme es überhaupt nicht auf den Vergleich mit anderen an, sondern lediglich darauf, wie es jedem Einzelnen an sich gehe und was ihm für sich genommen zustehe. Zur Widerlegung des Egalitarismus wird gerne das „Levelling down“-Argument angeführt, demzufolge die Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder an Elend und Unterdrückung schwerlich gerecht sein könne. Eine gerechte Verteilung von Gütern, Chancen oder anderen wohlergehensrelevanter Faktoren liege vielmehr erst dann vor, wenn alle Menschen genug davon für ein gutes, menschenwürdiges Leben haben. Gemessen werden menschenwürdige Lebensbedingungen an nicht-komparativen absoluten Standards etwa bezüglich Gesundheit, Ernährung, sozialer Anerkennung oder Bildung, die allerdings noch kulturspezifisch konkretisiert werden müssen (vgl. Krebs, 18; 30 f.). Gemäß dem Schwellenkonzept des nonegalitaristischen Humanismus sollen alle Menschen eine bestimmte Schwelle überschreiten und beispielsweise genug Bildung erhalten, um am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilnehmen zu können. Obwohl Nonegalitaristen nicht „egalitaristisch“ sein wollen und „Gleichheit“ nicht als Wert an sich, sondern nur als abgeleiteten Wert anerkennen, können sie gleichwohl bezüglich elementarer Grundbedürfnisse eine vergleichbare Gütermenge oder die gleichen Menschenrechte für alle fordern. Auch stellen nach diesem Gerechtigkeitsmodell Ungleichheiten an individueller Lebensqualität oder an Lebensaussichten oberhalb dieser Schwelle nicht direkt ein moralisches Problem dar. Zu große gesellschaftliche Ungleichheiten könnten <?page no="86"?> 86 2 Normative Bezugsgrößen aber unter Umständen den Benachteiligten das Überschreiten der Schwelle und damit ein gutes Leben verunmöglichen, sodass Ungleichheit indirekt moralisch verwerflich wäre (vgl. Krebs, 32 f./ Knell, 662-669). So könnte z. B. die Klasse der Bessergestellten die politische Autonomie der Benachteiligten einschränken, indem sie den politischen Prozess über Medien oder das Ausnützen ökonomischer Abhängigkeitsverhältnisse einseitig zu ihren Gunsten beeinflusst. Zudem bedrohen zu große ökonomische Ungleichheiten die soziale Integration und soziale Anerkennung der Armen, weil sich diese den in der Gesellschaft gepflegten gehobenen Lebensstil schlicht nicht leisten können. So könnte z. B. infolge teurer radikaler Enhancement-Maßnahmen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entstehen, in der den Nichtoptimierten der Übertritt der Schwelle für ein gutes menschliches Leben verwehrt wäre (Kap. 4.4; 5). 2.3 Freiheit und Würde „Freiheit“ und „Würde“ erlangten ihre überragende ideengeschichtliche Bedeutung in der Neuzeit im Laufe verschiedener Individualisierungs- und Emanzipationsbestrebungen (Kap. 1.2). In der Ethik bildet insbesondere die „Freiheit“ einen Grund- und Schlüsselbegriff, weil Freiheit sowohl die Voraussetzung ethischen Handelns als auch ein wichtiges oder gar das höchste ethische Beurteilungskriterium menschlichen Handelns darstellt: In der Tradition Immanuel Kants kann eine Handlung nur dann gut genannt werden, wenn sie sowohl aus Freiheit geschieht als auch die Freiheit des Handelnden und aller vom Handeln Betroffenen zum Ziel hat. Der Sinn oder die wesentliche Funktion von Moral wäre es entsprechend, die größtmögliche Freiheit für alle Mitglieder einer Handlungsgemeinschaft zu garantieren. Dagegen ließe sich allerdings einwenden, dass es neben der Freiheit noch andere wichtige Gesichtspunkte moralischer Rücksichtnahme wie z. B. die Verletzlichkeit, Grundbedürfnisse oder das Glück der Mitmenschen gibt. Im Folgenden soll es nicht um die vieldiskutierte empirisch-deskriptive Frage gehen, ob der Determinismus oder Indeterminismus die Realität korrekt beschreiben (vgl. dazu Hildt, 40 f.). Ausgeschlossen wird jedoch von vornherein ein harter Determinismus mit seiner Unterstellung einer durchgängigen kausalen Vorbestimmtheit allen Geschehens, sodass auch psychische und geistige Phänomene vollständig durch die Kausalgesetze der Hirnprozesse erklärbar und vorhersehbar wären. Denn er gilt nicht nur physikalisch seit der Quantenphysik und der Chaostheorie als widerlegt, sondern er wäre mit der Freiheit als Grundvoraussetzung für ethisches <?page no="87"?> 87 2.3 Freiheit und Würde Urteilen und Handeln unvereinbar. Ethische Reflexionen würden sich schlicht erübrigen, wenn es nicht zumindest einen partiellen Indeterminismus gäbe. Hier soll es aber um die definitorisch-begriffliche Frage gehen, was genau „Freiheit“ eigentlich meint und unter welchen Bedingungen sie vorliegt. „Freiheit“ und „Würde“ werden nämlich so viele Bedeutungen zugemessen, dass mit der Berufung auf diese Orientierungsmaßstäbe in der Selbstoptimierungs-Debatte für oder gegen bestimmte Praktiken argumentiert wird (Kap.-4.4). Viele Missverständnisse und Kontroversen entstehen dadurch, dass die Bezugsgrößen von den einzelnen Parteien nicht klar definiert und häufig aus strategischen Gründen auf einzelne Bedeutungsaspekte reduziert werden. Bei den komplexen Konzepten „Freiheit“ und „Würde“ müssen aber genauso wie bei „Glück“ und „Gerechtigkeit“ zahlreiche Dimensionen und Formen unterschieden werden. Trotz teilweise abweichender Grenzziehung hat sich in der Philosophie folgende grundlegende Differenzierung durchgesetzt, die auch mit Blick auf die Selbstoptimierungsdebatte sehr hilfreich ist (vgl. Wildfeuer, 358): 1. Handlungsfreiheit 2. Willensfreiheit 2.3.1 Philosophische Konzepte von „Freiheit“ 1) Handlungsfreiheit Handlungsfreiheit meint ein Handeln-Können, ohne dabei von inneren oder äußeren Hindernissen oder Zwängen eingeschränkt zu werden (vgl. Fenner 2008, 183). Da diese Form von Freiheit wesentlich negativ als „Freiheit von“ Hindernissen bestimmt ist, wird sie auch als negative Freiheit bezeichnet. Unter raumzeitlichen Bedingungen des irdischen menschlichen Lebens ist eine absolute oder totale Hindernisfreiheit unmöglich. Denn die Handlungsfreiheit wird stets vielfältig durch äußere Fakten und Naturgesetze sowie innere physische oder psychische Schranken der handelnden Personen begrenzt, sodass sie immer nur graduell vorliegt. Dabei kann es geradezu als das Programm der Neuzeit angesehen werden, den jedem Einzelnen zur Verfügung stehenden Bereich ungestörten Handelnkönnens sukzessive auszuweiten (vgl. Wildfeuer, 363): So ist es ein zentrales Anliegen von Aufklärung und Humansimus, die Menschen aus überindividuellen religiösen, politischen und gesellschaftlichen Zwängen zu befreien. Auf diese Weise wird aber auch deutlich, dass eine rein <?page no="88"?> 88 2 Normative Bezugsgrößen negativ definierte „Freiheit von“ nicht das eigentliche Ziel solcher emanzipatorischer Bemühungen darstellt. Vielmehr ist die negative Freiheit von Handlungsschranken nur deswegen von großem Interesse für die Betroffenen, weil sie im positiven Sinn einen Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten bedeutet: Durch den erzielten Wegfall von gesellschaftspolitischen wie aber auch von natürlichen Hindernissen wächst der Spielraum des Handeln-Könnens. Der Einzelne hat dann die Wahl zwischen immer mehr verschiedenen Handlungsalternativen und hätte auf vielfältige Weise anders handeln können. Positiv gewendet steht „Handlungsfreiheit“ also für die Idee des Anders-Handeln-Könnens oder der Optionalität, wodurch sie einen Bestandteil der „Willlkür“- oder „Wahlfreiheit“ bildet: Willkürfreiheit enthält sowohl Aspekte der Handlungsals auch der Willensfreiheit und meint die Fähigkeit, ohne Zwänge und Hindernisse zu tun, was man will. Liberale erachten die Erweiterung des Handlungsspielraums der Menschen zumeist als höchstes ethisches Ziel und als Wert an sich, sodass sie für die Entwicklung, Förderung und Anwendung neuer Selbstoptimierungs-Technologien plädieren. Begründungsbedürftig sei nicht die Freiheit zum Einsatz neuer Enhancement-Methoden, sondern vielmehr die Einschränkung dieser Freiheit von außen (vgl. Galert u. a., 42). Doch wie weit taugt Handlungsfreiheit als normative Bezugsgröße wirklich? Ist ein Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten in jedem Fall gut? Hinsichtlich der Art der Handlungsschranken lassen sich nochmals folgende Aspekte unterscheiden (vgl. Koller 1998, 481 f.): Zum einen können die Beschränkungen in den Umständen der Umwelt oder aber in den persönlichen Eigenschaften der Individuen liegen, weshalb externe von internen Beschränkungen abzugrenzen sind. Zum anderen können sie entweder von Natur aus bestehen oder gesellschaftlich bedingt sein, sodass zusätzlich natürliche und soziale Beschränkungen auseinandergehalten werden müssen. Durch die Kombination dieser vier Betrachtungshinsichten erhält man vier Varianten von Handlungsfreiheit: Externe natürliche Beschränkungen Damit sind die Grenzen gemeint, die dem menschlichen Handeln durch die Naturgesetze und faktischen Gegebenheiten der Umwelt auferlegt werden. Es ist das große Verdienst der Naturwissenschaften, durch das Ausräumen oder Beherrschbarmachen von Hindernissen und Handlungsschranken in der äußeren nichtmenschlichen Natur den menschlichen Handlungsrahmen aus- <?page no="89"?> 89 2.3 Freiheit und Würde geweitet und viel Leid durch unberechenbare Naturgewalten von den Menschen abgewendet zu haben. Interne natürliche Beschränkungen Beim Streben nach Selbstoptimierung soll aber nicht der Spielraum an äußeren Gelegenheiten zum Handeln vergrößert, sondern ausschließlich die innere menschliche Natur verbessert werden. Beseitigt werden sollen also interne natürliche Beschränkungen, d. h. Handlungsgrenzen aufgrund angeborener oder erworbener physischer, psychischer und geistiger Eigenschaften oder Dispositionen eines Menschen. Während die persönliche Handlungsfreiheit z. B. durch eine Gehbehinderung oder psychische Störungen wie z. B. einen Waschzwang vermindert wird, kann sie durch eine Steigerung natürlicher Fähigkeiten und Talente vergrößert werden. Vertreter bioliberaler Positionen plädieren für eine Förderung der Enhancement-Medizin, um auch Eigenschaften im Normalbereich wie mangelnde Konzentrationsfähigkeit oder charakterbedingte Schüchternheit und die damit verbundenen Freiheitsbeschränkungen eliminieren zu können. Aus bioliberaler Sicht sollen Staat und Gesellschaft den Einzelnen ein möglichst breites Angebot an Möglichkeiten der Selbstoptimierung zur Verfügung stellen, ohne aber auf die Bewertung und Auswahl dieser Praktiken Einfluss zu nehmen. Aus ethischer Sicht wäre aber relevant, ob die neu hinzugewonnenen Handlungsoptionen wirklich gut für die handelnden Personen und ihr Umfeld sind und tatsächlich „Verbesserungen“ hin zu einem optimaleren Zustand darstellen. Positive Hilfspflichten gegenüber anderen Menschen werden zudem in der Sozialethik meist auf notwendige Güter oder die Beseitigung von Leid beschränkt, weil sie sich schwerlich auf beliebige von anderen gewünschte Luxusgüter oder Handlungsmöglichkeiten erstrecken können (vgl. Knell, 460 ff.). Externe soziale Beschränkungen Die meisten Kontroversen zum Thema Freiheit im Zusammenhang mit Selbstoptimierung entzünden sich jedoch an sozialen externen Restriktionen: Externe soziale Beschränkungen sind Handlungsbarrieren oder Zwänge, die entweder von herrschenden Gesetzen oder gesellschaftlichen Normen oder aber von anderen Personen oder Gruppen z. B. in Form direkter Schädigungen ausgehen. Anders als bei den nur eingeschränkt geltenden positiven ethischen Pflichten zur Hilfeleistung haben nach weitgehender Übereinstimmung in <?page no="90"?> 90 2 Normative Bezugsgrößen der Moralphilosophie alle Menschen die negative Pflicht zur Unterlassung von Handlungen, mit denen anderen Menschen Schaden zugefügt oder ihre Handlungsfreiheit ohne triftigen Grund eingeschränkt würde (vgl. Knell, 454). Aufgrund des geltenden moralischen Rechts auf Selbstbestimmung und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit demokratischer Legitimierung von rechtlichen und moralischen Normen sind solche externe soziale Beschränkungen nur dann ethisch zulässig, wenn sich angesichts eines großen Nutzens für alle Beteiligten ein rationaler Konsens herstellen lässt. Dies wäre etwa der Fall bei der gesetzlichen Gurtpflicht für Autofahrer, die zwar die Handlungsfreiheit der Autofahrer minimal einengt, aber die Sicherheit sowohl der Fahrenden selbst als auch aller anderen Verkehrsteilnehmer beträchtlich erhöht. Genauso können die meisten restriktiven moralischen Basisnormen wie „Du sollst nicht lügen! “ oder „Du sollst nicht stehlen! “ damit rational begründet werden, dass ihre allgemeine Beachtung die Gemeinschaftsmitglieder von der ständigen Furcht vor gewaltsamen Übergriffen und Diebstahl befreit und dadurch die Lebensqualität aller steigert. Auch ein rechtliches oder moralisches Verbot bestimmter Selbstoptimierungs-Praktiken und damit individuell gewünschter Handlungsoptionen müsste sich durch gute, allgemein nachvollziehbare Gründe rechtfertigen lassen, z. B. durch ein zu hohes Gesundheitsrisiko für die Handlenden selbst oder aber eine damit verbundene Gefahr für ein solidarisches und friedliches Zusammenleben. Ebenso ist ein direkter Zwang zu bestimmten Formen des Enhancements weniger wegen der Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten ethisch problematisch, sondern wegen des unten zu erläuterten Rechts auf Selbstbestimmung. Denn gute Gründe für die Aufforderung eines Arbeitgebers zur Einnahme bestimmter Psychopharmaka durch den Arbeitnehmer könnten gerade die Ausweitung des Handlungsspielraums im beruflichen Tätigkeitsfeld betreffen, wenn beispielsweise ein Chirurg dank risikofreiem Enhancement mehr und bessere Operationen durchführen kann. Offensichtlich ist die normative Bezugsgröße der Handlungsfreiheit allein kein hinlängliches Kriterium für die ethische Beurteilung von externen sozialen Beschränkungen. Noch schwieriger zu beurteilen sind die verschiedenen Formen von indirektem Zwang, die mit keinen oder subtilen sozialen Sanktionen verbunden sind und die Handlungsfreiheit der Einzelnen nur indirekt beeinträchtigen. Kritiker neuer Enhancement-Technologien sehen die Handlungsfreiheit nichtoptimierter Personen häufig dadurch eingeschränkt, dass sie im Wettbewerb mit den optimierten Konkurrenten auf dem Ausbildungs-, Berufs- oder Heiratsmarkt unter massiven Druck geraten: Um am gesellschaftlichen Wettbewerb erfolg- <?page no="91"?> 91 2.3 Freiheit und Würde reich teilnehmen zu können, seien positionale, relative Selbstverbesserungen für den Einzelnen unumgänglich. Sie geraten in eine Situation „kollektiver Nötigung“, die eine Verringerung des Handlungsspielraums bedeute (vgl. Ach 2016, 128). Allerdings führt das Prinzip des Wettbewerbs fast unvermeidlich zur Verminderung der Handlungsfreiheit der Konkurrenten und vor allem der Verlierer des Wettbewerbs, ohne dass es in liberalen Gesellschaften deswegen als ethisch disqualifiziert gilt. Vielmehr wird es allgemein gutgeheißen, weil sich auf dem freien Markt die fähigsten Konkurrenten bzw. die mit den besten Angeboten durchsetzen sollen. Auch ein Wettbewerb zwischen Optimierten und Nichtoptimierten wäre nicht schon wegen der ungleichen Auswirkung auf die Handlungsfreiheit der Konkurrenten problematisch, sondern nur im Fall eines unfairen Wettbewerbs und illegitimer Wettbewerbsverzerrungen (Kap.- 4.4). Natürlich lässt sich ganz unabhängig vom ethischen Prinzip der Freiheit grundsätzlich über das gesellschaftliche und ökonomische Organisationsprinzip des Wettbewerbs diskutieren, indem noch andere ethische Prinzipien wie das Wohlergehen der Einzelnen, ein solidarisches Miteinander oder ökonomische Gerechtigkeit geltend gemacht werden (Kap. 2.2/ 4.4). Eine andere Form eines indirekten gesellschaftlichen Zwangs ist der soziale Gruppendruck, der zur Anpassung an bestimmte gesellschaftliche Ideale drängt. Ethisch betrachtet ist ein solcher Gruppendruck aber wiederum nicht allein schon aufgrund der Einschränkung der Handlungsfreiheit bedenklich, da sonst auch der Gruppendruck durch demokratisch legitimierte rechtliche oder moralische Normen verwerflich wäre. Inakzeptabel sind nur jene hinter dem Trend zur Selbstoptimierung stehenden gesellschaftlichen Ideale, die das gute Leben der Einzelnen oder das gerechte Zusammenleben gefährden. Dies dürfte zwar nicht auf gesellschaftliche Ideale wie Gesundheit oder Fitness, aber auf das verbreitete weibliche Schönheitsideal zutreffen, das einen hohen finanziellen Aufwand und das Risiko einer Minimierung von Gesundheit und Glück für die sich ihm „gezwungenermaßen“ unterwerfenden Frauen bedeuten kann (Kap. 3.1). Interne soziale Beschränkungen Interne soziale Beschränkungen schließlich sind Beschränkungen sozialer Handlungsressourcen, die zwar sozial bedingt sind, aber gleichwohl zur persönlichen Ausstattung der Individuen gehören. Dazu zählen etwa medizinische Grundversorgung, Bildung, berufliche Qualifikation und Arbeitsbedingungen. Infolge zunehmender gesellschaftlicher Enhancement-Praktiken könnten sich <?page no="92"?> 92 2 Normative Bezugsgrößen all diese Bedingungen so verändern, dass die individuelle Handlungsfreiheit zumindest bestimmter gesellschaftlicher Gruppen wie etwa den sozioökonomisch Schlechtergestellten verringert wird. Kritik Grundsätzlich ist am liberalen Modell einer negativen Freiheit zu kritisieren, dass indirekte Formen eines externen gesellschaftlichen Zwangs sowie sozial interne Beschränkungen meist keine Beachtung finden. Von Bioliberalen werden die Selbstoptimierer häufig bereits dann als frei betrachtet, wenn sie nicht durch externe soziale Beschränkungen am Handeln nach ihren eigenen Wünschen gehindert werden. Auf diese Weise werden aber im Rahmen eines überzogenen Individualismus die sozialen, politischen und ökonomischen Hindernisgründe des Handeln-Könnens ausgeblendet. Denn damit gewisse Handlungsoptionen für die Einzelnen überhaupt Bedeutung erlangen können, müssen diese über bestimmte Mittel oder geeignete Fähigkeiten verfügen. Eine rein negative Freiheit als Hindernisfreiheit ist kein Wert an sich und für den Einzelnen solange praktisch nutzlos, als ihm die Voraussetzungen für die Realisierung der ihm offenstehenden Handlungsoptionen fehlen. So können jemandem die für die Aktualisierung der negativen Freiheit notwendigen natürlichen Dispositionen fehlen oder einfach die erforderlichen finanziellen Mittel, um von dem in einer Gesellschaft zur Verfügung stehenden Angebot an Selbstoptimierungstechnologien überhaupt Gebrauch machen zu können. Zynisch wäre es, einem sozioökonomisch Unterprivilegierten zuzurufen, er sei frei, sich nach Belieben selbst zu optimieren (vgl. Koller 1998, 485/ Kap. 1.2). Die Rede von Handlungsfreiheit scheint nicht sinnvoll zu sein, wo jemandem die notwendigen Mittel und auch eine Aussicht auf ihren zukünftigen Besitz vollständig fehlen. Trotz der gestiegenen technischen Möglichkeiten zur Selbstoptimierung erfährt er keinen Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten im positiven Sinn, sodass sich sein Handlungsspielraum faktisch nicht erweitert. Darüber hinaus ergab die knappe Analyse der vier Hinsichten möglicher Freiheitsschranken, dass weder der rein zahlenmäßige Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten ein hinlängliches ethisches Kriterium für die Zulassung oder Förderung sämtlicher Selbstoptimierungs-Praktiken darstellt noch die begründete Einschränkung bestimmter Optionen vermeintlicher „Selbstverbesserungen“ in jedem Fall ethisch unzulässig ist. <?page no="93"?> 93 2.3 Freiheit und Würde 2) Willensfreiheit Freiheit im vollen Wortsinn erfordert neben dem negativen Moment der Handlungsfreiheit noch den positiven Aspekt der Willensfreiheit: Negative Freiheit als Freisein von Handlungsschranken stellt lediglich die äußere Bedingung für die Möglichkeit von Freiheit dar, bedeutet aber noch nicht die Wirklichkeit oder den Gebrauch von Freiheit (vgl. Wildfeuer, 359). Denn dafür muss noch die innere Voraussetzung des Wollens und Ergreifens bestimmter Handlungsoptionen durch die handelnde Person gegeben sein. Willensfreiheit meint die mentale bzw. geistige Fähigkeit, durch bewusste Überlegungen zwischen verschiedenen Handlungsoptionen mit Blick auf persönliche Ideale oder Wertvorstellungen eine Wahl zu treffen und die Verwirklichung der Handlungsziele einzuleiten (vgl. Fenner 2010, 56 f.). Gemäß dem entscheidenden Kriterium der Urheberschaftsbedingung darf die Person nicht bloßer Spielball des Weltgeschehens sein, sondern muss selbst der Ursprung ihres Wollens und Handelns bilden (vgl. Wildfeuer, 360/ Bieri, 20). Von Willensfreiheit kann also nur dann gesprochen werden, wenn sich jemand nicht einfach von inneren Faktoren wie Instinkten, Bedürfnissen und charakterlichen Neigungen oder äußeren sozialen Einflüssen leiten lässt, sondern von vernünftigen Gründen. Wie die Wahl letztlich ausfällt und welche Motive oder Wünsche am Ende handlungsleitend werden, muss entscheidend von der Person selbst und ihren Überlegungen abhängen. Während Handlungsfreiheit ein Anders-Handeln-Können meint, ist für Willensfreiheit wichtig, dass sich eine Person auch anders hätte entscheiden können. Ethische Reflexionen oder Theorien sind überhaupt nur sinnvoll, wenn eine solche Willensfreiheit der handelnden Personen vorliegt und sie entsprechend für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können. Während kein Mensch ein Recht auf maximale Handlungsfreiheit, sondern nur auf ein bestimmtes Minimum davon hat, wird jedem Menschen ein unverletzliches Recht auf Willensfreiheit und auf die damit verbundene Würde zugesprochen (vgl. Fenner 2008, 186 ff.). Obgleich die Existenz der Willensfreiheit empirisch weder bewiesen noch widerlegt werden kann, muss sie in der Ethik vorausgesetzt werden. Auch in der Selbstoptimierungs-Debatte wird zwar heftig über Willensfreiheit oder -unfreiheit der Selbstoptimierer gestritten, ohne dabei aber die grundsätzliche Möglichkeit von Willensfreiheit in Frage zu stellen. Im Folgenden geht es daher nicht um empirisch-psychologische Fragen wie diejenige, wie der Wille als mentales Vermögen des Überlegens und Entscheidens eine Kausalkette in der raumzeitlichen Wirklichkeit in Gang setzen kann. Viel- <?page no="94"?> 94 2 Normative Bezugsgrößen mehr geht es um die philosophisch-begriffliche Frage, wann genau einer Person Willensfreiheit zugesprochen werden kann. Aufschlussreich für das Verständnis des Phänomens menschlicher Willensfreiheit ist die Unterscheidung zwischen einem „Wünschen“ und einem „Wollen“ bzw. zwischen „Wünschen“ und „Zielen“: Das Wollen setzt ein Können voraus und ist mehr als ein bloßes Sich-Wünschen. Typisch für den Willen ist es, dass er im Gegensatz zum bloßen Wünschen etwas in der Realität in Bewegung setzt und das Handeln lenkt. Der Wille einer Person kann sich daher immer nur auf die tatsächlich offenstehenden Handlungsmöglichkeiten beziehen, sodass die Möglichkeiten des Wollenkönnens durch die oben genannten Beschränkungen der Handlungsfreiheit limitiert sind: durch die natürliche und soziale Wirklichkeit, die wir immer schon vorfinden und nicht kurzfristig und grundlegend umgestalten können, und durch interne bzw. innere Anlagen und Fähigkeiten, über die man bereits verfügt und die man lediglich in bestimmten Grenzen optimieren kann (vgl. Bieri, 38 f.; 50 f.). Wünschen hingegen kann man sich buchstäblich alles, z. B. die Welt zu verändern oder als Opernsängerin in der Mailänder Scala aufzutreten. Wünsche sind grundsätzlich idealitätsorientierte Vorstellungen eines befriedigenden Zustandes, die uns entweder das Gefühl der Fremdkontrolle oder des Getriebenseins vermitteln oder als realitätsfremde Phantasieprodukte sogar das Handeln lähmen (vgl. Fenner 2007, 60). Ganz anders verhält es sich mit realitätsorientierten Zielen, die Gegenstand eines aktiven Wollens sind und mit der Erfahrung von Selbstkontrolle einhergehen. In der Motivationspsychologie wurde für den entscheidenden Übergang vom Wunsch zum Ziel bzw. vom Wünschen zum Wollen das „Rubikonmodell“ entwickelt und nach dem Fluss Rubikon benannt, den Cäsar 49 v. Chr. nach langem Abwägen überschritt und damit den Bürgerkrieg eröffnete (vgl. ebd./ Rheinberg, 168 f.): Entscheidend für das Überqueren des Rubikon ist der Prozess des Überlegens und Prüfens, ob sich die oft ganz spontan auftauchenden Wünsche unter den gegebenen Bedingungen überhaupt realisieren lassen und ob ihre Erfüllung keine negativen Konsequenzen mit sich bringen würde. Zudem muss sich die Person mit den Mitteln der Umsetzung eines Wunsches beschäftigen und geeignete Methoden und Schritte der Durchführung auswählen. Solange jemand nur den Wunsch hat, eine Chopinsonate zu spielen, braucht es keinen planenden Verstand. Wer sie aber wirklich spielen will, muss sich beispielsweise überlegen, wie er die Noten beschaffen kann und wann er Zeit zum Üben hat (vgl. Bieri, 37). Nur dann bleibt es nicht beim bloßen Gedankenspiel, sondern es entwickelt sich im <?page no="95"?> 95 2.3 Freiheit und Würde Planungsprozess die Bereitschaft, die Schritte auch tatsächlich durchzuführen. Der Wunsch kann dann „handlungswirksam“ und damit ein „Wille“ werden, wie es in Harry Frankfurts Modell heißt (vgl. unten). Erkenntnisbedingungen: hinlängliches Wissen und kognitive Fähigkeiten Damit sich ein freier Wille bilden kann, müssen etwas konkreter folgende Erkenntnisbedingungen erfüllt sein: Zunächst braucht es ein hinlängliches Wissen sowohl über die vorgefundene Wirklichkeit als auch die eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Jemand muss einigermaßen realistisch einschätzen können, welche Handlungsoptionen ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich offenstehen. Da in verschiedenen Handlungssituationen jeweils ganz unterschiedliche Kenntnisse vonnöten sind, kann die Willensfreiheit einer Person situativ in größerem oder kleinerem Grad vorhanden sein: Jemand kann in hinreichendem Maß willensfrei sein bei alltäglichen Verrichtungen wie Einkaufen, aber unfrei bei komplexeren Betätigungsformen wie Bankgeschäften. Wenn die kognitiven Fähigkeiten des Wahrnehmens und Erkennens z. B. infolge einer psychischen Erkrankung eingeschränkt sind, kommt es zu einer inadäquaten Situationswahrnehmung wie etwa beim „Tunnel-Blick“ von Depressiven oder einer krankhaft veränderten Körperwahrnehmung bei Kandidatinnen für Schönheitsoperationen (Kap. 3.1). Willensfreiheit erfordert daher zusätzlich die kognitiven Fähigkeiten des kritischen Prüfens und Hinterfragens: Kritisch überprüft werden sollen die eigenen Wünsche und Hintergrundannahmen, auf denen sie basieren. Auszusondern sind zum einen „neurotische Wünsche“, die einer krankhaften psychischen Verfassung wie der erwähnten Körperbild-Störung oder einem Minderwertigkeitskomplex entspringen (vgl. Fenner 2007, 68 f.). Denn die Befriedigung solcher Wünsche etwa nach Schönheitsoperationen oder der Eroberung von Frauen zum Beweis der eigenen Unwiderstehlichkeit bringt nicht die erhoffte Erfahrung von Erfüllung. Zum andern dürfen „uninformierte“ oder „unaufgeklärte Wünsche“ nicht zu Handlungszielen mutieren, weil ihnen Fehleinschätzungen der Handlungssituation oder der eigenen Fähigkeiten zugrunde liegen (vgl. ebd., 62 f.). Dazu zählt etwa der oben erwähnte Wunsch nach einem Auftritt in der Scala bei mittelmäßigem musikalischem Talent. Eine sorgfältige Prüfung der eigenen Wünsche setzt eine reflexive, distanzierte Grundhaltung zu den eigenen Einstellungen und einen inneren, kritischen Abstand zu sich selbst voraus (vgl. Bieri, 71 f./ Leefmann, 287 f.). Ruiniert wird eine solche Haltung durch heftige Affekte oder Triebe: <?page no="96"?> 96 2 Normative Bezugsgrößen Höchst unfrei ist jemand in einer sogenannten Affekthandlung, bei der ein kurzzeitiger intensiver Erregungszustand etwa aufgrund einer überfordernden Stresssituation oder einer akuten Existenzangst die Einsichts- und Kritikfähigkeit ausschaltet oder stark herabsetzt. Genauso unfrei sind triebhafte Menschen, die sich einfach von ihren unhinterfragten spontanen Wünschen treiben lassen (vgl. Frankfurt, 72 f.). Wertungsbedingung: Ausbildung von Wünschen zweiter Ordnung Neben dieser Erkenntnisbedingung muss noch die Wertungsbedingung erfüllt sein: Die eigenen Dispositionen, Wünsche und Einstellungen sollen nicht nur erkannt, sondern auch mithilfe eigener Überlegungen bewertet werden (vgl. Leefmann, 287). Willensfreiheit setzt nicht allein die Erkenntnis der faktisch vorhandenen Wünsche erster Ordnung voraus, die unmittelbar auf einen ersehnten Zustand oder ein erstrebtes Objekt gerichtet sind. Vielmehr braucht es gemäß Frankfurts vieldiskutierter Theorie der Willensfreiheit noch Wünsche zweiter Ordnung, die sich wertend auf solche Wünsche erster Ordnung beziehen (vgl. Frankfurt, 71): Wünsche zweiter Ordnung sind die auf einer höheren Reflexionsebene befindlichen Wünsche, bestimmte Wünsche erster Ordnung zu haben oder nicht zu haben. Wünscht sich jemand auf dieser höheren Ebene, dass ein bestimmter bereits vorhandener Wunsch ein Wille werde, nennt Frankfurt die entsprechenden Wünsche zweiter Ordnung Volitionen. Eine Person wäre genau dann willensfrei, wenn diejenigen Wünsche erster Ordnung handlungswirksam werden, die ihren Volitionen zweiter Ordnung entsprechen. Wichtig ist der Akt der Identifikation, d. h. die positive Bewertung und Bejahung der eigenen handlungswirksamen Wünsche und damit des eigenen Willens, weil dieser erst dadurch eine besondere „Zugehörigkeit“ zur Person erhält (vgl. Bieri, 382/ Frankfurt, 93/ Kipke 2011, 106). Wünsche zweiter Ordnung können zentrale Wertvorstellungen, weiterreichende berufliche oder familiäre Lebensziele oder abstrakte Ideale wie Tapferkeit oder Coolness sein. Sie legen fest, was einer Person in ihrem Leben wichtig ist und wer sie sein möchte, und müssen sich mit vernünftigen Gründen rechtfertigen lassen. Während bei Frankfurt die Frage nach einem Bewertungsmaßstab für die Wünsche zweiter Ordnung offen bleibt und womöglich in einem unendlichen Regress auf immer noch höhere Stufen verschoben wird, hat man sein Modell später durch das Kriterium der „Kohärenz“ erweitert (vgl. Kipke 2009, 377): Volitionen müssen kohärent sein, d. h. in den Gesamtzusammenhang einer Persönlich- <?page no="97"?> 97 2.3 Freiheit und Würde keit mit stabilem Wertesystem und umfassendem Lebensplan integriert sein. Da die zentralen Lebensziele und Ideale das „Selbstkonzept“ oder „normative Selbst“ einer Person konstituieren, muss der freie Wille mit dem normativen Selbst übereinstimmen (Kap. 1.1). Willensfreiheit ist daher gleichbedeutend mit Selbstbestimmung oder „Selbstübereinstimmung“ sowie Autonomie oder „Selbstgesetzgebung“, weil sich die Person mit ihrem Selbstkonzept und ihren Lebenszielen ihr „eigenes Gesetz“ gibt und diesem in ihrem Wollen und Handeln Ausdruck verleiht. Nur wenn sie im Einklang mit ihrem normativen Selbstbild handelt, tut sie das, was sie wirklich tun will. Negative Randbedingung: Fehlen von Heteronomie Ob Willensfreiheit vorliegt oder nicht, scheint nun wesentlich von der Art der Genese der Wünsche zweiter Ordnung abzuhängen: a) Intern betrachtet bedroht ein psychologischer Determinismus den freien Willen, b) extern gesehen eine Heteronomie im Sinne sozialer Fremdbestimmung. Ad a: Gemäß dem etwa von Gerhard Roth und Wolf Singer vertretenen psychologischen Determinismus werden der Wille und das Handeln einer Person determiniert durch ihre eigenen Wünsche, Charakterzüge und Gewohnheiten, die ihrerseits durch Faktoren wie genetische Anlagen, frühkindliche Prägung und biographische Entwicklung bedingt sind (vgl. dazu Wildfeuer, 364 f./ Kipke 2011, 100 f.). Ihrer Ansicht nach ist Willensfreiheit zwar mit einem solchen „weichen Determinismus“ vereinbar, weil kein äußerlicher Zwang, sondern nur eine Determination durch eigene Wünsche oder Motive stattfindet. Im strengen Sinn liegt positive Freiheit im Wollen aber wie gezeigt nur vor, wo reflexive Distanz zu den eigenen Wünschen, Motiven und Überzeugungen gewahrt ist und die Entscheidung für bestimmte Handlungsoptionen auf eigene Überlegungen zurückgeht. Obgleich die bei der Reflexion abgewogenen Gründe faktisch von Erziehung, Sozialisation oder persönlichen Erfahrungen herstammen mögen, müssen sie kritisch hinterfragt und geprüft und aus reflexiver Distanz bejaht oder verworfen werden (vgl. Fenner 2008, 187 f.). Ad b: Ethisch gesehen von viel größerer Relevanz ist die Bedrohung der Willensfreiheit durch Heteronomie oder Fremdbestimmung, weil eine solche Verletzung des grundlegenden Rechts auf Selbstbestimmung durch Mitmenschen oder den Staat moralisch höchst verwerflich ist: Ursprung des Wollens und Handelns ist dann nicht das handelnde Subjekt selbst, sondern der Wille einer anderen Person oder einer sozialen Gruppe. Das Fehlen von äußerer Fremdbestimmung oder Heteronomie stellt gewissermaßen <?page no="98"?> 98 2 Normative Bezugsgrößen eine negative Randbedingung für innere Selbstbestimmung oder Autonomie dar. Ein klarer Fall von Heteronomie ist die Manipulation, bei der durch einen gezielten Einsatz von Rhetorik, Propaganda, Drogen oder anderen psychologischen Mitteln die kritische Reflexionsfähigkeit und der Wille anderer Menschen ausgeschaltet werden. So versucht suggestive, manipulative Werbung z. B. durch die Kürze der Einblendung eine bewusste Wahrnehmung zu umgehen oder unbewusste Ängste oder Bedürfnisse anzusprechen. Um einen Menschen zu manipulieren und seine Willensfreiheit zu untergraben, reicht aber bereits eine Täuschung durch falsche oder selektive Informationen bzw. das bewusste Vorenthalten relevanter Kenntnisse über die Handlungssituation aus. Wird beispielsweise eine Person durch die Werbung der Schönheitsindustrie mit irreführenden und suggestiven Bildern versorgt und durch die behandelnden Chirurgen unzureichend über eine gewünschte Schönheitsoperation aufgeklärt, kann ihre Entscheidung nicht frei genannt werden. Am häufigsten verbindet man Heteronomie jedoch mit der Vorstellung von einem direkten sozialen Zwang, bei dem jemand unter Anwendung oder Androhung von Gewalt zu etwas gezwungen wird, das seinem Willen widerstrebt. Aufgrund des moralischen und auch rechtlich geschützten Rechts auf Selbstbestimmung verbietet sich ein solches Aufzwingen eines fremden Willens durch Gewalt oder Nötigung. Entsprechend ist auch ein direkter Zwang zu Verbesserungshandlungen unter fast allen Umständen ethisch unzulässig (vgl. oben/ Ach 2016, 127 f.). Wie bei der Erörterung der sozial externen Beschränkungen menschlicher Handlungsfreiheit gesehen, sind aber subtilere, gewaltfreie Formen eines indirekten sozialen Zwangs etwa durch gesellschaftliche Normen oder Ideale schwieriger zu kategorisieren und zu beurteilen. Sind wir etwa allein schon deswegen unfrei, weil wir in eine bestimmte Gesellschaft mit vorgegebenen Handlungsoptionen, Wertvorstellungen und Gesetzen hineingeboren werden? Schließlich hat es keiner frei gewählt, in einer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft mit dem neuen handlungsmächtigen Trend zur Selbstoptimierung zu leben. Auch wenn Willensfreiheit in sozialer Hinsicht sicherlich durch mehr als nur durch direkte Gewalteinwirkung und Manipulation bedroht ist, wird sie schwerlich durch die vorgefundene Auswahl an gesellschaftlichen Selbstbildern, Rollenmustern und Vorstellungen vom guten Leben schon prinzipiell verunmöglicht. Denn Willensfreiheit oder Selbstbestimmung dürfen nicht mit einer absoluten Autonomie oder Autarkie in dem Sinn verwechselt werden, dass sich ein freier Wille in völliger sozialer Isolation und ohne jeden Einfluss entwickeln müsste. Vielmehr spielen zunächst Vorbilder, frühe Bezugs- <?page no="99"?> 99 2.3 Freiheit und Würde personen und Lehrer eine zentrale Rolle, damit Heranwachsende mit den in der Gesellschaft realisierbaren Möglichkeiten an Selbstbildern und Lebensformen überhaupt erst einmal vertraut werden. Sowohl die Wünsche erster Ordnung als auch die Bewertungsmaßstäbe der Wünsche zweiter Ordnung formen sich stets in Interaktion mit dem sozialen Umfeld heran. Positiv betrachtet können die Mitmenschen eine große Hilfe dabei sein, die eigenen Wünsche und das eigene Wollen zu erkennen und mit kritischem Nachfragen gegebenenfalls über eine Selbsttäuschung hinwegzuhelfen (vgl. Bieri, 421). Damit sich eine Identität oder ein Selbst herausbilden und stabilisieren kann, ist außerdem die Anerkennung der selbstgewählten Ziele und Ideale durch das soziale Umfeld erforderlich. Doch wo liegt die Grenze zwischen einem im Austausch mit anderen entwickelten autonomen Willen und einem von der Gesellschaft oktroyierten oder durch sie manipulierten heteronomen Willen, wenn es nicht um Autarkie und innere Abgeschlossenheit geht? Sozial vorgegebene Ideale und Vorstellungen vom guten Leben müssen sich letztlich in der Praxis dadurch bewähren, dass sie dem Einzelnen tatsächlich ein gelingendes gutes Leben ermöglichen. Auch wenn das Verfahren wegen der frühkindlich erworbenen gesellschaftlichen Beurteilungsmaßstäbe als zirkulär erscheint, werden Werterfahrung und Glückserleben nicht vollständig determiniert durch diese internalisierten normativen Orientierungen. Während Handlungsfreiheit nur in einer Gesellschaft realisierbar ist, die dem Einzelnen einen ausreichenden Handlungsspielraum lässt, setzt Willensfreiheit eine gesellschaftliche Offenheit gegenüber verschiedenen Lebensentwürfen und Wertvorstellungen voraus. Statt ihre Mitglieder zu einer teilnahmslosen Anpassung an bestimmte vorgegebene Ziele und Ideale zu zwingen, müsste eine freiheitsfördernde Gesellschaft individuell abweichenden Lebensentwürfen wenigstens ein Minimum an Anerkennung und Unterstützung zusichern. Ein negatives Extrembeispiel wäre eine totalitäre religiöse Gemeinschaft oder „Sekte“, die mit einer lückenlosen Informationskontrolle und einem strengen Regiment des Belohnens und Bestrafens die vollständige Unterwerfung des Einzelnen unter die Gemeinschaft intendiert und jede kritische Auseinandersetzung mit dem religiösen Orientierungssystem unterbindet. Wenn die Mitglieder zuerst emotional und finanziell von der Gemeinschaft abhängig gemacht werden und ihnen bei abweichenden Meinung mit der sozialen Ausschließung gedroht wird, ist das Verlassen der „Sekte“ für die Betroffenen keine erwägenswerte Option mehr. Bezüglich der Selbstoptimierung könnte man einen analogen Fall so konstruieren, dass in Zukunft in sämtlichen Berufsbranchen irgendeine <?page no="100"?> 100 2 Normative Bezugsgrößen Form von Enhancement zu den Einstellungsbedingungen gehört. Auch hier hat jemand, der Enhancement grundsätzlich ablehnt, keine „echte“ Wahl, weil er die Exklusion aus der Arbeitswelt und damit meist auch aus einem sozialen Netzwerk nicht ernsthaft wollen kann. Von einer regelrechten Zwangslage oder einem gesellschaftlichen Zwang lässt sich allerdings strenggenommen nur da sprechen, wo basale menschliche Güter wie Leben, Gesundheit oder Fähigkeit zur Selbstbestimmung geopfert werden müssten. Denn sehr häufig wird in der alltäglichen Lebenspraxis etwas zwar nicht um seiner selbst willen erstrebt, aber als akzeptables Mittel zur Erfüllung eines eigenen Wunsches gutgeheißen (vgl. Bieri, 115 f.). So schlucken wir eine bittere Medizin, um gesund zu werden, oder eben Pillen zur Leistungssteigerung, um einen besseren Job zu bekommen oder mit der Konkurrenz mithalten zu können. Sofern keine gravierenden Nebenwirkungen zu erwarten sind, ließe sich kaum von einer echten Zwangslage und der Unfreiheit des Willens sprechen (Kap. 4.4). Kontrollbedingung: Selbststeuerungsfähigkeit Neben der Erkenntnis- und Wertungsbedingung muss schließlich noch die Kontrollbedingung erfüllt sein: Eine Person muss sich in ihrem Handeln an den eigenen Gründen orientieren und die Verwirklichung der gewählten Handlungsziele einleiten können (vgl. Leefmann, 287). Als Willensstärke wird die positiv formulierte Fähigkeit bezeichnet, seine eigenen Ziele durch absichtliches und realitätsgerechtes Handeln notfalls gegen innere und äußere Widerstände durchzusetzen. Bei einem Willensschwachen hingegen erlischt der Wille rasch und wird wieder zum bloßen Wunsch, sobald sich die Realisierung der Ziele als schwierig herausstellt (vgl. Bieri, 38; 100/ Kipke 2011, 171 ff.). Unabdingbar für die Kontrolle seines Willens ist außerdem die negativ definierte Fähigkeit, unwillkürlich auftretende, den persönlichen Zielen zuwiderlaufende Triebe, Motive und Gefühle hemmen zu können. Beide Fähigkeiten sind wichtige Komponenten der Selbstregulationsfähigkeit oder Selbststeuerungsfähigkeit als Gesamtheit von bewussten und unbewussten psychischen Vorgängen, mit denen Menschen ihre Aufmerksamkeit, Emotionen und Handlungsimpulse regulieren. Diese individualethisch kaum zu überschätzende Fähigkeit zur Selbstregulierung umfasst außerdem noch die erwähnten Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung und -bewertung sowie die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub und zur Selbstmotivation. Sie ist schon aufgrund genetischer Anlagen sehr unterschiedlich ausgeprägt und z. B. durch impulsive und aggressive Cha- <?page no="101"?> 101 2.3 Freiheit und Würde rakterdispositionen oder ADHS stark vermindert. Sie muss aber grundsätzlich in der frühen Kindheit trainiert werden, z. B. dank geeigneter Vorbilder, klarer Ansagen wie „Warte noch ein bisschen“ und der Kommentierung der kindlichen Gefühle und Gedanken als eine Art Anleitung zur Selbstreflexion wie: „Macht Dich das jetzt traurig? “ (vgl. Pauen). Die meisten Freiheitstheoretiker wie Frankfurt beschäftigen sich nicht weiter mit dem interessanten Fall, dass eine Person sich auf einer höheren Reflexionsebene gegen einen Wunsch erster Ordnung entscheidet, ohne dass dieser aber verschwindet. Diese Unfähigkeit zur Kontrolle des eigenen Willens könnte an einer krankhaften Sucht liegen oder in unbewusst wirkenden, frühkindlich verinnerlichten Idealen oder in dauerhaften Persönlichkeitsmerkmalen wie z. B. einem Hang zu Neid und Eifersucht verankert sein. Um vom Zustand der Unfreiheit wieder in denjenigen der Freiheit zu gelangen, wäre dann die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit in Form einer Therapie oder Selbstformung erforderlich (vgl. Kipke 2011, 102). Kontrovers diskutiert wird, ob biomedizinische Mittel zur Selbstoptimierung den eigenen Willen stärken oder langfristig die Fähigkeit zur Selbstregulierung und Selbstbestimmung untergraben (Kap. 4.4) 2.3.2 Würde In der Debatte um Selbstoptimierung und Enhancement spielt auch das normative Konzept der „Menschenwürde“ eine Rolle, das philosophisch-säkular gesehen in engem Zusammenhang mit dem Konzept „Freiheit“ steht. Formal und allgemein handelt es sich bei der Menschenwürde um eine diffuse, disparat gedeutete normative Leitvorstellung, die allen Menschen einen bestimmten moralischen Status und eine besondere Schutzwürdigkeit zuspricht. Inhaltlich existieren aber so viele verschiedene Interpretationen von „Würde“, dass sowohl Gegner als auch Befürworter sich darauf beziehen. In Francis Fukuyamas Worten ist der Grund für die Würde-Zuschreibung ein „Faktor X“ als essentielle Eigenschaft aller Menschen, die jedoch in verschiedenen Weltbildern jeweils anders bestimmt wird (vgl. 210 ff.). Von Biokonservativen werden biotechnologische Optimierungsmaßnahmen häufig abgelehnt, weil sie in ihrem Verständnis die „Würde“ des Menschen oder menschlicher Aktivitäten gefährden (vgl. Kass, 128 f./ Kass u. a., 290 f.). Im Hintergrund stehen dabei oft christliche Überzeugungen, auch wenn diese nicht explizit gemacht werden (Kap. 1.3): Bei einer religiösen Auslegung der Menschenwürde kommt allen Menschen ein absoluter intrinsischer Wert und eine unhintergehbare Würde zu, weil alle <?page no="102"?> 102 2 Normative Bezugsgrößen Menschen von Gott geschaffen und Gottes Ebenbilder sind (vgl. dazu Fenner 2010, 83). Als Kinder Gottes und mit Vernunft und Wille ausgestattete Wesen haben sie Anteil an der göttlichen Heiligkeit und nehmen innerhalb der göttlichen Schöpfung eine Sonderstellung ein. Da der Würdestatus ausschließlich durch die Zugehörigkeit zur Gattung des Menschen, nicht aber durch die individuelle Ausprägung konkreter menschlicher Eigenschaften bedingt wird, handelt es sich um eine Gattungsbetrachtung menschlicher Würde (vgl. ebd., 58). Wie Fukuyama richtig bemerkt, kann diese Deutung allerdings nur diejenigen überzeugen, die an Gott glauben (vgl. 211). Eine auf den direkten Bezug auf Gott verzichtende biokonservative Argumentation macht demgegenüber eine konstante, gegebene menschliche Natur oder das „Wesen“ des Menschen geltend. Um eine absolute menschliche Würde sowie universelle Menschenrechte begründen zu können, komme nur die feste Grundlage der allen Menschen gemeinsamen „Natur“ in Frage (vgl. ebd., 160 ff./ Kass u. a., 289 f.). Wie sich in Kapitel 2.4 zeigen wird, sind aber Postulate einer normbildenden feststehenden Natur des Menschen begründungslogisch höchst problematisch. Wenn der X-Faktor wie bei Fukuyama und Kass nur äußerst vage konkretisiert wird als ein schwer beschreibbares komplexes Ganzes aus Vernunft, Bewusstsein, Empfindungsvermögen, Gefühlen und Soziabilität, scheint die Würde durch Biotechnologien aber ohnehin nicht bedroht werden zu können (vgl. ebd., 239/ Kass, 17 f.). Bioliberale sehen die menschliche Würde in keiner Weise durch neue Optimierungsmaßnahmen bedroht, weil sie sowohl spezifische religiöse Begründungen als auch die Vorstellung einer konstanten und an sich wertvollen menschlichen Natur ablehnen (vgl. Althaus u. a., Teil 3). Betont werden stattdessen die Veränderbarkeit und Verbesserungswürdigkeit des Menschen und der hohe Wert seiner Selbstbestimmung, sodass das Konzept der „Würde“ eng an dasjenige der „Freiheit“ heranrückt. Aus einer säkularen philosophisch-ethischen Perspektive reicht der Hinweis auf die Zugehörigkeit zur Gattung „Mensch“ grundsätzlich nicht aus, um einen moralischen Sonderstatus des Menschen zu rechtfertigen (vgl. Fenner 2010, 83 f.). Wenn den Menschen allein aufgrund ethisch irrelevanter biologischer Eigenschaften wie eines bestimmten Chromosomensatzes besondere Schutzwürdigkeit zugesprochen wird, handelt es sich nach einem berechtigten Einwand von Peter Singer vielmehr um einen „Speziesismus“. Genauso wie beim „Rassismus“ oder „Sexismus“ würden dann die Interessen der Mitglieder der eigenen Gruppe bevorzugt behandelt, ohne dass es dafür einen relevanten Grund gibt. Für eine hinlängliche Begründung <?page no="103"?> 103 2.3 Freiheit und Würde eines moralischen Sonderstatus müssten sich ethisch relevante Eigenschaften oder Fähigkeiten der Menschen angeben lassen, die anderen Lebewesen fehlen. Im Anschluss an Immanuel Kant wird der X-Faktor in säkularen Gesellschaften meist als die typisch menschliche Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung definiert, die ethisch von Bedeutung ist. Denn wenn ein Wesen sich selbst Zwecke setzen, Vorstellungen von einem guten Leben entwickeln und persönliche, über das nackte Überleben hinausgehende Interessen verfolgen kann, ist es in vielfältigerer und tieferer Weise verletzbar und braucht deswegen mehr moralische Rücksichtnahme als ein weniger entwickeltes, nichtselbstbestimmungsfähiges Tier. Diese innere Würde als zentrales Leitprinzip der neueren Ethik wird also konstituiert durch die Willensfreiheit, Selbstbestimmung oder Autonomie der Menschen (vgl. ebd., 57). Entsprechend liegt eine Verletzung dieser Würde vor, wo ein Mensch etwa durch Gewaltanwendung oder Manipulation verdinglicht oder instrumentalisiert wird. Bei einer individualisierenden Betrachtung ist Würde graduierbar und hängt vom individuellen Besitz der entscheidenden mentalen Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung ab. Kleinkindern, Komatösen oder Demenzkranken könnte eine innere Würde höchstens mithilfe zusätzlicher Argumente wie etwa dem Potentialitäts-Argument zugesprochen werden, demzufolge sämtliche Mitglieder der vernunftbegabten Spezies „homo sapiens“ zumindest in einem potentiellen Sinn zur Selbstbestimmung fähig sind (vgl. ebd., 58). Von dieser an Willensfreiheit gekoppelten „inneren Würde“ ist eine „äußere Würde“ oder „Würde-Darstellung“ zu unterscheiden, die vom Ausmaß an Handlungsbzw. Willkürfreiheit abhängt. Würde-Darstellung bezeichnet die Möglichkeit eines Menschen, ohne innere und äußere Zwänge und Hindernisse seine selbstgesetzten Ziele in die Realität umsetzen zu können (vgl. Fenner 2010, 58 f.). Diese Art von Würde ist offenkundig genauso graduierbar wie die Handlungsfreiheit, da sie durch die gleichen Hindernisse beeinträchtigt wird: Menschen können durch sozial externe Beschränkungen seitens von Einzelpersonen oder der Gesellschaft, durch interne natürliche Beschränkungen wie Krankheiten oder Behinderungen oder interne soziale Beschränkungen wie schlechte Ausbildung oder Arbeitsverhältnisse daran gehindert werden, ihre Würde zu realisieren oder zur Darstellung zu bringen. Damit ist auch schon deutlich geworden, dass eine im Liberalismus weit verbreitete rein negative Bestimmung äußerer Würde genauso wenig sinnvoll ist wie die ausschließlich negativ als Abwesenheit von Handlungsschranken definierte Handlungsfreiheit. Wie gut jemand sein Leben selbstbestimmt gestalten und seine Handlungsziele <?page no="104"?> 104 2 Normative Bezugsgrößen verwirklichen kann, hängt vielmehr ab von positiv vorhandenen individuellen, materiellen, sozialen und institutionellen Bedingungen. Der Schutz äußerer menschlicher Würde verlangt daher nicht nur negative Freiheitsrechte wie das Recht auf Leben, freie Berufswahl oder Versammlungsfreiheit, sondern auch positive Sozialrechte wie Recht auf Existenzminimum, Bildung oder Gesundheit. Ethisch betrachtet muss der normative Gehalt oder die Bedeutung der Menschenwürde grundsätzlich durch Rechte näher bestimmt werden. Da Rechte zur Sicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen für alle Menschen gefordert werden, spricht man von Menschenrechten. Es wäre aber ein naturalistisches Missverständnis zu meinen, Menschenrechte seien „natürlich“ oder dem Menschen „von Natur aus angeboren“. Ein häufiger Denkfehler ist es auch, das Recht auf Schutz der Würde an den Besitz von Würde zu koppeln. Denn gerade Menschen, die aufgrund schlechter Ausbildung, Armut, Krankheit oder ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse in geringerem Maß Würde darstellen oder verkörpern, sind besonders auf Schutz und Hilfeleistungen angewiesen (vgl. dazu Fenner 2016, 81 f.). Aus bioliberaler Sicht fördern neue technologische Selbstoptimierungs-Maßnahmen menschliche Würde, weil sie interne natürliche Beschränkungen aufheben und damit die Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns erweitern. Ob allerdings ein von radikalen Transhumanisten angestrebter rein siliziumbasierter „Posthumaner“ ohne Körper noch Würde darstellen kann, ist äußerst fraglich. 2.4 Normalität und Natur Je mehr die medizintechnischen und computerbasierten Möglichkeiten der Selbstoptimierung und damit der Handlungsspielraum der Menschen expandieren, desto größer wird das Orientierungsbedürfnis der Menschen. Für viele fortschrittsoptimistische Liberale scheint zwar der zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichte Stand der Technik den Maßstab dafür abzugeben, was der Mensch aus sich machen soll. Rational rechtfertigbar sind aus radikalliberaler Sicht lediglich Einschränkungen, die sich aus Nutzen-Risiken-Analysen ergeben (Kap. 1.4). Angesichts der immer schnelleren Verschiebungen dieser Maßstäbe infolge rasanter wissenschaftlich-technischer Fortschritte pochen aber Skeptiker und Warner zu Recht darauf, der Mensch dürfe nicht alles tun, was er kann. Um dem scheinbar schrankenlosen liberalen Streben nach Verbesserung und Selbstgestaltung klare Grenzen zu setzen, verweisen insbesondere Konservative vermehrt auf Konzepte wie die menschliche „Natur“, das „Natürliche“ <?page no="105"?> 105 2.4 Normalität und Natur oder „Normale“. Nachdem in der modernen Moralphilosophie eine solche Bezugnahme lange keine Rolle spielte oder sogar verpönt war, halten „Normalität“ und „Natur“ als vermeintlich einzig verbliebene stabile und verbindliche Orientierungsgrößen im postmetaphysisch-säkularen Kontext überraschenderweise wieder Einzug in den bioethischen Diskurs. Wie die folgende Untersuchung zeigen wird, sind aber beide scheinbar simplen und alltagstauglichen normativen Bezugsgrößen schon auf einer rein deskriptiven Ebene äußerst schwer zu fassen, vage und vieldeutig. Selbst wenn jedoch auf einer deskriptiven Ebene klar wäre, welche Eigenschaften oder Verhaltensweisen für Menschen „normal“ oder „natürlich“ sind, ist ihre normative „Aufladung“ problematisch. Diese Schwierigkeiten erinnern an diejenigen bei der scheinbar deskriptiven, aber verdeckt normativen Unterscheidung von „Krankheit“ und „Gesundheit“, die für die begriffliche Abgrenzung von „Therapie“ und „Enhancement“ unabdingbar ist (Kap. 1.3). Beide Begriffspaare setzen wie gesehen Vorstellungen von „Normalität“, „normalem Zustand“ oder „normalem Funktionieren“ der Menschen voraus (vgl. ebd./ Nagel u. a., 31 f.). Aber auch dem Versuch einer Kontrastierung von „natürlichen“ und „künstlichen“ Methoden der Selbstverbesserung wird implizit oder explizit ein Verständnis von „Normalität“ zugrunde gelegt, sodass der Begriff der „Natürlichkeit“ von dem der „Normalität“ kaum zu trennen ist (vgl. Birnbacher 2006, 103 f.). Bevor ausführlich auf den notorisch unterbestimmten Naturbegriff eingegangen wird, soll daher zunächst ein Blick auf das scheinbar triviale, im Alltag omnipräsente Bewertungsprinzip der Normalität geworfen werden. 2.4.1 Mehrdeutigkeit von „Normalität“ In der Enhancement-Debatte wird der Normalitätsbegriff geradezu inflationär verwendet und es werden häufig die deskriptiv-beschreibende und normativ-wertende Bedeutungsebene verwischt, die es bei ethischen Fragestellungen auseinanderzuhalten gilt (vgl. Waldschmidt, 40/ Metzinger 2012, 37): Normalität in einem deskriptiven Sinn oder als Ist-Wert meint entweder eine „Normalverteilung“ als statistisches Mittel oder ein „normales Funktionieren“ eines biologischen Organismus. Es lässt sich leicht anhand von Beispielen veranschaulichen, dass aus einem rein statistisch-deskriptiven Durchschnitt nicht ohne Weiteres normative Schlüsse gezogen werden können: Auch wenn Alkoholkonsum unter erwachsenen Männern und Karies geschlechtsunabhängig in allen Altersklassen statistisch gesehen „normal“ sind, sind diese Gewohnheiten <?page no="106"?> 106 2 Normative Bezugsgrößen oder Zustände nicht „gut“ für die Menschen und rechtfertigen kein moralisches „Sollen“. Eine unmittelbare Ableitung normativer Schlüsse aus empirischen statistischen Erhebungen bedeutete einen naturalistischen Fehlschluss (vgl. unten). Überzeugender als ein rein statistisches Normalitätsverständnis scheinen biostatische funktionale Normalitätskonzepte zu sein, bei denen eine speziestypische Funktionsfähigkeit eines Organismus den Maßstab bildet (vgl. Boorse, 567/ Daniels, 28). Denn dysfunktionale Organe beispielsweise vermindern in aller Regel die Qualität eines menschlichen Lebens erheblich. Daher ließe sich zumindest nach unten hin eine moralisch und politisch relevante minimale Schwelle des „normalen Funktionierens“ definieren, deren Überschreiten allen Menschen ermöglicht werden sollte (Kap. 1.3). Sobald allerdings über diesen engen physisch-organologischen Kontext hinaus im psychischen und sozialen Bereich ein „normales Spektrum an Lebenschancen“ zur Richtschnur gemacht wird, gerät „Normalität“ in Abhängigkeit von gesellschaftlichen und kulturellen Anforderungen (vgl. Daniels, 33/ Buchanan u. a., 122). Noch eindeutiger nimmt „Normalität“ eine normative Bedeutung an und fungiert als ein kritisierbarer und zu rechtfertigender Soll-Wert, wenn bestimmte als selbstverständlich geltende Handlungsweisen oder gesellschaftliche Ideale etwa von geistiger Leistungsfähigkeit oder Schönheit zur Norm erhoben werden. Bei allen drei Bedeutungen von „Normalität“ handelt es sich keineswegs um stabile und zuverlässige Bezugsgrößen, weil infolge wissenschaftlich-technischer Fortschritte, zeitbedingter Moden und immer anspruchsvollerer Vorstellungen von Gesundheit oder gutem Leben die statistischen Durchschnittswerte steigen und sich das gesellschaftliche „Normalitätsspektrum“ erweitert. Um eine Deckelung nach oben vorzunehmen und bestimmte Durchschnittswerte gleichsam einzufrieren, wäre argumentativ auszuweisen, wieso die Überbietung eines erreichten Niveaus eine Verschlechterung darstellte und ethisch verwerflich wäre. 2.4.2 Mehrdeutigkeit von „Natur“ Einer der häufigsten Einwände gegen die Natur als normative Bezugsgröße betrifft die Mehrdeutigkeit der Begriffe „Natur“ und „Natürlichkeit“. Die große Vielfalt teils widersprüchlicher Verwendungsweisen erweckt den Verdacht, es handle sich um bloße „Leerformeln“ (vgl. Birnbacher 2006, 18 f./ Müller 2008, 16). Hilfreich sind dabei die klassifikatorische Unterscheidung zwischen menschlicher und außermenschlicher Natur sowie die komparative Unterscheidung zwischen „Natürlichem“ und „Künstlichem“ (vgl. Birnbacher <?page no="107"?> 107 2.4 Normalität und Natur 2006, 6). Hinsichtlich der komparativen Unterscheidung gibt es allerdings in der menschlichen und außermenschlichen Alltagswelt kaum etwas „rein“ Natürliches oder Künstliches, sondern eine breite Skala von Abstufungen dazwischen. Denn einerseits finden sich zumindest in Europa kaum mehr unberührte Naturlandschaften, andererseits gehen alle materiellen Träger künstlicher Gegenstände auf vielfach bearbeitete natürliche Rohstoffe zurück. Da es aber verschiedene Hinsichten der Abgrenzungsmöglichkeiten von „Natürlichkeit“ und „Künstlichkeit“ gibt, kommt es oft zu ganz unterschiedlichen Einstufungen eines Objektes zwischen den beiden Polen (vgl. ebd., 8-16): Im genetischen Sinn von „Natur“ beispielsweise geht es um die Entstehungsgeschichte, d. h. darum, ob etwas einen natürlichen Ursprung hat und ohne Zutun des Menschen geworden ist oder vom Menschen gemacht wurde. Der qualitative Sinn von Natürlichkeit hingegen bezieht sich nicht auf die Genese einer Sache oder eines Lebewesens, sondern auf seine aktuelle Beschaffenheit und Erscheinungsform. Vom Menschen gezielt gestaltete „naturidentische“ Aromastoffe oder mit neusten raffinierten Techniken „gedopte“ Körper von Sportlern lassen sich von Vergleichsobjekten ohne menschliche Manipulation häufig nicht unterscheiden. Einige Enhancement-Technologien wirken in der Weise künstlich auf einen Körper ein, dass körpereigene Abläufe aktiviert werden und sich die Veränderungen somit innerhalb eines natürlichen Rahmens abspielen (Kap. 3.4). Eine Art genetischer Fehlschluss läge dann vor, wenn aus der Verschiedenheit der Genese automatisch auf Unterschiede in der Qualität oder Echtheit bzw. Authentizität von Objekten oder Sachverhalten geschlossen würde (vgl. Fenner 2008, 66/ Birnbacher 2006, 40). Angesichts der hier nur angedeuteten Vielzahl an Facetten von „Natürlichkeit“ bzw. „Künstlichkeit“ und des Fehlens einer einheitlichen Skala aller Dimensionen trägt der komparative Naturbegriff kaum etwas zur Beurteilung von Enhancement-Technologien bei, die an unterschiedlichen Punkten der mehr oder weniger „künstlichen“ Wirklichkeit mit mehr oder weniger „natürlichen“ Mitteln ansetzen (vgl. Heilinger, 80). Die Offenheit und Vieldeutigkeit des Naturbegriffs hat im Laufe der Geschichte immer wieder dazu verleitet, teilweise sehr unterschiedliche moralische Überzeugungen in die Natur hineinzuprojizieren (vgl. Birnbacher 2006, 18 f.). Im 18. Jahrhundert beispielsweise beriefen sich französische Philosophen wie Henry d’Holbach auf das „Gesetzbuch der Natur“ zur Stützung ihrer radikalen Kritik an der Institution der Monarchie, wohingegen Edmund Burke diese gerade wegen ihrer angeblichen Übereinstimmung mit der Welt- und Naturordnung verteidigte. Bei solchen Beweisfehlern eines logischen Zirkels wird das eigentlich erst <?page no="108"?> 108 2 Normative Bezugsgrößen zu Beweisende wie z. B. die gewünschte politische Ordnung bei der Begründung vorausgesetzt und gleichsam in die Natur hineingelegt, um daraus wieder abgeleitet zu werden. Aber auch wo die zum Beweis herangezogenen Naturvorstellungen nicht als inhaltlich willkürlich erkennbar sind, ist die Bezugnahme auf die Natur rein formal betrachtet unzulänglich: Der erstmals von David Hume aufgedeckte naturalistische Fehlschluss oder Sein-Sollen-Fehlschluss besagt, dass von deskriptiven Tatsachenaussagen z. B. über Natur oder Natürlichkeit prinzipiell keine normativen Wert- und Sollensaussagen abgeleitet werden können (vgl. ebd., 45/ Fenner 2008, 87 f.). Ein prominentes und politisch folgenträchtiges Beispiel für solche Fehlschlüsse im Zeichen eines „ethischen Naturalismus“ wäre der Sozialdarwinismus, demzufolge das in der Natur herrschende Recht des Stärkeren auch in der Gesellschaft maßgebend sein soll. Allerdings wird der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses in ethischen Debatten oft voreilig und als Diskussionsstopper eingesetzt, weshalb er als eine Art „Schreckgespenst“ in der Bioethik herumgeistert (vgl. Engels 2008, 176 ff./ Schockenhoff, 122 ff.). Denn oft liegt der Argumentation nicht ein empirisch-deskriptives Verständnis einer Natur als Gesamtheit gesetzmäßig verlaufender Teilchenverbände wie in einem naturwissenschaftlichen Weltbild zugrunde, sondern ein normatives Verständnis einer Natur als strukturierter, vernünftiger und sinnhafter Ordnung wie in metaphysischen und religiösen Weltbildern. In diesem Sinn hat etwa die katholische Kirche gegen viele neue technische Errungenschaften opponiert und lehnt beispielsweise bis heute künstliche Methoden der Empfängnisverhütung ab, weil sie der göttlichen Schöpfungsordnung widersprechen und die Fortpflanzung als „natürlichen“ Zweck der Sexualität durchkreuzen. Obwohl hier der Vorwurf des Sein-Sollen-Fehlschlusses genaugenommen nicht zutrifft, kann sich die Kritik natürlich immer noch gegen die einen bestimmten Glauben voraussetzenden impliziten normativen Prämissen richten. Ein naturalistischer Fehlschluss liegt strenggenommen auch dann nicht vor, wenn der Natur ein intrinsischer oder eigenständiger Wert zugesprochen wird (vgl. Birnbacher 2006, 38). Der Rekurs auf „Natur“ oder „Natürlichkeit“ erfolgt dann nicht in deduktiver Absicht, also um daraus konkrete Sollensforderungen oder Normen für das menschliche Handeln abzuleiten. Statt als ethische Begründungsstrategie dient diese Bezugnahme eher dem Anstoßen von „Wertbildungsprozessen“, damit Menschen das „Natürliche“ überhaupt erst einmal als wertvoll und berücksichtigungswürdig wahrnehmen (vgl. Müller 2008, 29). Bei einem solchen schwachen Plausibilitätsargument bleibt aber zum einen völlig offen, wann und mit welcher Dringlichkeit das „Natürliche“ geschützt <?page no="109"?> 109 2.4 Normalität und Natur werden soll wie im Fall der Geburtenkontrolle oder verbessert werden darf wie im Krankheitsfall. Zum anderen wäre zu begründen, wieso der Natur überhaupt ein Eigenwert zukommen soll. Nach einer gängigen Argumentationsstrategie kann die Natur als ein über enorme Zeiträume „eingespieltes“ System als genauso zuverlässig und sicher gelten wie alles andere in unserer Erfahrungswelt, das sehr lange getestet und optimiert wurde (vgl. dazu Gesang, 134). Während sich die Natur viel Zeit lässt und sich in kleinen Schritten vortastet, beunruhigt viele die enorme Beschleunigung des Tempos der Evolution durch die bahnbrechenden technischen Errungenschaften der Menschen. Sowohl in der Tradition als auch in der neueren Naturethik kursieren zudem zahlreiche idealisierende Naturbilder und Naturmetaphern wie die eines „natürlichen Gleichgewichts“ oder religiös-metaphysische Vorstellungen einer teleologisch strukturierten Ordnung, die auf ein höheres Ziel und einen Sinn des Ganzen angelegt ist. Sachlich betrachtet ist jedoch keine lineare Entwicklung hin zu einem guten Gesamtzustand erkennbar, weil nach Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft Naturprozesse immer auch vom Zufall geprägt sind und es aufgrund kosmischer Einwirkungen wie Meteoriten oder Eiszeiten mehrfach zum massenhaften Aussterben biologischer Arten kam (vgl. Fenner 2010, 170). Die außermenschliche Natur ist keineswegs an sich wertvoll und gut und bildet keine „gerechte Naturordnung“ oder einen „Garten Eden“, sondern in den vom Menschen kaum berührten Untiefen des Meeres oder im Urwald herrscht höchstens ein „Gleichgewicht des Schreckens“ (vgl. Birnbacher 2006, 49/ Heilinger, 196). Mit gewaltigen Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Epidemien und Hungersnöten hat sie den Menschen schon immenses Leid zugefügt, gegen das diese seit jeher mit technischen Hilfsmitteln wie z. B. Staudämmen und Medikamenten ankämpfen. Gegen eine Orientierung an der außermenschlichen Natur sprechen somit nicht nur die Vieldeutigkeit des Naturbegriffs und der naturalistische Fehlschluss, sondern auch starke ethische Gründe. 2.4.3 Die „menschliche Natur“ Wird in Enhancement-Debatten nicht im Sinne des komparativen Naturbegriffs die Künstlichkeit der eingesetzten Methoden kritisiert, berufen sich die Gegner neuer Selbstoptimierungs-Technologien meist auf das spezifischere Bewertungsprinzip der „Natur des Menschen“ im Kontrast zur außermenschlichen Natur gemäß der klassifikatorischen Unterscheidung. Angesichts immer neuer Veränderungsmöglichkeiten der Menschen wird das Postulat einer moralisch zu <?page no="110"?> 110 2 Normative Bezugsgrößen schützenden, wertvollen und feststehenden menschlichen Natur häufig als Tabu und Diskussionsstopper vorgebracht (vgl. dazu Heilinger, 3). Bei solchen anthropologischen Argumenten besteht eine Hauptschwierigkeit jedoch wiederum darin, dass die engere Begriffsfügung „Natur des Menschen“ keineswegs weniger vieldeutig ist oder sich leichter definieren ließe als die „Natur“ allgemein. Letztlich handelt es sich bei jeder Begriffsbestimmung der „menschlichen Natur“ um ein entdifferenzierendes und von kontingenten Entscheidungen abhängiges Ideal, weil die Vielfalt von Aspekten des Menschseins sehr selektiv auf die angeblich wesentlichen Merkmale reduziert wird (vgl. ebd., 89). Genauso wie bei einem normativen Verständnis der außermenschlichen Natur existieren bezüglich der menschlichen Natur zahlreiche idealisierende Konstruktionen wie etwa Jean-Jacques Rousseaus „edler Wilder“ als ein „von Natur aus“ guter Mensch, mit denen oft eine kultur- oder technikkritische Absicht verfolgt wird (vgl. Birnbacher 2006, 171). Da der Mensch aber ohne eine wie auch immer rudimentäre Kultur kaum überlebensfähig ist und die wenigen wissenschaftlich gesicherten Exemplare von „Wolfskindern“ geistig sehr eingeschränkt und gesellschaftlich schwer integrierbar waren, sind solche Vorstellungen einer an sich guten „menschlichen Natur“ reichlich spekulativ und fragwürdig. Nicht anders als ein nüchterner Blick auf die Evolution und die Gesetze der außermenschlichen Natur wecken verbreitete menschliche Praktiken wie Krieg, Genozid, Vergewaltigung und Ausbeutung in der Menschheitsgeschichte Zweifel daran, dass die gesamte menschliche Natur gut ist. Verteidiger einer an sich guten menschlichen Natur pflegen unter den menschlichen Handlungen gezielt eine Auswahl zu treffen wie etwa die katholische Kirche, die zwar sexuelle Handlungen mit Tieren, nicht aber das für die meisten Menschen genauso „unnormale“ Cembalospielen für „unnatürlich“ erklärt (vgl. Gesang, 127 f.). Gleich wie beim logischen Zirkel bezüglich der außermenschlichen Natur ermöglicht es die Offenheit des Konzepts der menschlichen Natur, persönliche vorgefertigte Meinungen über gute menschliche Eigenschaften in die Natur hineinzuprojizieren. Trotz aller definitorischer Schwierigkeiten muss aber eine Begriffsbestimmung des Menschen mindestens folgende Grundbedeutungen mitberücksichtigen, weil der Mensch ein „Doppelwesen“ oder Wesen mit einer „deskriptiv-normativen Doppelstruktur“ ist (vgl. Bayertz 2004, 234/ Birnbacher 2006, 172/ Heilinger, 17): 1. Mensch als Naturwesen: biologisches Lebewesen 2. Mensch als Kulturwesen: vernünftige und zur Selbstbestimmung fähige Person <?page no="111"?> 111 2.4 Normalität und Natur 1) Biologische, deskriptive Bestimmung: Mensch als Naturwesen In einer biologischen, deskriptiven Bestimmung der menschlichen Natur tritt der Mensch als Teil der Natur in den Blick, den Naturgesetzen unterworfen und ausgestattet mit einem Genom und einer biologischen Konstitution mit bestimmten Trieben, Bedürfnissen und Neigungen. Infolge der Entwicklung immer neuer Biotechnologien mit weitreichenden Interventionsmöglichkeiten wird jedoch diese biologische Seite des Menschen zunehmend verfügbar und gestaltbar. Wenn in der Enhancement-Debatte die Trans- und Posthumanisten das Überschreiten der bestehenden Grenzen der Gattung „Mensch“ begrüßen oder Biokonservative vor dem „Ende des Menschen“ warnen, tendieren beide Positionen zu einer „Naturalisierung“ der menschlichen Natur, d. h. zur einseitigen Betonung der Naturseite des Menschen (vgl. Müller 2008, 20). Viele erhoffen sich von einer Rückbesinnung auf die biologische Ausstattung des Menschen, dass auf diese Weise eher eine konsensfähige, wissenschaftlich abgesicherte anthropologische Wesensbestimmung möglich ist als über die Vielfalt kulturspezifischer Menschenbilder. Allerdings lassen sich auch die biologischen Kategorien einer Gattung oder Art bzw. Spezies keineswegs eindeutig und kontextfrei bestimmen, weil es sich eher um Clusterbegriffe handelt (vgl. Heilinger, 84/ Birnbacher 2006, 176): Gemäß dem phänotypischen Kriterium lassen sich zwar relativ stabile Bündel von charakteristischen biologischen Eigenschaften einer Spezies registrieren, die miteinander durch eine Art „Familienähnlichkeit“ verbunden sind und nur zusammen das Menschsein konstituieren. Da diese Eigenschaften aber statistische Mittelwerte darstellen und sich ständig weiterentwickeln, sind sie prinzipiell veränderlich und bilden lediglich eine Momentaufnahme in der Geschichte der Evolution. Da zudem keineswegs sämtliche Individuen alle arttypischen Merkmale aufweisen müssen, kann auf diese Weise schwerlich eine Begrenzung des individuellen Enhancements erfolgen. Wird zur Gattungsbestimmung ein genealogisches Kriterium herangezogen, würden sämtliche Abkömmlinge von Mitgliedern einer Gattung auch der gleichen Gattung angehören. Solange die Abstammungsgeschichte durch Enhancement nicht unterbrochen wird, könnte mit dem Appell zur Bewahrung der menschlichen Natur also auch nach diesem Kriterium nichts gegen menschliche Selbstoptimierung eingewendet werden. Biokonservative bevorzugen häufig ein genomisches Kriterium, bei dem der genetische Teil des Menschen isoliert und zur „Natur“ des Menschen erklärt wird (vgl. Gesang, 124/ Birnbacher 2006, 177). So definiert etwa Fukuyama <?page no="112"?> 112 2 Normative Bezugsgrößen „menschliche Natur“ als Summe der für die Gattung Mensch typischen Eigenschaften und Verhaltensformen, die sich „eher aus genetischen Umständen als aus Umweltfaktoren“ ergeben (185). Obwohl das Genom aller Menschen zu 99 % übereinstimmt, weichen einerseits Schimpansen genetisch lediglich um ca. 1,5 % vom Menschen ab und zählen andererseits auch Menschen mit Genommutationen wie etwa Trisomien immer noch zur Spezies Mensch. Auch in genetischer Hinsicht scheint es somit unmöglich zu sein, mit Blick auf zukünftige gezielte genetische Variationen mittels neuer Möglichkeiten genetischen Enhancements rein deskriptiv eine präzise Grenze der Gattungszugehörigkeit zu ziehen. Entgegen der Annahme größerer definitorischer Einigkeit und Gewissheit auf der Naturseite des Menschen ist es also keineswegs klar, wo genau die Grenze zwischen dem im biologischen Sinn Menschlichen und Nichtmenschlichen überhaupt verläuft. Nur im Extremfall der künstlichen Herstellung eines siliziumbasierten Posthumanen wäre die Gattungsgrenze eindeutig überschritten, weil dann die für das Doppelwesen Mensch charakteristischen biologischen Anteile des Menschen völlig überwunden wären. Nicht nur verfügten solche Posthumane nach dem phänotypischen Kriterium über ganz andere Eigenschaftskonstellationen, sondern es wäre weder das genealogische Kriterium gleicher Abstammungslinie noch das genomische Kriterium gleichen Genmaterials bei Künstliche-Intelligenz-Maschinen ohne Leib erfüllt. Abgesehen von der Abgrenzungsproblematik ist aber ein harter Naturalismus und die Reduktion des Menschen auf seine biologische Naturseite anthropologisch unhaltbar, da der Mensch wesentlich mehr ist als ein biologisches oder gar genetisches Substrat und der Naturbegriff des Menschen daher eindeutig zu eng ist (vgl. Müller 2008, 20 f.). Auch wenn die biologische Abgrenzung von Mensch und Nicht- Mensch trennscharf wäre, besteht zum anderen das bereits erläuterte ethische Problem des naturalistischen oder Sein-Sollen-Fehlschlusses (vgl. oben): Einer noch so vollständigen empirischen Beschreibung der menschlichen Natur mit naturwissenschaftlichen Methoden fehlt die normative Kraft, weil sie nichts darüber aussagt, was daran gut ist und bleiben soll oder aber verändert werden darf. Auch aus rein formallogischen Gründen verbietet es sich also, eine rein deskriptive Bestimmung des Menschen oder der Gattung Mensch als moralische Schranke biotechnologischer Interventionen heranzuziehen. Wie gesehen trifft der Vorwurf eines Sein-Sollen-Fehlschlusses allerdings nicht zu, wenn der Naturbegriff gar nicht in einer naturwissenschaftlich-deskriptiven, sondern in einer metaphysisch-normativen Bedeutung verwendet wird. In religiösen Weltbildern wird der Mensch als Teil eines größeren sinn- <?page no="113"?> 113 2.4 Normalität und Natur vollen Ganzen oder göttlichen Plans betrachtet, in welchem er kraft seiner Vernunft als ausgezeichneter Wesenseigenschaft eine Sonderrolle spielt (vgl. Müller 2008, 18 f.). Gemäß dem essentialistischen Kriterium wird die „Natur“ des Menschen statt in einem materiellen Sinn eines biologischen Substrats in einem formalen Sinn als „Wesen“ oder „wesentliche Beschaffenheit“ verstanden, sodass sie über biologische hinaus auch metaphysische Eigenschaften umfassen kann (vgl. Birnbacher 2006, 177). Nachdem für viele Zeitgenossen ein theologischer oder kosmologischer Gesamtrahmen nicht mehr verbindlich ist, erlebt heute im Anschluss an Aristoteles ein enger ethischer Naturalismus der menschlichen Natur eine Renaissance. Nach neoaristotelischer teleologischer Ethik dient als normatives Prinzip ein artspezifischer wesensmäßiger „Zweck“ („Telos“), der in allen Lebewesen der Möglichkeit nach angelegt ist und auf Verwirklichung drängt (vgl. Müller 2008, 27 f./ Schockenhoff, 117 f.): Wie Stacheln im Leben der Biene oder Zähne im Leben des Raubtiers eine große Rolle spielen, sollen beim Menschen seine natürlichen Tugenden „Muster natürlicher Normativität“ bilden (vgl. Foot, 56; 59). Während ein naturwissenschaftlicher ethischer Naturalismus eine „Naturalisierung“ der menschlichen Natur vornimmt, tendiert der essentialistische ethische Naturalismus mit seiner Fokussierung auf Tugenden, Vernunft und Moralfähigkeit des Menschen zu einer „Moralisierung“ der menschlichen Natur (vgl. Müller 2008, 26). Dabei sind weniger die metaphysischen Prämissen wie bei religiösen Menschenbildern das Problem als die erwähnte Gefahr von Projektionen und Zirkelschlüssen: Da sich „Natur“ oder „Wesen“ des Menschen nicht rein empirisch-deskriptiv ermitteln lassen wie etwa das menschliche Genom, wurde im Laufe der Zeit sehr Verschiedenes als „wahres“ Wesen oder „natürliches“ Ziel in den Menschen hineinprojiziert (vgl. Schockenhoff, 119 f.). Daher werden in der Enhancement-Debatte Biokonservative als „kryptonormativ“ oder „kryptochristlich“ verdächtigt, die bei der Bestimmung der menschlichen Natur wie etwa Leon Kass auf vormoderne aristotelische oder biblische Menschenbilder zurückgreifen (vgl. Kass, 20 f.). Fukuyama scheint zwar der menschlichen Natur dadurch ein solides Fundament verschaffen zu wollen, dass er sie zunächst über gattungstypische Durchschnittswerte definiert. Unklar ist dann aber der Übergang zu ihrer quasi-essentialistischen Bestimmung als „gattungstypisches Ensemble von emotionalen Reaktionen“, die erst eine „menschliche Gemeinsamkeit“ ermöglichen und Moralfähigkeit sichern (vgl. 185 ff.; 300). <?page no="114"?> 114 2 Normative Bezugsgrößen 2) kulturelle, normative Bestimmung: Mensch als Kulturwesen Hinsichtlich seiner „Doppelstruktur“ tritt der Mensch bei der zweiten kulturellen, normativen Bestimmung der menschlichen Natur anders als in biologischen und essentialistischen Konzeptionen von vornherein als Kulturwesen in den Blick, das sich kreativ zu den „biologischen“ Gegebenheiten verhält. Denn der Mensch wird keineswegs determiniert durch seine Gene und die biologische Ausstattung mit Trieben und Bedürfnissen, die gern als erste Natur des Menschen bezeichnet werden. Vielmehr legen die Gene lediglich eine Reaktionsnorm fest, und zu ihren Bedürfnissen können sich Menschen distanzieren, sie aufschieben und überformen. Ihr Verhalten wird anders als dasjenige von Tieren kaum durch angeborene Reiz-Reaktionsmuster instinktmäßig geleitet, sodass der Mensch gewissermaßen ein „unfertiges Wesen“ oder „noch nicht festgestelltes Tier“ ist (vgl. Gehlen, 10). Anstelle einer einseitig negativen anthropologischen Beschreibung als „Mängelwesen“ wäre allerdings der Schritt zur „kulturellen Evolution“ hervorzuheben, der nur dem „homo sapiens“ als einzig überlebender Menschenart gelang (vgl. Eissa, 291 ff.): Vor etwa 40.000 Jahren kam es zu einem plötzlichen Anstieg der Kreativität und damit des geistigen Potentials, sodass erste Musikinstrumente, Statuen und Höhlenmalereien entstanden und neue raffinierte Werkzeuge und Waffen entwickelt wurden. Während in einem biologischen oder essentialistischen ethischen Naturalismus fälschlicherweise von einer vorgegebenen und konstanten menschlichen Natur ausgegangen wird, rücken bei der kulturellen, normativen Bestimmung die Gestaltungsfreiheit und schöpferische Vernunft des Menschen in den Vordergrund. Aufgrund seiner Reflexionsfähigkeit und Weltoffenheit kommt dem Menschen die wesensmäßige Aufgabe zu, Stellung zu beziehen zu seinen biologischen Eigenschaften, sein Wesen zu deuten und sich selbst autonom zu bestimmen und zu gestalten (vgl. Gehlen, 9/ Heilinger, 17 f./ ebd., 283). Bei den dafür erforderlichen Denk- und Interpretationsleistungen handelt es sich aber keineswegs um eine rein individuelle Angelegenheit, sondern größtenteils um kulturelle Selbstbeschreibungen und Selbstverständigungsprozesse. So müssen z. B. die bewusstseinsfähigen und äußerst formbaren menschlichen Bedürfnisse nicht nur in ihrer Ausprägung und Konkretisierung sozial legitimiert werden, sondern diese Orientierungen lassen sich auch nur in einem sozialen Kontext stabilisieren (vgl. Fenner 2003, 437). Da Menschen nicht wie die meisten Pflanzen und Tiere in einen ganz bestimmten Umweltausschnitt eingepasst sind, müssen sie sich gemeinsam eine Kultur als zweite Natur mit <?page no="115"?> 115 2.4 Normalität und Natur einem Netz von Gewohnheiten und kulturellen Institutionen schaffen. Wie die Anthropologie des 20. Jahrhunderts aufwies, hat der Mensch eine „natürliche“ biologische Anlage zur Kultur und ist damit „von Natur aus“ ein Kulturwesen. Obschon eine umfassende normative Bestimmung der „menschlichen Natur“ im Sinne eines weichen Naturalismus die biologische Seite des Menschen als Grundlage und Ausgangspunkt reflexiver Selbstbestimmung mitzuberücksichtigen hat, sind die Menschen also zur kulturellen normativen Selbstbestimmung aufgerufen. Ein Blick in die Kulturgeschichte macht klar, dass die Bestimmung der menschlichen Natur entsprechend verschiedener historisch-kultureller Menschenbilder und Wertvorstellungen stark variiert. Je mehr zudem die Selbstveränderungsfähigkeit des Menschen durch neue Biotechnologien zunimmt, desto eindeutiger entpuppt sich die anthropologische Frage „Was ist der Mensch? “ als eine ethische Frage (vgl. Heilinger, 52; 177). Insbesondere wenn es um ethische Kontroversen wie beim Human Enhancement geht, sollte daher die Frage korrekterweise lauten: „Was soll der Mensch sein? “. Da in der Gegenwart naturalistische, metaphysische oder religiös offenbarte Antworten nicht mehr allgemein zu überzeugen vermögen, kann ein normativer Menschenbegriff letztlich nur noch in demokratischen öffentlichen Verständigungsprozessen entwickelt und legitimiert werden (vgl. ebd., 208). Biokonservative unterscheiden aber bei ihren Appellen an die Wahrung der menschlichen Natur nicht immer klar zwischen der biologisch-deskriptiven ersten Natur und der normativ-ethischen zweiten Natur des Menschen. Ähnlich wie Fukuyama versuchen viele die zweite Natur fest zu verankern, indem sie eine undurchsichtige Korrelation zur vermeintlich feststehenden ersten Natur unterstellen (vgl. oben/ Müller 2008, 23 f.). Genauso wie solche kryptonormative Fixierungen der menschlichen Natur auf Durchschnittswerte oder immanente Zwecke sind aber die Versuche liberaler Enhancement-Befürworter argumentativ unzulänglich, aus der Notwendigkeit zur Selbstgestaltung des Menschen die Notwendigkeit oder gar ethische Pflicht zur Selbstoptimierung ableiten zu wollen. Denn die von ihnen überbetonte Kulturseite der menschlichen Natur bedeutet weder, dass der Mensch seine erste Natur mit immer neuen Technologien „so weit das biologisch möglich ist“ verändern soll noch dass sämtliche neuen Technologien als Ausdruck der für die menschliche Natur charakteristischen „Freiheit und des Drangs zur (Selbst-)Gestaltung“ gerechtfertigt sind (vgl. Gesang, 125/ Ranisch u. a., 42). Auch wenn der Mensch als Kulturwesen sich selbst bestimmen muss, folgt daraus nicht automatisch, dass er sich ständig überschreiten und perfektionieren muss. Vielmehr liegt diesem Perfektionsideal <?page no="116"?> 116 2 Normative Bezugsgrößen bereits ein bestimmtes historisches und damit kritisierbares Menschenbild der Aufklärungsphilosophie zugrunde, die neben dem Christentum bis heute die abendländische Kultur entscheidend prägt (Kap. 1.1/ Birnbacher 2006, 99 f.). Auch wenn in der philosophischen Ethik die Begründung eines ethischen Standpunktes im Rekurs auf anthropologische Setzungen oder Menschenbilder generell als „Kunstfehler“ gilt, kommt eine Ethik kaum ohne ein ganz elementares und konsensfähigen Vorverständnis vom Menschen aus (vgl. Fenner 2016, 67): Im Sinne einer anthropologischen Minimaldefinition ist der Mensch als empirisch-normatives Doppelwesen ein verkörpertes Lebewesen mit einer hochentwickelten Reflexions-, Lern- und Sprachfähigkeit, das sich selbst bestimmen muss (vgl. Heilinger, 224/ Birnbacher 2006, 181). Aus ethischer Sicht ist die Bezugnahme auf „Natur“ und „Natürlichkeit“ grundsätzlich unzureichend, weil zusätzlich genuin ethische Maßstäbe wie das Glück der Betroffenen oder die Gerechtigkeit in der Gesellschaft heranzuziehen sind. Gemäß der anthropologischen Minimaldefinition läge überhaupt nur dann eine Verletzung der menschlichen Natur vor, wenn entweder auf der biologischen Seite das Leibsein des Menschen vollständig durch Maschinen ersetzt würde oder auf der Kulturseite die geistige Fähigkeit zur kreativen Selbstbestimmung verloren ginge. Wie gesehen spricht gegen die Zukunftsvision eines siliziumbasierten „Posthumanen“, dass Computer ohne Bewusstsein, Wünsche und Gefühle gar kein Glück als Endziel jeder Selbstoptimierung empfinden könnten und es für sie ohne persönliche Präferenzen gar keine „Verbesserungen“ geben könnte (Kap. 1.4). Abgesehen von solchen posthumanistischen Radikalutopien werden aber die üblicherweise als typisch menschlich betrachteten Eigenschaften und Fähigkeiten wie Verkörpertheit, Endlichkeit, Verletzlichkeit, Intelligenz, Gedächtnis, Moralität und Gefühle durch Enhancement-Techniken keineswegs abgeschafft, sondern lediglich modifiziert (vgl. Eissa, 274/ Gesang, 131). So wird seitens der „passiven“ biologischen Natur die Kontingenz der Lebenszeit oder beeinträchtigender psychisch-physischer Dispositionen verringert, wohingegen auf der „aktiven“ Seite die vielfältigen kognitiven Kompetenzen gefördert werden. Zur Beantwortung der anthropologisch-ethischen Frage „Was soll der Mensch sein? “ gilt es bei allen Eigenschaften zu prüfen, inwiefern sie zum individuellen menschlichen Glück beitragen. Ohne metaphysisch-religiöse Hintergrundannahmen vermögen aber viele Gründe für die Werthaftigkeit und Schützenswertigkeit z. B. der menschlichen Endlichkeit oder Vulnerabilität kaum zu überzeugen, etwa dass ohne Endlichkeit das menschliche Erleben arm und oberflächlich wäre oder die Reduktion der menschlichen Verletzlichkeit <?page no="117"?> 117 2.4 Normalität und Natur die Sozialität oder Moralität des Menschen gefährde (vgl. Fukuyama, 241/ Baltes, 356/ Boldt, u. a., 392). Nur weil menschliche Vulnerabilität oder Verletzlichkeit eine wesentliche Hinsicht moralischer Rücksichtnahme bildet, handelt es sich schwerlich um eine an sich wünschens- und bejahenswerte menschliche Eigenschaft (vgl. Ach u. a. 49). 2.4.4 Menschenbilder Ein weiterer gängiger Einwand gegen technologische Eingriffe in die menschliche Natur lautet, dadurch würden das menschliche Selbstverständnis oder das traditionelle Menschenbild erschüttert. Dabei wird der Begriff Menschenbild in einem deskriptiven Sinn verwendet für sämtliche in einer bestimmten Gemeinschaft geltenden, umrisshaften und zumeist impliziten und unreflektierten Grundintuitionen darüber, was der Mensch sei (vgl. Heilinger, 237). Da sich das menschliche Selbstverständnis und die Menschenbilder neuen menschlichen Erkenntnissen und Verfügungsmöglichkeiten sowie den entsprechenden Veränderungen der menschlichen Lebensweise anpassen, sind sie nicht an sich schützenswert und normativ verbindlich. Vielmehr können sie deskriptiv inadäquat und normativ fragwürdig sein, indem sie beispielsweise die Menschen einseitig bestimmen und ihre Weiterentwicklung in der Zukunft verhindern (vgl. Birnbacher 2006, 186 f.). In einem schwachen Sinn normativ können höchstens die in einem gesellschaftlichen Diskurs auf der Grundlage von Erfahrungen mit verschiedenen Menschenbildern begründeten Vorstellungen darüber sein, wie Menschen sein sollen (vgl. Heilinger, 238). In der Enhancement-Debatte ist die Warnung vor einer tiefgreifenden Erschütterung des aktuellen faktischen Menschenbildes durch neue technologische Interventionsmöglichkeiten insofern nur ein schwaches Argument, als neue technische Umwälzungen stets zu vorübergehenden Irritationen des menschlichen Selbstverständnisses führten und dann nach gewisser Zeit als Bereicherungen erlebt wurden. Ein „Gefühls“- oder „Orientierungsschutz“ kann daher nicht als Begründung eines kompletten Stopps technischer Innovationen, sondern nur zur Warnung vor überstürzten und radikalen, die menschliche Anpassungsfähigkeit überfordernden Enhancement-Technologien dienen (vgl. Eissa, 289 f./ Birnbacher 2006, 188). Gegner von Selbstoptimierung und Enhancement attackieren häufig das neue technizistische Menschenbild, das den Menschen mehr und mehr als Maschine betrachtet und aus naturwissenschaftlicher Perspektive auf das Beobachtbare und technisch Beeinflussbare reduziert (vgl. Clausen, 161 f./ <?page no="118"?> 118 2 Normative Bezugsgrößen Grunwald, 206 f./ Liessmann, 22). Sicherlich spricht aber noch nichts gegen die Verbesserung von Eigenschaften wie z. B. Langlebigkeit oder Speicherkapazität, die Menschen ebenso auch an Maschinen schätzen. Auch ist es schwerlich ethisch problematisch, den Menschen wie in der Medizin unter bestimmten Hinsichten mechanistisch zu deuten und einzelne physische und psychische Eigenschaften technologisch zu verändern. Nur gegen eine durchgängig mechanistische Deutung oder vollständige Technisierung des Menschen spricht z. B., dass dadurch für den Menschen als moralisches Wesen grundlegende Fähigkeiten wie das rationale Abwägen von Gründen und die Übernahme von Verantwortung verlorengingen. Kommentierte Kurzbibliographie zu Kapitel 2 Über die ethischen Grundbegriffe und Konzepte geben das Ethik-Handbuch von Düwell u. a. (2011) und die Ethik-Lehrbücher (UTB) von Fenner (2008/ 2010) einen Überblick, spezifischer zu den Themen Glück und gutes Leben Fenner (2003/ 2007), zur Gerechtigkeit Goppel u. a. (2016), zur Freiheit Bieri (2003) und zur Natur Birnbacher (2006). <?page no="119"?> 119 2.4 Normalität und Natur 3 Körperliches Enhancement Eine große Bedeutung bei der Selbstoptimierung erhält der Körper als Teil des menschlichen Organismus, der die materielle Erscheinung oder Gestalt eines Individuums ausmacht. Die beiden anderen noch zu behandelnden Enhancement-Formen des Neuro- und genetischen Enhancements setzen zwar auch auf der Körperebene bei Nervenbzw. Keimzellen an, verfolgen aber deutlich unterscheidbare Ziele mit ganz anderen Mitteln. Die wichtigsten Zielvorstellungen beim körperlichen Enhancement sind Gesundheit, Fitness, Schönheit, Jugendlichkeit und langes Leben. Nach einer Umfrage von TNS Infratest 2016 wollen 58 % der befragten Deutschen „gesund“, 40 % „fit“ und 15 % „schlank“ bleiben, wobei „Gesundheit“ von 79 % als „persönliches Wohlbefinden“, von 56 % als „persönliche Fitness bzw. Leistungsfähigkeit“ und von 21 % als „Schönheit bzw. attraktiver Körper“ interpretiert wird (vgl. Mühlhausen u. a. 2013, 17/ 2016, 6). Zur Erreichung dieser Ziele steht eine immer breitere Palette an verschiedensten Körperpraktiken von Entspannungstrainings wie meditatives Atmen oder Tai- Chi über Ernährungs- und Diätprogrammen bis hin zu unzähligen Sportarten mit ständig neuen Trends zur Verfügung. Da herkömmliche, nicht technikbasierte Methoden der Gesundheitsförderung weitgehend unproblematisch sind, werden in diesem Kapitel lediglich medizinische Schönheitsoperationen, biotechnologische Maßnahmen zur Lebensverlängerung, Methoden digitaler Selbstvermessung und Doping im Sport untersucht. Allerdings gilt oft schon als ethisch bedenklich, dass die Beschäftigung mit dem eigenen Körper in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften derart in den Mittelpunkt gerückt ist. In kulturkritischen Kontexten ist die Rede von einer „somatischen Wende“, einem „Körperboom“ oder „Körperkult“ (vgl. Shusterman, 243; 246/ Ammicht, 64). Als (Mit-)Ursache wird der Bedeutungsverlust der körperfeindlichen christlichen Tradition, aber auch die Faszination an fernöstlichen Körperübungen im Rahmen neureligiöser Bewegungen genannt. Kaum zu leugnen ist die Gefahr, dass eine starke Konzentration auf „körperliche Güter“ wie körperliche Leistungsfähigkeit und Schönheit zu einer oberflächlichen Orientierung führt. Genauso wie in der antiken Lebenskunst oder „Diätetik“ als umfassendem Regelwerk zur körperlichen und seelischen Gesunderhaltung könnten jedoch Regeln zur Ernährung und Bewegung eine sinnvolle Ergänzung bilden zum Erwerb innerer „seelischer Güter“ wie richtige Grundhaltungen und Umgangsformen mit körperlichen oder äußeren Gütern (vgl. Foucault 1986, 129 ff./ Horn 1998, 33). Statt <?page no="120"?> 120 3 Körperliches Enhancement die Arbeit am eigenen Körper von vornherein pauschal zu verwerfen, ist daher der mögliche Beitrag der einzelnen Praktiken zu einem guten Leben zu prüfen: ▶ Schönheitsoperationen (Kap. 3.1) ▶ Unsterblichkeit und Lebensverlängerung (Kap. 3.2) ▶ Digitale Selbstvermessung und Quantified Self (Kap. 3.3) ▶ Doping im Sport (Kap. 3.4) 3.1 Schönheitsoperationen Schönheit als zentrale Kategorie des Optimierungstrends steht heute allgemein für Gesundheit, Fitness, Jugend, Lifestyle, für gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg sowie Selbstbewusstsein und Lebensqualität (vgl. Meili, 121 f./ Mühlhausen u. a. 2016, 33). Mithilfe der immer vielfältigeren Präparate und Techniken zur Arbeit an der eigenen Körperoberfläche nehmen die Menschen das scheinbar naturgegebene „Schicksal“ des Aussehens in die eigene Hand und bestimmen ihr Erscheinungsbild selbst (vgl. Dengele, 14; 18). Nachdem Schönheit lange Zeit als eine Gabe Gottes galt, wird sie mehr und mehr zu einem Produkt des eigenen Schönheitshandelns (vgl. Borkenhagen, 58). Die Optimierungsstrategien reichen von Hairstyling, Nagellack und Make-up über Tätowierung, Piercing und Bodybuilding bis hin zu größeren chirurgischen Eingriffen wie Facelifting, Fettabsaugen und Brustvergrößerungen. Zu Beginn des Aufkommens von Schönheitsoperationen um 1600 galten diese selbst im Fall von Entstellungen etwa aufgrund einer Syphilis als moralisch verwerflich, weil man Krankheiten als Zeichen einer göttlichen Strafe oder Prüfung deutete und sie daher nicht beseitigen durfte (vgl. Meili, 121). In der Neuzeit setzte sich hingegen eine rationale Medizin durch, die solche religiösen Deutungen von Krankheit und Gesundheit verdrängte. Im 20. Jahrhundert waren Schönheitsoperationen zunächst ein Privileg der Schönen und Reichen und in der breiten Bevölkerung als „dekadent“ verpönt, bis sie immer mehr Menschen verfügbar und damit „popularisiert“ wurden. Freilich hatten die Menschen schon immer ein Bedürfnis nach ästhetischer Kultivierung des Körpers, sodass das Schönheitshandeln zu den Grundtätigkeiten des Menschen zählt: Sich zu schmücken und den Körper jenseits natürlicher Bedürftigkeit rein nach ästhetischen Kriterien zu gestalten, hebt den Menschen von der Tierwelt ab (vgl. Wiesing 2011, 44). Zu erwähnen wären beispielsweise Ohren-, Nasen- oder Lippendurchbohrungen in alten indianischen Traditionen, die Fusseinbindungen im alten China oder <?page no="121"?> 121 3.1 Schönheitsoperationen die kunstvollen Techniken zum Bemalen, Ritzen und Vernarben des Körpers in vielen „primitiven“ Kulturen (vgl. Hermann, 71/ Bayertz u. a., 43). Während diese frühen oder „primitiven“ Körpermanipulationen oft in einen kollektiven rituellen oder religiösen Rahmen wie z. B. Initiationsriten eingebunden waren, dienen die Körpertechnologien infolge ihrer neuzeitlichen Individualisierung und Pluralisierung primär der persönlichen Identitäts- oder Sinnstiftung und der Gewinnung von Aufmerksamkeit und sozialer Anerkennung seitens der jeweils relevanten Bezugsgruppe (vgl. Hermann, 71/ Degele, 10). Doch nach welchen Kriterien bemisst sich eigentlich „Schönheit“? Schönheit als wesentlicher Bewertungsmaßstab der philosophischen Ästhetik bezieht sich auf die Form und Struktur von Erscheinungen und die angenehmen Wirkungen, die sie im Betrachter bei ihrer Reflexion als „ästhetisches Wohlgefallen“ auslösen. In der antiken Philosophie war Schönheit eine objektive Kategorie, die anhand klarer Kriterien wie richtiges Maßverhältnis und Harmonie aller Bestandteile von außen festgestellt werden konnte. In der Neuzeit ist Schönheit jedoch nicht länger eine Eigenschaft des Objekts, sondern entsteht erst im Auge des Betrachters und hängt somit von ästhetischen Wahrnehmungen oder Erfahrungen der Rezipienten ab (vgl. Fenner 2013, 43 ff.). In der Gegenwart versucht zwar die interdisziplinäre empirische Attraktivitätsforschung, über empirische Befragungen überindividuelle objektive Schönheitskriterien zu ermitteln (vgl. Prantl, 16 ff.): Als „schön“ gelten Proportionen gemäß dem mathematischen Durchschnitt in der Bevölkerung, Symmetrie und geschlechtsspezifische Maßverhältnisse wie die typische V-Form mit breiten Schultern und schmalen Hüften bei Männern und eine Sanduhr-Form mit möglichst schmaler Taille bei Frauen. Unreflektiert bleiben dabei aber die Einflüsse der jeweiligen Zeit, der Medien und neuerdings der ästhetischen Chirurgie (vgl. ebd., 19/ Degele, 11 f.). Evolutionsbiologen gehen von einer genetischen Verankerung evolutionär herauskristallisierter Schönheitskriterien wie makellose Haut und Symmetrie als Indizien für Gesundheit und Jugendlichkeit aus (vgl. Rohde, 212 f.). Zur Erklärung von abweichenden Schönheitsidealen werden oft Umwelteinflüsse und sozioökonomische Faktoren herangezogen: Während bei unsicherer Versorgungslage wie in gewissen Regionen Afrikas Fettleibigkeit zum Statussymbol wird, ist Schlankheit nur in wenigen Überflussgesellschaften auf der Welt ein Schönheitsideal. Gebräunte Haut war lange Zeit ein Merkmal von Unterprivilegierung, bis sich in den 1960er Jahren besserverdienende Kreise Mittelmeerurlaube leisten konnten und sie zum Schönheitsideal avancierte (vgl. Prantl, 15). Abgesehen von relativ simplen ästhetischen Merkmalen <?page no="122"?> 122 3 Körperliches Enhancement wie makellose Haut oder symmetrischer Bau scheint aber fraglich, ob sich alle Schönheitsideale wie beispielsweise die vielen starken Schwankungen bezüglich der Körperfülle im europäischen Raum zwischen den Extremen der barocken „Rubensfiguren“ und heutigen „Magermodels“ auf evolutionäre oder sozioökonomische Vorteile zurückführen lassen. Die weitere Untersuchung geht daher von einer rein formalen soziologischen Begriffsbestimmung von Schönheit als Gesamtheit zeit- und kulturabhängiger ästhetischer Normen oder Schönheitsideale aus, die stark sozial und medial geprägt und oft willkürlichen Moden unterworfen sind (Degele, 11). Die Zahl der Schönheitsoperationen hatte sich zwar zwischen 1990 und 2002 in Deutschland versechsfacht, blieb aber nach Angaben der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgie seit 2004 relativ konstant bei jährlich ca. 700.000 Eingriffen (vgl. Hermann, 71/ Borkenhagen u. a., 43 f.). Zu den häufigsten gehören Fettabsaugungen, Brustvergrößerungen, Augenlidkorrekturen und Bauchstraffungen, wobei noch ca. 300.000 Anwendungen mit minimalinvasiven Verfahren wie z. B. das Einspritzen von Botox hinzukommen. Obwohl es in der Öffentlichkeit oft so dargestellt wird, ist also kein exponentieller Anstieg solcher Verschönerungsmaßnahmen zu verzeichnen. Stattgefunden hat jedoch eine enorme Kommerzialisierung, die sich in einer Flut von Werbeanzeigen und sogenannten Vorher-Nachher-Bildern im Internet und in verschiedenen TV-Formaten wie „The swan“ oder „Spieglein, Spieglein …“ niederschlägt. Der umgangssprachliche Ausdruck „Schönheitsoperation“ ist weitgehend deckungsgleich mit dem medizinischen Fachterminus „ästhetische“ oder „kosmetische Chirurgie“, jedoch werden auch nichtoperative minimalinvasive Maßnahmen wie Botox-Injektionen oder chemische „peelings“ zu Schönheitsoperationen gezählt. Medizinisch betrachtet gehört die „ästhetische Chirurgie“ zusammen mit der „rekonstruktiven Chirurgie“ zur plastischen Chirurgie. Bei der rekonstruktiven Chirurgie werden Defekte der Körperform oder sichtbar gestörte Körperfunktionen als Folgen einer Krankheit oder einer Verletzung z. B. bei einem Unfall wiederhergestellt oder eben „rekonstruiert“. Im Gegensatz dazu erfolgen bei der ästhetischen Chirurgie die formverändernden Eingriffe ohne medizinische Indikation allein aufgrund der Wünsche der Patienten nach einer ästhetischen Optimierung ihres Erscheinungsbildes. Während es sich bei der „rekonstruktiven Chirurgie“ in den meisten Fällen um eine „Therapie“ für Kranke oder Verletzte handelt, wird die „ästhetische Chirurgie“ für organisch Gesunde gern als Standardbeispiel für ein „Enhancement“ angeführt. Genauso wie sich schon bei der aus- <?page no="123"?> 123 3.1 Schönheitsoperationen führlichen Erörterung der scheinbar klaren Gegenüberstellung von „Therapie“ und „Enhancement“ bzw. „Krankheit“ und „Gesundheit“ zeigte, verwischen in der Praxis allerdings die Gegensätze (Kap. 1.3): Während die rekonstruktive Chirurgie auch angeborene Formanomalien wie z. B. entstellende Segelohren, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten oder Fehlbildungen der Brust mit dem Resultat asymmetrischer Brüste ohne medizinische Indikation korrigiert, verfolgt auch die sogenannte ästhetische Chirurgie häufig einen therapeutischen und damit medizinischen Zweck des Heilens (vgl. Lüttemberg u. a., 1/ unten). Die wichtigsten im Folgenden zu prüfenden Pro- und Kontra-Argumente lauten: Pro-Argumente Kontra-Argumente 1) Einbettungen in die plastische Chirurgie 2) Ästhetische statt medizinische Indikation 3) Steigerung der individuellen Freiheit 4) Aufhebung einer Identitätsstörung und „authentisches Selbst“ 5) Zufriedenheit, Glück und Erfolg 6) Sozialer Druck und Biopolitik 7) Diskriminierung und Ungerechtigkeit 8) Komplikationen und hohe Risiken 9) Widerspruch zum ärztlichen Ethos 1) Pro-Argument: Einbettungen in die plastische Chirurgie Zur Legitimation der ästhetischen Chirurgie wird oft eine Einbettungsstrategie angewendet, bei der genau mit dem Verweis auf diese Abgrenzungsschwierigkeiten die „ästhetische“ Chirurgie an die „rekonstruktive“ angegliedert werden soll (vgl. Meili, 135 f.): Da rekonstruktive Maßnahmen allgemein als geboten gelten, müsse auch die ästhetische Chirurgie als legitim und notwendig gebilligt werden. Tatsächlich scheint es in gewissen Einzelfällen widersprüchlich und ungerecht zu sein, wenn etwa die Korrektur einer durch Syphilis entstellten Nase legitim ist und von den Kassen bezahlt wird, eine ähnlich hässliche Verformung einer Nase von Geburt an aber nicht. Darüber hinaus ist unklar, welche angeborenen Körperformen überhaupt „normal“ und welche z. B. hinsichtlich der Form und Größe von Brüsten „anomal“ sein sollen und deswegen einen rekonstruktiven Eingriff rechtfertigen. Neben dieser indirekten „Einbettung“ oder Verortung in der plastischen Chirurgie wird häufig direkt auf das psychische Leid der Betroffenen Bezug genommen, das moralisch zu medizinisch-therapeutischen Hilfeleistungen und Maßnahmen verpflichte. Psychosoziale Probleme wie die Angst vor Hänseleien oder despektierlichen Blicken, Minderwertigkeitsgefühle oder sexuelle Frigidität sind aus dieser Sicht genauso gute Gründe für medizinische Eingriffe wie physische Probleme (vgl. <?page no="124"?> 124 3 Körperliches Enhancement dazu Davis, 34/ Meili, 122 f.). Eine Brustverkleinerung wäre dann schon wegen eines großen psychischen Leids angezeigt und nicht erst, wenn die zu schwer gewordenen Brüste Rückenschmerzen und damit physisches Leid verursachen. Entsprechend wird beispielsweise in Deutschland das Anlegen von abstehenden Ohren bei Kindern von den Krankenkassen bezahlt, sofern eine „psychische Beeinträchtigung“ diagnostiziert wird. Bei einem weiten Krankheitsbegriff stellte letztlich jede Schönheitsoperation einen therapeutischen Eingriff dar, weil jedem Wunsch nach einer Körperveränderung ein Leiden aufgrund einer Unzufriedenheit mit seinem Körper vorangehen dürfte. Aus genau diesem Grund wurde die ästhetische Chirurgie in den Niederlanden zur medizinischen Grundversorgung gerechnet, bis die Zahl der Eingriffe in den 1980er Jahren explodierte und die staatlichen Krankenversicherungen die Kosten für Schönheitsoperationen nicht länger tragen konnten (vgl. Davis, 34 f.). Im Hintergrund der Einbettungsstrategie dürfte häufig ein subjektivistischer lebensweltlicher Wohlbefindens-Ansatz mit einem maximalistischen Verständnis von „Gesundheit“ als Idealzustand subjektiven Wohlbefindens oder Glücks stehen (Kap. 1.3). Dadurch verwischen die Unterscheidungen zwischen „Therapie“ für Kranke und „Enhancement“ für Gesunde und zwischen „rekonstruktiver“ und „ästhetischer Chirurgie“. Ein subjektivistischer lebensweltlicher Wohlbefindens-Ansatz ohne jegliche objektive Kriterien erwies sich aber als ungeeignet für den medizinischen Kontext, weil er zu einer Medizin ohne Grenzen führte und ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem verunmöglichen würde (Kap.1.3). In den Niederlanden wurde für die Deckelung der Krankenversorgung ein „schweres psychisches Leiden“ vorausgesetzt, das mit einem psychiatrischen Gutachten zu belegen war (vgl. Davis, 35). Für eine medizinische Indikation müssten darüber hinaus aber noch objektive Kriterien erfüllt sein: Vorliegen müsste entweder eine funktionale Störung wie z. B. ein herabhängendes und die Sehfähigkeit einschränkendes Augenlid oder aber eine abnorme körperliche Unzulänglichkeit wie etwa eine Brust, bei der „die Brustwarzen der Patientin auf einer Linie mit ihren Ellbogen“ liegen (vgl. ebd.). Während sich Störungen grundlegender Körperfunktionen biologisch relativ gut feststellen lassen und aufgrund erheblicher Beeinträchtigungen des „normalen Funktionierens“ behandelt werden müssen, ist die Kategorie der Normalität des Erscheinungsbildes weit problematischer. Wenn sich in den Interviews der feministischen Spezialistin für den weiblichen Körper Kathy Davis die meisten Frauen durch eine Schönheitsoperation nicht den Wunsch erfüllen wollten, schöner zu werden, sondern endlich „normal“ <?page no="125"?> 125 3.1 Schönheitsoperationen zu sein, handelt es sich erst einmal lediglich um ein subjektives Empfinden von „Anomalität“ (vgl. 161). Denn aus Sicht des Schönheitschirurgen und der Feldforscherin waren die meisten „normal“ oder sogar „schön“ (vgl. ebd., 70 ff.). Im Unterschied zu solchen subjektiven Selbsteinschätzungen bietet sich als objektives Messkriterium beispielsweise die Gaus’sche Verteilungskurve an, bei der an den Rändern der extrem fallenden Kurve starke Anomalien zu finden sind (vgl. Meili, 129/ Link, 356). Das durch solche gut sichtbaren außergewöhnlichen Abweichungen von Durchschnittswerten verursachte Leid dürfte nicht nur von viel größerer Intensität sein, sondern in Anlehnung an eine Differenzierung von Urban Wiesing auch mit einer ganz anderen Qualität sozialer Aufmerksamkeit verknüpft sein (vgl. 2011, 47): Die Betroffenen leiden in diesen Fällen unter einer negativen Aufmerksamkeit in Form von unangenehmen Blicken, Hänseleien und sozialer Ausgrenzung, sodass ein medizinischer Eingriff ethisch betrachtet durch einen Ausgleich natürlicher Ungerechtigkeiten und die Ermöglichung der ungehinderten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben legitimiert wäre. Wünscht sich hingegen jemand im „Normalbereich“ eine Schönheitsoperation zur Erlangung positiver Aufmerksamkeit im Wettbewerb um soziale Anerkennung, sprengt dies eindeutig den medizinischen Heilsauftrag und den Verantwortungsbereich der Gesellschaft. 2) Pro-Argument: Ästhetische statt medizinische Indikation Im Gegensatz zur Einbettungsstrategie kann aber auch der auf Schönheit ausgerichteten ästhetischen Indikation unmittelbar legitimatorische Funktion zugesprochen werden, indem sie explizit von der sich auf eine Heilbehandlung beziehenden medizinischen Indikation abgegrenzt wird (vgl. Damm, 215). Es ließe sich auf den gegenwärtig sich vollziehenden Wandel von einer traditionellen kurativen hin zu einer wunscherfüllenden Medizin verweisen, infolgedessen immer mehr medizinische Verfahren zur Erfüllung subjektiver Wünsche etwa nach Schönheit oder Jugendlichkeit eingesetzt werden (Kap. 1.3). Obgleich prinzipiell auch ästhetische Werte und Ideale das subjektive Handeln rechtfertigen können, lassen sich diese aber im Unterschied zu gesundheitsbezogenen medizinischen Kriterien kaum mit intersubjektiv nachvollziehbaren Argumenten begründen. Bei den von der empirischen Attraktivitätsforschung behaupteten „objektiven Kriterien“ für menschliche Schönheit wie makellose Haut und symmetrischer Körperbau als Zeichen für Jugendlichkeit und Gesundheit müsste nämlich erst einmal die Geltung der zugrundeliegenden evolutionären Bewer- <?page no="126"?> 126 3 Körperliches Enhancement tungsmaßstäbe gerechtfertigt werden, die aus ethischer Sicht höchst problematisch sind (vgl. Fenner 2008, 92 ff.). Aktuelle Schönheitsideale wie das extreme Schlankheitsideal verdanken sich ohnehin häufig vorübergehenden Modeströmungen, für die es keine rationale Erklärung gibt und die viele junge Frauen zu krankhaften Essstörungen treiben und damit in Konflikt mit ethischen Werten geraten. Um einen Anspruch auf die begrenzten Ressourcen im medizinischen Gesundheitssystem oder sogar eine solidarische Unterstützung zu legitimieren, sind ästhetische Kriterien also zu schwach, zu subjektiv und willkürlich. Denn aus dem Vorliegen einer medizinischen Indikation lässt sich nur deswegen eine moralische Pflicht zu einem medizinischen Eingriff ableiten, weil durch Krankheit und Leid das fundamentale Gut menschlicher Handlungsfähigkeit stark beeinträchtigt wird (Kap. 1.3). Im Falle von ästhetischen Schönheitsfehlern wird die Handlungsfähigkeit der Betroffenen jedoch nicht oder höchstens indirekt eingeschränkt, insofern die Gesellschaft die nach geltenden Schönheitsidealen „Hässlichen“ auf moralisch unzulässige Weise durch Sanktionen wie Ausgrenzung oder Benachteiligung bestraft (vgl. Argument 7). Anstelle eines Verbots von Schönheitsoperationen lässt sich daraus allerdings nur die Forderung nach einer klaren Hierarchisierung der Werte bzw. Indikationsformen im medizinischen Gesundheitssystem ableiten, um Verteilungsungerechtigkeiten zwischen Patientengruppen mit medizinisch indizierten Krankheiten und Kunden mit ästhetischen Optimierungswünschen zu vermeiden. 3) Pro-Argument: Steigerung der individuellen Freiheit Neben der Einbettungsstrategie verwenden Schönheitschirurgen am häufigsten das liberale Argument, Schönheitsoperationen seien als Dienstleistungen für freiwillige und selbstzahlende Kunden gutzuheißen (vgl. Meili, 136 f.). Da in liberalen Gesellschaften die individuelle Freiheit oder Selbstbestimmung den höchsten Wert darstellt, scheinen real vorhandene Bedürfnisse und Wünsche der Individuen für eine Legitimation ästhetischer chirurgischer Eingriffe bereits völlig hinreichend: Jeder soll das Recht haben, über seinen Körper frei verfügen und ihn nach seinen eigenen Wünschen und Idealen gestalten zu können. Aus liberaler Sicht sollen die Gesellschaft oder die Ärzte den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern ein möglichst breites Angebot an Optimierungsmaßnahmen zur freien Auswahl zur Verfügung zu stellen, ohne die dahinterstehenden Verbesserungswünsche und Motive der Kunden zu bewerten und die Freiheit der Bürger einzuschränken. Schönheitschirurgen lehnen teilweise explizit eine <?page no="127"?> 127 3.1 Schönheitsoperationen Psychologisierung ab, weil der bloße Veränderungswunsch genüge und gar kein psychischer Leidensdruck vorhanden sein müsse (vgl. ebd., 132). Pflicht des Arztes sei allein die umfassende Information über den gewünschten Eingriff und mögliche Folgen und Risiken, damit die Klienten eine freie und aufgeklärte Entscheidung treffen können. Ausgegangen wird dabei offenkundig von einem schwachen Freiwilligkeitskonzept, das nur ganz wenige Umstände wie äußeren physischen Zwang und unmittelbare soziale oder rechtliche Sanktionen als freiheitseinschränkend akzeptiert (vgl. Hermann, 75 f.). Zugrunde gelegt wird im Wesentlichen ein negatives Konzept von Freiheit als Handlungsfreiheit, definiert als Handelnkönnen ohne innere und äußere Beschränkungen durch Natur oder Gesellschaft (Kap. 2.3). Oft wird das liberale Argument in eine marktliberale ökonomische Argumentationslinie eingeflochten, die letztlich auf die Forderung nach einer Umstrukturierung des gesamten Gesundheitssystems hinausläuft: Es wird darauf verwiesen, dass Ärzte und Kliniken teilweise auf Zusatzeinnahmen durch individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) angewiesen seien, um den Betrieb aufrecht zu erhalten. Unter dem ökonomischen Druck müsse das nicht mehr finanzierbare teure bürokratische Solidarsystem gesetzlicher Krankenkassen in ein marktwirtschaftliches, nachfragegesteuertes Dienstleistungsangebot für selbstverantwortliche Bürger umfunktioniert werden (vgl. Karsch, 99/ Baier, 98 ff.). Im Hintergrund steht dabei wiederum das bereits in Kapitel 1.3 als zu weit kritisierte subjektivistisch-lebensweltliche Gesundheitsbzw. Krankheitsmodell, in dem Gesundheit als individuelle Lebensqualität und Selbstgenuss bestimmt wird (vgl. Baier, 146). Kritiker dieser liberalen Argumentationsweise bezweifeln, dass schönheitschirurgische Maßnahmen Ausdruck autonomer Entscheidungen von Individuen zur Gewinnung von Normalität oder zur Verwirklichung persönlicher ästhetischer Präferenzen sind (vgl. Hermann, 72/ Morgan, 166). Diese Sichtweise impliziere ein realitätsfremdes subjektivistisch-präferenzorientiertes Autonomieverständnis, das den vielfältigen Formen sozialer Zwänge nicht gerecht werde. Da im Fall von Schönheitsoperationen niemand von außen zum Schönheitshandeln gezwungen wird, schließt man voreilig auf die Freiheit von mündigen und hinlänglich aufgeklärten Kunden. Zu den externen sozialen Beschränkungen menschlicher Handlungsfreiheit zählt aber nicht nur der direkte Zwang, sondern auch der indirekte Gruppendruck oder ein soziokultureller Normierungsdruck, der von den Individuen verinnerlicht wird und dann als „innerer“ oder „internalisierter Zwang“ wirkt (Kap. 2.3). Durch einen solchen psychischen Druck kann unter Umständen nicht nur die Handlungs-, <?page no="128"?> 128 3 Körperliches Enhancement sondern auch die Willensfreiheit der Betroffenen eingeschränkt werden, also die Fähigkeit zur Wahl zwischen Handlungsalternativen gemäß persönlichen Idealen und Selbstbildern. Insbesondere von feministischen Autorinnen werden Schönheitsoperationen heftig attackiert, weil sie eine Unterwerfung unter das Diktat vorherrschender sozialer Normen bedeuteten (vgl. dazu Davis, 164-173). In westlichen sexistisch organisierten Gesellschaften handle es sich vorwiegend um männliche Schönheitsstandards, so dass sich die Frauen bei ihrem vermeintlich selbstbestimmten Streben nach einer ästhetischen Optimierung in Wahrheit durch die Augen der Männer und als Attraktionsobjekte für Männer wahrnähmen. So könnten bei der aktiven „freien“ Gestaltung des eigenen Erscheinungsbildes durch das Sich-Unterziehen unter beliebte Verschönerungspraktiken letztlich „Selbstführung“ und „Fremdführung“ nicht mehr klar voneinander getrennt werden (vgl. Seiler u. a., 179). Zwar stecke hinter der Entscheidung für Schönheitsoperationen sehr wohl ein Bedürfnis nach Autonomie und v. a. ein starker Wunsch, das Tun als freie und selbständige Wahl zu vermitteln und zu kommunizieren. Im Grunde handle es sich bei der gebräuchlichen Rede von „Befreiung“, „Selbstermächtigung“ und „persönlicher Erfüllung“ jedoch um eine oberflächliche „verführerische Rhetorik“ oder gar eine „Ideologie“, die eine „erzwungene Freiwilligkeit“ überdecke (vgl. Morgan, 143; 166/ Degele 12; 201). Da Schönheitshandeln kein privates Handeln sei, sondern nach dem Blick der anderen verlange und eindeutig einen kommunikativen Akt darstelle, sei die liberale These von individueller Autonomie und Selbst-Ermächtigung „soziologisch schlichtweg absurd“ (Villa, 267). Zweifellos greift die liberale Darstellung des Schönheitshandelns als Privatangelegenheit von freien, an persönlichen Präferenzen orientierten Individuen zu kurz, weil sich die Präferenzen für bestimmte Verschönerungsmaßnahmen in soziokulturellen Zusammenhängen mit bestimmten ästhetischen Normen und sozialen Erwartungshaltungen herausbilden. Es ist es aber genauso einseitig, wenn Feministinnen den Betroffenen ihre Autonomie völlig absprechen. Das feministische Ideal einer von allen äußeren kontaminierenden Faktoren gereinigten „absoluten“ Autonomie ist genauso realitätsfremd wie die liberale Reduktion von Freiheitseinschränkungen auf physischen Zwang. Bei den größtenteils durch die Gesellschaft geweckten körperbezogenen Verbesserungswünschen handelt es sich gemäß Harry Frankfurts Theorie der Willensfreiheit um Wünsche erster Ordnung (Kap. 2.3). Willensfrei sind Gesellschaftsmitglieder, die diese Wünsche erster Ordnung und ihre gesellschaftliche Genese bewusst wahrnehmen, sich zu ihnen in ein distanziertes, kritisches Verhältnis setzen <?page no="129"?> 129 3.1 Schönheitsoperationen und die persönlichen Gründe für und gegen eine Schönheitsoperation mit Blick auf das eigene normative Selbstbild abwägen können. Sie müssen in Frankfurts Modell einen Wunsch zweiter Ordnung ausbilden, dass der von außen angeregte Wunsch erster Ordnung nach einer bestimmten Schönheitsoperation tatsächlich handlungswirksam wird. Die vorausgesetzte höherstufige Reflexion kann etwa verhindert werden durch eine Manipulation oder „Verführung“ durch suggestive Versprechungen der Medien- und Werbewelt, bei denen die ästhetische Urteilskraft und der eigene Wille der Menschen gezielt ausgeschaltet werden (vgl. Kettner, 89/ Little, 163). Untergraben wird ein freier Wille aber auch durch eine psychische Störung hinsichtlich der eigenen Körperwahrnehmung (vgl. unten, Argument 8). In beiden Fällen liegt das Problem darin, dass die Entstehungsbedingungen der Wünsche erster und zweiter Ordnung von den Betroffenen nur schwer durchschaut werden können. Schon die faktische Verfügbarkeit preiswerter Schönheitsoperationen und die Omnipräsenz retuschierter idealer Körper in der Medienwelt prägen unser Körper- und Selbstverhältnis auf eine Weise, die der Selbstreflexion nur partiell zugänglich ist (vgl. Hermann, 77). Gemäß dem „ex post“-Kriterium müsste sich das Schönheitshandeln in der Praxis bewähren, indem es dem Einzelnen tatsächlich ein gelingendes gutes Leben ermöglicht (Kap. 2.3). Allerdings ist dieser Praxistest in gewissem Grad zirkulär, weil die gesellschaftlichen Schönheitsideale die persönlichen Wertmaßstäbe und konkreten Erfahrungen der entsprechend optimierten Gesellschaftsmitglieder beeinflussen. Das liberale Pochen auf dem Wert größtmöglicher Freiheit der Individuen bei der ästhetischen Optimierung ihrer Körper muss aber nicht zuletzt auch deswegen kritisch betrachtet werden, weil die Voraussetzungen für die Ausübung dieser Handlungsfreiheit sehr ungleich verteilt sind. Wenn Schönheitsoperationen Dienstleistungen für selbstzahlende Kunden darstellen, können sich nämlich viele Menschen solche Wunscheingriffe schlicht nicht leisten. Obwohl es ihnen frei steht und sie von niemandem am Aufsuchen eines Schönheitschirurgen gehindert werden, nützt ihnen diese Handlungs- oder Hindernisfreiheit in ihrer prekären finanziellen Lage nichts. Nur im Sinne eines sehr schwachen Freiwilligkeitskonzepts sind sie „frei“, sich dank des immer breiteren Angebots ihre individuellen ästhetischen Wünsche zu erfüllen. Ein rein negatives Konzept von Handlungsfreiheit ist ethisch gesehen unzulänglich, weil ein theoretisches Verfügenkönnen über entsprechende Handlungsoptionen für Unterprivilegierte praktisch nutzlos ist (Kap. 2.3). Eine Kommerzialisierung von immer mehr medizinischen Leistungen oder gar eine Umstrukturierung des <?page no="130"?> 130 3 Körperliches Enhancement gesamten Gesundheitssystems zu einem marktwirtschaftlichen nachfragegesteuerten Dienstleistungsangebot würde den minimalen Handlungsspielraum der Schlechtergestellten gefährden. Aus sozialethischer Sicht zu verurteilen ist daher das liberale Dienstleistungs- oder Präferenz-Effizienz-Modell, bei dem für sämtliche von Patienten geäußerten Wünsche oder Präferenzen effiziente Maßnahmen entwickelt und zur Verfügung gestellt werden. Denn wie zahlreiche empirische Studien bestätigen, führt das sogenannte Inverse Care Law zur Priorisierung der Wünsche der privilegierten Bevölkerungsgruppen (vgl. Krones, 138). Der Grund dafür ist, dass diejenigen, die eigentlich eine medizinische Versorgung am dringlichsten benötigen, diese am wenigsten nachfragen. Dies wiederum liegt zum einen an der lokal unzureichenden Versorgung der unterprivilegierten Bevölkerung in ärmeren Wohngegenden, die sich der geringen ökonomischen Attraktivität dieses Leistungsangebots schuldet. Zum anderen sind für diese meist weniger gebildeten Patientengruppen die Zugangsschwellen zum medizinischen Angebot ganz allgemein am höchsten. Ein typisches Beispiel sind die von Obdachlosen empfundenen Bedürfnisse nach Primärversorgung, die aber aus den genannten Gründen weder adäquat nachgefragt noch angeboten werden und so nicht zu existieren scheinen (vgl. ebd., 138; 142). Ein rein marktliberal gesteuertes Gesundheitssystem führt zu einer ungerechten marktförmigen Verteilung knapper Ressourcen, bei der die größere Freiheit der Bessergestellten mit größerer Unfreiheit der Schlechtergestellten bezahlt wird. 4) Pro-Argument: Aufhebung einer Identitätsstörung und „authentisches Selbst“ Gemäß Davis’ Befragungen von Frauen nach einer Schönheitsoperation geht es bei Eingriffen der ästhetischen Chirurgie meist weniger um das Erlangen von Schönheit als um die Aufhebung einer Identitätsstörung der Frauen (vgl. 77 f.; 169): Vor der Schönheitsoperation waren sie nach ihren eigenen Berichten beispielsweise aufgrund eines zu kleinen oder zu großen Busens oder eines gestressten, faltigen Gesichts eine ganz andere Person als diejenige, die sie wirklich zu sein fühlten oder die sie sein wollten oder sollten. Wegen ihres subjektiv als „abnorm“ beurteilten Erscheinungsbildes seien die Mitmenschen daran gehindert gewesen, sie als die wahrzunehmen, die sie wirklich waren. Der als störend empfundene Körperteil gehörte nach ihrer eigenen Darstellung nicht zu ihnen und passte nicht zum Rest des Körpers. Auch andere Studien legen als zentrales Motiv der Frauen für Schönheitsoperationen nahe, bestimmte als „eigentliches <?page no="131"?> 131 3.1 Schönheitsoperationen Selbst“ betrachtete personale Eigenschaften auch im äußeren Erscheinungsbild verkörpern zu wollen (vgl. Hermann, 74 f.). Sie streben also nach einem „authentischen Selbst“ im Sinne einer Übereinstimmung der äußeren Erscheinung mit dem wahren Selbst oder persönlichen Selbstbild. Selten wird reflektiert, welches Verständnis von „Identität“ und „Authentizität“ dabei genau zugrunde gelegt wird. Zur „persönlichen Identität“ gehört ganz allgemein alles, was ein bestimmtes Individuum zu einem bestimmten Individuum macht. Hinsichtlich der „Authentizität“ einer Persönlichkeit gibt es ganz unterschiedliche Konzepte, bei denen das „Selbst“ entweder als vorgegeben oder als erst zu schaffen gilt (Kap. 4.1). Wenn die Frauen mittels einer Veränderung ihres Äußeren einem selbstentworfenen oder selbstgewählten normativen Selbstbild zum Ausdruck verhelfen wollen, entspräche dies dem identifikatorisch-reflexiven Authentizitäts-Modell. Dieses Modell betont die Autonomie der Einzelindividuen, die zu den vorhandenen Anlagen und Präferenzen reflexive Distanz einnehmen und sich kreativ selbst bestimmen und gestalten können. Auf der Suche nach einer eigenen Identität oder einem „normalen“ Erscheinungsbild durch körperliche Optimierungsmaßnahmen orientieren sich aber offenkundig die meisten Frauen an ähnlichen Vorbildern: Viele Frauen geben die Schauspielerin Angelina Jolie oder die Barbiepuppe als perfekte Verkörperung des weiblichen Schönheitsideals an (vgl. Kuchuk, 69 f./ Ferrari, 108). Nach Davis Vorschlag meint „Identität“ einen Aushandlungsprozess, in dem die Individuen im Rückgriff auf kulturelle Ressourcen aktiv und kreativ durch die Modifikation ihres Körpers die eigene Identität neu verhandeln (169). Gegen das identifikatorisch-reflexive Authentizitätsverständnis ließe sich einwenden, authentisch könne nur genannt werden, wer sich selbst treu bleibt und die gegebenen physischen und psychischen Dispositionen dankbar annimmt. Das dabei vorausgesetzte konservativ-essentialistische Authentizitäts-Modell kann aber nicht überzeugen, weil das „Selbst“ zumindest für alle nichtreligiösen Menschen nichts metaphysisch oder religiös Vorgegebenes sein kann (Kap. 4.1). Auf der anderen Seite greifen aber auch rein subjektivistische Vorstellungen einer identifikatorisch-reflexiven Identitäts- und Selbsterschaffung zu kurz, bei denen die soziale Dimension mit dem Wunsch nach einer Angleichung an weit verbreitete Ideale wie Barbie oder Angelina Jolie ausgeblendet werden. Bei Davis Kommentaren wie „appearance and identity go hand in hand“ irritiert außerdem, dass die „Identität“ auf das „körperliche Selbst“ reduziert wird und die Aufhebung der Identitätsstörung ohne Berücksichtigung des „sozialen“ und „geistigen Selbst“ sehr einseitig auf der Körperebene angegangen wird (Davis, <?page no="132"?> 132 3 Körperliches Enhancement 78). Gemäß dem kriteriologischen Authentizitäts-Modell setzt ein authentisches Selbstverhältnis voraus, dass sich die Betroffenen bewusst und kritisch mit den gesellschaftlichen Idealen auseinandersetzen (Kap. 4.1): Eine Frau erlangt durch eine Schönheitsoperation nur dann ein authentisches Selbst, wenn sie sich über die Bedingungen des Zustandekommens ihrer ästhetischen Maßstäbe bewusst ist und sich auch mit diesen identifizieren kann (vgl. Leefmann, 240). Ausgeschlossen werden müssten insbesondere unaufgeklärte und neurotische Veränderungswünsche: Unaufgeklärte Wünsche sind solche, die auf unzureichenden oder falschen Informationen basieren und deshalb unerfüllbar bleiben oder eine unerwartete Wirkung zeitigen (vgl. Fenner 2007, 62/ Kap. 2.1). Im Falle von Schönheitsoperationen dürften sich viele Menschen aufgrund von Werbeversprechungen über die tatsächlichen Möglichkeiten und Risiken einer körperbasierten Identitätsveränderung täuschen und entsprechend ohne Erfolg ihrem Schönheitsideal und Ideal-Selbst nachrennen. Bei neurotischen Wünschen führt auch das Erreichen des erwünschten Zustandes bzw. Erscheinungsbildes nicht zur subjektiven Erfahrung von Erfüllung, weil die Wünsche einer krankhaften psychischen Verfassung wie etwa einem Minderwertigkeitskomplex oder übertriebener Selbstunsicherheit entspringen (vgl. ebd., 63). Häufig gründet die Unzufriedenheit der Nachfrager von Schönheitsoperationen mit ihrem Körper in einem durch geringes Selbstwertgefühl verursachten psychopathologischen Körperbild, so dass die Störung des Selbstbildes durch die Operation keineswegs behoben werden kann (vgl. Langer u. a., 84/ Argument 8). 5) Pro-Argument: Zufriedenheit, Glück und Erfolg Während negativ gesprochen die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körperbild das zentrale vordergründige Motiv für einen schönheitschirurgischen Eingriff bildet, ist das Ziel des Schönheitshandelns positiv gewendet das persönliche Glück oder subjektive Wohlbefinden (vgl. Borkenhagen u. a., 47/ Langer u. a., 82): Frauen machen sich nach eigenen Angaben schön, „um sich wohl fühlen zu können“, „endlich glücklich sein“ oder „eine glückliche Ehe führen zu können“ (Degele, 92/ Stroop, 151). Auch wenn die Kandidatinnen für Schönheitsoperationen bei Umfragen größtenteils nur innenorientierte Gründe nennen, verwickeln sie sich bei längeren Interviews oft in Widersprüche und lassen außenorientierte Wünsche nach sozialer Anerkennung durchblicken (vgl. Kuchuk, 72-80). Entscheidungen für Schönheitsoperationen verdanken sich meist einem komplexen Ineinandergreifen von internen Motiven wie dem Wunsch nach persönlichem <?page no="133"?> 133 3.1 Schönheitsoperationen Wohlbefinden und Selbstvertrauen einerseits und externen Motiven wie anderen gefallen zu wollen oder bessere Chancen bei Partnerwahl und Karriere andererseits. Im Hintergrund steht häufig die Annahme, dass schöne Menschen „mehr vom Leben haben“ (ebd., 72). Empirisch nachgewiesen und unter dem Namen Halo-Effekt bekannt ist das Phänomen, dass attraktive Personen als intelligenter und beliebter wahrgenommen werden, in den unterschiedlichsten Berufen besser verdienen, mit höherer Wahrscheinlichkeit befördert werden und mehr Erfolg beim „Dating“ haben (vgl. Stroop, 155 f./ Rohde, 209). Auch ergaben empirische Befragungen, dass Schönheitsoperationen zu einer signifikanten und nachhaltigen Steigerung der Körperzufriedenheit, des Wohlbefindens oder des Glücks führen (vgl. Stroop, 157 ff./ Borkenhagen u. a., 50 ff./ Langer u. a., 81). Nach einer Umfrage 2016 zur Auswirkung von Schönheitsoperationen bezeichnen sich 82 % der Deutschen nach dem Eingriff als „glücklicher“, 80 % als „körperlich wohler“ und 74 % als „selbstbewusster“ (vgl. Statista.com). Im Unterschied zur klar abgrenzbaren Zufriedenheit mit einem bestimmten Körperteil ist „Glück“ allerdings ein höchst komplexes Phänomen, unter dem sich u. U. jeder sehr Verschiedenes vorstellt (Kap. 2.1): Ein „negatives Glück“ als Abwesenheit des Leidens an einem hässlichen Körperteil ist noch lange kein „positives Glück“ aufgrund eines im Ganzen gelingenden Welt-Selbst-Verhältnisses, und ein vorübergehendes „episodisches Glück“ als zeitlich begrenzte Freude über eine positive Körpermodifikation bedeutet etwas anderes als ein „Lebensdauer-„ oder „Wohlergehen-Glück“. In empirischen Studien und bei der argumentativen Verteidigung von Schönheitsoperationen finden aber meist keine solchen Differenzierungen statt (vgl. dazu Stroop, 145-149). Empirisch nicht bestätigen ließ sich die weit verbreitete Meinung, dass hohe Attraktivität in einer direkten Kausalbeziehung zu größerem Glück führt: Zwischen natürlicher, weitgehend angeborener Schönheit und subjektivem Wohlbefinden gibt es vermutlich aufgrund der Gewöhnungsmechanismen nur eine sehr schwache Korrelation, sodass Schönheit allein keineswegs glücklich macht, sondern höchstens indirekt über gesellschaftlichen Erfolg dazu beiträgt (vgl. Stroop, 155 f.). Spezifische Studien zur Körperzufriedenheit zeigen außerdem, dass durch aktive Verschönerungsmaßnahmen zwar eine Steigerung der Zufriedenheit mit dem verbesserten Körperteil, nicht aber eine generelle Zufriedenheit mit dem ganzen Körper oder eine Steigerung der Lebensqualität erzielt wird (vgl. Langer u. a., 83). Erreicht wird also höchstens ein „negatives Glück“ als Befreiung vom Leiden am hässlichen Körperteil und ein mutmaßlich vorübergehendes „episodisches Glück“ als Freude über die gelungene Operation, <?page no="134"?> 134 3 Körperliches Enhancement aber kein übergreifendes „Lebensdauerglück“. Insbesondere external motivierte Patienten, die sich durch den Eingriff eine Veränderung ihres Lebens erhoffen oder Dritten gefallen wollen, sind mit dem Ergebnis oft unzufrieden - zumal wenn sich das Leben nicht wie erhofft verbessert (vgl. Borkenhagen u. a., 46). Möglicherweise sind sie den in Live-TV-Operationssendungen und Werbekampagnen verkündeten Slogans wie „Alles ist möglich“ und „Ändern Sie Ihr Aussehen - Ändern Sie Ihr Leben“ auf den Leim gegangen, die völlig falsche Erwartungen auf schnelle Lösung aller Lebensprobleme wecken (vgl. Langer u. a., 79 f.). Eine simplifizierende mediale und gesellschaftliche Koppelung von Zufriedenheit und Glück an immer anspruchsvollere Schönheitsideale führt jedoch gerade zu immer mehr Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und zu einem Verlust an Selbstwert bereits unter Jugendlichen, sodass in gewissem Sinn von einer planmäßigen „Erzeugung von Unwohlsein“ gesprochen werden kann (Stroop, 152/ Langer u. a., 73). Dem persönlichen Glücksstreben abträglich ist die gesellschaftliche Überbewertung des Aussehens, wenn sie zu einer Fixierung auf das äußere Erscheinungsbild führt (vgl. Argument 6). Je größere Wichtigkeit dem Körperbild für den eigenen Selbstwert beigemessen wird, desto eher entschließt sich jemand aufgrund einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper zu einer Schönheitsoperation (vgl. Langer u. a., 82). Obgleich sich aus der Perspektive der Betroffenen das subjektive Wohlbefinden durch Schönheitsoperationen zumindest kurzzeitig verbessern lässt, wären daher möglicherweise von der Außenperspektive oder objektiv betrachtet bescheidenere gesellschaftliche ästhetische Normen für alle Menschen besser. 6) Kontra-Argument: Sozialer Druck und Biopolitik Im Gegensatz zu den Befürwortern sprechen Kritiker von einer paradoxen „freien Wahl unter Druck“, weil den Selbstoptimierern gesellschaftliche Schönheitsideale unter hohem soziokulturellem Normierungsdruck oktroyiert würden (Bordo, 203). Kaum zu bestreiten ist ein wie auch immer komplexer Zusammenhang und eine Wechselwirkung zwischen einer steigenden Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und der persönlichen Bereitschaft zu schönheitschirurgischen Maßnahmen einerseits und einer gesamtgesellschaftlich zunehmenden Bedeutung des äußeren Erscheinungsbildes und steigender sozialer Erwartungen hinsichtlich ästhetischer Standards andererseits. Gute Gründe für bestimmte ästhetische Ansprüche an das Äußere scheint es jedoch nur in bestimmten Bereichen wie etwa der Kunst- und Modewelt zu geben, <?page no="135"?> 135 3.1 Schönheitsoperationen weil in diesen der Körper einen Teil des Kunstwerks bzw. der Präsentation darstellt. Bezüglich der künstlerischen Berufe rechnet aber die Schauspielerin Elena Uhlig in Mein Gewicht und ich (2016) mit dem massiven Druck zum Schlanksein in der Schauspielbranche ab, der ungerechterweise viel stärker auf den Frauen als auf ihren männlichen Kollegen laste. Für Empörung sorgte auch die Entlassung der amerikanischen Opernsängerin Deborah Voigt aus ihrer Anstellung für eine Convent Garden Oper, weil sie aufgrund ihrer Körperfülle nicht in ein bestimmtes Kleid passte und sich erst einer Schlankheitsoperation hätte unterziehen müssen (vgl. Morgan, 165). Auch in immer mehr Branchen der Medien- und Dienstleistungsgesellschaft wird öffentliche Präsenz und ein repräsentatives Äußeres verlangt (vgl. Scharschmidt, 62 f.). Insbesondere in konkurrenzbetonten Arbeitszusammenhängen gehört neben der fachlichen Kompetenz ein jugendliches, schlankes und dynamisches Erscheinungsbild zum entscheidenden Karrierevorteil. Daher soll es in Brasilien inzwischen zur ganz normalen Karriereplanung gehören, sich Schönheitsoperationen zu unterziehen, und rund um die Wall Street haben sich in Zeiten der Börsenkrise viele Makler ein dynamisch wirkendes Kinn implantieren lassen, um die nächste Entlassungswelle zu überstehen (vgl. Hermann, 79). Von Managern wird erwartet, dass sie die Vitalität des Unternehmens und die eigene Durchsetzungskraft auch im eigenen Körperbild widerspiegeln und dazu Botulinum, Filler und Kinnoperationen zuhilfe nehmen (vgl. Scharschmidt, 63). Obwohl es sich nicht bei allen Anstellungsvoraussetzungen wie im Fall der Sängerin um einen direkten Zwang mittels Androhung von Sanktionen durch die Arbeitgeber handelt, kann ein indirekter sozialer Druck durch den Wettbewerb mit „besser“ Aussehenden die Handlungsfreiheit der Menschen hinsichtlich ihrer Berufswahl beträchtlich einschränken (Kap. 2.3). Dem Argument eines sozialen Drucks werden regelmäßig die Selbstbeteuerungen der Schönheitshandelnden gegenübergestellt, sie hätten die Schönheitsoperationen „nur für sich selbst“ gemacht. Viele Frauen insistieren sogar darauf, dass sie von ihrem sozialen Umfeld keineswegs zur ästhetischen Optimierung gedrängt wurden, sondern im Gegenteil alle sie von ihrem Entschluss abzuhalten versuchten (vgl. Davis, 126 f./ Maasen 2008, 109). Sie präsentieren sich geradezu als mutige Heldinnen, die sich gegen Partner und Familie durchsetzten und dies als befreiend erlebten. Auch wenn diese Schilderungen der Ablehnung im unmittelbaren sozialen Umfeld glaubwürdig klingen, bleiben ihnen aber vielleicht subtiler wirkende soziale Zwänge durch Gesellschaft und Medien verborgen. Denn bereits im frühen Kindheitsalter werden das Verhältnis zum <?page no="136"?> 136 3 Körperliches Enhancement eigenen Körper und bestimmte positive oder negative Erfahrungen bezüglich des eigenen Äußeren geprägt: Viele nach Schönheitsoperationen interviewte Frauen schildern, wie ihnen im Laufe der Sozialisation vermittelt wurde, dass es besonders für Mädchen und Frauen sehr wichtig sei, sich stets schön und gepflegt zu präsentieren (vgl. Kuchuk, 63 ff.). Sie erlebten früh, wie sie für ihr schönes Erscheinungsbild beachtet und gelobt wurden und sich Schönheit somit als vorteilhaft erwies. Für ihr negatives Körperbild und Selbstwertgefühl im Erwachsenenalter machen interviewte Frauen neben der Unzufriedenheit ihrer Mutter mit ihrem Körper vorwiegend Medien, Mode und Werbung verantwortlich (vgl. ebd., 67 ff.): Die tägliche Konfrontation mit makellos gestylten und retuschierten Hochglanz-Models und ästhetisch operierten Schauspielern und Prominenten wecke in ihnen ein Unwohlsein und den Wunsch nach ästhetischer Optimierung. Ein indirekter Gruppendruck durch die Verinnerlichung gesellschaftlicher Schönheitsideale sowie der Koppelung von sozialer Anerkennung an schönes Aussehen untergräbt die Willensfreiheit, wenn nicht zugleich die Kritik- und Autonomiefähigkeit der Heranwachsenden gefördert wird. Insbesondere die in den Medien transportierten Abbildungen perfekter Vorbilder könnten ihre Adressaten unbewusst „verführen“ und manipulieren, indem sie eine solche rationale Auseinandersetzung verhindern und den Glauben an die Notwendigkeit von Schönheitsoperationen für soziale Beliebtheit und Erfolg festigen. Von einer Art „Zwangslage“ durch sozialen Druck ließe sich aber strenggenommen nur da sprechen, wo das elementare menschliche Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung tatsächlich nicht anders befriedigt werden könnte als durch Anpassung an die geltenden Körpernormen oder wo die Verweigerung einer ästhetischen Optimierung einem Ausschluss aus Gesellschaft oder Arbeitswelt gleichkäme (Kap. 2.3). Verfechter der These eines sozialen Drucks greifen gern auf Michel Foucaults Konzept der „Biopolitik“ zurück, um die hinter dem scheinbar selbstbestimmten Streben nach Selbstoptimierung verborgenen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Machtstrukturen aufzudecken (vgl. Maasen 2008, 102 f./ Ruck, 80 f./ Straub, 110 f.): Biomacht oder Biopolitik von französisch „biopouvoir“ meint die Gesamtheit der Machttechniken zur Regulierung der Lebensprozesse, um Gesundheit, Lebensqualität und Leistungsfähigkeit der Mitglieder einer Gesellschaft zu fördern (vgl. Foucault 1977, 165 ff.). Konkrete Techniken sind z. B. medizinische und psychiatrische Behandlungsmethoden, Hygienemaßnahmen, Geburtenregelung, Gentechnik oder eben auch Schönheitsoperationen. Biopolitik ist nach Foucault kein Privileg des Staates oder politischer <?page no="137"?> 137 3.1 Schönheitsoperationen Parteien, sondern durchzieht die gesamte Gesellschaft auf den verschiedensten Ebenen. Während ältere Machtmechanismen an formale juridische Regeln und Gesetze geknüpft waren, erfolgt die Normierung in der Moderne viel stärker über regulierende Apparate wie Verwaltungs- und Gesundheitssysteme (vgl. ebd., 139). Anders als frühere repressive, verbietende und gebietende Formen der Macht lenkt sie viel subtiler, undurchsichtiger und meist unbemerkt, da sie ohne negative Sanktionen auskommt und nur mit Anreizen zur Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung lockt. So wird hinsichtlich der ästhetischen Kultivierung der Körper niemand unter Androhung negativer Sanktionen zu bestimmten Schönheitsoperationen gezwungen, sondern die Individuen werden mit Bildern und Versprechungen perfekter, hochattraktiver und leistungsfähiger Körper dazu animiert, sich selbst unter Druck zu setzen und sich zu verschönern. Indem über angebliche körperliche Mängel informiert und aufgeklärt wird, werden Minderwertigkeitsgefühle und das Bedürfnis geweckt, „normal“ auszusehen und durch „Normalisierung“ bzw. eine Anpassung an die herrschenden Schönheitsideale soziale Anerkennung und Selbstbewusstsein zu erlangen (vgl. Bordo, 192). Obgleich diese soziologischen Erklärungsmodelle konzeptuell überzeugend sind, bleibt die empirische Frage offen, wie weit ein sozialer bzw. biopolitischer Druck im Bereich des Schönheitshandelns faktisch bereits vorliegt. Empirisch ermittelbare Veränderungen wie zunehmende Zahlen von Schönheitsoperationen oder eine wachsende Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper sind dafür keine zureichenden Indikatoren. Sowohl die um ihr Existenzminimum kämpfenden sozioökonomisch Schlechtergestellten als auch Akademiker in ausschließlich intellektuell fordernden Berufen bleiben beispielsweise von diesem angeblichen Druck weitgehend unbehelligt, weil das Körperbild für sie kaum Bedeutung hat. Entgegen Foucaults Suggestion sind auch keineswegs alle Formen sozialen Drucks und gesellschaftlicher Anreizsysteme zur Einhaltung von Normen ethisch verwerflich, sofern diese nur gesellschaftlich legitimiert sind wie z. B. anerkannte moralische oder geltende rechtliche Regulierungen (Kap. 2.3). In seiner systemtheoretischen Machttheorie fehlen normative Kriterien zur Legitimation oder Ablehnung bestimmter gesellschaftlicher Regulierungs- und Machtsysteme, weshalb die Möglichkeit einer Kritik oder Überwindung biopolitischer Machtstrukturen nicht ins Blickfeld rückt. Ethisch zu kritisieren ist gerade, dass die hinter dem Schönheitshandeln wirksamen biopolitischen Regulierungsmechanismen weitgehend unbemerkt bleiben und viel zu wenig Gegenstand öffentlicher Debatten werden: Während über den in einer Gesell- <?page no="138"?> 138 3 Körperliches Enhancement schaft stattfindenen Wandel von moralischen Normen in der Öffentlichkeit jeweils heftig debattiert wird, scheinen sich ästhetische Normen und Ideale quasi-naturwüchsig und notwendig weiterzuentwickeln. Aus individualethischer Perspektive bedenklich ist eine übertriebene zeitliche und finanzielle Beschäftigung mit dem äußeren Erscheinungsbild grundsätzlich, wenn es dadurch zur Vernachlässigung glückskonstitutiver Güter kommt. Weder in philosophischen Theorien des guten Lebens noch in der empirischen Lebensqualitätsforschung wird die äußere Hülle eines Menschen als notwendiger Bestandteil eines gelingenden Lebens erwähnt, und auch die Korrelation von Schönheit und Glück ließ sich nicht nachweisen (Kap. 2.1/ Argument 5). Denn bei dem von Foucault angeregten individualethischen Programm einer „Ästhetik der Existenz“ sollen keineswegs bestimmte konkrete ästhetische Kriterien oder Ideale Orientierung stiften, sondern lediglich die allgemeine vage Vorstellung, sein eigenes Leben zum Kunstwerk zu machen (vgl. Foucault 1984, 81; 136). Infolge einer Verwässerung der ästhetischen Kategorie der Schönheit meint ein „gutes Leben“ etwa bei Wilhelm Schmid nur noch in einem sehr weiten Sinn ein „schönes Leben“, sofern es sich nämlich um ein „subjektiv bejahenswertes Leben“ handelt (vgl. Schmid 1998, 170). Als Gegengewicht zu den kaum hinterfragten oberflächlichen Schönheitsvorstellungen in unserer Gesellschaft wurde jedoch von anderen Philosophen vorgeschlagen, Schönheit eher in einer Seinsweise und Ausstrahlung (Gernot Böhme) oder Einzigartigkeit oder Diversität (Giovanni Maio) zu erblicken (vgl. dazu Klitzke, 138 f.). Auch wenn ihre genaue Konkretisierung sicherlich noch weiterer gesellschaftlicher Diskussionen bedarf, erscheint die Suche nach alternativen Schönheitsidealen zum Barbiepuppen-Vorbild eine sinnvolle und wichtige Aufgabe zu sein. 7) Kontra-Argument: Diskriminierung und Ungerechtigkeit Gesellschaftliche Schönheitsideale können nicht nur individualethisch gesehen problematisch sein, weil sie bei vielen Menschen Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper erzeugen und zu einer unangemessenen Fixierung auf das Äußere als nicht glückskonstitutivem Gut führen. Aus sozialethischer oder moralischer Perspektive verwerflich sind ästhetische Normen dann, wenn sie zu einer Stigmatisierung und Diskriminierung der sie nicht erfüllenden Personen führen. Analog gebildet zu bekannteren Diskriminierungsformen wie „Rassismus“ oder „Sexismus“ meint der Lookism die Höherbewertung und Bevorzugung von attraktiven Menschen und die Benachteiligung weniger gut Aussehender, die <?page no="139"?> 139 3.1 Schönheitsoperationen ohne relevanten Grund und damit willkürlich erfolgt. Als Beweis für einen grassierenden Lookism in westlichen Konkurrenzgesellschaften wird die als „Halo-Effekt“ bekannte empirische Tatsache angeführt, dass attraktive Menschen mehr soziale Aufmerksamkeit und Anerkennung genießen, von Lehrern und Arbeitgebern als intelligenter bzw. besser qualifiziert eingestuft werden und mehr Hilfsbereitschaft erfahren (vgl. Stroop, 155 f./ Argument 5). Der Lookism geht insofern häufig mit Sexismus als Benachteiligung aufgrund des Geschlechts einher, als Frauen bei Abweichungen von ästhetischen Normen viel häufiger und stärker sanktioniert werden als Männer (vgl. Argument 6). Unabhängig von der Geschlechterdifferenz sollen das Schönheitsideal der Jugendlichkeit zur Verachtung und Stigmatisierung älterer Menschen und das Schlankheitsideal zu Hass und Unterdrückung fettleibiger Personen führen. Die Nachfrage nach medizinischen Eingriffen zur Fettreduktion steigt v. a. in den USA rasant, weil das Ideal eines schlanken Körpers zu einer regelrechten Fett-Phobie und einem systematischen Fett-Hass mit sozialer Exklusion der Fettleibigen und ihrem öffentlichen Anprangern als „Parias“ und der Gemeinschaft Kosten verursachende „innere Bioterroristen“ geführt hat (vgl. Morgan, 152 ff.). Im Rahmen eines Rassismus erhebt der Lookism das Erscheinungsbild der eigenen Rasse oder Gemeinschaft zur ästhetischen Norm, würdigt alle Menschen anderen Aussehens herab und setzt sie beispielsweise bei der Arbeits- und Wohnungssuche zurück. In westlichen Ländern sind von dieser Art Diskriminierung Angehörige anderer Ethnien oder Rassen betroffen, die vom Schönheitsideal der Weißen durch dunkle Haut, krauses Haar oder hervorstehende Lippen abweichen (vgl. dazu Brock 1998, 65/ Little, 166). Die Karriere der ästhetischen Chirurgie soll im 19. Jahrhundert in den USA mit den Wünschen von Angehörigen der jüdischen Minderheit nach einer weniger gekrümmten Nase begonnen haben, die durch diese „Schönheitsoperationen“ ihre ethnische Zugehörigkeit verschleiern und Diskriminierungen entgehen wollten (vgl. Birnbacher 2006, 116). Sobald die ästhetische Chirurgie Schönheitsoperationen zur Verschlankung, Aufhellung dunkler Haut und Korrektur von Hakennasen zur Verfügung stellt, befinden sich die unter der gesellschaftlichen Diskriminierung leidenden Vollschlanken, Schwarzhäutigen oder Hakennasigen in folgendem Dilemma: Sie lehnen zwar aus moralischen Gründen die Vorherrschaft dieser abqualifizierenden Normen und die gesellschaftliche Verachtung gegenüber den betroffenen Personengruppen ab, sind aber aus individualethischer Perspektive um ihr eigenes Wohl bemüht. Dabei wird die moralische Ungerechtigkeit dadurch verschärft, dass sich nicht alle Betroffenen medizinische Eingriffe <?page no="140"?> 140 3 Körperliches Enhancement leisten können und die verbleibenden Träger angeblich hässlicher Merkmale umso mehr diskriminiert werden. Die letztgenannte Ungerechtigkeit ließe sich zwar dadurch beseitigen, dass allen Angehörigen der betreffenden Minderheiten die medizinischen Leistungen zur Angleichung an das vorherrschende Schönheitsideal kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Mit der Aufhebung der stigmatisierenden ethnischen Merkmale würden jedoch nur die Symptome zum Verschwinden gebracht, nicht aber die moralisch verwerflichen Einstellungen gegenüber Menschen mit mehr Körperfülle, höheren Alters oder anderer Religion oder Rasse. Denn diskriminierende Schönheitsideale basieren nicht auf willkürlichen und harmlosen ästhetischen Vorlieben, sondern vielmehr auf tieferliegenden falschen und ungerechten Vorurteilen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen: z. B. auf den Annahmen, dass die Qualität von Frauen eher in ihrem Körper als in ihrem Geist zu suchen ist, dass Fettleibige willensschwach, undiszipliniert und faul oder Schwarze „subhuman“ und „näher am Affen“ sind (vgl. dazu Morgan, 153/ Little, 165 f.). Ästhetische Normen können auch eine generelle gesellschaftliche Grundhaltung wie z. B. einen Jugendkult zum Ausdruck bringen, der leicht mit einer Diffamierung des Alters einhergeht. Ästhetische Standards müssen aber keineswegs zwangsläufig mit einer Diskriminierung derjenigen verbunden sein, die ihnen nicht genügen. So geht mit der Vermarktung und Verbreitung von Maßnahmen zur Verjüngung nicht automatisch eine Stigmatisierung und Ungleichbehandlung von älteren Menschen einher. Es kommt vielmehr auf die Umgangsweise einer Gesellschaft mit den Schönheitsidealen bzw. auf die ethische Grundhaltung gegenüber denjenigen an, die ihnen nicht genügen. Eine Alternative zum Verbot von Schönheitsoperationen wäre es daher, die von den Stigmatisierten gewünschten und auch selbst bezahlten operativen Eingriffe zuzulassen und gleichzeitig öffentlich zu Toleranz und Gleichbehandlung gegenüber „hässlichen“ Frauen, Fettleibigen oder Schwarzen zu mahnen. Angesichts solcher moralisch bedenklicher gesellschaftlicher Einstellungen und Praktiken ist auch das Beteuern der Schönheitschirurgen ethisch fragwürdig, mit einem Eingriff das Leiden der Betroffenen unter ihrem Minderwertigkeitskomplex lindern und ihnen so helfen zu wollen. Da es sich in diesen Fällen nicht um krankheitswertige, durch Funktionsstörungen oder pathologische Lebensprozesse verursachte Leidenszustände handelt, scheint das gewählte Mittel zum guten Zweck ungeeignet zu sein (Kap. 1.3). Denn nicht ein körperlicher „Makel“ ist in einer einfachen Ursache-Wirkungs-Relation die Ursache des Leids, sondern die mit diesem Körpermerkmal verbundene gesellschaft- <?page no="141"?> 141 3.1 Schönheitsoperationen liche Stigmatisierung und Diskriminierung. Daher machen sich die Ärzte dem Diskriminierungs-Argument zufolge gewissermaßen zu Komplizen unmoralischer Überzeugungen und Handlungsweisen, indem sie angebliche körperliche Mängel beseitigen und damit implizit die Minderwertigkeit der Träger dieser Merkmale eingestehen (vgl. Little, 170 f.). So spiegeln, bejahen und bestärken z. B. Aufhellungen einer als weniger edel empfundenen dunklen Haut oder die Behandlung von Fettleibigkeit bei Konfektionsgrößen schon ab 35 problematische ästhetische Normen und wecken im Fall von Normübertretungen Scham und Minderwertigkeitsgefühle in den Betroffenen. Es ist daher von den Schönheitschirurgen zu erwarten, dass sie ihr Handeln zur Erfüllung solcher gesellschaftlicher Normen in einen größeren gesellschaftlichen Kontext stellen, die möglichen Rückwirkungen auf die Gesamtbevölkerung bedenken und sexistische oder rassistische Schönheitsideale klar verurteilen (vgl. ebd., 140). Öffentliche Debatten über die ärztliche Komplizenschaft sollten diese kritische Selbstreflexion der Mediziner unterstützen, können sie aber natürlich nicht ersetzen. In anderen Fällen kann es schwieriger sein zu beurteilen, ob beispielsweise eine stark gekrümmte Nase nicht unabhängig von Vorurteilen gegenüber Juden allein aufgrund ihrer ständig negative Aufmerksamkeit erzeugenden Anomalie zum Wunsch nach einer Schönheitsoperation führt. Hinsichtlich der Fettleibigkeit gibt es zudem medizinisch indizierte therapeutische Eingriffe, bei denen neben ästhetischen Gründen erhebliche Funktionsbeeinträchtigungen und gesundheitliche Beschwerden ausschlaggebend sind. Das Diskriminierungs-Argument macht also einmal mehr die Notwendigkeit ärztlicher Reflexionen und öffentlicher Debatten über die hinter westlichen Schönheitsidealen verborgenen Vorurteile und Gefahren der Diskriminierung deutlich, liefert aber keinen Grund zur Ächtung und Verwerfung der gesamten Schönheitsindustrie. 8) Kontra-Argument: Komplikationen und hohe Risiken Gegen ästhetische Eingriffe werden in medizinethischen Debatten stets auch die vielen Komplikationen und hohen Risiken bei Schönheitsoperationen geltend gemacht. Da eine medizinische Indikation fehlt und so keine Gefährdungslage der Patienten besteht, fallen Schadensfälle grundsätzlich mehr ins Gewicht. Während zum generellen Ausmaß an Folgeschäden keine zuverlässigen umfassenden Statistiken vorliegen, listen Einzeluntersuchungen die Gefahren bei verschiedenen Operationsformen auf: Bei Brustvergrößerungen mit Silikonimplantaten etwa machen Rupturen, Faltenbildungen, Asymmetrien, Narben, <?page no="142"?> 142 3 Körperliches Enhancement Schmerzen und Infektionen bei 20-40 % der Frauen in den ersten 8-10 Jahren eine erneute Operation notwendig (vgl. Borkenhagen u. a., 49). Gemäß einer Studie über Fettabsaugungen im deutschsprachigen Raum kam es zwischen 1998 und 2001 in 76 Fällen zu schweren Komplikationen mit Todesfolge bei drei Personen, wohingegen nach 2005 in Deutschland keine Todesfälle mehr bekannt wurden (vgl. ebd.). Abgesehen von solchen teilweise schwerwiegenden Folgeschäden auf der Körperebene liegen bei Klienten häufig psychopathologische Motive vor. Am schwerwiegendsten sind die in etwa 5-15 % der schönheitschirurgischen Eingriffe vorhandenden psychiatrisch diagnostizierbaren körperdysmorphen Störungen, die durch ein stark beeinträchtigtes Selbstwertgefühl und eine unangemessene, den Lebensalltag störende Sorge um eine minimale oder nichtvorhandene Körperanomalie gekennzeichnet sind (vgl. ebd., 48/ Brukamp, 26 f.). Hier stellte eine Schönheitsoperation einen Behandlungsfehler dar, weil sie die Störung trotz guter Operationsergebnisse verstärken und einen Wiederholungszwang auslösen kann (vgl. Langer u. a., 83 f./ Damm, 217). Nachdem die Patienten ästhetischer Chirurgie in der Anfangsphase ihres Aufkommens überdurchschnittlich häufig unter psychischen Problemen litten, soll sich dieser Prozentsatz mit der zunehmenden Verbreitung der Eingriffe allerdings verringert haben (vgl. Borkenhagen u. a., 47 f.). Da jedoch mitunter anstelle oder ergänzend zu einer operativen Behandlung eine Psychotherapie angezeigt wäre, sollten Schönheitschirurgen eigentlich eine psychiatrische Zusatzausbildung erhalten. Alternativ dazu müssten sie eng mit einem psychiatrisch-psychologischen Team zusammenarbeiten, die Ursachen des Leidens prüfen und allenfalls eine nicht-chirurgische Behandlung anbieten (vgl. Burkamp, 32 f./ Miller u. a., 155). Ethisch legitim können Schönheitsoperationen nur nach sorgfältiger Nutzen-Schadenrisiko-Abschätzung und einer Prüfung der Ursachen des Leidens sein. 9) Kontra-Argument: Widerspruch zum ärztlichen Ethos Ein gängiges Argument gegen die Schönheitschirurgie lautet, dieses medizinische Tätigkeitsfeld verstoße gegen das „ärztliche Ethos“, das „Standesethos“ oder gegen „medizinische Standards“: Die „Ethik des Helfens“ werde ersetzt durch die „Ästhetik der Zielsetzung“ (Eberbach, 13). Unter dem ärztlichen Ethos wird meist unter Berufung auf den antiken „Eid des Hippokrates“ die humane Grundhaltung der Ärzte verstanden, immer nach bestem Wissen und fachlichem Können dem Wohl des Patienten zu dienen und ihm niemals zu <?page no="143"?> 143 3.1 Schönheitsoperationen schaden (vgl. Fenner 2010, 51). Oft werden noch weitere in der Eidesformel enthaltene Forderungen zitiert wie die Schweigepflicht, die Achtung vor dem Leben oder das Verbot sexueller Übergriffe, oder es werden die traditionellen Ziele der kurativen Medizin, also die Heilung von Krankheit, Wahrung der Gesundheit und Linderung von Leid aufgeführt (vgl. Wiesing 2011, 44/ Altintas u. a., 12). Von einem konservativen Standpunkt aus sind Schönheitsoperationen mit dem ärztlichen Ethos unvereinbar, weil sie keine Krankheiten im biologisch-naturwissenschaftlichen objektivistischen Verständnis unwillkürlich gestörter Lebensfunktionen heilen und keinen krankheitsverursachten Schmerz mildern. Zwar gibt es wie gesehen auch Gegenmodelle, die Krankheit subjektivistisch als Minderung des individuellen Wohlbefindens oder als Nichterreichung von persönlichen Handlungszielen definieren. Ein solches lebensweltliches Krankheitsverständnis erwies sich jedoch mit Blick auf das medizinische Gesundheitssystem als untauglich (Kap. 1.3). Zu einer Neubestimmung des ärztlichen Ethos fordert auch der diagnostizierte Wandel von einer traditionellen „kurativen“ zu einer modernen wunscherfüllende Medizin heraus, die sich gar nicht mehr um die Heilung von Krankheit, sondern um Gesundheitsförderung und die Wünsche der Klienten nach Optimierung von Fähigkeiten oder Verbesserung des Erscheinungsbildes kümmert (vgl. ebd.). Aber auch eine solche Strukturveränderung muss unter verschiedenen Hinsichten kritisch beurteilt werden. Ob die Enhancement-Medizin als Teil der wunscherfüllenden Medizin überhaupt den berufsethischen und -rechtlichen Bestimmungen der Berufsordnung der Ärzte unterworfen ist, wird kontrovers diskutiert (vgl. Eberbach, 19). Nach einem traditionellen Verständnis müssen jedoch für die ethische und rechtliche Legitimation ärztlichen Handelns mindestens die drei folgenden Bedingungen erfüllt sein, die somit Leitlinien des ärztlichen Ethos bilden: 1. Indikation, 2. Aufklärung des Patienten und 3. Einhaltung medizinischer Standards (vgl. Damm, 211) Ad 1: Ein Eingriff ohne Indikation anhand objektiver medizinwissenschaftlicher Kriterien war nach dem lange gültigen traditionellen Medizinverständnis illegitim und wurde in Deutschland bis 1964 als rechtswidrig verurteilt (vgl. Kern u. a., 131). Zur Verteidigung der Schönheitschirurgie wird jedoch heute zum einen eine „ästhetische“ anstelle einer „medizinischen Indikation“ geltend <?page no="144"?> 144 3 Körperliches Enhancement gemacht, die bereits kritisch relativiert wurde (vgl. Argument 3). Zum andern werden Abstufungen zwischen medizinisch indizierten Heilbehandlungen und „reinen“ nichtindizierten Schönheitsoperationen mit abnehmender Legitimation vorgenommen, z. B. in die vier Fallgruppen: Behebung einer physischen Funktionsbeeinträchtigung, Behebung einer entstellenden Deformität, Behebung einer psychischen Beeinträchtigung, Verschönerung bereits normaler Körperformen (vgl. Damm, 215). Urban Wiesing schlägt zur ethischen Bewertung ästhetischer Interventionen die unterschiedlichen Zielsetzungen a) der Vermeidung einer ungewollten und als negativ empfundenen Aufmerksamkeit und b) der Vermehrung einer gewünschten positiven Aufmerksamkeit durch das soziale Umfeld vor (vgl. Argument 1). Auch bei solchen medizinethisch rechtfertigbaren Zwischenstufen liegt jedoch immer nur eine „relative Indikation“ vor, welche es gegen verschiedene Formen der Kontraindikation abzuwägen gilt (vgl. Stock, 161): Bei einer absoluten Kontraindikation drohen eine Verschlechterung des Gesundheitszustands oder gar Lebensgefahr des Patienten, so dass Verschönerungsmaßnahmen dem ärztlichen Grundprinzip des Nichtschadens widersprechen und selbst bei ausdrücklichem Patientenwunsch strafbar sind. Kann im Fall einer relativen Kontraindikation der Patientenwunsch nicht oder nur unter hohen Risiken erfüllt werden, ist eine Maßnahme nur nach einer sorgfältiger. positiv ausfallender Nutzen-Risiko-Abwägung legitim. Gegen einen Eingriff können aber nicht nur somatische und psychische Gründe, sondern auch soziale und ethische sprechen (vgl. ebd., 153). Wenn Schönheitschirurgen beispielsweise Schwarzen ihre Haut aufhellen oder Normalgewichtigen Fett absaugen, unterstützen sie wie oben gezeigt ethisch verwerfliche rassistische Vorurteile und unangemessene willkürliche gesellschaftliche Schönheitsideale (vgl. Argument 7). Sie verstoßen damit gegen ein Grundprinzip des ärztlichen Ethos, stets die Ursachen und nicht bloß die Symptome eines Leidens zu bekämpfen (vgl. Burkamp, 26). Ad 2: Die Aufklärung der Patienten zum Zweck einer informierten Einwilligung ist ärztliche Pflicht, weil nur so ihr Recht auf Selbstbestimmung geschützt werden kann. Aufgrund der fehlenden medizinischen Indikation werden bei Schönheitsoperationen gemäß der „reziproken Formel“ besonders hohe Anforderungen an die ärztliche Aufklärung gestellt: Denn je weniger dringlich ein Eingriff nach medizinischer Indikation und Heilungsaussicht des Patienten ist, desto sorgfältiger muss die Aufklärung ausfallen (vgl. Damm, 233 ff.). Bei einer solchen Aufklärung denken Mediziner zwar meist nur an eine Auskunft über die zu erwartenden Komplikationen einer Schönheitsoperation und über Vor- <?page no="145"?> 145 3.1 Schönheitsoperationen und Nachteile der gewählten Maßnahmen im Vergleich zu möglichen Alternativen. Darüber hinaus sollten die Kunden aber im gemeinsamen Gespräch dazu befähigt werden, über ihre moralischen und ästhetischen Wertvorstellungen und Wünsche zu reflektieren und deren soziale Bedingtheit zu erkennen (vgl. Ach 2006, 203). Letztlich kann eine solche umfassende Aufklärung allerdings kaum von den Ärzten allein geleistet werden, sondern es braucht öffentliche Appelle zu einem distanzierten und kritischen Umgang mit gesellschaftlichen Schönheitsidealen. Statt dass eine unhinterfragte Patientenautonomie mehr und mehr als Kompensation für die fehlende medizinische Indikation akzeptiert wird, müssten freiheitsbeeinträchtigende Faktoren benannt und bekämpft werden (vgl. Argument 2). Ad 3: Das ärztliche Ethos verlangt des Weiteren sowohl bei Heilals auch Wunscheingriffen die Einhaltung aktueller medizinischer Standards, wobei deren Nichteinhaltung einen Behandlungsfehler darstellt (vgl. Kern u. a., 132). Als fachlich qualifiziert für Schönheitsoperationen gelten unbestritten Fachärzte für plastische und ästhetische Chirurgie. Nach Schätzungen werden Schönheitsoperationen aber in Deutschland nur in einem Drittel der Fälle von solchen Fachärzten vorgenommen (vgl. Damm, 209). Die vielen Selbstbezeichnungen wie „Schönheitschirurg“ oder „ästhetischer Chirurg“ sind jedoch keine geschützten Titel und sagen nichts aus über Ausbildung und Qualifikation des Arztes. Da zahlreiche andere Facharztgebiete bestimmte Teilbereiche umfassen wie etwa Gynäkologie Brustoperationen, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie sowie Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Gesichtsoperationen und Dermatologie Fettabsaugungen und Laserbehandlungen, streiten diese Fachdisziplinen seit Langem um den Zusatztitel „ästhetische Operationen“. Teilweise werden aber ästhetische Eingriffe wie Fettabsaugen oder Botulinumspritzen sogar von Heilpraktikern oder Kosmetikern durchgeführt. Im Widerspruch zum ärztlichen Ethos soll aber v. a. auch die Orientierung der Schönheitschirurgen an individuellen Profitinteressen stehen. Denn die humane Grundhaltung der Ärzte verlange die Verpflichtung auf eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe, auf das „Gemeinwohl“ bzw. die „Volksgesundheit“ (vgl. Karsch, 91/ Eberbach, 14). Dies wird oft damit begründet, dass es sich beim Arztberuf im Unterschied zu einem „Gewerbe“ um eine Profession oder einen freien Beruf handle: Während es bei einem „Gewerbe“ primär um Gewinnmaximierung geht, sind „Professionen“ wie Ärzte, Juristen oder Pfarrer auf gesellschaftlich als notwendig anerkannte und ethisch achtenswerte Ziele ausgerichtet (vgl. Wiesing 2011, 44 f.). Die Schönheitschirurgie hingegen werde <?page no="146"?> 146 3 Körperliches Enhancement als „verbraucherorientiertes Geschäft“ aufgezogen und bediene die Profitgier der Ärzte, welche ihre Praxen ausbauen und ihr Einkommen steigern wollten (vgl. Miller u. a., 150/ Ferrari, 115). Die Ökonomisierung der Schönheitschirurgie spiegle sich in der engen Zusammenarbeit der Schönheitschirurgen mit den Herstellern medizinischer Produkte und in ihren aggressiven Vermarktungsstrategien wider. Klar als berufs- oder standeswidrige Werbung zu verurteilen sind alle täuschenden, irreführenden oder manipulativen Informationen, die falsche oder ungerechtfertigte Erwartungen wecken und schnelle einfache Lösungen versprechen (vgl. Miller u. a., 158). Eine unzulässige suggestive oder subliminale manipulative Werbung spricht unterschwellig allgemeinmenschliche Bedürfnisse nach Sexualität oder sozialer Anerkennung oder Minderwertigkeitsgefühle an, für die Schönheitsoperationen die falschen Mittel darstellen. Die deutsche Bundesärztekammer verbietet sowohl anpreisende als auch vergleichende Werbemaßnahmen und somit auch Vorher-Nachher-Fotovergleiche von Patienten, da sie medizinische Laien suggestiv beeinflussen können (vgl. Burkamp, 36 f.). Auch dürfen keine einzelnen Leistungen oder Sonderangebote beworben oder Schönheitsoperationen als Preis einer Verlosung oder Probierangebot offeriert werden. Um das ärztliche Ethos und die professionelle Integrität zu wahren, müssten Schönheitschirurgen von persönlicher Profitgier möglichst absehen und manipulative Werbung ganz unterlassen (vgl. Miller u. a., 160 f.). Statt irgendwelche Maßnahmen verkaufen zu wollen, muss ihre Tätigkeit stets auf das Ziel ausgerichtet sein, dem Patienten zu helfen, auch wo nur eine relative Indikation vorliegt (vgl. Wiesing 2011, 48). Angesichts des großen Ärztemangels in Deutschland sollten ästhetische Eingriffe im Rahmen eines kommerziellen Gewerbes immer nur peripher bleiben, nicht aber in ausgegliederten Schönheitskliniken oder Instituten für ästhetische Dermatologie zum ausschließlichen Tätigkeitsfeld der Ärzte werden. Fazit Die Analyse der wichtigsten Argumente pro und kontra Schönheitsoperationen erlaubt am Ende kein einfaches abschließendes Urteil im Sinne eines generellen Verbots oder einer Erlaubnis. Die vielen ernst zu nehmenden individual- und sozialethischen Einwände haben aber deutlich gemacht, dass ästhetische Eingriffe nur unter bestimmten individuellen, gesellschaftlichen und medizinischen Bedingungen ratsam und ethisch legitim sind. Aus individualethischer Perspektive scheint zwar möglichst große gestalterische <?page no="147"?> 147 3.1 Schönheitsoperationen Selbstbestimmung über den eigenen Körper begrüßenswert zu sein, damit ein ansehnliches Äußeres nicht länger der natürlichen Lotterie anheimgestellt bleibt (Argumente 2-4). Trügerisch sind aber die von der Gesellschaft, Modewelt und Schönheitsindustrie verbreiteten Suggestionen, durch eine Optimierung des Erscheinungsbildes ein „authentisches Selbst“, Glück und Erfolg erlangen zu können. Denn äußerliche Schönheit ist keine notwendige oder gar hinreichende Bedingung eines guten und glücklichen menschlichen Lebens. Eine rein äußerliche Körperveränderung kann insbesondere bei psychischen Problemen von niedrigem Selbstbewusstsein bis hin zu körperdysmorphen Störungen weder zu einer Aufhebung der Identitätsstörung beitragen noch die Lebensqualität der Betroffenen verbessern. Es wäre also unklug, wenn eine übertriebene gedankliche, finanzielle und zeitliche Konzentration auf die eigene Körperoberfläche zu einer Vernachlässigung anderer wichtiger glückskonstitutiver Güter verleitete. Aus sozialethischer Perspektive ist der „Lookism“ als willkürliche und unbegründete Höherbewertung und Bevorzugung attraktiver Menschen moralisch verwerflich, der sich im empirisch bestätigten „Halo-Effekt“ niederschlägt (Argumente 5/ 7). Besonders zu verurteilen sind diskriminierende, z. B. rassistische Schönheitsideale und entsprechende ästhetische Korrekturen, durch die gesellschaftlichen Vorurteile bejaht und bestärkt werden (Argument 7). Problematisch sind aber auch die bereits während der Sozialisation verinnerlichte Koppelung von sozialem Ansehen und Erfolg an ein schönes Aussehen sowie die Omnipräsenz ästhetisch retuschierter und perfektionierter Körper in der Medien- und Werbewelt. Denn sie prägen die individuelle Körperwahrnehmung und das Selbstverhältnis der Einzelnen auf eine Weise, die der Selbstreflexion nur bedingt zugänglich ist (Argument-3). Anstatt Menschen zunehmend anhand ihres äußeren Erscheinungsbildes zu bewerten und ihre Unzufriedenheit mit ihrem Körper durch immer höhere Ansprüche an Jugendlichkeit und körperliche Perfektion zu steigern, sollte in Medien und Gesellschaft die kritische Reflexion über aktuelle modische Schönheitsideale gefördert und nach alternativen, weniger oberflächlichen Idealen gesucht werden. Aus medizinethischer Sicht stellt es einen Widerspruch zum traditionellen, an objektiv bestimmbaren Krankheiten orientierten ärztlichen Ethos dar, wenn Ärzte im freien Wettbewerb Dienstleistungen zur Erfüllung subjektiver Wünsche gesunder „Patienten“ anbieten. Der Hinweis auf den sich gegenwärtig vollziehenden Wandel im Grundverständnis der Medizin weg von einer herkömmlichen kurativen hin zu einer wunscherfüllenden Medizin verschiebt das Legitimationsproblem der Schönheitschirurgie lediglich, da dieser Struk- <?page no="148"?> 148 3 Körperliches Enhancement turwandel selbst kritisch zu beurteilen ist. Als nicht überzeugend erwies sich auch das Argument, die ästhetische Chirurgie lasse sich genauso wenig von der rekonstruktiven Chirurgie oder der Medizin insgesamt abgrenzen wie Krankheit von Gesundheit (Argument 1). Denn trotz einer Grauzone und vieler Grenzfälle lassen sich Krankheit und Gesundheit nicht nur kriteriell voneinander unterscheiden, sondern die Behandlung von Krankheiten hat auch einen ganz anderen ethischen Stellenwert als die Erfüllung von ästhetischen Wünschen (Kap. 1.3): Eine Therapie ist deswegen ethisch dringlicher geboten als ein Enhancement, weil Krankheiten ein „normales Funktionieren“, das „normale Chancenspektrum“ in einer Gesellschaft oder die Handlungsfähigkeit der Betroffenen einschränken oder gefährden. Allerdings wären Abstufungen zwischen eindeutiger medizinischer und rein ästhetischer Indikation mit je andersartigen Ursachen des Leids und verschiedenen Graden an Beeinträchtigungen vorzunehmen (Argument 1/ 9). So ist beispielsweise das Leiden an ständiger negativer Aufmerksamkeit aufgrund einer stark entstellenden körperlichen Deformation in einem ganz anderen Sinn ein Übel und eine Notsituation als das Leiden an einem unerfüllten Wunsch nach mehr positiver Aufmerksamkeit durch körperliche Perfektionierung über ein Normalmaß hinaus. Abzulehnen ist grundsätzlich eine marktförmige Verteilung der Gesundheitsleistungen nach dem liberalen Präferenz-Effizienz-Modell, weil dieses zu einer Priorisierung der Wünsche der privilegierten Bevölkerungsgruppen führt (Argument 3). Solange die medizinische Grundversorgung wegen begrenzter Ressourcen an Geld und medizinischem Personal nicht für alle Menschen sichergestellt ist, können kommerzielle ästhetische Eingriffe nur als periphere Zusatztätigkeit der Ärzte in begründbaren Einzelfällen ethisch zulässig sein. Notwendig ist eine medizinethische und öffentliche Debatte zur näheren Bestimmung der Kriterien, um eine wachsende gewerbsmäßige Schönheitsindustrie und eine allfällige Erweiterung des Angebots der teuren wunscherfüllenden Medizin innerhalb des solidarisch finanzierten Gesundheitssystems sinnvoll zu regulieren. 3.2 Unsterblichkeit und Lebensverlängerung Unsterblichkeit ist ein uralter Menschheitstraum. Jahrtausende lang tröstete der christliche Glaube an die Unsterblichkeit der Seele die Menschen darüber hinweg, dass sie eines Tages sterben müssen. Da aber eine körperlose Seele nach ihrer Trennung vom Leib weder handeln noch kommunizieren könnte, wäre eine solche Unsterblickeit zumindest aus säkularer Sicht kaum wünschens- <?page no="149"?> 149 3.2 Unsterblichkeit und Lebensverlängerung wert. Wenn bei der unter Trans- und Posthumanisten verbreiteten neueren Vorstellung einer kybernetischen Unsterblichkeit der personale Kern oder die Persönlichkeit eines Menschen durch „mind uploading“ in einen intelligenten Computer transformiert werden soll, wird eine konzeptuell höchst problematische funktionalistische Philosophie des Geistes vorausgesetzt (vgl. Knell, 24/ Kap. 1.4). Wiederum stellt sich auch die Frage, ob die zeitlose Weiterexistenz als rein siliziumbasierte „artifizielle Superintelligenz“ ohne Körper im Cyberspace überhaupt erstrebenswert ist. Den meisten Transhumanisten und Enhancement-Befürwortern der Gegenwart geht es jedoch um die Utopie einer körperlichen Unsterblichkeit, die nicht wörtlich zu verstehen sei, sondern von der ganzen Unsterblichkeitsrhetorik gereinigt lediglich eine verlängerte Lebensspanne oder Lebensverlängerung meine (vgl. Sorgner, 11). Denn als kohlenstoffbasierte Lebewesen sind Menschen prinzipiell sterblich und können jederzeit durch nichtaltersbedingte Krankheiten, Unfälle, Naturkatastrophen oder Mord zutode kommen, auch wenn sie nicht mehr an den Folgen des Alterns sterben müssten. Die neu entstandenen Disziplinen der Biogerontologie als Altersforschung und die auf ihren Erkenntnissen aufbauende Anti-Aging-Medizin arbeiten an verschiedenen, teilweise bereits in Tierversuchen erfolgreich getesteten Methoden, um die derzeit maximale Lebensspanne von rund 120 Jahren beträchtlich zu erweitern (vgl. Gesang, 32 f./ Kass u. a., 172-180): Durch gentechnische Veränderungen eines einzigen Gens gelang es bei verschiedenen Tierarten, die potentielle Lebensdauer um ein Vielfaches zu verlängern. Andere Möglichkeiten sind die Zugabe von Stoffen, die nachweislich einen Einfluss haben auf die menschliche Lebenserwartung wie z. B. künstliche Anti-Oxidantien zur Zerstörung der gefährlichen „freien Radikalen“, kalorienreduzierende künstliche Substanzen oder die v. a. während der Wechseljahre der Frau drastisch sinkenden Geschlechtshormone. Andere Forschergruppen konzentrieren sich auf die sogenannten Telomere an den Enden der Chromosomen, die sich bei jeder Zellteilung verkürzen und letztlich für das Absterben der Zelle verantwortlich sind. Auch wenn die meisten dieser biotechnologischen Methoden zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch viel zu riskant für die Anwendung bei Menschen sind, gilt es auch diese vermeintlichen körperlichen Verbesserungen bereits heute kritisch zu hinterfragen: Ist es wirklich gut, länger zu leben? Fest steht zunächst, dass eine Fortsetzung der Gebrechen und des Siechtums im hohen Alter von niemandem gewollt wird. Langlebigkeit als höheres numerisches Alter, d. h. eine höhere Anzahl an Lebensjahren ist somit als <?page no="150"?> 150 3 Körperliches Enhancement Optimierungsziel unterbestimmt. Es müsste vielmehr biologische Unsterblichkeit in dem Sinn erreicht werden, dass die biologischen Alterungsprozesse des menschlichen Organismus gestoppt oder durch Reparaturmaßnahmen fortwährend rückgängig gemacht werden können. Genau dieses doppelte Ziel verfolgt die Anti-Aging-Medizin, die sowohl die Abmilderung der „natürlichen“ Folgen des Alterns innerhalb der „normalen“ Lebensspanne als auch die Verlängerung der Lebensspanne über die bisher erreichte Altersgrenze hinaus verspricht (vgl. Maio 2006, 341 f.). In medizinischen Kontexten geht es meist gemäß der ersten Bedeutung um die Vermeidung oder das Hinauszögern altersbedingter Krankheiten, wobei sich aber häufig als sekundärer Effekt eine Erhöhung der Lebenserwartung einstellt (vgl. Maio 2006, 343/ Ehni u. a., 281). Gemäß dem objektiven biostatischen Krankheitsmodell sind die zu einem allmählichen Verfall körperlicher oder geistiger Fähigkeiten führenden Alterungsprozesse allerdings keine Krankheiten, weil sie der statistischen Norm der altersmäßigen Referenzklasse des Organismus entsprechen (vgl. Schramme 2009, 250 f./ Kap. 1.3). Demgegenüber ist etwa nach Arthur Caplan, Michael Fossel und verschiedenen Transhumanisten wie Aubrey de Grey das Altern sehr wohl eine Krankheit und jeder menschliche Tod ein „vorzeitiger“ (vgl. Fuchs, 360/ Buyx u. a., 33/ Sorgner, 40). In einer differenzierten Zwischenlösung wäre zwar das biologische Altern selbst keine Krankheit, aber die mit schwerwiegenden Funktionsbeeinträchtigungen verbundenen Veränderungen wie z. B. Prostatakrebs oder Demenz gälten gleichwohl als Alterskrankheiten (vgl. Schramme 2009, 256 f.). Bei sämtlichen nichtpathologischen Alterungsprozessen entgegenwirkenden Anti-Aging- oder Verjüngungsmaßnahmen handelt es sich um ein körperliches Enhancement, das nur bezüglich der unterschrittenen statistischen Norm der Referenzklasse der Jugendlichen ein „kompensatorisches“ wäre. Statt um die Verhinderung von Alterskrankheiten geht es jedoch um das Vermeiden von altersbedingten Einschränkungen ohne Krankheitswert zur Verbesserung der Lebensqualität, so beispielsweise bei Viagra bzw. Sildenafil zur Aufrechterhaltung der Erektionsfähigkeit alternder Männer. Daneben gibt es medizinische Interventionen, die ausschließlich auf die Steigerung des subjektiven Wohlbefindens ohne Vorliegen von Funktionsstörungen oder Krankheiten abzielen wie z. B. Kosmetika oder Schönheitsoperationen (Kap. 3.1). Ist also eine Lebensverlängerung unter der Bedingung erstrebenswert, dass Gesundheit, Schönheit, Vitalität, geistige und körperliche Leistungsfähigkeit erhalten bleiben? <?page no="151"?> 151 3.2 Unsterblichkeit und Lebensverlängerung 3.2.1 Individualethische Argumente Als falsch erwies sich bereits die intuitiv naheliegende individualethische Annahme, körperliche Unsterblichkeit bzw. eine Verlängerung der Lebensspanne bedeute ganz automatisch einen Gewinn für den Einzelnen. Denn evidentermaßen ist ein längeres Leben vielmehr nur dann ein besseres, wenn das bisherige im Großen und Ganzen eher gut als schlecht verlief und die Aussichten auf zukünftiges Gelingen ebenfalls vielversprechend sind (vgl. Knell, 62). Selbst wenn die Anti-Aging-Medizin den unerwünschten Auswirkungen biologischer Alterungsprozesse auf der Körperebene erfolgreich entgegenwirken könnte, stellte auch dies immer noch lediglich eine von vielen notwendigen Voraussetzungen für eine hohe menschliche Lebensqualität dar. Um ein gutes und glückliches Leben führen und realistischerweise von einem verlängerten Leben profitieren zu können, sind die Menschen über eine gute Gesundheit hinaus auch auf relativ stabile soziale, politische und wirtschaftliche Verhältnisse angewiesen (vgl. Knell, 121/ Fenner 2007, Kap. 5.3). Sie benötigen außerdem ein gesichertes Existenzminimum und ein ausreichendes Maß an persönlicher Freiheit in einem permissiven Umfeld, in dem sie nicht unter hohem gesellschaftlichem Druck zur Anpassung an vorgesehene Lebensmuster gezwungen werden. Da in westlichen demokratischen Wohlfahrtsstaaten keine politischen Unruhen oder Bürgerkriege herrschen, der Lebensstandard hoch ist und Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen solidarisch abgefedert werden, dürften diese zusätzlichen Rahmenbedingungen für die meisten Menschen hierzulande erfüllt sein. Selbst dann aber garantiert eine Verlängerung der Lebensspanne keineswegs ein gutes Leben, sondern bietet lediglich gute reale Chancen dafür. Schwere persönliche Schicksalsschläge wie Unfälle oder Verluste naher Angehöriger oder unvernünftige individuelle Lebenspläne können diese Chancen leicht vernichten. Abgesehen von schwierigen Lebensbedingungen führen Philosophen aber gegen eine Ausweitung der Lebensspanne noch zahlreiche weitere, eher abstrakte Argumente an: So könnte das menschliche Leben durch eine quantitative Zunahme an Bedeutung, Intensität und existentiellem Ernst verlieren, weil in der Sprache der Ökonomen die Knappheit den Wert von Waren oder eben Lebenszeit erhöht (vgl. Kass u. a., 187/ Kass, 266). Auch könnte das Bewusstsein einer stark verlängerten Lebenszeit dazu führen, dass Entscheidungen beliebig aufgeschoben werden (vgl. Kass u. a., 188/ Heilinger, 275). Solche vage prognostische psychologische Vermutungen lassen zwar keine direkte empirische Über- <?page no="152"?> 152 3 Körperliches Enhancement prüfung zu. Nachdem sich aber die durchschnittliche Lebenserwartung in den letzen 100 Jahren verdoppelt hat und solche negative Konsequenzen ausblieben, scheint die Gefahr zumindest bei einer weiteren graduellen Verlängerung der Lebenszeit gering zu sein (vgl. Heilinger, 275). Im Rekurs auf die drei wichtigsten philosophischen Theorien des guten Lebens liegt ein solches vor, wenn es möglichst viele subjektive Erlebnisse der Lust oder Freude aufweist (hedonistische Theorie), die wichtigsten Wünsche oder Ziele realisiert werden können (Wunsch- oder Zieltheorie) oder bestimmte für das Leben aller Menschen wesentliche Güter vorliegen (Gütertheorie) (Kap.- 2.1). Auf den ersten Blick scheint eine Verlängerung der Lebensspanne nach allen drei Ansätzen begrüßenswert zu sein, weil sie den Individuen mehr Zeit und Möglichkeiten für lustvolle Erlebnisse, die Erfüllung von Wünschen oder die Entfaltung menschlicher Grundfähigkeiten verschafft (vgl. Kass u. a., 181 f./ Knell, 70 f.). Am besten vergegenwärtigen lässt sich dies anhand zukunftsbezogener Wünsche wie derjenigen, das Aufwachsen der Enkel miterleben oder die Ergebnisse einer eigenen Langzeitstudie auswerten zu können. Zugleich mit den erhöhten Chancen auf zusätzliche positive Lebensinhalte steigt jedoch auch das Risiko auf leidvolle Erfahrungen und unerfüllte Wünsche. Immer noch gleich groß ist die Gefahr, dass langfristige Ziele durch einen plötzlichen Tod unerreicht bleiben und das ganze Projekt entwertet wird - sofern es sich nicht um intrinsische, selbstzweckhafte Tätigkeiten handelte. Das Überwiegen von Vor- oder Nachteilen der Verlängerung hängt zum einen von den geschilderten äußeren Rahmenbedingungen ab, zum anderen aber von der jeweiligen individuellen Lebensgestaltung: Akkumuliert ein Mensch in der gewonnenen Lebenszeit lediglich zusätzliche triviale hedonistische Vergnügungen oder wiederholt die immergleichen positiven Erlebnisse, dürften diese Zugaben seinem guten Leben nichts Nennenswertes hinzufügen (vgl. Knell, 103 f.; 148 f.). Nicht niedrige Lüste aus der Stillung biologischer Grundbedürfnisse, sondern nur ein Wohlergehen aus anspruchsvollen, hohe Konzentration und vollen Einsatz spezifisch menschlicher Fähigkeiten erfordernden kulturellen Aktivitäten verleihen dem menschlichen Leben eine zusätzliche Qualität. Zur Begründung verweisen Psychologen auf empirische Untersuchungen zu „Flow“-Erfahrungen und Philosophen auf den „Aristotelischen Grundsatz“, demzufolge nur komplizierte herausfordernde Tätigkeiten immer neue und vielfältige Erfahrungen ermöglichen und Raum lassen für die eigene Erfindungsgabe und kontinuierliche persönliche Weiterentwicklung (vgl. Rawls, 464 ff./ Csikszentmihalyi, 70 ff./ Seligman, 195 ff.). Besonders bei begrenzten natürlichen Fähigkeiten und <?page no="153"?> 153 3.2 Unsterblichkeit und Lebensverlängerung Begabungen dürfte das Potential für immer neue Projekte, Studien und Berufe allerdings irgendwann ausgeschöpft sein, sodass sich schlimmstenfalls existentielle Langeweile einstellte. Ob die Lebensdauer sich tatsächlich positiv auf die Lebensqualität auswirkt, lässt sich angesichts dieser Vielfalt an Einflussfaktoren nicht eindeutig allgemein bejahen. 3.2.2 Sozialethische Argumente Wenn eine Verlängerung der Lebensspanne unter den Bedingungen westlicher Wohlfahrtsstaaten tatsächlich die Chancen auf ein gutes Leben nennenswert steigern würde, sprächen zudem sozialethische Bedenken dagegen: Es erschiene als ungerecht, dass die zumindest in der Anfangszeit sehr teuren medizinischen Methoden nur wenigen finanziell Bessergestellten zur Verfügung stünden (Kap.-2.2). Denn obwohl die faktische Lebensdauer der Menschen bereits aufgrund vielfältiger, von Staat und Gesellschaft nur bedingt beeinflussbarer Faktoren wie Unfälle oder Gewaltverbrechen ganz unterschiedlich ausfällt, wäre die Gesellschaft für die Verschärfung der bestehenden Ungleichheiten sehr wohl verantwortlich (vgl. Knell, 621). Im Rahmen des Egalitarismus werden gleiche Rechte, Güter oder Chancen für alle Menschen gefordert, wobei es beim Chancen-auf-Wohlergehens-Egalitarismus explizit um die Gleichheit der Chancen auf Wohlergehen geht (Kap. 2.2). Demgegenüber bedeutet Gerechtigkeit im Nonegalitarismus, allen Menschen das Überschreiten einer bestimmten Schwelle elementarer, für ein gutes Leben notwendiger Güter zu ermöglichen. Im Unterschied zu grundlegenden Gütern wie Existenzminimum, Gesundheit oder soziale Anerkennung scheint zwar die Lebensverlängerung eher ein zusätzliches, nichtnotwendiges Gut darzustellen (vgl. Wittwer, 219). Martha Nussbaum führt aber auf ihrer Liste notwendiger Güter auch die Fähigkeit an, „bis zum Ende eines vollständigen menschlichen Lebens leben zu können“ (214). Wären die Langlebigen allmählich in der Überzahl, könnten sich neue Standards für ein vollständiges Leben durchsetzen und Kurzlebige zu einem „unvollständigen Leben“ verurteilen. Bei diesem Argument wird „biographische Vollständigkeit“ nicht nur als rein formales und willkürliches Kriterium verstanden, das sich am jeweiligen gesellschaftlichen Durchschnittswert von gegenwärtig 75-80 Jahren orientiert (vgl. Knell, 670-688). Vielmehr geht es um eine kulturell etablierte Abfolge von Lebensstadien wie Kindheit, Schulzeit, Arbeitsphase und Ruhestand mit entsprechenden öffentlichen und rechtlichen Institutionen wie Schulen, Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Sowohl nach <?page no="154"?> 154 3 Körperliches Enhancement egalitaristischer als auch nonegalitaristischer Gerechtigkeitsvorstellung wäre es somit geboten, möglichst von Beginn an durch politische Regelungen allen Menschen den Zugang zu Lebensverlängerungstechniken zu gewährleisten (vgl. ebd., 722 f.). Enhancement-Befürworter versuchen sogar eine Pflicht zur Lebensverlängerung und zur Unterstützung entsprechender Forschung aus der moralischen Pflicht zur Wohltätigkeit oder zur Lebensrettung abzuleiten (vgl. dazu ebd., 454-469/ Wittwer, 220 ff.). Eine Lebensrettung setzt aber nach allgemeinem Sprachgebrauch eine akute Lebensbedrohung voraus, und positive Hilfspflichten werden zur Ausschließung beliebiger Luxuswünsche sinnvollerweise auf grundlegende Güter beschränkt. 3.3 Digitale Selbstvermessung und Quantified Self „Selbstvermessung“ meint in einem weiten Sinn das Quantifizieren und zahlenmäßige Dokumentieren von physischen, psychischen oder geistigen Zuständen, Funktionen oder Eigenschaften einer Person (vgl. Ehlert u. a., 26). Während die Menschen sich selbst und ihr Leben schon immer z. B. in Tagebüchern thematisierten und auch numerische Methoden wie etwa das Sich-Wiegen einsetzten, hat sich doch die Selbstquantifizierung durch die Digitalisierung stark verändert: Die digitale Selbstvermessung kann gleichgesetzt werden mit dem Self-Tracking, dem Erheben, Sammeln und Auswerten von messbaren Daten über die eigenen Verhaltensweisen (Nahrungsaufnahme, Schlafrhythmus, Internetnutzung), Körperzustände (Herzfrequenz, Blutzucker, Cholesterinspiegel), emotionalen Zustände (Stimmungen, Freude) oder Körperleistungen (Schritte, zurückgelegte Kilometer, Anzahl der Fitness-Übungen) über eine bestimmte Zeit hinweg und typischerweise mittels Smartphone (vgl. ebd., 10). 2007 wurde die Quantified-Self-Bewegung in Amerika gegründet, um persönliche Erfahrungen mit anderen Self-Trackern auszutauschen. Wo das möglichst vollständige Datensammeln nicht auf Selbstoptimierung abzielt, ist es eine Art Vorsichtsmaßnahme zur Lösung zukünftiger Probleme (vgl. Unternährer, 207). Die meisten Selbstvermesser wollen aber ganz konkret ihre Gesundheit verbessern durch gesteigerte Fitness, gesunde Ernährung und besseren Schlaf, wobei „Fitness“ neben körperlicher Gesundheit und Leistungsfähigkeit auch für Selbstdisziplin, Willensstärke und Selbstvertrauen steht (vgl. Duttweiler, 223). Weitere Ziele sind die weniger gut exakt messbare Annäherung an bestimmte Körperbilder oder eine effizientere, produktivere Gestaltung von Arbeit oder Sozialleben (vgl. Ehlert u. a., 56/ Duttweiler u. a., 9). In diesem Kapitel geht <?page no="155"?> 155 3.3 Digitale Selbstvermessung und Quantified Self es nicht um aktive Formen des Self-Trackings, die wie das Lifelogging als „digitale Protokollierung des eigenen Lebens“ oft sehr weit gefasst sind und beispielsweise auch momentane Stimmungen oder gelesene Buchseiten erfassen (Selke 2014a, 13). Vielmehr steht das passive Self-Tracking im Zentrum, bei dem digitale Hilfsmittel eine automatisierte Selbstkontrolle ermöglichen: Sensoren enthaltende Smartphones oder „Smart wearables“ (tragbare Computer) wie Fitnessarmbänder, Smartwatches oder Sensoren-T-Shirts können beispielsweise Bewegungen, Atemfrequenz, Kalorienverbrauch und Schlafrhythmus aufzeichnen und kommentieren. Andere Smartphone-Apps errechnen nach dem Einscannen des Barcodes von Lebensmitteln deren Inhaltsstoffe und Kalorien, bewerten sie mittels Farben oder rechnen sie auf den persönlichen Tagesbedarf hoch. Nach Online-Befragungen nutzten 2016 bereits 20-30 % der Deutschen Gesundheits-Apps und Fitness-Tracking-Geräte (vgl. Presseinformation Bit- Kom vom 9.2.2016/ Quantified Wealth Monitor 2016). 3.3.1 Pro-Argumente Mit Blick auf die körperliche Selbstoptimierung ist positiv hervorzuheben, dass bei der digitalen Selbstvermessung über Sensoren auf methodisch kontrollierte Weise Wissen über den eigenen Körper und Gesundheitszustand generiert wird (vgl. Heyen, 5/ Duttweiler u. a., 12 f.). Die erhobenen Daten und vielfältigen Darstellungsmöglichkeiten mit Kurven, Tabellen und Statistiken versprechen mehr Objektivität als die eigene Selbstwahrnehmung. Denn während viele Informationen z. B. über Blutzucker, Kalorienverbrauch oder Schlafphasen dem bewussten Erleben gar nicht direkt zugänglich sind, dürften Einschätzungen über das Ausmaß an Bewegung oder gesunder Ernährung durch selektive Wahrnehmung oder die Macht der Gewohnheit subjektiv verzerrt sein (vgl. Ehlert u. a., 49/ Unternährer, 208 f.). Self-Tracker emanzipieren sich als „Experten ihrer Selbst“ von professionellen Beratern, sodass von einer „Selbstexpertisierung“ gesprochen wird. Viele betonen ihre Einzigartigkeit, weil sie von allgemeinen medizinischen Standards abweichen (vgl. ebd., 208; 213 f./ Meißner, 340): Um dem eigenen Körper gerecht zu werden, greifen sie zu Apps mit personalisierten Ernährungs- und Fitness-Empfehlungen oder suchen dank Schlafsensoren nach einer eigenen Balance von Schlaf- Ruhe- und Produktivitätsphasen. Das durch Selbstvermessung gewonnene Wissen über sich selbst kann zu einem höheren Körper- und Gesundheitsbewusstsein führen. Einige Nutzer geben an, dank der Rückkoppelung zwischen der Vermessung des Kör- <?page no="156"?> 156 3 Körperliches Enhancement pers und den körperlichen Aktivitäten eine Aufmerksamkeitssteigerung für sonst verborgen gebliebene Aspekte des Körpers und eine Schärfung der Sinne bzw. der Körperwahrnehmung zu erfahren (vgl. Duttweiler u. a., 27/ Unternäherer, 202). Selbst ein flüchtiges Ablesen oder Abgleichen von Daten diene der Sensibilisierung für die eigenen Zustände und Fähigkeiten, vergleichbar einer Achtsamkeitsmeditation. Geschätzt wird das Self-Tracking des Weiteren, weil es die Selbstdisziplin beim Erreichen der Selbstoptimierungsziele erhöht (vgl. Ehlert u. a., 62 f.; 65-69). Begünstigt wird diese durch die ständigen Rückmeldungen in Form suggestiver Visualisierungen wie Ziellinien, Flaggen oder Smileys, die den Fokus auf die gewünschten Handlungsweisen lenken und die Motivation zu ihrer Ausführung verstärken (vgl. ebd., 96) Je intensiver die Selbstvermessung in soziale Netzwerke eingebunden ist, desto größer ist der Motivationsschub entweder allein schon durch das Mitwissen anderer oder zusätzlich aufgrund der gegenseitigen Unterstützung (vgl. Unternährer, 238 f./ Schaupp, 74). Über den dauerhaften Nutzen der digitalen Selbstvermessung gibt es jedoch noch keine systematischen empirischen Untersuchungen. Da alles Neue nach einigen Monaten seinen Reiz verliert, büßen mutmaßlich viele Apps rasch ihre Motivationskraft ein. 3.2.2 Kontra-Argumente Im Feuilleton und in der Popularphilosophie wird die digitale Selbstvermessung fast durchgängig skeptisch betrachtet oder pauschal verurteilt: Sich bei ihrem illusionären Streben nach totaler Selbstkontrolle dem Diktat der Maschinen unterwerfend, würden sich die Selbstvermesser auf berechenbare und messbare Teilaspekte und Zahlen reduzieren, ihren eigenen Körper versklaven und verlören ihre Menschlichkeit (vgl. Selke 2014a, 24 f.; 266 f./ Schulz, 45; 48 f./ Meißner, 327). Den Self-Trackern wird ein falsches Verhältnis zu sich selbst als austauschbarem Objekt sowie zum eigenen Körper als störungsfrei funktionierender Maschine vorgeworfen, wie es Horkheimer und Adorno schon in der Dialektik der Aufklärung (1944) kritisierten (vgl. 246 ff.): Im Zuge des neuzeitlichen Beherrschbarmachens, der Verdinglichung und Rationalisierung der Welt werde der eigene Leib zum bloßen Objekt degradiert, wodurch es zur Entfremdung komme. Solche Unterstellungen von der Außenperspektive stehen aber in großem Kontrast zu den erwähnten Erfahrungen überzeugter Self-Tracker. Empirisch lässt es sich schwer überprüfen, ob die Selbstvermessung mehr zu einer Distanzierung zu sich selbst und seinem Körper oder zu mehr Selbstbe- <?page no="157"?> 157 3.3 Digitale Selbstvermessung und Quantified Self wusstsein und sensibler Körperwahrnehmung führt (vgl. Duttweiler u. a., 25). Bei den meisten Praktiken zur Verbesserung von Gesundheit und Fitness sind wohl beide Dimensionen in unterschiedlichen Graden vorhanden: Self-Tracker wollen sowohl ihr äußeres Erscheinungsbild verbessern und einen funktionierenden Körper haben als auch sich in ihrem eigenen Leib wohlfühlen und die Qualität des Körpererlebens steigern (vgl. Strübling u. a., 277/ Shusterman, 246 ff.). Die Vorherrschaft des einen oder anderen Moments dürfte aber auch vom Erfolg oder Misserfolg des Selbstoptimierungsstrebens abhängen und nicht zuletzt individuell stark variieren. Laut Motivationsforschung profitieren extrinsisch Motivierte generell von kontinuierlichen Rückmeldungen, wohingegen bei intrinsisch Motivierten äußere Belohnungen die genuine Freude an der Tätigkeit und das Gefühl der Selbstbestimmung korrumpieren können (vgl. Brohm). Typischerweise berichten Aussteiger oder Autoren nach einmaligem Selbstversuch mit Self-Tracking-Geräten von negativen Entfremdungserfahrungen, Zwanghaftigkeit und Vertrauensverlust in die eigenen Wahrnehmungen und Intuitionen (vgl. exemplarisch Selke 2014a, 24 f.). Demgegenüber gehen insbesondere junge Menschen („digital natives“) oder solche mit großer Zahlen- und Technikaffinität spielerisch-experimentell bis kritisch-souverän mit den Geräten und Daten um, gleichen sie mit dem eigenen Körpergefühl ab und erleben mehr sinnliche Selbstwahrnehmung, ohne dass das distanzierte Selbstverhältnis zu einer Selbstversklavung führt (vgl. Meißner, 231/ Ehlert u. a., 42; 49/ Gugutzer, 173). Gemäß einer gängigen kulturpessimistischen Zeitdiagnose steht hinter dem vermeintlich freien Streben nach Selbstoptimierung das neoliberale Regime, das Produktivität, Ausbeutung und Kapitalvermehrung geschickt über permanente Selbstüberwachung und Selbstausbeutung der Bürger erzielt (vgl. Han, 9 ff./ Selke 2014b, 185). Diese sollen sich also keineswegs aus inneren Motiven wie Fitness und körperlichem Wohlbefinden, sondern aus Angst vor Kontrollverlust und dem Versagen in einer kapitalistischen Effizienz- und Leistungsgesellschaft vermessen. Die voreilige Deutung der Quantified-Self-Bewegung als Symptom einer kapitalistischen Gesellschaft und einer Ökonomisierung des Selbstverhältnisses verstellt aber den Blick auf dieses Phänomen, weil die Selbsttechnologien nicht an ökonomische Ziele gebunden sind (vgl. Meißner, 333). Gegen die programmatische These spricht konkret, dass die digitale Selbstvermessung im Freizeitbereich und nicht aus Angst vor Arbeitsplatzverlust durchgeführt wird und gerade zu einer gesteigerten Selbstaufmerksamkeit und einer Emanzipierung von gesellschaftlichen Anforderungen führen kann (vgl. <?page no="158"?> 158 3 Körperliches Enhancement Ehlert u. a., 105 f./ Unternäherer, 215 f./ Meißner, 229 f.). Anstelle eines Verbots des Self-Trackings wären daher wirksame politische Maßnahmen gegen die unerwünschte Auswirkungen der neoliberalen Marktwirtschaft angemessener (Kap. 1.1). Der auf die Individuen ausgeübte Druck zur Selbstvermessung ist viel eher vergleichbar mit dem Anpassungszwang, der mit jeder Einführung einer neuen, auf breites Interesse stoßenden Technik wie etwa Internet oder Handy verbunden war. Da Technik mit ihrem Mittel-Zweck-Charakter niemals „neutral“ ist, hängt die ethische Beurteilung dieses sozialen Drucks entscheidend vom Nutzen oder den Gefährdungen durch die jeweiligen Technologien ab. Da es bei Gesundheits-Apps statt um ökonomische vielmehr um medizinische Ziele geht, wären sowohl Forschungen zu den kurz- und langfristigen Effekten der Selbstvermessungstechnologien auf Gesundheit und Lebensqualität der Nutzer als auch Qualitätskontrollen und medizinische Zertifizierungen für die Tausenden auf den Markt kommenden Gesundheits-Apps erforderlich. Darüber hinaus braucht es aber auch eine umfassende Information über den richtigen Umgang mit den Apps und Geräten, damit das subjektive Körpergefühl und die Fähigkeit zur Erkenntnis der eigenen Leistungsgrenzen nicht verloren gehen. Zulässig ist auch lediglich ein „sanfter Druck“ etwa durch Gesundheitsaufklärung an Schulen, Gesundheits-Apps im Vorsorge-Bonus-System von Krankenkassen oder die Verteilung von Schrittzählern in Jobcentern. Eine Rund-um-Überwachung der Mitarbeiter durch Betriebe mit Androhung von Sanktionen stellte hingegen einen inakzeptablen Eingriff in ihre Privatsphäre und ihr Selbstbestimmungsrecht dar (vgl. Schapp, 80 f./ Duttweiler u. a., 19). Bei einer weiteren Gruppe von Gegenargumenten wird befürchtet, die falsche Ausrichtung des Lebens auf das Messbare könnte zu einer oberflächlichen Lebenseinstellung und zu allzu simplen Problemanalysen führen - nach dem Muster: „Fehlersuche: Zu wenig geschlafen? Zu fett gegessen? Genug bewegt? “ (Selke 2014a, 78). Die Quantifizierung des Körpers sollte nicht zur irrtümlichen Generalisierung verleiten, alle Bereiche des menschlichen Lebens, komplexe Sachverhalte oder Konflikte in kulturellen, intellektuellen oder sozialen Kontexten ließen sich berechnen und kalkulieren. Würde auch das Sozialleben durchgehend quantifiziert und hinsichtlich persönlicher Selbstoptimierungsziele effizienter und produktiver gestaltet, drohte tatsächlich die soziale Kälte zu- und die Solidarität abzunehmen (vgl. ebd., 209/ Meißner, 327). Real ist auch die Gefahr, dass Ängste, Risiken und Probleme individualisiert werden könnten (vgl. Selke 2014b, 186). Staatliche Regulierungsmaßnahmen müssten dafür sorgen, dass Anreize zur Gesundheitsförderung nicht zu einer Abstrafung oder <?page no="159"?> 159 3.4 Doping im Sport gar Ausgrenzung von Nichtoptimierten führen. Individualethisch unabdingbar ist die Einsicht in die Grenzen der Quantifizierungstechniken, die keineswegs automatisch zum eigenen Optimum führen und keinen reflektierten individuellen Lebensplan ersetzen. Diese Erkenntnis rechtfertigt aber umgekehrt keineswegs die pauschale Verwerfung digitaler Selbstvermessung, weil der bedachte Einsatz der gesundheits- und körperbezogenen Daten für die Verbesserung der eigenen Fitness oder eine zukünftige personalisierte Prävention und Therapie ethisch zu begrüßen ist. Genauso wie bei anderen Formen der Digitalisierung sind mit der digitalen Selbstvermessung außerdem erhebliche Risiken bezüglich Datenschutz und Privatsphäre verbunden. Insbesondere Versicherungen, Betriebe und Banken sowie Pharmaunternehmen haben ein großes Interesse an den gesundheitsbezogenen Daten. Nur die wenigsten Nutzer lesen die AGBs der App-Hersteller, die sich die Messdaten auf den eigenen Server übertragen und zumindest nach ihrer Anonymisierung beliebig mit diesen arbeiten können (vgl. Strübing u. a., 282). Sobald jemand seine persönlichen Daten mit anderen Self-Trackern in sozialen Netzwerken austauscht, können sie für zielgruppenspezifische Werbung verwendet werden. Auch wird in diesem Zusammenhang über die Big Data-Problematik diskutiert, da aufgrund der durch die Selbstvermessung nochmals potenzierten Datenmenge Zusammenhänge hergestellt und für Unternehmensziele genutzt werden könnten (vgl. ebd., 281/ Ehlert u. a., 8). Anstelle einer Verabschiedung aller digitaler Bildungsziele ist eine öffentliche und politische Diskussion zu führen, wie die Bürger die Kontrolle über die Nutzung ihrer Daten behalten können und unter welchen Bedingungen eine Auswertung durch Versicherungen, Arbeitgeber oder Banken zulässig ist. 3.4 Doping im Sport Sport wird hier eingeschränkt auf leibliche Aktivitäten, die zur körperlichen Ertüchtigung und Vervollkommnung oder aus Freude an der Bewegung und am Spiel ausgeführt werden. Als im Zuge des Selbstoptimierungstrends im 21. Jahrhundert die Verbesserung der Gesundheit und des Aussehens zu zentralen Themen avancierten, erfuhr auch der Sport einen enormen Bedeutungszuwachs und es kam zu einem Anstieg der Mitgliederzahlen in deutschen Fitnessstudios von 4 % im Jahr 2003 auf über 10 % im Jahr 2017 (vgl. Statista 2018). Nach einer Umfrage von TNS Infratest trieben 2016 46 % der Deutschen Sport, um sich und ihr Leben zu verbessern (vgl. Mühlhausen u. a. 2016, 17). Vermutlich ist der <?page no="160"?> 160 3 Körperliches Enhancement Sport aber auch der Bereich menschlicher Tätigkeiten, in dem der Einsatz von Medikamenten zur Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit in den letzten Jahrzehnten am stärksten angestiegen ist (vgl. Murray, 24). „Doping“ bezieht sich primär auf den Leistungs- oder Spitzensport, in dem sehr intensiv und mit hohem Zeitaufwand auf den Erfolg in Wettkämpfen hintrainiert wird. Der Begriff Doping von englisch „to dope“: „künstlich anreizen, aufpulvern“ meint von der Idee her eine Steigerung oder Verbesserung des Organismus mithilfe künstlicher Substanzen oder Methoden, durch die entweder der Trainingsweg abgekürzt oder ein ausschließlich aufgrund der individuellen Naturausstattung unerreichbares Leistungsziel realisierbar wird (vgl. Pawlenka, 169 f./ Hastedt, 11). Da die Unterscheidung zwischen „natürlichen“ und „künstlichen“ Mitteln stark kulturabhängig ist und mit zunehmender Technisierung und Verwissenschaftlichung des Sports unschärfer wurde, setzte sich allerdings im letzten Jahrzehnt eine pragmatische und formale enumerative Definition durch (vgl. Asmuth, 3): Nach geltender Definition des IOC zählen zum Doping sämtliche verbotenen Substanzen und Methoden, die auf der aktuellen Dopingliste aufgeführt sind. Auch im Breiten- und Freizeitsport werden aber längst nicht mehr nur Nahrungsergänzungsmittel zur Leistungssteigerung konsumiert, obschon oft nicht für einen Sieg, sondern um der Gesundheit, körperlichen Fitness, Körpermodellierung oder des Spaßes willen trainiert wird. Sofern nicht wie bei Mannschaftsspielen oder Marathonläufen ein kompetitiver Kontext vorliegt, wird dann statt von „Doping“ meist von Medikamentenmissbrauch gesprochen. In Fitnessstudios nahmen nach den wenigen vorliegenden Studien 10-20-% der Mitglieder schon Dopingsubstanzen ein, v. a. die von 20-62 % der Bodybuilder konsumierten Anabolika für den Muskelaufbau sowie Stimulanzien als psychoaktive, aufputschende Substanzen (vgl. Neiß u. a., 30/ Kläber, 145; 150). Eine formale Verbotsdefinition anhand von Negativ-Listen erschwert eine sachliche inhaltliche ethische Diskussion über Doping, weil sie bereits eine negative Wertung und damit eine Vorverurteilung enthält. 1) Kontra-Argument: Künstlichkeit der Substanzen und Methoden Das elementarste Argument gegen den Einsatz künstlicher Methoden der Leistungssteigerung besagt, Idee, Grundgedanke oder Ziel des Sports sei gerade das Erbringen von Leistungen allein auf der Grundlage natürlicher körperlicher Ausstattungen und mit ausdauerndem Training: Es gehe darum, natürliche Eigenschaften und Fähigkeiten zu vervollkommnen und in den verschiedenen <?page no="161"?> 161 3.4 Doping im Sport Disziplinen die Grenzen menschlicher Körperstärke, Geschwindigkeit, Ausdauer oder Geschicklichkeit auszutesten (vgl. Pawlenka, 52/ Whitehouse u. a., 19). So ist es z. B. der Sinn eines 400 m-Laufs, möglichst schnell auf natürliche Weise und aus eigener Kraft von A nach B zu gelangen statt mit technischen Hilfsmitteln wie beispielsweise Rollschuhen. Obgleich also „Natürlichkeit“ zur ethischen Norm und sogar zum konstitutiven Merkmal des Sports erklärt wird, bleibt sie ein stark konventionsabhängiges und nur „lokales Prinzip“ (Birnbacher 2006, 119): Das teilweise strengere Natürlichkeitsideal als in der normalen Alltagswelt steht in gewissem Widerspruch dazu, dass der Sport selbst nichts natürlich Gewordenes, sondern eine vom Menschen kunstvoll entworfene „künstliche Sonderwelt“ oder ein „Reservat“ darstellt (vgl. ebd., 118/ Pawlenka, 19). Grundlegende Spielregeln z. B. für die Art der Fortbewegung von A nach B sind zwar insofern konstitutive Regeln, als sie die jeweiligen verlaufs- oder praxisorientierten Sportarten wie das Laufen erst definieren. Wie viele und welche „künstliche“ Methoden z. B. in Sportarten wie Stabhochsprung, Skifahren oder Autorennen mit hochdifferenzierter Gerätetechnik jeweils erlaubt sind, hängt aber von willkürlichen konventionellen Regeln ab und zeitigt wie z. B. bei der Einführung von Fiberglasstäben im Stabhochsprung oder Lioprenanzügen im Schwimmsport einen plötzlichen und enormen Anstieg der „natürlichen“ Leistungsgrenzen. Zur Verteidigung der „Natürlichkeit“ solcher Leistungserbringungen ließe sich höchstens anführen, durch die externe technische Unterstützung oder bessere Ausrüstung würde der natürliche Bewegungsablauf nicht grundlegend verändert. Pharmakologische und gentechnische Steigerungsformen seien hingegen in einem anderenen Sinn „künstlich“, weil es sich um körperfremde Substanzen handelt oder die naturgegebenen Wachstumsgrenzen überschritten werden (vgl. Breitsameter, 38/ Pawlenka, 119). Verbesserungen beispielsweise durch Anabolika zur „unnatürlichen“ Beschleunigung des Muskelwachstums und eine vielleicht demnächst verfügbare Gentechnik zur Steigerung der Anzahl der Muskelfasern führten nicht zu etwas natürlich „Gewachsenem“, sondern etwas künstlich „Gemachtem“. Abgesehen von der spezifischen Natürlichkeitsnorm des Sports gibt es jedoch keine allgemein nachvollziehbaren Gründe für ein generelles Prinzip, synthetisch hergestellte Medikamente im Gegensatz zu technischen Geräten als ethisch bedenklich einzustufen (Kap. 4.4). <?page no="162"?> 162 3 Körperliches Enhancement 2) Kontra-Argument: Unfairness und Beeinträchtigung der Chancengleichheit Das gängige sozialethische Argument gegen Doping im Sport besagt, damit werde das Prinzip der Fairness oder Gerechtigkeit verletzt und die Chancengleichheit unterwandert: Wer den Marathon mit Rollschuhen bestreitet oder Anabolika als Trainingshilfe verwendet, verschafft sich unerlaubte Wettbewerbsvorteile und ist ein Betrüger. Unter Fairness im Sportwettkampf wird in erster Linie ein formaler Verfahrensegalitarismus verstanden, d. h. die Geltung gleicher Regeln für alle (Kap. 2.2). Während für formelle Fairness die bloße Befolgung von Spielregeln bereits ausreicht, verlangt informelle Fairness zusätzlich den Verzicht auf das Ausnützen bestehender Gesetzeslücken und Respekt vor dem Gegner (vgl. Pawlenka, 22). Eine formale Chancengleichheit läge allerdings auch bei einer völligen Freigabe jeglicher Formen von „Doping“ vor, weil dann die gleichen Regeln für alle herrschten und niemand „betrogen“ würde (vgl. Foddy u. a., 103/ Murray, 28). Gegen dieses liberale Argument ist allerdings einzuwenden, dass von dieser Handlungsfreiheit zum Doping faktisch nur gut situierte Sportler insbesondere in hochtechnisierten Staaten profitieren könnten und dadurch große Ungerechtigkeit entstünde (Kap. 2.3). Im Sinne von Rawls Konzept institutioneller Fairness wäre auf einer höheren Ebene zu fragen, ob die Regeln selbst mit oder ohne Dopingverbot fairer sind und ob wirklich alle Sportler einer völligen Freigabe z. B. auch schädlicher Substanzen zustimmen würden (Argument 3). Faire Wettbewerbsbedingungen werden im Sport jedoch viel stärker durch fehlende materielle Chancengleichheit bedroht, die zusätzlich eine Gleichheit der Startbedingungen auch hinsichtlich der natürlichen Ausstattung und der Trainings- und Förderbedingungen der Heranwachsenden voraussetzte. Bei vielen Sportlern dürften die unverdienten „natürlichen“ Wettbewerbsbedingungen wie Körperbau, Größe, Talent und psychische Belastbarkeit weit mehr zum Erfolg beitragen als die eigene Trainingsleistung. Dann kann ihnen aber der sportliche Erfolg nicht mehr ohne Weiteres als Eigenleistung zugerechnet werden, wodurch die hinter dem Dopingverbot stehende Unterscheidung zwischen dem Verdienst hart trainierender Sportler und der unfairen medikamentösen Abkürzung ihre Plausibilität verliert (vgl. Schöne 2006, 284). So verhalf dem siebenfachen Olympiasieger im Skilanglauf Eero Mäntyranta eine stark erhöhte Zahl roter Blutkörperchen zu seiner ungewöhnlichen Ausdauer, die aber statt durch ein verbotenes Blut-Doping durch eine seltene Gen-Mutation verursacht wurde (vgl. Gesang, 91 f.). Während im <?page no="163"?> 163 3.4 Doping im Sport Sinne des Schicksals-Egalitarismus solche unverdiente natürliche endogene Wettbewerbsvorteile genauso ungerecht sind wie künstliche exogene, schließt formale Chancengleichheit wie gesehen „künstliche“ Methoden der Leistungssteigerung keineswegs von vornherein aus. 3) Kontra-Argument: Schädigung der Gesundheit Gemäß dem wichtigsten individualethischen Argument ist Doping verwerflich, weil es kurz- oder langfristig der Gesundheit der Betroffenen schadet. Im Fall von Anabolika berichteten in einer Studie tatsächlich fast 100 % der Anwender von unerwünschten Nebenwirkungen, zu denen gravierende Schäden z. B. der Leber und des Herzkreislaufsystems, Abhängigkeitsentwicklung, manische oder depressive Veränderungen, Impotenz der Männer und Vermännlichung der Frauen zählen (vgl. Neiß, 30 f.). Andere auf der Doping-Liste aufgeführte Mittel wie etwa das Eigenblutdoping sind jedoch gesundheitlich unbedenklich, sodass das Argument ihr Verbot nicht rechtfertigen kann. Auch versucht man es gern damit zu entkräften, dass die meisten Formen des Leistungssports aufgrund der extremen und einseitigen körperlichen Belastungen äußerst gesundheitsschädlich sind (vgl. Foddy u. a., 515/ Birnbacher 2006, 120). Diese unbestreitbare Tatsache ist aber ihrerseits ethisch besorgniserregend und taugt schlecht dazu, weitere Gefährdungen der Sportler gutzuheißen. Aus radikalliberaler Sicht handelt es sich allerdings um freiwillige Selbstschädigungen, die zumindest nach umfassender Aufklärung über alle Risiken ethisch unproblematisch seien, wohingegen Einschränkungen der individuellen Freiheit ausschließlich im Fall einer direkten Schädigung anderer zulässig wären (vgl. dazu Lenk, 53 ff./ Schramme 2006, 165). Da alle Menschen vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Vorstellungen vom guten Leben ständig gesundheitliche oder andere Risiken auf sich nähmen, sei es auch zu respektieren, wenn Sportler für einen Olympiasieg gravierende Gesundheitsschäden riskierten (vgl. Murray, 28). Dieses radikalliberale Freiheitsverständnis greift aber insbesondere im Leistungssport zu kurz, in dem es hauptsächlich um relative, kompetitive Verbesserungen der sportlichen Leistungen im Vergleich zu den Konkurrenten geht: Werden gesundheitsschädliche Substanzen zugelassen und von siegeswilligen Sportlern vermehrt eingesetzt, geraten die anderen unter sozialen Druck und haben ohne erhöhte Risikobereitschaft verringerte Chancen auf Teilnahme und Sieg an Sportveranstaltungen. Außerdem handelt es sich beim Doping häufig um ein strukturelles Problem, weil Interessen der Verbände und Trainer mit <?page no="164"?> 164 3 Körperliches Enhancement im Spiel sind. Da Sportfunktionäre und Betreuer für gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen (mit)verantwortlich sind, lässt sich im Rahmen eines schwachen Liberalismus ein gewisser paternalistischer Schutz vor Selbstschädigung wie beim Arzneimittelgesetz legitimieren. In dieser Deutung sind auch indirekte Schädigungen der Gesellschaft verwerflich, die gesundheitliche Langzeitschäden solidarisch finanzieren müsste. Grundsätzlich sind Regeln zum Verbot gesundheitsschädigender Substanzen dann „fair“ und gut begründet, wenn sie alle Beteiligten vor unnötigen Risiken im Wettbewerb schützen und alle ihnen vernünftigerweise zustimmen müssten (vgl. Breitsameter, 44 f.). 4) Kontra-Argument: Falsches Vorbild und nachlassendes Interesse in der Bevölkerung In der Debatte eher randständig sind die Argumente, dopende Sportler seien falsche Vorbilder und seien schuld an einem nachlassenden Interesse der Bevölkerung am Sport (vgl. dazu Schöne 2006, 283/ Foddy u. a., 518). Laut „Kopenhagener Deklaration zum Anti-Doping im Sport“ von 2003 soll der Sport „eine wichtige Rolle beim Erhalt der Gesundheit und bei der Erziehung in moralischer und körperlicher Hinsicht spielen“. Statt in der Öffentlichkeit ein falsches Signal zu setzen, müssten Spitzensportler daher Medikamentenmißbrauch und überhöhte Preisgelder ablehnen. Nach Ansicht der Gegner des Dopingverbots ist allerdings nicht das Dopen der Sportler, sondern die Dauerdebatte über Doping in der öffentlichen Berichterstattung und die „Besessenheit“ bei der Fahndung nach Betrügern schuld am Verdruss des Publikums (vgl. Foddy u. a., 108). Sicherlich ist es übertrieben, wenn im Feuilleton gedopte Radfahrer mit „bizarren Cyborgs“ verglichen werden, mit denen sich kein Fan mehr identifizieren könne (vgl. dazu ebd., 107). Genaugenommen setzen die Argumente des nachlassenden Interesses und der Vorbildfunktion immer schon voraus, dass die Anwendung auf der Dopingliste befindlicher Methoden sich eindeutig als schlecht ausweisen lässt und dass ein Sport ohne diese Mittel mustergültig für andere gesellschaftliche Bereiche sein kann. Neben der bereits problematisierten Modellfunktion bezüglich Fairness ist in körperlicher Hinsicht fraglich, ob das passive Interesse an Sport „Bewegungsmuffel“ tatsächlich zu mehr Bewegung animiert. Dies trüge zumindest bei Ausdauersportarten wie Laufen, Radfahren oder Schwimmen zur körperlichen Selbstoptimierung bei, weil ein angemessenes Training vor einer Reihe chronischer Erkrankungen schützt und den Beginn des Alterns erheblich verzögert (vgl. Mühlhausen u. a. 2013, 147). <?page no="165"?> 165 3.4 Doping im Sport Andere Aspekte im Spitzensport wie die einseitigen extremen Spezialisierungen und entsprechende Überbelastungen in vielen Sportarten und die durchgängige Wettkampforientierung mit dem erbitterten Kampf um positionale Güter sind jedoch weder individualnoch sozialethisch nachahmungswürdig. Bezüglich der befürchteten negativen Folgen des Sportdopings in der Bevölkerung gibt es nachweislich Wechselwirkungen zwischen einem „off label“-Gebrauch leistungssteigernder Substanzen im Sport und im Alltag, wobei der Haupteinfluss vom Sport ausgeht (vgl. Kläber, 144; 154 f.): Sportler mit Erfahrungen im Umgang mit Anabolika und Amphetaminen setzen diese Medikamente häufig auch in anderen Prüfungs- oder Stresssituationen ein, geben es an Freunde weiter oder bauen geheime Netzwerke an Universitäten, Betrieben oder Fitnessstudien auf. Da der kulturelle Sonderbereich des Sports also durchaus Modellcharakter für andere Lebensbereiche hat, lohnt sich die gesellschaftliche Debatte über ethisch akzeptable Ziele und Mittel im Leistungssport. Kommentierte Kurzbibliographie zu Kapitel 3 Wer sich beim Körper-Enhancement für das Thema Schönheitsoperationen interessiert, findet eine Fülle verschiedener interdisziplinärer Ansätze in Lüttenberg (2002) oder Villa (2008). Zum Thema Lebensverlängerung hat Knell (2015) eine philosophisch anspruchsvolle und umfassende Monographie vorgelegt, zum Self-Tracking Duttweiler u. a. (2016) eine interdisziplinäre Textsammlung und zum Sportdoping Pawlenka (2019) eine grundlagenorientierte bioethische Studie. <?page no="167"?> 167 3.4 Doping im Sport 4 Neuro-Enhancement Unter Neuro-Enhancement versteht man den Einsatz sämtlicher medizinischer Maßnahmen, die zum Zweck der Verbesserung der sensorischen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten oder der psychischen Befindlichkeit gesunder Personen auf deren zentrales Nervensystem oder neuronales Netz einwirken (vgl. Hildt, 7/ Schütz u. a., 11). Häufig beschränken sich bioethische Debatten auf das „affektive“ oder emotionale Enhancement (engl. „mood enhancement“) als Anhebung der Stimmung auf der Ebene des Erlebens und Verhaltens und auf das kognitive Enhancement (engl. „cognitive enhancement“) als Steigerung der geistigen („kognitiven“) Leistungsfähigkeit auf der Ebene des Denkens und Erinnerns. Daher werden in vielen Definitionen von Neuroenhancement überhaupt nur diese beiden Zielsetzungen aufgeführt (vgl. Schöne u. a. 2009b, 9/ Merchlewicz u. a., 9). Erst seit einigen Jahren und lediglich am Rande zieht auch ein moralisches Enhancement zunehmend Beachtung auf sich, das Menschen moralisch besser machen soll und daher im Unterschied zu anderen Enhancement-Maßnahmen möglicherweise sogar eine allgemeine moralische Pflicht zur Selbstoptimierung begründen könnte. Noch weniger öffentliche Aufmerksamkeit genießen das sensorische Enhancement zur Verbesserung der Sinneswahrnehmung und das motorische Enhancement zur Steigerung der Beweglichkeit vorhandener Gliedmaßen oder der Ausstattung mit zusätzlichen Körperteilen. Nicht nur ist der alltägliche Nutzen solcher „Verbesserungen“ weniger offensichtlich und das Interesse daran gering, sondern sie scheinen auch weniger tief in die Persönlichkeit eines Menschen einzudringen und daher nicht in gleicher Weise ethische Streitfragen aufzuwerfen. In begrifflicher Hinsicht zu vermeiden sind hingegen viele in den Medien kursierenden Schlagworte wie „Hirndoping“ oder „Mind-Doping“, weil sie von vornherein zu negativ besetzt sind und tendenziös die Illegalität der Maßnahmen und die mit ihrer Hilfe erlangten unfairen Wettbewerbsvorteile herausstreichen. Eine ethische Analyse der verschiedenen Optimierungsmaßnahmen muss aber möglichst vorurteilsfrei und sachlichen vorgenommen werden. Dabei könnte sich herausstellen, dass gewisse Formen des bislang illegalen Neuro-Enhancements individual- und sozialethisch unbedenklich sind und als Dienstleistungsangebote einer wunscherfüllenden Medizin oder sogar als berechtigte Leistungen im Katalog der solidarisch finanzierten Krankenkassen in Frage kommen. Hinsichtlich der vielfältigen Mittel zur Durchführung dieser verschiedenen <?page no="168"?> 168 4 Neuro-Enhancement Zielsetzungen des Neuro-Enhancements lassen sich pharmakologische von neurophysiologischen Methoden abgrenzen, die vorab kurz erläutert seien. Pharmakologische Methoden Beim pharmakologischen Enhancement oder der „kosmetischen Pharmakologie“ werden Pharmaka, d. h. zumeist für die Therapie von Krankheiten entwickelte Medikamente mit bestimmten medizinischen Wirkstoffen eingenommen, die in die chemische Informationsübertragung des zentralen Nervensystems eingreifen (vgl. Talbot u. a., 253 f./ Groß, 87). Beliebte Arzneimittel zur Selbstoptimierung sind etwa Ritalin oder Fluctin, die in Tablettenform mühelos konsumiert werden können (Kap. 4.1; 4.2). Dabei werden vermutlich die wenigsten Pharmaka von Ärzten oder Psychiatern „off label“, also außerhalb ihres medizinischen Indikationsbereichs und damit missbräuchlich verordnet, sondern die meisten dürften entweder über Freunde oder Bekannte oder illegal über den Schwarzmarkt im Internet bezogen werden (vgl. Merchlewicz u. a., 11). Es überrascht daher wenig, dass es keine genauen belastbaren Zahlen über das Ausmaß des pharmakologischen Enhancements unter gesunden Personengruppen gibt. Nach einer 2008 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichten Befragung haben 20 % der in der Wissenschaft tätigen Personen schon ohne medizinische Gründe zu Medikamenten gegriffen (vgl. Maher, 674 f.). In einer Schweizer Stressstudie unter Erwerbstätigen gaben 4 % der Befragten an, in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal Medikamente oder sonstige Substanzen zur kognitiven Leistungssteigerung oder Stimmungsaufhellung genommen zu haben (vgl. Moesgen u. a., 44). Einen noch niedrigeren Prozentsatz von 1,5-% wies die KOLIBRI-„Studie zum Konsum leistungsbeeinflussender Mittel in Alltag und Freizeit“ (2012) des Robert-Koch-Instituts nach. Zur Vermeidung von Verfälschungen durch Interviewantworten im Sinne der „sozialen Erwünschtheit“ wurde jedoch eine neue Fragetechnik (RRT) entwickelt, die auch in Deutschland 2013 in mehreren Studien zu einem deutlich höheren Anteil von 20 % führte (vgl. ebd., 52 ff.). Bei der Neuauflage der älteren Studie „Doping am Arbeitsplatz“ (2009) der Deutschen Angestellten Krankenkasse lagen die Anteile der Neuroenhancement konsumierenden Personen im Jahr 2015 bei rund 7 % mit normaler Fragetechnik, bei 12 % unter Berücksichtigung der Dunkelziffer (DAK, 123). Am weitaus meisten Befragungen gibt es international zu Studierenden, wobei die Zahlen allerdings zwischen 1 % und 35 % erheblich schwanken und die höchste Nutzung an amerikanischen Colleges festgestellt wurde (vgl. <?page no="169"?> 169 4 Neuro-Enhancement Moesgen u. a., 32-57/ Wagner, 49-52). Empirische Erhebungen liefern also sehr heterogene Ergebnisse, die sich teilweise auf unterschiedliche Eingrenzungen des Untersuchungsgegenstands wie etwa den Miteinbezug von Koffeintabletten oder eines einmaligen Stimulanzienkonsums „zum Spaß“ zurückführen lassen. Neurophysiologische Methoden Das „neurobionische“ oder neurophysiologische Enhancement (engl. „brain engineering“) hingegen umfasst invasive und nichtinvasive technische Verfahren, die über elektrische Strömungen oder Impulse die Prozessverarbeitung im Gehirn beeinflussen (vgl. Groß, 88/ Fink, 11). Eine nicht-invasive Technik wäre beispielsweise die „Transkranielle Magnetstimulation“ (TMS), bei der mithilfe starker Magnetfelder von außen bestimmte Bereiche des Gehirns stimuliert und dadurch kognitive Prozesse korrigiert werden. Anders werden bei invasiven Technologien elektronische Hilfsmittel direkt ins Zentralnervensystem im Gehirn implantiert, um kognitive oder sensorische Fähigkeiten zu erweitern oder persönliche Eigenschaften gezielt zu verändern. Große Hoffnungen hinsichtlich der menschlichen Selbstoptimierung werden zurzeit auf invasive Neurotechniken gesetzt, die über Elektroden eine Verbindung zwischen menschlichem Gehirn und programmierbarem Computer, ein sogenanntes Brain-Computer-Interface (BCI) oder Brain-Machine-Interface (BMI) ermöglichen (vgl. Pfurtscheller, 159 ff./ Clausen, 153 f.). Auf der Grundlage der jüngsten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse kommen schon heute in verschiedensten Anwendungsbereichen Neuroprothesen zum Einsatz, die ausgefallene Nervenfunktionen ersetzen sollen: Seitens der motorischen Neuroprothesen wurde die „Tiefenhirnstimulation“ (THS) unter dem Namen „Hirnschrittmacher“ bekannt. Dabei wird das Gehirn über die in tiefen Hirnregionen implantierten Elektroden mit elektrischen Impulsen eines Generators gereizt, sodass unerwünschte krankheitsbedingte Verhaltensweisen etwa von Parkinsonpatienten ausbleiben. Auch kann über Elektroden die gelähmte Muskulatur in Armen und Beinen stimuliert werden, wenngleich technisch erst rudimentäre Bewegungen realisierbar sind. Unter den sensorischen Neuroprothesen wurde der bislang größte Erfolg mit Cochlea-Implantaten (CI) in den Ohren von Gehörlosen erzielt: Hier wandeln Elektroden die über ein Mikrophon empfangenen akustischen Signale in Stromimpulse um und geben diese an den Hörnerv in der Hörschnecke („Cochlea“) weiter. Viel weniger weit entwickelt sind demgegenüber Retina-Implantate, bei denen die künstliche <?page no="170"?> 170 4 Neuro-Enhancement Netzhaut Lichtwellen in elektrische Impulse umwandelt, verstärkt und an den Sehnerv weiterleitet. Nach eingehendem Training können Blinde dank solcher Neuroprothesen wenigstens grobe Umrisse erkennen (vgl. dazu Vaas, 63). Im Sinne emotionaler Neuroprothesen werden bei der Vagus-Nerv-Stimulation (VNS) elektrische Signale an den Vagus-Nerv im linken Halsbereich und von diesem weiter zum Hirn geleitet, wodurch beispielsweise bei Depressiven eine Aufhellung der Stimmung erzielt wird. Im Gegensatz zum bereits weit verbreiteten und leicht handhabbaren pharmakologischen Enhancement erfordern die bereits verfügbaren Maßnahmen des neurophysiologischen Enhancements hochkomplexe medizintechnische Eingriffe, sodass sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur in einem medizinisch-therapeutischen Kontext bei schweren Krankheiten eingesetzt werden. Da im Rahmen der Selbstoptimierung keine ausgefallenen oder von Geburt an fehlenden Organfunktionen ersetzt, sondern arttypische menschliche Fähigkeiten gerade überboten werden sollen, wäre dann statt von „Neuroprothesen“ eher von Neurotranszendern zu sprechen (vgl. Engels 2008, 132). Im motorischen Bereich werden beispielsweise zusätzliche Gliedmaßen wie etwa ein dritter Arm in Erwägung gezogen, die durch neuronale Signale aus dem Gehirn steuerbar wären (vgl. Grunwald, 190). Im sensorischen Bereich sind naheliegende Ziele die Ausweitung der hörbaren Frequenzen oder eine bessere optische Sinneswahrnehmung mit der Möglichkeit zum Erfassen von ultraviolettem oder infrarotem Licht oder der Nachtsicht (vgl. Groß, 89). Moderne Lasertechnik kann fast schon eine Verdoppelung der Sehschärfe zustande bringen, deren große Vorteile etwa im Sport bei vielen Disziplinen offenkundig sind (vgl. Asmuth, 1). Bekannt wurde der Fall des Golfspielers Tiger Woods, der sich einer solchen Augenoperation ohne Sehschwäche allein zum Zwecke der Steigerung seiner sportlichen Leistungsfähigkeit unterzog. Bezüglich kognitiver Verbesserungen stehen demgegenüber etwa Gedächtnis-Chips im Hirn zur Diskussion, die einen unmittelbaren Zugriff auf enzyklopädische Datenbanken wie Google oder verschiedene Sprachprogramme ermöglichen (vgl. Groß, 90). Mit solchen implantierbaren Speichereinheiten sollte es dann auch möglich sein, durch einen Anschluss an den Sehnerv alle visuellen Eindrücke aufzuzeichnen und am Ende das gesamte Gedächtnis eines Menschen abzuspeichern (vgl. Grundwald, 190/ Clausen, 164). Eine andere Zukunftsvision betrifft das Cyberthink, d. h. die unsichtbare und direkte Kommunikation mit anderen Menschen dank Hirnimplantaten (vgl. ebd., 91). Wenn Selbstoptimierung zunehmend über Brain-Computer-Interfaces erfolgen sollte und bislang externe elektronische <?page no="171"?> 171 4 Neuro-Enhancement Geräte wie z. B. Handys direkt ans Gehirn angeschlossen werden, käme es zu einer fortschreitenden Technisierung des Gehirns. Je mehr technische Geräte in den menschlichen Organismus integriert werden, desto mehr wird aus dem biologischen Gehirn künstliche Intelligenz und aus dem Menschen ein Cyborg (vgl. Heilinger, 26 f./ Zoglauer, 463 f.). Allerdings sind die meisten dieser Neurotechnologien noch rein spekulativ und klingen daher nach Science-fiction, oder aber sie befinden sich erst im experimentellen Stadium und ihre Anwendung steht noch in weiter Ferne. Die in den letzten zehn Jahren enorm gestiegene Bedeutung des Neuro- Enhancements in der öffentlichen Wahrnehmung verdankt sich neben den exponentiellen Fortschritten in der Informatik und insbesondere der Künstliche-Intelligenz-Forschung dem rasanten Aufstieg der Neurowissenschaften im 21. Jahrhundert. Zu den Neurowissenschaften zählen alle empirisch arbeitenden naturwissenschaftlich-medizinischen Disziplinen, die Struktur und Funktion von Nervensystemen verschiedener Organismen und insbesondere des Menschen untersuchen (vgl. Hildt, 10). Nachdem sich die Neurowissenschaften bis Mitte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen widmeten, rückte seither die Grundlagenforschung zur Aufklärung über die biologischen Bedingungen des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns ins Zentrum (vgl. Schoilew, 2). Bereits 1990 rief der US-President George Bush die „Decade of the brain“ aus und es wurden langfristige neurowissenschaftliche Großprojekte wie beispielsweise das europäische „Human Brain Project“ initiiert und politisch unterstützt. Angesichts der mit diesen neurowissenschaftlichen Erkenntnisfortschritten verbundenen neuen Herausforderungen begann sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts die „Neuroethik“ zu etablieren: Neuroethik ist ein Teilbereich der Bioethik oder eine eigene interdisziplinäre Bereichsethik der Angewandten Ethik im Schnittbereich von Neurowissenschaften, Medizin und Philosophie, die sich mit den neusten neurowissenschaftlichen Fortschritten, den durch sie ermöglichten oder erstrebten Neurotechnologien und den dadurch eröffneten Handlungsmöglichkeiten beschäftigt (vgl. Hildt, 11/ Herrmann, 102). Während die angewandte Neuroethik die ethische Legitimität der Anwendung konkreter Neurotechnologien untersucht, beschäftigt sich die allgemeine Neuroethik mit der Rolle neurowissenschaftlicher Ergebnisse für ethisch relevante Konzepte wie „Person“, „Willensfreiheit“ oder „Verantwortung“. Höchst problematisch ist es aber, wenn die Neurowissenschaft als neue Leitwissenschaft ihre Erkenntnisse auf spekulative Weise generalisiert und sozial- oder geisteswissenschaftliche <?page no="172"?> 172 4 Neuro-Enhancement Einsichten in komplexe menschliche Phänomene wie persönliche Identität, Freiheit oder Moral als illusionär entlarven zu können meint. So ist beispielsweise die in der Debatte um Neuroenhancement eine Rolle spielende Sichtweise des „Neuro-Essentialismus“ oder Neurodeterminismus deutlich überzogen, derzufolge die Menschen, ihr „Selbst“ und all ihr Denken und Fühlen durch Hirnfunktionen determiniert sind (vgl. Hildt, 29/ Wagner, 104 f.). Meist werden ethische Reflexionen über Neurotechnologien im Vergleich zu anderen Optimierungsmaßnahmen als besonders dringlich und wichtig erachtet, weil implizit oder explizit von einer „ethischen Sonderstellung des Gehirns“ ausgegangen wird (vgl. Boldt u. a., 384). Aufgrund dieser Sonderstellung sei das Neuro-Enhancement nicht zu vergleichen mit Eingriffen in die Körperoberfläche und erfordere eine viel rigorosere Prüfung als das körperliche Enhancement. Oft steht dahinter die Überlegung, dass Veränderungen im emotionalen und kognitiven Bereich in hochkomplexe individuelle mentale Systeme eingebettet und daher viel schwieriger zu prognostizieren sind als körperliche Optimierungsmaßnahmen. Allerdings ist daran zu erinnern, dass es auch bei längst routinemäßig durchgeführten Schönheitsoperationen wie beispielsweise Brustoperationen im Einzelfall häufig zu enttäuschenden Ergebnissen kommt (Kap. 3.1). Im Kontrast zu den meisten Schönheitsoperationen bilden Neurotechnologien in aller Regel Switch-off-Technologien, die sich bei unerwünschten Wirkungen z. B. von Pharmaka wieder absetzen oder im Falle von Impulsgeneratoren wieder ausschalten lassen. Eine andere weit verbreitete laienhaft-anschauliche Intuition besagt, invasive Neurotechnologien würden viel tiefer greifen als oberflächliche körperliche Verbesserungen und nichts Geringeres als die Identität, Persönlichkeit und Autonomie der Menschen bedrohen (vgl. dazu Talbot, 178). Wenn die Verbesserungsmaßnahmen nicht bloß den menschlichen Körper, sondern Psyche und Geist des Menschen betreffen, müssten die ethischen Grenzen der „direkten technischen Gestaltung der Identität der eigenen Person“ geklärt werden (vgl. Boldt u. a., 384). Wo Eingriffe gleichsam „mitten ins Gehirn“ gehen, scheint „die menschliche Substanz auf dem Spiel“ zu stehen und „das Menschliche am Menschen berührt“ zu sein (Fink, 10/ vgl. auch Baltes, 342). Das Kriterium der Eingriffstiefe ist aber allein noch nicht ausreichend für eine Ablehnung einer Technologie, weil viele tiefe operative Eingriffe etwa zur Entlastung des Hirndrucks im Gegensatz zum Auftragen einer aggressiven Substanz auf die Haut keine tiefgreifende Wirkungen entfalten und in keiner Weise die Freiheit oder Persönlichkeit tangieren (vgl. Talbot, 178). Auch wenn das menschliche Gehirn als zentrale Steuerungseinheit <?page no="173"?> 173 4.1 Emotionales Enhancement des Menschen zweifellos ein besonders wichtiges und hochkomplexes Organ darstellt, rechtfertigt dies kein generelles Verbot des Neuroenhancements. Im Folgenden sollen daher vielmehr die am meisten diskutierten Formen des Neuroenhancements im Einzelenen erörtert werden, wobei am Ende die auf alle zutreffenden Kritikpunkte systematisiert werden: ▶ Emotionales Enhancement (Kap. 4.1) ▶ Kognitives Enhancement (Kap. 4.2) ▶ Moralisches Enhancement (Kap. 4.3) ▶ Kritik am Neuro-Enhancement insgesamt (Kap. 4.4) 4.1 Emotionales Enhancement Das große Interesse am emotionalen Enhancement verdankt sich der gesellschaftlich und wissenschaftlich unumstrittenen Tatsache, dass alle Menschen glücklich sein wollen (vgl. Bayertz u. a., 3; 13). Seit in der Mitte des 20. Jahrhunderts Psychopharmaka gegen Stress, Angst und Stimmungstiefs entwickelt wurden, setzten viele Menschen die Hoffnung zunächst auf den Tranquilizer „Miltown“, später auf „Valium“ als „mother’s little helper“ (vgl. Schermer, 1180). Die bioethische Debatte über das „psychische“, „affektive“ oder emotionale Enhancement (engl. mood enhancement) wurde jedoch erst in den 1990er Jahren entfacht, als eine neue Klasse von pharmakologischen Antidepressiva mit wesentlich geringeren Nebenwirkungen auf den Markt kam. Zum Prototypen dieser selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) avancierte die angebliche „Wunderdroge“, „Lifestyledroge“ oder „Glückspille“ Prozac, die in den Werbekampagnen der Pharmaindustrie für ihre nahezu risikolose Hebung der Stimmung auch bei Gesunden in alltäglichen Stimmungstiefs und beruflichen oder familiären Stresssituationen angepriesen wurde. Sie erlangte jahrzehntelang v. a. in den USA enorme öffentliche Aufmerksamkeit, dokumentiert etwa durch Erik Skjoldbjærgs Film Prozac Nation oder Peter Kramers Bestseller Listening to Prozac (1993). Obwohl „Prozac“ bzw. das deutsche Pendant „Fluctin“ nach wie vor der bekannteste SSRI darstellt, werden heute andere SSRI-Präparate wie „Cipram“ oder „Cipralex“ häufiger verschrieben und es gibt daneben auch noch die erweiterten Serotonin-Noradrenalin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SNRI) (vgl. Leefmann, 31). Neurophysiologische Techniken wie die oben erwähnte Tiefenhirnstimulation (THS), Transkranielle Magnetstimulation (TMS) oder Vagus-Nerv-Stimulation (VNS) als affektive <?page no="174"?> 174 4 Neuro-Enhancement Neuroprothesen stehen zwar für die Selbstoptimierung noch nicht zur Verfügung, besitzen aber dasselbe Potential. Auch wenn sich in der Zwischenzeit Ernüchterung bezüglich der anfänglichen hohen gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber dem pharmakologischen emotionalen Enhancement eingestellt hat, müssen die mit ihm verbundenen ethischen Probleme mit Blick auf zukünftige Entwicklungen diskutiert werden. Sie unterscheiden sich je nachdem, ob mittels Psychopharmaka auf direktem Weg eine Steigerung des Glücks anvisiert wird oder auf indirektem Weg über glücksrelevante Persönlichkeitseigenschaften wie Schüchternheit oder Ängstlichkeit: Zu klären gilt zum einen, ob sich „Glück“ oder eine gute „Stimmung“ überhaupt auf direktem Weg biochemisch induzieren lassen und ob ein solches direktes emotionales Enhancement nicht die emotionale Authentizität eines Menschen untergräbt. Wenn zum anderen beim indirekten emotionalen Enhancement Persönlichkeitseigenschaften beeinflusst werden, könnte die Authentizität oder gar die Identität einer Persönlichkeit gefährdet sein. Entsprechend dieser Fragekomplexe gliedert sich das Kapitel in die folgenden Unterkapitel: ▶ Zur chemischen Induzierbarkeit von „Glück“ oder „Stimmung“ (Kap. 4.1.1) ▶ Gefährdung der „emotionalen Authentizität“ (Kap. 4.1.2) ▶ Gefährdung der „Authentizität der Persönlichkeit“ (Kap. 4.1.3) 4.1.1 Zur chemischen Induzierbarkeit von „Glück“ oder „Stimmung“ Während im Feuilleton und in gesellschaftlichen Debatten von „Glückspillen“, „Glückshormonen“ und einer Maximierung des „Glücks“ die Rede ist, spricht man in bioethischen Fachdiskursen eher von „Stimmungsaufhellung“ oder Steigerung des „Wohlbefindens“ oder „Wohlergehens“ (vgl. exemplarisch Heilinger, 31/ Harnacke u. a., 158 f./ Nagel, 71 f.). Die Konzepte „Glück“, „Wohlbefinden“, „Wohlergehen“ („well-being“) oder „Stimmung“ („mood“) werden aber kaum expliziert und oft austauschbar verwendet, ohne dass die relevanten Unterschiede herausgearbeitet werden. So besteht beim „mood-enhancement“ die terminlogische Unschärfe darin, dass „mood“ nicht immer für „Stimmung“, sondern auch für „emotionaler Zustand“, „Glücklich-Sein“ oder „Sich-gut- Fühlen“ steht (vgl. Schermer, 1179). Macht man sich die Begrifflichkeiten der Emotionspsychologie zunutze, werden „Stimmungen“ zusammen mit den „Gefühlsregungen“ der Klasse der „Gefühle“ zugerechnet: Gefühl wird definiert als psychophysisches Grundphänomen des subjektiven Erlebens einer Erregung <?page no="175"?> 175 4.1 Emotionales Enhancement oder Beruhigung, das jeweils mehr oder weniger von Lust und Unlust begleitet wird (vgl. Hillig, 106). Unter Stimmung versteht man die diffuse, atmosphärische Hintergrundtönung des gesamten menschlichen Erlebens, die auch die Informationsverarbeitung und die Handlungssteuerung beeinflusst (vgl. Ulich u. a., 29). Diese positiven oder negativen Dauertönungen wie etwa Niedergeschlagenheit oder Heiterkeit bilden daher auch den Bezugsrahmen für die Gefühlsregungen: Im Unterschied zu „Stimmungen“ sind Gefühlsregungen zeitlich auf wenige Stunden begrenzt und intentional auf wahrgenommene oder vorgestellte Gegenstände, Personen oder Ereignisse gerichtet. Während rein deskriptive Weltbezüge in Form nüchterner Sachurteile über Wirklichkeitsausschnitte uns „kalt“ lassen, lösen normative Urteile über die Bedeutung bestimmter Sachverhalte für die eigenen Bedürfnisse oder Wünsche „warme“ Gefühle aus (vgl. Fenner 2003, 217): Wenn jemand beispielsweise etwas als schlecht oder gefährlich für sich selbst einstuft, stellen sich negative Gefühle wie etwa Ärger oder Wut ein, bei einer positiven Einschätzung der Situation hingegen Freude oder Begeisterung. Das individuelle Glück scheint grundsätzlich kein kognitives, sondern zunächst einmal ein emotionales Phänomen, also ein Gefühl zu sein (vgl. ebd., 621/ Esch 171). Genauer entspräche das auf zeitlich eingegrenzte „Episoden“ des Lebens bezogene episodische Glück einer Gefühlsregung und das übergreifende oder Lebensdauerglück einer Stimmung, die auf der positiven Bewertung des eigenen Lebens als Ganzes basiert (Kap. 2.1). Wie man die Möglichkeit und Wünschbarkeit eines pharmakologisch induzierten „künstlichen Glücks“ einschätzt, hängt nun stark von den verschiedenen Begrifflichkeiten und Konzepten ab. Physiologische im Unterschied zu kognitiven Gefühlstheorien Befürworter des emotionalen Enhancements bedienen sich oftmals biologischer Terminologien und Interpretationsmuster von Gefühlen bzw. Stimmungen, wodurch sie implizit eine physiologische Gefühlstheorie vertreten: Während für physiologische Gefühlstheorien Gefühle nichts anderes sind als das unmittelbare subjektive Erleben von Körperveränderungen durch innere oder äußere Reize, heben kognitive Gefühlstheorien die Bedeutung des intentionalen, interpretierenden und bewertenden kognitiven Bezugs der Gefühle zur Umwelt hervor (vgl. Fenner 2003, 197; 205). Je nach Wahl eines physiologischen oder kognitiven Zugangs zu Gefühlen gewinnt man ein ganz anderes Verständnis von „Stimmung“ und „Glück“, sodass die Differenzen zwischen <?page no="176"?> 176 4 Neuro-Enhancement Befürwortern und Gegnern des emotionalen Enhancements sich letztlich auf einen Grundlagenstreit zwischen physiologischen und kognitiven Gefühlstheorien zurückführen lassen. Denn nur Vertreter einer kognitiven, nicht aber einer physiologischen Gefühlstheorie bestimmen ein übergreifendes Glück im oben erwähnten Sinn als eine Stimmung, die auf der normativen Bewertung des eigenen Lebens als eines „guten“ basiert. Im Gegensatz dazu ist es für eine physiologische Interpretation von Gefühlen typisch, Gefühle nach dem einfachen Ursache-Wirkungs-Modell zu deuten. Am besten veranschaulichen lässt sich dieses anhand von gröberen, in der Nähe reiner Sinnesempfindungen stehenden Gefühlen wie physischem Schmerz oder sinnlicher Lust, bei denen die kausalen Ursachen den Wirkungen äußerlich sind und sich prinzipiell austauschen lassen (vgl. Forschner, 157): Für die Stärke und Erlebnisqualität sinnlichen Genusses ist es gleichgültig, durch welche angenehmen Reizungen des Körpers oder welche Mittel der Befriedigung physiologischer Bedürfnisse er verursacht wurde. In vielen neuzeitlichen Glücksvorstellungen wird menschliches Glück auf ein quantitatives Maximum an Momenten der Lust oder Freude reduziert wie etwa im hedonistischen Utilitarismus Jeremy Benthams oder bei Sigmund Freud, der die Sexuallust zum Inbegriff menschlichen Glücks erhob (vgl. Bentham, 79 f./ Freud, 42). Wie in Kapitel 2.1 dargelegt, handelt es sich bei einem solchen empirisch-psychologisch verstandenen hedonistischen Glücksverständnis um ein subjektives Empfindungsglück oder Wohlbefinden-Glück im Kontrast zu einem in der antiken Philosophie dominierenden objektiven Erfüllungsglück oder Wohlergehen (englisch „well-being“ oder „welfare“). Subjektivistisch ist der neuzeitliche empirisch-physiologische Glücksbegriff insofern, als nur die Betroffenen selbst Auskunft geben können über ihren innerlichen psychologischen Gefühlszustand und es keine objektiven Maßstäbe oder Qualitätskriterien für ein „wahres“ oder „wirkliches Glück“ gibt. Biologische Psychiatrie: Glückshormone und Stimmungsaufheller Die biologische Psychiatrie ist eine seit den 1970er Jahren existierende Richtung innerhalb der Psychiatrie, die psychische Phänomene auf biologische, allen voran biochemische, neurologische und genetische Ursachen zurückführt und psychische Störungen vorzugsweise mit Psychopharmaka und neurophysiologischen Stimulationsverfahren behandelt. Wer auf diese Weise Einfluss auf die Stimmung oder das Wohlbefinden zu nehmen hofft, geht offenkundig von einer biologischen bzw. neurophysiologischen Interpretation von „Stimmun- <?page no="177"?> 177 4.1 Emotionales Enhancement gen“ aus und deutet „Gefühle“ nach dem kausalen Ursache-Wirkungs-Modell. Ein Vertreter der biologischen Psychiatrie ist der Psychiater Peter Kramer, der mit seinem Erfahrungsbericht Listening to Prozac (1993) - auf Deutsch Glück auf Rezept (1995) - wesentlich zum Boom der „Glückspille“ Prozac beitrug. Er prägte den Begriff der kosmetischen Pharmakologie für die Verbesserung des Wohlbefindens durch Psychopharmaka bei Menschen, die gesund sind oder nur unter leichten Befindlichkeitsstörungen leiden und also nicht im klinischen Sinne depressiv sind (1995, 268 f.). Einige seiner Patienten kamen nach dem Konsum von Prozac „wie ausgewechselt“ in seine Praxis und fühlten sich nach eigenen Worten „besser als gut“ (10). Sie waren völlig unbeschwert, viel entspannter, selbstsicherer, vitaler und lebenslustiger als vorher, und ihr Sozialleben hatte sich grundlegend verändert (vgl. 27 f.; 167 f.). Diese außergewöhnlich positiven Effekte traten allerdings nur bei einer kleinen Minderheit seiner Patienten auf, sodass es sich nicht um valide wissenschaftliche Ergebnisse handelt (vgl. 31). Stimmungsaufheller werden medizinisch solche Psychopharmaka genannt, die durch Korrektur des biochemischen Stoffwechsels im Gehirn phasenweise schlechte Stimmungen aufhellen können, ohne Euphorie oder Sucht auszulösen (vgl. 273). „Stimmungen“ werden innerhalb des biochemischen Deutungsrahmens gerne als „Temperamente“ im Sinne dauerhafter Gefühlsdispositionen gedeutet, wobei Glück als optimistisches, energisches, selbstbewusstes und geselliges Temperament umschrieben wird (vgl. 222/ Kass u. a., 235 f.; 245 f.). Ihre Wirkung entfalten Stimmungsaufheller, indem sie die Konzentration bestimmter wohlbefindensrelevanter Neurotransmitter erhöhen. Neurotransmitter sind Botenstoffe, die für die Übertragung biochemischer Botschaften zwischen den Nervenzellen im Gehirn zuständig sind. Die Botenstoffe „Serotonin“, „Noradrenalin“ und „Dopamin“ gelten populärwissenschaftlich als Glückshormone, weil sie alle einen positiven Einfluss auf die emotionale Befindlichkeit der Betroffenen haben. Es handelt sich also um psychotrope Substanzen, die jeweils auf ganz unterschiedliche, neurophysiologisch und biopsychisch nicht abschließend geklärte Weise das subjektive Denken und Empfinden mit einer positiven Hintergrundtönung einfärben (vgl. Mayring, 61). Das als „Wohlbefindens-Botenstoff “ bezeichnete Serotonin hat eine entspannende und beruhigende Wirkung und kann Stress, Ängste und depressive Gefühle abmildern. Die im Volksmund als eigentliche „Glückspillen“ geltenden Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer bzw. -Inhibitoren (SSRI) wie Prozac sorgen dafür, dass das vom Hirn abgesonderte Serotonin nicht wie üblich gleich nach der Botschaftsübermittlung wieder eingesammelt und am Ausüben seiner <?page no="178"?> 178 4 Neuro-Enhancement Funktion gehemmt wird, sondern länger wirksam bleiben und dadurch zur Erhöhung des Serotoninspiegels beitragen kann (vgl. Birbaumer u. a., 58). Da sich in einer Meta-Analyse zu Zulassungsstudien für verschiedene SSRI lediglich in Fällen von starken Depressionen eine leicht positive Wirkung im Vergleich zu Placebos nachweisen liess, gibt es jedoch erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit von SSRI generell (vgl. Schermer, 1181/ Schleim, 385). Bei gesunden, ausgeglichenen Menschen ergaben die vorliegenden Studien keine verbessernde Wirkung auf die Stimmung oder doch nur unzureichende Hinweise auf eine leicht positive Tendenz bei längerer Einnahme, sodass die Wirkungen größtenteils auf Placeboeffekte zurückgeführt werden (vgl. Lieb, 81 f./ Franke u. a., 18/ Janßen, 15). Demgegenüber kamen immer mehr Nebenwirkungen von Prozac ans Licht, von denen die harmlosen Gewichtszunahme, nervöse Gesichtszuckungen, Vergesslichkeit, Übelkeit und Durchfall lauten. Schwerwiegender sind sexuelle Funktionsstörungen und die v. a. unter jugendlichen Anwendern beobachtete Zunahme an Aggressivität, Gewalt- und Suizidtaten (vgl. Schermer, 1180 f./ Janßen, 14/ Gesang, 31). Gleichwohl berichten Menschen, die ohne Vorliegen psychiatrischer Störungen wie Depressionen oder Angststörungen SSRI nehmen, häufig zwar nicht vom Verschwinden, aber der Abschwächung von negativen Gefühlen wie Traurigkeit, Ängstlichkeit, Wut oder Empfindlichkeit (vgl. Kass u. a., 245/ Klein, 212). Antidepressiva zur Vermehrung des entspannenden und beruhigenden Serotonins scheinen also die Stimmung von Menschen mit Serotonin-Mangel aufhellen und negative Gefühle abmildern zu können, ohne jedoch dauerhafte Hochstimmung oder ein Lebensdauerglück zu erzeugen. Tatsächlich lag bei den von Kramer porträtierten Patienten vor der Einnahme von Prozac ein niedriger Serotoningehalt vor, sodass die Selbsteinschätzungen ihres Wohlbefindens als „better than well“ vielleicht einfach relativ zu verstehen sind (vgl. Kramer, 269). Psychisch gesunde Menschen mit „normalem“ Serotoninspiegel können hingegen jenseits von Placeboeffekten keine Anhebung ihrer Stimmung erreichen. Die vermeintlichen „Glückspillen“ wären damit ausschließlich Pillen gegen Unglück, nicht aber für Glück (vgl. Fenner 2003, 201/ Klein, 212). Anders als Serotonin erhöhen die Glückshormone Dopamin und Noradrenalin die Aufmerksamkeit, erregen und aktivieren uns zu Tätigkeiten, die uns Freude bereiten (Kap. 4.2). Bei empirischen Untersuchungen zu Dopamin gewinnt man allerdings eher den Eindruck, dass Glück „keine pharmakologische Kategorie“ darstellt (Schleim, 384). Denn zur wissenschaftlichen Operationalisierung dienen vorwiegend Konzepte wie „Belohnung“, „positive Verstärkung“, <?page no="179"?> 179 4.1 Emotionales Enhancement „Verlangen“ oder „Lust“ (vgl. ebd./ Hein, 378). Menschliches Glück wird bei solchen Versuchsreihen auf ein episodisches und hedonistisches Glück einzelner Lustmomente reduziert, wohl auch weil experimentell unter Laborbedingungen lediglich ein augenblickliches Vergnügen hergestellt und untersucht werden kann (vgl. ebd., 380 f.). Lange gingen die Wissenschaftler davon aus, dass ein hoher Dopaminspiegel im Gehirn direkt einen Lustgewinn verursacht. Denn bei bestimmten positiven Reizen wie Geld, Nahrung oder Sex kommt es im sogenannten dopaminergen mesolimbischen Belohnungssystem zu einer Dopamin-Ausschüttung im Gehirn und positiven, euphorischen Gefühlen. Genau genommen handelt es sich dabei aber nicht um eine hedonistische Erfahrung von Lust oder Befriedigung, sondern um das starke Verlangen nach Glücksmomenten bzw. die Erregung und Spannung der Vorfreude in Erwartung einer Belohnung (vgl. ebd., 376/ Schleim, 384). Da die Zusammenhänge im „Belohnungssystem“ komplizierter sind als ursprünglich angenommen und am Zustandekommen des Hochgefühls im Augenblick des Genusses noch viele andere Hormone wie Opioide und Endorphine beteiligt sind, gehen Wissenschaftler teilweise von einer nur losen Korrelation zwischen dem Anstieg des Dopaminspiegels und subjektiv empfundenem Vergnügen aus (vgl. Walcher, 152). Es ist also keineswegs empirisch bewiesen, dass eine Erhöhung des Dopamin- oder Noradrenalinspiegels dank regelmäßiger Einnahme entsprechender Pharmaka eine Kette von episodischem Wohlbefinden-Glück induziert. Indem ein erhöhter Dopaminspiegel neben der Vorfreude auch für Wachheit, Neugier, Motivation und Lernbegierde sorgt, verschafft er aber der handelnden Person die nötige Energie zum Überwinden von Hindernissen beim Verfolgen ihrer Ziele. Indirekt könnte eine medikamentöse Steigerung von Dopamin oder Noradrenalin also dadurch eine gute Grundlage für ein gelingendes, glückliches Leben bereitstellen, dass er die Menschen in eine offene, aufgeweckte und antriebsfreudige Stimmung versetzt und sie so der Welt positiver und in voller Erwartung von Belohnungen entgegentreten. Allerdings gilt dies nur für moderate Steigerungen, weil zu viel Dopamin zu einem unstillbaren und maßlosen Drang nach Lust, Sex und Macht führt (vgl. Klein, 102 ff.). <?page no="180"?> 180 4 Neuro-Enhancement Kritik am physiologischen Glücksverständnis und am direkten emotionalen Enhancement: 1) Ursache-Wirkungs-Modell statt intentionales Modell der Gefühle Aus der Warte der Kritiker physiologischer Gefühlstheorien verfehlen pharmakologische und technische Eingriffe notwendig menschliches Glück, weil sie irrtümlicherweise vom kausalen Ursache-Wirkungs-Modell menschlicher Gefühle ausgehen. Als eine der ersten hat Carol Freedman in ihrem Aufsatz mit dem programmatischen Titel Aspirin for the Mind? (1998) auf die ethischen Probleme eines nichtkognitiven Zugangs zu Gefühlen in der sich ausbreitenden biologischen Psychiatrie aufmerksam gemacht (vgl. Freedman, 136 f.; 145): Peter Kramers Grundfehler in Listening to Prozac (1993) bestehe darin, dass er Gefühle ungeachtet der sie verursachenden Gedanken lediglich als Arten von Lust oder Schmerz auffasse. Infolge der irreführenden Analogie zwischen psychischem und physischem Schmerz scheint gegen das Leiden unter sozialer Zurückweisung eine Pille Prozac genauso zu helfen wie eine Aspirintablette gegen Kopfschmerzen (vgl. ebd., 142). Unglück wird aus dieser Perspektive fälschlicherweise als ein Mangel an Serotonin gedeutet, dem folgerichtig nur mit einer biochemischen Intervention beizukommen sei (vgl. Kass u. a., 261). Auch Carl Elliott hält es für einen Kategorienfehler, wenn Psychiater existentielle Notlagen der Menschen gleich betrachten wie medizinische Probleme (vgl. Elliott, 177 f.): Aus seiner Sicht leiden Kramers Patienten in Wirklichkeit an Entfremdung und spiritueller Leere, die letztlich durch die moderne Kultur des Strebens nach Selbstverwirklichung und -optimierung erzeugt werden. Versuche einer mechanistisch-pharmakologischen Verbesserung des Wohlbefindens scheinen grundsätzlich zum Scheitern verurteilt, weil menschliche Gefühle wesentlich von kognitiven Überzeugungen und Bewertungen von sich selbst und der Welt abhängen: Im Unterschied zu groben, sinnlichen und körperlich lokalisierbaren Gefühlen wie Schmerz oder Lust liegen komplexeren höherstufigen Gefühlen und Stimmungen wie Freude oder Glück gedankliche Prozesse zugrunde, an denen wir aktiv und teilweise sogar willentlich beteiligt sind (vgl. Steinfath 2001, 140-149). Anstelle des mechanischen Ursache-Wirkungs-Modells ist ihnen daher nur ein intentionales Modell der Gefühle angemessen, bei denen die persönlichen Stellungnahmen zu den anvisierten bzw. „intendierten“ Gegenständen oder Situationen für die Erlebnisqualität konstitutiv sind (vgl. Forschner, 158). Es gibt zwar bisweilen Stimmungen, die eng mit der eigenen <?page no="181"?> 181 4.1 Emotionales Enhancement körperlichen Verfassung verbunden sind und uns wie ein diffuses Unwohlsein oder eine plötzliche gute Laune „überfallen“ und kaum zu kontrollieren sind. Menschliches Glück als überdauernde Stimmung scheint aber wesentlich komplexer zu sein und innere kognitive Aktivitäten vorauszusetzen, sodass es sich nicht auf das unmittelbare Erleben von Körperveränderung reduzieren lässt. 2) Kritik am Hedonismus und der Abtrennbarkeit menschlichen Glücks Auch wenn es von den meisten Kritikern nicht deutlich gemacht wird, basiert die Ablehnung des emotionalen Enhancements größtenteils auf einer Missbilligung des hedonistischen Glücksverständnisses (vgl. Bayertz u. a., 23). Zur Maximierung subjektiver Erlebnisse der Lust oder Freude nach dem Prinzip des Hedonismus bieten sich v. a. die gröberen Gefühle sinnlicher Lust an, weil sie am leichtesten ganz direkt etwa durch eine opulente Mahlzeit, einen Rausch oder das Zusammenrücken mit einem netten Partner herstellbar sind (vgl. ebd., 4). Während bei diesen herkömmlichen Mitteln der Lusterzeugung allerdings auf das kurze Glück häufig langes gesundheitliches und soziales Unglück folgen, verspricht das emotionale Enhancement subjektives Empfindungsglück ganz ohne Nebenwirkungen. Die Beseitigung von Unlust und die Maximierung von Lust oder Freude scheinen beim emotionalen Enhancement ganz direkt angepeilt und zum Lebensziel gemacht zu werden, wie es der ethische Hedonismus fordert. Genauso wie der Hedonismus insgesamt zieht das pharmakologische emotionale Enhancement daher den schweinischen Einwand auf sich, frei benannt in Anlehnung an John Stuart Mills Verurteilung der hedonistischen Verkürzung menschlichen Glücks auf die sinnliche Lust der Schweine (vgl. Kramer, 286). Biokonservative Kritiker des emotionalen Enhancements stellen gerne eine Analogie her zwischen „Prozac“ und der Glücksdroge „Soma“ aus Aldous Huxleys Schöne neue Welt (vgl. Kass u. a., 260/ Fukuyama, 86/ Kass, 5): Im Zeichen eines hedonistischen Glücksverständnisses verhilft „Soma“ den Bewohnern dieser perfekten Welt bei unglücklich verlaufenden Ereignissen zu „Ferien von den Tatsachen“, beruhigt allen Ärger, versöhnt mit den Feinden und beschert eine Zeit voller ungeteilter Freude (vgl. Huxley, 80; 189). Auch Kramer setzt sich mit dem Argument der Abtrennbarkeit auseinander, das gegen die kosmetische Psychopharmakologie genauso wie gegen den gesamten Hedonismus geltend gemacht wird (vgl. 285 f.): Die zu Prozac greifenden Menschen scheinen wie die Konsumenten von Amphetaminen oder Opiaten nur die positiven innerlichen Glücksgefühle erleben zu wollen, ohne dafür irgendetwas <?page no="182"?> 182 4 Neuro-Enhancement in der Außenwelt tun zu müssen. Während wir im normalen Alltagsleben bestimmte Tätigkeiten verrichten, die uns Freude bereiten, ist die über Botenstoffe im Gehirn erzeugte Hochstimmung abgetrennt von den Tätigkeiten und Erfahrungen in der Wirklichkeit und somit isoliert von der Realität da draußen. Auf diese Weise erlangt man in den Worten der Enhancement-Kritiker jedoch kein „wirkliches Glück“, sondern allenfalls ein „trügerisches“, „seichtes“, „solipsistisches“ oder „blödsinniges Glück“ (vgl. Kass u. a., 212; 251/ Kipke 2011, 265 f./ Schmidt, 153). Das grundlegende hedonistische Missverständnis besteht nach diesem Argument darin, dass kein Mensch einfach nur Lust und Freude empfinden oder sich glücklich fühlen wolle. Vielmehr wollen alle Menschen einen Grund haben oder dazu berechtigt sein, glücklich zu sein (vgl. Kahane, 167/ Schermer, 1183/ Kipke 2011, 265). Um zu einer differenzierteren Beurteilung des emotionalen Enhancements zu gelangen, unterscheidet Guy Kahane zwischen „hedonistischen“ und „affektiven Gründen“ (vgl. 166 f.): Für das emotionale Enhancement sprechen zwar starke hedonistische Gründe, weil es Unlust und Schmerz vermeiden und Freude und Lust maximieren hilft. Die meisten Menschen würden aber im Konfliktfall richtigerweise den affektiven Gründen den Vorzug geben, denengemäß die Gefühle den jeweiligen konkreten Umständen oder der persönlichen Lebenssituation angemessen sein sollen. Obwohl beispielsweise anlässlich des Verlusts einer geliebten nahestehenden Person aus hedonistischer Perspektive die Vermeidung negativer Gefühle durch emotionales Enhancement wünschenswert wäre, verbiete es sich aus affektiven Gründen, weil Trauer hier angemessen ist (vgl. 169). Demgegenüber sei eine pharmakologische Stimmungsaufhellung angebracht, wo eine Trauer übermäßig lang oder intensiv andauert und es damit gute affektive Gründe für die Einnahme von Pillen gibt (vgl. 170). Trotz der grundsätzlichen Priorität affektiver vor hedonistischen Gründen könnte der Einsatz von Stimmungsaufhellern also je nach den konkreten Umständen gerechtfertigt sein. Strenggenommen richtet sich das Argument der Abtrennbarkeit und des hedonistischen Missverständnisses aber nur gegen den rein quantitativen sensorischen Hedonismus, demzufolge die Ursachen und Quellen positiver Erlebnisse oder Empfindungen völlig gleichgültig sind. Denn zur Verfeinerung des Hedonismus wurde etwa in der Gegenwart ein „attitudinaler Hedonismus“ entwickelt, bei dem die Freuden („attitudinal pleasures“) immer einen Weltbezug enthalten und den freudvollen Erlebnissen auch tatsächlich angemessen sein müssen (Kap. 2.1). Bei dieser auch in der Enhancement-Debatte oft erhobenen Realitätsforderung wird meist <?page no="183"?> 183 4.1 Emotionales Enhancement wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass kein Mensch eine selbst-absorbierte Zufriedenheit oder ein seichtes Glück ganz abgelöst von Tätigkeiten und Leistungen oder sozialen Beziehungen in der Außenwelt haben will (vgl. Schermer, 1183/ Kipke 2011, 265/ Kass u. a., 265). „We desire not simply to be satisfied with ourselves and the world, but to have this satisfaction as a result of deeds and loves and lives worthy of such self-satisfaction.“ (Kass u. a., 251) Doch wieso soll es überhaupt für alle Menschen besser sein, in Kontakt mit der Realität zu leben und in der Auseinandersetzung mit der Aussenwelt Glück oder Unglück zu erfahren? Anstelle einer direkten Beantwortung dieser grundsätzlichen philosophischen Frage wird auch in der Enhancement-Debatte gerne auf das Gedankenexperiment von Robert Nozick verwiesen (vgl. Nozick, 52): Man soll sich eine von Neuropsychologen entwickelte Erlebnismaschine vorstellen, an die man sich über Elektroden im Hirn für die nächsten Jahre anschließen lassen könnte. Dann würden die Nervenzellen entsprechend einer selbst getroffenen Auswahl an positiven Erlebnissen aus einem Katalog von der Maschine so gereizt werden, dass man beispielsweise meint, man schriebe einen großen Roman, schlösse Freundschaften oder läse ein interessantes Buch. Dabei empfindet man dieselben Gefühle wie bei den echten Tätigkeiten (vgl. zur Problematik „emotionaler Authentizität“ 4.1.2). Zu überlegen gilt, ob man sich lebenslang an eine solche Lustmaschine anschließen lassen würde oder nicht. Insbesondere die Vorstellung, die geliebten nahestehenden Personen nicht mehr realiter treffen und sie auf ihrem Lebensweg begleiten zu können, stößt bei den allermeisten Menschen auf heftige Ablehnung. Zwar wären viele zu einer vorübergehenden Entlastung von der Realität mit ihrem permanenten Handlungsdruck mittels Glückspillen oder Alltagsdrogen bereit, nicht aber zum dauerhaften „Abgetrenntsein“. Robert Nozicks eigene Begründung eines klaren „Neins“ lautet, Menschen wollten etwas wirklich und nicht nur vorgetäuscht tun und sich als wirkliche konkrete Menschen in einer realen Welt bewegen (vgl. ebd., 52 f.). Von der Form her handelt es sich bei dieser Argumentationsstrategie mit der Aufforderung zum Gedankenexperiment um ein Ad-hominem-Argument oder „Ad-personam-Argument“, das argumentationslogisch als schwach gilt. Denn solche Argumente beziehen sich nicht auf den Diskussionsgegenstand und dienen nicht direkt der Wahrheitsfindung, sondern richten sich an die Gesprächsteilnehmer mit ihren individuellen Bedürfnissen, Interessen und Intuitionen. Inhaltlich gesehen liegt aber bei der Realitätsbedingung eine empirische Generalisierung vor, weil sich bei Umfragen in Universitätsseminaren und in <?page no="184"?> 184 4 Neuro-Enhancement den vorliegenden empirischen Studien höchstens Einzelne für den dauerhaften Anschluss an die Erlebnismaschine entschieden haben (vgl. Köhne, 155). Eine induktive Verallgemeinerung von den bisher aus der Erfahrung bekannten Einzelfällen auf eine allgemeine Tatsache ist zwar auch nicht logisch zwingend, hat aber eine sehr hohe Plausibilität und ist mit höchster Wahrscheinlichkeit richtig. Genauso wenig wie jemand sinnvollerweise bestreiten kann, dass die Sonne morgen wie jeden anderen Tag bisher wiederum aufgehen wird, wäre es unglaubwürdig zu behaupten, ein bloß vorgegaukeltes, rein passives Rezipieren „innerlicher“ positiver Gefühle sei völlig ausreichend für menschliches Glück und man gebe ihm persönlich den Vorzug. Um die Unabdingbarkeit des Außenweltbezugs für menschliches Glück zu begründen, kommen auch empirische Untersuchungen und philosophische Reflexionen über anthropologische Grundtatsachen in Frage. Gemäß empirischer Beobachtungen sind nur Kleinkinder, Neurotiker und Menschen unter Bedingungen schwerer Belastungen oder Beeinträchtigungen direkt auf Lust oder Freude fokussiert, wohingegen psychisch gesunde Menschen auf etwas ihnen wertvoll Erscheinendes in der Außenwelt gerichtet sind (vgl. Forschner, 156/ Frankl, 104). Aufgrund einer weitgehend von seiner physisch-psychischen Verfassung abgelösten Vernunft verfügt der Mensch über eine große „Weltoffenheit“ und „Sachlichkeit“, weshalb all sein Streben eine starke Außen-Gerichtetheit und Objektzentrierung aufweist (vgl. Forschner, ebd./ Scheler, 39). Höchste, als ein sorgenfreies „Fließen“ („Flow“) umschriebene Glückszustände erleben Menschen bezeichnenderweise, wenn sie sich einer herausfordernden geschätzten Tätigkeit hingeben und sich in ihr „verlieren“ (vgl. Csikszentmihalyi, 70). Wer nach einem Bild von Mill sozusagen als neutraler „anthropologischer Richter“ sowohl die schweinische Lust eines rein sinnlichen Genusses als auch die typisch menschliche Befriedigung aus geistigen und sozialen Aktivitäten kennt, bewerte letztere als qualitativ höherstehend und gebe einer Lebensform mit ihrer Beteiligung entschieden den Vorzug (vgl. Mill, 16). Die stärksten Argumente verdanken sich Reflexionen auf das praktische Selbstverständnis der Menschen, weil solche Einsichten eine Art „Denknotwendigkeit“ erzeugen und sie kein Mensch ohne pragmatischen Selbstwiderspruch leugnen kann: Menschen verstehen sich als Wesen, die ihr Leben vorausschauend und zwecksetzend planen und sich zu ihrem Leben reflexiv und bewertend verhalten. Nicht nur das Streben des Menschen nach Glück als dem obersten und umfassendsten Lebensziel ist eine anthropologische Konstante, sondern auch das Streben nach Realisierung der wichtigsten eigenen Wünsche und Ziele in der Außenwelt (vgl. Fenner 2007, 11 f.; <?page no="185"?> 185 4.1 Emotionales Enhancement 361 f.). Angesichts des komplexen und dynamischen praktischen Selbstverhältnisses der Menschen kann das wesensmäßige Glück keine biochemisch induzierte Hochstimmung sein, sondern nur ein gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis bzw. der Grundzug eines tätigen Lebens in der aktiven Auseinandersetzung mit Um- und Mitwelt (ebd., 157/ vgl. Bayertz u. a., 10/ Kipke 2011, 91). Da die Wunsch- oder Zieltheorie anders als der Hedonismus die Entwicklung und Erfüllung von realitätsorientierten Zielen und die aktive Gestaltung des menschlichen Lebens ins Zentrum ihrer Glückstheorie stellt, basiert sie auf einem erheblich solideren anthropologischen Fundament (Kap. 2.1). Auch in dieser Glückstheorie kann aber kein direktes, sondern allenfalls ein indirektes Enhancement gutgeheißen werden (vgl. Bayertz u. a., 23/ unten, Punkt 3). 3) Argument der Unentbehrlichkeit von Unglück, Leid und Schmerz für menschliches Glück Gegen den Konsum von Stimmungsaufhellern wird auch immer wieder ins Feld geführt, Unglück, Schmerz und Leid seien für menschliches Glück unabdingbar (vgl. Schermer, 1183). Auch bei dieser Kritik wird meist nicht von einem hedonistischen Glücksbegriff ausgegangen, sondern von einem Glück als „Wohlergehen“ („well-being“) auf der Grundlage der kognitiven Bewertung des Lebens als Ganzem. Obwohl diese weit verbreitete Intuition in der Enhancement-Debatte nur selten näher präzisiert wird, lassen sich folgende Argumentationslinien herausdestillieren: a) Am häufigsten steht dahinter die Überzeugung, Leid und die es verursachenden Krisen seien notwendig für die Persönlichkeitsentwicklung, ein sinnvolles und gutes Leben oder ein „fuller“ und „flourishing life“ (vgl. Walcher, 140/ Kass u. a., 258 ff.): Vom Standpunkt der Evolutionstheorie aus argumentieren Psychiater wie Randolph Nesse gegen Stimmungsaufheller, Angst und Schmerz seien genauso wie Durchfall oder Übelkeit zwar augenblicklich sehr unangenehm, sicherten aber langfristig das Überleben oder eine optimale Anpassung an Um- und Mitwelt (vgl. dazu Kramer, 276). So kann Angst Menschen davor bewahren, sich in Gefahr zu begeben oder stabile soziale Bindungen durch das Ausleben flüchtiger Bedürfnisse aufs Spiel zu setzen. Ganz allgemein werde nur derjenige zur Veränderung einer unerfreulichen Lage angetrieben und könne die dafür nötige Energie mobilisieren, der immer wieder von Angst und Sorge beunruhigt werde und mit sich und seinem Leben unzufrieden sei (vgl. ebd./ Kass u. a., 258 ff.): Die Härte des Lebens, die uns nicht vernichte, <?page no="186"?> 186 4 Neuro-Enhancement mache uns besser im Sinne von stärker, widerstandsfähiger und bewusster darüber, was uns im Leben wirklich wichtig sei. Wer zu Glückspillen greife, verpasse hingegen die Chance, aus dem Unglück und den Fehlern zu lernen und den Horizont seiner Selbst- und Welterkenntnis zu erweitern (vgl. ebd., 257). b) Weit verbreitet ist auch die These, Glück sei ein Kontrastbegriff und überhaupt nur dank Kontrasterfahrungen von Unglück und Leid erlebbar (vgl. Kass u. a., 299/ Krämer, 213). Daher verliere „Glück“ völlig seine Bedeutung, wenn jemand infolge eines dauerhaften emotionalen Enhancements ganz vergesse, wie sich Unglück und Trauer anfühlen. c) Des Weiteren wird befürchtet, ein durch Psychopharmaka erwirktes permanentes Wohlbefinden schwäche die Toleranz gegenüber negativen Emotionen, der Unvollkommenheit des eigenen Lebens sowie einer oft unangenehmen Realität (vgl. Runkel, 279/ Vaas, 58). Auch würden sich Konsumenten von Glückspillen der Möglichkeit berauben, für ein gelingendes Leben unentbehrliche psychische Ressourcen, Fähigkeiten oder Tugenden zur Bewältigung negativer Emotionen und zur Überwindung von Krisen zu erwerben (vgl. Birnbacher 2006, 114/ Kass u. a., 260). Ad a: Obwohl viele Menschen faktisch erst durch schmerzvolle Erfahrungen und Krisen zur Reflexion über ihre Lebenssituation aufgerüttelt werden, ist der Schluss auf die strukturelle Notwendigkeit von Schmerz und Leid für menschliches Glück falsch. Denn wer in regelmäßigen Abständen über sein Leben nachdenkt und grundlegenden Fehlentwicklungen vorbeugt, braucht kein Leid und kein Unglück für Kurskorrekturen. Richtig ist aber, dass ungute Gefühle häufig eine seismographische Funktion bei Lebensplänen erfüllen, die schlecht zu den eigenen Fähigkeiten oder den sich verändernden Umständen passen. Wer daher bei allen Anzeichen von Unzufriedenheit automatisch eine Glückspille einwirft oder durch Dauereinnahme gar keine negative Stimmung aufkommen lässt, könnte sich in eine Lebenslüge verstricken und ein bloß illusionäres Glück erfahren (Kap. 2.1). Allerdings könnte jemand auch seine negativen Gefühle erst einmal wahrnehmen und interpretieren und sie erst danach gezielt pharmakologisch manipulieren, um mehr Mut und Energie für die als notwendig erkannten Veränderungen aufzubringen. Außerdem führt ein Stimmungstief nicht automatisch zu einem Erkenntnisgewinn, sondern erforderlich ist die Wiedererlangung der Einsichtsfähigkeit und eines klaren Kopfes für eine möglichst emotionsfreie, sachliche Analyse der aktuellen Lebenssituation und der zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten. <?page no="187"?> 187 4.1 Emotionales Enhancement Ad b: Ganz ähnlich verhält es sich mit der zweiten These, die höchstens im Fall eines episodischen hedonistischen Glücksverständnisses über gewisse Plausibilität verfügt: Während sich positive Erfahrungen der Lust oder Freude entsprechend dem Grundgesetz der Gewöhnung rasch abnutzen, kann ein Genuss nach einer schmerzvollen Entbehrung viel intensiver empfunden werden (vgl. Fenner 2007, 108 f.). Wird Glück jedoch wie bei einer Wunsch- oder Zieltheorie als sukzessive Verwirklichung eines adäquaten Lebensplans verstanden, besteht keinerlei Notwendigkeit von Enttäuschungen und Leid als Kontrastfolie. Wenn Menschen nach einer längeren Krankheit oder schwierigen Lebensphase viel dankbarer sind für kleine Freuden, hat sich wohl weniger das Glück potenziert als der kognitive Bewertungsmaßstab gesenkt. Ad c: Mit dem mehrdeutigen Begriff der „Affekttoleranz“ kann in der Psychiatrie entweder gemeint sein, dass die Prozac-Konsumenten negative Gefühle besser aushalten können oder aber in Stress- und Krisensituationen weniger starke Gefühle der Angst und Sorge entwickeln (vgl. Kramer, 275 f.; 280). Bei beiden Effekten könnten sie schlimmstenfalls drohende Gefahren und Risiken übersehen und sich nicht rechtzeitig um das Überwinden realer Hindernisse kümmern, was langfristig eine irrationale Lebensstrategie wäre (vgl. Birnbacher 2006, 114). Um sich vielfältige Lösungsmodelle und Kompetenzen für den Umgang mit einer widerständigen Realität und starken negativen Gefühlen anzueignen, sind aber lange Leidenszustände keine notwendige Bedingung. 4.1.2 Gefährdung der „emotionalen Authentizität“ Neben der chemischen Induzierbarkeit von menschlichem Glück ist es die Authentizität, die sehr häufig Gegenstand von Kontroversen über das emotionale Enhancement ist (vgl. Ach u. a., 47/ Schermer, 1183 f.). „Authentizität“ ist allerdings ein schillernder und schwer definierbarer Begriff, der nicht nur auf das Gefühlsleben einer Person bezogen werden kann, sondern etwa auch auf bestimmte Tätigkeiten oder Leistungen eines Subjekts, auf die ganze Persönlichkeit oder ihr Leben insgesamt. Während es in Kapitel 4.1.2 zunächst um die Authentizität von Gefühlen geht, steht danach in Kapitel 4.1.3 die Authentizität von Persönlichkeiten zur Diskussion. Ganz allgemein ist es aber bemerkenswert, dass das Konzept der Authentizität in den letzten Jahrzehnten überhaupt als ethischer Orientierungsmaßstab in die Angewandte Ethik Einzug hielt (vgl. Leefmann, 14). Denn viele halten das moderne Ideal der Authentizität für gefährlich, weil es zu einer narzisstischen Selbstverwirklichung oder Selbstopti- <?page no="188"?> 188 4 Neuro-Enhancement mierung anleite und das Gemeinwohl zu zersetzen drohe (vgl. dazu ebd., 13). Aus Sicht postmoderner Philosophen und Neurowissenschaftler hingegen ist das „Subjekt“ ohnehin eine bloße Fiktion oder Illusion, weshalb „Authentizität“ gar keine sinnvolle Kategorie sein kann. In der Persönlichkeitspsychologie, der Selbsthilfeliteratur und insbesondere den Ratgebern für Führungskräfte wird jedoch die große individualethische Bedeutung von Authentizität darin gesehen, dass sie mit positiven Emotionen und Glücksgefühlen einhergeht und ein produktives, erfülltes und glückliches Leben ermöglicht (vgl. dazu ebd.). Auch in der heutigen Alltagssprache ist „Authentizität“ höchst positiv konnotiert, wohingegen „Entfremdung“ ihr abschreckendes Gegenstück darstellt. Für das moderne praktische Selbstverständnis ist das Streben nach Authentizität genauso fundamental wie das Streben nach Glück oder Freiheit (vgl. Leefmann, 129/ Kap. 2). Wie der Begriff „Gesundheit“ ist „Authentizität“ also kein neutraler Begriff, sondern ein normativer Grundbegriff, genauer ein individualethischer Orientierungsmaßstab oder ein individualethisches Ideal. Häufig werden daher die Bedeutung und der hohe Wert der „Authentizität“ in Enhancement-Debatten einfach vorausgesetzt, ohne die implizite ethische Bewertung näher zu begründen. Auch wird kaum je angegeben, nach welchen Beurteilungskriterien sich eigentlich genau bemessen soll, ob jemand authentisch ist oder nicht. Im Folgenden werden verschiedene Deutungsvarianten von „Authentizität“ auseinanderdividiert, um mögliche positive oder negative Einflüsse des pharmakologischen emotionalen Enhancements klarer beurteilen zu können. 1) Authentizität als Übereinstimmung von Innen und Außen Nach dem am weitesten verbreiteten und sehr allgemeinen Verständnis bezieht sich „Authentizität“ auf die Art und Weise, wie eine Person ihr Innenleben zum Ausdruck bringt: Authentizität im weiten Sinn bedeutet die Übereinstimmung von Innenleben und äußerer Darstellung, von inneren Gefühlen, Gedanken und Wünschen einer Person mit dem äußeren Ausdruck dieses Fühlens und Denkens (vgl. Janßen, 88/ Krämer, 206). Emotionale Authentizität meint entsprechend die Übereinstimmung von innerer Gefühlsqualität und Ausdruck der Gefühle im äußeren Verhalten. Zur Feststellung des Vorliegens oder Fehlens einer so definierten Authentizität ist die Perspektive der 1. Person erforderlich, sodass nur eine interne Beurteilung in Frage kommt. Inauthentizität läge vor, wenn sich jemand verstellt und bestimmte Gefühle oder Gedanken nur äußerlich vortäuscht, ohne sie zu haben. Beispiele wären Roboter oder Schauspieler, <?page no="189"?> 189 4.1 Emotionales Enhancement die Einstellungen oder Empfindungen bloß vorspielen, sie aber nicht innerlich durchleben. Im modernen Verständnis wird Authentizität zudem stark an die zusätzliche Bedingung geknüpft, dass sich ein Individuum nicht aus Opportunismus an den Erwartungshaltungen des sozialen Umfeldes orientiert (vgl. Janßen, 88/ Leefmann, 139). Diese sich erst im Laufe neuzeitlicher Schübe der Individualisierung und Verinnerlichung herauskristallisierende Form der „Authentizität“ unterscheidet sich genau darin vom älteren Ideal der „Aufrichtigkeit“: Wie Lionel Trilling in Sincerity and Authenticity (1978) herausarbeitete, ging es zwar auch bei der früheren „Aufrichtigkeit“ um die Kongruenz von erlebter und mitgeteilter Erfahrung. Im Gegensatz zum Authentizitätsmodell sollte jedoch diese Kongruenz hergestellt werden, indem die Individuen ihr Innenleben an die sozialen Erwartungen und Rollenmustern anpassen (vgl. Trilling, 18 f./ Leefmann, 105). In der Moderne wurde hingegen dieses rollengeleitete Aufrichtigkeitsideal durch ein innengeleitetes Authentizitätsideal abgelöst, bei dem allein das subjektive innere Erleben unabhängig von äußeren Anforderungen maßgebend ist. Obwohl die Aufwertung der persönlichen Selbstbestimmung in der Moderne prinzipiell gutzuheißen ist, können nach der berechtigten Kritik am modernen Authentizitätsideal eine Identität von Innen und Außen und ein radikalisierter Subjektivismus zu einem Verlust klarer Konturen des Selbst führen (vgl. Trilling, 15/ Leefmann, 116). Eine extreme Innenorientierung liegt beim spezifischen Modell präreflexiver Authentizität vor, in dem „Authentizität“ den gänzlich unreflektierten, spontanen und intuitiven Ausdruck der Gefühle und Gedanken einer Person meint (vgl. Beck 2013, 4). Inwiefern könnte also emotionales Enhancement die so definierte Authentizität der Gefühle untergraben? Handelt es sich sogar um eine „Täuschung“, weil die Prozac-Konsumenten sich und den anderen etwas vormachen? Hinsichtlich der spezifischen Variante des präreflexiven Authentizitäts-Modells scheint ein emotionales Enhancement tatsächlich die emotionale Authentizität eines Menschen zu zerstören. Denn eine gezielte Manipulation des eigenen Gefühlslebens setzt notwendig eine Reflexion auf die eigenen Gefühlszustände voraus. Unterscheidet man jedoch zwischen einer zeitlich vorausgegangenen Reflexion über den Einsatz von Stimmungsaufhellern und der Zeit nach der Einnahme der Psychopharmaka, kann ein Gefühlsausdruck zu diesem späteren Zeitpunkt sehr wohl spontan und präreflexiv erfolgen. Eine Verabsolutierung des Ideals präreflexiver Authentizität ist jedoch ohnehin individualethisch problematisch, weil ein gutes menschliches Leben eine reflexive Haltung zum eigenen Leben und eine bewusste Emotionsregulation <?page no="190"?> 190 4 Neuro-Enhancement z. B. zur Kontrolle unliebsamer heftiger Affekte oder Aggressionen erfordert (Kap. 2.1). Geht man von der allgemeinen Definition von Authentizität als Übereinstimmung von erlebten und mitgeteilten Gefühlen aus, scheinen die Einwände gegenüber dem emotionalen Enhancement aus dem gleichen Grund unhaltbar zu sein: Authentisch wären dann nämlich auch all jene, die genau die positiven Gefühle zum Ausdruck bringen, die sie nach der Einnahme der Stimmungsaufheller faktisch haben. Obschon durch emotionales Enhancement die Gefühle einer Person verändert werden, beeinträchtigt diese Einflussnahme keineswegs automatisch die Relation zwischen innerem Erleben und äußerem Verhalten. Denn für den momenthaften Gefühlsausdruck spielt es keine Rolle, wie die Gefühle selbst entstanden sind, ob mithilfe von Drogen oder Psychopharmaka (vgl. Janßen, 179). Insbesondere bei Schüchternen und emotional Gehemmten ist es sogar empirisch plausibel, dass die Ausdrucksfähigkeit durch die „Authentizitätsdroge“ Prozac gesteigert wird und dadurch eine höhere Übereinstimmung zwischen innerer Gefühlsqualität und geäußertem Fühlen erreicht wird (vgl. ebd., 162/ Krämer, 190). Eher unwahrscheinlich ist hingegen, dass Prozac-Konsumenten sich selbst und ihren Mitmenschen ihre positiven Gefühle bloß vortäuschen. Allenfalls könnten die durch Stimmungsaufheller erwirkten Gefühle in dem Sinn als „unecht“ bezeichnet werden, als eine dauerhafte Hochstimmung sozial erwünscht ist und sich die Menschen nur den äußeren Erwartungshaltungen anpassen. So werfen z. B. Carl Elliott und andere Kritiker des emotionalen Enhancements der amerikanischen Gesellschaft eine „Tyrannei des Glücklichseins“ vor (vgl. Elliott, 187). „Authentizität“ als Kongruenz von Innen und Außen nähme dann Züge der prämodernen außenorientierten „Aufrichtigkeit“ an, die je nach Art des ausgeübten sozialen Drucks und der kulturellen Glücksvorstellungen zu kritisieren wäre. 2) Authentizität als „Natürlichkeit“ von Gefühlen „Authentizität“ wird häufig mit „Natürlichkeit“ assoziiert und emotionales Enhancement abgelehnt, weil durch technische Mittel wie die Tiefenhirnstimulation oder durch Medikamente wie Prozac keine authentischen, sondern nur künstliche Gefühle induziert würden (vgl. Janßen, 89/ Leefmann, 141/ Bauer u. a., 36). Insbesondere beim oben erwähnten präreflexiven Authentizitäts-Modell gilt eine Person als umso authentischer, je „natürlicher“ sie ist, d. h. je unmittelbarer und spontaner sie ihr natürliches Innenleben zum Ausdruck bringt (vgl. Beck 2013, 4). In der Enhancement-Debatte sind es v. a. Biokonservative, <?page no="191"?> 191 4.1 Emotionales Enhancement die eine naturalistische Interpretation von „Authentizität“ vertreten und diese an das Vorliegen „natürlicher Gefühle“ koppeln (vgl. Krämer, 200). „Natürlichkeit“ ist dabei genauso ein normativer und ein positiv konnotierter Begriff wie „Authentizität“ selbst. Ganz allgemein erwies es sich jedoch in Kapitel 2.3 als ungeeignet, sowohl die „Natur“ in einem weiten oder außermenschlichen Sinn als auch eine spezifische „menschliche Natur“ zu einem ethischen Bewertungsmaßstab zu erheben: Deklariert man nämlich ohne weiteren Grund alles „Natürliche“ als „gut“ und alles „Nichtnatürliche“ als „schlecht“, begeht man einen naturalistischen Fehlschluss oder projiziert eigene Wertvorstellungen in die Natur hinein (vgl. Leefmann, 142 f.). Mit Blick auf das hier zu diskutierende emotionale Enhancement stellt sich entsprechend die Frage, ob es überhaupt so etwas wie einen „emotionalen Naturzustand“ gibt und wieso dieser gewissermaßen unter Naturschutz gestellt werden sollte. Wie oben unter Punkt 1) skizziert, stehen sich physiologische Gefühlstheorien mit naturalistischen biologistischen Deutungen von Gefühlen und kognitivistische Gefühlstheorien mit häufig kulturalistischen Interpretationen gegenüber (vgl. Krämer, 199 f.). Überzeugender sind allerdings Mittelwege zwischen diesen Extrempositionen, bei denen Gefühle als „biokulturelle Phänomene“ sowohl natürliche, urwüchsig-somatische als auch kulturelle, gesellschaftlich geprägte Komponenten aufweisen (vgl. ebd., 200). Noch differenzierter ist eine Gefühlstheorie, die von einer Hierarchie von gröberen Gefühlen wie physischem Schmerz oder sinnlicher Lust in der Nähe reiner Sinnesempfindungen bis hin zu feineren, höhere kognitive Leistungen voraussetzenden Gefühlen wie geistige Freuden oder moralische Empörung ausgeht (vgl. Steinfath 2001, 140-149): Während primitive Emotionen körperlich lokalisierbar sind und eher als etwas uns von außen Betreffendes erlebt werden, liegen den komplexeren höherstufigen Gefühlen aktive gedankliche Prozesse zugrunde. Was könnten also „natürliche“ und „künstliche Gefühle“ überhaupt sein und wieso sollen „natürliche“ besser sein als „künstliche“? Es scheint nahezuliegen, nur die gröberen, basalen und körpernahen Gefühle als „natürlich“ zu bezeichnen, hingegen alle höherstrukturierten, komplexeren und kulturspezifischen Gefühle als „künstlich“. Ein solcher „vereinfachender Rousseauismus“ ist aber kaum haltbar (Krämer, 200). Denn als natürlich und ethisch wertvoll dürften dann nur wenige „schweinische“ Lüste gelten, was angesichts der massiven und berechtigten Kritik am Glücksmodell eines unreflektierten sensorischen Hedonismus individualethisch fragwürdig wäre (Kap.-2.1). Die meisten menschlichen Gefühle haben wie gesehen einen kognitiven Gehalt und werden durch emotionale Schemata oder Wertbindungen konstituiert, die <?page no="192"?> 192 4 Neuro-Enhancement weitgehend kulturell geprägt sind (vgl. Ulich u. a., 100). Um hinsichtlich des emotionalen Enhancements zwischen „natürlichen“ und „künstlichen Gefühlen“ unterscheiden zu können, müsste differenzierter vorgegangen und a) ein genetischer und b) ein qualitativer Sinn von „Künstlichkeit“ auseinander gehalten werden (vgl. Birnbacher 2006, 39): a) Im ersten genetischen Sinn liesse sich den technologisch induzierten Gefühlen Künstlichkeit attestieren, weil ihre Genese sich künstlichen Mitteln verdankt. Bei näherer Betrachtung scheint die Grenzlinie zwischen natürlicher und künstlicher Genese aber durchaus unscharf, weil auch die Heiterkeit beim Trinken eines erlesenen Weines oder die Ergriffenheit beim Hören der Matthäuspassion keineswegs rein „natürlich“ ohne Zutun des Menschen zustandekommen (vgl. Krämer, 201). Zur Vermeidung eines naturalistischen Fehlschlusses müsste zudem noch begründet werden können, wieso künstlich generierte Gefühle per se qualitativ minderwertig sein sollen und damit ihre normative Herabsetzung rechtfertige. b) Gemäß dem qualitativen Sinn von „Natürlichkeit“ bzw. „Künstlichkeit“ wären demgegenüber diejenigen Gefühle als „künstlich“ zu bezeichnen, die von den Betroffenen als künstlich erlebt werden. Hier läge denn auch klar zutage, dass diese Künstlichkeit der Gefühle und damit die Erfahrung einer Entfremdung individualethisch unvorteilhaft wären. Wie sich jedoch in Studien zeigte, empfinden Versuchspersonen keinerlei Unterschied zwischen beispielsweise den durch eine Tiefenhirnstimulation hervorgerufenen Gefühlen und solchen aus ihrem Alltagsleben (vgl. ebd.). In ihrer Erfahrungsqualität scheinen sich also künstlich induzierte Gefühle nicht von naturbelassenen zu unterscheiden. Hinsichtlich der Erlebnisqualität ist folglich die Rede von künstlichen Gefühlen nicht sinnvoll, sondern alle Gefühle sind gleichsam „naturidentisch“. Nicht im Augenblick des Erlebens, sondern erst nachträglich auf einer höheren Ebene der Reflexion lassen sich in genetischer Hinsicht künstlich erzeugte und natürliche Gefühle unterscheiden. 3) Authentizität als angemessener Gegenstandsbezug Bei einem weiteren Verständnis von Authentizität steht nicht wie bei den bislang erläuterten Authentizitäts-Modellen die subjektive Erlebnisqualität von Gefühlen im Fokus, sondern der kognitive intentionale Gehalt, d. h. die Gerichtetheit der Gefühle auf Sachverhalte oder Personen. Dabei wird eine kognitive Gefühlstheorie vorausgesetzt, die sich insbesondere für höher strukturierte Gefühle wie Freude oder Glück als angemessen erwies (4.1.1). Für die Authentizität von <?page no="193"?> 193 4.1 Emotionales Enhancement Gefühlen reicht es dann nicht aus, dass das innere Erleben mit dem äußeren Ausdruck übereinstimmt. Authentisch sind Gefühle vielmehr nur dann, wenn sie in einem angemessenen Bezug zur Außenwelt stehen und gewissermaßen mit dem Bezugsobjekt „übereinstimmen“. Es liegt dann eine „Stimmigkeit“ zwischen dem subjektiven Gefühlserleben und dem intentionalen, kognitiven Gehalt der Gefühle vor (vgl. Krämer, 207). Inauthentizität hingegen bedeutet eine Unstimmigkeit oder Störung zwischen Gefühlsqualität und Objekt. Zur Feststellung von Authentizität oder Inauthentizität von Emotionen gilt es also die Angemessenheit des Gegenstandsbezugs zu prüfen, was sowohl von der Innenals auch teilweise von der Aussenperspektive aus möglich ist. Genauer betrachtet lägen nichtauthentische Gefühle in folgenden drei Fällen vor: a) Der Gegenstandsbezug fehlt. b) Die subjektive Bewertung des Sachverhalts ist der objektiven realen Situation nicht angemessen. c) Es besteht ein Widerspruch zwischen dem kognitiven Urteil über den Gegenstand und dem gegenstandsbezogenen Gefühl. Ad a: Alltägliche Beispiele für inauthentische Gefühle ohne Gegenstandsbezug sind „Phantasiegefühle“ oder „fingierte Gefühle“, denen keine Wahrnehmung und keine Erinnerung an eine Wahrnehmung, sondern eine Fiktion oder Einbildung zugrunde liegt. So erleben wir beim Anschauen eines Films eine Fülle verschiedenster Gefühle, die nicht auf reale Sachverhalte und Widerfahrnisse gerichtet sind und in diesem Sinn keine „realen Gefühle“ darstellen (vgl. Bauer u. a., 36). In einem noch stärkeren Maße irrational und unauthentisch scheinen diejenigen Gefühle zu sein, die ohne Bezug zu fiktiven Ereignissen allein durch technische Stimulation oder Psychopharmaka induziert werden. Das oben bereits erwähnte „Argument der Abtrennbarkeit“ wendet sich gegen solche biotechnologische Verfahren genau aus diesem Grund, weil die Betroffenen dann positive Gefühle völlig losgelöst von allen Erfahrungen in der Außenwelt empfinden (vgl. Punkt 1, b). Anhand von Nozicks Gedankenexperiment mit der Erlebnismaschine und anthropologischer Reflexionen wurde dargelegt, dass ein fehlender Realitätsbezug von Gefühlen tatsächlich nicht wünschenswert ist. Ad b: Authentische Gefühle müssen aber nicht nur überhaupt einen Gegenstandsbezug aufweisen, sondern einen angemessenen Gegenstandsbezug. Die Unterscheidung zwischen authentischen und nichtauthentischen Gefühlen deckt sich dann mit derjenigen zwischen vernünftigen und unvernünftigen <?page no="194"?> 194 4 Neuro-Enhancement Gefühlen, da für beide das gleiche Unterscheidungskriterium gilt: Gefühle sind inauthentisch oder irrational, wenn sie auf falschen Situationsdeutungen oder falschen Wertvorstellungen hinsichtlich der intendierten Personen oder Sachverhalte basieren. So spricht man etwa von einer „irrationalen Furcht“ oder einer „unvernünftigen Wut“, wenn sich die Furcht auf eine bloß vermeintliche Gefahr richtet oder sich der Wutentbrannte irrtümlicherweise vom Chef ungerecht behandelt fühlt (vgl. Fenner 2003, 218 f.). Beim Lebensdauerglück als höchst positiver Hintergrundstimmung allen Erlebens und Denkens hinge die Authentizität oder Vernünftigkeit entsprechend von der adäquaten Beurteilung der eigenen Lebenssituation ab. Ein nichtauthentisches, unvernünftiges oder illusionäres Glück wäre ein positives Gestimmtsein, bei dem sich die Betroffenen über die Wirklichkeit ihrer Lage täuschen (Kap. 2.1). Zum einen kann sich jemand über die deskriptiven Tatsachen täuschen und sich glücklich wähnen, obwohl z. B. sein Gesundheitszustand miserabel ist oder er von seiner Ehefrau betrogen wird. Zum anderen kann sich der Irrtum auf persönliche normative Überzeugungen oder kulturelle Wertmaßstäbe beziehen, z. B. die gesellschaftliche Hochschätzung von Leistungsfähigkeit und die Koppelung von Glück an Leistung, Erfolg und Geld. Als Inbegriff für Inauthentizität aufgrund eines unangemessenen Gegenstandsbezugs kann das Glück des Sisyphos gelten, der unter dem Einfluss von Drogen das Hinaufrollen des Steines als genussvoll erlebt. Denn ein solches Tun erschiene ihm als völlig sinnlos, würde er seine Lage bei klarem Verstand rational beurteilen. Prozac-Patienten sind teilweise trotz einer prekären beruflichen oder finanziellen Situation mit ihrer Lage zufrieden, weil sie sich nicht mehr angemessen beunruhigen und sich Sorgen machen können (vgl. Krämer, 210). Umstritten ist allerdings, ob es so etwas wie einen „normalen“ oder „optimalen“ Gehirnzustand für eine adäquate Realitätswahrnehmung gibt (vgl. ebd., 198). Es ließe sich jedoch auf die in der Philosophie beliebte Figur eines „neutralen Beobachters“ zurückgreifen, der über eine umfassende Kenntnis des zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren Wissens über die Wirklichkeit und ihre Gesetze verfügt. Die Angemessenheit des Gegenstandsbezugs bemisst sich dann nicht an hirnphysiologischen Parametern, sondern an der Kohärenz der Urteile im etablierten Wissenssystem und dem rational geprüften Konsens der Wissensgesellschaft. Ad c: Bei einer dritten Variante inauthentischer Gefühle mit intentionalem Gehalt ist die kognitive Beurteilung der realen Situation zwar angemessen, es liegt aber ein Widerspruch zwischen Urteil und Gefühl vor (vgl. Krämer, 207): Obwohl beispielsweise eine Person rational von der Ungefährlichkeit eines <?page no="195"?> 195 4.1 Emotionales Enhancement Hundes überzeugt ist, empfindet sie auf emotionaler Ebene Furcht vor dem Hund. Genau umgekehrt verhielt es sich bei Kramers Patient Philipp, der auf eine traumatische Lebensgeschichte zurückblickte und sich in einer schwierigen aktuellen Situation befand. Obwohl er sich dank der Einnahme der Glückspille „happy“ fühlte, misstraute er seinen positiven Emotionen und empfand sie als unangemessen angesichts seiner tatsächlichen Lebenslage (vgl. Kramer, 314). Ein inauthentisches Glück meint dann die reflexive Erfahrung dieser Diskrepanz zwischen Gefühlsqualität und rationalen Überzeugungen. Reduziert man Glück nicht auf ein kausal erwirktes momentanes subjektives Wohlbefinden, erweisen sich somit die beiden erstgenannten Deutungen von Authentizität als spontanem Gefühlsausdruck (1) oder als „Natürlichkeit“ der Gefühle (2) als unzulänglich. „Authentizität“ ist nichts genetisch Natürliches oder Ursprüngliches und auch kein isolierbarer augenblicklicher Zustand, sondern ein evaluativ-bewertendes und reflexives Gefühl. Authentizität ist in diesem Verständnis gleichsam ein Gefühl zweiter Ordnung oder eine empfundene Bewertung der eigenen Gefühle, die eine Form von Selbst- und Welterkenntnis und eine Bewertung der faktischen Gefühle voraussetzt (vgl. Krämer, 196/ Janßen, 167). Ein authentisches menschliches Glück hängt also nicht direkt von einzelnen isolierten positiven oder negativen Erlebnissen im Leben ab und liegt nicht schon dann vor, wenn sich jemand glücklich fühlt. Es erfordert vielmehr eine reflexive Einstellung zur eigenen Lebenslage und gründet auf einer positiven Einschätzung sowohl der angenehmen als auch der unangenehmen Gefühlsqualitäten hinsichtlich der eigenen Ziele oder des persönlichen Selbstbildes (vgl. Birnbacher 2006, 136 f.). Bei einer nüchternen rationalen Betrachtung kann sich ein positives oder negatives Gestimmtsein als unpassend, grundlos oder einseitig erweisen, sodass eine Korrektur und Adaption an die tatsächliche Lebenslage angezeigt wäre (vgl. Seel 1995, 58 f.). Das Schlucken von Glückspillen mit der Absicht einer Stimmungsaufhellung ist individualethisch problematisch und kann wie bei Philipp zu einem Auseinanderdriften der kognitiven Lagebeurteilung und des emotionalen Wohlbefindens führen, wenn keine intensive Auseinandersetzung mit unangemessenen, teilweise durch frühere emotional belastende Erfahrungen verursachte Wahrnehmungs-, Erlebnis-, und Verhaltensweisen stattfindet (vgl. Kramer, 314). <?page no="196"?> 196 4 Neuro-Enhancement 4) Authentizität als zeitliche Kohärenz Bisweilen wird „Authentizität“ auch in einem zeitlichen Sinn verstanden und mit dem „Ursprünglichen“ oder „Alten“ assoziiert (vgl. Leefmann, 139). Wiederum ist das „Authentische“ in diesem Verständnis positiv konnotiert, wohingegen das „Neue“ oder bloß „Abgeleitete“ als minderwertig gilt. So wurde der Begriff „authentisch“ etymologisch gesehen für die Unterscheidung des älteren Originals von neueren und weniger wertvollen Kopien eingeführt und wird heute häufig für originalgetreue Darstellungen von Phänomenen vergangener Epochen wie „authentischen Oldtimern“ oder „authentischer Barockmusik“ verwendet. Ebenso wird in der Enhancement-Debatte oft suggeriert, dem früheren, zeitlich vorangegangenen Zustand käme eine unangefochtene Autorität und Maßgeblichkeit zu. Dieser klaren normativen Priorisierung des Alten und Früheren lässt sich allerdings entgegenhalten: Weder formal-semantisch noch inhaltlich-qualitativ ist eine solche Auslegung und Bewertung zwingend. So ließe sich in semantischer Hinsicht beispielsweise ebenso gut behaupten, ein Text habe erst nach langwierigen Revisionen und Verbesserungen seine „authentische“ Form erlangt (vgl. ebd., 140). Qualitativ betrachtet muss das „Ideal“ oder das „Optimum“ von Gegenständen oder Personen keineswegs zwangsläufig in der zeitlichen Vergangenheit liegen, sondern lässt sich möglicherweise erst in der Zukunft realisieren. Je nach Authentizitätsmaßstab und zeitlicher Lokalisierung des Optimalzustandes gelangt man dann zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen des emotionalen Enhancements: Während die einen kritisieren, eine Person sei nach einem Neuro-Enhancement nicht mehr authentisch, hat sie für die anderen erst durch die Einnahme wirkliche Authentizität erlangt. Authentizität kann aber noch auf eine andere Weise mit der zeitlichen Dimension in Zusammenhang gebracht werden: Statt von vornherein die zeitlich frühere Verfassung unplausiblerweise für authentischer und besser zu erklären, kann Authentizität auch als zeitliche Kohärenz verstanden werden. Die Frage nach der Kohärenz der Emotionsgeschichte einer Person wird in einigen narrativen Gefühlstheorien thematisiert (vgl. dazu Krämer, 208). Anders als bei der synchronen Kohärenz als Übereinstimmung von innerem Erleben und äußerem Gefühlsausdruck zu einem bestimmten Zeitpunkt wie beim allgemeinen Authentizitäts-Verständnis (1) geht es dann um die diachrone Kohärenz, also um den Zusammenhang der zum Ausdruck gebrachten Gefühle über die Zeit hinweg. Gefährdet emotionales Enhancement zwangsläufig die diachrone Kohärenz der Emotionsgeschichte? <?page no="197"?> 197 4.1 Emotionales Enhancement Eindeutig nichtauthentisch wäre eine Person nach diesem Kriterium dann, wenn sie in vergleichbaren Situationen plötzlich völlig anders empfindet und sich anders verhält. Sowohl von der Ersten-Personals auch der Dritten-Person- Perspektive aus kann es schwerfallen, eine sich plötzlich und radikal verändernde Gefühlslage einer Person als authentisch zu interpretieren. Allerdings handelt es sich dabei eher um ein heuristisches, wenig exaktes Kriterium, da schwerlich jedes nur einmal in einer Lebensgeschichte auftretende Gefühl nichtauthentisch genannt werden kann (vgl. Janßen, 98). Zu denken wäre beispielsweise an die Hochgefühle beim Sich-Verlieben in seine Traumfrau oder bei einem Lottogewinn. In diesen Fällen kommt es zwar zu einem abrupten Bruch in der Emotionsgeschichte, der auf eine emotionale Inkohärenz hindeutet. Jedoch liegt neben der synchronen Authentizität (1) aufgrund der einschneidenden Ereignisse auch ein angemessener Gegenstandsbezug (3) vor, sodass sich das wechselhafte Gefühlsleben bei hinlänglicher Kenntnis der Vorgänge aus der Lebensgeschichte erklären ließe. Gäbe es jedoch eine Glückspille, die von einem Augenblick zum anderen aus einem griesgrämigen einen immer gut gelaunten Menschen machte, fehlte jeder außenbezogene Grund für den Stimmungsumschwung. Sein inkohärentes Erleben und Verhalten ließe sich nicht mehr durch den Bezug zu einschneidenden Vorfällen in einen größeren Zusammenhang setzen. Eine solche massive Inkohärenz kann sowohl in der Innenals auch der Außenperspektive Erfahrungen von Entfremdung und Irritationen bezüglich des Selbstbzw. Fremdverständnisses hervorrufen. Beim oben erwähnten Fall des Prozac-Konsumenten Philipp führte das emotionale Enhancement tatsächlich zu einer Inauthentizität im Sinne diachroner Inkohärenz, die auch aus der Perspektive des Betroffenen als unerträglich empfunden wurde und schließlich zum Abbruch der Medikamenteneinnahme führte (vgl. Kramer, 314). Nach Kramers eigener Einschätzung lag dies daran, dass die Veränderung der Gefühlslage ohne eine intensive, auch durch Fachpersonen begleitete Arbeit an der eigenen Emotionsgeschichte und an seinem Selbstverständnis erfolgte. Wie groß die Gefahr einer Inauthentizität als diachroner Inkohärenz tatsächlich ist, müsste bei den einzelnen Psychopharmaka an Gesunden systematisch empirisch untersucht werden. <?page no="198"?> 198 4 Neuro-Enhancement 5) Authentizität als Autonomie Zu einer positiven Einschätzung des emotionalen Enhancements gelangt man jedoch, wenn man vom Verständnis von Authentizität als Autonomie ausgeht. Gemäß dem Autonomie-Kriterium hat eine Person genau dann authentische Gefühle, wenn sie die Gefühle hat, die sie haben möchte (vgl. Krämer, 196/ Janßen, 131 f.). Es werden also auf einer höheren Stufe oder Ebene die eigenen Gefühle reflektiert und als „richtig“ oder „unpassend“ beurteilt. Genauso wie bei den vorangegangenen Authentizitäts-Modellen des angemessenen Gegenstandsbezugs (3) und der zeitlichen Kohärenz (4) ist Authentizität dann sozusagen ein Gefühl zweiter Ordnung. Emotionales Enhancement ist aus dieser Perspektive höchst willkommen, um sein Gefühlsleben gemäß seinen eigenen Wünschen gestalten zu können. Im Gegensatz zum erwähnten Negativbeispiel scheinen andere Prozac-Patienten von Kramer tatsächlich genau die von ihnen gewünschten Gefühle haben zu können und die unerwünschten nicht mehr haben zu müssen (vgl. Krämer, 196/ Kramer, 52 f.). Zu kritisieren ist am Authentizität-Modell als Autonomie jedoch, dass das genauso komplexe Konzept der „Autonomie“ häufig nicht genauer erläutert und hinterfragt wird. Zumeist scheinen wie in Harry Frankfurts Stufentheorie der Willensfreiheit Gefühle dann als authentisch bezeichnet zu werden, wenn sie dem persönlichen Selbstbild oder den Wünschen zweiter Ordnung, d. h. den längerfristigen Idealen und Lebenszielen einer Person entsprechen. Im Rahmen eines extremen Liberalismus wird dabei jedoch leicht ausgeblendet, dass höherstufige Vorstellungen von „idealen“ Gefühlen und Abneigungen gegen „unerwünschte“ Gefühle stark kulturell geprägt sein können (Kap. 2.3; 3.1). So hängen beispielsweise die Bewertungen von Trauer und die Auffassungen von einer angemessenen Trauerzeit von kulturellen Standards ab und differieren je nach Region und Gesellschaft stark: Während tiefe und länger als ein Jahr dauernde Trauer infolge der zunehmenden Präsenz von Antidepressiva in den USA als rational unangemessen gilt, beträgt die übliche Trauerzeit in ländlichen Gegenden Griechenlands fünf Jahre (vgl. Kramer, 276). Gesellschaftliche Ideale wie die von stetiger guter Laune und Hochmotiviertheit könnten mittels sozialer Indoktrination oder Manipulation Menschen zu emotionalem Enhancement drängen (Kap. 2.3). Die Betroffenen hätten dann sozial erwünschte statt selbst gewünschte Gefühle, sodass sie eher „Aufrichtigkeit“ statt emotionale Authentizität erreichten. Authentizität läge also genaugenommen nur im Fall einer reflektierten Form von Autonomie oder einer reflexiven Autonomie vor, bei der Einflüsse sozialer Erwartungshaltungen erkannt und reflektiert werden (Wehling, 270). <?page no="199"?> 199 4.1 Emotionales Enhancement Fazit direktes emotionales Enhancement Emotionales Enhancement als direkter Weg zum Glück ist deswegen sehr kritisch zu sehen, weil dabei zumeist von einem rein sensorischen hedonistischen Glücksverständnis und einem simplen mechanischen Ursache-Wirkungs- Modell der Gefühle ausgegangen wird. Auch wenn sinnliche Lustmomente und körpernahe Stimmungen wie Heiterkeit zu einem glücklichen Leben dazugehören, würden sich die wenigsten Menschen dauerhaft mit einem biochemisch induzierten, von der Außenwelt völlig abgetrennten innerlichen Wohlbefinden zufrieden geben. Wer beim Auftreten von Schwierigkeiten regelmäßig zu Glückspillen greift, könnte keine Krisenbewältigungskompetenzen erwerben und dessen psychische, soziale oder lebenspraktische Probleme blieben ungelöst. Individualethisch klug wäre der Konsum von Stimmungsaufhellern daher nur punktuell in Fällen, wo z. B. eine Trauer oder Verstimmung im Vergleich zur konkreten Lebenssituation übermäßig lang und intensiv ausfällt und eine konstruktive Auseinandersetzung mit den unliebsamen Veränderungen behindert. Dem komplexen Phänomen menschlichen Glücks können grundsätzlich nur kognitive Gefühlstheorien mit einem intentionalen Modell gerecht werden, weil ein übergreifendes Glück eine reflexive Erfahrung bzw. eine höchst positive Stimmung auf der Grundlage der Beurteilung des ganzen Lebens darstellt. Konzeptuell überzeugender sind entsprechend indirektere Wege zu einem solchen typisch menschlichen Glück als Grundzug eines aktiven Lebens: Wer dank eines ausgeglichenen Serotoninhaushalts oder eines moderat erhöhten Dopaminspiegels von weniger unnötigen Ängsten und Sorgen geplagt wird oder der Welt offener und antriebsfreudiger entgegentreten kann, hat bessere emotionale Voraussetzungen für ein gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis. Anzustreben ist gewissermaßen ein „normaler“, „gesunder“ oder „optimaler“ neurophysiologischer Zustand als Basis für eine adäquate Realitätswahrnehmung und vernünftige Gefühle. Emotionales Enhancement wäre dann in erster Linie ein kompensatorisches Enhancement. Das vieldeutige individualethische Ideal emotionaler Authentizität entpuppte sich als reflexives Gefühl oder Gefühl zweiter Ordnung, bei dem auf einer reflexiven Ebene die Übereinstimmung der faktischen Gefühle mit der Beurteilung der eigenen Lebenssituation festgestellt wird. Letztlich lassen sich also bezüglich des emotionalen Enhancements lediglich individualethische Empfehlungen formulieren und formale Kriterien wie „angemessener Gegenstandsbezug“, „Kohärenz“ oder „Autonomie“ angeben, die in der jeweiligen konkreten biographischen Situation der Selbstoptimierer <?page no="200"?> 200 4 Neuro-Enhancement angewandt werden müssen und keine Ableitung allgemeingültiger moralischer Verbote oder Gebote erlauben (vgl. Ach u. a., 48). 4.1.3 Gefährdung der „Authentizität der Persönlichkeit“ Nicht alle Selbstoptimierer erhoffen sich von Glückspillen wie Prozac, auf dem direkten Weg einer chemisch induzierten Stimmungsaufhellung glücklich zu werden. Der Autor des Bestsellers Glück auf Rezept hat Prozac gegenüber den Kritikern immer wieder damit verteidigt, dass dessen Wirkung mit „Stimmungsaufhellung“ völlig unzureichend beschrieben sei (vgl. 285 f.). Kramer macht dieses Missverständnis für das allgemeine Misstrauen gegenüber der kosmetischen Pharmakologie und für viele ungerechtfertigte Vorwürfe wie das „Argument der Abtrennbarkeit“ verantwortlich. Die zentrale Funktion von Prozac bestehe aber nicht wie diejenige von Opiaten oder Amphetaminen in der Verursachung von hedonistischen Glückszuständen, sondern in der positiven Veränderung von Persönlichkeitseigenschaften im Sinne der persönlichen Idealvorstellungen. Er berichtet, wie das Anschlagen der Antidepressiva bei einigen seiner Patienten quasi über Nacht zu einem völligen Wechsel des Selbstbildes führte und sie ihre „wirkliche Persönlichkeit“ und damit Glück und Erfüllung fanden (vgl. 24; 168; 228). Da sich in den 1990er Jahren dank des Konsums v. a. Hausfrauen und Mütter von „typisch weiblichen“ Schwächen wie Schüchternheit und Introvertiertheit zu befreien suchten und mehr Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit in sozialen Kontakten entwickelten, wurde Prozac zu einer „feministischen Droge“ und einem „Symbol des Feminismus“ emporstilisiert (ebd., 61/ Fukuyama, 69). Bei einem „off label“-Gebrauch von Psychopharmaka durch Gesunde dürfte ein emotionales Enhancement meist auch ein Persönlichkeitsenhancement sein, d. h. eine gezielte Manipulation von Persönlichkeitseigenschaften zur Steigerung von Glück und Lebensqualität. Nachweislich steht das menschliche Glück in Abhängigkeit von günstigen oder abträglichen Persönlichkeitseigenschaften und den damit verbundenen unterschiedlichen Lebensstilen. In psychologischen Längsschnittuntersuchungen wurde mehrfach eine große Stabilität des individuellen Lebensglücks festgestellt, auch wo sich die Lebensumstände dramatisch veränderten (vgl. Mayring, 84; 94). Empirisch belegt ist insbesondere die Korrelation von Glück mit den beiden grundlegenden Persönlichkeitsdimensionen „Extraversion/ Introversion“ und „(Nicht-) Neurotizismus“ (vgl. ebd., 85): Zum einen führt die bei Kramers Patienten nach der Einnahme von Prozac festgestellte erhöhte Extraversion mit mehr <?page no="201"?> 201 4.1 Emotionales Enhancement Soziabilität (d. h. Geselligkeit und Umgänglichkeit), Vitalität und sozialer Eingebundenheit zu mehr Freude und Glück im Leben. Glücksförderlich ist zum anderen auch der durch Prozac bewirkte geringere Neurotizismus, der einen niedrigeren Grad an Ängstlichkeit und Feindseligkeit sowie an Impulsivität und psychosomatischen Beschwerden bedeutet. Im Unterschied zum oben erörterten „direkten Enhancement“ (4.1.2) liesse sich von einem „indirekten“ emotionalen Enhancement sprechen: Beim indirekten emotionalen Enhancement soll Glück nicht unmittelbar über eine Steigerung des innerlichen Wohlbefindens erreicht werden, sondern indirekt über die Beeinflussung anderer glücksrelevanter Faktoren. Glück wird dann nicht zwangsläufig auf ein subjektives Empfindungsglück oder Wohlbefinden im Sinne eines rein quantitativen sensorischen Hedonismus reduziert, das man auf physiologische oder biochemische Weise kausal zu verursachen und herzustellen versucht. Vielmehr kann es sich auch um ein objektives Erfüllungsglück oder Wohlergehen handeln, mit dem sich Wunscherfüllungstheorien und Objektive-Liste Theorien des Glücks oder guten Lebens befassen (Kap.-2.1). Tatsächlich scheinen die meisten Enhancement-Befürworter von einer Wunsch- oder Zieltheorie des Glücks auszugehen, weil sich durch indirektes emotionales Enhancement persönliche Wünsche nach bestimmten Charaktereigenschaften oder damit in Zusammenhang stehenden sozialen Rollen oder beruflichen Positionen besser oder schneller erfüllen lassen (vgl. Bayertz u. a., 22 f.). Dieses Glück setzt durchaus eine aktive Gestaltung des Lebens in der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der Um- und Mitwelt voraus. Obgleich dieses Glücksverständnis theoretisch-konzeptuell über weit größere Überzeugungskraft verfügt als das hedonistische und nicht der mannigfaltigen Kritik am direkten emotionalen Enhancement ausgesetzt ist, ergeben sich beim indirekten emotionalen Enhancement neue Bedenken: Mit seinen Berichten über enorme Persönlichkeitsveränderungen hat Kramer eine heftige Kontroverse über die Frage nach der persönlichen Identität und der Authentizität dieser Personen entfacht. Genauso wie in der Debatte über „emotionale Authentizität“ wird auch in derjenigen um die Authentizität der Persönlichkeit vorausgesetzt, dass „Authentizität“ ein hoher Wert darstellt (vgl. Schermer, 1184). Was genau aber unter „Authentizität“, „Identität“, „Selbst“ und „Persönlichkeit“ genau zu verstehen ist, wird häufig nicht genauer erläutert oder unterschiedlich bestimmt. Könnten Menschen dank immer spezifischer wirkender Neuroenhancer endlich „sich selbst“ und eine authentischere Persönlichkeit werden, wie Kramer prognostiziert (vgl. 270)? Oder ist den Gegnern des emotionalen Enhancements <?page no="202"?> 202 4 Neuro-Enhancement wie Carl Elliott und Leon Kass Recht zu geben, dass medikamentös induzierte Persönlichkeitsveränderungen inauthentisch sind, zur Selbstentfremdung oder zum Verlust der „wahren“ Identität führen (vgl. Elliott, 185 f./ Kass u. a., 293 f.)? Identität und Persönlichkeit Die für Menschen typische personale Identität wird meist aufgegliedert in eine „numerische“ und eine „persönliche Identität“ (vgl. DeGrazia, 36 f./ Leefmann, 84 ff./ Kipke 2011, 143): Numerische Identität meint die diachrone Identität oder Persistenz einer Person, d. h. ihre Dauerhaftigkeit oder Beständigkeit zu verschiedenen Zeitpunkten. Welches genau die Kriterien für das Feststellen einer solchen „Selbigkeit“ über die Zeit hinweg sein sollen, darüber gibt es allerdings verschiedene Theorien. Ausschlaggebend kann z. B. das Fortbestehen eines „Subjekts der Erfahrung“, die physische Gleichartigkeit oder die psychische Kontinuität sein, welche durch das Erinnerungsvermögen oder durch stabile Wünsche und Überzeugungen gewährleistet wird. Bezüglich dieser verschiedenen physischen oder psychischen Beschreibungskategorien ist durchaus nicht immer klar, bei welchem Ausmass an Veränderungen von einem Identitätsverlust bzw. einem Identitätswechsel gesprochen werden muss (vgl. Galert, 172). Es ist zwar eher unwahrscheinlich, aber durchaus möglich, dass eine Person durch radikale Enhancement-Maßnahmen wie eine komplette schönheitschirurgische Umgestaltung des Körpers oder eine völlige Veränderung der Stimmungslage und des Charakters von der Beobachterperspektive aus nicht mehr als dieselbe identifiziert werden kann. Auch geht die Persistenz klarerweise bei einer Beeinflussung des Gedächtnisses mittels Neuroenhancern verloren, wenn das Subjekt der Erfahrung wechselt und sich die Person danach nicht mehr an die vormalige Identität zu erinnern vermag (vgl. Kass u. a., 293). Ein solcher Identitätswechsel wäre nicht nur für das Selbstverständnis einer Person verhängnisvoll, sondern auch für das Unternehmen der Selbstoptimierung: Wenn ein Mensch infolge eines emotionalen Enhancements nicht mehr die gleiche Person wäre wie vorher, würde dies alle individualethische Bemühungen um Selbstverbesserung ad absurdum führen (vgl. Leefmann, 85). Denn die Veränderungen gingen dann gar nicht auf das Konto der gleichen Person, sondern auf das einer anderen. Es handelte sich dann statt um eine Selbstoptimierung strenggenommen um eine Selbstvernichtung. Aus einer moralischen und rechtlichen Perspektive wäre eine solche Selbstauslöschung inakzeptabel, weil die Person nach dem Eingriff nicht mehr für die Taten davor verantwortlich gemacht werden könnte. Es dürfte <?page no="203"?> 203 4.1 Emotionales Enhancement sich leicht ein gesellschaftlicher Konsens zur normativen Regulierung finden lassen, die den Einsatz von Neuroenhancern mit der Folge eines Verlusts der numerischen Identität verbietet (vgl. ebd./ Galert, 171; 181). Im Unterschied zur diachronen numerischen Identität versteht man unter der persönlichen Identität alles, was ein bestimmtes Individuum zu einem bestimmten Individuum macht (vgl. Kipke 2011, 143). Während bezüglich der numerischen Identität nur eine Übereinstimmung oder eine Nichtübereinstimmung möglich ist, lässt die persönliche Identität eine unendliche Vielfalt an individuellen Ausgestaltungen zu. Den Kern der persönlichen Identität bilden die wesentlichen Persönlichkeitseigenschaften eines Individuums, die es als einen unverwechselbaren Menschen kennzeichnen und unter „Charakter“ oder „Persönlichkeit“ zusammengefasst werden: Charakter oder Persönlichkeit stehen für ein einzigartiges individuelles Muster von relativ stabilen angeborenen Anlagen und Eigenschaften und erworbenen Idealen, Zielen und Selbstbildern, die das Handeln und die Lebensweise eines Menschen prägen. Dabei ist es typisch für menschliche Persönlichkeiten, nicht nur über charakterliche Eigenheiten und individuelle Biographien zu verfügen, sondern sich zu diesen verhalten zu können: Ob bestimmte Charaktermerkmale oder Eigenschaften eine Persönlichkeit bestimmen, hängt davon ab, ob sie sich mit diesen identifiziert (vgl. De- Grazia, 256/ Galert, 162). Bezeichnend für die persönliche Identität ist also eine reflexive Struktur und ein persönliches Selbstverhältnis, das eine deskriptive und evaluativ-normative Dimension aufweist: Deskriptiv ist das Bild, das eine Person auf dem Weg der Selbsterkenntnis von sich und ihrem Leben erworben hat. Initialzündung für eine Selbstoptimierung ist aber das normative Selbstbild, das sowohl eine umfassende Interpretation als auch eine Bewertung aller körperlicher, psychischer und sozialer Gegebenheiten des eigenen Lebens enthält (Kap. 1.1.2). Denn als ein prospektiver Selbstentwurf projiziert er zugleich ein Bild davon in die Zukunft, was jemand aus all diesen Bedingungen machen will (vgl. Fenner 2007, 98/ Kipke 2011, 61). Solange gewünschte Persönlichkeitsveränderungen einen Menschen nicht in eine Identitätskrise stürzen und er plötzlich nicht mehr weiss, wer er ist, sind solche im Leben ständig stattfindende Weiterentwicklungen der Persönlichkeit ethisch unproblematisch und je nach Zielsetzung sogar begrüßenswert. Das Persönlichkeitsenhancement durch Prozac weckt jedoch bei vielen die Befürchtung, dass infolge einer medikamentösen Veränderung die „Authentizität“ des „Selbst“ oder der Persönlichkeit verloren geht. Zur Prüfung dieser These sollen im Folgenden die wichtigsten Modelle der Authentizität einer Persönlichkeit kritisch erörtert werden. <?page no="204"?> 204 4 Neuro-Enhancement 1) Authentizität als Übereinstimmung von innerem „Selbst“ und äußerer Darstellung In einem ganz allgemeinen und elementaren Verständnis meint Authentizität wie gesehen die Übereinstimmung von Innenleben und äußerem Ausdruck oder Erscheinungsbild einer Persönlichkeit (4.1.2, 1). Bezogen auf die persönliche Identität oder Persönlichkeit eines Menschen ließe sich noch ganz unspezifisch von einer „Übereinstimmung mit sich selbst“ sprechen. Etwas konkreter handelt es sich um die Übereinstimmung des inneren Selbstkonzeptes, des eigenen Selbstverständnisses oder „eigentlichen Selbst“ mit der zum Ausdruck kommenden, von außen beschreibbaren Persönlichkeit (vgl. Janßen, 10; 35/ Leefmann, 89). Unter dem äußerst vielfältigen Begriff des Selbst wird in diesem Kontext meist sozusagen der innere Teil der Persönlichkeit oder des Charakters verstanden, der entweder nur die angeborenen physischen und psychische Dispositionen und Eigenschaften oder auch die reflexiven Anteile und normativen Selbstbilder eines Menschen umfasst. Als „authentisch“ gelten Personen, bei denen Sein und Schein nicht auseinanderfallen, sondern die in ihren Handlungen und Äusserungen „echt“ und „ganz sich selbst“ sind (vgl. Guthmüller, 385). Dabei schwingt mit, dass sich jemand nicht vom gesellschaftlich Gewünschten und Opportunen beeinflussen lässt, sondern sich nur am eigenen „Inneren“ orientiert. Besonders deutlich wird dies etwa bei der Vorstellung einer präreflexiven Authentizität als eines spontanen und unmittelbaren Ausdrucks der Gefühle und Gedanken einer Person (vgl. Beck 2013, 4/ Janßen, 160 ff.; 175). Diese Form eines unverstellten und intuitiven Agierens und mit sich selbst und der Welt „Im Einklang“-Seins trifft man v. a. bei Kindern an, wohingegen sie bei Erwachsenen auf vertrauensvolle Situationen im privaten Bereich beschränkt sein dürfte. Ebenso wenig wie Kinder verfügen aber durchgängig präreflexiv-authentische Erwachsene über eine Persönlichkeit im oben beschriebenen Sinn. Denn ein Authentizitätsstreben nach ungehemmter Selbst-Enthüllung unter Zurückweisung stabilisierender Selbst- und Fremdbilder führte zu einem Selbstverlust, weil eine „Persönlichkeit“ ein reflexives Selbstverhältnis und einen prospektiven Selbstentwurf voraussetzt (vgl. Fenner 2003, 470 f.). Während das „präreflexive“ Authentizitätsverständnis entsprechend keine Rolle in der Debatte um das Persönlichkeitsenhancement spielt, bildet das allgemeine Verständnis die Basis für die weiteren nachfolgenden Konkretisierungen. <?page no="205"?> 205 4.1 Emotionales Enhancement 2) Konservativ-essentialistisches Authentizitätsmodell: „Selbst“-Entdeckung Das konservativ-essentialistische Authentizitätsmodell geht von einem statischen individuellen Wesen oder inneren wahren Wesenskern aus, den es durch Introspektion lediglich zu entdecken gilt (vgl. dazu Janßen, 102/ Kipke 2011, 157 f.): Authentisch ist, wer seinem „wahren“ oder „eigentlichen Selbst“ treu bleibt und seine grundlegenden Charaktereigenschaften und Überzeugungen konserviert oder kultiviert. Von einem solchen Authentizitätsverständnis gehen etwa die Bioethiker um Leon Kass aus, wenn sie in ihrem Bericht Beyond Therapy von einer zu bewahrenden „realen Identität“ mit einem bestimmten Körper, persönlichen Erinnerungen, Leistungen und Potentialen sprechen (vgl. Kass u. a., 293 f.). Sie befürchten daher, dass das Streben nach Selbstoptimierung insbesondere durch Neuroenhancement uns immer weiter wegführt von dem, was wir „wirklich sind“ und in eine Selbst-Entfremdung mündet. Als Hauptvertreter dieses biokonservativen Modells gilt zwar in der Enhancement-Debatte meist Carl Elliott, obwohl diese Zuordnung nur bedingt richtig ist (vgl. Schermer, 1184/ Wagner, 78 f./ Leefmann, 269 f.): Seine Rede von einem einzigartigen „authentischen Selbst“ und einer „wahren Persönlichkeit“ scheint zwar einen vorgegebenen Persönlichkeitskern vorauszusetzen. Es geht ihm aber weniger um eine bioethische als vielmehr um eine gesellschaftliche Kritik an einer modernen individualistischen Kultur der Selbstverwirklichung, die keine festen religiösen oder ethischen Orientierungsmaßstäbe mehr bietet (vgl. Elliott, 182). Grundsätzlich kann ein solcher Essentialismus entweder vor einem religiös-metaphysischen oder medizinisch-biologischen Hintergrund vertreten werden: Aus religiöser Perspektive ist das Leben und das Selbst etwas, das einen von Gott geschenkt wurde und das es anzunehmen und in den eng beschränkten Konturen auszufüllen gilt (vgl. dazu ebd., 181). Daraus ergibt sich ein Konservatismus, der jegliche Persönlichkeitsveränderungen als Authentizitätsminderungen ablehnt und gezieltes Persönlichkeitsenhancement verurteilt. In einer biologischen Optik von Biopsychiatern wie Kramer verdankt sich ein „stabiles und biologisch angelegtes Selbst“ weniger einer genetischen Determinierung von Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensmustern, als dem biochemischen Transmitterhaushalt im Gehirn (vgl. Kramer, 12 f.; 19; 236 f.). Ein pharmakologisches Persönlichkeitsenhancement diente dann zumindest in all jenen Fällen der Selbstwerdung, in denen die aktuellen physischen und psychischen Eigenschaften „Verunreinigungen“ des wahren Wesens infolge unglücklicher Lebensumstände darstellen. Persönlichkeitsveränderungen können also im essentialistischen Authentizitätsmodell <?page no="206"?> 206 4 Neuro-Enhancement durchaus begrüßt werden, sofern sie im Sinne einer „Entelechie“ oder „Vollendung“ der Realisierung angeborener, aber durch äußere Einflüsse verfälschter Potentiale und Charakteranlagen dienen (vgl. Janßen, 104). Gegen dieses zweite Authentizitätsverständnis ist einzuwenden, dass die Vorstellung eines stabilen vorgegebenen Selbst sowohl der psychischen Realität menschlicher Personen als auch ihrem praktischen Selbstverständnis widerspricht (vgl. Kipke 2011, 239/ Wagner, 78). Die Persönlichkeit der Menschen verändert sich im Laufe eines Lebens teils unfreiwillig durch Widerfahrnisse, teils ganz gezielt nach Wunsch, ohne dass wir sie als inauthentisches erleben. Anders als es das Authentizitäts-Modell der Selbstentdeckung suggeriert ist es gerade typisch für Menschen, zu den vorhandenen physischen und psychischen Dispositionen wertend Stellung beziehen zu können. Dabei lässt sich kein bestimmter Persönlichkeitsbereich definieren, der unbedingt geschützt werden müsste (vgl. Galert, 181). Notwendig ist allerdings eine gewisse zeitliche Stabilität oder diachrone Kohärenz, um seine Identität zu wahren (vgl. Kipke 2011, 239/ oben, 2d). Nicht allmähliche Veränderungen des Charakters oder der Persönlichkeit, sondern nur dramatische und abrupte Wechsel bedrohen die persönliche Identität. Methodische Probleme ergeben sich zudem a) hinsichtlich der Art und Beschaffenheit des „wahren“ Selbst und b) des erkenntnistheoretischen Zugangs zu diesem. Ad a: Beim religiösen Verständnis wird von metaphysischen Prämissen ausgegangen, die von vielen Menschen in der Moderne nicht mehr geteilt werden. Hinsichtlich der biochemischen Grundlage menschlicher Charakterzüge erwecken Kramers Patientenberichte den Eindruck, das vermeintliche Hervortreten des „wahren Selbst“ und die damit verbundenen Authentizitätserfahrungen stellten nichts anderes dar als den Ausgleich eines zu niedrigen Serotoninspiegels bzw. die Genesung von psychischen Störungen (vgl. Kramer, 10 f.; 235 f.). Ad b: Die grundlegende erkenntnistheoretische Schwierigkeit beim konservativ-essentialistischen Authentizitätsmodell betrifft die Erkennbarkeit des vorgegebenen Wesenskerns. Sowohl in der Philosophie als auch in der modernen Kognitionspsychologie wird die Introspektion als Methode der nach innen gerichteten Selbstbeobachtung aufgrund ihrer mangelnden Objektivität weitgehend abgelehnt (vgl. Janßen, 90 ff./ Hillig, 190). Da auch religiöse Erfahrungen zur Erkenntnis einer vorgegebenen Ordnung höchst zweifelhaft sind und nur von religiösen Menschen anerkannt werden, fehlt ein vermeintlich objektiver Authentizitätsmaßstab. Kritiker bezeichnen die Annahme von erkennbaren und unvermittelt zugänglichen externen Bewertungsmaßstäben daher als grundlegendes „essentialistisches Missverständnis“ (Leefmann, 22). <?page no="207"?> 207 4.1 Emotionales Enhancement 3) Identifikatorisch-reflexives Authentizitätsmodell: „Selbst“-Erschaffung Während beim konservativ-essentialistischen Authentizitätsverständnis die Dankbarkeit und Treue gegenüber einem statischen, vorgegebenen „Selbst“ im Vordergrund steht, hebt ein identifikatorisch-reflexives Authentizitätsmodell gerade die Fähigkeit zur distanzierten Selbstreflexion und zur spontanen, voraussetzungslosen kreativen Selbstgestaltung hervor. In der Enhancement- Debatte werden die beiden konträren Authentizitäts-Modelle gerne in der Gegenüberstellung der paradigmatischen Positionen von Carl Elliott und David DeGrazia erläutert (vgl. Schermer, 114 f./ Leefmann, 344). Im zweiten Modell wird Authentizität statt durch Selbst-Entdeckung durch Selbst-Erschaffung („self-creation“) erreicht, ohne dass es hinter den bewussten Wünschen und Selbstbildern einer Person einen verborgenen und zu schützenden objektiven Personenkern gäbe. Als authentisch gilt, wer genau die Charaktereigenschaften hat, die er haben möchte und mit denen er sich identifiziert (vgl. Beck 2013, 4 f./ DeGrazia, 37/ Kipke 2011, 158). Ausschlaggebendes Kriterium für die Authentizität einer Persönlichkeit ist ihre Autonomie oder Willensfreiheit als mentale Fähigkeit, auf die vorhandenen Anlagen, Überzeugungen und Präferenzen reflexiv und wertend Stellung zu beziehen und allfällige Persönlichkeitsveränderungen einleiten zu können (Kap. 2.3). Zur Unterscheidung von autonomen und nichtautonomen Persönlichkeitsveränderungen wird häufig auf Frankfurts Theorie der Willensfreiheit rekurriert (vgl. Janßen, 127/ Gesang, 87 f./ Kipke 2011, 166 f.): Authentische Persönlichkeiten lassen sich ihr Selbstbild oder ihre höherstufigen Wünsche zweiter Ordnung nicht von Gott, der Biologie oder der Gesellschaft vorgeben. Eine Extremposition stellt das von Nietzsche, Foucault und Sartre vertretene dezisionistisch-performative Authentizitätsmodell dar, demzufolge die Menschen in einem radikalen Sinn frei sind und sich ganz unabhängig von irgendwelchen Vorgaben selbst erschaffen können (vgl. dazu Janßen, 28; 63 ff./ DeGrazia, 254). Das Streben nach Authentizität als Streben danach, wer wir sein wollen, legitimiert jede Art von Enhancement, sofern eine Entscheidung für eine Persönlichkeitsveränderung nur hinreichend aufgeklärt und autonom gefällt wurde. Pharmakologisches Persönlichkeitsenhancement kann also aus dieser Perspektive eine Form authentischer Selbstgestaltung sein und stellt nicht notwendig eine Bedrohung der numerischen oder personalen Identität dar (vgl. DeGanzia, 38). Individualethisch betrachtet spricht für dieses zweite Authentizitätsmodell, dass in vielen persönlichkeitspsychologischen Studien die große Bedeutung der Übereinstimmung mit persönlich ausgewählten <?page no="208"?> 208 4 Neuro-Enhancement Lebenszielen und Selbstkonzepten für menschliches Glück herausgestellt wird (vgl. Bowi, 8/ Mayring, 95/ Csikszentmihalyi, 280). Kritisch ist jedoch gegen das dritte identifikatorisch-reflexive Authentizitätsverständnis einzuwenden, dass zumindest die dezisionistische Vorstellung von einem Prozess einer fortwährenden, radikal freien Selbsterschaffung wie bei Sartre genauso unrealistisch ist wie die essentialistische Annahme eines statischen, vorgegebenen Selbst. Die persönliche Identität eines Menschen, sein Charakter oder seine Persönlichkeit sind weder völlig determiniert noch radikal neu gestaltbar, sondern in einem gewissen Ausmaß formbar (vgl. Runkel, 280 f./ DeGrazia, 37). Neben den von DeGrazia aufgelisteten determinierenden Faktoren wie genetisch bestimmter Lebenszyklus, persönliche genetische Ausstattung oder frühkindliche Prägung wird beim identifikatorisch-reflexiven Authentizitätsmodell v. a. die soziale Dimension der Selbstwahl unterschätzt. Denn bereits die Genese individueller Selbstbilder ist keineswegs eine solistische „creatio ex nihilo“, sondern wird neben persönlichen Erfahrungen und Wertvorstellungen wesentlich durch gesellschaftliche Persönlichkeitsideale und Bewertungsmaßstäbe mitkonstituiert (Kap. 1.1). Damit sich die Persönlichkeitseigenschaften stabilisieren können, sind die Individuen zudem grundsätzlich auf soziale Interaktionen und positive Rückmeldungen durch das soziale Umfeld angewiesen (vgl. Janßen, 116 f./ Runkel, 64 ff.). Dabei besteht aber die Gefahr, dass gesellschaftliche Persönlichkeitsideale genauso wie etwa Schönheitsideale mit großem soziokulturellem Anpassungsdruck verbunden sind und unreflektiert als Wünsche zweiter Ordnung übernommen werden. Die Autonomie der Betroffenen wäre dann eingeschränkt und ihre Authentizität möglicherweise nicht mehr in hinlänglichem Maß vorhanden, auch wenn sie genauso wie die Willensfreiheit immer nur graduell vorkommt. Ganz konkret sind in westlichen Gesellschaften unbeschwerte, extravertierte und leistungsfähige Persönlichkeitsstile besonders erwünscht, wohingegen Charakterdispositionen wie Traurigkeit, Beharrlichkeit und Verantwortungsbewusstsein als verbesserungswürdig gelten (vgl. Schmidt-Felzmann, 153 f./ Kramer, 291 f.). Von Kritikern des Persönlichkeitsenhancements wird daher eine soziale Normierung mit dem Ziel sozialkonformer „Designer-Persönlichkeiten“ befürchtet, die auf einer problematischen „Ethik der Authentizität“ als Selbstverwirklichung basiere (vgl. DeGrazia, 38 f./ Elliott, 182). Ein individualistisches Missverständnis und ein konzeptueller Fehler dieses Modells wäre es, wenn einfach von der Autonomie der Individuen ausgegangen würde, ohne einen kritischen gesellschaftlichen Diskurs über sozial erwünschte Persönlichkeitseigenschaften einzufordern. <?page no="209"?> 209 4.1 Emotionales Enhancement 4) Kriteriologisches Authentizitäts-Modell: qualifiziertes Selbstverhältnis Weder das konservativ-essentialistische Authentizitäts-Modell (2) noch das identifikatorisch-reflexive (3) können die „authentische“ Übereinstimmung mit sich selbst angemessen beschreiben. Die Polarisierungen von Selbstentdeckung versus Selbsterschaffung sowie Dankbarkeit versus Kreativität sind ebenso irreführend wie das Pochen auf vorgegebenen objektiven oder rein internalistischen selbstgewählten Beurteilungsmaßstäben (vgl. Kipke 2011, 241/ Leefmann, 235 ff.). Obgleich das „Selbst“ zumindest für alle nichtreligiösen Menschen nichts objektiv Gegebenes mit einem festen Platz in einer kosmischen oder göttlichen Ordnung sein kann, muss doch die externe gesellschaftliche Dimension von Persönlichkeitskonzepten oder Selbstbildern gebührend berücksichtigt werden. Letztlich scheint sich ein „Selbst“ oder eine Persönlichkeit in einem komplexen Aushandlungsprozess zwischen subjektiver Selbstbezugnahme und gesellschaftlichen Zuschreibungen zu konstituieren (vgl. Leefmann, 164). Das fragliche „wahre Selbst“ als möglicher Bezugspunkt für Authentizität wäre dann weder etwas Vorgefundenes noch selbst Erschaffenes, sondern am ehesten ein zeitlich relativ stabiles, selbstgewähltes normatives Selbstkonzept. Dieses setzt sich zusammen aus all den von einer Gesellschaft zur Verfügung gestellten kulturell geprägten Deutungs- und Rollenmustern, Methoden und Idealen der Selbstgestaltung, mit denen sich jemand identifizieren kann (vgl. ebd., 239). Ein rein internalistischer Authentizitäts-Maßstab wie beim identifikatorischreflexiven Modell greift vor diesem Hintergrund zu kurz, weil der Einzelne möglicherweise unaufgeklärte und irrationale oder manipulativ entstandene Wünsche verfolgt. Um dies durchschauen zu können, braucht es aber die Kritik durch Mitmenschen und eine bewusste Auseinandersetzung mit den herrschenden gesellschaftlichen Idealen. Als drittes, alternatives Authentizitäts-Modell Zwischen Autonomie und Natürlichkeit (2017) schlägt John Leefmann daher in seiner gleichnamigen Monographie eine intersubjektiv abgesicherte Form des Selbstverstehens und der Selbstgestaltung vor (vgl. ebd., 341; 345): Authentizität ist dann eine besondere Art oder Qualität eines persönlichen Selbstverhältnisses, das bestimmten Kriterien wie der Offenheit gegenüber der Kritik durch andere, umfassender Kohärenz der Wünsche, Überzeugungen und Einstellungen einer Person, der Identifikation mit den persönlichen Zielen und Idealen und der Prüfung ihrer Genese auf mögliche manipulative Einflüsse hin genügen muss (vgl. 249; 245). Authentizität wird dann nicht als subjektive Eigenschaft einer Person oder Annäherung an irgendein „wahres Selbst“ defi- <?page no="210"?> 210 4 Neuro-Enhancement niert, sondern vielmehr als Fähigkeit zur Ausbildung eines selbstbestimmten und reflektierten Selbstverhältnisses. Nach Leefmann wird die Frage nach der ethischen Zulässigkeit von Neuroenhancement zumeist falsch gestellt, wenn sie als Frage nach der Authentizität der Konsumenten verstanden wird (vgl. 261; 264 f.): Erwartet wird dann eine klare Ja-Nein-Antwort entsprechend dem einen oder anderen Authentizitäts-Modell, je nachdem ob sich jemand durch die Persönlichkeitsveränderung mehr oder weniger von seinem „Selbst“ entfernt. Zu fragen sei stattdessen nach der Steigerung oder Verringerung derjenigen Fähigkeiten, die für die Ausbildung eines authentischen Selbstverhältnisses erforderlich sind. Dazu gehören beispielsweise die Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und zur Identifikation mit seinen Idealen und Persönlichkeitseigenschaften. Auf den ersten Blick erscheint ein Persönlichkeits-Enhancement in dieser Hinsicht als unproblematisch, weil jemand diese Maßnahmen zur Selbstveränderung genauso selbst- oder fremdbestimmt vornehmen kann wie andere auch (vgl. 289 ff.). Allenfalls könnte dadurch die generelle Fähigkeit beeinträchtigt werden, sich von seinen Wünschen zu distanzieren, sie zu überdenken und sich entweder mit ihnen zu identifizieren oder sie abzulehnen. Nach Roland Kipkes Einwand gegen ein Persönlichkeitsenhancement besteht das Grundproblem darin, dass solche Veränderungen viel zu schnell vonstattengehen (vgl. Kipke 2011, 242-247). Da das Schlucken von Pillen uns nicht zur Reflexion und ständigen Überprüfung unserer Ziele und Ideale zwinge, könne ein Persönlichkeitsenhancement leicht zu Selbsttäuschungen, Entfremdungserfahrungen und Unglück führen. Dagegen liesse sich einwenden, dass bei den häufigsten Veränderungswünschen nach weniger Schüchternheit und mehr Selbstsicherheit die Täuschungsgefahr gering sein dürfte. Leefmann weist das Argument deswegen als sehr schwach zurück, weil die pure Möglichkeit eines Neuroenhancements keineswegs zum Einstellen des Nachdenkens über die Ziele der Verbesserungen vor und nach der Einnahme auffordert oder notwendig verleiten muss (vgl. 291). Dasselbe gilt für die zeitliche Kohärenz der Emotionsgeschichte und der persönlichen Identität, die durch die Schnelligkeit bedroht werden könnte. Auch hier hängt das Gelingen des Persönlichkeitsenhancements offenkundig von der Radikalität der Veränderung und der Art der Einbettung in die reflexiven und lebenspraktischen Bemühungen um ein kohärentes Selbstkonzept und ein gutes Leben ab. Auch wenn gewisse für ein authentisches Selbstverhältnis wichtige Bedingungen durch Neuroenhancement nicht direkt verbessert werden, müssen sie dadurch umgekehrt eben auch nicht zwangsläufig verschlechtert werden (vgl. ebd., 346/ Kap. 4.4, Argument 6). <?page no="211"?> 211 4.1 Emotionales Enhancement Fazit: Persönlichkeitsenhancement als indirekter Weg zum Glück Während der direkte Weg zum Glück ein von den meisten Kritikern abgelehntes hedonistisches Glücksverständnis voraussetzt, ist der indirekte Weg zum Glück über Persönlichkeitsenhancement vereinbar mit den konzeptuell überzeugenderen Wunsch- und Gütertheorien des guten Lebens: Wer dank emotionalen Enhancements glücksrelevante Persönlichkeitseigenschaften wie Selbstbewusstsein, Kontaktfreudigkeit oder Gelassenheit optimiert, hat bessere Chancen auf einen kompetenten Umgang mit der Um- und Mitwelt und damit ein gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis. Die Frage nach der Authentizität einer Persönlichkeit als Übereinstimmung eines inneren „Selbst“ mit der äußeren Darstellung erwies sich insgesamt als wenig hilfreich für die ethische Beurteilung des emotionalen Enhancements. Konzeptuell nicht überzeugend ist ein konservativ-essentialistisches Authentizitäts-Verständnis (2), bei dem in einem essentialistischen Missverständnis von einem bloß zu entdeckenden „Selbst“ in einer göttlichen oder natürlich-biologischen Ordnung ausgegangen und je nachdem ein Enhancement entweder strikt ablehnt oder bejaht wird. Zu einem individualistischen Missverständnis verleitet hingegen das konträre identifikatorisch-reflexive Modell (3) mit seiner uneingeschränkten Zustimmung zum Persönlichkeitsenhancement, wenn dabei entfremdende und manipulative gesellschaftliche Einflüsse unberücksichtigt bleiben. Das dritte kriteriologische Authentizitätsmodell (4) verdient den Vorzug, weil es das menschliche Selbstverständnis am besten beschreibt und simplifizierende Polarisierungen vermeidet: Anstelle der Annäherung an oder Entfernung von einem „Selbst“ ist individualethisch gesehen entscheidend, ob das Selbstverhältnis der Person bestimmte Bedingungen wie Identifikation, Kohärenz und Prüfung der Genese der eigenen Selbstveränderungswünsche erfüllt. Hinsichtlich dieser Kriterien sind aber bei den derzeit zur Verfügung stehenden Neuroenhancern weder übermäßige Sorgen noch Hoffnungen realistisch. Denn das Enhancement zwingt zwar niemanden zur Reflexion über seine Verbesserungswünsche, lässt aber weder eine direkte Verschlechterung noch Optimierung der für ein authentisches Selbstverhältnis notwendigen Fähigkeiten erwarten (vgl. Leefmann, 327 ff.; 46 f.). Mit Psychopharmaka wie Prozac bzw. Fluctin scheint ein gezieltes Persönlichkeitsenhancement ohnehin noch in weiter Ferne zu stehen, weil sie bei unterschiedlichen Personen und Ausgangsbedingungen sehr unterschiedliche, komplexe und teilweise überraschende Wirkungen zeitigen (vgl. Kramer, 289). Ein undifferenzierter Authentizitätsbegriff kann also hinsichtlich <?page no="212"?> 212 4 Neuro-Enhancement der Selbstoptimierung keineswegs pauschale ethische Stellungnahmen rechtfertigen. Daher sollte es in der Enhancement-Debatte statt um Authentizität viel eher um den richtigen reflektierten und selbstbestimmten Umgang mit Psychopharmaka gehen (vgl. Leefmann, 350 ff.). 4.2 Kognitives Enhancement Nachdem sich seit dem Aufkommen der ersten Psychopharmaka in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Debatte um Neuroenhancement zunächst vorwiegend um das „emotionale Enhancement“ drehte, begann sich der Schwerpunkt ab Mitte der 1990er Jahre allmählich auf das „kognitive Enhancement“ zu verlagern (vgl. Schoilew, 2/ Schütz u. a., 11). Kognitives Enhancement (engl. cognitive enhancement) meint die Steigerung der „kognitiven“, d. h. geistigen Leistungsfähigkeit der Menschen z. B. durch ein zuverlässigeres Gedächtnis, erhöhte Konzentrationsfähigkeit oder ein schnelleres Denkvermögen. Während das emotionale Enhancement zahlreiche Befürchtungen bezüglich der Identität und Authentizität einer Persönlichkeit hervorruft, scheint das kognitive Enhancement auf den ersten Blick nur Nutzen ohne Risiken zu versprechen. Denn in unserer gegenwärtigen Wissens- und Leistungsgesellschaft gelten kognitive Fähigkeiten oder Eigenschaften allgemein und unhinterfragt als höchst wertvoll und unbedingt erstrebenswert. Die Entwicklung biomedizinischer Methoden zur Kognitionsverbesserung werden vielfach als ein für die Menschheit fundamentaler und prägender Schritt angesehen, vergleichbar mit der Entdeckung von Metall im Eisenzeitalter, der Mechanisierung in der industriellen Revolution oder dem Durchbruch der Genetik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. Farah u. a., 421/ Schoilew, 4). Neben diesen gesellschaftlich-kulturellen Grundhaltungen und Werteinstellungen verdankt sich die hohe öffentliche Aufmerksamkeit des kognitiven Enhancements auch dem euphorisch gefeierten Aufstieg der Neurowissenschaften (Kap. 4, Einführung). Durch Wissenschaftsmagazine und öffentliche Medien wurden deren Erkenntnisse popularisiert, wobei analog zu den „Glückspillen“ beim emotionalen Enhancement beim kognitiven von „Gedächtnispillen“, „Viagra fürs Gehirn“ oder „Gehirndoping“ die Rede ist. Bedeutsam für das kognitive Enhancement ist aber auch die Forschung zur „Künstlichen Intelligenz“, die ihrerseits den Motor der „Digitalen Revolution“ darstellt: Künstliche Intelligenz ist ein Teilgebiet der Informatik, das menschliche Intelligenzleistungen zu automatisieren und menschenähnliche Intelligenz maschinell nachzubilden versucht (vgl. Hillig, <?page no="213"?> 213 4.2 Kognitives Enhancement 218/ Wahlster). Das menschliche Gehirn gerät infolge dieser Fortschritte immer mehr in Konkurrenz zu Computern und Robotern, die den Menschen schon bald an Intelligenz übertreffen könnten bzw. in einzelnen Bereichen bereits überholt haben (vgl. Normann u. a., 230). Nach einer Begriffsklärung von „Kognition“ und „Intelligenz“ soll nach der Begründbarkeit des hohen Werts kognitiver Fähigkeiten gefragt und schließlich ein Überblick über die Wirkung und Verbreitung der meistgebrauchten Neuroenhancer gegeben werden: ▶ Analyse der Begriffe „Kognition“ und „Intelligenz“ (Kap. 4.2.1) ▶ Zum Wert von Intelligenz und ihrem Beitrag zum Glück (Kap. 4.2.2) ▶ Wirkungen und Nebenwirkungen der wichtigsten kognitiven Neuroenhancer (4.2.3) 4.2.1 Analyse der Begriffe „Kognition“ und Intelligenz“ In einem ersten Schritt sind die Bedeutungen des Begriffs „Kognition“ und der eng verwandten, alltagssprachlich viel geläufigeren Bezeichnung „Intelligenz“ zu klären: Kognition ist eine ungenaue Sammelbezeichnung für sämtliche mit dem Wahrnehmen und Erkennen zusammenhängenden Prozesse des Vorstellens, Erinnerns, Lernens, logischen Denkens und Urteilens, die dem Menschen ein intelligentes, flexibles Handeln erlauben (vgl. Lenzen, 9 f.). Während sich „Kognition“ also vornehmlich auf bestimmte geistige Prozesse bezieht, wird „Intelligenz“ eher als Begabung oder Eigenschaft einzelner Lebewesen aufgefasst. Es handelt sich aber in gleicher Weise um ein hochkomplexes theoretisches Konzept, zu dem es bis heute keine allgemein anerkannte Definition gibt. Zur Intelligenz zählen die Fähigkeiten, abstrakt zu denken, Wissen zu integrieren, Regelmäßigkeiten und Ordnungen zu erkennen und Schlussfolgerungen zu ziehen, um konkrete Probleme lösen und sich an neue Situationen anpassen zu können (vgl. Hillig, 182 f./ Woolfolk, 121). Häufig werden dabei die Dimensionen einer „kulturbedingten“, „kristallisierten“ oder „kristallinen Intelligenz“ und eine „biologische“, „flüssige“ oder „fluide Intelligenz“ unterschieden (vgl. ebd., 121 f./ Normann u. a., 231): Die kulturbedingte oder kristalline Intelligenz bezieht sich auf die Speicherung, Organisation und Anwendung von kulturellen Wissensbeständen und Problemlösungsmethoden. Sie umfasst sowohl implizit Gelerntes wie Muttersprache oder Verhaltensmuster wie Fahrradfahren als auch den Umgang mit angeeignetem explizitem Wissen wie z. B. Fremdsprachen, Mathematik oder Allgemeinwissen. Diese Form von Intelligenz wird also er- <?page no="214"?> 214 4 Neuro-Enhancement worben, nimmt im Laufe des Alterns zu und kann bestenfalls zur sogenannten Altersweisheit führen. Im Gegensatz dazu ist die biologische oder fluide Intelligenz angeboren, wird vererbt und kann durch Umweltfaktoren oder Übung nur sehr begrenzt beeinflusst werden. Dazu zählen z. B. die Merkfähigkeit, das assoziative Gedächtnis und das schlussfolgernde Denken, oder allgemeiner gesprochen die generelle geistige Auffassungsgabe, das Verarbeitungsniveau oder die geistige Kapazität eines Menschen. Anders als die sich normalerweise ständig steigernde kristalline Intelligenz überschreitet die fluide ihren Zenit schon in der Jugend bzw. im frühen Erwachsenenalter und nimmt dann schnell ab. Während beim neurophysiologischen Enhancement mit Gedächtnis-Chips im Hirn zum Zugriff auf Sprach- oder Rechenprogramme die kristalline Intelligenz verbessert werden soll, zielt das pharmakologische Neuroenhancement auf die Steigerung von Fähigkeiten der biologischen Intelligenz wie Merkfähigkeit oder Denkgeschwindigkeit ab. In bioethischen Diskussionen über Neuroenhancement werden „Kognition“ und „Intelligenz“ genauso wie in der Psychologie und der Neurowissenschaft meist auf Prozesse eines regelgeleiteten, logisch-begrifflichen Strukturierens und Verarbeitens von Sinnesdaten oder Informationen eingeschränkt, die im Unterschied zu Formen der moralischen oder sozialen Kognition zu objektivierbaren, falsifizierbaren Aussagen führen (vgl. Jelden, 257). Aus kognitionswissenschaftlicher Sicht meint „Kognition“ jede Informationsumgestaltung durch organische Systeme wie Lebewesen oder künstliche Systeme wie Roboter. Auch die in gängigen IQ-Tests gemessene „Intelligenz“ ist eine in diesem Sinne reduzierte „kognitive Intelligenz“, abzüglich einer „emotionalen“, „sozialen“ oder „moralischen Intelligenz“. Da zwischen den Messungen der kognitiven Fähigkeiten in den verschiedenen Intelligenzaufgaben von mathematischen Problemen bis hin zu Gedichtinterpretationen hohe Korrelationen festgestellt wurden, wird bei solchen Tests und in vielen Theorien ein Generalfaktor „g“ als Indikator für eine allgemeine kognitive Intelligenz oder eine bestimmte Qualität der verschiedenen geistigen Leistungen angenommen (vgl. Woolfolk, 121/ Gesang, 23). Die Forschung zur künstlichen Intelligenz erzielt hauptsächlich in diesem Bereich der kognitiven Intelligenz Fortschritte, sodass Computer konkrete Anwendungsprobleme des menschlichen Denkens wie z. B. das Mustererkennen in Bild- oder Sprachmaterial, das Beantworten von formalisiertem Fachwissen durch Expertensysteme oder das Schachspielen bereits besser lösen können als Menschen. Auch bezüglich der sensomotorischen Intelligenz sind Maschinen den Menschen in einzelnen Bereichen wie z. B. der Wahrnehmung <?page no="215"?> 215 4.2 Kognitives Enhancement von Wellenlängen im Infrarot- und UV-Bereich überlegen, wohingegen sie in simplen Alltagssituationen wie z. B. bei Öffnen einer Tür versagen. Im Hinblick auf emotionale Intelligenz sind Computer bislang noch völlig inkompetent, weil sie sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und Empathie oder Mitleid mit ihnen empfinden, sondern lediglich die menschliche Körpersprache entziffern und Gefühle simulieren bzw. vortäuschen können (vgl. Wahlster). Genauso schlecht schneiden Maschinen bezüglich der sozialen Intelligenz als der Fähigkeit ab, in einer Gruppe angemessen zu reagieren, Stimmungen zu erkennen und konstruktiv zu beeinflussen und Teamgeist zu entwickeln (vgl. ebd.). Während in der Theorie der Multiplen Intelligenzen von Howard Gardner Intelligenz sogar acht verschiedene kognitive Fähigkeiten wie z. B. auch „musikalische“ und „ökologische Intelligenz“ unterschieden werden, findet im Alltagsverständnis meist eine Reduktion auf eine Mischung von „verbaler“ und „logisch-mathematischer Intelligenz“ statt (vgl. Woolfolk, 123). Grundsätzlich ist für einen empirischen Zugang zur „Intelligenz“ deren Zergliederung in zahlreiche einzelne Komponenten und Faktoren unumgänglich, um diese dann in psychologischen Tests mit geeigneten Aufgaben erfassen zu können. Um die Wirkung von kognitiven Neuroenhancern zu prüfen, müssen entsprechend die zu optimierenden spezifischen kognitiven Funktionen klar benannt und einzeln getestet werden (vgl. Metzinger 2012, 37/ Walcher, 125). Zu Recht wurde allerdings gegen die Multiple-Intelligenz-Theorie eingewandt, dass die verschiedenen Fähigkeiten keineswegs voneinander unabhängig sind und es z. B. hohe Korrelationen zwischen logisch-mathematischen und räumlichen oder den räumlichen und musikalischen Fähigkeiten gibt (vgl. Woolfolk, 123). Angesichts der hohen Komplexität des menschlichen Gehirns ist damit zu rechnen, dass es bei gezielten Einzelinterventionen ins Gehirn zu vielfältigen weiterreichenden Folgen und unerwünschten Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Hirnfunktionen kommt. Konkret gibt es Hinweise darauf, dass eine erhöhte Aufmerksamkeit und Lernfähigkeit die Schmerzempfindlichkeit verstärkt und die Impulskontrolle verringert (vgl. Vaas, 58/ Metzinger 2012, 37). Gemäß einer weit verbreiteten Befürchtung der Neuroenhancement-Kritiker führt die Verbesserung einer Art von Intelligenz notwendig zu einer Verschlechterung einer anderen Art (vgl. dazu Gesang, 23). Als Beispiele für eine unerwünschte, einseitig entwickelte, segmenthafte Intelligenz gelten die vielen Hochbegabten, bei denen die logisch-mathematische oder räumliche Begabung mit Defiziten in anderen Bereichen wie etwa sprachlichen Fähigkeiten einhergehen: Unter Menschen mit herausragenden Gedächtnisleistungen gibt es viele <?page no="216"?> 216 4 Neuro-Enhancement Autisten, die nur über sehr eingeschränkte emotionale und soziale Kompetenzen verfügen (vgl. ebd., 34/ Normann u. a., 232 f.). Es müsste also vermieden werden können, dass die ausschließliche Förderung der kognitiven Intelligenz durch kognitives Neuroenhancement auf Kosten der emotionalen und sozialen Intelligenz geht. Problematisch ist im Grunde bereits die Modellierung des menschlichen Gehirns als eines Computers, der Daten speichert, verarbeitet und abruft. Denn menschliche Intelligenz basiert zu einem großen Teil auf unbewussten und nichtsymbolischen Verarbeitungsmechanismen, sodass etwa das Speichern und Erinnern von Daten oder die Aufmerksamkeitskontrolle und -lenkung sehr selektive und kreative Prozesse darstellen (vgl. Metzinger 2012, 37). Biotechnologische Erweiterungen der Sinneswahrnehmung oder der Merk- und Erinnerungsfähigkeit könnten daher leicht zu einer Überstimulierung oder Reizüberflutung des menschlichen Gehirns führen (vgl. Groß, 106 f.). 4.2.2 Zum Wert von Intelligenz und ihrem Beitrag zum Glück In einem zweiten Schritt soll gefragt werden, wie sich der stets als selbstverständlich vorausgesetzte hohe Wert der Intelligenz eigentlich begründen lässt. Intelligenz kann dabei entweder als Wert an sich und Selbstzweck (a) oder aber als instrumenteller Wert und Mittel (b) zur Erreichung bestimmter äußerer Zwecke betrachtet werden. Ad a: Handelte es sich bei der Intelligenz um ein intrinsisches, selbstzweckhaftes Gut, das seinen Wert in sich selbst hat und ungeachtet aller Folgen wie z. B. Lustgewinn oder Karriere um seiner selbst willen erstrebt wird, würde eine durch kognitives Enhancement erhöhte Intelligenz eindeutig einen Beitrag zum menschlichen Wohlergehen oder Erfüllungsglück leisten (vgl. Harnacke u. a., 166). Denn seit der Antike gelten nicht instrumentelle Güter, sondern intrinsische Güter in Form von bestimmten Zuständen oder Tätigkeiten als konstitutiv für menschliches Glück (vgl. dazu Horn 2011, 384/ Fenner 2007, 75 f.). Gemäß den an Aristoteles orientierten Ansätzen einer Objektive-Listen- oder Gütertheorie des guten Lebens zählen zu diesen intrinsischen glücksrelevanten Gütern insbesondere typische menschliche Eigenschaften oder Fähigkeiten wie Sprach- und Erkenntnisfähigkeit (Kap. 2.1). In Martha Nussbaums Liste beispielsweise finden sich sowohl kognitive Fähigkeiten wie Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Denkfähigkeit als auch die praktische Vernunft als Fähigkeit zum Planen und Organisieren des Lebens und zum Nachdenken darüber, wie man leben soll (vgl. Nussbaum, 193). Auch in der Tradition der idealistischen Philosophie war „Intelligenz“ als höchste Form <?page no="217"?> 217 4.2 Kognitives Enhancement vernünftiger Einsicht ein Wert an sich, weil sie Menschen zur Erkenntnis der Prinzipien und Gesetze der Welt sowie Gott als ihren Urheber befähigt und ihm damit die Teilhabe an der zeitlosen, ideellen Wirklichkeit hinter den Erscheinungen ermöglicht (vgl. Müller 2009b, 129 ff.). Auch ohne metaphysische Annahmen über eine intelligible Welt hinter der endlichen, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit wird Intelligenz heute weithin als notwendige Voraussetzung von Bildung geschätzt, die zu Recht als etwas an sich Gutes gilt: Intelligenz und Bildung bedeuten ein besseres Verständnis der Welt, der Menschen und ihrer Kultur mit all den vielfältigen und komplexen Orientierungssystemen und Ordnungsformen. Im Rahmen neoaristotelischer essentialistischer und perfektionistischer Gütertheorien ist zwar nicht immer klar, ob für ein gutes menschliches Leben bereits das Vorliegen der wesentlichen menschlichen Fähigkeiten in einem bestimmten Ausmaß ausreicht (Kap. 2.1). Befürworter des kognitiven Enhancements ziehen aber den naheliegenden Schluss, dass ein Leben durch die Perfektionierung oder Steigerung der kognitiven Fähigkeiten besser wird (vgl. Savulescu u. a., 10/ Hauskeller, 169). Ad b: In gegenwärtigen öffentlichen Diskussionen um Neuroenhancement wird Intelligenz allerdings weniger als ein Wert an sich betrachtet, sondern zumeist als ein „funktionaler“ oder instrumenteller Wert (vgl. Müller 2009b, 129/ Harnacke u. a., 166). Anders als im ersten Fall (a) ist dann aber der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Glück nicht mehr so eindeutig, sodass es zu sehr unterschiedlichen Bewertungen des kognitiven Enhancements kommt: Laut den Enhancement-Befürwortern ist eine bessere instrumentelle Rationalität individualethisch wünschenswert, weil sie die Erreichung der persönlichen Wünsche, Ziele oder Güter erleichtert (vgl. Savulescu u. a., 10/ unten). Kritikern des kognitiven Enhancements zufolge stellt die gesteigerte kognitive Intelligenz aber nur ein Mittel oder eine Waffe dar, um sich einen Wettbewerbsvorteil auf dem hart umkämpften Bildungs- und Arbeitsmarkt zu verschaffen oder um mit der sich ebenfalls verbessernden Konkurrenz überhaupt mithalten zu können (vgl. dazu Müller 2009b, 129). Kognitive Leistungsfähigkeit ist dann kein selbst gewähltes Mittel zum persönlichen Glück, sondern wird den Menschen von außen durch zunehmende Studien- und Arbeitsbelastung, erhöhten Leistungsdruck oder die „Steigerungslogik des Kapitalismus“ aufgezwungen (Kap. 1.1). Bisherige Beobachtungen legen zwar nahe, dass Neuroenhancer tatsächlich vornehmlich in kompetitiven Kontexten an Schulen, Universitäten und am Arbeitsplatz zum Einsatz kommen (vgl. Hildt, 92). Wie eine empirische Untersuchung zum Neuroenhancement im Studienkontext bestätigt, sind solche naheliegende Deu- <?page no="218"?> 218 4 Neuro-Enhancement tungen des kognitiven Enhancements als Reaktion auf die äußeren Studienbedingungen mit angeblich gestiegenem Anforderungsniveau aber viel zu einfach und blenden die vielschichtigen Zusammenhänge aus (vgl. Poskowsky, 115 f.): Neuroenhancement wird nur von einer kleinen Gruppe von Studierenden betrieben, bei denen der subjektiv empfundene Leistungsdruck mit Problemen bei der effizienten Prüfungsvorbereitung, erhöhtem Neurotizismus bzw. geringerer emotionaler Stabilität und weniger sozialem Rückhalt einhergeht (vgl. ebd., 126 ff.). Angesichts der Vielschichtigkeit dieser Problemlage kann ein kognitives Enhancement zur Erreichung der subjektiven Ziele in diesen Fällen sicherlich kein ausreichendes Mittel sein. Häufig wird Intelligenz lediglich als ein „relatives“ oder positionales Gut betrachtet, das seinen Wert nur im Vergleich zum Besitz dieser Güter durch andere Personen erhält (Kap.-1.4). Wenn aber immer mehr Menschen ihre kognitiven Fähigkeiten steigern, käme es zu einem sinnlosen Wettrüsten und niemand könnte von einer individuellen Verbesserung profitieren (vgl. dazu Hauskeller, 168 f./ Brock 1998, 60). Die beiden Betrachtungsweisen der Intelligenz als Wert an sich (a) und instrumenteller Wert (b) schließen einander aber keineswegs kategorisch aus. In einem strengen Sinn wären zwar nur geistige Fähigkeiten oder Tätigkeiten intrinsisch oder an sich wertvoll, die ausschließlich der Erkenntnis oder der Bildung dienen wie z. B. rein kontemplative Studien der Philosophie oder Mathematik. Analysiert man typische selbstzweckliche Tätigkeiten wie Philosophieren oder Musizieren, stößt man aber meist auf zusätzliche externe Ziele wie z. B. das Schreiben an einem philosophischen Buch oder das Üben für ein Orchesterkonzert. Wir schätzen diese Tätigkeiten zwar um ihrer selbst willen, zugleich aber auch wegen des dabei anvisierten wertvollen Ziels und schließlich weil uns diese selbstzweckhafte Tätigkeiten glücklich machen (vgl. Fenner 2007, 77). Das Philosophieren oder Musizieren bleiben in sich wertvolle Tätigkeiten und intrinsische Güter. Eine solche Kombination der Motive subjektiven Strebens bzw. von intrinsischen und instrumentellen Gütern liegt auch bei den sogenannten Allzweckgütern oder Allzweckmitteln wie Intelligenz, Gesundheit oder Selbstregulationsfähigkeit vor, die für die Verfolgung sämtlicher menschlicher Lebenspläne nützlich sind (Kap. 4.4; 5.5). Obwohl die Bezeichnung „Allzweckmittel“ auf einen eindeutig instrumentellen Charakter hinweist, kann es sich in einer anderen Betrachtungshinsicht gleichwohl um intrinsische Güter handeln: So ist eine gute Gesundheit einerseits ein instrumenteller Wert, weil sie ein Mittel zur körperlichen Leistungs- und Arbeitsfähigkeit darstellt. Andererseits kann man sich aber einer guten Gesundheit auch an sich als eines abschlie- <?page no="219"?> 219 4.2 Kognitives Enhancement ßend wünschenswerten intrinsischen Zustands erfreuen und sie zusätzlich noch als Grundlage für ein gutes und glückliches Leben schätzen. Desgleichen kann Intelligenz als Mittel zur Erlangung eines bestimmten Ausbildungsgrades oder eines begehrten Arbeitsplatzes betrachtet werden, zugleich aber auch als Motor und Voraussetzung eines als erfolgreich, herausfordernd und erfüllend zu beurteilenden und erfahrbaren Lebens. Während sie in kompetitiven Kontexten einer Leistungsgesellschaft sicherlich über einen hohen positionalen Anteil verfügt, kann sie zugleich ein intrinsisches Gut als Fähigkeit zur Welt- und Selbsterkenntnis oder zum Kunstgenuss darstellen (vgl. Brock 1998, 61/ Ranisch u. a., 47). Genauso wie beim Wunsch nach einem schöneren Aussehen dürfte hinter demjenigen nach besseren kognitiven Fähigkeiten die implizite oder explizite Annahme stehen, dass schöne bzw. intelligente Menschen mehr vom Leben haben und glücklicher sind (Kap. 3.1). Doch wie plausibel ist diese Annahme einer Koppelung von Glück und Intelligenz wirklich? Eine Antwort kann entweder auf empirischem Weg der Prüfung von Korrelationen bei Befragungen gesucht werden oder aber auf philosophischargumentative Weise durch die Analyse von Glückskonzept. Zum direkten Zusammenhang von Intelligenz als Persönlichkeitsvariable und Glück gibt es nur wenige empirische Studien, die entweder einen schwach positiven Zusammenhang oder gar keinen aufwiesen (vgl. Tännsjö, 424). Eine ältere Studie aus dem Jahr 1981 kommt beispielsweise zum Schluss, dass weder die Volksweisheit vom „Glück der einfältigen Geister“ zutrifft noch intelligentere Menschen für das Glück prädisponiert sind (vgl. Sigelman). Demgegenüber ergab eine 2012 durchgeführte Datenauswertung, dass die Menschen mit einem hohen IQ zwischen 120 und 129 am glücklichsten, jene mit einem niedrigen IQ zwischen 70 und 99 am unglücklichsten sind (vgl. Ali u. a.). Das Forschungsinteresse der empirischen Glücksforschung ist insgesamt eher auf den EQ als den IQ fokussiert, weil emotionale Fähigkeiten der Empathie und des Wahrnehmens und Regulierens der eigenen Emotionen unmittelbarer mit Glück zu tun haben (vgl. Tännsjö, 424). Die geringe Vorhersehbarkeit menschlichen Glücks anhand des IQs lässt sich aber sicherlich teilweise damit erklären, dass Intelligenz nur eines von zahlreichen anderen glücksrelevanten Gütern darstellt und also allein nicht hinreichend ist. Da hohe Intelligenz nachweislich mit einem längeren und gesünderen Lebens einhergeht, wird ein eher indirekter Beitrag zum Glück angenommen (vgl. Savulescu u. a., 11). Eine soziologische Studie zum Einfluss der sozialen Lage der Menschen auf ihre Glücksvorstellungen und Selbsteinschätzungen ergab zudem, dass mit der Höhe der sozialen Schicht der Prozentsatz <?page no="220"?> 220 4 Neuro-Enhancement der sich als glücklich einstufenden Personen zunimmt (vgl. Scheuch, 81; 76): Menschen mit höherer Bildung, angeseheneren Berufen und größerem Einkommen reagieren zwar insgesamt viel empfindsamer und heftiger sowohl auf erfreuliche als auch missliche Umstände und Entwicklungen. Trotz ihrer stärkeren Sorgen und Klagen verzeichnen sie aber eine positive Bilanz ihrer Erlebnisse und bezeichnen sich insgesamt als sehr glücklich, weil sie dank ihrer besseren Mittel und u. a. kognitiver Kompetenzen der widrigen Außenwelt viel weniger ausgeliefert sind und dagegensteuern können. Angehörige niedriger sozialer Schichten verfügen jedoch über viel geringere Kontroll- und Korrekturmöglichkeiten und eignen sich deswegen das „Prinzip homöostatischen Reagierens“ an: Sie drosseln die Intensität aller Empfindungen und versuchen jeweils positive mit negativen Erfahrungen auszugleichen und umgekehrt (vgl. ebd., 78 f.). Auch wenn sie in der Folge sowohl weniger Klagen als auch weniger unerfüllte Wünsche haben, bewerten sie diesen homöostatischen Zustand nicht als Glück. Auch bei der Interpretation der philosophischen Glückstheorien und der jeweiligen individualethischen Bedeutung der Intelligenz gelangen Philosophen teilweise zu gegensätzlichen Einschätzungen (vgl. Savulescu u. a., 10 versus Tännsjö, 431 f.). Letztlich könnten aber nur im Sinne eines subjektiven Empfindungsglücks und eines rein sensorischen quantitativen Hedonismus gemäß der Volksweisheit einfältigere Geister glücklicher sein, weil man bezüglich eines subjektiven empirisch-psychologischen Wohlbefindens in Kants Worten unter „der Leitung des bloßen Naturinstinkts“ weiterkommen dürfte als über die Mühsal von Wissenschaften und Künsten (vgl. Kant, BA 6 f.). Ein reflektierter qualitativer Hedonismus setzt demgegenüber auf höhere Arten von Freuden unter Beteiligung hochentwickelter geistiger Kapazitäten, sodass ein kognitives Enhancement zu begrüßen wäre (vgl. Savulescu u. a., 10 versus Tännsjö, 425 f.). Bei den neueren differenzierteren Formen des Hedonismus mit objektiven Qualitätskriterien der Freude nähert man sich dem objektiven Erfüllungsglück und einer Gütertheorie oder Objektive Liste-Theorie an, derzufolge die Entfaltung oder Perfektionierung der typisch menschlichen höheren geistigen Vermögen für menschliches Wohlergehen konstitutiv ist (vgl. Savulescu u. a., 10 versus Tännsjö, 427 f.). Obwohl nach Aristoteles ein Leben in philosophischer Betrachtung das höchstmögliche menschliche Glück bedeutet, wären dabei auch alle anderen durch die Weiterentwicklung und Verfeinerung der geistigen Fähigkeiten im Laufe der kulturellen Evolution ermöglichten wissenschaftlichen oder künstlerischen Aktivitäten und komplexeren Formen des Spiels zu berücksichtigen (vgl. Aristoteles, 1178b, 30 ff./ Knell, 175 ff.). Nicht zuletzt ist <?page no="221"?> 221 4.2 Kognitives Enhancement Intelligenz als instrumenteller Wert für das Erfüllungslück der Wunsch- oder Zieltheorie von mittelbarer Bedeutung, sofern sie zu mehr Welt- und Selbsterkenntnis führt und damit die Auswahl geeigneter Ziele und Lebenspläne und deren erfolgreiche Umsetzung begünstigt (vgl. Fenner 2003, 389 f. versus Tannsjö, 427). Die weit verbreitete Beurteilung hoher Intelligenz als Glückshindernis scheint zwar auf den ersten Blick durch die oben erwähnte soziologische Studie und die paradoxale These von Schopenhauer und Nietzsche gestützt zu werden, gebildete Menschen mit einem Übermaß an Geistesgaben seien aufgrund höherer Empfindlichkeit und größerer Intensität aller Vorstellungen und Gefühle zugleich glücklicher und unglücklicher (vgl. Schopenhauer, 53/ Nietzsche 1998, 539 f.). Weil aber intelligente Menschen dank größerer Vorstellungskraft, vielseitiger Problemlösungskompetenzen und mehr Selbstwirksamkeit mit ungünstigen Widerfahrnissen konstruktiver umgehen und sich flexibler an schwierige Lebenssituationen anpassen können, dürften ihre Chancen auf ein gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis dennoch insgesamt etwas höher sein. Vorhersagbar ist anhand von IQ-Tests weniger das hochkomplexe menschliche Phänomen „Glück“ als der schulische und berufliche Erfolg, zumal solche Tests u. a. an Schulnoten validiert, d. h. überprüft werden (vgl. Hillig, 182). Keineswegs wird der schulische Erfolg aber zu 100 % durch den IQ determiniert, wie eine neuere Langzeitstudie der Universität München aufwies: Für den Leistungszuwachs der Schüler seien nicht ihre Intelligenz, sondern ihre intrinsische Motivation und geeignete Lernstrategien ausschlaggebend (vgl. Muyurama). Auch entscheidet gemäß PISA-Studien besonders in Deutschland letztlich immer noch die soziale Herkunft über den Bildungserfolg der Jugendlichen, selbst bei gleichen kognitiven Fähigkeiten (vgl. Valentin, 12). „Natürliche Begabungen“ haben also weit weniger Einfluss auf Leistungsunterschiede als die soziale Herkunft (vgl. Meyer, 365). Gut belegt ist des Weiteren die hohe Korrelation zwischen dem IQ und dem höchsten erreichten Studienabschluss sowie dem Berufsprestige im Alter von 40 Jahren (vgl. Asendorpf, 80). Die Intelligenz eines Menschen legt zweifellos die Grenzen dafür fest, welche Berufe er erlernen und wie hoch er auf der Karriereleiter steigen kann. Je komplizierter und anspruchsvoller eine Berufstätigkeit wird wie im Top-Management oder an einer Universität, desto wichtiger wird Intelligenz, wohingegen sie bei Routinetätigkeiten wie Lagerarbeiten sogar hinderlich ist. Auf der Grundlage von Intelligenzmessungen soll sich laut einer Metastudie von Jochen Kramer der Erfolg zu ca. 70 % voraussagen lassen, erfasst anhand der vier Teilbereiche Arbeitsleistung, berufliche Lernleistung, Einkommen und berufliche Laufbahn <?page no="222"?> 222 4 Neuro-Enhancement (vgl. Pressemitteilung der Universität Bonn „Intelligenz macht erfolgreich“, 20.04.2009). Gleichzeitig rücken aber in den Fokus von psychologischen und ökonomischen Studien immer mehr auch Persönlichkeitsvariablen wie emotionale Stabilität, Extravertiertheit, Gewissenhaftigkeit und Motivation, die teilweise ebenso wichtig für den beruflichen Erfolg sind wie Intelligenz oder diese sogar kompensieren können (vgl. ebd./ Niehaus). Bezüglich des Zusammenhangs zwischen Glück und dem Einkommen als Teilbereich des beruflichen Erfolgs gilt in der empirischen Forschung als gesichert, dass Besserverdienende etwas glücklicher sind als Menschen mit niedrigem Einkommen (vgl. Frey u. a., 48). Es liegt aber keine lineare Beziehung vor, sondern die Zunahme der Lebenszufriedenheit wird bei höheren Einkommen immer geringer und nimmt nach dem Überschreiten eines bestimmten Monatsgehalts von 8-10.000 Schweizer Franken sogar ab. Zudem macht der sich aus Bildungsstand, beruflichem Status und Einkommen zusammensetzende sozioökonomische Status einer Person nach einer amerikanischen Repräsentativstudie nur rund 10 % des Glücks eines Menschen aus (vgl. Mayring, 95). Gegen die heute weithin als selbstverständlich geltende Koppelung von Glück an Einkommen und Sozialprestige hat die Lebenskunst-Philosophie seit Aristoteles eingewendet, was jüngst von der positiven Psychologie bestätigt wurde: Nur von innen motivierte, selbstbestimmte intrinsische Tätigkeiten tragen unmittelbar zum menschlichen Glück bei, wohingegen von außen motivierte und determinierte extrinsische Betätigungen zu Leere, Sinnlosigkeitsgefühlen und damit weniger Lebenszufriedenheit führen können (vgl. Fenner 2007, 75 f./ Pawelzik, 292). Wer primär oder ausschließlich wegen eines hohen Einkommens einen ungeliebten Job macht, wird höchstens indirekt glücklicher, indem er einen größeren Spielraum hat und sich mit den finanziellen Mitteln auch intrinsische Aktivitäten wie z. B. eine Weltreise leisten kann. Gute Entlohnung macht also nicht automatisch glücklich, obgleich die Höhe des Einkommens bei Umfragen als mit Abstand wichtigstes Kriterium für die persönliche Arbeitszufriedenheit angegeben wird (vgl. Popp u. a., 193). Entscheidend für ein erfülltes Berufsleben und damit auch für die Lebenszufriedenheit von Berufstätigen dürfte vielmehr eine bedürfnisbezogene Passung sein: Statt einen möglichst gut bezahlten und angesehenen Beruf sollte man denjenigen wählen, der am meisten den eigenen intellektuellen, handwerklichen, technischen, verwalterischen oder künstlerischen Fähigkeiten und Interessen entspricht und so eine intrinsische Motivation begünstigt. In allen Berufen und auch bei ganz ähnlicher Arbeit ist aus individualethischer Perspektive eine selbständige Tätigkeit einer <?page no="223"?> 223 4.2 Kognitives Enhancement abhängigen Beschäftigung vorzuziehen, weil diese mehr Selbstbestimmung und Flexibilität beim Ausschöpfen der eigenen Potentiale erlaubt und keinen Zwang zum Gehorsam in hierarchischen Entscheidungssystemen verlangt. Obwohl Selbständige in vielen Berufen weniger verdienen und mehr arbeiten, sind sie gemäß empirischer Studien im Allgemeinen glücklicher als Angestellte (vgl. Frey u. a., 95 f.). Der hohe intrinsische Wert der Selbstbestimmungsmöglichkeit gründet sicherlich auch darin, dass Freiheit in liberalen westlichen Gesellschaften als höchster Wert und intrinsisches Gut gilt. Das Abstreifen von Fremdbestimmung und ein Zuwachs an Selbstbestimmung wird von den meisten Menschen als Befreiung erlebt, auch wenn es mehr Unsicherheit bringt (vgl. Steinfath, 458): Sie bewerten ihr eigenes Leben positiver, wenn sie ihre Talente kreativ entfalten und sich als aktive Gestalter ihres Lebens verstehen können. Selbstbestimmung setzt zwar ein gewisses Minimum an Intelligenz voraus, lässt sich aber auch bei intellektuell weniger fordernden, z. B. handwerklichen Tätigkeiten realisieren. Allerdings dürften besserqualifizierte Berufe und höhere Positionen in vielen Fällen mehr individuelle Selbstbestimmung- und Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Letztlich stößt man bei der Frage nach dem Zusammenhang von Glück und Intelligenz auf ein grundsätzliches Glücks-Paradox, das sich durch die Diskrepanz zwischen einer subjektiven (a) und objektiven Betrachtung (b) menschlichen Glücks ergibt. Ad a: Die Beurteilung des eigenen Lebens als eines guten und glücklichen ist insofern stets eine subjektrelative Betrachtung, als sie notgedrungen relativ zu den eigenen Anlagen, Fähigkeiten und Ansprüchen erfolgt (vgl. Knell, 240 f.). Gemäß der Zieltheorie des Glücks kann man sich zwar alles Mögliche wünschen, aber wollen und zum Ziel machen kann man rein definitorisch nur die unter den gegebenen Bedingungen realisierbaren Wünsche (Kap. 2.3). Individualethisch klug ist daher die Wahl mittelschwerer Ziele, die attraktiv und herausfordernd, aber mit vollem Einsatz der zur Verfügung stehenden Kompetenzen gerade noch erreichbar sind (Fenner 2007, 73/ Harnacke u. a., 166). Entsprechend ist zumindest hinsichtlich der größtenteils genetisch determinierten biologischen Intelligenz für das eigene Wohlergehen entscheidend, realistische und passende Berufsziele auszuwählen. Nach dem Prinzip der „Passung“ kann das Leben eines Menschen mit geringem IQ in einem Beruf mit geringeren Intelligenzanforderungen subjektiv als genauso zufriedenstellend und glücklich beurteilt und erlebt werden wie dasjenige eines Menschen mit hohem IQ und einer höher qualifizierten Tätigkeit. Ein sicherer Weg ins Unglück wäre es hingegen, sich stets mit Menschen mit ganz anderen <?page no="224"?> 224 4 Neuro-Enhancement Fähigkeiten und Berufen zu vergleichen oder gar nur die Höhe des Einkommens zum Vergleichsmaßstab zu machen (vgl. Fenner 2003, 324). Ad b: Wechselt man nun aber von einer subjektiven, relativen Bestimmung menschlichen Glücks zu einer absoluten oder objektiven Betrachtung gleichsam vom Außenstandpunkt aus, dürften Menschen mit einem höheren IQ und einer anspruchsvolleren und selbstbestimmteren beruflichen Tätigkeit prinzipiell glücklicher sein. In aller Regel bietet ein Leben mit geringen geistigen Fähigkeiten genauso wie dasjenige mit einer schweren Krankheit oder Behinderung den Betroffenen weniger Lebensqualität und Glück als ein Leben ohne diese Beeinträchtigungen. Ließe sich der IQ durch kognitives Enhancement tatsächlich erhöhen, wäre dies daher individualethisch empfehlenswert. Unerlässlich ist die objektive Betrachtungsweise für sozialethische und politische Überlegungen, damit sich die Gesellschaft nicht mit Verweis auf die subjektrelative Bestimmung des Glücks aus der Verantwortung für die Lebensbedingungen der Bürger zieht. Denn es stellt eine sozialethische Pflicht dar, die für ein gutes und glückliches menschliches Leben konstitutiven und gesellschaftlich beeinflussbaren intrinsischen Güter wie Gesundheit oder eben auch kognitiven Fähigkeiten zu fördern. 4.2.3 Wirkungen und Nebenwirkungen der wichtigsten kognitiven Neuroenhancer Ein neurophysiologisches Enhancement beispielsweise mit nicht-invasiver Gehirnstimulation oder invasiven Techniken wie Hirnschrittmachern oder Gedächtnischips steht den Selbstoptimierern wie erwähnt noch nicht zur Verfügung (vgl. Einleitung Kap. 4). Frühzeitig zu bedenken wären bei allen Gehirn-Computer-Schnittstellen unerwünschte Nebenwirkungen wie die Gefahr eines Datenmissbrauchs und externer Verhaltenskontrolle. Außerdem wurde in psychologischen Tests bei Patienten mit einer Tiefenhirnstimulation eine kritische Abnahme des sozio-moralischen Urteilsvermögens festgestellt, sobald der Stimulator eingeschaltet war (vgl. Talbot, 166). Die im Gegensatz dazu viel einfacher über Freunde oder den Schwarzmarkt erhältlichen Präparate für ein pharmakologisches Enhancement werden von populären Medien oft als Wundermittel dargestellt, die bei Gesunden die geistige Leistungsfähigkeit exponentiell wachsen lassen. Von starken Wirkungen bestimmter Psychopharmaka bei Kranken kann aber keineswegs auf einen ähnlichen Nutzen bei Gesunden geschlossen werden. Lange gab es nur empirische Erhebungen über Selbstauskünfte von Personen nach kurzzeitigen Prüfungs- oder Stresssituationen, die sehr unzuver- <?page no="225"?> 225 4.2 Kognitives Enhancement lässig sind. Denn es ist damit zu rechnen, dass die berichteten positiven Wirkungen sich lediglich einem Placeboeffekt verdanken und sich gar nicht in besseren schulischen Leistungen oder beruflichem Erfolg niederschlagen (vgl. Hildt, 93/ Metzinger 2012, 37). Aussagekräftiger als Umfragen sind generell psychologische Laborexperimente mit geeigneten Versuchsanordnungen, im Fall des kognitiven Enhancements mit Leistungstests. Allerdings bleiben methodische Schwierigkeiten wie die Konzeption der Versuchsanordnung, weshalb die Ergebnisse zur Leistungssteigerung durch Neuroenhancement je nach den ausgewählten Rahmenbedingungen und Aufgabenstellungen teilweise sehr unterschiedlich ausfallen. So lieferten die im letzten Jahrzehnt durchgeführten Experimentalstudien zur Wirkung verschiedener Präparate bei Gesunden inkonsistente Ergebnisse. Auch gibt es noch kaum Langzeitstudien und Untersuchungen unter Alltagsbedingungen, sodass eine tragfähige Basis für die Bewertung von Nutzen und Risiken eines Dauerkonsums fehlt (vgl. Schiolew, 33/ Schütz u. a., 11). Da die Durchführung von umfassenden klinischen Prüfungen zur Evaluation von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit kognitiver Neuroenhancer im Sinne des Arzneimittelgesetzes sehr aufwändig und teuer sind, wäre erst einmal über die Legitimität dieser Investition zu diskutieren (vgl. Schoilew, 34). Angesichts der bisherigen eher ernüchternden Studienergebnisse und der noch unerforschten Spätfolgen ist es ethisch fraglich, ob die Ressourcen nicht im Therapiebereich zur Erforschung schwerer Krankheiten besser eingesetzt wären. Inhaltlich gesehen stehen im Zentrum der Bemühungen um kognitives Enhancement die Steigerung der Merk- und Erinnerungsfähigkeit mit dem Ziel eines verbesserten Gedächtnisses sowie die Erhöhung der Aufmerksamkeit. „Aufmerksamkeit“ kann entweder eine nicht auf bestimmte Gegenstände gerichtete allgemeine Wachheit oder „Vigilanz“ meinen oder aber eine gezielt auf bestimmte Gegenstände oder Personen gerichtete Form der Aufmerksamkeit, die als Konzentration bezeichnet wird (vgl. Hillig, 212; 437/ Walcher, 130 f.). Die Konzentrationsfähigkeit setzt nicht nur eine aktive und willentliche Lenkung der Aufmerksamkeit voraus, sondern auch Anstrengungen zur Unterdrückung von Ablenkungen durch äußere Reize. Am besten scheinen sich für ein kognitives Enhancement Präparate aus der Substanzklasse der Psychostimulanzien zu eignen (vgl. Moesgen u. a., 17): Stimulanzien sind anregende, antriebssteigernde Mittel, die der Müdigkeit entgegenwirken und die Leistungsfähigkeit steigern. Dazu zählen die Amphetamine, die bis auf das vor wenigen Jahren in Deutschland gegen ADHS zugelassene Dextro-Amphetamin nur im Ausland erhältlich sind. Sie blockieren bestimmte Rezeptoren so, dass die Ausschüttung <?page no="226"?> 226 4 Neuro-Enhancement der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin nicht wie üblich gestoppt wird und sich ihr Spiegel im Gehirn erhöht. Zusätzlich wird die Freisetzung von Dopamin auch dann direkt angeregt, wenn vorher keine Ausschüttung stattfand. Illegale Amphetamine wie „Speed“ oder „Ecstasy“ steigern nachweislich Wachheit und Konzentration und verkürzen die Reaktionszeit, wobei die Verbesserungen bei einem Tagestief oder vorangegangenem Schlafentzug besonders deutlich ausfallen (vgl. Lieb, 68 ff.). Zu den Stimulanzien zählt des Weiteren Methylphenidat, ein Amphetaminderivat bzw. eine amphetaminähnliche Substanz, die beispielsweise im Medikament mit dem Marktnamen „Ritalin“ enthalten ist. Während die positiven Effekte von Methylphenidat auf die kognitiven Leistungen von Kindern mit dem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) durch umfangreiche Literatur gut belegt sind, gibt es zu den Wirkungen dieser Medikamente auf Gesunde unterschiedliche Ergebnisse und Interpretationen (vgl. Walcher, 166 ff.): Ähnlich wie Amphetamine soll es nach mehreren Studien die Vigilanz und die gerichtete Aufmerksamkeit steigern, allerdings weniger stark (vgl. Lieb, 72 f./ Franke u. a., 16). Denn im Unterschied zu Amphetaminen können sie nicht direkt die Dopaminausschüttung fördern, sondern wirken nur indirekt, setzen also eine vorausgegangene Ausschüttung voraus. Gemäß anderen Studien beeinflusst das Medikament die selektive Aufmerksamkeit nur bei sehr zerstreuten oder müden Probanden positiv und kann temporäre Leistungsverluste durch Ermüdung, Schlafentzug oder Langeweile ausgleichen, allerdings auch dies nicht mehrmals hintereinander oder gar über einen längeren Zeitraum hinweg (vgl. Walcher, 17 f.). Aus den bislang vorliegenden Studien wird aber auch der Schluss gezogen, Defizite durch Müdigkeit und Schlafentzug ließen sich durch Methylphenidat nicht aufheben und es fehlten generell objektive und konstante Belege für gesteigerte Wachheit und Aufmerksamkeit (vgl. Lieb, 72/ Metzinger 2012, 38). Ebenso divergieren die Angaben zu den Wirkungen auf die Gedächtnisleistung von leicht positiv über keine bis hin zu leicht negativen Effekten, wobei mutmaßlich viele Studien ohne Wirksamkeitsnachweis gar nicht veröffentlicht werden (vgl. ebd./ Walcher, 169 f./ Moesgen u. a., 100 f.). Etwas eindeutiger sind die Resultate für Modafinil, das chemisch nicht mit Amphetamin verwandt ist und dessen Wirkungsweise auf Dopamin und Noradrenalin noch nicht vollends geklärt ist (vgl. Franke u. a., 17). Die Substanz wurde gegen Narkolepsie, d. h. pathologischen Schlafdrang entwickelt und ist im Medikament mit dem Markennamen „Vigil“ enthalten. Während Probanden mit Schlafdefizit ähnlich wie nach der Einnahme von Amphetaminen <?page no="227"?> 227 4.2 Kognitives Enhancement deutlich erhöhte Wachheit, Aufmerksamkeit, verkürzte Reaktionszeiten und leicht verbesserte Gedächtnisleistungen aufwiesen, ergaben sich bei Probanden ohne Schlafentzug keine bis schwache Verbesserungen bezüglich Wachheit und Aufmerksamkeit (vgl. ebd./ Walcher, 194 ff./ Lieb, 74 f.). Eine Metastudie zu 45- Studien zeigte, dass bei Probanden nach Schlafentzug zwar die Wachheit, nicht aber die Aufmerksamkeit auf das ursprüngliche Niveau angehoben wurde, wohingegen ohne Schlafentzug widersprüchliche und höchstens geringfügig positive Auswirkungen auf die Aufmerksamkeit verzeichnet wurden (vgl. Moesgen u. a., 102 f.). Während nach einer anderen Studie die Probanden unter Modafinil ihre zu erbringende Leistung noch richtig einschätzten, wurde diese retrospektiv deutlich überschätzt (vgl. ebd., 103). Auf den ersten Blick scheinen gerade die zur Behandlung von Alzheimer entwickelten und erfolgreich eingesetzten Antidementiva für die geistige Leistungssteigerung besonders prädestiniert zu sein. „Donepezil“ als die bekannteste Substanz gehört zur Gruppe der Acetylcholinesterase-Inhibitoren, die durch eine Hemmung die Konzentration von Acetylcholin im synaptischen Spalt erhöhen (vgl. Franke u. a., 17). Während bei Patienten mit Alzheimer-Demenz nachweislich eine klinisch verbesserte Gedächtnisleistung erzielt wird, liefern die an gesunden Menschen durchgeführten Studien bislang inkonsistente Ergebnisse. In vielen Studien wurde eine zumindest geringe Verbesserung bestimmter Aspekte der Gedächtnisleistung wie beispielsweise des episodischen Gedächtnisses oder des visuellen Lernens festgestellt, in anderen jedoch nicht (vgl. Moesgen, 109 ff./ Leefmann, 37 f.). Neben leichten Verbesserungen ergaben sich in anderen Studien sogar Verschlechterungen von Wachheit und Aufmerksamkeit, Reaktionszeiten und Gedächtnisleistung (vgl. Lieb, 78 ff./ Franke u. a., 17/ Metzinger 2012, 38). Wenn es tatsächlich gelänge, mithilfe von Psychstimulanzien die Gedächtnisleistung gesunder Menschen erheblich zu verbessern, ergäbe sich folgendes Problem: Bei der relativ unspezifischen Wirkung von kognitiven Neuroenhancern über die Erhöhung von Dopamin und Noradrenalin bleibt höchstwahrscheinlich nicht nur dasjenige besser im Gedächtnis, was jemand konkret lernen will oder was für seine Zukunft von Nutzen sein könnte. Wie Tierexperimente nahelegen, wird vielmehr auch Unerwünschtes oder gar Schädliches wie schmerzliche oder traumatische Erfahrungen tief im Gedächtnis verankert (vgl. Lieb, 91 f.). Daher werden bereits Mittel zum Vergessen wie beispielsweise Beta- Rezeptoren-Blocker getestet, zu denen das in der Neuroenhancement-Debatte diskutierte Propanolol gehört (vgl. Leefmann, 34 f.). Indem der Betablocker das adrenerge Stresssystem, d. h. die Wirkung von Adrenalin und Noradrena- <?page no="228"?> 228 4 Neuro-Enhancement lin blockiert, konnte bei Probanden unmittelbar nach emotional belastenden Situationen die Verfestigung der unliebsamen Erinnerungen reduziert bzw. ihre Intensität abschwächt werden (vgl. ebd., 39 f./ Lieb, 83 f.). Ob damit auch wirklich einer langfristigen Speicherung psychisch belastender Ereignisse entgegengewirkt werden kann, hat aber noch keine Studie gezeigt. Genauso wie bei der generellen Erhöhung von Dopamin und Noradrenalin durch leistungssteigernde Neuroenhancer dürfte die Wirkung bei ihrer generellen Senkung außerdem so unspezifisch ausfallen, dass nicht nur die negativen, sondern auch die stark emotional aufgeladenen Erfahrungen gedämpft werden. Selbst wenn dank zukünftiger besserer Mittel lediglich den negativen Erinnerungen der Stachel genommen oder nur bestimmte von ihnen gezielt gelöscht würden, blieben aber ethische Vorbehalte: Individualethisch gesehen wäre es ungünstig, wenn die Betroffenen sich nicht mehr mit den ursprünglich emotional besetzten „neutralisierten“ Erfahrungen und Ereignissen auseinander setzen und so nicht mehr aus den Fehlern in der Vergangenheit lernen würden. Durch das selektive Auslöschen von Gedächtnisinhalten entstehen zudem Erinnerungslücken, welche die Kontinuität und Kohärenz der eigenen Lebensgeschichte durchbrechen und im Extremfall die Identität einer Person gefährden könnten (vgl. Talbot u. a., 271/ Kap. 4.1). Sozialethisch höchst bedenklich wäre es, wenn „neutralisierte“ Erfahrungen oder Erinnerungslücken zu einer Reduktion der Verantwortungsgefühle bezüglich des persönlichen Versagens führen. Infolge einer gefühlsmäßigen „Abstumpfung“ könnte es passieren, dass die Fähigkeit zur Empathie mit den Opfern verloren ginge und es damit zu mehr Gewalttaten käme (vgl. Lieb, 135). Die stimulierende und euphorisierende Wirkung von Psychostimulanzien kann nicht nur zu einem wünschenswerten Gefühl der Stärke und einem optimistischen Blick für die positiven Seiten des Lebens führen, sondern auch in einem negativen Sinn zu einem unangemessenen Gefühl der Stärke, zu Kritiklosigkeit und Selbstüberschätzung. Eine Studie aus dem Jahre 2008 untersuchte die Wirkung von Modafinil auf das Fahrverhalten von Probanden, die über Nacht wachgehalten wurden (vgl. Lieb, 92): Dabei wurden zwar die bisherigen Studienergebnisse bestätigt, dass Modafinil die Müdigkeit beseitigen und damit die objektiv messbare Fahrqualität verbessern kann. Die Studienteilnehmer schätzten jedoch ihre Fahrfähigkeit v. a. hinsichtlich des Haltens der Spur besser ein als objektiv im Fahrsimulator gemessen wurde. Eine solche Selbstüberschätzung kann zu einem riskanten Verhalten verleiten und sowohl die Betroffenen selbst als auch andere gefährden. Studien zum Wirkstoff Methyl- <?page no="229"?> 229 4.2 Kognitives Enhancement phenidat ergaben, dass bei Gesunden anders als bei ADHS-Patienten die erzielten verkürzten Reaktionszeiten in einer Austauschbeziehung mit erhöhten Fehlerquoten stehen (vgl. Walcher, 165 ff.; 171; 176 ff.). Ähnliche Zusammenhänge zeigten sich nach der Einnahme von Modafinil bei Teilnehmern ohne Schlafentzug (vgl. ebd., 195). Obgleich sich diese Psychopharmaka angeblich für die Erhöhung der Sicherheit bei Nachtdiensten im Gesundheitssektor oder im Flugbetrieb eignen, können gerade bei Ärzten oder Piloten kleinste Fehler aufgrund verkürzter Reaktionszeiten verheerende Folgen zeitigen. Schon bezüglich alltäglicher Tätigkeiten wie Autofahren wäre genau zu untersuchen, ob die potentielle Gefährdung von Mitmenschen überhaupt ethisch vertretbar wäre. Gegen die Dauereinnahme von Methylphenidat und Modafinil spricht zudem, dass die damit erzielte veränderte Denkweise nur für bestimmte Problemlösungen geeignet ist: Eine Verkürzung der Reaktionszeit lässt keine langwierigen Abwägungsprozesse und sorgfältigen Analysen der Informationen, Handlungssituationen und möglichen Handlungsfolgen zu, sondern führt zu einfachen Denkprozessen und einem eindimensionalen, strategisch-erfolgsorientierten und unkritischen Denkstil (vgl. ebd., 133; 251 f.; 256). Für ein rasches Abrufen gelernter Inhalte in Prüfungssituationen mag dieses Denken hilfreich sein, in den realen komplexen und globalen Handlungsverflechtungen der Gegenwart wäre jedoch ein vernetztes, umsichtiges und langfristiges Denken wünschenswert. Ein eindimensionales Denken und eine Konzentration ohne Ablenkung vereiteln zudem kreative Lösungsfindungen, weil beim kreativen, schöpferischen Denken dank eines freien und teilweise unbewussten Assoziierens neue originelle Bezüge zwischen scheinbar nicht in Zusammenhang miteinander stehenden Informationen oder Erlebnissen hergestellt werden (vgl. Lieb, 96 ff.). Insgesamt scheint ein pharmakologisches kognitives Neuroenhancement am erfolgreichsten zur Kompensation von kognitiven Leistungsverlusten infolge von Schlafentzug oder Ermüdung eingesetzt werden zu können, d. h. im Sinne eines kompensatorischen Enhancements. Sowohl bei den Psychostimulanzien als auch den Antidementiva ist davon auszugehen, dass die kognitiven Leistungen eines Gehirns unter optimalen Bedingungen wie genügend Schlaf durch den Medikamentenkonsum nicht weiter verbessert werden können (vgl. Moesgen, 103/ Leefmann, 37). Denn zwischen dem physiologischen Aktivierungszustand eines Organismus und seiner Leistungsfähigkeit besteht ein umgekehrt U-förmiger Zusammenhang, sodass bei einem zu hohen Erregungsniveau die Leistungsfähigkeit wieder abfällt (vgl. Lieb, 104 f./ Wagner, 22). Wie genau sich bestimmte Substanzen auf die kognitive Leistungsfähigkeit eines Individuums <?page no="230"?> 230 4 Neuro-Enhancement auswirken, differiert je nach der individuellen Ausgangsleistung und der genetischen Ausstattung bezüglich des Dopaminspiegels stark (vgl. Lieb, 107 ff./ Moesgen u. a., 112). Da mit Stimulanzien in erster Linie Antrieb, Wachheit und Aufmerksamkeit geringfügig gesteigert werden, läge genaugenommen ein kognitives Enhancement zweiter Ordnung oder ein Wachheits- oder Motivationsenhancement vor (vgl. Wagner, 22/ Moesgen u. a., 106 f.): Optimiert werden nicht kognitive Fähigkeiten wie logisch-abstraktes Denken, Informationsverarbeitung oder Gedächtnis, sondern motivationale Faktoren wie Wachheit, der Glaube an das eigene Durchhaltevermögen und das Selbstvertrauen bzw. die Zuversicht hinsichtlich des Erbringens guter persönlicher Leistungen. Durch den Konsum von Neuroenhancern werden Interesse und Begeisterung am Gegenstand der Arbeit erhöht und die Konsumenten berichten: „egal was du machst, du bist komplett drin“ (Wagner, 311). Da sich die von vielen Probanden geschilderten stimulierenden Wirkungen und positiven Einflüsse auf die kognitive Leistungsfähigkeit in Tests aber nicht in besseren faktischen Leistungen niederschlagen, verdanken sie sich mutmaßlich einem Placebo-Effekt (vgl. Hildt, 93/ Metzinger 2012, 37). Tatsächlich gaben in einer Studie zur gezielten Untersuchung dieses Placebo-Phänomens auch diejenigen der 96 Studenten an, sich „high“ und angeregt zu fühlen, die lediglich Placebos erhalten hatten (vgl. Moesgen, 102). Zusammenfassend muss also festgestellt werden, dass mit den bisher zur Verfügung stehenden pharmakologischen Mitteln nicht höhere IQ-Werte erreicht werden können, sondern nur größere Wachheit, längeres konzentriertes Arbeiten und das Überbrücken von Müdigkeitsphasen (vgl. Lieb, 92/ Schleim, 385). Hinsichtlich der Nebenwirkungen gilt als Grundregel, dass mit der Potenz der Wirkstoffe auch das Ausmaß an unerwünschten Nebenwirkungen zunimmt (vgl. Moesgen u. a., 92). Da die erhofften Wirkungen der derzeit legal erhältlichen kognitiven Neuroenhancer entweder ganz fehlen oder minimal ausfallen, sind zumindest die unmittelbaren Nebenwirkungen entsprechend geringfügig. Bei den Psychostimulanzien sind häufige kurzfristige Nebenwirkungen Anzeichen sogenannter „Hyperarousals“ wie Beschleunigung der Herzschlagfrequenz, Erhöhung des Blutdrucks, Schwitzen, Nervosität und Schlaflosigkeit (vgl. ebd./ Lieb, 88). Im Fall einer Überdosierung von Stimulanzien kann es zu Übelkeit und Erbrechen, Blutdruckkrisen, Verwirrtheitszuständen und starken Kopfschmerzen kommen (vgl. Lieb, 89). Antidementiva hingegen sind bis auf gelegentlich auftretende Magen-Darm-Beschwerden, Kopfschmerzen und Schwindel oder seltenere Nebenwirkungen wie leichtes Zittern, Appetitlosig- <?page no="231"?> 231 4.3 Moralisches Neuroenhancement keit und Störungen der Herztätigkeit gut verträglich (vgl. Moesgen u. a., 93). Wie bereits betont fehlen noch weitgehend Studien zum Langzeitgebrauch der Substanzen bei Gesunden, sodass mögliche Langzeitfolgen nicht ausgeschlossen werden können. Zu beachten gilt des Weiteren die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung bei den Psychostimulanzien, weil die Stimulierung des Belohnungssystems eine antriebssteigernde und euphorisierende Wirkung hat und alle Aktivitäten als interessanter, lohnender und zufriedenstellender erscheinen lässt (vgl. Hildt, 96). Am größten ist die Suchtgefahr bei den am stärksten wirkenden und die Dopaminproduktion direkt ankurbelnden Amphetaminen, und zwar insbesondere bei einer intranasalen oder intravenösen Anwendung mit impulsartiger Dopaminfreisetzung. Problematisch ist daher ein unkontrolliertes kognitivistisches Enhancement ohne medizinische Fachberatung und -betreuung, auch wenn noch kaum belastbare Aussagen über Abhängigkeitspotential und Toleranzentwicklung bei gesunden Menschen gemacht werden können (vgl. Moesgen u. a., 94). Letztlich muss bei einer Abwägung von Nutzen und Risiken der gesamte lebensweltliche Zusammenhang des Konsumenten in Betracht gezogen werden (vgl. Hildt, 96). Dringend erforderlich ist außerdem eine breite öffentliche Aufklärung und ein umfassender „Verbraucherschutz“ bezüglich sämtlicher Neuroenhancement-Verfahren, die außerhalb des Medizinsystems entwickelt und angeboten werden (vgl. Ach u. a., 51). Die bislang verfügbaren kognitiven Neuroenhancer sind jedenfalls nicht die erhofften Wundermittel zur Optimierung der geistigen Leistungsfähigkeit und können kaum einen nennenswerten Beitrag zum menschlichen Glück im Sinne der Wunsch- oder Gütertheorie gemäß Kapitel 4.2.2 leisten. 4.3 Moralisches Neuroenhancement Lange wurde in der bisherigen Neuroethik-Debatte das „moralische Enhancement“ gegenüber dem „emotionalen Enhancement“ (Kap. 4.1) und „kognitiven Enhancement“ (Kap. 4.2) gänzlich vernachlässigt. Das moralische Enhancement zielt auf Veränderungen von Eigenschaften, Fähigkeiten und Dispositionen von Personen ab, um diese selbst, ihr Denken und Handeln „moralisch besser“ zu machen (vgl. Earp u. a., 168/ Hildt, 90). Auch wenn es im Alltag und in der Ethik sehr verschiedene Konzepte und Auffassungen von „moralisch gut“ gibt, meint „gut“ dabei stets „gut für andere Personen oder die Gesellschaft“, nicht aber „gut für die handelnde Person selbst“. Denn während aus der prudentiellen Perspektive der „Individual“- oder „Strebensethik“ das Glück der Einzel- <?page no="232"?> 232 4 Neuro-Enhancement personen maximiert werden soll, geht es bei der moralischen Perspektive der „Sozial“- oder „Sollensethik“ um ein besseres Zusammenleben der Menschen (Kap. 2.1). Im Grundverständnis von Moral bzw. moralisch denkt oder handelt ein Mensch dann moralisch richtig, wenn er in angemessener Weise auf das Wohl der von seinem Handeln Betroffenen Rücksicht nimmt. Dabei gilt es in negativer Hinsicht Leid und Schaden zu vermeiden, in positiver Hinsicht darüber hinaus fundamentale menschliche Interessen etwa nach Freiheit oder Glück zu befördern. In einem sehr allgemeinen Sinn meint moralisch gut also etwa so viel wie „gemeinwohlorientiert“, „altruistisch“ oder „prosozial“ und steht damit im Gegensatz zu „eigennützig“, „egoistisch“ und „asozial“. Moralität bezeichnet eine solche Gemeinwohlorientierung, die sich zu einer stabilen charakterlichen Grundhaltung einer Person verfestigt hat und ihr habituell moralisch richtiges Handeln ermöglicht. Zur Messung der Qualität menschlichen Urteilens und Handelns ließe sich jedoch auch auf die faktische Moral rekurrieren, d. h. auf die Gesamtheit der in einer Gemeinschaft anerkannten Normen zur Regelung des Zusammenlebens. Solche in der Sozialisation gelernten Handlungsregeln wie „Du sollst nicht töten“ oder „Du sollst nicht stehlen“ erfüllen die erwähnte moralische Funktion, grundlegende menschliche Interessen wie dasjenige am Überleben oder Nichtbestohlenwerden zu schützen und für eine gerechte Ordnung zu sorgen. Wie die seit Jahrtausenden geführten moralphilosophischen Kontroversen und die historisch-kulturell divergierenden Moralvorstellungen zeigen, lässt sich das allgemeine Grundverständnis von „moralisch gut“ auf ganz unterschiedliche Weise konkretisieren. In der Diskussion um moralisches Enhancement gibt es entsprechend verschiedene und sich teilweise widersprechende Definitionen oder Konzepte von Moral und moralischer Besserung (vgl. Persson u. a., 1 f./ Earp u. a., 168/ Beck 2016, 110). In der ganzen Vielfalt möglicher Konkretisierungsweisen von Moral und Moralität lassen sich jedoch zumindest zwei Dimensionen oder Grundhaltungen voneinander abgrenzen, denen verschiedene moralische „Quellen“ entsprechen: Auf der einen Seite steht das Moralverständnis der Gerechtigkeitsethik („justice“), bei dem im Zeichen eines ethischen Rationalismus Moral in erster Linie eine Angelegenheit kognitiver Fähigkeiten eines rationalen, sachlich-nüchternen Denkens und des Wissens um allgemeine Prinzipien wie Gerechtigkeit und Fairness darstellt. Auf der anderen Seite steht das Moralverständnis der Fürsorgeethik („care“) und Gefühlsethik, demzufolge im Gegensatz dazu Empathie und Mitleid, die persönliche Anteilnahme und fürsorgliche Zuwendung in konkreten menschlichen Beziehungen entscheidend sind. Beide <?page no="233"?> 233 4.3 Moralisches Neuroenhancement Modelle weisen allerdings konzeptuelle Schwächen auf: So ist es ein Defizit einer Gerechtigkeitsethik und einer rationalistischen Ethik, dass sie ausschließlich die Vernunft der Menschen anspricht und Gefühle und motivationale Dispositionen völlig außer Acht lässt (vgl. Fenner 2016, 172 f.). Denn obgleich wir im Alltag ständig mit mehr oder weniger Erfolg das eigene oder fremde Handeln mithilfe ethischer Reflexionen und Argumentationen steuern, kann die Ausführung des moralisch Richtigen immer auch durch spontane Gefühle oder Wünsche nach egoistischer Interessenerfüllung verhindert werden. Wo sich jedoch eine naive Gefühlstheorie auf bloß faktische und reaktive Gefühle der Sympathie oder des Mitleids zwischen konkreten Personen verlässt, ist sie relativistisch und partikularistisch und verfehlt den für Moralphilosophie typischen objektiven Standpunkt der Moral. Da Mitgefühle mit nahestehenden Personen immer größer und unreflektierte Gefühle daher meist parteiisch sind, führt die gefühlsmäßige Zuwendung zu Personen und Situationen ohne allgemeine moralische Kriterien und Grundsätze keineswegs automatisch zu moralisch richtigen Entscheidungen und Handlungen (vgl. Fenner 2008, 210 f./ Bayertz 2004, 212 f.). Die von Carol Gilligan angestoßene feministische Kritik an der Vorherrschaft des als typisch „männlich“ geltenden Gerechtigkeitsmodells etwa von John Rawls und Lawrence Kohlberg führte zu einer unfruchtbaren Gegenüberstellung einer rationalistischen „männlichen Moral“ mit ihrer Orientierung an allgemeinen Prinzipien und einer intuitiven gefühlsbetonten „weiblichen Moral“ des persönlichen Involviertseins in spezifische Situationen (vgl. dazu Kymlicka, 225 ff.). Entsprechend der verschiedenen Ansichten über ein adäquates Moralverständnis gibt es in der Debatte um moralisches Enhancement einen Streit darüber, welches überhaupt die zu verbessernden moralisch relevanten Eigenschaften und Fähigkeiten sein sollen und welche biomedizinischen Methoden für ihre Steigerung geeignet sind (vgl. Beck 2016, 110/ Ach 2016, 140). Moralität erfordert aber ohne Zweifel beide Dimensionen oder Quellen der Moral, also sowohl rationales Nachdenken über eine Situation und Kenntnisse allgemeiner moralischer Beurteilungskriterien und Prinzipien als auch moralische Gefühle (vgl. Wildermuth, 1/ Jülich). Die jüngere empirische Hirnforschung macht anhand moderner bildgebender Verfahren anschaulich, wie bei moralischen Entscheidungen stets verschiedene für das Denken und Fühlen zuständige Hirnareale beteiligt sind. Hingegen gibt es kein „Moralzentrum“ als eigene moralische Hirnregion, wie in den Medien immer wieder kolportiert wird. Obgleich die Forschungen über das komplexe Zusammenwirken der verschie- <?page no="234"?> 234 4 Neuro-Enhancement denen neuronalen Prozesse noch am Anfang stehen, fanden die Neurowissenschaftler der „Jülich Aachen Research Alliance“ folgenden Zusammenhang heraus: Während moralische Urteile das Resultat rationaler Verarbeitungsprozesse darstellen, müssen sie über das empathische Mitfühlen mit anderen ins alltägliche zwischenmenschliche Leben eingebunden werden (vgl. Jülich). Dabei braucht es nicht nur die kognitive Fähigkeit, sich auf einer rationalen Ebene die Bedürfnisse und Interessen der vom Handeln Betroffenen zu vergegenwärtigen („theory of mind“), sondern auch emotionale Fähigkeiten wie Empathie, Sympathie oder Mitleid zum intuitiven Nachvollziehen der Gefühle der Mitmenschen. Da Gedanken genauso wie Gefühle eine neurobiologische Grundlage aufweisen, kann ein moralisches Enhancement sowohl auf der kognitiven als auch emotionalen Ebene ansetzen und bildet gleichsam einen Schnittbereich von kognitivem und emotionalem Enhancement. Die meisten Befürworter des moralischen Enhancements wie Ingmar Persson und Julian Savulescu konzentrieren sich allerdings auf die Verbesserung der emotionalen und motivationalen Dispositionen der Menschen in Richtung auf eine empathischere und fürsorglich-wohlwollendere Grundhaltung, also auf ein emotionales moralisches Enhancement. Vergleichsweise wenig Beachtung findet demgegenüber ein kognitives moralisches Enhancement mit dem Ziel, die moralische Urteilskraft und das Wissen um Moralprinzipien zu verbessern. Dementsprechend fällt auch die Gewichtung der nachfolgenden Kapitel aus: ▶ Emotionales moralisches Enhancement (Kap. 4.3.1) ▶ Kognitives moralisches Enhancement (Kap. 4.3.2) ▶ Fazit (Kap. 4.3.3) 4.3.1 Emotionales moralisches Enhancement Große Hoffnungen im Bereich des neuen Forschungsgebietes des moralischen Enhancements werden wohl deswegen auf das emotionale moralische Enhancement gesetzt, weil die Chancen einer gezielten biomedizinischen Einflussnahme auf der emotionalen Ebene viel größer zu sein scheinen als auf der kognitiven. Dabei sind es insbesondere Oxytocin und Serotonin, die als aussichtsreichste Substanzen zur Förderung altruistischer Gefühle wie Sympathie, Liebe oder Mitleid und einer Haltung der selbstlosen fürsorglichen Zuwendung und des Vertrauens gelten (vgl. Persson u. a., 3/ Earp u. a., 166 f.). Auf das „Bindungs-Hormon“ Oxytocin wird im Kontext des pharmakologischen Calvinismus ausführ- <?page no="235"?> 235 4.3 Moralisches Neuroenhancement lich eingegangen, sodass hier lediglich darauf verwiesen sei (Kap.- 4.4). Als die Neurowissenschaftlerin Molly Crocket von der Camebridge-Universität in ihren Experimenten bei den Probanden auf pharmakologische Weise die Ausschüttung des „Glücks-Hormons“ Serotonin erhöhte, stellte sie die Tendenz zu mehr Kooperationswille und Großzügigkeit und zu einer gesenkten Bereitschaft zur Schädigung anderer Personen fest (vgl. Sorgner, 57 f./ unten). Häufig führen die Befürworter des emotionalen moralischen Enhancements als Beleg für die biologische Basis der altruistischen Grundeinstellung der Menschen an, dass eine solche bei Frauen im Durchschnitt stärker ausgeprägt ist als bei Männern (vgl. Wildermuth, 1 f./ Persson u. a., 2 f.). Dies rechtfertigt allerdings noch lange nicht den von Persson und Savulescu gezogene Schluss, die altruistische Sorge um das Wohl der anderen könne kaum durch Erziehung und Reflexion, sondern nur mit biomedizinischen Mitteln verändert werden. Wie anlässlich der Kontroversen um eine vermeintlich „weibliche Moral“ zu Recht kritisiert wurde, könnte diese Differenz nämlich auch auf unterschiedliche gesellschaftliche Geschlechterrollen und die ungleiche Sozialisation von Frauen und Männern zurückzuführen sein (vgl. Kymlicka, 226 f.). Um die biologische Determiniertheit und damit Beeinflussbarkeit der psychisch-emotionalen moralischen Grundhaltung zu veranschaulichen, fehlt auch kaum je das Beispiel von „Psychopathen“, nach neuerer psychiatrischer Terminologie von „Menschen mit einer asozialen Persönlichkeitsstörung“ (vgl. Persson u. a., 2 f./ Earp u. a., 166 f.): Patienten mit diesem Störungsbild zeigen keine Empathie mit anderen Menschen, handeln trotz des Wissens um das moralisch Richtige durchweg egoistisch und haben keinerlei schlechtes Gewissen bei Verstößen gegen moralische Normen. Da viele von ihnen auf Psychotherapien wie die Verhaltenstherapie nicht ansprechen, setzen Neurobiologen die Hoffnung auf die zu Beginn von Kapitel 4 erwähnte transkranielle Magnetstimulation oder auf pharmakologische Therapien etwa mit Oxytocin. Alle pharmakologischen Methoden haben allerdings den gemeinsamen Makel, dass ihre moralspezifische Wirkung insbesondere bei Gesunden noch unzureichend erforscht ist und erst viele Zweifel und Verdachtsmomente auf unerwünschte Nebenwirkungen ausgeräumt werden müssten. So lautet ein kritischer Einwand, die Erhöhung von Botenstoffen wie Oxytocin oder Serotonin könne lediglich beim Vorliegen eines krankheitsbedingten Mangels wie im Fall von Psychopathen zu einem „normalen moralischen Funktionieren“ verhelfen. Während bei solchen psychischen Störungen meist ein isolierter und relativ klar lokalisierbarer, neurobiologischer Defekt vorliege, erfordere eine Steigerung <?page no="236"?> 236 4 Neuro-Enhancement über den Normalbereich moralischer Wünschbarkeit hinaus komplexe und subtile Eingriffe mit großem Risiko auf Misslingen (vgl. dazu Earp u. a., 178). Aber bereits auf einer begrifflichen Ebene wird in der gegenwärtigen Neuroenhancement-Debatte kontrovers diskutiert, was eine „normale moralische Funktionsfähigkeit“ überhaupt sein soll (vgl. Beck 2016, 120). Es stellen sich gerade auch in Anbetracht des psychiatrisch definierten Krankheitsbildes der „dissozialen Persönlichkeitsstörung“ (ICD-10: F60.2) die Fragen, ob es so etwas wie eine „moralische Therapie“ gibt, wo die Grenze zwischen „moralischer Therapie“ und „moralischem Enhancement“ läge oder wo die Kategorie des „kompensatorischen moralischen Enhancements“ angemessen wäre. Eine moralische Therapie bzw. ein kompensatorisches Enhancement würden sich insbesondere etwa bei der Resozialisierung von Straftätern anbieten, denen aggressionshemmende oder libido-unterdrückende Medikamente zu moralischem Verhalten verhelfen könnten (vgl. Beck, 121). Hinsichtlich des Wirkstoffes Oxytocin weckten Studien außerdem den Verdacht, dass der dadurch ausgelöste spontane Altruismus und die erhöhte Kooperationsbereitschaft lediglich auf die Beziehungen zu den eigenen Gruppenmitgliedern begrenzt sind. Einige Forschergruppen befürchten aufgrund dessen, dass die klare Bevorzugung der Mitglieder der eigenen Gruppe die Ablehnung von Außenseitern, Fremdenhass und Vorurteile verstärken könnte (vgl. Persson u. a., 3/ Tenzer). Berechtigterweise wird daher von den Kritikern des emotionalen moralischen Enhancements eingewandt, die positiven Wirkungen würden von der Mehrzahl der Befürworter deutlich überschätzt und die Risiken viel zu wenig beachtet (vgl. Beck 2016, 120). Selbst wenn ein gezieltes und nebenwirkungsfreies emotionales Neuroenhancement Menschen vertrauensvoller, empathischer und fürsorglicher machen könnte, verbleiben philosophische Bedenken gegenüber einer solchen angeblichen „moralischen Verbesserung“ der Menschen: Wie im Rahmen der allgemeinen Kritik an der Gefühls- und Fürsorgeethik bereits erwähnt, sind Empathie, Sympathie und Mitleid sehr unzuverlässig, parteiisch und potentiell ungerecht und führen keineswegs automatisch zu moralisch richtigem Handeln (vgl. dazu Earp u. a., 170/ Fenner 2008, 210 f.). Vor dem Hintergrund einer rationalistischen, gerechtigkeitsorientierten Ethik sind auch die Schlüsse aus den zwei Standardexperimenten fragwürdig, die von Ökonomen zur Messung „prosozialen“ bzw. moralischen Verhaltens konzipiert wurden: Wenn bei gesunden Probanden der Serotoninspiegel künstlich erhöht wurde, waren diese danach im „Ultimatum-Spiel“ trotz eines unfairen Angebots der Mitspieler eher zur Kooperation bereit und ertrugen die Ungerechtigkeit besser. Hingegen sind sie <?page no="237"?> 237 4.3 Moralisches Neuroenhancement im „Dicke-Mann-Gedankenexperiment“ weniger geneigt, einen dicken Mann für die Rettung von fünf anderen Personen zu opfern. Ein solches Handeln erscheint aber aus einer gerechtigkeitstheoretischen oder utilitaristischen Perspektive als moralisch falsch (vgl. dazu Earp u. a., 170/ Sorgner, 58 f.). In vielen Situationen sind durchaus negative Reaktionen etwa auf Ungerechtigkeit und Gewalt angemessen, wohingegen aus Empathie oder prosozialen Einstellungen inadäquate unmoralische Handlungsweisen hervorgehen können (vgl. Harris 2013, 288/ 2016, 113). Unabhängig von der Überzeugungskraft einzelner spezifischer Moraltheorien ist ein ausschließlich auf emotionaler Ebene ansetzendes moralisches Enhancement immer dann problematisch, wenn die Betroffenen aufgrund übersteigerter Empathie nicht mehr zu einer rationalen und distanziert-objektiven Analyse der konkreten Handlungssituation fähig sind. Denn was im unmittelbaren Nahbereich wie im Verhältnis der Mutter zu ihrem Kind ausreichen mag, stößt in komplexeren Situationen rasch an seine Grenzen: Statt bedingungslose Liebe und Zuwendung sind dann ausreichendes empirisches Fachwissen und moralische Urteilskraft erforderlich, um alle moralisch relevanten Gesichtspunkte erkennen, die verschiedenen moralischen Gründe für und gegen die zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen gegeneinander abwägen und die für alle Beteiligten bestmögliche Lösung herauszufinden zu können (vgl. Fenner 2016, 65 f.). Spontan auftauchende moralische Gefühle wie Sympathie oder Mitleid hingegen müssen stets daraufhin geprüft werden, ob sie nicht zu einer unangemessenen Rücksichtnahme auf das Wohl einzelner Beteiligter führen. Sie sind nicht als solche schon moralisch begrüßenswert, sondern nur in einem bestimmten Ausmaß und je nach Situation. Des Weiteren wird gegen eine pharmakologisch induzierte uneigennützige, einfühlsame und hilfsbereite Haltung eingewendet, dadurch würde das Vertrauen in die Moralität dieser Personen geschwächt (vgl. Kipke 2011, 257). So würde niemand guten Gewissens seinen Nachwuchs einem Babysitter anvertrauen, dessen liebevoller und geduldiger Umgang mit Kindern sich der Einnahme gewisser Psychopharmaka verdanke. Denn eine moralische Verbesserung durch das schnelle Einwerfen einer Pille sei nicht verankert und gewachsen wie bei langwierigen Selbstformungsprozessen, sondern äußerlich, oberflächlich und inkohärent. Vorgeworfen wird den Neuroenhancement-Konsumenten moralische Inauthentizität, d. h. das Auseinanderfallen von moralischem Denken und Handeln (vgl. ebd., 258/ Beck 2016, 117). Gemäß dem „identifikatorisch-reflexiven“ Modell könnte zwar ein gefühlskalter, misstrauischer Mensch authentisch sein, der sich durch ein Persönlichkeitsenhancement seinen tiefen <?page no="238"?> 238 4 Neuro-Enhancement Wunsch erfüllt, warmherzig und vertrauenswürdig zu sein (Kap. 4.2). Eindeutig inauthentisch wäre aber derjenige Babysitter, der Kinder verachtet und seine Zuneigung nur wegen seines Jobs vortäuscht. Denn nach kantischem gesinnungsethischem Moralverständnis handelt eine Person nur dann moralisch richtig, wenn sie eine gute Absicht hat und aus vernünftiger Überzeugung das moralisch Gebotene tut (vgl. Fenner 2008, Kap. 5.1). Demgegenüber ist zwar aus konsequentialistischer Sicht die Gesinnung des Handlungssubjekts völlig gleichgültig, weil nur das Resultat zählt. Ungeachtet dieser moraltheoretischen Kontroverse spielen aber in der alltäglichen sozialen Praxis insbesondere bei längerfristigen privaten oder beruflichen Beziehungen die jeweiligen persönlichen moralischen Überzeugungen unserer Interaktionspartner und deren Übereinstimmung mit ihrem Handeln sehr wohl eine große Rolle (vgl. ebd., 261). Das ethische Grundproblem des moralischen Enhancements genauso wie jeder partikularen Gefühls- und Fürsorgeethik scheint letztlich darin zu liegen, dass noch so starke altruistische Gefühle wie Empathie, Sympathie oder Großzügigkeit niemanden zur Überwindung einer egozentrischen Haltung und zur Einnahme des objektiven und unparteiischen Standpunkts der Moral bringen (vgl. Bayertz 2004, 209). Denn wer einem geliebten Menschen aus Sympathie hilft, hilft ihm eben nicht deshalb, weil dieser Hilfe braucht. Oxytocin oder andere Substanzen erzeugen keine innere moralische Haltung, weil sie kein unparteiisches Interesse am Wohl aller hilfsbedürftigen Menschen wecken. Emotionales moralisches Enhancement kann also letztlich nur die mechanische Grundlage für moralische Tugenden legen, ohne die Menschen wirklich moralisch besser zu machen (vgl. Buchanan u. a., 180). Vielmehr könnte eine sehr einfühlsame Person ihre emotionalen Fähigkeiten sogar dafür einsetzen, ihre Mitmenschen manipulativ zu betrügen. 4.3.2 Kognitives moralisches Enhancement Kritiker des emotionalen moralischen Enhancements wie Harris betonen, dass anstelle von Gefühlen kognitive Kompetenzen wie moralische Urteilsfähigkeit die entscheidenden Komponenten menschlicher Moralität bilden (vgl. 2013, 288). Als zentrales Prinzip der sozialethischen oder moralischen Perspektive stellte sich in Kapitel 2.2 die Gerechtigkeit heraus. Die gängige Rede von einem „Gerechtigkeitssinn“ suggeriert zwar, es handle sich um ein Sinnesorgan, das genauso biologisch beeinflusst werden könne wie andere Organe auch. Wie daselbst gezeigt ist „Gerechtigkeit“ aber ein höchst kontroverses und komplexes <?page no="239"?> 239 4.3 Moralisches Neuroenhancement theoretisches Konzept, das letztlich in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussionen argumentativ ausgehandelt werden muss. Grundlegend für die meisten Gerechtigkeitsvorstellungen sind jedoch die Ideen der „Gleichheit“ aller Menschen und der „Unparteilichkeit“, d. h. der gleichen Rücksichtnahme auf das Wohl aller Betroffenen unabhängig von persönlichen Vorurteilen, Sympathien oder Antipathien. Ethisch höchst bedenklich wäre ein direktes kognitives moralisches Enhancement, bei dem sich Menschen bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen oder konkrete Normen in einer Art Gehirnwäsche medikamentös induzierten oder gar durch andere injiziert bekämen. Denn aus ethischer Sicht urteilt und handelt ein Mensch nur dann moralisch richtig, wenn er frei und aus eigener Überlegung und Einsicht heraus das Richtige tut (vgl. Fenner 2008, 3). Ethisch legitim können daher nur kognitive Verbesserungen sein, die das selbständige Denken und die moralische Einsichtsfähigkeit der Betroffenen nicht unterminieren, sondern vielmehr unterstützen (vgl. Harris 2013, 288/ Earp u. a., 173). Das kognitive Enhancement ist nicht automatisch ein moralisches Enhancement, weil dabei weder das Bewusstsein für Gerechtigkeit geschärft noch die Einnahme eines objektiven Standpunkts der Moral begünstigt wird (Kap. 4.2). Allerdings könnten gesteigerte kognitive Fähigkeiten wie erhöhte Aufmerksamkeit, besseres Gedächtnis oder zuverlässigere Informationsverarbeitung die Voraussetzungen für ein kompetentes ethisches Reflektieren und Urteilen verbessern, genauso allerdings auch für unmoralische Machenschaften (vgl. Ach 2016, 140 f.). Wie erwähnt führt das beliebte Methylphenidat möglicherweise zu verkürzten Abwägungsprozessen und einem eindimensionalen, strategisch-erfolgsorientierten Denken, wohingegen die komplexen und globalen moralischen Probleme der Gegenwart gerade ein vernetztes, umsichtiges und langfristiges Denken erfordern. Bezüglich des kognitiven moralischen Enhancements sind die Möglichkeiten also sehr begrenzt, sodass eine pharmakologische Einflussnahme das Training der moralischen Urteilskraft und eine moralische Erziehung und Bildung niemals ersetzen kann. Fazit: indirektes kompensatorisches moralisches Enhancement Selbst unter enthusiastischen Enhancement-Befürwortern stößt die Idee eines moralischen Enhancements keineswegs auf einhellige Zustimmung, sondern auf viel Skepsis (vgl. Sorgner, 48 f./ Harris 2013, 286). Wie gezeigt sind die Zweifel berechtigt, dass Menschen dank biotechnologischer Verfahren moralisch besser werden können. Am aussichtsreichsten und erstrebenswertesten scheint ein <?page no="240"?> 240 4 Neuro-Enhancement indirektes moralisches Enhancement zu sein, das lediglich ergänzend und auf einer basaleren Ebene das moralische Urteilen und Handeln erleichtert oder unterstützt (vgl. Earp u. a., 173): Im Unterschied zu einem direkten moralischen Enhancement mit der gezielten Veränderung der Überzeugungen, Ziele oder Handlungsweisen der Menschen schafft das indirekte moralische Enhancement lediglich die emotionalen und motivationalen Voraussetzungen, damit das als moralisch richtig Erkannte auch handlungswirksam werden kann (vgl. Earp u. a., 171/ Persson u. a., 3). Für moralisches Denken und Handeln grundlegende Eigenschaften und Fähigkeiten wären emotionale Fähigkeiten des Mitfühlens, die eine affektive Identifikation mit den Betroffenen ermöglichen und zum Handeln motivieren. Dazu gehören aber auch kognitive Fähigkeiten wie aufmerksames Wahrnehmen und korrektes Schließen, eine zuverlässige Impulskontrolle oder Selbststeuerungsfähigkeit und Besonnenheit oder Gelassenheit, die ein ruhiges, gründliches Reflektieren erst möglich machen. Im Sinne eines kompensatorischen Enhancements könnte es eine wesentliche Aufgabe des indirekten moralischen Enhancements sein, die einer moralisch guten Absicht im Wege stehenden Gefühle oder Motive auszuschalten. Gemäß einem Vorschlag von Thomas Douglas soll moralisches Enhancement in der Verringerung von „counter-moral-emotions“ wie Dispositionen zu impulsiven Gewaltausbrüchen bestehen (vgl. 231). Auch nach Persson und Savulescu zählt in einem weiteren Sinn das Abschwächen negativer motivationaler Dispositionen wie die Neigung zu Gier, Eifersucht, Hass oder Aggression zum moralischen Enhancement (vgl. Persson u. a., 5). Oxytocin soll die Aktivität in den für heftige, vorwiegend negative Emotionen zuständigen Mandelkernen dämpfen, wodurch die Impulskontrolle gesteigert und „counter-moral emotions“ vermindert werden (vgl. Earp u. a., 177/ Wildermuth, 1). Grundsätzlich scheint ein moralisches Enhancement also nur begrenzt und kompensatorisch, vorwiegend indirekt und auf einer emotional-motivationalen Ebene realisierbar zu sein. Eine emotionale moralische Verbesserung Einzelner kann aber natürlich keine hinlängliche Antwort auf globale und strukturelle Probleme wie Erderwärmung, ökonomische Ungerechtigkeit oder Hungersnöte sein, die auf einer politischen Ebene gelöst werden müssen (vgl. Beck 2016, 119). Unabhängig von diesen großen theoretisch-konzeptuellen und praktischen Schwierigkeiten einer moralischen Verbesserung durch Biotechnologien wird darüber diskutiert, ob die moralische Selbstoptimierung nicht eine moralische Pflicht darstellt und sogar allgemeine Zwangsmaßnahmen rechtfertigen könnte (vgl. Beck 2016, 121). Nach Persson und Savulescu sind Entwicklung und indivi- <?page no="241"?> 241 4.3 Moralisches Neuroenhancement duelle Anwendung moralischer Enhancementmethoden Pflicht, weil angesichts immer globalerer Handlungsverflechtungen und weitreichenderer Handlungsfolgen durch moderne Technologien der Bedarf an Moralität stetig steige (vgl. Persson u. a., 5 ff.; 8). Thomas Metzinger zufolge muss jeder in seinem Leben um „ethische Integrität“ bemühte Mensch eine innere Verpflichtung zum Einsatz von Medikamenten verspüren, die ihm risikofrei eine bessere Umsetzung seiner Wertvorstellungen ermöglichen (vgl. 2009, 4). Andere hingegen erachten moralisches Enhancement nicht als vordringliches Ziel der Selbstoptimierung, weil Moralität für viele Menschen anders als etwa ein längeres Leben oder bessere Konzentrationsfähigkeit kein zentraler Wunsch ist (vgl. Sorgner, 61 f.). Da moralische Reflexionen und Handlungen auf das Wohl anderer statt auf persönliche Selbstoptimierung abzielen, können die individualethische Perspektive der Eigeninteressen und die sozialethische Perspektive des Allgemeinwohls auseinander klaffen. Auch wenn es vom individualethischen Standpunkt aus auf einer abstrakten Ebene keine logisch zwingenden Gründe für ein durchgängig altruistisches Handeln gibt, liegen gewisse indirekt moralisch relevante Eigenschaften oder Fähigkeiten der Menschen durchaus im langfristigen Selbstinteresse (vgl. dazu Fenner 2008, Kap. 1.3). So ist z. B. Empathie notwendig, um die für ein gutes menschliches Leben unverzichtbaren stabilen sozialen Beziehungen und Freundschaften aufbauen und aufrechterhalten zu können. Desgleichen verhelfen eine gute Impulskontrolle und eine verringerte Neigung zu Hass, Aggression und Gewalttätigkeit zu einem friedlichen Zusammenleben und kooperativer gegenseitiger Unterstützung, ohne die das Erreichen der meisten persönlichen Ziele und ein glückliches Leben kaum möglich wären. Obwohl solche indirekt moralisch relevante Eigenschaften individualethisch empfehlenswerte und auch gesellschaftlich nützliche „Allzweckgüter“ zu sein scheinen, stellt ihre Steigerung doch nicht unabhängig vom Situationsbezug und der Dosierung eine Verbesserung dar. Nur dann aber wäre eine gesellschaftliche Diskussion über allgemeine Gebote oder politische Maßnahmen wie z. B. dem öffentlichen Trinkwasser beigemischte moralfördernde Substanzen sinnvoll, analog etwa zum Fluor zur Verbesserung der normalen menschlichen Fähigkeit zur Kariesabwehr (vgl. dazu Sorgner, 55/ Buchanan u. a., 173 f.). <?page no="242"?> 242 4 Neuro-Enhancement 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt Nachdem in den Kapiteln 4.1 bis 4.3 bereits spezifische Kritikpunkte an den einzelnen Neuroenhancement-Formen diskutiert wurden, sollen in diesem Kapitel allgemeine Argumente für oder gegen das Neuroenhancement insgesamt analysiert werden. Außer dem ersten Pro-Argument (1) handelt es sich durchgängig um Gegenargumente, die sich bis auf die beiden letzten Kontra- Argumente (8) und (9) dem sogenannten Pharmakologischen Calvinismus zuordnen lassen. Gerald Klerman hat 1972 den Terminus „pharmakologischer Calvinismus“ in die Enhancement-Debatte eingeführt, der teilweise als „biomedizinischer Calvinismus“ auch auf andere Biotechnologien ausgeweitet wurde (vgl. Klerman, 1 f./ Jüngst, 36). Gemeint ist mit pharmakologischem Calvinismus das generelle Misstrauen gegen nichttherapeutisch eingesetzte Psychopharmaka oder Drogen und die Abwertung der auf diese Weise erzielten Zustände oder Leistungen (vgl. Kramer, 296/ Talbot u. a., 261). Was nicht durch eigene Anstrengungen, kontinuierliche Bemühungen und harte Selbstdisziplin erarbeitet wurde, hat aus dieser Warte keinen oder doch geringeren Wert. Das mühelose Schlucken von Pillen mit schneller und effizienter Wirkung genauso wie das passive Sich-Unterziehen eines medizinischen Eingriffs zur Leistungssteigerung werden als „unethisch“ geächtet. Der Bezug zum namensgebenden historischen Calvinismus ist allerdings problematisch, weil sich das Heil nach dieser religiösen Doktrin nicht eigenen Leistungen, sondern göttlicher Gnade verdankt und schon vor der Geburt von Gott festgelegt wurde. Anknüpfen lässt sich jedoch an das protestantische Leistungs- und Arbeitsethos mit Fleiß und Arbeitseifer und an den geforderten disziplinierten Lebensstil mit asketischem Verzicht auf Genussmittel und Bequemlichkeit. Bei der folgenden Darstellung der Gegenargumente gilt es kritisch zu prüfen, inwiefern traditionelle Methoden der Selbstoptimierung wie Bildung, Training oder Meditation besser sein sollen als technikbasierte oder pharmakologische wie Prothesen oder Pillen zur Leistungssteigerung oder Stimmungsaufhellung. Wenn die Medizin von allen Menschen begrüßt wird, um Krankheiten zu heilen, wieso ist sie dann ethisch verwerflich, wenn sie gesunden Menschen zu einer Verbesserung über das Normalmaß hinaus verhelfen kann? Bei den meisten Argumenten steht implizit oder explizit die Befürchtung im Hintergrund, dass konventionelle Methoden wie Erziehung oder Bildung mehr und mehr durch Enhancement-Technologien verdrängt werden könnten. Doch was geht eigentlich verloren, wenn das gleiche Ziel nicht durch eigenen Fleiß und Arbeit erreicht wird, sondern durch <?page no="243"?> 243 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt eine viel schnellere und bequemere technologische Lösung? Und könnten sich herkömmliche und neue Technologien nicht auch sinnvoll ergänzen? Pro-Argument Kontra-Argumente 1) Analogie zwischen Psychopharmaka und anerkannten Genussmitteln 2) Argument der Künstlichkeit der Mittel 3) Argument eines Selbstbetrugs 4) Argument eines Fremdbetrugs 5) Argument der falschen Lebensführung 6) Argument des falschen Selbstverhältnisses 7) Argument der Verdrängung wertvoller Alternativen 8) Argument des sozialen Drucks und Verlusts individueller Freiheit 9) Argument der Ungleichheit und Ungerechtigkeit 1) Pro-Argument: Analogie zwischen Psychopharmaka und anerkannten Genussmitteln Pharmakologisches Enhancement wird gerne mit dem Argument verteidigt, dass ähnliche Mittel zur Steigerung der Wachheit und Konzentration oder zur Emotionsregulation wie Traubenzucker, Schokolade, Energy Drinks, Kaffee, Tee, Alkohol oder Zigaretten erlaubt und akzeptiert sind. In der Literatur wird oft das Kaffee-Argument oder die „Kaffeefrage“ diskutiert, wobei der Kaffee exemplarisch für solche Genussmittel steht (vgl. Kipke 2011, 287/ Walcher, 191). Im Sinne der auch bei der ästhetischen Chirurgie angewandten „Einbettungsstrategie“ soll also die ethische Legitimität des Neuroenhancements ausgewiesen werden, indem der Konsum von Pillen in bereits etablierte und normativ gutgeheißene Praktiken eingebettet wird (Kap. 3.1): Allgemein gilt es als unproblematisch, Schokolade zu essen, um sich besser zu fühlen, zu Zigaretten oder Kaffee zu greifen, um wach und konzentriert zu bleiben, und Alkohol zu trinken, um richtig in Stimmung zu kommen. Es handelt sich um ein Analogie-Argument, bei dem auf deskriptiver Ebene Ähnlichkeiten zwischen Kaffetrinken und Tablettenschlucken festgestellt und auf die Gleichheit ihrer ethischen Bewertung geschlossen wird. Die Stärke solcher Analogie-Argumente im Bereich der Ethik hängt daher grundsätzlich davon ab, a) ob sich die beiden Handlungsweisen in allen ethisch relevanten Hinsichten gleichen oder wesentliche ungenannte Unterschiede aufweisen und b) ob die zum Vergleich herangezogene Praxis ethisch unstrittig ist. Verwirrenderweise werden Diskussionen über das Kaffee-Argument häufig vermischt mit der definitorischen Frage, ob <?page no="244"?> 244 4 Neuro-Enhancement Kaffee oder die anderen genannten Mittel zu den Neuroenhancern zu zählen sind oder nicht (vgl. dazu Leefmann, 49 ff./ Walcher, 191 ff.). Unabhängig vom Kaffee-Argument trifft man bisweilen auf sehr weite Definitionen von „Neuroenhancement“, die auch herkömmliche nichtverschreibungspflichtige Substanzen wie etwa Koffein, Energy-Drinks und „Ginko biloba“ aus den Blättern des asiatischen Ginko-Baumes zu den Neuroenhancern zählen (vgl. exemplarisch Franke u. a., 14 f.). Solche Grundsatzdebatten werden an dieser Stelle jedoch ausgeklammert, weil ganz pragmatisch an der zu Beginn von Kapitel 4 eingeführten Definition von „Neuroenhancement“ festgehalten wird: Gegenstand der noch jungen Debatte um Neuroenhancement sind die neuen medizinischen Maßnahmen, im Fall des pharmakologischen Enhancements die ab Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten Psychopharmaka. Pharmaka sind nach medizinisch-pharmakologischem Verständnis Arzneimittel oder Medikamente, die für die Heilung oder Verhütung von Krankheiten bestimmt sind oder sich zur Beeinflussung biologischer Funktionen eignen und von Ärzten beim Vorliegen einer entsprechenden medizinischen Indikation verschrieben werden müssen. Es soll zunächst die deskriptive Annahme (a) geprüft werden, derzufolge die in der Analogie verglichenen Praktiken der Selbstoptimierung hinreichend ähnlich sind und sich in keinen wesentlichen Hinsichten unterscheiden. Es liegt nahe, bei der kritischen Prüfung des Arguments mit der Betrachtung der Wirkungsweise der verschiedenen Substanzen zu beginnen und nach möglichen relevanten Differenzen zu fragen. Insbesondere beim Kaffee zeigen sich in einem direkten Vergleich tatsächlich keine bedeutsamen Unterschiede bei den erwünschten Wirkungen (vgl. Franke u. a., 17): Nach mehreren psychologischen Tests werden durch 600 mg Koffein (ca. sechs Tassen), 400 mg Modafinil und 20 mg Amphetamin Wachsamkeit, Aufmerksamkeit und Motivation im selben Ausmaß gesteigert. Zu vergleichen wären allerdings nicht nur die erwünschten Wirkungen, sondern v. a. auch möglicherweise zu erwartende Nebenwirkungen: Kaffee führt nur bei einer Überdosierung bei etwa 200-300 mg Koffein, d. h. ca. 2-3 Tassen Kaffee zu kurzzeitigen unerwünschten Nebenwirkungen wie Angst und Unruhe und verstärkter Herzfrequenz (vgl. Walcher, 193). Auch bei den Neuroenhancern Amphetamin, Methylphenidat und Modafinil fallen kurzzeitige Nebenwirkungen wie gesehen relativ gering aus, darunter sind erhöhter Blutdruck und innere Unruhe als Folge der erhöhten Konzentration von Dopamin und Noradrenalin (Kap. 4.2.3). Nur Amphetamine können in hohen Dosen und insbesondere in gespritzter Form lebensgefährlich sein und bergen ein hohes Suchtrisiko, das wenngleich in weit geringerem Maße auch bei Methylphenidat <?page no="245"?> 245 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt in Tablettenform besteht. Zwar kommt es auch bei einer längeren Einnahme von Kaffee zu einer Toleranzentwicklung, d. h. zu einer nachlassenden Wirkung bei gleicher Dosis und zu einer Abhängigkeitsentwicklung mit Entzugssymptomen wie Kopfschmerzen, Müdigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten (vgl. Walcher, 192 f.). Aber selbst bei Dauergebrauch hat Kaffee keine schädlichen Langzeitwirkungen und macht weniger abhängig, weil im Gegensatz zu den Amphetaminen der euphorisierende Effekt fehlt und sich nach mehreren Tassen bereits Unruhe und Angst einstellen (vgl. ebd., 191 f.). Da bei den Neuroenhancern Langzeitfolgen noch unzureichend erforscht sind und Gesundheit ein wichtiges Gut darstellt, bildet diese fehlende Gewissheit einen ethisch relevanten Unterschied zwischen herkömmlichen und neuen biomedizinischen Mitteln (Kap. 4.1.1; 4.2.3). Die Analogie zwischen den Neuroenhancern und Kaffee oder anderen Genussmitteln ist also solange argumentativ unzulänglich, als die jeweiligen Wirkungen und Spätfolgen konkreter Substanzen nicht hinreichend bekannt sind und miteinander verglichen werden. Gegen das Kaffee-Argument wird aber außerdem als relevanter Unterschied auf einer deskriptiven Ebene geltend gemacht, das Kaffeetrinken sei anders als das Schlucken von Pillen stets in ein Geschmacks- und Genusserleben eingebettet. Die beim Neuroenhancement im Vordergrund stehenden Absichten der Leistungssteigerung oder Stimmungsaufhellung seien hingegen zweitrangig und könnten auch ganz fehlen, sodass diese Funktionen höchstens mehr oder weniger erwünschte Nebeneffekte darstellten (vgl. Kipke 2011, 287/ Maio 2018, 245). Die Analogie wäre dann in deskriptiver Hinsicht fehlerhaft, weil sie einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Substanzklassen der Pharmaka und der sogenannten Genussmittel ausblendet. Unter Genussmittel zählen Lebensmittel, die nicht in erster Linie aufgrund ihres Nährwerts zum Zweck der Sättigung zu sich genommen werden, sondern wegen ihres Geschmacks und ihrer anregenden oder entspannenden Wirkung. In einem weiten Sinn werden auch Tabakwaren zu den Genussmitteln gezählt, obgleich sie natürlich nicht wie Lebensmittel verzehrt werden. Dieses definitorische Argument gegen die deskriptive Vergleichbarkeit der beiden Substanzklassen müsste aber noch deutlich machen, wieso diese unterschiedliche Klassifizierung für den Vergleich der beiden Praxisformen überhaupt relevant sein soll und damit bei ihrer ethischen Bewertung beachtet werden muss. Es mag zwar zutreffen, dass der Konsum von Genussmitteln in aller Regel weniger instrumentell erfolgt als das Schlucken von Neuroenhancern. Für die Herstellung einer Analogie reicht es aber völlig aus, dass im Alltag beispielsweise Kaffee sehr häufig zur Erhöhung der Wach- <?page no="246"?> 246 4 Neuro-Enhancement heit bzw. kompensatorisch zur Überwindung von Schläfrigkeit getrunken wird. Diese Motivation wird keineswegs durch die noch hinzukommende zusätzliche Motivation des Genießens aufgehoben, sondern vielmehr ergänzt. Die Analogie zwischen neuentwickelten Psychopharmaka und traditionellen Genussmitteln erwies sich also in deskriptiver Hinsicht zwar nicht aufgrund der mit den verschiedenen Substanzklassen verbundenen unterschiedlich gewichteten Motive, aber mit Blick auf teilweise noch zu wenig erforschte Langzeitwirkungen als problematisch. Im Folgenden soll es um die normative Frage (b) nach der ethischen Legitimität des Konsums herkömmlicher Genussmittel zu ähnlichen Optimierungszwecken wie beim Neuroenhancement gehen, die beim Analogie-Argument zumeist als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Kritiker des Ausdehnungsarguments verwenden bei genauerer Betrachtung die scheinbar objektive definitorische Unterscheidung zwischen „Genussmitteln“ und „Psychopharmaka“ oft weniger deskriptiv, sondern vielmehr offen oder versteckt normativ: Bereits der Begriff „Genussmittel“ ist insofern versteckt normativ bzw. krypto-normativ, als er bezüglich seiner Wirkung Harmlosigkeit und positiven Lustgewinn suggeriert und damit eine ethische Billigung nahelegt. Oft wird zusätzlich noch die „Natürlichkeit“ herkömmlicher Mittel wie Kaffee oder Alkohol im Gegensatz zu den „künstlichen“ synthetischen Pharmaka hervorgehoben und als Beweis für ihr geringeres Risiko und ihren höheren Wert herangezogen. Auch dieses Natürlichkeits-Argumenten ist jedoch höchst problematisch, wie im nachfolgenden Kontra-Argument der Künstlichkeit noch ausführlich dargelegt wird (vgl. Argument 2). In Wirklichkeit sind nämlich längst nicht alle Genussmittel ethisch unbedenklich, auch wenn ihnen wie im Falle des Alkohols in unserem westlichen Kulturkreis eine hohe soziale Bedeutung zugeschrieben wird. Denn auf der Körperebene führen bereits geringe Alkoholmengen zu Beeinträchtigungen der Sehleistung und der Konzentrationsfähigkeit und in zunehmendem Maß zu Kontrollverlust, weshalb man sich nicht mehr ans Steuer setzen sollte. Genauso wie beim Tabakrauchen drohen bei einem regelmäßigen Konsum zudem schwerwiegende Langzeitfolgen wie ein stark erhöhtes Krebsrisiko, und beide weisen ein großes Suchtpotential auf. Es handelt sich also um ein äußerst schwaches Traditions-Argument, wenn zu Legitimationszwecken lediglich auf die lange Tradition und die weithin geltende faktische Anerkennung einer Praktik wie des Alkoholtrinkens verwiesen wird. Denn das Beharren auf bloßen Üblichkeiten sagt nichts über die ethische Richtigkeit dieser eingeschliffenen Praktiken aus. <?page no="247"?> 247 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt Nicht zuletzt sind solche faktischen gesellschaftlichen Werthaltungen historisch und kulturell relativ, wobei sich selbst die Zuordnung der verschiedenen Verbesserungsmethoden zu „Genussmitteln“ oder „Medizin“ ändern kann: Je nach Stand der Forschung und unterschiedlichen gesellschaftlichen Anforderungen wurden die gleichen Substanzen mal für den Genuss, ein Enhancement oder eine Therapie verwendet, sodass sich die Grenzen zwischen ihnen verschob. Alkohol beispielsweise galt lange als Medizin, und die Einnahme gewisser Stimulanzien war bis zur Diagnose neuer Krankheitsbilder wie Narkolepsie oder ADHS ein individuelles Enhancement, danach eine Therapie (vgl. Lieb, 18 ff.). Desgleichen wurden auch nicht alle erwähnten traditionellen Mittel zu allen Zeiten und in allen Kulturen gleich bewertet. So galt Kaffee lange aufgrund seiner orientalischen Herkunft als verrucht, das Rauchen hingegen wird erst seit jüngerer Zeit geächtet, und Alkohol ist in islamischen Kulturen verboten. Für eine ethische Einschätzung der fraglichen Praktiken können aber natürlich weder definitorische Unterscheidungen noch sich historisch-kulturell wandelnde faktische Wertvorstellungen ausschlaggebend sein. Daher ist auch die pauschale Abwertung der zu Enhancement-Zwecken konsumierten Psychopharmaka genauso wenig dadurch gerechtfertigt, dass es sich um verschreibungspflichtige „Medikamente“ handelt. Denn wenn der Konsum von Neuroenhancern von vornherein als „Medikamentenmissbrauch“ interpretiert wird, wäre er als illegal abzulehnen. Mehr als „kryptonormativ“, nämlich deutlich vorverurteilend ist die Verwendung des Begriffs „Hirndoping“ für den Konsum von Arzneimitteln außerhalb einer Therapie, der in bewusster Nähe zum verbotenen Doping im Sport gewählt wird (vgl. ebd., 25). Eine solche Missbilligung ist aber keineswegs schon durch die Begriffsverwendung allein argumentativ gerechtfertigt, da vielmehr die ethische Relevanz der Unterscheidung erst nachzuweisen wäre. Stellten sich die heute noch von vielen skeptisch bis ablehnend beobachteten pharmakologischen Selbstoptimierungs-Praktiken als ethisch unbedenklich und wünschbar heraus und würden gesellschaftlich legitimiert und legalisiert, könnten sie sich in der Alltagspraxis als „Üblichkeiten“ etablieren und es handelte sich auch nicht mehr um einen Medikamentenmissbrauch (vgl. Leefmann, 51). Eine genauere Prüfung des Analogie-Arguments hat also gezeigt, dass die Argumentationsweise viel zu undifferenziert ist und die Argumentationslast nicht tragen kann. Wie bei den weiteren Argumenten noch zu sehen sein wird, müssen neben den jeweiligen konkreten Wirkungen der einzelnen Substanzen auch noch viele weitere Unterscheidungskriterien zwischen traditionellen und pharmakologischen Methoden berücksichtigt werden. <?page no="248"?> 248 4 Neuro-Enhancement 2) Kontra-Argument der Künstlichkeit der Mittel Großer Beliebtheit erfreut sich insbesondere unter pharmakologischen Calvinisten das Argument der Natürlichkeit bzw. Künstlichkeit, demzufolge nur „natürliche“ Mittel gut, „künstliche“ wie Medikamente oder operative Eingriffe hingegen schlecht sind (vgl. Juengst, 36/ Cole, 153 f.). Wie in Kapitel 2.4.2 erläutert, fehlen aber bereits auf einer deskriptiven Ebene klare und einheitliche Kriterien für diese komparative Unterscheidung zwischen „Natürlichkeit“ und „Künstlichkeit“. Dabei werden beim Natürlichkeits-Argument „Natürlichkeit“ und „Künstlichkeit“ meist in einem genetischen Sinn verstanden, d. h. mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Verbesserungsmethoden (vgl. Birnbacher, 8; 103 f./ Kap. 2.4): „Natürlich“ wäre in einem strengen Sinn nur, was nicht vom Menschen gemacht oder ohne menschliches Zutun nach den Gesetzen der Natur geschieht. Die von Enhancement-Gegnern typischerweise als „natürlich“ bezeichneten Methoden wie Bildung, sportliches Training oder Meditation sind aber schwerlich ursprünglich, naturwüchsig und unverfügbar in dieser genetisch-biologischen Bedeutung, sondern eher „künstlich“ im Sinn von planungsvoll, kunstfertig oder technisch ausgefeilt. Strenggenommen kann keine der gezielten menschlichen Beeinflussungsmethoden geistiger oder psychischer Eigenschaften wie Denken, Aufmerksamkeit oder Stimmung „natürlich“ genannt werden, also weder Neuroenhancement noch Bildung, Meditation oder Alkoholtrinken (vgl. Leefmann, 81 f.). Es liegt vielmehr eine graduelle Abstufung zwischen mehr oder weniger künstlichen Selbstoptimierungs-Techniken vor, je nach Maß des dafür erforderlichen Expertenwissens, der Fertigkeiten und Hilfsmittel sowie der Planmäßigkeit ihres Einsatzes. Eine Grenze am oberen Ende dieser abgestuften Skala könnte allenfalls dort gezogen werden, wo sich die Mittel einer rein synthetischen Herstellung verdanken wie im Fall der meisten Neuroenhancer. Viele Pharmaka gehen aber auf Naturstoffe zurück oder es werden durch chemische Synthese Substanzen erzeugt, die auch in der Natur vorkommen und also in einem qualitativen Sinn von „Natürlichkeit“ aufgrund ihrer aktuellen Eigenschaften durchaus „natürlich“ sind (vgl. Birnbacher 2006, 16/ Kap. 2.4). Oft rückt bei der Verwerfung pharmakologischer Mittel und der Bevorzugung von herkömmlichen Methoden der Begriff „natürlich“ in die Nähe von „speziestypisch angemessen“ im Sinne der menschlichen Natur oder dem, was „traditionell gesichert“ und „kulturell normal“ hinsichtlich der Kultur als „zweiter Natur“ des Menschen gilt. Dabei fehlt aber ein eindeutiger Bezug auf eine biologisch-deskriptive menschliche Natur oder eine allen <?page no="249"?> 249 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt kulturellen Wertungen vorgelagerte Naturordnung, weil lediglich das in einer bestimmten Zeitspanne der kulturellen Evolution als „typisch menschlich“ Geltende hypostatisert wird (ebd., 103; 186 f.). Selbst wenn die Grenze zwischen „natürlich“ und „künstlich“ auf einer deskriptiven Ebene klar gezogen werden könnte, ist ihre normative Bedeutung und die Verurteilung der künstlichen Mittel und deren Einnahme höchst zweifelhaft. Denn seit David Hume gilt die Ableitung von Sollensforderungen aus Seinsbeschreibungen oder Naturtatsachen in der Ethik als Sein-Sollen-Fehlschluss oder naturalistischer Fehlschluss (Kap. 2.4). Dennoch hält sich in der Alltagsmoral hartnäckig ein sogenannter Natürlichkeitsbonus, sodass alles „Natürliche“ als „gesund“ und „harmlos“ und alles „Künstliche“ als tendenziell schädlicher und risikoreicher eingestuft wird (vgl. ebd., 22 f.). Zwar können zugegebenermaßen bei neu entwickelten synthetischen Substanzen während einer längeren Testphase v. a. negative Langzeitwirkungen nicht ausgeschloßen werden. Aber es gibt auch jede Menge giftiger Substanzen in der Natur, und der Konsum natürlicher Genussmittel wie Kaffee oder Alkohol ist je nach Maß keineswegs unbedenklich, sodass die Schädlichkeit im Einzelfall geprüft werden muss (vgl. oben, Argument 1). Dasselbe gilt für die Bevorzugung „natürlicher“ Mittel aufgrund der häufig unterstellten größeren „Dauerhaftigkeit“ oder „Nachhaltigkeit“ ihrer Wirkung. Obgleich die meisten Pillen tatsächlich nur für ein paar Stunden wirken, können durch pharmakologisches Enhancement bereits heute dauerhafte Veränderungen im Gehirn etwa dank eines Nerven-Wachstums-Faktors vorgenommen werden und könnten weitere Möglichkeiten entwickelt werden (Whitehouse u. a., 19). Welche Methoden in der Neuroenhancement-Debatte als „natürlich“ und „künstlich“ gelten, verdankt sich in den meisten Fällen normativen kulturellen Vorstellungen und traditionellen Gepflogenheiten: Als „künstlich“ werden schlicht diejenigen Beeinflussungsmethoden kognitiver oder psychischer Eigenschaften empfunden, die in einer historischen Gemeinschaft nicht „normal“ und „üblich“ sind (vgl. Birnbacher 2006, 103). Es handelt sich aber um einen Zirkelschluss, wenn moralische Intuitionen in die Natur hineinprojiziert werden oder missbilligte Praktiken mit dem „Widernatürlichen“, „Abartigen“ und „Entarteten“ in Verbindung gebracht werden (vgl. ebd., 30 f.). Faktisch wird die Grenze zwischen ethisch erlaubten und verbotenen biotechnologischen Verbesserungsmaßnahmen ohnehin in den meisten Lebensbereichen unabhängig von der Unterscheidung in „natürliche“ und „künstliche“ Mittel gezogen und ist dann klarerweise soziokulturell relativ. So wird es in unserer Gesellschaft beispielsweise nicht als verwerflich <?page no="250"?> 250 4 Neuro-Enhancement angesehen, dass Musiker vor einem Konzert zur Senkung des Lampenfiebers Betablocker einnehmen. Bei bestimmten sportlichen Anlässen jedoch fällt diese Methode unter das verbotene „Doping“ (Kap. 3.4). 3) Kontra-Argument eines Selbstbetrugs Das im Rahmen des pharmakologischen Calvinismus weit verbreitete Selbstbetrugs-Argument besagt, die Konsumenten von Psychopharmaka oder Anwender technischer Hilfsmittel würden sich selbst in einem doppelten Sinn betrügen: Denn sie verkennen a) dass die herkömmlichen Optimierungsmethoden wie Bildung, Meditation oder sportliches Training einen intrinsischen Wert haben und b) die Wahl bequemerer biomedizinischer Mittel auch den Wert des anvisierten Ziels bzw. der gewünschten Verbesserungen mindere (vgl. Cole, 155/ Brock 1998, 58/ Juengst, 37). Im Unterschied zum bloßen Pilleneinwerfen seien traditionelle Praktiken wie das harte und minutiös geplante jahrelange Training eines Marathonläufers oder das ebenso disziplinierte Meditieren über verschiedene Stufen bis hin zur völligen Versenkung in sich wertvoll und würden um ihrer selbst willen geschätzt. Anders als bei Maschinen zähle bei Menschen nicht nur das Ergebnis, sondern auch der Weg und die Investitionen und Anstrengungen zum Erreichen einer Verbesserung (vgl. Kass u. a., 143). Verdanken sich die gleichen Ziele wie ein ausdauernder Lauf oder eine spirituelle Erleuchtung lediglich einem biochemischen Enhancement, käme ihnen jedoch kein oder doch ein viel geringerer Wert zu und die entsprechenden Leistungen verlören ihre „Dignität“ und wären weniger bewundernswert (vgl. ebd., 140). Biomedizinische „Abkürzungen“ würden also die Praktiken hintergehen oder unterwandern, die eine Leistung erst wertvoll machen. Dabei wird zur Veranschaulichung des intrinsischen Werts traditioneller Verbesserungsmethoden gerne eine Analogie hergestellt zum Bergsteigen oder Bücherschreiben: Der Wert des Ersteigens eines Gipfels liege in der physischen und mentalen Disziplin, der Erfahrung des sich allmählich weitenden Ausblicks und dem Empfinden der persönlichen Vervollkommnung (vgl. Cole, 155). Gelangt jemand hingegen dank technischer Hilfsmittel wie einem Helikopter oder einer Seilbahn auf den Gipfel, hätte das gleiche Ziel für ihn selbst und in der sozialen Wertschätzung bei Weitem nicht die gleiche Bedeutung. Dasselbe gelte für ein Buch, dem nur als Abschluss eines langwierigen Prozesses des Reflektierens und Schreibens Wert zukomme. Trotz vieler anschaulicher Beispiele bleibt dabei aber die Verbindung zwischen Aufwand und Ziel, Erstreben und Erreichtem <?page no="251"?> 251 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt vage und ungeklärt. Sicherlich verändern neue Mittel eine Handlung, da sich jede Handlung aus dem Ziel und den für die Zielverfolgung verwendeten Mitteln zusammensetzt. Auch kann ein Ziel nicht ethisch gutgeheißen werden, wenn die dafür aufgewendeten Mittel ethisch bedenklich sind und z. B. jemand Schaden nimmt. Doch verlieren ein anvisiertes Ziel und die ganze Handlung automatisch ihren Wert dadurch, dass die Mittel wie das Pillenschlucken keinen intrinsischen Wert aufweisen? Bei den verschiedenen Beispielen wie dem Marathonlaufen, Meditieren, Bergsteigen und Bücherschreiben handelt es sich um Spezialfälle intrinsisch-selbstzweckhafter oder engagement- oder praxisorientierter Tätigkeiten (vgl. Santoni, 181 f./ Merkel, 200). Solche Handlungen mögen zwar auch auf äußere Ziele wie einen sportlichen Wettkampf, das endgültige Nirwana, das Erklimmen des Gipfels oder eine Buchveröffentlichung ausgerichtet sein. Darüber hinaus liegt aber auch ein Ziel in den Tätigkeiten selbst, sodass der Weg gleichsam ihr Ziel darstellt und sie schon um ihrer selbst willen gewählt werden. Bei einer biomedizinischen „Abkürzung“ bzw. einem Nichtbegehen dieses Wegs würden sich die Betroffenen gewissermaßen um diese intrinsischen Aktivitäten und die damit verbundenen wertvollen Erfahrungen „betrügen“. Da intrinsisch-selbstzweckhafte Handlungen wie oben gesehen einen wesentlichen Beitrag zum Glück der Menschen leisten, wäre ihr völliger Ersatz durch pharmakologisches Enhancement zweifellos individualethisch unklug (Kap.-4.1.2). Außerdem würde sich jemand um die bei solchen Aktivitäten eingeübten Tugenden, Fähigkeiten oder Kompetenzen wie Selbstdisziplin, Fleiß und Ausdauer „betrügen“, die in unserer Gesellschaft gleichfalls als solche geschätzt werden und bei der Erreichung persönlicher Lebensziele nützlich sein können (vgl. Talbot u. a., 267). Das Selbstbetrugs-Argument übersieht jedoch, dass medikamentöse oder technische Hilfsmittel in den allermeisten Fällen lediglich unterstützende Funktion haben, aber keineswegs die Eigenaktivität der Selbstoptimierer erübrigen. Neuroenhancer erhöhen beispielsweise lediglich die Aufmerksamkeit oder die Konzentrationsdauer der Betroffenen, ohne den Prozess des Lernens oder Schreibens selbst überflüssig zu machen. Genauso zerstören auch technische Geräte keineswegs die intrinsische Praxis, heben aber die persönlichen Bemühungen gleichsam auf eine höhere Ebene. Obgleich etwa ein Computer das Überarbeiten von Texten erleichtert und die Aufmerksamkeit auf das Finden passender Worte oder argumentative Stringenz verlegt, bleibt der Schreibprozess ein „Kampf “ (vgl. Cole, 156). Häufig lassen sich dank technologischer Mittel erfüllendere Tätigkeiten ausüben und höhere Ziele an- <?page no="252"?> 252 4 Neuro-Enhancement streben, deren Erreichen dann wiederum das Höchstmaß an Anstrengung und Ausdauer erfordern. Unter Umständen ermöglichen es Pillen wie „Prozac“ den Einzelnen erst, ihre vorhandenen Fähigkeiten und Kompetenzen voll zur Entfaltung zu bringen (Kap. 4.1.3). Anstelle pauschaler Verwerfungen wären also bei solchen intrinsischen, praxiszentrierten Tätigkeiten im Einzelfall die Anteile der menschlichen und technischen Beiträge und die Art des Einflusses der Technik auf den Handlungsvollzug zu prüfen (vgl. Merkel, 201). Hinsichtlich der Ziele der Selbstoptimierung besteht aus der Teilnehmerperspektive sicherlich in vielen Fällen ein interner Zusammenhang zwischen der Art der Zielerreichung und der Qualität des Ziels: Wer nach einer strapaziösen und gefährlichen Klettertour die Bergspitze erreicht, ist anders als der mit der Seilbahn Hochgefahrene erfüllt von Stolz, Selbstachtung und Selbstbewusstsein. Nicht alle Menschen entwickeln aber aufgrund der Zuhilfenahme von Pharmaka oder technischer Geräte sogenannte calvinistische Gefühle des Nicht-Verdienthabens, sondern viele dürften wie Spitzensportler einer amerikanischen Umfrage bereit sein, für die Erlangung ihres Ziels jedes Mittel einzusetzen, und die dadurch erzielten Rekordleistungen sogar besonders genießen können (vgl. Gesang, 90 f./ Birnbacher 2006, 112). Auch aus der Beobachterperspektive verhält es sich gerade im Fall extrinsischer, ergebnisorientierter Tätigkeiten keineswegs so, dass der geleistete Aufwand oder die Genese einen Einfluss auf die Bewertung des Resultats hätten (vgl. Merkel, 201/ Schöne 2006, 281). So wird das konzentrierte, zielgenaue Operieren eines Chirurgen oder das gewandte Rechnen oder Sprechen vieler Fremdsprachen auch dann allseits bewundert, wenn es sich der Unterstützung durch Neuroenhancer oder einem Gedächtnis- oder Rechenchip im Hirn verdankt. Aber selbst im Fall intrinsischer Tätigkeiten besteht keine logisch zwingende Verbindung zwischen Genese und Ziel: Das Nirwana, das Genießen des Ausblicks auf dem Berggipfel oder die Buchveröffentlichung sind durchaus eigenständige Ziele mit eigenem Wert, sodass beispielsweise der objektive Wert der Schriften von Charles Baudelaire oder Jean-Paul Sartre durch die Tatsache ihres Stimulanzienkonsums keineswegs vermindert wird. Nur bei wenigen engagementzentrierten Tätigkeiten wie z. B. im schulischen oder sportlichen Kontext besteht ein interner logischer Zusammenhang zwischen der Art und Weise der Zielerreichung und der Qualität des Ziels, weil die Einhaltung bestimmter Regeln konstitutiv für die Tätigkeit z. B. des Ruderns oder Marathonlaufens ist (vgl. Santoni, 182 ff./ Pawlenka, 16). Nicht anders als im Sport erfolgt die Zuschreibung von sozialer Wertschätzung an bestimmte Optimierungsergebnisse jedoch im Alltag oft nach willkürlichen <?page no="253"?> 253 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt Festsetzungen, die sich häufig im Laufe der zunehmenden Akzeptanz neuer Technologien ändern und eigentlich im Einzelfall gerechtfertigt werden müssten. Aus individualethischer Perspektive empfiehlt sich bei selbsttätig erreichbaren Zielen eine Abwägung zwischen dem allenfalls zu erwartenden Mehrwert an Stolz und sozialer Wertschätzung einer aus eigener Kraft und Anstrengung realisierten Verbesserung einerseits und den dafür aufzubringenden Strapazen und Risiken andererseits. 4) Kontra-Argument eines Fremdbetrugs Im Unterschied zum Selbstbetrugs-Argument geht es beim Fremdbetrugs- Argument um die betrogenen Personen des sozialen Umfelds derjenigen, die Neuroenhancement betreiben. Nach dieser für den pharmakologischen Calvinismus gleichfalls typischen Argumentationsstrategie stellen Resultate biomedizinischer Enhancement-Maßnahmen keine persönlichen Leistungen oder das Verdienst eines Individuums dar, sondern Betrug (vgl. Juengst, 37/ Heilinger u. a., 31). Wenn Leistungen unter Einsatz biotechnologischer Verfahren erzielt werden, seien sie nicht oder doch nicht im vollen Maß der Person selbst zuzurechnen (vgl. dazu Talbot u. a., 261/ Hildt, 98). Natürlich seien nicht die kognitiven Neuroenhancer wie „Ritalin“ selbst Urheber einer Prüfungsleistung, sondern Urheber sind die Studierenden, die sie in einer durchwachten Nacht vor der Prüfung konsumiert haben. Sie hätten aber die Note nicht verdient und sie stelle „eine hohle Leistung“ dar, weil sie unter diesen Umständen kein Gradmesser für das „disziplinierte Studieren und aktive Lernen“ sei (Juengst, 38). Vollständig den technologischen Hilfsmitteln zuzuschreiben wäre der Erfolg höchstens dann, wenn jemand die zu prüfenden Fähigkeiten und Kenntnisse einem neuronalen Implantat oder bestimmten Psychopharmaka verdankt und sie gewissermaßen nur vortäuscht. Zumeist haben die Kritiker des kognitiven Neuroenhancements Wettbewerbssituationen vor Augen, in denen sich Einzelne Wettbewerbsvorteile gegenüber ihren Mitkonkurrenten verschaffen. Ihnen wird die Verletzung des Prinzips Gerechtigkeit als Fairness zum Vorwurf gemacht, das genauso wie bei sportlichen auch bei intellektuellen Wettbewerben den moralischen Maßstab bilde (vgl. Schleim, 192 f.). Während die Regeln für faire Teilnahme im Sport klar und explizit definiert sind, gelten sie zwar in Prüfungssituationen an Ausbildungsstätten oder in der Arbeitswelt bislang lediglich implizit. Es werde aber die Normtreue der anderen hinsichtlich der impliziten Regeln ausgenutzt. Um eine ethische Beurteilung vornehmen zu können, müss- <?page no="254"?> 254 4 Neuro-Enhancement ten jedoch zumindest drei verschiedenen Formen von Wettbewerbssituationen unterschieden werden (vgl. Lieb, 128 f.): a) Neuroenhancer können unmittelbar vor der Prüfung eingenommen werden, um die geistige Leistungsfähigkeit zu steigern und bessere Prüfungsresultate zu erreichen. b) Sie können aber auch lediglich bei der Vorbereitung der Prüfung eingesetzt werden, um die Konzentration zu erhöhen und in weniger Zeit ein höheres Lernpensum zu bewältigen. c) Eine wieder andere Situation ergibt sich bei einem Enhancement im Rahmen von beruflichen Aktivitäten, die nicht im direkten Vergleich stehen und nur indirekt zu einem späteren Wettbewerbsvorteil führen könnten. Kritiker des Neuroenhancements haben meist Situation a) mit dem „Hirndoping“ in der Prüfungssituation selbst vor Augen, die genau gleich scharf zu verurteilen sei wie das Doping im Sport. Mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Neuroenhancern lässt sich aber wie gesehen nur die Wachheit und Motivation leicht erhöhen, sodass die prüfungsrelevanten Inhalte und kognitiven Fähigkeiten sehr wohl vorhanden sein müssen und es sich nicht um „hohle Leistungen“ und „Betrug“ handelt (Kap. 4.2.3). Die ethisch gebotene Fairness als formale Chancengleichheit kann grundsätzlich kein generelles Verbot von Neuroenhancement rechtfertigen, weil lediglich für alle Wettbewerbsteilnehmer die gleichen Regeln gelten müssen: Wie bei der Doping-Debatte im Sport erwähnt, würde bei einer Legitimation bestimmter oder sämtlicher „Doping“-Methoden genauso Fairness gewahrt und ein Betrug ausgeschloßen wie bei einem radikalen „Doping“-Verbot (Kap. 3.4). Gegen gleiche Regeln für alle ließe sich jedoch argumentieren, genauso wie die unverdienten „natürlichen“ Wettbewerbsvorteile z. B. hinsichtlich des Körperbaus im Sport seien die kognitiven Fähigkeiten von Natur aus sehr unterschiedlich und die Prüfungsresultate daher in vielen Fällen nur vermeintlich eine „verdiente Eigenleistung“ (Schöne 2006, 284). Im Zeichen einer materiellen Chancengleichheit wäre ethisch gesehen sogar ein pharmakologisches kompensatorisches Enhancement zum Ausgleich unterdurchschnittlicher angeborener biologischer Intelligenz wünschbar (vgl. Argument 9). Es ist allerdings völlig unrealistisch, vor Prüfungen neben einem „Hirndoping“-Test noch eine Qualitätsprüfung von angeborenen Dispositionen wie Gedächtnisleistung oder Konzentrationsfähigkeit vorzunehmen und kompensierende Verfahren zu erlauben. Ethisch geboten <?page no="255"?> 255 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt wären vielmehr klare Regeln in der Prüfungsordnung oder bei Bewerbungen, die zur Schaffung fairer Rahmenbedingungen in bestimmten Situationen gewisse Substanzen zulassen oder verbieten. b) Werden Neuroenhancer lediglich bei der Prüfungsvorbereitung zur besseren Bewältigung des Wissensstoffes eingesetzt, scheinen sie nicht anders zu bewerten zu sein als andere legitime Möglichkeiten der Hilfestellung wie beispielsweise Nachhilfestunden (vgl. Lieb, 129). Von einem „Betrug“ ließe sich höchstens dann sprechen, wenn ausdrücklich nicht das Wissen und seine Anwendung als Resultat eines ergebnisorientierten Lernens, sondern eine bestimmte Form des selbständigen und eigenorganisierten engagementzentrierten Lernens getestet wird (vgl. Argument 3). c) Wenn Leistungen schließlich wie in Kunst und Wissenschaft nicht im direkten Vergleich und Wettbewerb erbracht werden, lässt sich nur noch metaphorisch von einem Fremd-Betrug sprechen. 5) Kontra-Argument der falschen Lebensführung Gleichfalls sehr beliebt unter pharmakologischen Calvinisten ist das Argument der falschen Lebensführung, demzufolge das Neuroenhancement von einem technizistischen Missverständnis von Lebensführung zeugt und aus diesem Grund generell abzulehnen ist (vgl. Boldt u. a., 389). Neuroenhancement gehe „mit einem technizistischen Ideal Hand in Hand“ und verleite zu einer technischen Gestaltung seiner selbst und seines Lebens (ebd., 392). Fälschlicherweise werde die aus dem Bereich von Informatik und Wirtschaft stammende Vorstellung einer Prozessoptimierung und -steuerung auf klar bestimmte Zielzustände hin auf das menschliche Leben übertragen. Entsprechend werde die menschliche Lebensführung als ein Geschehen missverstanden, bei dem der Mensch gleichsam außerhalb steht und von einem externen Standpunkt aus seine Ziele setzt und verfolgt. Die Kritik richtet sich insbesondere auch gegen die hinter diesen Optimierungsprozessen stehenden Ideale von Effizienz und Kontrolle und gegen die Auffassung, alle Lebensziele müssten möglichst effizient und schnell umgesetzt werden (vgl. ebd., 388 f.). Eine solche „exzessive Orientierung“ an Effizienz und Optimierung der Mittel enge das Leben auf eine ökonomistische Perspektive ein und führe dazu, dass sich die Menschen allen Alternativen, den unerwarteten Wendungen und Überraschungen des Lebens verschließen würden (vgl. Maio 2018, 243). Es komme aber im Leben gar nicht auf das möglichst schnelle und effiziente Erreichen von Zielen an, weil vielmehr gerade Umwege, Widerstände, Hürden und ein Scheitern zur menschlichen <?page no="256"?> 256 4 Neuro-Enhancement Reifung und einem guten Leben beitragen könnten (vgl. ebd., 241; 243 f.). Da ein menschliches Leben zu einem großen Teil aus überraschenden Wendungen und Neuanfängen bestehe, sei die Offenheit des Lebensvollzugs die Grundvoraussetzung eines guten menschlichen Lebens. Bei der ausschließlichen Orientierung der Lebensführung an eindeutig vorgegebenen Zielvorstellungen im technizistischen Modell werde auch übersehen, dass Ziele stets in Auseinandersetzung mit Mitmenschen geformt werden und sich überhaupt erst im Laufe des Lebens allmählich herauskristallisieren (vgl. Boldt u. a., 390). Typisch für Menschen sei eine sozial-reflexive Selbstentwicklung mit einer starken Prozessorientiertheit und einer reflexiven Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld, die sich grundsätzlich von einer technischen Gestaltung des Selbst auf äußere vorgegebene Ziele hin unterscheide (vgl. ebd., 392). Doch setzt der Konsum von Neuroenhancern zwangsläufig eine „technizistische Lebensführung“ voraus und ist dem Neuroenhancement ein falsches Bild von gelingender Lebensführung inhärent? Vereiteln klare Zielsetzungen und effiziente Mittel ein gutes menschliches Leben? Zuzustimmen ist dieser Argumentation soweit, als der bewusste und freiwillige Konsum von Neuroenhancern die Absicht klarer Ziele hinsichtlich der Selbstoptimierung und die Bemühung um effiziente Mittel zur Zielerreichung voraussetzt. Aus individualethischer Perspektive ist aber gegen eine Orientierung an Zielen nichts Grundsätzliches einzuwenden, sondern allenfalls gegen die Unangemessenheit bestimmter Ziele oder die Verabsolutierung des Effizienzkriteriums. Wie die in Kapitel 2.1 vorgestellte Wunsch- oder Zieltheorie überzeugend darlegt, kann das Leben als Ganzes überhaupt nur dank weitreichenden Zielen in den Blick geraten und als sinnvoll erfahren werden (vgl. Fenner 2007, Kap. 4.2; 4.3). Tatsächlich steht der Mensch beim Bestimmen seiner Ziele und dem Entwerfen seines Lebensplans gewissermaßen außerhalb oder auf einer höheren Ebene, wie Harry Frankfurts zweistufiges Modell der Willensfreiheit veranschaulicht (Kap. 2.3): Um freie Entscheidungen über die eigene Lebensgestaltung treffen zu können, braucht es auf einer höheren Stufe eine reflexive Distanz zu den spontanen faktischen Wünschen sowie wohlerwogene Gründe für die Auswahl. Statt sich erst im Laufe des Lebens allmählich zu verfestigen, sollten die wichtigsten allgemeineren Ziele nach der Adoleszenzkrise und hinlänglichen Erfahrungen in einen Lebensplan integriert und dann sukzessive durch konkretere Teilpläne und Handlungsziele präzisiert werden (vgl. Fenner 2007, 86 f.). Notwendig für ein gutes Leben ist zwar Erfahrungs- und Revisionsoffenheit, weil im Fall sich radikal verändernder Lebensumstände <?page no="257"?> 257 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt das unwillkürliche Ausblenden von Informationen über Hindernisse und das beharrliche Festhalten an einmal beschlossenen Zielen nicht weiter helfen (vgl. Fenner 2007, 88 f.). Falsch wäre aber daraus den Schluss zu ziehen, es müsse auf längerfristige Lebensziele ganz verzichtet werden oder überraschende Wendungen, Kursänderungen und Neuanfänge seien wichtig für ein gelingendes menschliches Leben. Obgleich Widerstände und Erfahrungen des Scheiterns vielen Menschen einen Ansporn zum Überdenken ihrer Lebensführung geben und sie erst zu einer längst überfälligen Kursänderung bewegen, sind sie für menschliches Glück nicht strukturell notwendig (Kap. 4.1.1, Punkt 3). Für die von den Enhancement-Kritikern zu Recht geforderte sozial-reflexive Lebensführung ist es wie gezeigt hilfreich, seine Lebensziele der Kritik der Mitmenschen auszusetzen und sich bewusst mit den vorhandenen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und Idealen auseinanderzusetzen (Kap. 4.1.3, Punkt 4). Auch wenn Neuroenhancement nicht unmittelbar zur Selbstreflexion und zur kritischen Prüfung der eigenen Wünsche und Ziele „zwingt“, hindert es auch niemanden daran (vgl. ebd.). Ein technizistisches Missverständnis menschlicher Lebensführung läge sicherlich dann vor, wenn instrumentelle Werte wie Effizienz und Kontrolle zu Letztzielen erhoben und verabsolutiert würden. Selbstoptimierung kann aber nicht nur in einem ökonomistischen Kontext stattfinden, sondern auch im Rahmen einer spielerisch-ästhetischen Selbstverwirklichung und einer reflektierten Form eines guten Lebens (Kap. 1.1.1; Kap. 6). Eine schnelle und effiziente Umsetzung von Lebenszielen ist einem guten menschlichen Leben keineswegs abträglich und es wird einem Leben schwerlich Sinn entzogen, wenn bestimmte Ziele statt mit langsamen herkömmlichen Mitteln mit effizienteren technologischen erreicht werden (vgl. dazu Gesang, 92). Nachdem beispielsweise das Auto die vergnüglichen beschaulichen Kutschenreisen verdrängt hat, finden heute viele Menschen Gefallen an den bisweilen Selbstzweckcharakter annehmenden schnellen Autofahrten an den Zielort. Allenfalls beim emotionalen Enhancement besteht wie gesehen die Gefahr, dass eine immer leichtere Verfügbarkeit und Verbreitung von „Glückspillen“ im Zusammenspiel mit irreführender Werbung falsche Erwartungen hinsichtlich der Machbarkeit, Planbarkeit und Herstellbarkeit menschlichen Glücks weckt. Dabei liegt die Crux statt in der Praxis des Neuroenhancements als solcher vielmehr in der falschen zugrundeliegenden Zielvorstellung von Glück und der Annahme, Glückspillen stellten einen direkten und mühelosen Weg zu menschlichem Glück dar (Kap.-4.1.1): Als individualethisch problematisch erwies sich die Fokussierung <?page no="258"?> 258 4 Neuro-Enhancement auf ein hedonistisches wunschloses Empfindungs- oder Wohlbefinden-Glück, das sich mittels Psychopharmaka ohne aktive Verfolgung von Lebenszielen in der Außenwelt kausal induzieren lässt. Rationaler Grund für die Verwerfung des Neuroenhancements wäre dabei allerdings weniger, dass die Glückspillen einen langwierigen Selbstfindungsprozess abkürzen und eine an sich wertvolle Offenheit des Lebensvollzugs torpedieren (vgl. Boldt u. a., 390). Wer aber bei jedem Auftreten von Schwierigkeiten bei der Zielverfolgung oder Zweifeln an seinem Lebenskonzept zu Psychopharmaka greift, weicht den realen Hindernissen aus und kommt der Lösung seiner Probleme nicht näher (vgl. Elliott, 180 f./ Kap. 4.1). Beim kognitiven Neuroenhancement geht es demgegenüber lediglich um die Optimierung instrumenteller Dispositionen wie etwa ein besseres Gedächtnis oder höhere Konzentrationsfähigkeit, die auch für eine sozial-reflexive Auseinandersetzung sehr nützlich sein können. Da also nicht jeder Umgang mit Neuroenhancement ein technizistisches Missverständnis impliziert, ist der pauschale Vorwurf einer falschen Lebensführung nicht haltbar. 6) Argument des falschen Selbstverhältnisses Eng verwandt mit dem Einwand gegen das angeblich dem Neuroenhancement inhärente falsche Bild von Lebensführung ist das Argument des falschen Selbstverhältnisses. Biomedizinische Selbstverbesserungspraktiken zeugen aus Sicht pharmakologischer Calvinisten von einer falschen Vorstellung von praktischem Selbstverhältnis und setzen auf ethisch verwerfliche Mittel der Persönlichkeitsveränderung. Durch die Einnahme von Pillen instrumentalisiere ein Mensch sich selbst, indem er sich zum „Objekt eines pharmazeutischen Vorgangs“ mache (Maio 2018, 245). Roland Kipke hat in seiner einschlägigen Monographie Besser werden (2011) die wichtigsten Argumente zusammengestellt und erörtert, die gegen eine Selbstoptimierung durch Neuroenhancement und für traditionelle nichttechnologische Methoden der Arbeit an sich selbst sprechen. Er distanziert sich zwar explizit vom pharmakologischen Calvinismus, weil seine klare Verwerfung des Neuroenhancements nicht auf einer Wertschätzung von Arbeit, Mühe und Askese an sich basiere und kein puritanisches Lob der Entsagung beinhalte (vgl. 276 f.). Gemäß dem oben eingeführten weiten Verständnis von „pharmakologischem Calvinismus“ kann eine negative Einstellung gegenüber dem pharmakologischen Enhancement aber sehr unterschiedlich begründet werden, sodass sich seine typologische Analyse durchaus diesem Sammelbegriff zurechnen lässt. Kipke setzt dem „Neuro-Enhancement“ die <?page no="259"?> 259 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt „Selbstformung“ entgegen und versteht beide als ganz verschiedene Praktiken, die mit völlig unterschiedlichen Selbstverhältnissen einhergehen (vgl. ebd., 279). Den in der Enhancement-Debatte sonst kaum eine Rolle spielende Begriff Selbstformung verwendet er für sämtliche absichtlichen Veränderungen von Persönlichkeitseigenschaften oder Fähigkeiten einer Person durch mentale Aktivitäten wie z. B. Konzentrations- und Gedächtnistrainings oder die vielfältigen Bemühungen um die Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen wie etwa Schüchternheit (vgl. ebd., 14). Da die Bezeichnung „Selbstformung“ von vornherein biomedizinische Methoden der Selbstverbesserung ausschließt, eignet er sich für eine Kontrastierung materieller pharmakologischer und herkömmlicher mentaler Mittel. Ohne sämtliche von ihm aufgeführten Unterscheidungskriterien zwischen Selbstformung und Neuroenhancement analysieren zu können, werden im Folgenden die zentralen Dimensionen a) Selbstaufmerksamkeit/ Selbsterkenntnis, b) Selbststeuerung/ Willensfreiheit, c) Langfristigkeit/ Mühelosigkeit und d) Lebenskohärenz näher geprüft. a) Insbesondere hinsichtlich der Selbstaufmerksamkeit und Selbsterkenntnis sollen traditionelle Methoden den pharmakologischen weit überlegen sein. Denn wer mittels mentaler Praktiken an sich selbst arbeitet, braucht unstreitig erhöhte Selbstaufmerksamkeit: Er muss sich ein genaues Bild von seinen Charaktereigenschaften sowie den Vorgängen bei seinen Handlungsvollzügen, von den darin zum Ausdruck kommenden Fähigkeiten, Grundeinstellungen, Motiven und Gefühlen machen (vgl. 68). Der Praxis des Neuroenhancements hingegen soll eine solche inhärente Neigung zur Selbstaufmerksamkeit fehlen, weil man sich im Vertrauen auf die Wirkung der Pillen nicht mit den eigenen widerständigen Dispositionen auseinandersetzen müsse (vgl. 77; 233 f.). Gegen diese Argumentation ist allerdings einzuwenden, dass sowohl die Entscheidung für bestimmte Psychopharmaka als auch die Beobachtung der individuell stark divergierenden Wirkungsweisen von Psychopharmaka eine eingehende Beschäftigung mit der eigenen Persönlichkeitsstruktur erfordern. Da eine hohe Selbstaufmerksamkeit die grundlegende Voraussetzung für Selbsterkenntnis, d. h. die Erkenntnis der eigenen typischen Persönlichkeitsmerkmale bildet, schneidet Neuroenhancement nach Kipke auch diesbezüglich viel schlechter ab (vgl. 146). Hinsichtlich dieses zweiten wichtigen Faktors für Selbsterkenntnis biete zwar auch pharmakologisches Enhancement zahlreiche Gelegenheiten zur Erfahrung von Anderssein- und Andershandelnkönnen, aber aufgrund der fehlenden Selbstaufmerksamkeit sei ihr gleichwohl keine Neigung zur Steigerung von Selbsterkenntnis inhärent (vgl. 233). So stellt Kipke in Bezug auf das kogni- <?page no="260"?> 260 4 Neuro-Enhancement tive Enhancement zu Recht fest, die Selbsterkenntnis wachse nicht proportional zur Anzahl biographischer Gedächtnisinhalte. Vielmehr müssen zum einen überhaupt persönlichkeitsrelevante Erinnerungen vorliegen, zum anderen die sich darin zeigenden Persönlichkeitsentwicklungen auch tatsächlich erkannt werden. Sicherlich ist es richtig, dass optimierte kognitive Fähigkeiten wie ein besseres Gedächtnis oder eine effektivere Informationsverarbeitung nicht automatisch zur Selbsterkenntnis führen. Kritiker vernachlässigen aber ihren instrumentellen Wert als zuverlässigere Grundlage für die Erkenntnis der eigenen Charaktereigenschaften. Grundsätzlich zwingt Neuroenhancement zwar nicht zu erhöhter Selbstaufmerksamkeit und Selbsterkenntnis, macht eine solche aber auch nicht prinzipiell unmöglich (vgl. Leefmann, 293/ Kap.-4.1.3, Punkt 4). Letztlich greift der Vorwurf einer Vernachlässigung von Selbstaufmerksamkeit nur dann, wenn das Neuroenhancement auf den Akt des Pillenschluckens ohne die für eine Selbstoptimierung ganz unabdingbare vor- und nachgängige Reflexion reduziert wird. b) Pharmakologisches Enhancement soll auch deswegen bedenklich sein, weil es ganz anders als mentales Training die Fähigkeit zur Selbststeuerung und die Willensfreiheit schwäche: Bei der Selbstformung müssen neue Persönlichkeitseigenschaften gegen bestehende durchgesetzt werden, sodass die Fähigkeit zur Selbststeuerung besonders gefragt ist (vgl. 69). Sie wird trainiert, indem vorhandene Impulse wie Wünsche oder Affekte gehemmt und die beabsichtigten Veränderungen verwirklicht werden. Während Selbststeuerung Bedingung und Ergebnis von Selbstformung darstelle, werde Selbststeuerung beim Neuroenhancement weder gefordert noch gefördert (vgl. 247 f.). Denn das Schlucken von Pillen sei gerade kein aktives Angehen gegen unerwünschte Handlungsimpulse, sondern ein passives An-sich-Geschehen-Lassen. Da die Selbststeuerung eine wesentliche Bedingung der Willensfreiheit als mentaler Fähigkeit zur Bewertung spontaner Wünsche und zur Durchsetzung der positiv bewerteten bildet, werde durch Neuroenhancement die Willensfreiheit nicht gestärkt, sondern infolge der Ersetzung traditioneller Methoden langfristig gefährdet (vgl. 248). Wiederum scheint das Argument vorauszusetzen, dass die aktive Selbstkontrolle einer Person mit dem Akt des Pillenschluckens oder dem Einschalten eines Neuro-Implantats endet und die aktiven Subjekte danach als passive Objekte vollständig dem Einfluss der Technologien ausgeliefert sind (vgl. dazu Leefmann, 297 ff.). Dieses Szenario träfe aber höchstens bei Glückspillen oder Erlebnismaschinen zu, die jemanden in einen Rauschzustand versetzten und ihm seine Autonomie raubten (Kap. 4.1.1, Punkt 2). Die meisten <?page no="261"?> 261 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt Neuroenhancer haben aber unterstützenden Charakter und sollen dabei helfen, die bewusst gewählten Ziele im Leben besser zu erreichen oder die Person zu werden, die man sein möchte. Wenn durch emotionales oder kognitives Enhancement eine Schüchternheit überwunden oder die Aufmerksamkeit besser auf eine Tätigkeit fokussiert werden kann, ermöglicht dies anspruchsvollere selbstgesteuerte Aktivitäten und fördert die Autonomie im Sinne von Frankfurts Theorie der Willensfreiheit (vgl. Kap.- 4.1.2, Punkt 5). Selbst wenn die Konsumenten von Neuroenhancern ihre Fähigkeit zur Selbstregulation zeitweise vernachlässigen würden, könnten sie die gewonnene Zeit zum Training von Willensstärke bei anderen Gelegenheiten nutzen (vgl. Leefmann, 346). Denn die Fähigkeit zur Selbststeuerung ist zum einen Teil genetisch bedingt und zum anderen vornehmlich in der frühen Kindheit erworben, ohne dass sie später ununterbrochen eingeübt werden muss (Kap. 2.3.1, Punkt 2). Daher ist der Einwand überzogen, Neuroenhancement-Konsumenten könnten diese Fähigkeit nicht erwerben oder würden sie langfristig verlernen. c) Ethisch abzulehnen sei das Neuroenhancement auch aufgrund der fehlenden Langfristigkeit und der Mühelosigkeit dieser Methoden, obgleich dies auf den ersten Blick gerade ihre großen Vorzüge gegenüber traditionellen Praktiken zu sein scheinen: Problematisch sei die zeitnahe und ohne Anstrengung erfolgende Wirkung beim Neuroenhancement, weil das persönliche Wunschbewusstsein defizitär sei und leicht gewisse Wünsche übersehen oder fälschlicherweise für erstrebenswert gehalten werden können (vgl. 77 f.; 149). Während bei der Selbstformung die stetige Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen und Handlungsmotiven und das hohe Maß an Selbstaufmerksamkeit eine solche Täuschung sehr viel unwahrscheinlicher machten, fehlten beim Neuroenhancement mit den plötzlichen Veränderungen der Persönlichkeit solche Sicherheitsmechanismen und eine ständige Überprüfung der Wünsche (vgl. 240 f.). Gegen diese Argumentation wäre jedoch einzuwenden, dass bei vielen Selbstverbesserungszielen wie etwa den unter Prozac-Konsumenten verbreiteten Wünschen nach weniger Schüchternheit und mehr Selbstsicherheit diese Täuschungsgefahr hinsichtlich des eigenen Selbstbildes gering sein dürfte. Zudem wirken die meisten Psychopharmaka nicht sofort, sondern erst allmählich nach einem längeren Einnahmezeitraum. Kipke selbst räumt zwar die grundsätzliche technische Möglichkeit einer absichtlichen Herstellung von Pharmaka mit langsamen Veränderungen ein, wodurch das Neuroenhancement aber auch einen seiner entscheidenden Vorteile verlöre (vgl. 241). Er setzt sich auch mit dem stärksten und naheliegenden Einwand auseinander, die Gefahr <?page no="262"?> 262 4 Neuro-Enhancement der Selbsttäuschung stelle bei reversiblen Eingriffen wie den pharmakologischen doch überhaupt kein Problem dar (vgl. 247). Denn im Falle enttäuschender Wirkungen lassen sich die Pillen einfach wieder absetzen, weil der Mensch seine Willensfreiheit durch den Psychopharmaka-Konsum zu Enhancement- Zwecken genauso wenig einbüßt wie bei demjenigen zu Therapie-Zwecken (vgl. oben). Was Kipke diesem einleuchtenden Einwand entgegensetzt, ist vergleichsweise schwach und hebt wiederum auf vermutete Tendenzen der Langzeitwirkungen ab: Es gehe nicht um die pharmakologische Reversibilität, sondern um die mentale Fähigkeit zur Revision von Verhaltensdispositionen und die mit dem fehlenden Zwang zur Selbstreflexion verbundene „strukturell angelegte Möglichkeit zur Unüberlegtheit“ (246). Auch wenn jedoch das pharmakologische Enhancement weniger anstrengend und langwierig ist und im Akt des Pillenschluckens selbst keine Reflexion erforderlich ist, zwingt es doch wie erwähnt niemanden zum Einstellen seines Nachdenkens über seine Optimierungs-Ziele davor und danach. d) Lebenskohärenz oder „biographische Kohärenz“ wird einem Leben attestiert, wenn eine „Kohärenz“ bzw. ein Zusammenhang sowohl synchron zwischen allen Persönlichkeitsmerkmalen zu einem bestimmten Zeitpunkt als auch diachron bezüglich der ganzen Lebensgeschichte besteht (vgl. 154; 159 f.). Insofern Neuroenhancement zur Verwirklichung eines ganzheitlichen Selbstentwurfs eigesetzt wird, kann es zwar durchaus die biographische Kohärenz steigern (vgl. 237). Aufgrund der unter c) angesprochenen leichten Handhabbarkeit und schnellen Wirkungsweise der Psychopharmaka bestehe jedoch die Gefahr, dass die Maßnahmen nicht aus einem biographischen Kontext hervorgehen (vgl. 242). Denn es sei auch ein leichtfertiger Gebrauch möglich, bei dem keine Rücksicht auf die Kohärenz der Persönlichkeitseigenschaften und des Lebenswegs genommen werde. Gemäß den in Kapitel 4.1.2 referierten psychiatrischen Erfahrungsberichten traten infolge der chemisch induzierten Persönlichkeitsveränderungen tatsächlich bei einigen Prozac-Patienten Entfremdungserfahrungen auf (vgl. Punkt 4). Zum einen drohen aber biographische Inkohärenzen oder gar biographische Brüche und Identitätskrisen nur im Fall dramatischer Persönlichkeitsveränderungen und eines radikalen Enhancements, gegen das noch viele andere ethische Gründe sprechen (vgl. Kap.- 4.1.3, Punkt 4). Zum anderen hängt es vom bereits erwähnten Kriterium der Schnelligkeit der Wirkung der Psychopharmaka sowie auch von der Begleitung durch Psychiater oder andere Reflexionspartner ab, wie gut eine Integration neuer Persönlichkeitseigenschaften in das bisherige Profil gelingt. Grundsätzlich lässt sich aus <?page no="263"?> 263 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt der beim Neuroenhancement bestehenden Möglichkeit eines leichtfertigen Umgangs mit den persönlichkeitsverändernden Psychopharmaka und dem damit verbundenen Risiko verminderter Lebenskohärenz genauso wenig wie aus den anderen Kritikpunkten eine ethische Verwerflichkeit des Neuroenhancements als solchem ableiten, sondern nur eines leichtfertigen Umgangs mit Neuroenhancern. Insgesamt betrachtet erscheint das Argument des falschen Selbstverhältnisses als sehr schwach, weil es sich auf vage Tendenzen stützt, die nur dem isolierten Akt des Pillenschluckens eindeutig „inhärent“ sind. Vermeidbar ist ein mechanistisch-technisches, instrumentelles Selbstverhältnis, wenn der Einsatz psychoaktiver Substanzen in die kontinuierliche und reflexive Arbeit an sich selbst eingebettet wird. Individualethisch ratsam ist also grundsätzlich nur ein wohlüberlegter Konsum, bei dem man sich um erhöhte Selbstaufmerksamkeit, die sorgfältige Prüfung der eigenen Wünsche sowie die Integration der neuerworbenen Eigenschaften in den eigenen Selbstentwurf bemüht. 7) Kontra-Argument der Verdrängung wertvoller Alternativen Bei den meisten bislang erörterten Argumentationsweisen stand im Hintergrund das Argument der Verdrängung wertvoller Alternativen: Pharmakologische oder allgemeiner biomedizinische Maßnahmen zur Selbstoptimierung seien deswegen gefährlich und ethisch abzulehnen, weil sie nach und nach wertvolle soziale, psychologische, intellektuelle oder spirituelle Methoden der Selbstverbesserung ins Abseits drängten. Die „schlechten“, durch physische Korrekturen „von außen“ erreichten Veränderungen machten also den „guten“ Veränderungen „von innen“ Konkurrenz, bei denen die spezifisch menschlichen rationalen Fähigkeiten für disziplinierte und langwierige Arbeit an inneren Einstellungen und Handlungsdispositionen eingesetzt werden (vgl. dazu Runkel, 27/ Groß, 84). Solche Befürchtungen einer vollständigen Ersetzung herkömmlicher Praktiken durch moderne Biotechnologien lassen sich zwar relativieren mit dem Hinweis auf bisherige Erfahrungen mit Technisierungsschüben in der Vergangenheit. So bewahrheiteten sich beispielsweise die weit verbreiteten Bedenken bei der Einführung neuer Tonträger wie CDs oder der MP3-Technologie nicht, die Menschen würden angesichts der hochwertigen Audio-Aufzeichnungen nicht mehr in Konzerte gehen oder gar keine Instrumente mehr spielen. Es gibt aber auch genügend Beispiele für sogenannte disruptive Technologien, die wie die CD die Schallplatte oder das Automobil die Pferdekutsche bestehende Technologien praktisch vollständig verdräng- <?page no="264"?> 264 4 Neuro-Enhancement ten. Trotz immer attraktiverer Techniken z. B. bei der Fortbewegung geht aber dadurch noch lange nicht die Fähigkeit zum aktiven selbstgesteuerten Gehen verloren. Wie stark Verbesserungen aus eigener Kraft und mentalem Training tatsächlich von Neuroenhancement-Verfahren zurückgedrängt werden, dürfte neben individuellen Unterschieden der Technikaffinität der Einzelnen stark von gesellschaftlichen Werthaltungen abhängen. Kipke begründet seine These einer Konkurrenzsituation zwischen Neuroenhancement und Selbstformung und der hohen Wahrscheinlichkeit der Verdrängung letzterer damit, dass es in westlichen Kulturen eine weit verbreitete Präferenz für technische Lösungen gebe und dass infolge des immer breiteren und leichter verfügbaren Angebots ein allmählicher Vertrauensverlust in die eigene Selbststeuerungsfähigkeit drohe (vgl. Kipke 2011, 280 ff.). Anstelle pauschaler Aussagen über das Neuroenhancement insgesamt sollen hier einige wichtige, angeblich durch Neuroenhancement-Praktiken gefährdete Alternativen aufgelistet werden, um das jeweilige Verdrängungspotential abzuschätzen. Letztlich lässt sich die Verdrängungsthese aber nicht durch theoretische Reflexion, sondern nur empirisch verifizieren bzw. falsifizieren: a) Kognitives Enhancement versus klassisches Lernen b) Emotionales Enhancement versus Psychotherapie c) Ritalin statt traditionelle Erziehung d) Oxytocin statt Liebeskunst a) Kognitives Enhancement versus klassisches Lernen: Das kognitive Enhancement wird kritisch betrachtet, weil es gewissermaßen in Konkurrenz zu treten scheint zum langwierigen und anstrengenden klassischen Lernen mit Umwelt-Interaktionen und dem ständigen Wiederholen und Umstrukturieren der gewünschten Lerninhalte (vgl. dazu Groß, 94 f.). Sollte sich in Zukunft durch neurophysiologisches Enhancement dank neuronaler Implantate wie Gedächtnis-Chips, enzyklopädischer Datensätze, Sprach- oder Rechenprogramme das mühsame Lernen von Faktenwissen, Sprachen oder Rechenoperationen erübrigen, wäre dies aber kaum anders zu bewerten als das äußerliche Benutzen von Taschenrechnern. Denn verloren gingen lediglich extrinsische ergebnisorienterte Lernprozesse, die den Menschen mehr Raum für das Trainieren der durch Brain-Computer-Interfaces nicht ersetzbaren kognitiven menschlichen Fähigkeiten verschaffen könnten. Sprachübersetzungsprogramme können aber bislang nur einfache kurze Sätze korrekt wie- <?page no="265"?> 265 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt dergeben und Computerprogramme versagen, wo anstelle fragmentarischen Spezialwissens eine umfassende Gesamtperspektive auf komplexe Sachverhalte ausgebildet werden soll (vgl. ebd./ Kap. 4.2.3). Pharmakologisches Enhancement kann im Gegensatz dazu das klassische Lernen von vornherein nicht ersetzen, sondern lediglich unterstützen. Wie in Kapitel 4.2.3 dargelegt, zielen die bislang verfügbaren Neuroenhancer entweder auf die Steigerung der Merk- und Erinnerungsfähigkeit zur Verbesserung des Gedächtnisses oder auf die Erhöhung der Aufmerksamkeit bzw. Konzentrationsfähigkeit zur Ausweitung der Lernkapazität. Häufig überschätzt werden die alternativen Methoden des herkömmlichen, heute durch computerbasierte Trainingsprogramme unterstützten Gehirnjoggings oder Gehirntrainings, das analog zum körperlichen Fitnesstraining das menschliche Gehirn fit halten soll. Denn mit solchen Übungen werden nur kurzfristig die jeweils trainierten geistigen Fähigkeiten wie etwa das Namensgedächtnis verbessert, ohne dass die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit im Alltag gesteigert oder der geistige Abbau im Alter verhindert würden (vgl. Max-Planck-Gesellschaft). Mit zunehmendem Vertrauen in aufmerksamkeitssteigernde und gedächtnisfördernde Neuroenhancer könnten jedoch die zahlreichen Bedingungen für eine optimale kognitive Leistungsfähigkeit wie z. B. ausreichende Ruhepausen, eine gute Arbeitsorganisation oder ein metakognitives Wissen über das eigene Lernen außer Acht gelassen werden. Da Stimulanzien höchstens temporär einen Leistungsverlust durch Schlafentzug ausgleichen können, bleiben aber insbesondere Erholungsphasen für ein dauerhaft leistungsfähiges biologisches Gehirn wichtig (vgl. Lieb, 137 ff.). b) Emotionales Enhancement versus Psychotherapie: Eine andere Befürchtung lautet, emotionales Enhancement zur Steigerung des psychischen Wohlbefindens oder der Verbesserung von Persönlichkeitseigenschaften könnte die langwierigen und oft Jahre dauernden Psychotherapien verdrängen. Während eine Psychotherapie mit Gesprächen und mentaler Arbeit aber tief in den Kern einer Persönlichkeit und in ihre Biographie eindringe, weise das Schlucken von Pillen eine viel geringere Eingriffstiefe auf und färbe lediglich die Oberfläche des Mentalen ein (vgl. dazu Schöne 2006, 288 f.). So würde durch sogenannte Glückspillen wie „Prozac“ lediglich die Wahrnehmungs- und Erlebnisweise der eigenen Persönlichkeitseigenschaften und Lebenssituationen verbessert, was zu einem unkritischen realitätsverzerrenden Welt- und Selbstbild und einem illusionären Glück führte (vgl. dazu Kramer, 52 f.; 228/ Kap. 4.1.1). Viele psychische oder emotionale Probleme könnten daher nicht auf einer biologischen Ebene gelöst werden, sondern nur durch Einsicht in falsche oder dysfunktionale <?page no="266"?> 266 4 Neuro-Enhancement Welt- und Selbstinterpretationen und deren Korrektur über das Medium der Reflexion und Kommunikation (Freedman, 143 f.). Obgleich das Enhancement sich prinzipiell an psychisch Gesunde richtet, ist die Grauzone zwischen Therapie und Enhancement groß und das Ziel der Stimmungsaufhellung dasselbe. Auch lauteten die Argumente bei der Einführung von Psychopharmakotherapien in der Psychiatrie ähnlich, dass nur Symptome bekämpft und „Pillen statt Konfliktbearbeitung“ angeboten würden (vgl. Freyberger u. a., 270 f.). Veränderungen auf der neurophysiologischen Ebene sind für eine nachhaltige Verbesserung der Qualität der eigenen Selbstbeziehung und der Interaktionen mit der Umwelt sicherlich nicht ausreichend, ohne dass die eigenen Denk- und Bewertungsprozesse analysiert und wichtige Fähigkeiten wie emotionale Bewältigungsstrategien, soziale und Handlungskompetenzen für ein besseres Welt-Selbst-Verhältnis erworben werden. Psychopharmaka stellen eher eine Art „Krücke“ dar, die Veränderungsprozesse im Denken und Handeln anstoßen, aber auch das Erleben verfälschen und den Realitätsbezug stören können. Genauso wie sich aufgrund dessen in der modernen Psychiatrie multimodale Therapiekonzepte durchgesetzt haben, sollte die Einnahme von Psychopharmaka auch im Enhancement-Bereich nicht gegen Persönlichkeitsveränderungen auf kognitiver und interaktioneller Ebene ausgespielt, sondern als Ergänzung betrachtet werden. Das Verdrängungspotential emotionaler Neuroenhancer dürfte aber darin liegen, dass die Motivation zur kognitiven Auseinandersetzung mit unerwünschten Eigenschaften, Denk- und Verhaltensweisen durch falsche Erwartungen an Glückspillen geschwächt wird. c) Ritalin statt traditionelle Erziehung: In wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussionen wird häufig der Vorwurf erhoben, die traditionellen Methoden der Erziehung und pädagogischen Förderung würden immer mehr durch medizinische Maßnahmen wie Psychopharmakatherapien oder gar Eingriffe in das Erbgut abgelöst. Insbesondere die seit 1998 kontinuierlich gestiegenen Verordnungen von „Ritalin“ („Methylphenidat“) für Kinder mit dem neuen und immer häufiger diagnostizierten Krankheitsbild ADHS sorgen für heftige Kontroversen und werden als nicht direkt intendiertes verdecktes Enhancement bezeichnet (vgl. Lieb, 71/ Glaeske u. a., 29/ Walcher, 227 f.). Während ihre Verteidiger die im Volksmund sogenannten „Pillen für den Störefried“ oder gegen das „Zappelphilipp-Syndrom“ als legitime Erziehungsmethode anerkennen, opponieren die Kritiker gegen eine „Erziehung durch Medizin“ bzw. einen „Erziehungsersatz durch Medizin“ und fordern eine „Erziehung statt Ritalin“ oder „Bolzplatz statt Ritalin“ (vgl. Walcher, 247/ Turner). Der Einsatz von Psy- <?page no="267"?> 267 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt chopharmaka verfehle die grundlegende Aufgabe von Erziehung, auf das Kind als besonderen Menschen einzugehen und es individuell zu fördern (vgl. Damberger, 11). Eine ausgeprägte Erwartungshaltung schwäche die akzeptierende, wertschätzende, nachsichtige und liebende Grundhaltung als Voraussetzung für sämtliche Entwicklungs- und Lernvorgänge des Kindes (vgl. Walcher, 248; 257). Zudem sollen mit den Pillen häufig eine versäumte Erziehung zur Selbstregulation im frühen Kindesalter kompensiert oder gesellschaftliche Normen durchgesetzt werden (vgl. ebd., 228 f.). Auch gibt es den Verdacht, Ritalin werde wegen der sinkenden Toleranzgrenze der Erziehungspersonen, den schlechten Lernbedingungen wie zu großer Klassen und der steigenden Anforderungen an Selbstdisziplin, Leistungsfähigkeit und Stillsitzenkönnen eingesetzt (vgl. Turner/ Runkel, 41 f.). Obgleich die empirische Überprüfung vieler dieser Ersetzungsprozesse schwierig ist, steht doch die Vergabe von Ritalin schwerlich in einem notwendigen strukturellen Zusammenhang mit der Vernachlässigung dieser wichtigen Aspekte der traditionellen Erziehung und Voraussetzungen einer optimalen kindlichen Entwicklung. Neurobiologisch liegt bei ADHS mit den typischen Symptomen Konzentrationsschwäche und ausgeprägter Unruhe eine Regulationsstörung der Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin im Frontalhirn vor, die zu einer unzureichenden Filterung der Reize und zur Störung der Aufmerksamkeit durch immer neue ungehemmte Gedanken führt. Integriert in eine multimodale Therapie, Selbstregulations-Trainings und fürsorgliche Erziehung könnte also das dagegen medizinisch wirksame Ritalin durchaus sinnvoll sein. d) Oxytocin statt Liebeskunst: Nachdem für die Steigerung der sexuellen Leistungsfähigkeit des Mannes bereits Viagra („Sildenafil“) zur Verfügung steht, hat der amerikanische Bioethiker Erik Parens eine Innigkeits-Pille („intimacy pill“) für die Frau zum Gefühl intimen Verbundenseins mit einer anderen Person als Voraussetzung weiblichen Begehrens ersonnen (vgl. 38 f.). Bereits erhältlich sind Oxytocin-Präparate („Syntocinon“), die offiziell nur für Schwangere zur Unterstützung der Wehen zugelassen sind und inoffiziell als Deospray („Liquid Trust“) oder als Lutschtabletten im Internet oder bei Kuschel-Partys angeboten werden (vgl. Kara). Das auch vom Körper bei intimen Kontakten produzierte Oxytocin wirkt sowohl als Neurotransmitter im Hirn wie auch als Hormon und ruft Wohlgefühle, Liebe und Vertrauen in sozialen Beziehungen hervor. Verschiedene psychologische Verhaltensexperimente bestätigten solche positiven Effekte, die für emotionales und moralisches Enhancement interessant sind (vgl. Tenzer/ Kara/ Kap. 4.3): So zeigten beim sogenannten Investorenspiel <?page no="268"?> 268 4 Neuro-Enhancement diejenigen Probanden mehr Vertrauen gegenüber ihren Spielpartnern, denen über einen Nasenspray Oxytocin verabreicht worden war. Die Forscher vermuten, dass Oxytocin durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit für soziale Reize und eine Aktivierung des Belohnungssystems bei gleichzeitiger Reduktion von Stress zu größerer Bereitschaft für Nähe im menschlichen Zusammenleben führt. Eine andere Arbeitsgruppe ließ Paare über Konfliktthemen streiten und stellte fest, dass diejenigen unter Hormoneinfluss sich mehr für das Gegenüber interessieren, sich seltener unterbrechen und weniger Cortisol ausschütten (vgl. ebd.). Beim Griff zur Intimitätspille und dem Vertrauen auf die biochemische Wirkung liegt die Gefahr darin, Liebe, Geborgenheit und Nähe auf den körperlichen Bereich zu beschränken und sämtliche mentalen, psychischen, sozialen oder kommunikativen Komponenten zu vernachlässigen. Für eine tiefere und dauerhafte Liebesbeziehung ist aber auch emotionale Intelligenz vonnöten und es muss auch auf geistiger Ebene gelingen, eine enge Verbindung über geteilte Wertvorstellungen, das Pflegen gemeinsamer Interessen und ein besseres gegenseitiges Verständnis durch Gespräche herzustellen. Wird wie bei Parens’ Innigkeits-Pille lediglich die Wahrnehmung von Mitmenschen verändert und fehlt jede Anstrengung zur Erkenntnis des Gegenübers und zur aktiven Gestaltung einer engen Bindung, drohen eine völlige Fehleinschätzung der Situation und illusionäre, inauthentisches Gefühle von Nähe und Verbundenheit (vgl. Parens, 39). Liebes- oder Lustpillen allein können also das tiefe menschliche Bedürfnis nach Intimität und Geborgenheit nicht stillen, weil menschliche Liebe mehr ist als Biologie und eine Liebeskunst oder Beziehungsarbeit erfordert. Medikalisierungsgefahr Diese vier Beispielfälle zur Prüfung der Verdrängungsthese sind nur exemplarisch und erlauben keine abschließende Antwort, weil dafür zusätzlich empirische Untersuchungen nötig wären. Zumindest bei den letzten drei Anschauungsbeispielen erhärtete sich aber der Verdacht, die Einführung oder immer weitere Verbreitung der fraglichen Psychopharmaka könnten zu einer Vernachlässigung wichtiger traditioneller Methoden der Selbstverbesserung zugunsten medizinischer Mittel führen: Pharmakologische Calvinisten beargwöhnen letztlich den in Gang gekommenen Prozess der Medikalisierung, in dem nichtmedizinische, psychische, gesellschaftliche und politische Probleme zunehmend als medizinische Probleme definiert und behandelt werden (vgl. Wagner, 98). Obwohl etwa menschliche Verhaltensweisen wie eine besonders <?page no="269"?> 269 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt hohe Aktivität und Konzentrationsschwäche von meist männlichen Heranwachsenden durchaus im Bereich der Normalverteilung liegen, werden sie immer mehr als Krankheiten betrachtet und mit „Ritalin“ behandelt (vgl. b). Desgleichen werden psychische oder soziale Probleme wie Schüchternheit und geringes Selbstbewusstsein oder das Fehlen von intimen Bindungen zu medizinischen Problemen umgedeutet und mit chemischen Substanzen wie Serotoninwiederaufnahmehemmern oder Oxytocin behandelt (vgl. c und d). Die Medizin gewinnt in all diesen Fällen die Deutungshoheit über Lebensbereiche, die zuvor nicht in medizinischen Kategorien wahrgenommen wurden: Mitte des 20. Jahrhunderts kam es im Zuge der pharmazeutischen Revolution zu einer enormen Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs der Ärzte hinsichtlich optimierungswürdiger physischer, psychischer oder kognitiver Zustände, weil zu ihrer Verbesserung plötzlich viele neue wirksame Medikamente zur Verfügung standen (vgl. Karsch, 96 f.). Was früher im Sinne eines Enhancements in traditionellen Erziehungs-, Bildungs- und Selbstformungsprozessen optimiert wurde, mutiert infolge neuer hirnphysiologischer Erkenntnisse zu neurobiologischen Funktionsstörungen und soll daher mittels einer pharmakologischen Beeinflussung des Zentralnervensystems therapiert werden. Obgleich die Verabreichung von Psychopharmaka nach der neuen Konzeptualisierungsweise als medizinisch indiziert gilt, sprechen Kritiker wie gesehen von einem versteckten Enhancement oder auch von einem impliziten Enhancement (Walcher, 98 f./ Karsch, 97). Aus einer ethischen Perspektive sind nicht die Umdeutungen bei einem impliziten Enhancement und der Einsatz der Psychopharmaka im Rahmen eines offenen oder verdeckten Enhancements an sich schon problematisch. Die Frage ist jedoch, ob diese Mittel zur Erreichung der Enhancement-Ziele angemessen sind und die herkömmlichen wirklich ersetzen können. Individualethisch gesehen ist letztlich allein entscheidend, ob ein pharmakologisches Vorgehen die für mangelhaft befundenen Zustände oder Eigenschaften dauerhaft verbessert oder nur scheinbar und vorübergehend. Ein negatives Beispiel für eine bloß oberflächliche, vorübergehende Abhilfe wäre der Konsum von Diabetes-Medikamenten bei Diabetes Typ 2 ohne Änderung des ungesunden Lebensstils. Obwohl die Medikamente zur Senkung der Blutzuckerwerte biochemisch sehr effizient sein mögen, beseitigen sie nicht die Ursachen der Erkrankung. Ähnlich werden im psychosozialen Bereich mit den sogenannten „Glückspillen“ oder den „Pillen für den Störefried“ unter Umständen nur Symptome bekämpft, weil zusätzlich wichtige psychische, soziale oder lebenspraktische Kompetenzen er- <?page no="270"?> 270 4 Neuro-Enhancement worben werden müssten. Sozialethisch höchst bedenklich wäre es, wenn durch ein individuelles Enhancement lediglich die Folgen institutioneller oder gesellschaftlicher Missstände abgemildert würden statt diese selbst zu beseitigen. Zu denken ist beispielsweise an gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen mit zu langen Wachzeiten oder zu hohe, ohne Medikamente kaum noch zu bewältigende Leistungsanforderungen und schlechte Betreuungsverhältnisse in Bildungsstätten. Wird die ganze Aufmerksamkeit auf persönliche Defizite an Botenstoffen fokussiert, werden möglicherweise nicht die tieferliegenden Ursachen thematisiert und angegangen. Die Medikalisierung ist also kritisch zu betrachten, weil medizinische Maßnahmen in vielen Fällen keinen nachhaltigen Erfolg verschaffen und Alternativen wie Änderung des Lebensstils, der Arbeits- und Lernbedingungen nicht ersetzen können. Obschon zweifellos sämtliche menschlichen Phänomene eine neurophysiologische Dimension aufweisen, lassen sich die meisten nicht auf diese Ebene reduzieren, weshalb einseitige Veränderungsbemühungen von Erziehungs-, Beziehungs- oder Lebensproblemen zum Scheitern verurteilt sind. Erforderlich wäre jedoch nicht ein radikales Verbot des Neuroenhancements, sondern die öffentliche Aufklärung über die Grenzen dieser Verbesserungsmethoden und allgemeine Bemühungen um eine dem guten menschlichen Leben förderliche Kombination von biomedizinischen und herkömmlichen Methoden. 8) Kontra-Argument: Sozialer Druck und Verlust individueller Freiheit Während für bioliberale Befürworter des Neuroenhancements das liberale Argument einer Steigerung der individuellen Freiheit meist ein ausreichender Legitimationsgrund für jegliche Art von Selbstoptimierung darstellt, halten Kritiker dem entgegen: Naiv und der Realität in keiner Weise angemessen sei die Vorstellung, die Konsumenten von Neuroenhancement würden sich autonom und freiwillig für solche Selbstoptimierungsmaßnahmen entscheiden (vgl. Groß, 102 f./ Schleim, 197). Insbesondere der Konsum leistungssteigernder Psychopharmaka finde unter großem sozialem Druck statt, der einem Verlust der individuellen Freiheit gleichkomme. Die immer leichtere Verfügbarkeit und zunehmende Verbreitung leistungssteigernder Neuroenhancer dürfte infolge der größeren Leistungsfähigkeit der medikamentös Verbesserten zu einem Anstieg der Leistungsgrenzen und Erwartungshaltungen in Ausbildungs- und Arbeitsverhältnissen führen (vgl. Schöne 2009, 351 f./ Groß, 109 f./ Walcher, 260 f.). Dadurch wächst der Anpassungsdruck auf die „Naturbelassenen“, die im Wett- <?page no="271"?> 271 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt bewerb um Ausbildungs- oder Arbeitsplätze nicht mehr mithalten können und das Nachsehen haben. Nach Darstellung der Kritiker ergibt sich dadurch eine Art erpresserische Situation, in der die Nichtoptimierten zwar wählen können zwischen einer Unterwerfung unter die externen Standards oder dem Standhaftbleiben gegenüber dem sozialen Druck (vgl. Kipke 2009, 370). Da die zweite Möglichkeit des Festhaltens am eigenen Willen aber mit dem Preis gegebenenfalls drastisch verminderter Aussichten auf beruflichen Erfolg und soziale Anerkennung zu bezahlen ist, befinden sie sich in einer Art Zwangslage oder einer Situation kollektiver Nötigung (vgl. ebd./ Ach 2016, 128). Von Freiwilligkeit lasse sich nicht mehr sprechen, wo das Neuroenhancement eigentlich abgelehnt und nur angesichts der großen zu erwartenden Nachteile gewählt werde (vgl. Kipke 2011, 64). Bei diesem Kontra-Argument werden offenkundig externe soziale Beschränkungen der menschlichen Freiheit kritisiert, ohne dass dabei aber klar zwischen den beiden Aspekten der Handlungs- und Willensfreiheit unterschieden wird. Solche externe soziale Beschränkungen in Form eines direkten oder indirekten sozialen Drucks können aber zum einen die Handlungsfreiheit einengen, d. h. das Handelnkönnen in einem Spielraum ohne Hindernisse. Zum andern können sie gleichzeitig einen Einfluss haben auf die Willensfreiheit als Fähigkeit, aus eigenen Überlegungen und mit Blick auf persönliche Wertvorstellungen und Ideale zwischen vorhandenen Handlungsoptionen auswählen zu können. Wie in Kapitel 2.3.1 herausgearbeitet, müssen verschiedene Formen und Szenarien von Freiheit und sozialem Druck unterschieden werden. Eine ethisch inakzeptable Verletzung des grundlegenden moralischen Rechts auf Selbstbestimmung liegt beim direkten sozialen Zwang oder Druck vor, bestimmte Neuroenhancer einzunehmen. Von Heteronomie oder Fremdbestimmung und einem klaren Verlust sowohl der Willensals auch der Handlungsfreiheit lässt sich sprechen, wenn jemand durch physische Gewalt zur Medikamenteneinnahme gezwungen wird. Fast genauso beeinträchtigend kann aber auch ein großer psychischer Druck sein, bei dem den Betroffenen mit Gewaltanwendung oder anderen stark negativen Sanktionen wie z. B. Strafen oder dem Arbeitsverlust gedroht wird. In Zukunft könnten immer mehr Arbeitgeber und Vertragspartner wie etwa Versicherungen oder Kreditgeber psychischen Druck auf die Mitarbeiter ausüben oder sie mittels findiger Vertragsklauseln zum Enhancement nötigen (vgl. Fink, 20). Zu einem direkten Zwang kam es bereits im Militärwesen während des zweiten Weltkriegs sowie in einem durch die Presse bekannt gewordenen Fall eines Maklers an der Wallstreet-Börse (vgl. <?page no="272"?> 272 4 Neuro-Enhancement Lieb, 41 ff.; 131). Auch in vielen weiteren Bereichen wie im Transport- oder Gesundheitswesen könnte kognitives Enhancement erwünscht sein. Ein direkter Zwang ist aber grundsätzlich verwerflich und in liberalen Gesellschaften nur in Ausnahmefällen rechtfertigbar, wenn etwa durch eine geringe Freiheitsminderung großer Schaden für die Personen selbst und andere vermieden werden kann wie im Fall der gesetzlichen Gurtpflicht (Kap. 2.3.1). Mögliche erwägenswerte rechtfertigende Gründe für eine situativ klar begrenzte Pflicht zum Neuroenhancement könnten etwa die Vermeidung traumatischer Erinnerungen an Kampfsituationen bei militärischen Auslandseinsätzen oder das Aufrechterhalten der notwendigen Konzentration und Wachheit bei Ärzten oder Fernfahrern während der Nachtschichten sein (vgl. Ach 2016, 128). Ethisch inakzeptabel ist ein solcher Paternalismus jedoch da, wo grundlegende glücksrelevante Güter der Betroffenen wie ihre Gesundheit oder körperliche Integrität auf dem Spiel stehen. Solange gravierende Langzeitschäden von Neuroenhancern nicht ausgeschloßen werden können, ist folglich eine Pflicht zur Einnahme in Betrieben ethisch indiskutabel. Wenn allerdings ein gut begründeter und gesellschaftlich legitimierter risikofreier Enhancement-Konsum als Einstellungsvoraussetzung explizit im Arbeitsvertrag stünde oder die Vertragspartner von Anfang an ihre Angebote an bestimmte Bedingungen knüpften, würden die Bewerber diese mit ihrer Unterschrift akzeptieren und ihre Willensfreiheit wäre gewahrt. Erst wenn in fast allen Arbeitsfeldern ein Enhancementzwang existierte, wäre ein aus ethischer Sicht jedem Menschen zuzubilligendes Minimum an Handlungsfreiheit unterschritten (Kap. 2.3.1). Eine etwas schwächere Form eines sozialen Drucks ist der indirekte Zwang zum Neuroenhancement, der z. B. durch einen verschärften Wettbewerb und Konkurrenzkampf mit optimierten Mitmenschen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zustande kommen kann. Nicht nur ein solcher direkter Wettbewerb, sondern auch ein gesellschaftliches Anreizbzw. Sanktionensystem kann einen indirekten sozialen Druck zum Konsum von Neuroenhancern erzeugen. Bei beiden Formen eines indirekten sozialen Drucks wird zwar wiederum eindeutig der Handlungsspielraum der Menschen eingeschränkt, nicht aber ihr Recht auf Selbstbestimmung (vgl. Ach 2016, 128). Unklar ist, inwiefern es sich dabei um eine „Zwangslage“ oder „erpresserische Situation“ mit dem Verlust der Freiwilligkeit handelt. Bei einer „klassischen“ Situation einer Erpressung hält ein Bankräuber dem Kassierer die Pistole an die Schläfe und droht mit der Erschießung, sodass ein direkter Zwang vorliegt. Die Analogie ist also irreführend, weil beim Enhancement zur Erlangung beruflicher oder sozialer Vorteile <?page no="273"?> 273 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt niemandem ein fremder Wille aufgezwungen wird. Allerdings scheinen uns manchmal die gegebenen situativen Umstände zu etwas zu nötigen, was wir eigentlich nicht wollen (vgl. Bieri, 114 ff./ Fenner 2008, 39 f.): Ein Lazarettarzt muss beispielsweise ohne Narkose ein Bein amputieren, um den Verletzten zu retten, oder ein Kapitän wirft das wertvolle Frachtgut ins Meer, weil ein Sturm aufkommt und die Passagiere sonst in Gefahr wären. Da sich die ursprünglichen Wünsche nicht realisieren lassen, werden wir auch im Alltag ständig zur Anpassung der Ziele an missliche Umstände gezwungen. Im strengen Sinn geht niemand „freiwillig“ um sieben Uhr ins Büro, gibt die Hälfte seines Einkommens für eine teure Stadtwohnung aus oder schluckt Antibiotika gegen Infektionskrankheiten. In allen Fällen werden zwar die Mittel zum Zweck nicht um ihrer selbst willen gewünscht und gutgeheißen, aber wegen des wichtigen erstrebten Ziels in Kauf genommen. Man wählt durchaus nach reiflicher Überlegung und aus freiem Willen das kleinere Übel, sodass sich die Handlung als unfreiwillig-freiwillig bezeichnen ließe. Analogie-Argumente allein helfen hier argumentativ nicht weiter, weil offenkundig eine Grenze gezogen werden muss zwischen einer echten „Zwangslage“ und solchen harmloseren Beispielen. Es macht für die Beurteilung der Willensfreiheit einen relevanten Unterschied, ob es um zentrale Lebensziele oder glücksrelevante Güter geht und ein sehr hoher Preis wie Leben oder Gesundheit zu zahlen ist oder nicht (vgl. Bieri, 116). So liegt kaum eine erpresserische Situation oder Zwangslage vor, wo das Neuroenhancement lediglich einer positionalen Verbesserung dienen und die eventuell nur punktuell einzunehmenden Neuroenhancer keinerlei Gesundheitsrisiken bergen würden. Gegen das Argument eines direkten oder indirekten sozialen Drucks wird häufig geltend gemacht, dass sich solche „Zwangslagen“ automatisch bei allen neuen technologischen Errungenschaften ergeben würden und daher nicht als problematisch eingestuft werden könnten (vgl. dazu Kipke 2009 370/ Schöne 2009, 352). Tatsächlich trifft auf die großen Technisierungsschübe der Vergangenheit etwa anlässlich der Erfindung von Eisenbahn, Automobil, Rundfunk, Telefon oder Internet zu: Wer einer neuen Technik skeptisch gegenüberstand, geriet unter großen sozialen Druck und gab ihm irgendwann nach. Denn ohne die neuen technischen Geräte wie Telefon, Computer oder Handys wären die Betroffenen von wichtigen Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen gewesen. Auch bei diesem nun von den Enhancement-Befürwortern vorgebrachten Analogie-Argument übersieht man aber möglicherweise ethisch relevante Unterschiede. Denn bei Neurotechnologien <?page no="274"?> 274 4 Neuro-Enhancement handelt es sich nicht um austauschbare äußerliche Geräte wie Computer oder Handy, sondern um Eingriffe in die körperliche Integrität und möglicherweise die Persönlichkeit der Individuen (vgl. Kipke 2009, 370). Entscheidend für die ethische Beurteilung sind die Auswirkungen neuer Technologien auf zentrale Güter oder Rechte und die Lebensqualität der Menschen, weil sie sich im Leben der Betroffenen „bewähren“ müssen (Kap. 2.3.1). Trotz der mit jeder Neuerung verbundenen Bedenken und persönlichen Verweigerungen kam es in den oben erwähnten Fällen nach einer gewissen Übergangsphase deswegen zu einer allgemeinen Akzeptanz, weil die neu eröffneten Handlungsmöglichkeiten von der großen Mehrheit als Fortschritt bewertet wurden. Während sich der Handlungsspielraum der Nutzer von Internet oder Handys offenkundig erheblich erweitert, profitieren aber von einer medikamentös induzierten Produktivitätssteigerung möglicherweise nur die nach Gewinnmaximierung strebenden Auftraggeber. Kritiker befürchten, für den Konsumenten von Neuroenhancern käme es infolge des steigenden inneren und äußeren Erwartungsdrucks hinsichtlich des Arbeitspensums nur zu einer Arbeitsverdichtung. Gemäß dem von Hartmut Rosa beschriebenen und nach Michael Endes Roman als Momoeffekt bezeichneten paradoxen Phänomen wird durch die effizienteren technischen Hilfsmittel keine Zeit freigesetzt, sondern lediglich viel mehr in der gleichen Zeit erledigt (vgl. Walcher, 237). Neuroenhancement kann aber sicherlich nicht nur zu relativen, kompetitiven und positionalen Verbesserungen und wirtschaftlichen Vorteilen für den Arbeitgeber führen, sondern auch eigene berufliche oder private Ziele besser erreichen helfen. Ein Beispiel wäre ein Chirurg, der dank Stimulanzien auch bei einer nächtlichen Notoperation Patienten retten kann. Eine nochmals ganz andere Form eines indirekten sozialen Drucks kommt schließlich durch die gesellschaftliche Beeinflussung der Wünsche und Wertvorstellungen der Einzelnen zustande. Wie bezüglich der Schönheitsoperationen bereits gezeigt, können auch gesellschaftliche Ideale wie beispielsweise diejenigen von Schönheit oder Leistungsfähigkeit die Willensfreiheit der Einzelnen gefährden (Kap. 3.1). Insbesondere Heranwachsende deuten das eigene Abweichen von immer höher rangierenden gesellschaftlichen Werten wie Effizienz und Leistungsfähigkeit als ihre persönlichen Fehler, die sie wettmachen wollen, und setzen sich so selbst unter Druck. Wie gesehen schränken allerdings gesellschaftliche Grundeinstellungen und Werthaltungen nicht automatisch die Autonomie oder Willensfreiheit der Individuen ein, die ihre Wünsche und Ideale stets in Interaktion mit dem sozialen Umfeld entwickeln (Kap. 2.3.1). <?page no="275"?> 275 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt Auch hier muss wieder eine Grenze gezogen werden zwischen einem legitimen gesellschaftlichen Druck und freiheitsraubenden autoritär-sanktionenbewehrten oder manipulativen Einflüssen. Auch sind weder die in unserer Gesellschaft hochgehaltenen Ideale der geistigen Leistungsfähigkeit und Effizienz bei der Zielerreichung noch das Wettbewerbsprinzip an sich ethisch verwerflich (Kap. 1.2; 2.3). Problematisch ist nur der fehlende Raum für kritische Reflexionen und öffentliche Diskussionen über diese Ideale und Prinzipien, die die Gefahren ihrer Dominanz deutlich machen. Statt im Zeichen eines Neoliberalismus das individuelle Vorteilsstreben oder die Steigerung des Wirtschaftswachstums als höchste Ziele zu definieren, müssen normative Überlegungen über das gute Leben der Menschen und Solidarität und Chancengleichheit im Zusammenleben in den Vordergrund rücken. Zugespitzt sollten aber nicht irgendwelche Pillen verboten werden, sondern die Grundprinzipien der Leistungs- und Ellenbogengesellschaft überdacht und Maßnahmen gegen ein sich verschärfendes kompetitives und ausgrenzendes Klima ergriffen werden (vgl. Ach 2016, 125). Ebenso ist auf der Ebene der Unternehmen eine Personalführungsethik erforderlich, damit eine partnerschaftliche Zusammenarbeit in gegenseitiger Anerkennung und Unterstützung gefördert und gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen unterbunden werden (vgl. Fenner 2010, 415). Um unfaire Wettbewerbssituationen zu verhindern, wären in Bildungseinrichtungen und Unternehmen klare Richtlinien über Verbot oder Zulässigkeit bestimmter Neuroenhancer zu erstellen (vgl. Argument 4). Das Phänomen des indirekten gesellschaftlichen Drucks ist also sehr ernst zu nehmen, ohne dass sich aber aus der Gefährdung der individuellen Freiheit ein generelles Verbot des Neuroenhancements ableiten ließe. 9) Kontra-Argument: Ungleichheit und Ungerechtigkeit Gegen das Neuroenhancement wird genauso wie auch gegen die meisten anderen biomedizinischen Selbstoptimierungs-Maßnahmen vorgebracht, seine Akzeptanz führe notwendig oder höchstwahrscheinlich zu Unfairness, Ungleichheit und Ungerechtigkeit (vgl. dazu Savulescu 2008, 177/ Kass u. a., 280 ff./ Gesang, 50 ff.): Da Enhancement-Methoden anders als therapeutische Verfahren von den Interessenten selbst zu bezahlen sind und zumindest in der Anfangsphase sehr teuer sein dürften, könnten sie die bereits bestehende soziale Ungerechtigkeit in der Gesellschaft zusätzlich oder in einem ganz neuen Ausmaß verschärfen. Diskutiert wird vornehmlich über die Fragen nach Zugangsgerechtigkeit, d. h. einem gerechten Zugang zu Enhancement-Möglichkeiten, nach <?page no="276"?> 276 4 Neuro-Enhancement Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit. Wie in Kapitel 2.2 bereits dargelegt, ist der sozialethische oder moralische Grundbegriff der Gerechtigkeit äußerst vieldeutig und wird auch in der Enhancement-Debatte oft ohne nähere begriffliche Explikation sehr unterschiedlich verwendet. Nach einer elementaren Unterscheidung kann „Gerechtigkeit“ entweder wie im „Egalitarismus“ als Gleichheit im interpersonalen Vergleich verstanden oder wie im „Nonegalitarismus“ mit absoluten Standards für ein menschenwürdiges oder gutes menschliches Lebens in Verbindung gebracht werden. Da im Egalitarismus wiederum die verschiedenen Betrachtungsebenen der Gleichheit zwischen den Menschen ganz verschieden bestimmt werden, kann das Enhancement die Gleichheit an sozioökonomischen Lebensverhältnissen, Startbedingungen, menschlichen Grundfähigkeiten, faktischem Wohlergehen oder Chancen auf Wohlergehen bedrohen. Je nach der näheren Konkretisierung der Gleichheit erscheint entweder eine marktförmige Verteilung in der liberalen Marktwirtschaft oder eine sozialstaatliche Verteilung durch staatliche Institutionen als gerecht. Nur im zweiten Fall wird die ungleiche Verfügbarkeit der Enhancement-Maßnahmen als eine von der Gesellschaft zu verantwortende ungerechte Verteilung aufgefasst, sodass es sich um ein von der Gesellschaft zu lösendes Problem sozialer Verteilungsgerechtigkeit handelt. Der Nonegalitarismus hingegen kritisiert das egalitaristische Pochen auf „Gleichheit“ an Gütern oder Eigenschaften der Menschen im interpersonalen Vergleich, weil es bei Gerechtigkeitsfragen auf das jedem Einzelnen an sich Zustehende ankomme. Zu klären wäre dann, welche durch Enhancement beeinflussbaren menschlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten in welchem Ausmaß für ein gutes menschliches Leben notwendig sind. Aus verschiedenen Positionen sowohl des Egalitarismus als auch des Nonegalitarismus kann Enhancement jeweils unterschiedlich beurteilt werden. Marktförmige Verteilung: Verfahrens- und Tauschgerechtigkeit Auch wenn die bisher veröffentlichten Stellungnahmen zu Fragen von Gerechtigkeit und Fairness in der Neuroenhancement-Debatte zumindest in der Grundforderung nach einem fairen Wettbewerb übereinstimmen, wird jeweils sehr Unterschiedliches unter einem „fairen Wettbewerb“ oder Wettbewerbsgerechtigkeit verstanden (vgl. Wagner, 72). Radikalliberale halten zumeist nach dem Gerechtigkeitsverständnis des „Libertarismus“ eine marktförmige Verteilung an Enhancement-Methoden für gerecht, die sich im freien Wettbewerb unter der uneingeschränkten Herrschaft des Marktprinzips ergibt (Kap. 2.2): <?page no="277"?> 277 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt Wenn alle Menschen nach den gleichen ökonomischen Regeln je nach Bedarf und Investitionsbereitschaft Güter oder Dienstleistungen zur Selbstoptimierung nachfragen können, sind sowohl eine formale Verfahrensgerechtigkeit als auch Tauschgerechtigkeit gewährleistet. Bisweilen wird jedoch insbesondere das kognitive Enhancement analog zum Sport als „Hirn-Doping“ bezeichnet und als ungerecht verurteilt, weil leistungssteigernde Medikamente die normative Ordnung eines fairen Wettbewerbs und das in ihm geltende Leistungsprinzip unterwandern würden (vgl. Wagner, 198 f./ Argument 4). Allerdings wird bei dieser Vorstellung von fairem Wettbewerb und Leistungsgerechtigkeit übersehen, dass der Markt nicht Leistung, sondern Erfolg prämiert (vgl. ebd., 126 ff./ Fenner 2010, 366). Dieser Markterfolg hängt neben der persönlichen Leistung zu einem großen Teil vom individuellen Talentprofil, den Präferenzen und der Zahlungsbereitschaft der Nachfrager und schließlich von der Konkurrenz der Wettbewerber mit ähnlichen Talenten ab. Ganz grundsätzlich ist gegen das libertäre Gerechtigkeitsmodell einzuwenden, dass dabei ungleiche Startchancen oder Ausgangsbedingungen wie etwa der sozioökonomische Status der Eltern oder die Ausstattung mit natürlichen Gütern wie physische und psychische Konstitution und Talente nicht berücksichtigt werden und deswegen keine Zugangsgerechtigkeit und keine Chancengerechtigkeit vorliegen. Denn Gesellschaftsmitglieder mit niedrigem sozioökonomischem Status verfügen nicht nur über weniger finanzielle Mittel, sondern ihnen fehlen höchstwahrscheinlich auch die notwendigen Kenntnisse über mögliche Enhancement-Ziele und die Wege ihrer Realisierung. Schon die Verteilung von Gesundheitsleistungen im marktwirtschaftlich organisierten medizinischen Präferenz-Effizienz-Modell führt zu einer Privilegierung der Wünsche der Bessergestellten (Kap. 3.1/ Krones, 138). Es ist also sehr wahrscheinlich, dass die marktförmige Verteilung des Enhancements im freien Wettbewerb die Ungleichheiten an Zugangschancen und sozioökonomischen Lebensverhältnissen, d. h. an ökonomischen Ressourcen und sozialen Stellungen in der Gesellschaft verschärfen wird (vgl. Lenk, 83 f.). Gegen das Argument ungleicher Zugangschancen wird immer wieder geltend gemacht, bei einem rasch steigenden Umsatz der Neuroenhancer würden diese immer billiger und wären dann auch für weniger Bemittelte erschwinglich (vgl. Lieb, 130). Auch würden die Informationen über die Angebote dank Werbung und Internet immer weitere Verbreitung finden, sodass auch diesbezüglich niemand benachteiligt würde. Aufgrund der unsicheren Zukunftsprognosen ist dieses Gegenargument aber schwach: Es dürfte die Wahrscheinlichkeit etwa gleich groß sein, dass die ungerechte Übergangsphase sehr lange dauert und die <?page no="278"?> 278 4 Neuro-Enhancement bei den Unterprivilegierten letztlich ankommenden Biotechnologien immer schon veraltet sind (vgl. Gesang, 53). Meist wird die hohe Wahrscheinlichkeit eines ungleichen Zugangs zum Enhancement durch technologische Verfahren und in der Folge von noch größerer Ungleichheit zwischen armen und reichen Bevölkerungsschichten auch von liberalen Enhancement-Befürwortern nicht geleugnet. Diese Gerechtigkeitsprobleme werden aber oftmals relativiert mit dem Argument, sie seien keineswegs erst durch das Enhancement aufgetreten und die Reichen hätten schon immer einen besseren Zugang zu den Vorteilen von Bildung, Gesundheit und Technologie gehabt (vgl. Savulescu 2008, 178). Insbesondere in den USA scheint es einen weit verbreiteten Konsens darüber zu geben, dass Fairness in der Gesellschaft ein nicht verwirklichtes und auch gar nicht realisierbares „bloßes“ Ideal darstellt (vgl. Wagner, 303). Befragte amerikanische Studierende sehen im Neuroenhancement deswegen keine illegitime und unfaire Praxis, weil die ganze Gesellschaft ungerecht sei, die Chancen auf Erfolg durch Klassenzugehörigkeit und Hautfarbe sehr ungleich seien und unterprivilegierte Gruppen ihre Chancen im brutalen Wettbewerb dadurch erhöhen könnten (vgl. ebd., 217). Dabei täuschen sie sich allerdings darüber hinweg, dass der typische Konsument leistungssteigernder Medikamente weiß und männlich ist, an der Ostküste der USA lebt und ein College mit hohen Studiengebühren besucht (vgl. ebd., 312). Aber selbst in der akademischen Debatte verweisen bioliberale Enhancement-Befürworter auf die ohnehin schon in unserer Gesellschaft herrschenden sozialen Unterschiede und Nachteile der Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, die schließlich auch allgemein akzeptiert und nicht als ungerecht empfunden werden (vgl. Farah u. a., 423): Niemand würde doch Fortschritte hinsichtlich Gesundheit und Lebensqualität beschränken wollen, nur weil sie die Nachteile von Gesellschaftsmitgliedern mit niedrigem sozioökonomischem Status noch weiter verstärken könnten. Der ungleiche Zugang zu kognitivem Enhancement gebe nicht mehr Grund zum Eingreifen als der ungleiche Zugang zu teuren Privatschulen. Formal gesehen ist gegen diese Argumentation einzuwenden, dass der Schluss von der großen Zahl bereits bestehender schichtspezifischer Ungleichheiten auf die Legitimität weiterer Ungerechtigkeit einen Sein-Sollen-Fehlschluss, also einen logisch unzulässigen Schluss von Fakten auf Normen darstellt (Kap. 2.4). Inhaltlich und normativ betrachtet macht die allgemeine Toleranz oder Billigung einer ungleichen und ungerechten Verteilung in einer Gesellschaft diese in keiner Weise moralisch besser, genauso wenig wie die lange Zeit einhellig für moralisch korrekt gehaltene Sklavenhaltung moralisch legitim war (vgl. <?page no="279"?> 279 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt Brock 1998, 61). Wie der in Kapitel 2.2 vorgestellte Schicksals-Egalitarismus überzeugend differenziert, ist aber nicht jede, sondern strenggenommen nur eine unverdiente „zufällige“ Ungleichheit ungerecht im moralischen Sinn (vgl. Wollner, 249): Ungleichheiten in einer Gesellschaft können durchaus als gerecht gelten, sofern sie auf selbstverantwortliche Entscheidungen oder Handlungen der Betroffenen wie z. B. hochriskante Investitionen oder Misswirtschaft zurückgehen und somit selbstverschuldet sind. Eine ungerechte Verteilung liegt jedoch dann vor, wenn sie sich nicht selbst gewählten Umständen oder Einflüssen wie den erwähnten ungleichen Startbedingungen durch Herkunft aus einem bestimmten sozioökonomischen Milieu oder angeborenen Anlagen und Talenten verdanken. Zudem sind nur Ungleichheiten moralisch relevant, die einen Einfluss auf das Glück oder Wohlergehen der Betroffenen haben und sich durch gesellschaftliche Maßnahmen prinzipiell beeinflussen lassen (vgl. Knell, 612). Durch bestimmteWirtschaftsordnungen oder politische Systeme lassen sich aber die Verteilung des Enhancements in einer Gesellschaft sehr wohl beeinflussen, und viele Neuroenhancement-Maßnahmen im Bereich Bildung und Gesundheit sind zweifellos glücksrelevant. Wie problematisch gesellschaftliche Auswirkungen von Enhancement-Mitteln sind, hängt zudem von der Größe der zusätzlichen Abstände zwischen ökonomisch besser und schlechter Gestellten ab. Zurzeit sind z. B. die durch kognitives Neuroenhancement erzielten Verbesserungen noch sehr moderat und können durch Kaffeetrinken weitgehend wettgemacht werden (Kap. 4.2.3). So gesehen sind sie ethisch weniger problematisch als teure Privatschulen mit wesentlich besserer Betreuung des Nachwuchses. Durch zukünftige Entwicklungen viel wirksamerer Neuroenhancer sowie v. a. auch gentechnologischer Verbesserungen der Embryonen wohlhabender Eltern könnte die Schere zwischen arm und reich aber drastisch erweitert werden (vgl. Gesang, 50 ff./ Kap. 5). Eine marktförmige Verteilung radikaler, glücksrelevanter Neuroenhancement-Mittel wäre klar als ungerecht und Ende aller Chancengleichheit abzulehnen, wenn diese als Luxusgüter nur wenigen Privilegierten zur Verfügung stünden. Sozialstaatliche Verteilung: Soziale Verteilungsgerechtigkeit und materielle Chancengleichheit Da sich eine marktförmige Verteilung glücksrelevanter Enhancement-Maßnahmen aufgrund fehlender Zugangsgerechtigkeit und sich daraus ergebender unverdienter Ungleichheit an glücksrelevanten Gütern als moralisch proble- <?page no="280"?> 280 4 Neuro-Enhancement matisch erwies, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit einer sozialstaatlichen Verteilung oder auch Begrenzung des Enhancements zur Herstellung von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Gemäß der maßgeblich von John Rawls geprägten Gerechtigkeitsvorstellung des „Liberalismus“ hat der Staat im Unterschied zum libertären Nachtwächterstaat die Aufgabe, über ein ausdividiertes System staatlicher Institutionen soziale Gerechtigkeit bzw. soziale Verteilungsgerechtigkeit im Sinne einer Gleichverteilung gesellschaftlicher Güter herzustellen (Kap. 2.2). Bei der über formale Chancengleichheit hinausgehenden materiellen Chancengleichheit werden in der Enhancement-Debatte zwei Sichtweisen unterschieden, die meist mit einer divergierenden Bewertung des Enhancements verbunden sind: Das in der Tradition von Rawls Gerechtigkeitstheorie stehende schwächere Konzept materieller Chancengleichheit („social structure view“) fordert lediglich, dass sozial bedingte Ungleichheiten zu kompensieren sind und Bürger mit vergleichbarer Begabung und Motivation dieselben Chancen auf sozialen Aufstieg haben sollen (Kap. 2.2). Die in der Enhancement-Debatte interessierenden natürlichen Güter werden hingegen nicht direkt ausgeglichen, sondern nur in gewissem Maße indirekt durch die Umverteilung von öffentlichen Geldern in soziale Maßnahmen und finanzielle Mittel für die von der natürlichen Lotterie Benachteiligten. Während bei Rawls nicht einmal „Gesundheit“ als basalstes natürliches Gut zu den von der Gesellschaft gerecht zu verteilenden Grundgütern zählt, fordern seine Kritiker zu Recht eine gesellschaftlich zu gewährleistende medizinische Grundversorgung zur Sicherung fairer Chancengleichheit (vgl. Daniels, 42 f.). Noch viel weniger sind nach Rawls soziale und ökonomische Ungleichheiten aufgrund unterschiedlicher natürlicher Begabungen ungerecht, solange nach seinem Differenzprinzip die Schlechtestgestellten von den Beiträgen der besonders Talentierten und dem dadurch gesteigerten Wirtschaftswachstum profitieren (vgl. Rawls, 105). Rawls hat die Verteilung der natürlichen Gaben in seiner Theorie der Gerechtigkeit (1996) zwar als unbeeinflussbare „Naturtatsache“ bezeichnet, aber zumindest die Frage nach der „Eugenik“ gestreift und klar erkannt: Bessere natürliche Gaben lägen eindeutig im Interesse der Einzelnen, weil sie ihnen als Ressourcen beim Verfolgen der selbstgewählten Lebenspläne helfen (vgl. 129). Gemäß dem zweiten, vom „Schicksals-Egalitarismus“ inspirierten stärkeren Konzept materieller Chancengleichheit („brute luck view“) verlangt materielle Chancengleichheit nicht nur die Beseitigung der auf soziale Ursachen zurückgehenden, sondern auch der durch die natürlichen Konstitutionen bedingten <?page no="281"?> 281 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt Ungleichheiten (vgl. Buchanan u. a., 15 ff.; 75): Um sämtliche unverdienten und ungerechten Nachteile auszugleichen und eine gleiche Startebene („level playing field“) für alle Menschen zu schaffen, müsste weitestgehende Gleichheit der biologischen Grundausstattung an glücksrelevanten Gütern wie Gesundheit und Talenten hergestellt werden. Im Sinne der Schicksals-Egalitaristen („Luck Egalitarians“) ist die natürliche Lotterie genauso ungerecht wie die soziale Lotterie, weil die faktisch vorhandenen individuellen Talentprofile sowie auch die allgemeinen physischen und psychischen Dispositionen zufällig sind, sich der Kontrolle des Einzelnen entziehen und ungleiche Chancen auf Erfolg und Wohlergehen zeitigen (vgl. Wollner, 49/ Kap. 2.2). In Anbetracht der immer weiter entwickelten Möglichkeiten des genetischen Enhancements führen die Rawls-Schüler Allan Buchanan, Dan Brock, Norman Daniels und Daniel Wikler in From chance to choice (2000) Rawls Gerechtigkeitstheorie fort, indem sie auch natürliche Anlagen und Fähigkeiten zu den „Primär“- oder „Grundgütern“ („primary goods“) rechnen (vgl. 80; 168). Denn wenn Ungleichheiten in den Verantwortungsbereich des Menschen rücken („optional luck“/ „choice“), die bisher dem Schicksal oder Zufall („brute luck“/ „chance“) anheimgestellt waren, muss sich die Gesellschaft die Fragen nach Chancengleichheit und staatlichen Ausgleichsleistungen offenkundig neu stellen. Sowohl durch genetisches als auch das hier interessierende Neuroenhancement könnten immer mehr „natürliche Güter“ die Bedingungen für „gesellschaftliche Güter“ erfüllen, indem sie sich von der Gesellschaft beeinflussen und verteilen lassen und grundlegende Voraussetzungen eines guten menschlichen Lebens bilden. Enhancement würde dann gesellschaftliche Gerechtigkeit nicht bedrohen, sondern vergrößern. Mittels der Optimierung natürlicher Dispositionen, Eigenschaften und Begabungen soll nicht Gleichheit an materiellen Gütern, sondern letztlich die Gleichheit an Fähigkeiten oder Chancen zur Führung eines guten Lebens oder zur Erlangung von Wohlergehen hergestellt werden. Während Rawls Güteregalitarismus lediglich eine „schwache Konzeption des Guten“ voraussetzt, erfordern erweiterte Gerechtigkeitstheorien daher eine „stärkere Theorie des Guten“. Doch welches sollen die natürlichen menschlichen Anlagen und Fähigkeiten sein, die allen Menschen um der Gerechtigkeit willen gleichermaßen zukommen sollen? Gemäß einigen Chancen-auf-Wohlergehens-Ansätzen ist es in pluralistischen Gesellschaften völlig subjektiv und hängt von den persönlichen Präferenzen und Lebensplänen der Individuen ab, welche Fähigkeiten und Talente für den Einzelnen überhaupt wertvoll sind und sein Wohlergehen steigern (vgl. <?page no="282"?> 282 4 Neuro-Enhancement Arneson, 346 f./ Kap. 2.2). Fähigkeiten-Ansätze stellen demgegenüber objektive Listen der für jedes menschenwürdige oder gute menschliche Leben unabdingbaren Anlagen und Fähigkeiten zusammen, die als Orientierungsgrundlage für einen Ausgleich natürlicher Güter zur Herstellung von Chancengleichheit eher geeignet sind (vgl. Nussbaum, 200 f./ Kap. 2.2). Als Allzweckmittel („all purpose“ bzw. „general purpose means“) oder Allzweckgüter („all purpose goods“) bezeichnet man in der Ethik sämtliche Güter, Eigenschaften oder Fähigkeiten, die in jedem menschlichen Lebensplan eine zentrale Rolle spielen (vgl. Rawls, 111/ Buchanan u. a., 168). In seinem einschlägigen Beitrag Enhancement and Fairness (2008) hat der Transhumanist Julian Savulescu eine sehr umfangreiche und inhaltlich strukturierte Liste solcher „all purpose goods“ vorgelegt (vgl. 182 ff.): An erster Stelle stehen Intelligenz, Gedächtnis, Selbstdisziplin, Vorausschau, Geduld, Sinn für Humor und Optimismus. Dazu kommen für die Freiheit des Individuums notwendige psychische Fähigkeiten wie Entwerfen eines Selbstkonzepts, Erinnern und Verarbeiten von Informationen, Willensstärke, Voraussicht und Empathie. Unter die sozialen Kompetenzen fallen die Fähigkeiten, Freundschaften zu schließen, enge persönliche Beziehungen zu gestalten und das Verstehen- und Reagierenkönnen auf die Gefühle anderer. Hinsichtlich des moralischen Charakters schließlich seien Kapazitäten wie Empathie, Vorstellungskraft, Sympathie, Fairness und Ehrlichkeit grundlegend. Keine Erwähnung finden bei Savulescu physische Fähigkeiten wie gutes Sehen- oder Hörenkönnen und ein starkes Immunsystem, die in anderen Vorschlägen miteinbezogen werden (vgl. Brock 1998, 57/ Gesang, 49). Es soll hier aber nicht um die Frage gehen, ob bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten fehlen und andere vielleicht keine eindeutigen Allzweckgüter darstellen. Auch auf die Problematik der Herleitung und Begründung solcher für ein gutes Leben notwendiger Güter etwa mittels essentialistischer oder dikursiv-rekonstruktiver Methoden sei hier lediglich verwiesen (Kap. 2.1). Stattdessen soll hervorgehoben werden, dass die meisten Allzweckgüter graduierbar sind und wie z. B. Sehfähigkeit, Immunabwehr oder Intelligenz bei den einzelnen Menschen in ganz unterschiedlichem Maß vorliegen. In der Enhancement-Debatte dreht sich der Streit daher oft nicht um die für ein gutes menschliches Leben wichtigen Güter, sondern darum, in welchem Grad oder Ausmaß sie vorhanden sein sollen. <?page no="283"?> 283 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt Schwellenkonzept des Nonegalitarismus und „sufficientarianism“ Wenn hinsichtlich der Gerechtigkeitsproblematik die egalitaristische Forderung nach Gleichheit an Zugangsmöglichkeiten, Chancen oder Fähigkeiten erhoben wird, scheint „Gleichheit“ häufig als Wert an sich oder Selbstwert zu fungieren (vgl. dazu Siegetsleitner, 200). Gerechtigkeitstheoretiker des Nonegalitarismus wenden aber zu Recht gegen Egalitaristen ein, die Gleichheit an Gütern oder Chancen ließe sich prinzipiell auch durch eine Nivellierung nach unten erreichen (Kap. 2.2). Ganz praktisch gesehen könnten herausragende natürliche Anlagen und Begabungen allerdings höchstens dann auf ein Normalmaß herabgestuft werden, wenn vorgeburtliche genetische Screenings und gezielte beeinträchtigende gentechnische Interventionen durchgeführt würden. Egalitaristen täten in Anbetracht des „Levelling-down“-Arguments aber tatsächlich gut daran, von Anfang an das Gebot der Gleichheit zu präzisieren in Richtung auf eine qualifizierte Gleichheit: Natürlich kann es ethisch nur vertretbar sein, jedem Menschen ein hinreichendes oder angemessenes Maß an Grundgütern zu verbürgen. Ein „reiner Egalitarismus“, der Gleichheit als moralischen Selbstzweck und als einzigen für Gerechtigkeit relevanten Wert betrachtet, scheint aber ohnehin ein bloß von Nonegalitaristen konstruierter Gegner zu sein (vgl. Krebs, 13). Denn wie gesehen führen Egalitaristen eine heftige Kontroverse über den richtigen inhaltlichen Bezugspunkt für Gleichheit, also über die an alle Menschen gleich zu verteilenden konkreten Rechte, Güter oder Fähigkeiten (Kap. 2.2). Ungleichheiten sind aus Sicht aller Egalitarismus-Varianten überhaupt nur insofern moralisch relevant, als sie die Lebensaussichten oder das Wohlergehen der Individuen beeinflussen (vgl. ebd., 10 f.). Es scheint also in der nonegalitaristischen Terminologie lediglich „pluralistische Egalitaristen“ zu geben, die neben der Gleichheit noch den weiteren Wert individueller Wohlfahrt, des Wohlergehens oder guten Lebens gelten lassen. Daher kann die Gleichheit an einem Gütermangel oder an Unglück für alle Menschen auch aus egalitaristischer Sicht schwerlich gerecht sein, weil hinsichtlich dieses zweiten Werts des persönlichen Wohlergehens der Menschen keine qualifizierte Gleichheit vorliegt. Wenn Enhancement-Befürworter wie beispielsweise die Transhumanisten Nick Bostrom oder Julian Savulescu die Gleichheit an Zugangschancen fordern, stellt Gleichheit genau besehen keinen Selbstzweck, sondern einen instrumentellen Wert dar (vgl. Siegetsleitner, 200 f.): Den Menschen soll mit neuen Technologien geholfen werden, das Leid zu minimieren und die Chancen auf ein gutes <?page no="284"?> 284 4 Neuro-Enhancement Leben zu erhöhen. Mit dieser Auslegung und Spezifizierung des Egalitarismus scheint die vermeintlich große Kluft zum Nonegalitarismus zu schwinden. Genauso wie das Niveau der gleichen Güter, Fähigkeiten oder Chancen auch aus egalitaristischer Sicht nicht beliebig nach unten gesenkt werden darf, scheint es aber auch nach oben hin eine Grenze geben zu müssen. Denn allgemein wird es in der Moralphilosophie als eine Überdehnung von moralischen Hilfs- oder Solidaritätspflichten angesehen, wenn aus beliebigen subjektiven Präferenzen und dem Streben nach immer mehr Glück der Einzelnen moralische Ansprüche auf private oder staatliche Unterstützung abgeleitet würden (vgl. Knell, 466 f./ Hinsch 2002, 232). Für Vertreter eines Chancen-auf-Wohlergehens-Egalitarismus etwa bedeutet die Gewährleistung gleicher Wohlfahrtschancen entsprechend nur, dass allen Gesellschaftsmitgliedern ein „moralisches Minimum“ an Gütern, Ressourcen und Fähigkeiten zur Realisierung bestimmter öffentlich anerkannter Wohlfahrtsmerkmale garantiert wird (vgl. Hinsch, ebd.). Dies erinnert an das bereits erläuterte Anliegen des Schwellenkonzepts des nonegalitaristischen Humanismus, allen Menschen das Überschreiten einer bestimmten Schwelle zu ermöglichen (Kap. 2.2). Für einen solchen „sufficientarianism“ mit minimalen Suffizienzstandards spricht sich auch der Enhancement-Befürworter Savulescu aus und formuliert als allgemeines Ziel, möglichst vielen Menschen eine „anständige“ („decent“) oder „vernünftige“ Chance auf ein gutes Leben zu gewähren (vgl. 2008, 178). Nonegalitaristen insistieren jedoch darauf, dass anders als im Egalitarismus diese von allen zu überschreitende Schwelle nach nicht-komparativen und nicht-relativen „absoluten Standards“ festgesetzt werde (vgl. Krebs, 15). „Absolut“ im Sinne der Objektivierbarkeit der Messmethoden und Unabhängigkeit von subjektiven Wünschen und Werten könnte sich die Schwelle aber höchstens im Bereich elementarer Grundbedürfnisse bestimmen lassen, also etwa bezüglich eines Minimums an Nahrungsmitteln, Schutz und medizinischer Grundversorgung. Nonegalitaristen verweisen tatsächlich mit Vorliebe auf den Bereich basaler Bedürftigkeit der Menschen, sodass die Schwelle entsprechend niedrig angesetzt wird. Bei darüber hinausgehenden Fähigkeiten wie denjenigen, seine Phantasie und sein Denkvermögen zu gebrauchen, sein Leben selbst zu bestimmen oder mit anderen Menschen zusammenzuleben, werden nur die Dimensionen benannt, nicht aber die genaue Höhe der Schwelle. Im geistig-sozialen Bereich scheint es sich nicht absolut, sondern nur kulturrelativ und im interpersonalen Erfahrungsaustausch bestimmen zu lassen, wie viel genau beispielsweise an kognitiven Fähigkeiten „gut genug“ für ein menschenwürdiges Leben ist. Ent- <?page no="285"?> 285 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt sprechend konzedieren Nonegalitaristen bezüglich der „absoluten Standards“, sie müssten kulturspezifisch konkretisiert werden (vgl. Krebs, 18). Während Nonegalitaristen nur eine niedrige Schwelle für soziale Verteilungsgerechtigkeit ansetzen und Ungleichheiten oberhalb dieser Schwelle nicht für moralisch problematisch halten, könnte ein differenzierteres Gerechtigkeitsmodell verschiedene Niveaus festsetzen. Das Überschreiten der jeweiligen Schwelle wäre mit verschiedenen Ansprüchen auf soziale Unterstützung verbunden und niemand dürfte die nächsthöhere Schwelle übertreten, bevor nicht alle Menschen die darunterliegenden passiert haben. Weitgehende Einigkeit herrscht in Theorie und Praxis bezüglich der untersten Schwelle, bei der es lediglich um das Abwenden von Beeinträchtigungen oder Schäden grundlegender menschlicher Funktionsfähigkeiten infolge von Krankheiten, Behinderungen oder Unfällen und der damit verbundenen Leidenszustände geht. Denn der Verlust der arttypischen körperlichen und geistigen Funktionen bedeutet für alle Menschen mit den verschiedensten Lebensentwürfen eine gravierende Beeinträchtigung. Ziel der Gerechtigkeit ist dann egalitaristisch gesprochen faire Chancengleichheit auf ein normales Spektrum an Lebensmöglichkeiten, nonegalitaristisch ausgedrückt ein unbeschädigtes Leben für alle. Solange das Kriterium des „normal functioning“ wie bei Norman Daniels an ein objektives biostatisches Krankheitsmodell zurückgebunden wird, erforderte das Überschreiten dieser Schwelle kein Enhancement, sondern nur Therapie im Rahmen der medizinischen Grundversorgung (Kap. 1.3/ Buchanan, 141 f.). Wird das Kriterium jedoch wie von Buchanan weniger organologisch als soziologisch im Sinne der Teilhabe aller Bürger am gesellschaftlichen Leben als „normal competitors“ ausgelegt, würde es den Übertritt über eine zweite Schwelle markieren. Diese ist allerdings weit schwieriger präzise zu bestimmen, weil das gute menschliche Leben jetzt in Abhängigkeit von einer konkreten Gesellschaftsstruktur und gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Erwartungshaltungen gerät (vgl. Dabrock, 201 ff./ Buchanan u. a., 71 ff.; 122; 289 f.). So setzt eine kompetente Teilhabe in industrialisierten Wissensgesellschaften andere kognitive Fähigkeiten als in einer agrarischen voraus. Bei dieser zweiten Schwelle verliert die Trennung zwischen Therapie und Enhancement an Bedeutung, aber es dürfte sich in den meisten Fällen um kompensatorisches Enhancement handeln. Erst auf einer dritten Schwelle werden die für jeden Lebensentwurf bedeutsamen Fähigkeiten über ein „normales“ oder das in einer Gesellschaft übliche Maß hinaus gesteigert, sodass ein progredientes Enhancement vorläge: Allzweckmittel wie eine höhere Intelligenz, eine <?page no="286"?> 286 4 Neuro-Enhancement größere Selbstdisziplin oder ein stärkeres Immunsystem könnten die Chancen auf Realisierung anspruchsvollerer Lebenspläne erheblich verbessern. Am Beispiel des Allzweckguts der Intelligenz erörtert Savulescu, wie die Normalverteilung nach der Bellschen Kurve aussieht und was eine „faire Chance“ auf ein gutes Leben bedeuten könnte: Nur die unterste Schwelle bei einem IQ von 70 lässt sich relativ eindeutig ansetzen, weil geringere kognitive Fähigkeiten als krankheitswertig und als geistige Behinderungen gelten (vgl. Savulescu 2008, 182 f.). Eine zweite Schwelle könnte man entweder bei einem IQ von 85 oder beim Durchschnitt von 100 ansetzen, damit niemandem aufgrund einer Lernbehinderung die kompetente Teilhabe an der Gesellschaft erschwert wird. Welche Suffizienzstandards im Zeichen der Gerechtigkeit von allen überschritten werden sollen, hängt nach Savulescu aber letztlich allein von der Gesellschaft ab. Die Hauptstoßrichtung der Kritik gegen solche Schwellenkonzeptionen entzündet sich denn auch genau daran, keine „absoluten“ oder „kategorischen“ Grenzen ziehen zu können (vgl. Beier, 108 ff.). Dies gelinge nicht einmal den Autoren um Buchanan mit ihrer Zwischenlösung zwischen Rawls „social structure view“ und der radikalen „brute luck view“ der Schicksalsegalitaristen, bei der sie den sozialen Ausgleich auf natürliche Beeinträchtigungen durch Krankheiten oder Behinderungen beschränken. Wie bei der Diskussion des angeblich wertfreien und objektiven biostatischen Krankheitsmodells gezeigt, lässt sich das „normale Funktionieren“ selbst im organischen Bereich manchmal nur in Bezug auf statistische Durchschnittswerte bestimmen und rückt bei psychischen Störungen häufig in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Anforderungen (Kap. 1.3). Entsprechend räumen die Autoren die Möglichkeit ein, dass sich die Standards des „normal functioning“ und die Grenze zwischen Therapie und Enhancement immer weiter nach oben hin verschieben (vgl. Buchanan u. a., 98 f.). Denn zum einen verändert sich die Normalitätsverteilung infolge individuellen Enhancements, zum andern dürfte es angesichts der erweiterten technischen Möglichkeiten zu immer anspruchsvolleren gesellschaftlichen Vorstellungen von „Normalität“ kommen. Erst recht wenn es wie bei der zweiten und dritten Schwelle um die kompetente Teilhabe an der Gesellschaft oder ambitioniertere Vorstellungen eines guten Lebens geht, wird das Bestimmen der Schwelle Teil eines kulturellen Prozesses der kontinuierlichen Suche nach besseren Lebenstechniken und menschlichen Selbstdeutungen. Es ist jedoch kein prinzipielles Problem, dass die Bestimmung normativer Standards eine gesellschaftliche Angelegenheit darstellt oder die Ansprüche im Zuge der technischen und kulturellen Weiterentwicklung steigen. Solange sie Gegenstand <?page no="287"?> 287 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt öffentlicher und politischer rationaler Diskurse sind, scheint Panik vor einem ungebremsten Anstieg des Anspruchsniveaus unangebracht. Bei der hier zur Diskussion stehenden Option einer sozialstaatlichen Verteilung des Enhancements ist die Gefahr einer Spirale steigender Ansprüche schon deswegen stark eingedämmt, weil die staatlichen Mittel eng begrenzt sind und Unterstützungsleistungen zum Überschreiten der jeweils unteren Schwellen absolute Priorität haben. Pragmatische Skeptiker wenden daher gegen die Idee einer sozialstaatlichen Finanzierung des Enhancements ein, die Sozialsysteme und Krankenkassen seien bereits mit der medizinischen Grundversorgung völlig überlastet (vgl. Gesang, 53 f.). Zur Sicherstellung der Gelder wären obligatorische Enhancement-Versicherungen analog zu den Kranken- und Pflegeversicherungen denkbar, wobei staatliche Aufsichtsbehörden die gerechte Verteilung kontrollieren müssten. In Anbetracht dieses enormen Aufwands scheint es aber eher unwahrscheinlich zu sein, dass Enhancement dank sozialstaatlicher Lenkung zur Vergrößerung materieller Chancengleichheit beitragen wird. Doch bei einer marktwirtschaftlichen Verteilung dürfte das Enhancement wie gesehen ein Privileg der Bessergestellten bleiben, sodass sich die bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten weiter verschärfen. Strittig ist die Legitimierbarkeit eines staatlichen Verbots des individuellen Enhancements, solange nicht allen Menschen das Überschreiten der unteren Suffizienzstandards ermöglicht werden kann. Gegen ein solches Verbot wird argumentiert, es gebe auch eine nichtkompetitive Nutzung von Neuroenhancement ohne jede Relevanz für soziale Verteilungsgerechtigkeit: So könne jemand rein privat intrinsische Vorteile von Ritalin genießen, um etwa effizienter Sprachen zu lernen oder intensiver Musik zu hören (vgl. Brock 1998, 61). Wenn aber die konsumierten Pharmaka zugleich extrinsische Wettbewerbsvorteile wie erhöhte Leistungsfähigkeit mit sich bringen, bleiben die Gerechtigkeitsprobleme natürlich bestehen. Zudem umfassen die hier erörterten Gerechtigkeitsfragen keineswegs nur Wettbewerbsgerechtigkeit beim sozialen Aufstieg, sondern auch faire Chancen auf ein gutes Leben und auf Teilhabe an der Gesellschaft. Sowohl aus egalitaristischer als auch nonegalitaristischer Sicht wäre es in dieser Hinsicht höchst problematisch, wenn die Unterschiede zwischen Verbesserten und Nichtverbesserten zu groß werden und die Zahl der Verbesserten wächst: Verfügte z. B. die Mehrheit der Menschen über einen IQ von 120, dürften Menschen mit einem IQ von 100 von vielen gemeinsamen sozialen Praktiken ausgeschloßen sein, nicht mehr als vollwertige Mitglieder an der Gesellschaft teilhaben und nonegalitaristisch gesprochen kein vollständiges menschliches Leben mehr leben können. Solche <?page no="288"?> 288 4 Neuro-Enhancement prognostische Überlegungen sind allerdings hypothetisch und können die Notwendigkeit eines staatlichen Verbots des Neuroenhancements insgesamt nicht logisch zwingend begründen. Kommentierte Kurzbibliographie zu Kapitel 4 Zum Neuro-Enhancement gibt es eine unüberschaubare Fülle von Publikationen, sodass nur ein paar einführende Werke erwähnt seien: Wagner (2017) beschränkt sich auf das kognitive Neuroenhancement, das aus soziologischer Perspektive und anhand empirischer Studien untersucht wird. Transdisziplinäre Perspektiven zeigen die Aufsatzsammlungen von Schöne-Seifert u. a. (2009b) und Schütz u. a. (2016) auf. Auch in Hilts Einführung zur Neuroethik (2012) findet sich ein kurzer Abriss zum Neuroenhancement, wohingegen in Moesgen u. a. (2015) vorwiegend empirisch-deskriptiv die medizinische Wirkung und gesellschaftliche Verbreitung von Neuroenhancern beleuchtet wird. <?page no="289"?> 289 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt 5 Genetisches Enhancement „Genetisches Enhancement“ scheint auf den ersten Blick als weitere klassifikatorische Kategorie neben „Körper-Enhancement“ (Kap. 3) und „Neuro- Enhancement“ (Kap. 4) ungeeignet, weil es sich statt auf bestimmte menschliche Körperregionen oder Funktionen auf ein technisches Verfahren bezieht: In verfahrenstechnischer Hinsicht meint genetisches Enhancement sämtliche Verbesserungen des Menschen mit Hilfe gentechnischer Methoden, die über therapeutische Maßnahmen hinausgehen (Knoepffler, 279). Gentechnische Methoden stellen dann Alternativen zu anderen Enhancement-Technologien wie etwa pharmakologischen Methoden dar und können z. B. beim Anti-Aging im Rahmen des körperlichen Enhancements eingesetzt werden. Anstelle des technischen Verfahrens kann aber auch das Erbgut als Objekt der Optimierung in den Fokus gerückt werden, gleich wie das Zentralnervensystem beim Neuro-Enhancement: Genetisches Enhancement im weiten Sinn umfasst sämtliche medizinischen Maßnahmen, die das Erbgut eines Menschen zum Zweck der Verbesserung der sensorischen, kognitiven und psychischen Fähigkeiten über ein normales menschliches Maß hinaus verändern. Solche „Genmanipulationen“ („genetic engineering“) können entweder analog zur „somatischen Gentherapie“ an Körperzellen oder wie bei der „Keimbahntherapie“ an Keimzellen eines Menschen vorgenommen werden: Beim somatischen genetischen Enhancement werden gewünschte Gene bzw. eine bestimmte DNA-Sequenz mit einer Bauanleitung für gewünschte Eigenschaften in einzelne Körperzellen des Menschen eingeschleust, z. B. beim sogenannten Gen-Doping im Sport zur Anregung des Muskelwachstums (vgl. Welling, 26). Demgegenüber wird im Rahmen eines Keimbahn-Enhancements gezielt in die Keimzellen, also die Ei- oder Samenzellen eines Erwachsenen oder aber in die Zygote als Verschmelzung von Ei- und Samenzelle im frühen Embryonalstadium eingegriffen, wodurch Einfluss genommen wird auf die Kinder und deren Nachkommen (vgl. ebd., 37). Da sich jenseits des spezifischen Bereichs des Sports bioethische Debatten hauptsächlich an dieser zweiten Form des „Enhancements am Nachwuchs“ im Kontext der Reproduktionsmedizin entzünden, soll es im Folgenden nur um dieses genetische Enhancement im engen Sinn gehen (vgl. Sorgner, 41 f./ Habermas, 34 f./ Schöne u. a. 2009, 10). Bei einer Perfektionierung der eigenen Nachkommen handelt es sich allerdings nicht mehr um das bislang diskutierte autonome, freiwillige Enhancement und um individuelle Selbst- <?page no="290"?> 290 5 Genetisches Enhancement optimierung, sondern um „Fremdoptimierung“ der Eltern an ihren Kindern oder um die „Selbstoptimierung des Menschen“ als kollektivem Akteur im Menschheits-Projekt der Heranzüchtung einer neuen Menschengattung. Vornehmlich Biokonservative verwenden den Terminus „Eugenik“, obwohl dieser eigentlich aufgrund seiner historischen Vorbelastung in sachlichen ethischen Diskursen genauso gemieden werden sollte wie „Euthanasie“: Die Eugenik wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Francis Galton begründet, weil eine nachhaltige geistige und körperliche Optimierung der Menschen angeblich nicht durch Erziehung und Training, sondern nur durch Verbesserung der Erbanlagen erreicht werden könne (vgl. dazu Welling, 43/ Wolters, 185/ Glockentöger u. a., 76). Traditionelle Mittel einer positiven Eugenik sind die sorgfältige Auswahl der Partner mit gewünschten Eigenschaften wie Gesundheit, Intelligenz oder besonderen Fähigkeiten sowie die staatliche Förderung solcher „passender“ Heiraten, wohingegen im Zeichen einer negativen Eugenik die Ausbreitung „schlechter“ Gene für negative Eigenschaften wie Krankheiten oder geringe Intelligenz vermieden oder staatlich verhindert werden sollen. Im nationalsozialistischen Deutschland wurden zur Heranzüchtung der gewünschten „arischen Rasse“ oder „Herrenrasse“ Zwangssterilisationen an der „kranken“ oder „minderwertigen“ Bevölkerung durchgeführt, die Strafbarkeit von Abtreibungen von Frauen „guten Blutes“ verschärft und Anleitungen mit Kriterien zur Partnerwahl herausgegeben (vgl. Welling, 40 f./ Agar 2004, 3 f.). Friedrich Nietzsche hat mit seiner Forderung von „Zucht und Züchtung“ des „Übermenschen“ die Nationalsozialisten inspiriert und wird von einigen Transhumanisten als Ahnherr beansprucht, obgleich er trotz biologischer Terminologie auf strenge, disziplinierte Erziehung und Selbstüberwindung statt auf Biotechnologien setzt (vgl. 1993, 126 f./ Sorgner, 124; 132 f.). In seiner Rede Regeln für den Menschenpark (1999) hat Peter Sloterdijk auf eugenisches Gedankengut bei Nietzsche und Platon Bezug genommen, ohne aber einen eigenen substantiellen Beitrag zum aktuellen bioethischen Diskurs geleistet zu haben (vgl. 45 ff.). Obgleich die Unterscheidung zwischen „negativer“ und „positiver Eugenik“ auch in der gegenwärtigen Enhancement-Debatte eine große Rolle spielt, findet dabei häufig eine begriffliche Verengung negativer Eugenik auf die Vermeidung schwerer Erbkrankheiten statt (vgl. Lenk, 89). Als Reparatur schwerer Gendefekte rückt „negative Eugenik“ dann in die Nähe von medizinischer Krankheitsprävention und Gentherapie, die allgemein ethisch gebilligt werden (vgl. Glover, 30 f./ Buchanan u. a., 105 f.). Wenn „negative“ und „positive Eugenik“ vereinfachend mit dem Gegensatzpaar von „Therapie“ und <?page no="291"?> 291 5 Genetisches Enhancement „Enhancement“ gleichgesetzt werden, ist diese Begriffsunterscheidung zumeist kryptonormativ und enthält eine Vorverurteilung der „positiven Eugenik“ im Gegensatz zur legitimen „negativen“ (Kap. 1.3). Gegenwärtige Befürworter eines genetischen Enhancements legen stets großen Wert darauf, sich von den historischen Entgleisungen dezidiert abzugrenzen. Sie heben ihre „neue Eugenik“ von dieser sogenannten alten Eugenik oder Eugenik von oben als einem staatlichen Projekt ab, bei dem die Verbesserung der genetischen Ausstattung wesentlich staatlich, zentral und autoritär erfolgte (vgl. dazu Agar 2004, 5/ Lenk, 89/ Welling, 50). Im Rahmen eines solchen heteronomen, staatlichen Enhancements bestimmte der Staat, welche Eigenschaften als gut oder schlecht gelten und mit staatlichen Förderprogrammen bzw. Zwangsmaßnahmen beeinflusst werden sollen (Kap. 1.4). Dabei waren die staatlich verfolgten Ziele und angeblichen „Verbesserungen“ in keiner Weise demokratisch legitimiert und basierten auf höchst fragwürdigen normativen Standards. Im Fall der Eugenik des Nazi-Regimes ging es nicht um die Optimierung einzelner Menschen, sondern um die Durchsetzung der Rassenideologie der Machthaber und die Heranzüchtung einer reinen „arischen“ Rasse. In Aldous Huxleys Dystopie Schöne neue Welt (1932), die gleicherweise gern von Gegnern des genetischen Enhancements als abschreckendes Beispiel herangezogen wird, werden vom totalitären Staat durch gezielte Genmanipulationen verschiedene Kasten von Menschen mit unterschiedlichen spezifischen Eigenschaften für bestimmte unentbehrliche gesellschaftliche Aufgabenbereiche produziert. Zu Recht verweisen aber Bioliberale und Transhumanisten darauf, dass hier gar kein genetisches Enhancement vorliegt (vgl. Brock 1998, 56/ Althaus u. a., Teil 2). Denn insbesondere Angehörige niedrigerer Kasten sind in ihren intellektuellen, emotionalen und moralischen Fähigkeiten völlig unterentwickelt im Vergleich zum allgemeinmenschlichen Durchschnitt, sodass ihre Eigenschaften also verschlechtert statt verbessert werden. Hinter solchen eugenischen Staatsentwürfen stehen zumeist Überlegungen einer rein konsequentialistischen, utilitaristischen Ethik, bei denen nur die Verbesserung des objektiven Weltzustandes oder die Maximierung des Gesamtnutzens zählt. Diese ausschließliche Folgenorientierung ist deswegen ethisch höchst problematisch, weil die Menschen dabei zu Mitteln der Optimierung der Menschheit degradiert werden und die Verringerung des Wohls Einzelner zu diesem Zweck als gerechtfertigt erscheint (vgl. dazu Fenner 2008, Kap. 5.1; 5.2). Missachtet werden dabei grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf Würde und Selbstbestimmung der Individuen. Bestandteil des allgemeinen Selbstbestimmungsrechts ist die <?page no="292"?> 292 5 Genetisches Enhancement Reproduktive Freiheit oder Fortpflanzungsfreiheit als Recht, den Partner für allfällige gewünschte Nachkommen sowie den Zeitpunkt der Zeugung und die Anzahl der Kinder selbst auswählen zu dürfen (vgl. Buchanan u. a., 209 f.). Nach dem Ende des Dritten Reiches spielte „Eugenik“ in bioethischen Debatten keine Rolle mehr, bis in den 1980er Jahren in klarer Abgrenzung von einer disqualifizierten „Eugenik von oben“ eine „Eugenik von unten“ ins Gespräch kam. Im Gegensatz zur „alten“ steht die neue Eugenik für individuelle, dezentrale und liberale Genmanipulationen, bei denen die Initiative von den Menschen mit Veränderungswünschen für sich oder ihre Nachkommen ausgeht (vgl. Agar 2004, 5 f./ Lenk, 89 f./ Gesang, 38 f.). Ziel bei diesem autonomen, freiwilligen Enhancement ist also nicht das Menschheits-Projekt einer „Optimierung des Menschen“, sondern es geht allein um die Optimierung von Einzelindividuen (Kap. 1.4). Nicht der Staat soll über gute und schlechte Eigenschaften und entsprechende Gene bestimmen dürfen, sondern die Deutungshoheit liegt ausschließlich bei den Privatpersonen. Während vom Staat Neutralität und Passivität erwartet wird, soll über das Angebot genetischer Optimierungsmaßnahmen auf dem freien Markt gleichsam wie in einem „genetischen Supermarkt“ je nach individueller Nachfrage entschieden werden (Nozick, 315). Wenn in diesem neuen Modell liberaler Eugenik auf den hohen Wert der Freiheit gepocht wird, ist allerdings immer nur von der Freiheit der Eltern zur Bestimmung der Erbanlagen ihrer noch nicht einwilligungsfähigen Nachkommen im Sinne ihrer reproduktiven Freiheit die Rede. Ausgeblendet werden dabei sämtliche Probleme, die mit einem steigenden Anspruchsdenken ehrgeiziger Eltern bezüglich „Designer-Kindern“ verbunden sind. Das Bestehen solcher elterlicher Optimierungsbestrebungen belegt die in den USA mit kommerziellen Datenbanken betriebene Praxis der künstlichen Befruchtung, bei der Spermien von Nobelpreisträgern oder berühmten Männern angeboten und nachgefragt werden (vgl. Sandel, 94 f./ Lenk, 90). Außerdem muss damit gerechnet werden, dass sich gesellschaftliche Leitvorstellungen über erwünschte und unerwünschte Eigenschaften über Medien und Werbung durchsetzen und infolgedessen auf Eltern ein zwar nicht staatlicher, aber sozialer Druck oder Zwang zur Wiederholung und Stereotypie ausgeübt wird (vgl. Lenk, 90). Um ethisch suspekte Wertvorstellungen und Entscheidungskriterien für Wunschkinder auszuschließen, müsste der Staat zumindest durch flankierende Maßnahmen oder „moralische Brandmauern“ der Wahlfreiheit der Eltern gewisse Grenzen setzen (vgl. Buchanan u. a., 13 f.). Eine weitere Gefahr der „neuen Eugenik“ mit ihrer Überbetonung des Werts individueller Freiheit ist die Vernachlässigung <?page no="293"?> 293 5 Genetisches Enhancement sozialethischer Reflexionen z. B. über die Verschärfung von Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, weil sich nur die soziökonomisch Bessergestellten die teuren gentechnischen Verfahren leisten könnten (vgl. unten, Argument 6). Sowie also beide Modelle ethische Defizite aufweisen und sich die simplifizierende Gegenüberstellung von schlechter „alter“ und guter „neuer Eugenik“ als zu grob erwies, wäre nach einem dritten Modell als Fortsetzung und Verfeinerung des zweiten Modells zu suchen (vgl. Buchanan u. a., 13 f.). Nach der Ablösung totalitärer Diktaturen durch moderne liberale Demokratien muss nicht nur die Rolle des Staates überdacht werden, sondern angesichts der Globalisierung sogar nach internationalen Kontrollmöglichkeiten gesucht werden. Staatliche Regulierungsmaßnahmen sind im Sinne eines sozialdemokratischen Enhancements ethisch legitim, wenn sie aus demokratischen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen hervorgehen (Kap. 1.4). Auch wenn dabei viel bescheidenere Ziele als die unter radikalen Trans- und Posthumanisten verbreitete Utopie eines „perfekten Menschen“ verfolgt werden, müssten die normativen Standards für ein heterogenes Keimbahn-Enhancement an Embryonen noch sorgfältiger geprüft und international kontrolliert werden als beim individuellen autonomen Enhancement. Bevor die einzelnen Argumente für und gegen genetisches Enhancement erörtert werden, gilt es aber noch auf die derzeit sehr beschränkten realen Möglichkeiten gentechnischer Veränderungen zu verweisen: Es werden zwar immer wieder neue biochemische Methoden entwickelt wie 2012 die bahnbrechende Kombination von CRISPR und Cas9 zum gezielteren Einfügen, Entfernen oder Ausschalten bestimmter Gene nach Art einer „Genschere“. Mit ihrer Hilfe soll Ende 2018 einem chinesischen Forscher tatsächlich bei einem Embryo durch Manipulation bzw. „Editing“ seines Erbguts die Immunisierung gegen Aids gelungen sein. Die meisten menschlichen Charaktereigenschaften sind aber im Gegensatz zu simplen äußeren Merkmalen wie Größe, Augen- oder Hautfarbe polygen, d. h. sie hängen teilweise von mehreren tausend in Wechselwirkung stehenden Genen ab (vgl. Gesang, 21). Es ist also durchaus unklar, ob komplexe Eigenschaften wie Intelligenz, Selbstdisziplin oder Moralität überhaupt je genetisch verbessert werden können. Außerdem prägen die Gene die Eigenschaften eines Menschen grundsätzlich nur zu ca. 50 %, für den Rest sind Um- und Mitwelt sowie Selbstformung verantwortlich (vgl. ebd., 19). Die folgende Prüfung der Pro- und Kontra-Argumente setzt jedoch hypothetisch voraus, dass die Disposition der Nachkommen durch Gentechnik wesentlich und ohne größere Risiken beeinflusst werden kann. Um eine ethische Vorverurteilung des genetischen Enhancements zu vermeiden, <?page no="294"?> 294 5 Genetisches Enhancement wird vom Terminus „Eugenik“ nur noch bei Zitaten wichtiger Diskussionsbeiträge Gebrauch gemacht. Pro-Argumente Kontra-Argumente 1) Das Beste für die Kinder oder Steigerung des Kindeswohls 2) Das Beste in moralischer Hinsicht 3) Verletzung von Freiheit und Würde des Kindes 4) Verstoß gegen das Recht auf eine offene Zukunft 5) Verhinderung bedingungsloser Liebe 6) Entsolidarisierung und Diskriminierung 7) Ungerechtigkeit und Zwei-Klassen-Gesellschaft 1) Pro-Argument: Das Beste für die Kinder oder Steigerung des Kindeswohls Im Kontrast zu zentralen, staatlich verordneten Genmanipulationen erscheint ein von den Eltern individuell und autonom für ihre Kinder ausgewähltes genetisches Enhancement auf den ersten Blick ethisch unproblematisch. Denn es kann als hinreichend empirisch gesicherte Tatsache gelten, dass alle Eltern nur das Beste für ihre Kinder wollen und sich nichts mehr wünschen, als dass ihre Kinder ein gutes Leben haben und glücklich werden (vgl. Kass u. a., 27). Für viele ist es überhaupt das wichtigste Projekt ihres Lebens, aus ihren Kindern das Beste herauszuholen, was diese sein können, weshalb sie für die Verwirklichung dieses Ziels große Opfer erbringen (vgl. Buchanan u. a., 156). Vom radikalen Standpunkt vieler Transhumanisten aus haben die Eltern nachgerade die moralische Pflicht, die besten Kinder zu haben und zu produzieren („to produce“), und sie sollen das Ziel mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgen (vgl. Savulescu 2009, 241/ Harris 2007, 145). Abgesehen von den derzeit noch zu hohen medizinischen Risiken und ungewissen psychosozialen Folgen wäre aber zunächst zu klären, was denn überhaupt das Beste für die Kinder sein soll: Sind diejenigen Kinder die besten, die ein spezielles und ausgeprägtes Talent haben oder die vieles gut können (vgl. Buchanan u. a., 158)? Oder zählen statt Talente gute Charaktereigenschaften, und wenn ja eher Gehorsamkeit oder Selbständigkeit, Sensibilität oder Durchsetzungsfähigkeit (vgl. Kass u. a., 27 f.)? Sollen auch körperliche Merkmale wie Größe oder Hautfarbe verbessert werden oder ganz allgemein: „What sort of people should there be? “ (Glover) Nachdem mit der Verabschiedung der „alten Eugenik“ die objektivistischen Überzeugungen von einem „idealen“ oder „perfekten Menschen“ verloren gingen und sich die Idee eines Wertpluralismus durchsetzte, sind allgemeine Antworten schwierig <?page no="295"?> 295 5 Genetisches Enhancement geworden (vgl. Lenk, 26). Ein radikaler Liberalismus sieht den einzig möglichen Ausweg darin, die Festlegung dieser normativen Standards den Einzelindividuen, im Fall des genetischen Enhancements den Eltern zu überlassen. Hinter dem staatlich garantierten Recht auf reproduktive Freiheit steht die legitimierende Annahme, dass nur die Eltern selbst alle Parameter ihrer komplexen Lebenssituation und damit der Bedingungen für den Nachwuchs überblicken können. Auch bei der Erziehung ihrer Kinder lässt der Staat den Eltern einen großen Entscheidungsspielraum, weil die für das Gedeihen der Kinder entscheidende Nähe und vertrauensvollen Bindungen nur in einem familiären Privatbereich jenseits staatlicher Aufsicht und Kontrolle möglich sind (vgl. ebd., 172 f.). Doch wissen die Eltern wirklich am besten Bescheid darüber, was das Beste für ihre Kinder ist? Trotz der den Eltern mit gutem Grund zugestanden Freiheitsrechte bezüglich ihres Nachwuchses lassen sich ethische Grenzen dieser Freiheit legitimieren, die auch mit Blick auf das genetische Enhancement relevant sind. Allererst sind externe individuelle Bewertungsmaßstäbe der Eltern kritisch zu betrachten: Bei der Auswahl der besten genetischen Mitgift für die Kinder sollte ausschlaggebend sein, was für diese selbst das Beste ist. Wenn die Eltern jedoch unter den „besten Kindern“ diejenigen verstehen, die ihnen selbst beispielsweise durch Gehorsamkeit oder Weltruhm als Supertalente am meisten Nutzen oder Glück bringen, ist dies genauso verwerflich wie das „Zurichten“ der Kinder für spezifische gesellschaftliche Aufgaben in Huxleys Gesellschaftsmodell (vgl. Buchanan u. a., 164). Sollten vermittels des Nachwuchses eigene unerfüllte Wünsche oder Lebensträume realisiert werden, stellte dies eine Instrumentalisierung dar und verletzte die Selbstzwecklichkeit und Würde der Kinder im kantischen Sinn (vgl. unten, Argument 3). Ethisch vertretbar sind nur Manipulationen zum mutmaßlichen Wohl der zukünftigen Kinder aus deren eigener Perspektive, sodass mit ihrer späteren Einwilligung gerechnet werden kann (vgl. ebd., 164 f.). Davon abgesehen darf der moderne liberale Staat das elterliche Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich Reproduktion und Erziehung grundsätzlich da einschränken, wo entweder das Kindeswohl oder aber das öffentliche Wohl in Gefahr ist. Wenn sich Eltern zum einen nicht um das Kindeswohl kümmern, und sich ausreichend um Versorgung, Pflege und Schutz vor Vernachlässigung oder Missbrauch sorgen, verletzen sie ihre elterliche Fürsorgepflicht und der Staat muss eingreifen. Hinsichtlich allfälliger genetischer Manipulationen könnten beispielsweise taubstumme Eltern durch das bewusste Erzeugen tauber Kinder deren Wohl und Chancen auf ein gutes Leben mindern, auch wenn aus <?page no="296"?> 296 5 Genetisches Enhancement ihrer eigenen Perspektive die taubstumme Lebensform als wertvoller erscheinen mag (vgl. unten, Argument 3). Zum Schutz des öffentlichen Wohls kann zum anderen der Staat z. B. eine Impfpflicht für Kinder gegen mögliche weltanschauliche oder religiöse Überzeugungen der Eltern durchsetzen, um ansteckende gefährliche Krankheiten einzudämmen. Im Enhancement-Bereich gäbe es gute Gründe etwa zur Unterbindung der freien Wahl des kindlichen Geschlechts durch die Eltern, sofern in einer bestimmten Gesellschaft eines der Geschlechter deutlich bevorzugt und ein drohendes Ungleichgewicht im Geschlechterverhältnis die Reproduktionsfreiheit der Erwachsenen stark einschränken würde (vgl. Buchanan u. a., 183). Auf gezielte Keimbahninterventionen zur Erhöhung des Allgemeinwohls wird in Argument 2) eingegangen. Auch in einem positiven Sinn werden die Eltern in modernen liberalen Demokratien keineswegs allein gelassen mit der Bestimmung dessen, was für die Kinder das Beste ist. Vielmehr werden im Schul- und Bildungswesen sowie in der Öffentlichkeit laufend Diskussionen über die bestmöglichen Startbedingungen der Kinder und die Leitlinien der Erziehung geführt. Diese gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sind schon deswegen unausweichlich, weil sich angesichts der staatlichen Schulpflicht der Staat und die Eltern das Erziehungsrecht teilen. Ganz unabhängig von bestimmten Weltanschauungen und persönlichen Vorstellungen vom guten Leben lässt sich dabei rein mit Mitteln der Vernunft als Generalziel der Erziehung die Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit der Kinder bestimmen, weil die Kinder nicht ewig hilfsbedürftig sein und die die Eltern nicht ewig helfen wollen (vgl. Fenner 2016, 253). Um sich autonom entwickeln und ein eigenständiges, gelingendes Leben führen zu können, braucht es einerseits Eigenschaften wie Willensstärke, Selbstvertrauen, Resilienz und Lernbereitschaft für die Auseinandersetzung mit der Umwelt, andererseits eine Reihe sozialer Kompetenzen wie Kommunikations-, Kooperations- und Arbeitsfähigkeit für die kompetente und reflexive Teilhabe an der Gesellschaft. Als allgemeiner normativer Maßstab für das „Beste der Kinder“ kann daher die bereits erwähnte psychologische Kategorie des „Kindeswohls“ gelten: Das Kindeswohl liegt in dem Maße vor, in dem ein Kind „die körperlichen, gefühlsmäßigen, geistigen, personalen, sozialen, praktischen und sonstigen Eigenschaften, Fähigkeiten und Beziehungen entwickeln kann, die es zunehmend stärker befähigen, für das eigene Wohlergehen im Einklang mit den Rechtsnormen und der Realität sorgen zu können“ (Sponsel). In ethischen Diskussionen über verschiedene erzieherische oder gentechnische Maßnahmen wird das Vermeiden einer Schädigung des Kindeswohls im negativen Bereich <?page no="297"?> 297 5 Genetisches Enhancement meist übereinstimmend für erlaubt oder sogar geboten gehalten, wohingegen die darüber hinausgehende positive Förderung des Kindeswohls aufgrund der stärkeren Abhängigkeit von umstrittenen Wertvorstellungen viel kritischer betrachtet wird (vgl. ebd.). Aus dem gleichen Grund wird die sogenannte negative Eugenik im Sinne einer Reparatur schwerer Gendefekte als ethisch zulässig oder sogar verpflichtend angesehen, wohingegen die positive Eugenik als Keimbahn-Enhancement zu möglicherweise fragwürdigen Optimierungszwecken abgelehnt wird. Doch gibt es zwischen der negativen Dimension der Schadensvermeidung und dem positiven Ziel einer Förderung des Kindeswohls wirklich einen strukturellen Unterschied, der eine ganz unterschiedliche ethische Bewertung rechtfertigt? Nach einer weit verbreiteten Argumentation kann nur „negative Eugenik“ zulässig sein, weil nur bei dieser mit einer späteren Einwilligung des Kindes gerechnet werden könne (vgl. Habermas, 91 f.; 149). Tatsächlich besteht eine weitgehende Übereinstimmung bezüglich des ethischen Gebots der Vermeidung schwerer Erbkrankheiten, aufgrund dessen in vielen Ländern bei Eltern mit entsprechender genetischer Disposition schon heute eine Präimplantationsdiagnose (PID), d. h. eine vorgeburtliche Untersuchung der Embryonen auf solche Gendefekte hin erlaubt ist. Obgleich die vordringliche Gentherapie in der Forschung absolute Priorität haben sollte, ist damit aber noch nichts gesagt über die ethische Verwerflichkeit des genetischen Enhancements (vgl. dazu Kap. 1.3). Denn gesellschaftlich konsensfähig und einer späteren Einwilligung der Kinder sicher dürften auch sogenannte Allzweckgüter sein, die für die Verwirklichung praktisch aller Lebenspläne von Vorteil sind (Kap. 4.4). Am häufigsten genannt werden Intelligenz, Gesundheit, Immunabwehr, Mobilität, Hör- und Sehfähigkeit, Selbstkontrollfähigkeit, Empathie und Optimismus (vgl. Savulescu u. a. 11). Obgleich sich die Höhe des IQ nicht als zuverlässiger Gradmesser für menschliches Glück erwies, sind doch kognitive Fähigkeiten wie gutes Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit oder logisch folgerichtiges Denken für jedes selbstbestimmte Lebens äußerst nützlich (Kap. 4.2.2). Das Postulat solcher Allzweckgüter steht nicht im Widerspruch dazu, dass die einzelnen Güter in verschiedenen Lebensentwürfen unterschiedlich wichtig sind und dass die sie entbehrenden Menschen durch große Anstrengungen und Anpassung ihrer Lebenspläne ein subjektiv zufriedenstellendes Leben führen können (vgl. Brock 1998, 57/ Buchanan u. a., 168 f.). Dies trifft nämlich genauso auch auf schwere Krankheiten oder Behinderungen wie eine überstandene Krebserkrankung oder Taubheit zu, die in seltenen Ausnahmefällen zu einer Steigerung des Wohls der Be- <?page no="298"?> 298 5 Genetisches Enhancement troffenen führen können. Anstelle eines strukturellen Unterschieds zwischen Schadensvermeidung und Nutzen ist daher von einer Hierarchie von Gütern abnehmender allgemeiner Bedeutsamkeit wie etwa bei Sportlichkeit und Musikalität bis hin zu individualethisch belanglosen Eigenschaften wie Schönheit oder Geschlecht auszugehen. Statt im Sinne eines radikalen Liberalismus die normativen Standards genetischer Verbesserungen gänzlich dem Belieben der Eltern anheimzustellen, erforderte die Legitimation konkreter Keimbahn-Interventionen und gegebenenfalls sogar einer möglichen elterlichen Verpflichtung jedoch einen gesellschaftlichen Diskurs über Allzweckgüter und Konzepte des Guten unter Miteinbezug empirischer Forschungen. 2) Pro-Argument: Das Beste in moralischer Hinsicht Im Gegensatz zu klar illegitimen externen, d. h. von außen an die Kinder herangetragenen Enhancement-Zielen wie egoistischen persönlichen Wünschen der Eltern oder einer gezielten staatlichen „Zurichtung“ für bestimmte gesellschaftliche Aufgaben scheint das allgemeine moralische Anliegen eher rechtfertigbar zu sein, mithilfe der Gentechnik die Gesellschaft oder die Welt besser oder gerechter zu machen. Die Ausgangsplausibilität verdankt dieses Argument der Tatsache, dass die Verbesserung der moralischen Einstellungen und Handlungen der Menschen ein allgemeines Gebot darstellt und neben traditionellen Methoden wie moralische Erziehung auch biotechnologische zumindest in Erwägung zu ziehen wären (vgl. Ach 2016, 138). Auch ist die von Enhancement-Befürwortern bemühte Diagnose zutreffend, dass zwar der wissenschaftliche und technische Fortschritt in kürzester Zeit ins Unermessliche stieg und die moralische Verantwortung der Menschen globale Ausmaße annahm, die Entwicklung ihrer moralischen Kompetenzen aber dahinter zurückblieb (vgl. Persson u. a., 6 ff.). Bei vielen globalen Problemen wie Klimawandel, Überbevölkerung oder Ausbeutung der natürlichen Ressourcen scheinen Vorstellungskraft und moralisches Einsichtsvermögen viel zu schwach ausgeprägt, um das eigene Handeln als einen kausalen Beitrag erkennen und moralisch adäquat reagieren zu können. Abhilfe sollen aus Sicht von Ingmar Persson und Julian Savulescu lediglich biomedizinische Methoden des pharmakologischen und genetischen moralischen Enhancements schaffen können, die am effektivsten bei Kindern einzusetzen seien (vgl. ebd., 8). Die Forschergruppe um Mattew Liao konzentriert sich auf die existentielle Bedrohung durch den Klimawandel und setzt auf „Human Engineering“, weil andere Lösungswege offensichtlich <?page no="299"?> 299 5 Genetisches Enhancement nicht ausreichten (vgl. Liao u. a., 206 f.): Vorgeschlagen wird neben einem moralischen und kognitiven Enhancement eine Verringerung der Körpergröße der Menschen, was zu einer Reduktion des Stoffwechsels und zu einer Verbesserung des ökologischen Fussabdrucks führte (vgl. 208 f.). Dem gleichen Zweck soll eine Fleischintoleranz dienen, weil 18 % des klimaschädlichen CO2-Ausstoßes durch Viehfarmen verursacht werden (vgl. 208). Obgleich das „Genetic Engineering“ nur als eine unter anderen Methoden des „Human Engineering“ von den Wissenschaftlern aufgeführt wird, dürfte es gerade für das Verändern der Körpergröße die bevorzugte sein. Eine bescheidenere moralische Zielsetzung wäre die Garantie des sozialen Friedens und des öffentlichen Wohls, indem etwa ein Verbrecher-Gen gefunden würde und seine genetische Modifikation die Neigung zu aggressivem Verhalten reduzieren könnte (vgl. Buchanan u. a., 173). Kritisch wäre bei den einzelnen vorgeschlagenen Maßnahmen zu prüfen, welchen Beitrag sie zur Lösung der moralischen Probleme tatsächlich leisten können und welche Konsequenzen sie für die Betroffenen hätten. Bei der letztgenannten Genmanipulation handelte es sich lediglich um ein ethisch weniger umstrittenes kompensatorisches moralisches Enhancement oder gar eine „moralische Therapie“, weil in heutigen psychiatrischen Diagnosemanualen ein impulsives und aggressives Verhalten, mangelndes Einfühlungsvermögen und ein wiederholtes Übertreten sozialer Normen ohne Schuldgefühle als „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ gilt (vgl. ICD-10, 60.2/ Kap. 4.3). Ethisch rechtfertigen lässt sich eine entsprechende genetische Korrektur nicht nur sozialethisch mit der Sicherung des friedlichen Zusammenlebens in der Gesellschaft, sondern auch individualethisch. Denn ein aggressives, asoziales Verhalten steht eindeutig einer gelingenden sozialen Integration und einer Teilhabe an der Gesellschaft im Wege und gefährdet damit das persönliche Wohl der Betroffenen. Bei den anderen vorgeschlagenen biotechnologischen Veränderungen insbesondere zur Verringerung des Klimawandels erscheinen jedoch alternative konventionelle Maßnahmen wie Aufklärung und moralische Appelle oder ein Verbot bzw. die hohe Besteuerung von Fleisch als angemessener. Von einer „Verbesserung“ der Individuen ließe sich außerdem lediglich in einem überindividuellen moralischen Sinn mit Blick auf den verkleinerten ökologischen Fußabdruck sprechen, weil vom Verlangsamen des Klimawandels nur kommende Generationen oder Menschen in wärmeren Küstenregionen profitieren. Indessen wird das persönliche gute Leben durch eine Fleischintoleranz oder eine kleinere Körpergröße auch nicht unmittelbar beeinträchtigt. Da solche individuelle Veränderungen zur Lösung globaler Probleme nur effektiv <?page no="300"?> 300 5 Genetisches Enhancement wären bei einer flächendeckenden Anwendung, wird im Anschluss an Persson und Savulescus Forderungen kontrovers über die moralische Pflicht oder einen staatlichen Zwang zum moralischen Enhancement diskutiert (vgl. Beck 2016, 117 ff./ Kap. 4.3). Eine Einschränkung der Reproduktionsfreiheit der Eltern könnte allerdings nur durch einen demokratischen Beschluss legitimiert werden, wenn sich gentechnische Mittel zu einem dringlichen moralischen Zweck als alternativlos erwiesen und sich in öffentlichen Verständigungsprozessen ein rationaler Konsens darüber herstellen ließe. Die meisten strukturellen globalen Probleme unserer Zeit dürften allerdings weniger an individuellen moralischen oder anderen moralrelevanten Fähigkeiten scheitern, sondern am politischen Willen zur Umsetzung vorhandener traditioneller Lösungsansätze (vgl. Ach 2016, 136). 3) Kontra-Argument: Verletzung von Freiheit und Würde des Kindes Ein Standardargument gegen genetisches Enhancement lautet, durch solche Eingriffe werde die Freiheit und Menschenwürde der Kinder missachtet (vgl. Lenk, 91 f.). Fremdbestimmung oder Heteronomie lägen vor, weil die Kinder nicht nach ihrem eigenen Willen gefragt werden (vgl. Habermas, 134/ Straub, 133). Vornehmlich bei einer „positiven Eugenik“ ohne medizinische Intention einer Therapie oder Krankheitsvorsorge nähmen die Eltern gegenüber den Embryonen eine verdinglichende, instrumentalisierende Haltung ein, was im kantischen Sinn eine klare Verletzung der Menschenwürde darstellt (vgl. Habermas, 135; 158). Trotz der vordergründigen Plausibilität dieser Argumente ist bei einem prüfenden Blick nicht ganz klar, wie die Freiheits- und Würdeverletzung genau zu verstehen ist. Denn natürlich haben die Embryonen noch keinen freien Willen und sind überhaupt noch nicht in der Lage, einer vorgeburtlichen genetischen Manipulation zuzustimmen oder sie abzulehnen. Verletzt wird also schwerlich die faktische Autonomie der noch ungeborenen Menschen, sondern höchstens deren potentielle Autonomie: Auch wenn die gegenwärtigen gentechnischen Eingriffe erst in der Zukunft die Autonomie des Kindes einschränken, sei dies ethisch genauso problematisch wie die Missachtung der Autonomie eines Menschen in der Gegenwart (vgl. Lenk, 91). Meist wird dabei ohne weitere Begründung die bereits monierte gegensätzliche ethische Bewertung von therapeutischen und verbessernden Maßnahmen vorausgesetzt (vgl. Argument 1): Höchstens bei Keimbahnmanipulationen zu therapeutischen oder krankheitspräventiven Zwecken könne mit der Einwilligung des noch nicht zu- <?page no="301"?> 301 5 Genetisches Enhancement stimmungsfähigen Menschen gerechnet werden, sodass nur in diesem Fall die Humangenetiker nicht gegen den mutmaßlichen Willen der Kinder verstoßen und die Embryonen nicht als Sachen behandeln (vgl. ebd., 92/ Habermas, 91 f.). Wie gezeigt verläuft die eigentlich ethisch relevante Grenze aber nicht zwischen therapeutischer und verbessernder Intention, sondern zwischen Fremdnutzen für die Eltern und Eigennutzen für die Kinder. Zumindest durch einige als „Allzweckgüter“ bezeichnete Enhancement-Ziele wie Intelligenz, Selbststeuerungsfähigkeit oder Selbstvertrauen würde schwerlich die zukünftige Autonomie der Kinder beschnitten, sondern im Gegenteil die Grundlage einer autonomen Lebensführung verbessert. Die Rhetorik der Enhancement-Gegner mit Schlagworten wie „Verdinglichung“ und „Programmierung“ ist also viel zu pauschal, weil die Autonomiebedingungen nicht in jedem Fall beeinträchtigt werden. Zu häufigen Missverständnissen in der Autonomie-Debatte kommt es, wenn nicht zwischen der aktuellen Heteronomie bei einer Genmanipulation durch die Eltern vor der Geburt und der aktuellen Autonomie des genetisch manipulierten Kindes nach der Geburt unterschieden wird. Nach Ansicht seiner Kritiker hat auch Habermas diese Differenz übersehen bei seiner These, die genetisch fremdbestimmten Kinder seien nicht mehr die alleinigen oder „ungeteilten Autoren“ ihrer Lebensgeschichte (vgl. Habermas, 49). Bestritten wird etwa von Thomas Nagel, Thomas McCarthy oder Volker Gerhardt, die genetisch veränderten Kinder hätten mit Blick auf ihre autonome Lebensführung und die Anerkennung als autonome Interaktionspartner andere Bedingungen als nichtmanipulierte (vgl. exemplarisch Gerhardt, 283 ff.). Denn auch bei einem nichtmanipulierten Kind steht sein Genom von Anfang an unverrückbar fest und es hat nicht die Chance, „Nein“ zu sagen. Insofern kein Mensch seine genetische Disposition oder auch sein Elternhaus frei auswählen kann, wäre in diesem strengen Sinn niemand ein selbstverantwortlicher Autor seines Lebens. Ob die vorgeburtliche Fixierung auf ein bestimmtes Genom ganz dem Zufall überlassen wird oder sich teilweise der elterlichen Planung verdankt, erscheint vom Standpunkt des Kindes aus irrelevant zu sein. Auch bei einer unmanipulierten genetischen Ausstattung muss das Kind diese einfach akzeptieren, ohne dass dadurch seine Autonomie untergraben würde. Da ein gentechnisch veränderter Mensch genauso wie alle anderen über einen eigenen Willen verfügt, kann er sein Leben auf dieser gegebenen Grundlage autonom gestalten (vgl. ebd., 284 f./ Eissa, 315). Recht zu geben ist den Kritikern auch darin, dass es keinen kausalen und notwendigen Zusammenhang zwischen einem genetischen Enhancement und einer Fremdbestimmung oder Instrumentalisierung der zukünftigen Per- <?page no="302"?> 302 5 Genetisches Enhancement son durch ihr soziales Umfeld gibt. Wie Dieter Birnbacher überzeugend darlegt, besteht ein solcher nicht einmal im Extremfall des reproduktiven Klonens (vgl. 2006, 158 f.): Die Tatsache einer genetischen Vorherbestimmung des geklonten Menschen allein bedeutet keineswegs, dass sich das Klonkind später weniger frei entwickeln kann. Eine Verletzung der Autonomie und Würde der genetisch manipulierten Nachkommen läge nur vor, wenn die Eltern vom Klonkind das Heranwachsen einer getreuen Replik des Originals oder vom „Designerkind“ eine Entwicklung nach ihren Wünschen erwarten. Eine solche ethisch verwerfliche Instrumentalisierung der Kinder durch die Ausrichtung der Erziehung an nicht kindgerechten eigenen Idealen statt am Kindeswohl ist mit oder ohne Keimbahnmanipulation möglich und in beiden Fällen gleich verwerflich. Habermas weist allerdings diese Art von Einwänden als Missverständnis zurück, weil sich sein Fremdbestimmungs-Argument gar nicht auf die Fortsetzung der Fremdbestimmung der Embryonen in einer Verdinglichung der geborenen Kinder beziehe (vgl. 134 ff.). Vielmehr gehe es um das beeinträchtigte „Autonomiebewusstsein“, das geschädigte subjektive Gefühl freier Selbstgestaltung bzw. die „vor der Geburt induzierte Selbstentwertung“ der Kinder, die sich dem Wissen um die Intervention verdanke (136). Da ihnen das Bewusstsein der Kontingenz ihrer genetischen Grundlagen genommen werde, fehle ihnen die entscheidende „mentale Bedingung“, um für ihr Leben die alleinige Verantwortung übernehmen zu können (vgl. 136 f.). Nach dieser Interpretation sind die Eltern bereits durch ihre vorgeburtliche Einflussnahme zu Mitspielern und Mitautoren im Leben der genmanipulierten Kinder geworden, auch wenn sie später den heranwachsenden Kindern völlige Gestaltungsfreiheit lassen und innerhalb ihres Handlungsspielraums in keiner Weise als Gegenspieler auftreten (vgl. ebd., 104). Statt auf das soziale Gefahrenpotential verweist diese Deutung der Würdeverletzung somit auf die psychische Gefahr einer Störung der Identitätsentwicklung und des praktischen Selbstverhältnisses. Bisweilen klingt bei Habermas an, dass es sich bei solchen empirisch-psychologischen Thesen freilich nur um Vermutungen handelt (vgl. 77; 95). Denn niemand kann die Reaktionen der zukünftigen Kinder genau vorhersehen, die auch individuell sehr unterschiedlich ausfallen könnten. Vielen dürfte es völlig gleichgültig sein, ob sie ihre besonderen Talente und Fähigkeiten rein dem Zufall verdanken oder der Planung ihrer Eltern. Statt ihr Genom als etwas „Fremdes“ zu erleben, könnten sie es wie beschrieben einfach als ihre „Natur“ und als ebenso unumstößliches Faktum hinnehmen wie das sozioökonomische Milieu, in das sie hineingeboren wurden (vgl. Gerhardt, 285 f.). Wie sich die Kenntnis von der Genmanipulation <?page no="303"?> 303 5 Genetisches Enhancement auswirkt, dürfte zum einen stark vom Erziehungsstil der Eltern und der Qualität des Eltern-Kind-Verhältnisses abhängen. Im Fall permissiver, das Kind auf seinem eigenen Weg unterstützender Eltern überwögen wahrscheinlich Gefühle der Dankbarkeit, wohingegen sich bei einer repressiven Erziehung ohne Nähe und Vertrauen die Kinder verstärkt als Objekte vorkämen. Zum anderen spielt aber sicherlich auch die Art der Keimbahnmanipulation eine entscheidende Rolle, weil bei einer Optimierung allgemein nützlicher Eigenschaften das Kind jedenfalls keinen rationalen Grund für Minderwertigkeitsgefühle und Selbstentfremdung hätte (vgl. Gesang, 108 f.). Obgleich die Freiheit und Würde der einzelnen gentechnisch verbesserten Individuen gemäß den bisherigen Überlegungen nicht zwangsläufig eingeschränkt sein muss, könnte es auf der Ebene der Gattung zu einer Verletzung der Menschenwürde kommen: Während Würde im üblichen individualisierenden Sinn auf konkrete Personen bezogen wird, geht es bei der Würde im vorpersonalen Sinn oder Gattungssinn um die Würde der Menschengattung als Ganzer (vgl. Fenner 2010, 99; 302 f./ Birnbacher 2006, 169). Die naheliegendste und allgemeinste Interpretation einer Verletzung der Menschenwürde im Gattungssinn wäre es, in genetischen Manipulationen genauso wie im Klonen eine Missachtung der wesensmäßigen menschlichen Selbstzweckhaftigkeit zu erblicken. Im Gegensatz zum Klonen geht es beim genetischen Enhancement allerdings statt um eine komplette Steuerung des Genoms meist nur um eine partielle und graduelle Verbesserung bestimmter Eigenschaften. Nach der von Habermas begründeten Gattungsethik kommt eine „Selbstinstrumentalisierung der Gattung“ jedoch dadurch zustande, dass genetische Manipulationen die Asymmetrie im Generationenverhältnis verschärfen und die Menschen sich infolgedessen nicht mehr als autonome und gleiche moralische Wesen anerkennen können (vgl. ebd., 114 f.; 121). Wiederum gibt es aber keinen kausalen und notwendigen Zusammenhang zwischen einer nochmaligen Verschärfung der zwischen Eltern und Kinder unvermeidlich herrschenden Asymmetrie und dem Verlust herrschaftsfreier, gleichberechtigter Verhältnisse zwischen Eltern und erwachsenen Kindern. Da die Moral gleicher Achtung eine von faktischer Ungleichheit und Asymmetrie unabhängige normative Forderung darstellt, können Keimbahnmanipulationen schwerlich die Grundlage der Moral zerstören (vgl. Ach 2016, 139). Die größte Gefahr für die Würde des Menschen sieht Habermas ohnehin in der Verletzung der „menschlichen Natur“, weshalb er für eine „Moralisierung der menschlichen Natur“ eintritt (vgl. 49/ Kap. 2.3): Für die „Selbstbehauptung des gattungsethischen Selbstverständnisses“ sei der <?page no="304"?> 304 5 Genetisches Enhancement normative Standard der menschlichen Natur unabdingbar, um ein „gewisses Maß an Kontingenz der Naturwüchsigkeit“ zu garantieren und die natürliche Grenze zwischen dem „Gewachsenen“ und „Gemachten“ zu wahren (vgl. 49; 80 ff.). Gegen diesen gattungsethischen Appell wurde zu Recht eingewandt, eine metaphysische oder biologische deskriptive Wesensbestimmung des Menschen blende die normative Bestimmung des Menschen als Kulturwesen aus und bedeute einen Rückfall hinter den nachmetaphysischen diskursethischen Anspruch einer kommunikativen Verständigung über normative Richtigkeit (vgl. Gerhardt, 281 f./ Müller 2008, 45 f./ Kap. 2.4). 4) Kontra-Argument: Verstoß gegen das Recht auf eine offene Zukunft Viele Kritiker sehen im genetischen Enhancement einen Verstoß gegen das Recht des Kindes auf eine offene Zukunft, das erstmals von Joel Feinberg in The Child’s Right to an Open Future (1980) benannt wurde (vgl. Feinberg/ Buchanan u. a., 170). Dieses durchaus umstrittene Recht auf offene Zukunft der Kinder wird vom Recht auf Selbstbestimmung der Erwachsenen abgeleitet (vgl. Brock 1998, 55). Da das Recht auf Selbstbestimmung erst allmählich im Laufe der Kindheit zunimmt, geht es wie beim vorangegangenen Argument um die potentielle Autonomie: um das Recht, mit Erreichen der Mündigkeit selbst die zentralen Entscheidungen über die eigene Lebensgestaltung und die eigene Lebensform in Übereinstimmung mit den persönlichen Werten und Vorstellungen vom guten Leben zu treffen. Verletzt wird das Recht auf eine offene Zukunft dann, wenn entweder die Bandbreite der in einer Gesellschaft zur Verfügung stehenden Lebensentwürfe eingeschränkt wird oder dem Kind nicht beim Erwerb der für eine selbständige Entscheidung notwendigen Urteilsfähigkeit sowie grundlegender Kenntnisse geholfen wird (vgl. Buchanan u. a., 170). Feinberg selbst hat die Verletzung dieses Rechts jenseits der bioethischen Debatte am Beispiel einer streng religiösen Erziehung in einer geschlossenen Religionsgemeinschaft illustriert, die auch räumlich vom Rest der Welt isoliert lebt. So werden Kinder in der christlichen Gemeinschaft der „Amish“ in den USA zu einem demütigen, bescheidenen Lebensstil mit geringer Schulbildung, einfachen Berufen im agrarischen und handwerklichen Bereich und ohne Kontakt mit den modernen Wissenschaften, Technologien und Kommunikationsmedien aufgezogen. Durch eine solche ganz auf das Leben in der religiösen Gemeinschaft ausgerichtete Persönlichkeitsentwicklung werden eindeutig die Perspektiven der Kinder in der Zukunft massiv und absichtlich beschnitten, <?page no="305"?> 305 5 Genetisches Enhancement weil sie für andere Lebenspläne als die für sie vorgesehenen schlecht gerüstet sind. In der bioethischen Enhancement-Debatte wird kontrovers über das Recht taubstummer Eltern diskutiert, taubstumme Kinder zu erzeugen (vgl. Buchanan u. a., 281 ff./ Gesang, 98): Aus der Warte der Eltern ist Taubheit keine Behinderung, sondern eine Lebenskultur, die den Kindern die Chance auf eine einmalige Solidarität in der Taubstummengemeinschaft und einer unvergleichlich expressiven Zeichensprache eröffnet. Aber selbst wenn hörende Menschen ohne eine solche Schicksalsgemeinschaft tatsächlich weniger Solidarität erfahren und sich auf keine andere Weise ähnlich expressiv ausdrücken könnten, wird taubstummen Menschen ohne Zweifel ein weites Spektrum an anderen, mindestens gleichwertigen Lebens- und Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft genommen. Beim genetischen Enhancement liegt zwar kein solcher klarer Fall einer Einschränkung der Zukunftsperspektiven vor, weil Enhancement grundsätzlich statt auf Beraubung auf Steigerung von Fähigkeiten abzielt. Aus Sicht der Kritiker wird aber das Recht auf offene Zukunft schon durch jede „genetisch fixierte Absicht einer dritten Person“ bzw. jedes „Vorhaben der Programmierung“ verletzt (Habermas, 108 f.). Diese Rede von einer „genetisch fixierten Absicht“ und „Programmierung“ der Eltern scheint umso angemessener zu sein, je spezifischer die zu verbessernden Eigenschaften sind und je mehr Aufwand deren Entwicklung erfordert. Als Anschauungsbeispiele werden meist besondere sportliche oder musikalische Fähigkeiten angeführt, deren frühzeitige Förderung den Lebensweg des Kindes in ganz bestimmte Bahnen lenkt (vgl. ebd., 139/ Brock 1998, 54). Um das Potential der Kinder mit solchen außerordentlichen Talenten voll auszuschöpfen und das Beste aus ihnen herauszuholen, müssen zahlreiche andere Fähigkeiten und Möglichkeiten vernachlässigt oder stark eingeschränkt werden. Je früher sie einem harten und disziplinierten Trainingsprogramm unterworfen und auf das Leben eines Tennisstars oder einer Violinsolistin eingeschworen werden, desto mehr Qualifikationen dürften ihnen im Erwachsenenalter für andere Lebensentwürfe fehlen. Da sie zu diesem frühen Zeitpunkt noch keine eigenständigen wohlerwogenen Entscheidungen hinsichtlich ihrer Zukunft treffen können, lässt sich hier tatsächlich von einer Art „Dressur“ oder gar Abrichtung sprechen (Habermas, 139). Ob damit auch die potentielle Autonomie der Erwachsenen untergraben wird oder diese später die Intention der Eltern bejahen und sich die „Verbesserungen“ bewähren, scheint vom Erfolg und der Zufriedenheit im Erwachsenenleben abzuhängen. In der Realität gibt es sowohl diejenigen, die den Eltern später dankbar sind für <?page no="306"?> 306 5 Genetisches Enhancement den Drill als auch diejenigen, die ihnen deswegen Vorwürfe machen, genauso wie diejenigen, die sich im umgekehrten Fall über die Vernachlässigung und das Brachliegen ihrer Begabungen beschweren. Da die Folgen in den einzelnen unvorhersehbaren, durch verschiedene Außenweltfaktoren und persönliche Entscheidungen geprägten Lebensverläufen sehr unterschiedlich ausfallen, lassen sich keine allgemeinen ethischen Verbote ableiten. Eindeutig missachtet würde die potentielle Autonomie allerdings da, wo die Eltern auf permanente Widerstände und ausbleibende subjektive Erfüllungserlebnisse seitens der Kinder lediglich mit zunehmendem Druck reagieren. Gegen drastische, weit über den Durchschnitt hinauszielende genetische Verbesserungen spezifischer, nur für ganz bestimmte Lebensläufe nützlicher Eigenschaften spricht also, dass solche Merkmale einen steuernden Charakter haben und die Gefahr einer Einschränkung des Rechts auf offene Zukunft deswegen groß ist (vgl. Birnbacher 2002, 124 f.). Problematisch ist dann aber genaugenommen nicht das Verfahren des genetischen Enhancements als solches, sondern die Art und das Ausmaß der veränderten Merkmale. Außerdem setzt eine Beeinträchtigung des Rechts auf offene Zukunft die Absicht der Eltern voraus, die „besten Kinder“ durch einseitige Talententwicklung anstatt durch breite Förderung verschiedenster Kompetenzen heranzuziehen. Der Verweis auf diese Gefahren bei genetischen Manipulationen spezifischer Eigenschaften ist aber noch kein Grund, genetisches Enhancement generell zu verbieten. Denn daneben gibt es eine Reihe von Eigenschaften oder Fähigkeiten, die viel allgemeiner sind und wie die erwähnten „Allzweckgüter“ grundlegende Ressourcen für sämtliche Lebensziele erweitern oder sichern. Da sie Betroffenen in fast allen möglichen Lebenskonzepten Vorteile bringen, würden sie ihr Recht auf offene Zukunft in keiner Weise einschränken und keine Bevorzugung eines bestimmten Lebensplans nahelegen. In diesen Fällen würde das Recht des Kindes auf eine offene Zukunft ganz im Gegenteil unterstützt, sodass es sich als Pro-Argument für genetisches Enhancement anführen lässt (vgl. Brock 1998, 55/ Ranisch u. a., 40 f.). Wie bereits erwähnt gibt es zwischen den spezifischen, stark steuernden und die potentielle Autonomie verringernden Merkmalen und solchen ausschließlich ressourcenorientierten allgemein nützlichen Eigenschaften allerdings keine klare Grenze, sondern vielmehr eine breite Skala mit vielen Abstufungen. Um über einengende oder erweiternde Funktionen einzelner Eigenschaften oder Fähigkeiten in Lebensplänen allgemeine Aussagen machen zu können, braucht es neben einer überzeugenden Konzeption des guten Lebens auch empirische Forschungen und statistische Erhebungen (vgl. <?page no="307"?> 307 5 Genetisches Enhancement Argument 1/ Gesang, 106). Genauso wie Menschen trotz einer Einschränkung ihrer Lebensmöglichkeiten durch Beraubung grundlegender Fähigkeiten oder aber durch förderungsintensive steuernde Merkmale im Einzelfall ihr Leben als erfüllend erfahren können, garantiert ein Leben mit vielen Allzweckgütern und großem Möglichkeitsspielraum prinzipiell kein gelingendes Leben, sondern verbessert nur die Chancen darauf. Kontrovers wird in der Enhancement-Debatte die Frage diskutiert, ob die von den Eltern für ihre Kinder gewünschten genetischen Veränderungen ethisch überhaupt anders zu bewerten sind als erzieherische Maßnahmen. Wenn den Eltern in erzieherischer Hinsicht sogar grundrechtlich ein sehr großer Entscheidungsspielraum garantiert wird, sollte ihnen aus Sicht vieler Enhancement-Befürworter auch die gentechnische Optimierung ihrer Kinder erlaubt sein (vgl. Buchanan u. a., 158 f. versus Habermas, 87 f.). Habermas und viele andere Kritiker des genetischen Enhancements erblicken den ethisch relevanten grundlegenden Unterschied zwischen erzieherischen und gentechnischen Methoden in der Irreversibilität und Einseitigkeit gentechnischer Maßnahmen (vgl. Habermas, 90; 136; 139/ Kass u. a., 52): Mit einem Eingriff in das Genom der Kinder treffen die Eltern nach dieser Darstellung einseitige und unanfechtbare Entscheidungen, die den Kindern später keine revidierende Stellungnahme erlauben. Die Rede von einer „genetischen Fixierung“ der elterlichen Präferenzen suggeriert, dass die damit gestellten Weichen für die zukünftige Lebensgeschichte der Kinder unverrückbar sind. Im Gegensatz zu einer solchen vorgegebenen genetischen Festlegung seien erzieherische Einflüsse grundsätzlich „anfechtbar“ und reversibel (vgl. 107). Diese Reversibilität verdankt sich laut Habermas der eigentümlichen Struktur von Sozialisationsprozessen, die ihren Einfluss stets über beidseitige Interaktion und kommunikative Verständigung im Medium von Gründen und Argumenten vollziehen. Daran ändere auch nichts, dass sich dieser Raum von Gründen den Kindern je nach Stand ihrer kognitiven Entwicklung zum jeweiligen Zeitpunkt noch nicht erschließe. Da die Kinder in den Vorgängen der Erziehung und Bildung gleichwohl immer die Rolle der Interaktionspartner einnehmen und die Gründe später verstehen können, sei anders als bei Genmanipulationen eine „hadernde Auseinandersetzung“ möglich (108): Die zukünftigen Erwachsenen sollen die „Asymmetrie der kindlichen Abhängigkeit“ retrospektiv ausgleichen können, indem sie die freiheitsbeeinträchtigenden Sozialisationsbedingungen reflexiv und kritisch aufarbeiten und sie gegebenenfalls revidieren (107 f.). Selbst neurotische Entwicklungen würden sich später in einer Psychoanalyse „durch die Erarbeitung <?page no="308"?> 308 5 Genetisches Enhancement von Einsichten auflösen“ lassen. Doch wird bei dieser Gegenüberstellung von genetischem Enhancement und Erziehung nicht die Reversibilität sozialisatorischer Prozesse deutlich zu optimistisch eingeschätzt? Fest steht, dass psychische Fehlentwicklungen infolge von Vernachlässigung oder gar Missbrauch der Kinder auch mit Unterstützung von Psychotherapien später kaum mehr zu korrigieren sind. Aber auch durch das Einschlagen eines bestimmten Bildungswegs unter elterlichem Druck können bestimmte Lebensmöglichkeiten für immer verstellt werden, wenn musikalisch begabte Kinder beispielsweise kein Instrument spielen dürfen (vgl. Ranisch u. a., 32/ Gesang, 104). Noch viel einschneidender ist aber eine indoktrinierende Vermittlung der elterlichen Wertmaßstäbe, die sich in das normative Selbstbild des Kindes einprägen. Zu denken ist an eine streng religiöse autoritäre Erziehung, bei der den Kindern im Fall des Abweichens vom „richtigen Weg“ mit dem Verstoß aus Familie und Religionsgemeinschaft oder mit göttlichen Sanktionen wie ewigen Höllenqualen gedroht wird. Während einerseits also auch kommunikative und interaktive Sozialisationsprogramme Lebensmöglichkeiten vernichten oder zementieren können, determinieren andererseits Keimbahnmanipulationen nicht zwangsläufig das Lebensschicksal eines Menschen: Eine zukünftige technische Lösung könnten künstliche Chromosomen sein, die später je nach Wunsch aktiviert oder inaktiviert werden können (vgl. Eissa, 300). Aber auch nichtabschaltbare Gene determinieren nach entwicklungspsychologischen Erkenntnissen niemals direkt das Handeln eines Menschen, sondern geben lediglich eine gewisse „Reaktionsnorm“ oder Spannbreite möglicher Verhaltensweisen vor (vgl. Trautner, 69 ff.). Die Rede von einer gentechnischen „Programmierung“ von Menschen und ihren Lebensplänen ist also reichlich überzogen und zeugt von einem falschen genetischen Determinismus. Trotz ihres „steuernden“ Charakters „zwingen“ Sportlichkeit und Musikalität genauso wenig wie hohe Intelligenz jemanden zum Leben im Dienst der einen oder anderen Talentförderung. Genauso einseitig und tendenziös wie die Enhancement-Kritiker den Einfluss der Gene überbewerten, stellen jedoch seine Befürworter die Umwelt- und Erziehungsfaktoren als „maßgeblich“ und demgegenüber die Enhancement-Praktiken als „nahezu bedeutungslos“ und ungefährlich heraus (vgl. Eissa, 293; 299 f.). Erstens sind aber die Einflussfaktoren ungefähr gleich stark, und zweitens machen problematische Erziehungsmethoden wie der beschriebene Drill vergleichbar problematische Genmanipulationen keineswegs ethisch besser (vgl. Habermas, 140). Irreversibilität ist aber letztlich nicht nur ein ungeeignetes Unterscheidungskriterium zwischen Erziehung und Enhan- <?page no="309"?> 309 5 Genetisches Enhancement cement, sondern stellt kaum einen Grund gegen genetische Eingriffe zu gleich guten, das Recht auf Zukunft erweiternden Zielen wie kognitiven oder Selbstregulationsfähigkeiten dar. 5) Kontra-Argument: Verhinderung bedingungsloser Liebe Im Unterschied zu den Argumenten der potentiellen Autonomie und des Rechts auf offene Zukunft der Kinder bezieht sich dieses Argument auf die veränderte emotionale und motivationale Grundeinstellung der Eltern gegenüber ihren Kindern: In den Worten Michael Sandels „verdirbt“ das genetische Enhancement nachgerade die Elternschaft als soziale Praxis, die von einer voraussetzungslosen Liebe zu den Kindern bestimmt sei (vgl. 102 f.). Unter bedingungsloser Liebe wird im allgemeinen Sprachgebrauch eine Liebe verstanden, die nicht an bestimmte positive Charaktereigenschaften, Begabungen und Talente gebunden ist oder daran, wie jemand aussieht oder was jemand tut. Ungeachtet all dessen liebt man einen Menschen vielmehr so, wie er ist. Eine solche bedingungslose Liebe fungiert in zahlreichen Elternblogs und Erziehungsratgebern mit Titeln wie Liebe und Eigenständigkeit. Die Kunst bedingungsloser Elternschaft (Alfie Kohn) oder Kinder sind wie ein Spiegel. Ein Handbuch für Eltern, die ihre Kinder richtig lieben wollen (Ross Campbell) als hohes Ideal oder Gebot für die Eltern-Kind Beziehung. Sie wird gepriesen als wichtigste Bedingung für zufriedene Eltern und Kinder und dafür, dass die Kinder zu freien, selbstbewussten und glücklichen Menschen heranwachsen. Je mehr aber die Eltern in den bislang unverfügbaren, kontingenten Anfang einzugreifen versuchen, desto mehr schwinde die Offenheit für unerwünschte Eigenschaften und Verhaltensweisen der Kinder (vgl. ebd., 117). Mit der Möglichkeit gezielter genetischer Manipulationen an den Embryonen verändere sich die Haltung der Eltern gegenüber ihren Kindern von einer „bedingungslosen Akzeptanz“ zu einer „kritischen Prüfung“ (vgl. Kass u. a., 54). Statt das Neugeborene vorbehaltlos willkommenzuheißen, werde es von klein an auf bestimmte Standards und Vorstellungen von einem „guten Kind“ hin beurteilt. Während sich Habermas’ Kritik wie im zweiten Argument gesehen hauptsächlich gegen das instrumentalisierende Verhältnis der Eltern gegenüber den manipulierten Embryonen richtet, geht es bei diesem Argument also um die Fortsetzung eines versachlichenden Umgangs mit dem Nachwuchs nach der Geburt. Wenn die Kinder zumindest von der Idee her mit Blick auf bestimmte Vorstellungen „gemacht“ würden und damit statt das Produkt von Liebe das Produkt des elterlichen Willens bildeten, komme es <?page no="310"?> 310 5 Genetisches Enhancement zu einer starken Erwartungshaltung der Eltern und einer noch größeren Ungleichheit im Eltern-Kind-Verhältnis (vgl. ebd., 52; 55). Zu einer Störung in der intensiven affirmativen Gefühlsbindung zwischen Eltern und Kindern könnte zusätzlich die neu entstandene „Struktur der Zurechnung“ beitragen, weil die Kinder ihre Eltern anklagen und sie für ihre genetische Ausstattung verantwortlich machen könnten (Habermas, 30). Genaugenommen würden dann allerdings nicht erst genetische Optimierungen der Embryonen gegen das Gebot bedingungsloser Liebe verstoßen, sondern schon die ständig intensivierten Bestrebungen sogenannter Helikoptereltern, das Beste aus ihren Kindern zu machen. Kritisch ist aber zu fragen, ob dieses Ideal in konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt realisierbar und ethisch erstrebenswert ist. Denn während in partnerschaftlichen Beziehungen nach diesem Gebot auch Ehebruch und Gewalt toleriert werden müssten, dürften die Erziehungspersonen keinerlei Erwartungen und Forderungen an ihre Kinder herantragen. Obgleich bedingunglose Liebe eine wichtige Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines kindlichen Grundvertrauens sein mag, kann sich eine Erziehung mit fundamentalen Zielen wie Selbständigkeit des Kindes und Integration in die Gesellschaft schwerlich darin erschöpfen (vgl. Argument 1). Vielmehr verlangt die kontinuierliche Entwicklung und Förderung der dafür notwendigen kognitiven, sozialen und moralischen Kompetenzen eine kritische, prüfende Einstellung zum Kind, die schwerlich ethisch bedenklich sein kann. Ungeachtet dieser paradox anmutenden Erziehungsaufgabe bedingungsloser Liebe ist die empirisch-psychologische These spekulativ, vorgeburtliche Keimbahnmanipulationen hätten notwendig eine lieblose und versachlichende Haltung gegenüber den Kindern zur Folge (vgl. Argument 3). Selbst im ethisch umstrittenen Fall der Erzeugung eines „Retterbabys“ auf dem Weg künstlicher Befruchtung zur „Rettung“ eines kranken Geschwisters durch eine Organspende erscheint es als höchst unwahrscheinlich, dass die Eltern dieses Kind weniger lieben und anders behandeln als ihre anderen Kinder. Auch dürfte die Verbesserung des Genmaterials der Zygote das Eltern-Kind-Verhältnis in keiner Weise beeinträchtigen, wenn die Eltern ihren Kindern nur möglichst gute genetische Grundlagen für eine eigenständige Entwicklung bereitstellen wollen und sie nicht mit Drill in eine bestimmte Richtung zu drängen versuchen (vgl. Gesang, 103 f.). Im Fall einer Steigerung ressourcenorientierter, für die Verwirklichung individueller Lebenspläne und die gesellschaftliche Integration nützlicher Eigenschaften brauchen die Eltern auch kaum eine Klage der Kinder zu befürchten. Unter Voraussetzung legal verfügbarer Gentechnik <?page no="311"?> 311 5 Genetisches Enhancement würden sie von diesen wohl eher im gegenteiligen Fall einer Unterlassung zur Verantwortung gezogen (vgl. ebd., 101 f.). Da jedoch sowohl beim Gentransfer als auch bei der Geburt oder danach stets das Risiko einer Beschädigung des Kindes besteht, ermpfiehlt sich für werdende Eltern weiterhin eine gelassene Haltung gegenüber unabwendbaren Kontingenzen. 6) Kontra-Argument: Entsolidarisierung und Diskriminierung Wie bezüglich der Selbstoptimierung allgemein wird beim genetischen Enhancement die Gefahr der Diskriminierung derjenigen diskutiert, die nicht oder in geringerem Maß über die in einer Gesellschaft als erstrebbar geltenden Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen (vgl. Buchanan u. a., 261 f./ Brock 2013, 264 f.). Denn wenn bestimmte Merkmale wie Intelligenz oder Schlankheit in einer Gesellschaft als wertvoll angesehen werden, impliziere dies die Botschaft, allen mit einem diesbezüglichen Mangel fehle etwas Wesentliches. Von den Betroffenen kann diese Botschaft als Herabwürdigung, Demütigung und Verringerung des subjektiven Wohlbefindens empfunden werden. Je weniger die Menschen hinsichtlich ihrer genetischen Ausstattung dem Zufall oder Schicksal ausgeliefert sind, desto mehr schwinde zudem die Toleranz gegenüber den „Imperfekten“ und die Solidarität mit den „genetisch Armen“ (vgl. Kass u. a., 52/ Sandel, 111): Erweitern sich die Möglichkeiten des genetischen Enhancements kontinuierlich, könnte die Bereitschaft zur Vergemeinschaftung von Risiken und zur gegenseitigen Verpflichtung aufgrund von Ungewissheit zurückgehen. Im schlimmsten Fall kommt es zu einer genetischen Diskriminierung, d. h. zu einer Ungleichbehandlung in Form einer Benachteiligung oder einer Exklusion der genetisch Nichtoptimierten beispielsweise durch Arbeitgeber oder Versicherungsgesellschaften (vgl. ebd., 111/ Buchanan u. a., 261 f.). Anders als bei den vorangegangenen Argumenten wird dabei meist kein Unterschied zwischen Genmanipulationen zu therapeutischen und verbessernden Zwecken bzw. zwischen „negativer“ und „positiver Eugenik“ gemacht. Denn die Gefahren der Entsolidarisierung und Diskriminierung sollen nicht erst beim genetischen Enhancement auftreten, sondern bereits bei therapeutischen genetischen Interventionen und der Aussondierung von Embryonen mit Gendefekten nach einer pränatalen Diagnostik. Beide Methoden scheinen die gleiche negative Botschaft zu versenden. Oft stützt man sich bei dieser Argumentationsstrategie auf das soziale Modell von Behinderungen, demzufolge Behinderungen lediglich sozial konstruiert sind. Vor diesem Hintergrund wäre es der falsche Weg, angebliche <?page no="312"?> 312 5 Genetisches Enhancement „Behinderungen“ oder eine „schlechte genetische Ausstattung“ eliminieren zu wollen. Statt die Betroffenen zu therapieren oder zu optimieren, sollten dann nämlich vielmehr die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse kritisiert und derart verändert werden, dass sie auch für Menschen mit andersartigen Eigenschaften möglichst günstig sind (vgl. Sandel, 118/ Harnacke u. a., 161 f.). Gegen diese Argumente lässt sich einwenden, dass zumindest einige Diskriminierungen wie etwa diejenigen auf dem Arbeits- und Versicherungsmarkt durch konkrete politische Maßnahmen wie Verbote genetischer Screenings oder Informationssperren verhindert werden könnten. Außerdem ist die empirische Generalisierung keineswegs bewiesen, dass die abnehmende Zahl von Menschen mit Behinderungen zwangsläufig zu einem Rückgang gesellschaftlicher Solidarität und Unterstützung führt (vgl. Buchanan u. a., 266). Eine Aufkündigung der Bereitschaft zu gegenseitiger soldarischer Unterstützung wäre schon deswegen unklug, weil nur ein kleiner Teil der Krankheiten genetisch bedingt ist. Auch weist zwar das soziale Modell von Behinderungen zu Recht darauf hin, dass z. B. Blindheit in einem sozialen Umfeld lauter Blinder keine „Behinderung“ wäre und die Mehrheitsgesellschaft der Sehenden sehr vieles für die Beseitigung von sozialen und lebenspraktischen Hindernissen der Betroffenen tun kann und sollte. Aber fehlende Gliedmaßen oder Beeinträchtigungen wesentlicher biologischer Funktionen wie der Sinneswahrnehmung als Behinderungen gemäß dem medizinischen Modell machen ein Leben viel beschwerlicher, wie sehr sich die Gesellschaft auch um technische, finanzielle u. a. Kompensationen bemüht. Obgleich einzelne Behinderte ihr Leben subjektiv als lebenswert erleben können, ist die Wahrscheinlichkeit auf ein gutes Leben ohne Behinderung objektiv gesehen größer (vgl. Hauskeller, 163 f.). Daneben gibt es jedoch andere Merkmale wie Hautfarbe, Brustgröße oder sexuelle Orientierung, bei denen Nachteile tatsächlich erst durch willkürliche gesellschaftliche Werteinstellungen verursacht werden. Inadäquat sind aber die Forderungen, zur Vermeidung von Erniedrigung und Diskriminierung müssten jegliche Diskussionen über wünschbare Eigenschaften oder menschliche Lebensqualität unterbunden werden. Nicht nur kann nämlich der Einzelne ohne persönliche Werturteile über gute und schlechte Charaktereigenschaften und Lebensformen gar kein individuelles Selbst- und Lebenskonzept entwickeln, sondern aufgrund der Einbettung in soziale Interaktions- und Anerkennungsprozesse ist er zudem auf intersubjektive Bewertungsstandards verwiesen (vgl. Quante, 34 f.; 40). Wertkonzepte auf der Basis von Lebensqualitätsforschungen und Reflexionen über ein gutes Leben sind ethisch unproblematisch, solange sie nur als positive Orientierungshilfen <?page no="313"?> 313 5 Genetisches Enhancement zur Verbesserung der Startbedingungen Neugeborener und nicht zur Ausgrenzung der ungefragt nicht genetisch Optimierten verwendet werden. Die meisten Menschen dürften problemlos zwischen therapierbaren Embryonen mit Gendefekten und den auf Solidarität und Unterstützung angewiesenen „genetisch Armen“ unterscheiden können (vgl. Coady, 171/ Buchanan u. a., 277 f.). 7) Kontra-Argument: Ungerechtigkeit und Zwei-Klassen-Gesellschaft In Anlehnung an den Film Gattaca (1997) von Andrew Niccol wird als Gattaca- Argument die These bezeichnet, dass Weiterentwicklung und Anwendung des genetischen Enhancements zu einer Aufspaltung der Gesellschaft in „genetisch Reiche“ und „genetisch Arme“ bzw. „Humane“ und „Posthumane“ führt (vgl. Sorgner, 26/ Annas u. a., 162/ Gesang, 49). In diesem dystopischen Science-Fiction-Thriller werden die sozialen Klassen allein durch genetische Interventionen konstituiert, wobei die nichtverbesserten „Normalen“ nur zweitklassige Berufe ausüben und nicht mit den genetisch Perfekten konkurrieren können. Zumindest in der Anfangsphase der neuen Technologie ist davon auszugehen, dass die medizinischen Eingriffe sehr teuer wären und daher ohne staatliche Regulierung nur die Reichen ihre Kinder gentechnisch optimieren lassen könnten. Die Chancen auf sozialen Aufstieg und Erfolg sind dann nicht nur dank eines höheren sozioökonomischen Status, größerer Bildungsnähe und vielfältigerer Förderungsmaßnahmen der Eltern sehr viel besser als die von Kindern aus sozioökonomisch schwächerem Elternhaus, sondern zusätzlich noch durch aussichtsreichere genetische Grundlagen wie z. B. stärkeres Immunsystem oder höhere geistige Leistungsfähigkeit. Wenn irgendwann radikales genetisches Enhancement möglich wäre und das Genom der Kinder von Wohlhabenden anders als bei der natürlichen Lotterie sämtliche Anlagen für bestmögliche Eigenschaften und Fähigkeiten in sich vereinen könnte, wären die Wettbewerbsvorteile kaum mehr einholbar. Dadurch käme es zu einer Verschärfung der sozialen und ökonomischen Ungleichverteilung und einem weiteren Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich, was „eine neue Qualität der Ungleichheit“ bedeutete (Gesang, 50). Um eine „Ungerechtigkeit“ handelte es sich, weil die besseren genetischen Dispositionen unverdient sind und sich die Unterschiede prinzipiell durch gesellschaftliche Maßnahmen steuern ließen. Dies bedeutete das Ende der ethisch wünschbaren Chancengleichheit und gesellschaftlicher Gerechtigkeit, wodurch der soziale Friede bedroht wäre. Da der genetische Vorsprung stets wieder auf die Nachkommen vererbt wird, könnte <?page no="314"?> 314 5 Genetisches Enhancement sich bei entsprechender Partnerwahl eine neue erbliche Aristokratie oder ein gesellschaftliches Kastensystem herausbilden (vgl. ebd., 51). Horrorszenarien sagen sogar einen „umfassenden Klassenkampf “ mit dem Potential für einen „Genozid“ voraus zwischen den Posthumanen, für die gewöhnliche Humane minderwertig wären und daher versklavt oder getötet werden könnten, und den Nichtoptimierten, die in jenen eine ständige Bedrohung sähen und sie in einem präventiven Schlag vernichten möchten (vgl. Fukuyama, 33/ Annas u. a., 162). Verteidiger des genetischen Enhancements wie die Trans- und Posthumanisten antworten auf das Gattaca-Argument zumeist mit dem Trickle-down- Argument, demzufolge allgemein nützliche und sichere Technologien nach einiger Zeit allen Menschen zugänglich sein werden (vgl. Sorgner, 26). Denn je mehr Menschen sie nachfragen, desto billiger und entsprechend für immer mehr erschwinglich würden sie. Für diese These eines allmählichen „Durchsickerns“ technischer Errungenschaften lassen sich zwar unzählige Beispiele wie jüngst Computer und Handys anführen. Da aber die Ungerechtigkeit bei schlechten genetischen Startbedingungen ungleich viel größer ist als beim Nichtbesitz erwerbbarer und ausleihbarer Geräte, scheint das Vertrauen auf diese mögliche Entwicklung sozial unverantwortlich zu sein. Nicht nur könnten die Übergangsphasen Jahrzehnte dauern, sondern aufgrund des Erbprivilegs ist auch die von den Kritikern prognostizierte Aufspaltung der Gesellschaft nicht völlig unwahrscheinlich (vgl. Gesang, 53). Häufig verweisen Befürworter auch einfach auf die ohnehin bestehenden Vor- und Nachteile in der genetischen Ausstattung. Zudem gebe es zwischen dieser Tatsache natürlicher biologischer Ungleichheit und der Entstehungsgefahr einer Zweiklassengesellschaft keinen logischen Zusammenhang, weil der Staat durch gerechte Institutionen diese Benachteiligungen ausgleichen könne (vgl. Ranisch u. a., 45). Der bloße Hinweis auf die bereits vorhandenen und nicht als ungerecht empfundenen genetischen Ungleichheiten stellte aber einen Sein-Sollen-Fehlschluss dar und lässt außer Acht, dass Ungerechtigkeit erst vom Moment der technischen Manipulierbarkeit des natürlichen Genoms an vorliegt. Fraglich ist auch, ob mit den traditionellen sozialpolitischen Förderprogrammen zur Verbesserung der Entwicklungs- und Bildungschancen von Schlechtergestellten gemäß dem schwächeren Konzept materieller Chancengleichheit („social structure view“) die genetisch bedingten Wettbewerbsnachteile beseitigt werden können (Kap. 4.4, Argument 9). Wirksam eindämmen ließe sich die Gefahr gesellschaftlicher Proteste und einer Zwei-Klassen-Gesellschaft wohl nur durch darüber hinausgehende staatliche Maßnahmen, die im Sinne des stärkeren Konzepts materieller <?page no="315"?> 315 5 Genetisches Enhancement Chancengleichheit („brute luck view“) mittels direkter Eingriffe die ungleiche biologische Grundausstattungen der Bürger nivellieren. Ähnlich wie gesetzliche Krankenkassen könnten zusätzliche Versicherungen allen Bürgern den Zugang zu risikofreien, für ein gutes Leben relevanten genetischen Optimierungen garantieren (vgl. Sorgner, 26). Fazit Neben den lediglich zwei Pro-Argumenten ist die Liste der weiteren Kontra-Argumente beliebig verlängerbar: Entsprechend dem Argument zu großer Risiken können Eingriffe mit derzeit noch viel zu hohen Risiken höchstens von den Individuen selbst ethisch verantwortet werden, nicht aber für andere Personen wie nichteinwilligungsfähige Kinder (vgl. Brock 1998, 56). Ethisch umstritten ist aber bereits die für Gentherapie und Keimbahn-Enhancement notwendige Forschung an embryonalen Stammzellen, weil dabei die Embryonen instrumentalisiert werden (vgl. dazu Fenner 2010, Kap. 4.4). Gemäß dem Dammbruch- oder Slippery-Slope-Argument stellte aufgrund der nicht klar definierten Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit schon die gesellschaftliche bzw. politische Legitimierung der Keimbahntherapie den ersten Schritt in einer Kette dar, die unweigerlich in die moralische Katastrophe eines genetischen Wettrüstens und der Menschenzüchtung führt (vgl. Kaas, 131 f./ Fenner 2010, 254). Wie bei allen Dammbruch-Argumenten hängt die Überzeugungskraft von der empirischen Wahrscheinlichkeit ab, mit der aus dem einen Schritt notwendig der nächste folgt oder aber ein Dammbruch mittels staatlicher Regelungen und Sicherheitsstandards verhindert werden kann. Spezifisch religiöse Kontra-Argumente wie das Leben-als-Geschenk-Argument und das Verbot, Gott zu spielen sind deswegen unzulänglich, weil sie keine klaren Grenzen zwischen ethisch erlaubten und verbotenen Eingriffen definieren und nichtreligiöse Menschen nicht überzeugen können (vgl. Kaas, 129 f./ Glover, 45 f./ Coady, 167 ff.). Ein weiteres Kontra-Argument mangelnder biologischer Diversität macht auf das Problem aufmerksam, dass mit einer flächendeckenden Anwendung von genetischem Enhancement die Menschen immer ähnlichere Charakterzüge und Fähigkeiten aufweisen und in der Folge das gesellschaftliche Prinzip der Arbeitsteilung nicht mehr funktionieren würde (vgl. Gesang, 54 f./ Agar 2004, 147). Allerdings ist in der Arbeitswelt seit Längerem die anhaltende Tendenz zur Ersetzung von immer mehr anspruchslosen Tätigkeiten durch Maschinen und Robotern zu beobachten, während gleichzeitig ein steigender <?page no="316"?> 316 5 Genetisches Enhancement Bedarf an hochqualifizierten Fachkräften nicht gedeckt werden kann. Um die Plausibilität vieler Gegenargumente einschätzen zu können, fehlt aber häufig eine gesicherte empirische Datenlage. Insbesondere Annahmen über nachteilige gesellschaftliche oder psychosoziale Entwicklungen sind teilweise spekulativ, weil die empirischen Belege für diese Prognosen unzureichend sind. Stünden risikofreie Methoden für eine gezielte genetische Optimierung zur Verfügung, würde daher wohl die Argumentationslage für die Begründung eines generellen Verbots des genetischen Enhancements nicht ausreichen. In ethischen, gesellschaftlichen und politischen Diskursen wäre daher differenzierter zu prüfen, welche Genmanipulationen unter welchen Umständen ethisch zulässig sein könnten. Naiv wäre das Vertrauen Radikalliberaler darauf, dass der freie Markt von Angebot und Nachfrage der Eltern nach bestimmten genetischen Merkmalen ihrer Kinder automatisch zu individual- und sozialethisch wünschbaren Resultaten führt. Denn wenn Eltern bei ihrem Wunsch nach dem Besten für ihr Kind von ihren eigenen Vorstellungen satt vom Wohl des Kindes ausgehen, drohte nach dem Desaster der „alten Eugenik“ zur Heranzüchtung einer perfekten Herrenrasse die neue Gefahr einer „Menschenzüchtung“ nach individuellen Vorlieben (vgl. Sandel, 94 ff.). Gleichzeitig ist es im postmetaphysischen Zeitalter aber nicht mehr überzeugend, wie Jürgen Habermas auf eine kontingente und gewachsene „menschliche Natur“ als unantastbarem normativem Maßstab zu pochen (vgl. Habermas, 49). Erforderlich sind vielmehr öffentliche demokratische Verständigungsprozesse über intersubjektiv-rational begründbare normative Standards zur Beurteilung menschlicher Lebensqualität und zur Erhöhung der Chancen der Kinder auf ein gutes Leben. Würden nur Verbesserungen bezüglich der für praktisch alle individuellen Lebenspläne vorteilhaften menschlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten als sogenannter Allzweckgüter erlaubt, würden die Nachkommen schwerlich zu bloßen Sachen erniedrigt und in ihrer Würde verletzt. Während Kinder ihr Genom prinzipiell nie selbst auswählen können, dürfte nämlich dank besserer kognitiver, psychischer und körperlicher Eigenschaften sowohl die Willensals auch Handlungsfreiheit größer werden als ohne diese Optimierungen. Dringender als in den anderen Bereichen biotechnologischer Forschung braucht es jedoch klare internationale ethische Richtlinien, um Forschung und Anwendung des genetischen Enhancements restriktiv einzudämmen. Keimbahntherapie zur Heilung von Erbkrankheiten muss absolute Priorität haben und fragwürdige Eltern-Wünsche nach Designer-Babys sind in Schranken zu weisen. Ethisch verantwortbar wäre möglicherweise überhaupt nur ein kompensatorisches <?page no="317"?> 317 5 Genetisches Enhancement genetisches Enhancement, damit ein genetisches Wettrüsten und eine Verschärfung der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit durch die unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten zum genetischen Enhancement vermieden werden könnten. Je nach den finanziellen Mitteln könnte der Staat aber in einem positiv-regulatorischen Sinn neben der Forschung von Gentherapien auch diejenige von Enhancement-Technologien zur Erreichung eines wünschenswerten menschlichen „Normalzustandes“ fördern, die den von der Natur am wenigsten Begünstigten gratis zur Verfügung gestellt würden. Kommentierte Kurzbibliographie zu Kapitel 5 Bezüglich des genetischen Enhancements sind die „Klassiker“ seitens der Biokonservativen Habermas (2002) und seitens der Bioliberalen Buchanan u. a. (2000). Eine Einführung hat Welling (2014) vorgelegt, die sich zwar vornehmlich der rechtlichen Diskussion widmet, aber auch die philosophisch-ethischen Argumente berücksichtigt. <?page no="319"?> 319 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt 6 Schluss Auch wenn alle möglichen Gesichtspunkte zu den Themen Selbstoptimierung und Enhancement schon in irgendwelchen akademischen Beiträgen erwähnt sein dürften und kaum noch neue ethische Argumente entwickelt werden können, fehlte bislang ein systematischer Überblick über die verschiedenen Anwendungsbereiche, Ziele und Beurteilungsperspektiven für größere konzeptuelle Klarheit in diesem neuen Forschungsfeld (vgl. Röcke, 333 f.). Zudem fand der bioethische Fachdiskurs seit Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend isoliert statt, sodass eine Vermittlung mit der öffentlichen Debatte noch zu leisten ist (vgl. Schoilew, 5). Ziel dieses ethischen Grundrisses war das Herausarbeiten der verschiedenen Problemebenen und Aspekte, die Klärung der relevanten normativen Orientierungsmaßstäbe und die systematische Kritik und das Gegeneinander-Abwägen der wichtigsten Positionen und Pro- und Kontra-Argumente. Statt eingängige Thesen und griffige Handlungsrezepte zu liefern, sollte ein Beitrag zur Rationalisierung und Versachlichung einer oft sehr emotional geführten Debatte geleistet und die Reflexions- und Argumentationskompetenzen der Leser gefördert werden. Zu verorten ist der Klärungsversuch in der noch jungen Angewandten Ethik als einer Tätigkeit des gemeinsamen Sich-Beratens über komplexe gesellschaftliche Problemfelder, bei der es um die Stärkung der selbständigen Urteilsfindung und der Entwicklung einer differenzierteren, begründeten Stellungnahme aller Beteiligten geht. Genauso wie bei anderen ethischen Streitfragen wie etwa derjenigen nach der Legitimität von Abtreibung oder Gentechnik ist die Erwartung simpler Ja-/ Nein-Antworten und einfacher „richtiger Lösungen“ auch bei der Selbstoptimierung unangemessen. Die Formulierung genereller Empfehlungen, Verbote oder Gebote ist kaum sinnvoll und begründbar, weil dabei die Heterogenität der vielfältigen Selbstoptimierungsformen und -praktiken ausgeblendet würden und teilweise unterschiedliche individuelle, situative und gesellschaftliche Bedingungen unberücksichtigt blieben. Von vornherein zum Scheitern verurteilt ist daher die Hoffnung, für alle Verbesserungs-Handlungen ein einheitliches, durchschlagendes Argument finden zu können (vgl. Ach 2016, 141). Abschließend werden nochmals einige programmatische Pauschalisierungen und Polarisierungen bezüglich des menschlichen Perfektionierungsstrebens als Ganzem benannt, die in der Öffentlichkeit häufig die erforderlichen kleinteiligen Anwendungsdebatten verhindern (1). Danach soll bei einer zusammenfassenden <?page no="320"?> 320 6 Schluss Gegenüberstellung der wichtigsten normativen Bezugsgrößen gezeigt werden, wie auch diese mit Blick auf die Praxis der Selbstoptimierung präzisiert und miteinander vermittelt werden können (2). 1) Vermeidbare Diskursblockaden durch Pauschalisierungen Obwohl in der Selbstoptimierungs-Debatte selten klar zwischen einem engen und weiten Begriff von „Selbstoptimierung“ unterschieden wird, richtet sich die Kritik hauptsächlich gegen eine technikbasierte Selbstoptimierung im engen Sinn: Während Selbstoptimierung im weiten Sinn auch menschliche Selbst-Verbesserungen mit herkömmlichen Methoden wie körperliche Ertüchtigung, Erziehung, Bildung, Therapie oder Meditation einschließt, beschränkt sich die Selbstoptimierung im engen Sinn auf technisch voraussetzungsvolle, zumeist biomedizinische Methoden der Verbesserung und kann mit Enhancement gleichgesetzt werden (Kap. 1.1). Häufig führt eine diffuse, unreflektierte kulturkonservative Technikfeindlichkeit zu ihrer pauschalen Verwerfung, die entweder explizit geäußert wird oder in den meisten Fällen latent und unausgesprochen bleibt. Der Einsatz von Technologien stellt aber keineswegs automatisch eine „Verdinglichung“ oder „Selbstversklavung“ des Menschen dar, wie sich anhand der Handynutzung oder des Schluckens von Medikamenten leicht vergegenwärtigen lässt. Auch bedeutet nicht jede technische Neuerung eine „Abschaffung“ des Menschen oder der „Menschlichkeit“, weil sich kulturelle Menschenbilder und das menschliche Selbstverständnis kontinuierlich verändert haben und nicht an sich schützenswert sind (Kap. 2.4). Des Weiteren kann nicht schon der gesellschaftliche Druck ein Problem darstellen, der sich durch neue Eingriffsmöglichkeiten in das menschliche Leben automatisch ergibt. Wäre schon der mit neuen Handlungsoptionen stets verbundene Zwang des Einzelnen zur reflexiven Auseinandersetzung und die sich daraus ergebende „Entscheidungszumutung“ bedenklich, müssten jegliche technischen Neuerungen verhindert werden (vgl. Villa, 247). Da Technik stets Mittel-Zweck-Charakter hat, empfiehlt sich anstelle einer undifferenzierten Technikkritik die Prüfung der jeweiligen Zielsetzungen von einzelnen Technologien und ihrer erwartbaren Folgen für das individuelle und gesellschaftliche Leben. So sind Zweifel an posthumanistischen Visionen einer Substitution des biologischen Gehirns durch künstliche Intelligenz und der Herstellung eines völlig synthetischen Menschen berechtigt, weil Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle und ethische Reflexionsfähigkeit schwerlich nur störend sind und von einem „besseren“ oder „glücklicheren“ <?page no="321"?> 321 6 Schluss Leben ohne sie gar nicht mehr sinnvoll gesprochen werden könnte (vgl. Gesang, 132/ Kap. 1.4). In wissenschaftlichen praxisbezogenen Diskursen geht es aber in aller Regel nicht um solche extreme utopische Optimierungsphantasien, sondern um kleinteilige und realitätsnahe Strategien zur Verbesserung bestimmter menschlicher Eigenschaften (vgl. Röcke, 329). Genauso unhaltbar und abträglich für die dringend erforderlichen ethischen Anwendungsdebatten ist das andere Extrem einer v. a. unter Trans- und Posthumanisten anzutreffenden unkritischen Technikeuphorie, die jede technische Neuerung als Verheißung begrüßt. Eine unter Technikbefürwortern beliebte Strategie ist das Kontinuitäts-Argument, bei dem zunächst von einem weiten Selbstoptimierungs-Begriff ausgegangen wird: Es sei für den Menschen charakteristisch und stelle den Antrieb sämtlicher kultureller Weiterentwicklungen dar, sich selbst und ihr Leben ständig verbessern zu wollen (Kap. 1.2). Während das Ziel der Verbesserung der „conditio humana“ unverändert blieb, hätten die Menschen dank neuster wissenschaftlich-technologischer Fortschritte lediglich effizientere Mittel für menschliche Selbstverbesserungen entwickelt. Tatsächlich ist keineswegs evident und müsste erst gezeigt werden, dass die modernen digitalen, medizintechnischen oder pharmakologischen Methoden im Unterschied zu traditionellen Formen der Arbeit an sich ethisch problematisch sein sollen. Bei genauerer Prüfung lässt sich in der Vergangenheit nämlich kein Punkt bestimmen, an dem ein qualitativer Umschlag von alten zu neuen Eingriffsmöglichkeiten hätte stattfinden sollen (vgl. Heilinger, 34 ff.). Auch traditionelle Selbstverbesserungen erfolgten häufig über physische Hilfsmittel und die Einnahme bestimmter Substanzen. Die als Unterscheidungsmerkmale brauchbaren Kriterien wie höher entwickelte Techniken, größere Präzision und Schnelligkeit der Veränderungen lassen keine klaren Zäsuren erkennen, sondern vielmehr eine kontinuierliche Weiterentwicklung. Andere Kriterien wie Eingriffstiefe oder Dauerhaftigkeit der Interventionen sind für eine klare Abgrenzung ungeeignet, weil sehr tiefe Eingriffe teilweise geringe Veränderungen zeitigen und die meisten neuen Technologien ausschaltbar und damit reversibel sind (Kap. 4.4). Trotz der prinzipiellen Vergleichbarkeit herkömmlicher und moderner verfügbarer Selbstoptimierungs-Methoden lässt sich daraus keine generelle positive Einschätzung sämtlicher Technologien ableiten, weil auch in der Vergangenheit nicht alle technischen Erfindungen positive Folgen hatten und Anerkennung fanden. Das Kontinuitätsargument ist grundsätzlich ein schwaches ethisches Argument und entledigt keineswegs von der Aufgabe, sämtliche für die Zukunft entworfenen Technologien einer kritischen Reflexion zu unterziehen (vgl. <?page no="322"?> 322 6 Schluss Heilinger, 38). Eine den Menschen auf seinen Antrieb zur Selbstverbesserung reduzierende Trivial-Anthropologie kann gleichzeitig zu einer unkritischen Technikeuphorie wie auch zur fatalistischen Einstellung verleiten, es werde ohnehin gemacht, was gemacht werden kann (vgl. Loh, 72 f.). Ein konstruktiver Diskurs über bestimmte Selbstoptimierungs-Maßnahmen wird oft auch durch vorverurteilende reduktionistische Definitionen verhindert, denenzufolge Selbstoptimierung „nichts als“-Ausdruck, Chiffre oder Metapher für unliebsame gesellschaftliche oder kulturelle Entwicklungen ist. Im Rahmen einer Kapitalismus- oder Neoliberalismuskritik wird im aktuellen Selbstoptimierungs-Trend ein problematischer Auswuchs eines kapitalistischen Effizienz- und Konkurrenzdenkens, ein Symptom des ausbeuterischen neoliberalen Wirtschafssystems und ein Einfallstor für weitere Ökonomisierungen der Lebenswelt gesehen, sodass „Selbstoptimierung“ zum Kampfbegriff mutiert (Kap. 1.1). Werden aber beispielsweise in global agierenden Wirtschaftskonzernen die Arbeitnehmer direkt von ihren Vorgesetzten oder indirekt durch einen gezielt angekurbelten Konkurrenzkampf zum kognitiven Enhancement „gedrängt“, liegt eindeutig eine stark von den Wirtschaftsunternehmen oktroyierte und ethisch inakzeptable Form von heteronomem Enhancement vor. Aus normativer Sicht müsste dann jedoch nicht primär ein Verbot bestimmter Pillen erfolgen, sondern es müssten durch geeignete wirtschaftsdemokratische Institutionen die zur Selbstausbeutung führenden menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen wie prekäre oder befristete Arbeitsverhältnisse oder zu große Arbeitsbelastung durch unrealistische Leistungsanforderungen bekämpft werden (vgl. ebd.): Anstelle eines ungezügelten Wirtschaftsliberalismus mit Selbststeuerungsmechanismen des freien Marktes zur allgemeinen Wohlstandssteigerung ist ein Bürgerliberalismus mit einer sozialen Marktwirtschaft wünschenswert, bei der die Bürger in demokratischen Legitimationsverfahren die normativen Kriterien für mehr Qualität des individuellen und gesellschaftlichen Lebens bestimmen (vgl. Fenner 2010, Kap. 7.1.3). Selbstoptimierung wird aber bisweilen nicht nur wegen des kapitalistischen Wirtschaftssystems als angeblicher kultureller Basis abgelehnt, sondern wegen der Moderne mit all ihren sozioökonomischen Entwicklungen: Im Zeichen eines generellen Kulturpessimismus wird Individualisierung und Liberalisierung mit Vereinzelung und Konkurrenzdruck gleichgesetzt, Beschleunigung und Flexibilität mit Destabilisierung und Überforderung, und Rationalisierung und wissenschaftlich-technischer Fortschritt dank der emanzipierten subjektiven Vernunft mit Entzauberung, Verdinglichung und Entfremdung. Angesichts der Rivalisierung <?page no="323"?> 323 6 Schluss dieser „pessimistischen“ Lesart mit der „optimistischen“ lautete die differenziertere Frage vielmehr, ob sich der Preis für den Zuwachs an Handlungsoptionen und Möglichkeiten selbstbestimmter Lebensgestaltung dank der modernen rationalistischen Kultur lohnt (vgl. dazu Rosa 2016, 628/ Meißner, 332). 2) Notwendigkeit öffentlicher Diskurse über normative Standards Auch wenn eine pauschale Verwerfung oder Bejahung von Selbstoptimierung und Enhancement nicht sinnvoll ist und stattdessen Einzelanalysen der verschiedenen Praktiken vorgenommen werden müssen, sind keineswegs nur kontextbezogene Einzelfallentscheidungen möglich. Vielmehr sind ethische Urteile willkürlich, wenn sie nicht auf der Basis allgemeiner Beurteilungskriterien und ethischer Prinzipien begründbar und nachvollziehbar sind. Mit philosophischen Mitteln der Reflexion und Argumentation müssen daher die in der Selbstoptimierungs-Debatte relevanten Bewertungshinsichten oder normativen Standards analysiert werden, um „Verbesserungen“ hin zu einem optimaleren individuellen Zustand von „Verschlechterungen“ unterscheiden zu können (Kap.- 1.1). Leider hat auch in normativer Hinsicht eine Polarisierung zwischen zwei verschiedenen ethischen Orientierungsrahmen stattgefunden, die für konkrete Anwendungsdiskurse der Bioethik eigentlich viel zu grob sind: In Anlehnung an ein politisches Lagerdenken wird die ethische Debatte als Aufspaltung in das Paradigma des Optimierens der Bioliberalen inklusive der Transhumanisten mit dem Kernbegriff der Freiheit einerseits und das Paradigma des Bewahrens der optimierungskritischen Biokonservativen mit den Prinzipien der menschlichen Natur und Würde andererseits rekonstruiert (vgl. Wagner 66 f./ Gesang, 82 f.). Vor der inhaltlichen Auseinandersetzung mit deren unterschiedlichen normativen Maßstäben kann schon einmal eine klare Verortung in methodischer Hinsicht vorgenommen werden: Im Sinne einer säkularen philosophischen rationalistischen Ethik wird hier der Anspruch des Bioliberalismus geteilt, rational zu argumentieren und ethische Urteile unabhängig von religiösen Weltanschauungen, subjektiven Intuitionen und Gefühlen zu begründen (vgl. dazu Fenner 2016, 66). Biokonservative machen demgegenüber nicht selten diffuse und schwer artikulierbare Ängste wie Gefühle des Ekels oder der Abscheu vor menschlichen Grenzüberschreitungen, ein Unbehagen oder einen „moralischen Schwindel“ geltend (Sandel/ vgl. Kap. 1.4). Teilweise basieren solche Gefühle der Ablehnung auf Intuitionen oder religiösen Grundeinstellungen wie z. B. eine Haltung tiefer Ehrfurcht gegenüber <?page no="324"?> 324 6 Schluss der göttlichen Schöpfung. In einer wissenschaftlichen Ethik können moralische Gefühle und Intuitionen aber höchstens Indizien sein für implizite Hintergrundannahmen, die es aufzudecken und zu hinterfragen gilt (vgl. Fenner 2016, 64). Insbesondere um ein von Biokonservativen bisweilen gewünschtes allgemeines Verbot bestimmter oder aller Enhancement-Praktiken diskursiv begründen zu können, sind intersubjektiv nachvollziehbare und kritisierbare rationale Argumente unverzichtbar. Prinzip Freiheit des Bioliberalismus Sowohl radikale Trans- und Posthumanisten als auch die in wissenschaftlichen Enhancement-Debatten dominierenden gemäßigten Bioliberalen halten Freiheit für das zentrale ethische Prinzip, sodass eine Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten durch neue Selbstoptimierungsmaßnahmen begrüßt wird. Im Sinne der positiven Freiheit als Willensfreiheit soll jeder mit Blick auf seine persönliche Vorstellung vom guten Leben selbst entscheiden dürfen, was er für eine Verbesserung hält und welche Mittel er dafür einsetzen will. Das unumstrittene ethische und juridische „Recht auf Selbstbestimmung“ untersagt es, jemanden zu bestimmten Maßnahmen zu zwingen. „Freiheit“ bleibt im Bioliberalismus aber häufig begrifflich unterbestimmt oder wird verkürzt auf negative Freiheit als Freiheit von Hindernissen, v. a. von „internen natürlichen Beschränkungen“ wie den gegebenen physischen, psychischen oder geistigen Anlagen als Fesseln der menschlichen Natur (Kap. 2.3). Ein radikaler einfacher Bioliberalismus blendet aus, dass a) nicht jede zusätzliche neue Veränderungsmöglichkeit menschlicher Eigenschaften oder Dispositionen für die Einzelnen wirklich gut ist; und dass b) diese ihre Entscheidungen stets in einem sozialen Kontext fällen. Ad a: Menschen können für die Verfolgung ihrer Ziele unangemessene Mittel wählen, oder ihre Zielerreichung kann unerwünschte Nebenwirkungen z. B. auf ihre Gesundheit oder Persönlichkeit haben und nicht die erhoffte Erfüllung bringen (vgl. Gesang, 83). Ad b: Sie entwickeln ihre Wünsche und normativen Beurteilungskriterien für „Verbesserungen“ nicht in einem luftleeren Raum, sondern stets in Interaktion mit ihrem sozialen und kulturellen Umfeld. Obwohl Bioliberale Freiheit von „externen sozialen Beschränkungen“ meist mit dem Fehlen von direkten gesellschaftlichen oder politischen Zwängen gleichsetzen, üben gesellschaftliche Ideale, die mediale Umwerbung bestimmter Selbstoptimierungs-Methoden und die mit ihrer Verbreitung steigenden äußeren Erwartungshaltungen einen oft unbemerkten Einfluss oder einen subtilen <?page no="325"?> 325 6 Schluss indirekten sozialen Druck aus. Vorzuziehen ist daher ein reflektierter aufgeklärter Bioliberalismus, bei dem Entscheidungen für neue technologische Selbstoptimierungs-Methoden erst nach dem Vorliegen ausreichender Kenntnisse über Risiken und Spätfolgen sowie der Prüfung unterschwellig wirkender Einflüsse auf die Willensbildung getroffen werden. Das Prinzip individueller Freiheit und der damit verbundene individualistische Fokus dürfen aber nicht verabsolutiert werden, weil die persönliche Nutzung oder Förderung bestimmter Enhancement-Technologien häufig langfristig und auf einer kollektiven Ebene Auswirkungen auf den Handlungsspielraum anderer Menschen und das Selbstverständnis einer Gesellschaft haben (vgl. Loh, 81). Prinzip menschliche Natur des Biokonservatismus In Opposition zum bioliberalen Streben nach mehr Freiheit und Kontrolle über die Natur mahnen Biokonservative wie Leon Kass oder Jürgen Habermas zur Bewahrung des Gegebenen und der „menschlichen Natur“: Es gelte das Kontingente und Unvollkommene wie z. B. seine „natürlichen“ Eigenschaften und Dispositionen dankbar und demütig anzuerkennen (vgl. Sandel, 107 f./ Kap.-1.4). Rational nachvollziehbar sind solche Kontingenzargumente höchstens vor dem Hintergrund metaphysischer Vorstellungen kosmischer oder göttlicher sinnhafter Ordnungen, die heute von vielen Menschen nicht mehr geteilt werden. Ein Generalverdacht gegen das menschliche Streben nach mehr Freiheit, Gesundheit und Lebensqualität durch Ausweitung des Bereichs des Beherrschbaren ist rational nicht vermittelbar, weil sich aus einer säkularen individualethischen Perspektive lediglich Gelassenheit gegenüber dem schlechterdings Unabänderlichen empfiehlt (vgl. Fenner 2016, 112; 248/ Kipke 2011, 69). Der biokonservative Schlüsselbegriff der menschlichen Natur ist bereits auf deskriptiver Ebene schwer zu fassen (Kap. 2.4): Bei einer biologischen, deskriptiven Bestimmung ließe sich vom „Ende“ oder der „Abschaffung des Menschen“ erst sprechen, wo „Posthumane“ völlig synthetisch hergestellt würden. Aber weder beim gegenwärtig am meisten diskutierten Neuro-Enhancement und Körper-Enhancement noch beim genetischen Enhancement geht es um solche radikalen Veränderungen, sodass die dramatischen Dystopien einiger Biokonservativer genauso spekulativ und diskursbehindernd sind wie die Utopien radikaler Posthumanisten. Die meisten im ethischen Naturalismus aufgeführten Charakteristika einer menschlichen Lebensform wie Gesundheit, kognitive Fähigkeiten, Sozialkontakte und Selbstbewusstsein oder Fukuyamas „X-Faktor“ <?page no="326"?> 326 6 Schluss als komplexes Ganzes aus Vernunft, Bewusstsein, Gefühlen und Sozialem sind zu allgemein, um bezüglich konkreter Selbstoptimierungs-Praktiken „humanen“ Lebewesen Orientierung bieten zu können. Um einen naturalistischen Fehlschluss zu vermeiden, wäre zudem die ethische Relevanz der verschiedenen Merkmale auszuweisen. In einer kulturellen, normativen Bedeutung der menschlichen Natur hingegen entpuppt sich die anthropologische Frage „Was ist der Mensch? “ als ethische Frage: „Was soll der Mensch sein? “. Anstelle eines absoluten einfachen Biokonservatismus mit metaphysischen, religiösen oder biologistischen Hintergrundannahmen kann letztlich nur ein diskursiver kriteriologischer Biokonservatismus überzeugen, bei dem mittels diskursivrekonstruktiver Begründungsverfahren in öffentlichen Verständigungsprozessen wesentliche Kriterien einer menschlichen Lebensform bestimmt werden. Glück und gutes Leben als individualethische Prinzipien Die einzelnen Selbstoptimierungs-Maßnahmen können grundsätzlich aus einer „individual“- oder „sozialethischen Perspektive“ betrachtet werden, wobei die soeben präzisierten Prinzipien „Freiheit“ und „menschliche Natur“ in beiden Hinsichten relevant sein können und sich kombinieren lassen. Da Selbstoptimierung definitionsgemäß ein individualethisches Orientierungsmuster für den Einzelnen zur persönlichen Lebensgestaltung darstellt, ging es in diesem Buch hauptsächlich um individualethische Überlegungen (Kap. 1.1): Generalziel der Selbstoptimierung sind Glück und gutes Leben derjenigen Individuen, die sich selbst und ihr Leben verbessern wollen. Nach dem Verlust des Glaubens an vorfindliche objektive Orientierungsstrukturen kann grundsätzlich nur noch dasjenige als „gut“ oder als „Verbesserung“ gelten, was aus der subjektiven Perspektive der sich verändernden Menschen als positiv bewertet und erfahren werden kann. Obgleich in der Moderne zu Recht die Selbstbestimmung bei der individuellen Lebensführung großgeschrieben und von einer Pluralität guter Lebensformen ausgegangen wird, sind Fragen des gelingenden und guten Lebens der Menschen heute dennoch nicht reine Privatsache. Menschen haben keineswegs quasi von Geburt an eine untrügliche Vorstellung vom Glück oder guten Leben (vgl. dazu Hampe, 56/ Kap. 2.1). Ungeachtet der unvergleichlichen individualethischen Persönlichkeiten und Biographien lassen sich allgemeine Kriterien für ein gutes Leben und Gründe für oder gegen bestimmte Lebensformen angeben. Da „Selbstoptimierung“ als individualethische Orientierungshilfe grundsätzlich unterbestimmt ist, muss sie in eine umfassende philosophische <?page no="327"?> 327 6 Schluss Theorie des guten Lebens eingebettet werden. Eine „Individualethik“ stellt allerdings im Unterschied zur „Sozial“- oder „Sollensethik“ keine allgemeingültigen moralischen Gebote oder Verbote mit universellem Geltungsanspruch auf, sondern gibt lediglich Ratschläge oder Empfehlungen für die Einzelnen mit abgeschwächtem Geltungsanspruch: Da alle Menschen nach Glück oder Wohlergehen streben, ist eine geprüfte, rationalen Kriterien standhaltende Selbstverbesserung individualethisch klug und ratsam. Die beiden grundlegenden Perspektiven stehen sich jedoch keineswegs bezugslos gegenüber. Denn ein gelingendes gutes Leben ist auf förderliche gesellschaftliche, politische und ökonomische Rahmenbedingungen angewiesen, deren Gestaltung zumindest eine grundlegende Theorie des guten Lebens bzw. menschlicher Grundgüter voraussetzt. Eine eventuell auch staatlich geförderte Entwicklung, die gesellschaftliche Etablierung und Verteilung neuer Enhancement-Technologien sind genauso wenig „lebensformneutral“ wie bestimmte Wirtschaftsordnungen, sondern sie bevorzugen gewisse Lebensformen und benachteiligen andere (vgl. Kettner, 122). Da sich ein quantitativer sensorischer Hedonismus mit der Reduktion menschlichen Glücks auf einen innerlichen Zustand ohne Berücksichtigung des Außenweltbezugs als konzeptuell unzulänglich erwies, wäre ein durch „Glückspillen“ erzeugtes Empfindungslück ein bloß „illusionäres“ (Kap. 4.1). Demgegenüber hilft eine reflektierte und aufgeklärte Wunsch- oder Zieltheorie des guten Lebens bei der Auswahl geeigneter Selbstoptimierungs-Ziele (Kap. 2.1): Diese müssen z. B. hinlänglich konkret, informiert, nicht-neurotisch und vom Anspruchsniveau her sowohl realistisch als auch wertvoll und herausfordernd sein, damit die Gefahr der Selbstüberbelastung gebannt ist und der Fortschritt gleichwohl zu großer Befriedigung führt. Intrinsische, um ihrer selbst willen geschätzte Tätigkeiten oder Optimierungsmaßnahmen sind glücksförderlicher als extrinsische, rein außenorientierte oder kompetitive, wobei viele Verbesserungen allerdings zugleich „intrinsische, absolute“ als auch „extrinsische, relative“ sind (Kap. 1.4). Nicht eine positionale Verbesserung im Wettbewerb oder eine Gehaltserhöhung tragen unmittelbar zum eigenen Glück bei, sondern nur die Freude an den erweiterten Erkenntnismöglichkeiten oder einer verantwortungsvolleren Arbeit. Wo Gütertheorien nicht im Sinne eines radikalen absoluten Objektivismus von einer durch Gott oder die menschliche Natur festgelegten menschlichen Lebensform ausgehen, werden im Zeichen eines vorzugswürdigen kriteriologischen Objektivismus diskursiv-rational wichtige menschliche Eigenschaften oder Fähigkeiten bestimmt. In der Selbstoptimierungs-Debatte werden Güter wie Gesundheit, Intelligenz, Selbststeuerungsfä- <?page no="328"?> 328 6 Schluss higkeit oder Empathie als Allzweckgüter bezeichnet, weil sie für alle menschlichen Lebenspläne wichtig sind und daher etwa beim genetischen Enhancement Orientierung bieten könnten. Mithilfe technischer Verfahren wie Gentechnik oder Psychopharmaka verbesserte Fähigkeiten wie sprachliche Intelligenz oder Musikalität können aber lediglich günstige Anlagen für den Spracherwerb oder das Musizieren bilden, sodass traditionelle Methoden der Selbstverbesserung wie beharrliches Üben und Kompetenzenerwerb nicht im Zuge der Medikalisierung vernachlässigt werden sollten (Kap. 4.4). Nach wie vor ist die praktische Vernunft die entscheidende Instanz eines gelingenden Lebens, und auch wenn neue Technologien nicht zum Nachdenken über Mittel und Ziele der Selbstoptimierung „zwingen“, hindern sie auch niemanden daran. Als Grundhaltung empfehlen sich anstelle des Leitbildes des homo oeconomicus mit verabsolutierten Werten der Effizienz und Produktivität der homo psychologicus mit dem Streben nach Selbstverwirklichung und persönlichem Wachstum und der homo aestheticus mit kreativer, spielerisch-experimenteller Suche nach dem je eigenen Optimum (vgl. Duttweiler, 5/ Maasen 2012/ Meißner, 334). Gemeinwohlorientierung und Gerechtigkeit als sozialethische Prinzipien Aus sozialethischer oder moralphilosophischer Perspektive ist die individualethische Orientierungshilfe der Selbstoptimierung kritisch zu betrachten, weil es um Eigeninteressen und Selbst-Verbesserung statt um Gemeinwohlorientierung und die Verbesserung des Zusammenlebens der Menschen geht. Als allgemeine moralische Pflicht ließe sich Selbstoptimierung höchstens in wenigen Ausnahmefällen wie etwa beim moralischen Enhancement oder einem genetischen Enhancement zwecks „klimaverträglicherer“ zukünftiger Menschen begründen (vgl. dazu Ach 2016, 137 f.; 141 f./ Kap. 4.2; Kap. 5). Aus der verstärkten Beschäftigung mit der eigenen Perfektionierung folgt jedoch nicht strukturell notwendig die viel befürchtete narzisstische Vereinzelung egozentrischer Individuen und die Abnahme der Solidarität gegenüber den Unperfekten (vgl. Kass u. a., 266 f./ Balandis u. a., 149/ King u. a., 295). Moralisch akzeptabel ist nur eine vernünftige verantwortete Selbstoptimierung, bei der wie etwa im „Lifestyle of Health and Systainability“ (LOHAS) die Rücksichtnahme auf Um- und Mitwelt genauso wichtig ist wie persönliche Gesundheit und Glück. Zusätzlich ist aber eine moralische und rechtliche Rahmenordnung undabdingbar, die im Sinne einer solidarischen Leistungsgesellschaft und einer sozialen Marktwirtschaft eine weitere Verschärfung von Konkurrenz und Ungerechtigkeit <?page no="329"?> 329 6 Schluss sowie Diskriminierungen verhindert. Eine marktförmige Verteilung der Enhancement-Technologien würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu geringerer Chancengleichheit und Zugangsgerechtigkeit führen, weil in der freien Marktwirtschaft die ungleichen Startbedingungen bezüglich des sozioökonomischem Status’ und der natürlichen biologischen Grundausstattung nicht berücksichtigt werden (Kap. 2.2/ 4.4). Die sich aufgrund dessen verschärfenden Ungleichheiten sind dem „Schicksals-Egalitarismus“ zufolge ungerecht und müssen nach einem starken Konzept materieller Chancengleichheit ausgeglichen werden, weil niemand besondere Talentprofile oder eine schwächliche Disposition „verdient“ bzw. „verschuldet“ hat. Bei einer sozialstaatlichen Verteilung der Enhancement-Technologien könnte der Staat den Menschen mit ungünstiger natürlicher Ausstattung ein kompensatorisches Enhancement finanzieren und nach nonegalitaristischem „Schwellenprinzip“ allen Menschen das Übertreten einer Schwelle eines guten Lebens ermöglichen, sodass z. B. jemand mit einem schlechten Gedächtnis ein Anrecht auf gedächtnisfördernde Pillen oder einen Gedächtnis-Chip hätte. Dabei wäre zu bedenken, ob nicht im Zeichen einer globalen Gerechtigkeit die Entwicklungshilfe zur Bereitstellung elementarer Grundgüter für alle Menschen auf der Welt Vorrang haben sollte vor der Förderung neuer Enhancement-Technologien in Wohlfahrtsstaaten. <?page no="331"?> 331 4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt Bibliographie Ach, Johann: Komplizen der Schönheit? , in: Ach, Johann u. a. (2006), S. 187-206. Ach, Johann: Gibt es eine Pflicht zur Verbesserung des Menschen? , in: Liessmann, Konrad (2016), S. 116-144. Ach, Johann und Pollmann, Arnd (Hg.): No body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper - Bioethische und ästhetische Aufrisse, Bielefeld 2006. Ach, Johann, Beck, Birgit u.a.: Neuro-Enhancement, in: Erny u. a. (2018), S. 37-56. Agar, Nicholas: Liberal Eugenics. In Defence of Human Enhancement, Oxford 2004. Agar, Nicholas: Truly human enhancement. A philosophical defense of limits, Camebridge 2014. 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Antidementiva 227, 230 Arbeitsverdichtung 30, 274 Argumente ad hominem 183 Analogie- 243-247, 272 f. anthropologische 109-117, 184 f. Bewährungs- 99, 129, 274, 305 christliche/ religiöse 49, 101, 113, 205 f., 315, 323 Dammbruch- 315 Einbettungs-/ Ausdehnungs- 123 f., 243 Fremdbetrugs- 253 ff. Gattaca- 313 Kontingenz- 325 Kontinuitäts- 26, 321 f. Plausibilitäts 108 Selbstbetrugs- 250-253 Traditions- 246 Trickle-down- 277, 314 Verdrängungs- 263-270 Aristotelischer Grundsatz 152 Ästhetik der Existenz 138 Aufmerksamkeit, positive/ negative 125, 144, 148 Aufmerksamkeitssteigerung 225 ff., 230, 244 Authentizität 187-212 als Autonomie 198 als Übereinstimmung 188, 192-195, 204 als zeitliche Kohärenz 196 f., 210 emotionale 188 präreflexive 189 f., 204 Authentizitäts-Modelle identifikatorisch-reflexives 131, 207 f., 211, 237 konservativ-essentialistisches 131, 205 f., 211 kriteriologisches 132, 209 ff. Autonomie, s. Freiheit, Willens- 20, 25 Biokonservatismus 47-52, 101 f., 104, 115, 190, 205, 323, 325 f. absoluter, radikaler/ diskursiver, kriteriologischer 75 f., 326 Bioliberalismus 47, 50-56, 89, 92, 102 ff., 270, 278, 323 ff. radikaler, einfacher/ reflektierter, aufgeklärter 74 f., 324 f. Biopolitik 136 f. Burnout 28 ff. Calvinismus, pharmakologischer 242, 248, 252 f., 255, 258, 268 Chancengerechtigkeit, s. Chancengleichheit 82 Chancengleichheit 82, 162, 287, 329 formale 82, 162, 254 materielle 82 f., 162, 254, 280 f., 329 schwächeres Konzept („social structure view“) 280, 314 <?page no="350"?> 350 Sachregister stärkeres Konzept („brute luck view“) 280 f., 315, 329 Chimären 54 Chirurgie, plastische/ rekonstruktive 122 ff. Cyborg 54, 171 Dankbarkeits-/ Kreativitätsrahmen 48, 209 Datenschutz 159, 224 Determinismus 86, 97, 308 Diskriminierung 138-141, 147, 311 f. Dopamin 178 f., 226, 230 f. Doping 159-165 Druck, sozialer 28, 90 f., 98 ff., 127 f., 134-138, 158, 163, 190, 208, 217, 270-275, 292, 320, 325 Effizienz-/ Leistungssteigerung 15, 28, 31, 212, 225-230, 255, 257, 274 f. Egalitarismus 78-85, 153, 276 Chancen-auf-Wohlergehens- 84 f., 153, 281, 284 Schicksals- („luck“-) 80, 84, 163, 281, 329 Verfahrens- 79, 162, 276-279 wirtschaftsliberaler 79 f. Wohlergehens- („welfare“- 84 Enhancement 19 absolutes, nichtkompetitives 46 autonomes, freiwilliges 43, 289, 292 biomedizinisches 19 direktes/ indirektes 174, 201, 240 f. emotionales 167, 257, 265 f. extrinsisches 45 f., 327 genetisches 280 f., 293-317 heteronomes, staatliches 43, 290 f., 322 intrinsisches 45, 327 kognitives 167, 212, 258, 264 kompensatorisches 42, 199, 229, 236, 240, 254, 285, 329 körperliches 119, 150, 154 ff., 159, 164 moderates 44 ff. moralisches 167, 231-241, 299 f. Motivations- 230 Neuro- 167-172 neurophysiologisches, neurobionisches 169, 173 f., 214, 224, 264 Persönlichkeits- 200-212 pharmakologisches 168, 173-179, 214, 224-231, 265 radikales 44 relatives, kompetitives 46 sozialdemokratisches 43 verdecktes/ implizites 266, 269 Entfremdung 156 f., 180, 188, 192, 205, 322 Ethik 59, 61 f. Allgemeine 59 Angewandte 60, 319 Bio- 61 Diskurs- 61 Gattungs- 303 f. Gefühls-/ Gerechtigkeits- 232 f., 236 f. Individual-, Strebens- 22, 62, 138, 146, 151 f., 326 ff. konsequentialistische 291 Medizin- 61, 141-148 Neuro- 171 Sozial-, Sollens- 62, 77 f., 138, 147, 153, 231-234 utilitaristische 84, 291 Eugenik 280, 290 alte/ neue 291 ff. negative/ positive 290 f., 297, 311 Fairness 162 Fehlschlüsse genetische 107 <?page no="351"?> 351 Sachregister Sein-Sollen- 108, 112, 191 f., 249, 278, 314, 326 Zirkelschluss 107, 113, 129, 191, 249 Freiheit 41, 80, 86-101, 324 Fortpflanzungs-, reproduktionelle 292, 295 Handlungs- (negative) 87-92, 127, 271, 324 Willens-, Autonomie (positive) 41, 93-101, 128 f., 198, 207 f., 223, 260 f., 271, 324 Willkür- 88 Funktionalismus, Informationismus 55 Gedächtnis-Chip 170, 214 Gefühle 174 f. moralische 50, 233 f. reflexive (Gefühle zweiter Ordnung) 195, 198 f. -regungen/ Stimmungen 64, 175 vernünftige/ unvernünftige 193 f. Gefühlstheorien 191 intentionales Modell 180, 199 kognitive 175 f., 191-195, 199 physiologische 175 f., 191 Ursache-Wirkungs-Modell 176, 180, 199 Gehirn-Computer-Schnittstellen 169 ff. Gentechnik 161 Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/ „Nonegalitarismus“ 77-86, 153, 162, 238 f., 253 f., 275-285 Chancen-, s. „Chancengleichheit“ 276 soziale 81 f., 279-282 Verfahrens- 79, 253 Verteilungs-, distributive 81, 276 Wettbewerbs- 80 Zugangs- 275, 329 Gesundheit 39 Minimal-/ Maximalbegriff 35, 38, 124 naturalistisches Konzept 34, 37 normativistisches Konzept 36 f. wissenschaftlicher/ lebensweltlicher Begriff 35, 37 Gesundheits-/ Krankheits-Modelle biostatisches 34, 150 integratives 37 relationales 36 subjektivistisches, lebensweltliches 35, 124, 127 Gesundheitssystem, marktliberales (Präferenz-Effizienz-Modell) 33, 40, 126-130, 148 Glück 23, 63-77, 173-187 Empfindungs-/ Erfüllungs- 63 f., 176, 201, 220 episodisches 64, 133, 179 Flow- 152, 184 Glückshormone 177 ff. Glücks-Paradox 223 f. Glücks-„set point“ 65 illusionäres 66, 74, 182, 186, 194, 265, 268, 327 Lebensdauer-, übergreifendes 64, 66, 68, 133, 194, 200 f. positives/ negatives 133 Subjektivierung/ Psychologisierung des 22 f., 63 Welt-Selbst-Verhältnis 67, 76, 185, 199, 211, 221 Wohlbefinden/ Wohlergehen 64, 66, 176, 185, 201, 220 Glückstheorien Gütertheorie/ Objektive-Liste-Theorie 72 ff., 76, 152, 211, 216, 220, 327 gutes Leben 63 f. Hybridtheorie 75 f. <?page no="352"?> 352 Sachregister subjektivistische/ objektivistische 63, 74 f. Wunsch-/ Ziel-Theorie 69 ff., 75 f., 152, 185, 187, 201, 211, 221, 223, 256, 327 Güter Grund-, elementare 281 f. gutes Leben 189 positionale/ absolute 218 Halo-Effekt 133, 139, 147 Hedonismus 67 f., 75, 152, 176, 179, 181 f., 187, 191, 199, 220, 327 attitudinaler 69, 182 naiver/ reflektierter 67 f. qualitativer/ quantitativer 69 Hirn-Doping 10, 167, 247, 254, 277 homo aestheticus 328 modificans 26 oeconomicus 16, 328 psychologicus 328 Humanismus 53 f. Identität 17, 201 ff. Identitätsstörung/ -krise 130 ff., 203 Identitätsverlust/ -wechsel 202 f., 206 numerische/ personale 202 f. Individualisierungsprozesse 20 ff., 25 f., 29, 322 Intelligenz 213-217, 297, 301, 327 biologische/ kulturbedingte 213 f. emotionale 215, 219 kognitive 214 künstliche 54, 171, 212, 320 und Glück 216-224 Kognition 213 f. Kohärenz, diachrone/ synchrone 196, 262 Kryptonormativität 113, 115, 246 f., 291 Lebensverlängerung 148-154 Leistungsdruck 15, 28, 217 Liberalismus 25 f., 50, 88, 126-130, 162 f., 292, 295 Libertarismus 79, 81, 276 f. Lifelogging 155 LOHAS 25, 328 Lookism 138, 147 Manipulation 98 Medikalisierung 36, 268 ff., 328 Medizin Anti-Aging- 149 f. Enhancement- 32 wunscherfüllende/ kurative 31 f., 38, 143, 147 Menschenbilder 117 f., 320 deskriptive/ normative 117 technizistische 16, 117 f., 255 ff. Mensch, s. auch „Anthropologie“ „homo“ 111-117 genealogisches Kriterium 111 genomisches Kriterium 111 f. Kulturwesen (normative Bestimmung) 114-117 Naturwesen (deskriptive Bestimmung) 111 ff. phänotypisches Kriterium 111 Methylphenidat 125, 226, 228, 239, 266 f. mind uploading 55, 149 Modafinil 226 f., 229 Motivation, extrinsische/ intrinsische 157, 219, 221, 251, 287, 327 Narzissmus 78, 187 f., 328 Natur 106-117 außermenschliche/ menschliche (klassifikatorische Unterscheidung) 106, 109, 191 deskriptiver/ normativer Begriff 325 f. <?page no="353"?> 353 Sachregister menschliche 49, 72, 102, 109-117, 248, 303 f., 306, 316, 325 f. Natürlichkeit 160 f. genetische 107, 192, 248, 289 Natürlichkeit/ Künstlichkeit (komparative Unterscheidung) 106 f., 109, 160 f., 190 ff., 246, 248 f., 328 qualitative 107, 192, 248 Neoliberalismuskritik 15, 29, 80, 157 f., 275, 322 f. Neurodeterminismus 172 Neuroprothesen 169 f. Neurotranszender 170 Neurowissenschaften 171, 212 Nonegalitarismus (Inegalitarismus) 78, 85 f., 153, 276, 283-288, 329 Noradrenalin 178 f., 226 f. Normalität 105 f., 123 ff., 137, 285 f. biostatische 34, 106, 285 deskriptiver/ normativer Begriff 105 f. statistische 106, 286 Ökonomisierung der Lebenswelt 15, 28, 255, 257, 322 Optimierung, Optimum 11, 13 ff., 26 f., 157 Optimismus, naiver/ funktionaler 26 Oxytocin 234 ff., 267 f. Perfektionismus/ perfektionistisch 31 Persönlichkeit 201, 203, 209 Pharmakologie, kosmetische 177, 200 Posthumanismus 52-56, 112, 116, 320 f. Propanolol 227 Prozac 168, 173-179, 190, 194-201, 211 Psychiatrie, biologische 176-179, 205 Psychologie humanistische 21 positive 23 Quantified-Self 11, 154-159 Rechte (auf) Menschen- 104 Privatsphäre 159 Ritalin 168, 226, 266 f., 269 Roboterethik 56 Schönheit 120 ff. Schönheitsideale 122, 136, 139 ff., 145 Schönheitsoperationen 120-148 Selbst 17 f., 204, 209 erschöpftes 28 unternehmerisches 9, 27 Selbstausbeutung 15, 29, 157, 322 Selbstkonzept/ -bild 18, 203, 209 Selbstmanagement 16, 24 Selbstoptimierung 9 ff., 13 enger/ weiter Begriff 10, 12, 16, 19, 320 negative Aspekte 25, 27 ff., 31 positive Aspekte 24 f. Selbststeuerungsfähigkeit/ Selbstkontrolle 100 f., 267, 297, 301, 327 Selbstverwirklichung 21, 70, 260 f., 328 aspiration-fulfillment-Modell 22 capacity-fulfillment-Modell 22 Serotonin 177 f., 234 ff. Solidaritätsverlust 158, 311 f., 328 Stimmung 175-181 Stimmungsaufheller 177 ff., 200 Stimulanzien 160, 225 ff., 229 ff., 252 Tätigkeiten extrinsische/ ergebnisorientierte 45, 217 f., 252, 327 intrinsische/ praxisorientierte 45, 216, 218, 222, 251 f., 327 Technikkritik 16, 110, 320 f. Therapie-Enhancement-Unterscheidung 38, 266, 285 f. <?page no="354"?> 354 Sachregister Transhumanismus 52-56, 294, 321 kohlenstoffbasierter/ siliziumbasierter 54 Unsterblichkeit 148 f. biologische 150 körperliche 149 kybernetische 53, 149 Verdinglichung 156 f., 258, 320 Wettbewerb 90 f., 135, 217, 253 ff., 270 ff., 276 f., 287, 322 Wünsche 70, 94, 327 aufgeklärte/ unaufgeklärte 70 f., 95, 132, 261, 327 erster/ zweiter Ordnung 96, 99, 129, 198, 208, 256 informierte/ uninformierte 71, 95, 327 neurotische 71, 95, 132, 327 Würde 101-104, 291, 295, 300-304 äußere Würde-Darstellung 103 individualisierende/ Gattungsbetrachtung 102 f., 303 innere, s. auch „Willensfreiheit“ 103 Ziele 70, 94, 223, 256 <?page no="355"?> 355 Personenregister Ach, Johann 13, 16, 31, 46, 91, 98, 117, 145, 187, 200, 231, 233, 239, 271 f., 275, 298, 300, 303, 319, 328 Agar, Nicolas 43 f., 46, 290 ff., 315 Annas, George 48, 56, 313 f. Aristoteles 67, 72, 113, 216, 220, 222 Arneson, Richard 84, 282 BBaier, Horst 35, 127 Bayertz, Kurt 62, 73, 75 f., 110, 121, 173, 181, 185, 201, 233, 238 Beck, Ulrich 189 f., 204, 207, 232, 236 f., 240, 300 Bentham, Jeremy 67, 176 Bieri, Peter 93-96, 99 f., 118, 273 Birnbacher, Dieter 54, 62-65, 68, 77, 105 ff., 109 ff., 113, 116 ff., 139, 161, 163, 186 f., 192, 195, 248 f., 252, 302 f., 306 Boorse, Christopher 34, 106 Borkenhagen, Ada 120, 122, 132 ff., 142 Bostrom, Nick 52 f., 56 f., 283 Brock, Dan 39, 43 f., 46, 139, 218 f., 250, 279, 281 f., 287, 291, 297, 304 ff., 311, 315 Bröckling, Ulrich 9, 15, 27, 29 Buchanan, Alan 35, 39, 41, 44, 106, 238, 241, 281 f., 285 f., 290, 292-297, 299, 304 f., 307, 311 ff., 317 CCaplan, Arthur 150 Csikszentmihalyi, Mihaly 152, 184, 208 DDaniels, Norman 34 f., 41, 106, 280 f., 285 Davis, Kathy 124, 128, 130 f., 135 Degele, Nina 121 f., 128, 132 DeGrazia, David 202 f., 207 f. Douglas, Thomas 240 Duttweiler, Stefanie 12, 24, 29, 154-158, 165, 328 EEarp, Brian 231 f., 234-237, 239 f. Ehrenberg, Alain 28 Eissa, Tina-Louise 47, 114, 116 f., 301, 308 Elliott, Carl 180, 190, 202, 205, 207 f., 258 Engels, Eve-Marie 108, 170 FFarah, Martha 50, 52, 212, 278 Feinberg, Joel 304 Fink, Helmut 42, 169, 172, 271 Foot, Philippa 72 f., 76, 113 Foucault, Michel 119, 136, 138, 207 Frankfurt, Harry 28, 96, 101 Freedman, Carol 180, 266 Freud, Sigmund 176 Fukuyama, Francis 48 f., 57, 102, 111, 113, 115, 117, 181, 200, 314 GGalert, Thorsten 50 ff., 88, 202 f., 206 Gamm, Gerhard 9, 25, 28 Gesang, Bernward 19, 42-45, 51 f., 55, 57, 109 ff., 115 f., 149, 162, 178, 207, 214 f., 252, 257, 275, 278 f., 282, 287, 292 f., 303, 305, 307 f., 310, 313 ff., 321, 323 f. Glover, Jonathan 44, 290, 294, 315 Griffin, James 70 f., 75 Gugutzer, Robert 9, 31, 157 HHabermas, Jürgen 48, 57, 61, 289, 297, 300-303, 305, 307-310, 316 f., 325 Han, Byung-Chul 157 Harris, John 13, 53, 57, 237 ff., 294 Personenregister <?page no="356"?> 356 Personenregister Heilinger, Jan-Christoph 19, 49, 62, 107, 109 ff., 114-117, 151 f., 171, 174, 253, 321 f. Hermann, Beate 121 f., 127, 129, 131, 135 Hildt, Elisabeth 86, 167, 171 f., 217, 225, 230 f., 253 Horkheimer, Max 156 Huxley, Aldous 52, 181 JJuengst, Eric 39, 248, 250, 253 KKahane, Guy 182 Kant, Immanuel 27, 103, 220 Kass, Leon 27, 48 ff., 57, 62, 101 f., 113, 149, 151 f., 177 f., 180-183, 185 f., 202, 205, 250, 275, 294, 307, 309, 311, 325, 328 Kettner, Matthias 31 ff., 129, 327 King, Vera 9, 15, 28-31, 78, 328 Kipke, Roland 15 f., 18, 22, 70, 96 f., 100 f., 182 f., 185, 202 f., 205 ff., 209 f., 237, 243, 245, 258 f., 261 f., 264, 271, 273 f., 325 Knoepffler, Nokolaus 289 Kramer, Peter 177 f., 181, 185, 187, 195, 197 f., 200 f., 205 f., 208, 211, 221, 242, 265 Kraut, Richard 72 f. Krebs, Angelika 78, 85 f., 283 ff. Kurzweil, Ray 53 ff. LLeefmann, Jon 20, 95 f., 100, 132, 173, 187-191, 196, 202, 204-207, 209-212, 227, 229, 244, 247 f., 260 f. Lenk, Christian 27, 34, 36 f., 163, 277, 290 ff., 295, 300 Lieb, Klaus 178, 226-230, 247, 254 f., 265 f., 272, 277 Liessmann, Konrad 16, 118 Little, Margaret 129, 139 ff. Lüttenberg, Beate 165 Maasen, Sabine 135 f., 328 Maio, Giovanni 28, 33, 138, 150, 245, 255, 258 Margalit, Avishai 85 Meili, Barbara 120, 123-126 Meißner, Stefan 14 ff., 155-158, 323, 328 Metzinger, Thomas 105, 215 f., 225 ff., 230, 241 Mill, John Stuart 67, 69, 184 Mühlhausen, Corinna 9 f., 14, 29, 35, 119 f., 159, 164 Müller, Oliver 54, 106, 108, 111 ff., 115, 217, 304 Murray, Thomas 160, 162 f. NNagel, Saskia 42, 62, 105, 174, 301 Nietzsche, Friedrich 207, 221, 290 Nozick, Robert 68, 79, 183, 292 Nussbaum, Martha 72 f., 76, 83 f., 153, 216, 282 PParens, Erik 48, 267 f. Pawlenka, Claudia 160 ff., 165, 252 Persson, Ingmar 232, 234 ff., 240 f., 298, 300 QQuante, Michael 312 RRanisch, Robert 46 f., 49 f., 52, 115, 219, 306, 308, 314 Rawls, John 48, 70 f., 81 ff., 152, 162, 233, 280 ff., 286 Rosa, Hartmut 274, 323 Ruck, Nora 136 Runkel, Thomas 73, 186, 208, 263, 267 SSandel, Michael 48 f., 292, 311 f., 316, 323, 325 Sartre, Jean-Paul 207 f., 252 <?page no="357"?> 357 Personenregister Savulescu, Julian 20, 53 f., 57, 62, 217, 219 f., 234 f., 240, 275, 278, 282 ff., 286, 294, 297 f. Schleim, Stefan 13, 46, 178 f., 230, 253, 270 Schmid, Wilhelm 23, 31, 138 Schöne-Seifert, Bettina 50, 57, 288 Schopenhauer, Arthur 221 Schramme, Thomas 36 f., 150, 163 Seel, Martin 64 ff., 70, 76, 195 Selke, Stefan 21, 28, 155-158 Sen, Amartya 78, 83 Siegetsleitner, Anne 55, 283 Slote, Michael 28 Sloterdijk, Peter 290 Sorgner, Stefan 52-57, 149 f., 235, 237, 239, 241, 289 f., 313 ff. Steinfath, Holmer 64 f., 69, 71, 74, 76, 180, 191, 223 Straub, Jürgen 9, 26, 132 ff., 136, 139, 300 Synofzik, Matthias 33, 38 ff. TTalbot, Davinia 40, 168, 172, 224, 228, 242, 251, 253 UUhlendorf, Niels 15, 25, 29 f. VVaas, Rüdiger 170, 186, 215 Villa, Paula-Irene 128, 165, 320 WWagner, Greta 10, 169, 172, 205 f., 229 f., 268, 276 ff., 288, 323 Walzer, Michael 85 Welling, Lioba 289 ff., 317 Werner, Micha 34 Whitehouse, Peter 161, 249 Wiesing, Urban 26, 120, 125, 143-146