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Die Republikanische Partei in den USA

1007
2019
978-3-8385-5238-5
978-3-8252-5238-0
UTB 
Philipp Adorf

Tiefe Gräben durchziehen die politische Landschaft der USA. Die beiden großen Parteien des Landes sind in ideologischen Fragen gespaltener denn je und ihre Anhänger betrachten sich ebenfalls mit Misstrauen, wenn nicht gar Antipathie. In Deutschland wird vielfach Donald Trump eine entscheidende Verantwortung für diese Polarisierung zugewiesen, doch in Wahrheit liegt sie hauptsächlich bei der Republikanischen Partei, die sich seit den späten 1960er Jahren kontinuierlich radikalisiert hat. Trump hat deshalb die Partei nicht übernommen, wie in der deutschen Berichterstattung vielfach argumentiert wird, sondern der Weg der Republikaner führte in den letzten fünf Jahrzehnten auf Trump zu. Will man also verstehen, was heute in den USA auf politischer und gesellschaftlicher Ebene abläuft, muss man sich mit der Grand Old Party beschäftigen, die seit 1994 (mit Ausnahme von vier Jahren) das US-Repräsentantenhaus dominiert und seit der Wahl Richard Nixons 1968 achtmal das Präsidentenamt gewinnen konnte (Demokraten: fünfmal).

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 5238 UTB (S) Impressum_19.indd 1 20.02.19 12: 37 <?page no="3"?> Philipp Adorf Die Republikanische Partei in den USA UVK Verlag · München <?page no="4"?> Dr. Philipp Adorf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlag 2019 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: © iStockphoto, CCaetano Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck UVK Verlag Nymphenburger Straße 48 80335 München Tel.: 089/ 452174-65 www.uvk.de Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 72070 Tübingen Tel.: 07071/ 9797-0 www.narr.de UTB-Nr. 5238 ISBN 978-3-8252-5238-0 <?page no="5"?> Inhalt 1 Einleitung ............................................................................ 7 2 Die Eroberung des Südens ........................................ 13 2.1 Die Republikaner und der Süden - ein Jahrhundert gegenseitiger Animosität ................................................13 2.2 Goldwaters Niederlage - Anfang der erfolgreichen Southern Strategy ...............................................................28 2.3 Der Süden wird rot - Nixons Adjustierung der Southern Strategy ...............................................................41 2.4 Ronald Reagan - Die Perfektionierung der Southern Strategy ...............................................................57 2.5 Die Southern Strategy nach Reagan ...............................84 3 Die Zusammensetzung der Republikanischen Partei des 21. Jahrhunderts ...................................... 93 3.1 Die Republikanische Partei auf der Ebene der politischen Elite .................................................................94 3.2 Christlich-konservative Wähler ..................................104 3.3 Die Tea Party....................................................................114 3.4 Donald Trump - die Krönung der Southern Strategy? .............................................................................128 3.5 Die Partei der weißen Arbeiterklasse .........................142 4 Die zukünftigen Herausforderungen der Republikaner ................................................................ 149 4.1 Der demographische Wandel der USA ..........................150 4.1.1 Veränderungen der ethnischen Zusammensetzung des Landes .........................................................................150 <?page no="6"?> 6 Inhalt 4.1.2 Republikanische Defizite in weiteren wachsenden Segmenten der US-Bevölkerung .................................159 4.1.3 Die Säkularisierung des Landes...................................173 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts.....180 4.2.1 Redistricting und das Ungleichgewicht der Repräsentation .................................................................180 4.2.2 Maßnahmen zur Einschränkung des Wahlrechts...188 4.3 Die Republikanische Partei heute ...............................201 4.4 Die amerikanische Demokratie in der Trump-Ära ..212 5 Fazit ................................................................................... 221 Literaturverzeichnis ............................................................... 229 Index ............................................................................................. 263 <?page no="7"?> 1 Einleitung Die Trump-Kandidatur und ihr schlussendlicher Erfolg stellten Analysten, Wissenschaftler und das Führungspersonal der Republikanischen Partei vor ein Rätsel. Der politisch vollkommen unerfahrene Immobilienmogul konnte sich trotz einer Vielzahl von Skandalen in einem Feld voller republikanischer Politgrößen durchsetzen und schlug mit Hillary Clinton eine Gegnerin, deren Sieg nur wenige Wochen vor der Wahl noch als sicher galt. Um dieses Rätsel zu begreifen, wurden darauffolgend Trump-Wähler wie Patienten einer unheilbaren Krankheit untersucht. Warum hatten sich beispielsweise gerade die weißen Amerikaner ohne Hochschulabschluss (die sogenannte White Working Class) mit einer überwältigenden Mehrheit für Trump entschieden? Wie schaffte es dieser Mann, trotz seiner Affären und im allgemeinen chauvinistischen Ansichten, eine klare Mehrheit der weißen Wählerinnen des Landes auf seine Seite zu bringen? Auch wenn gerade als Folge der Trump’schen Rhetorik republikanische Politiker in regelmäßigen Abständen die Behauptung aufstellen, Trump verrate mit seiner ressentimentgeladenen Politik die Ideale der Partei Lincolns 1 , ist es gerade die Wählerschaft des 45. Präsidenten, die einen Aufschluss über sein Erfolgsgeheimnis liefert. Vielleicht noch viel wichtiger im Kontext dieser Untersuchung legt sie Trumps ideologische Einbettung innerhalb der Republikani- 1 Siehe beispielsweise den Gastkommentar des ehemaligen republikanischen Senators John C. Danforth in der Washington Post unter dem Titel „The Real Reason Trump is not a Republican“ (24. August 2017). Hier argumentiert der Autor, Trump breche mit den Werten, auf denen die Republikanische Partei etabliert wurde. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, stellen Trump und seine Politik die Konsequenz der Entwicklung der Republikanischen Partei seit den 1960er Jahren dar. <?page no="8"?> 8 1 Einleitung schen Partei des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts offen. Donald Trumps Kandidatur und sein innerparteilicher Erfolg auf der Basis seines nativistischen 2 Populismus wären ohne die jahrzehntelange Vorarbeit anderer republikanischer Politiker und Strategen nicht möglich gewesen. Gerade weil Donald Trump als explizit republikanisches Phänomen und nicht als Akteur, der in der Methodik der Geschäftswelt eine „feindliche Übernahme“ der Partei umsetzte, verstanden werden muss, wird der Fokus des vorliegenden Buches auf den Aspekten liegen, die Trumps erfolgreiche republikanische Kandidatur ermöglichten, die seine Popularität in den eigenen Reihen erklären und die darüber hinaus die Zukunft der Republikanischen Partei bestimmen werden. Dies bedeutet eine klare Fokussierung auf den Themenkomplex Race in der amerikanischen Politik sowie eine Analyse der elektoralen Nachfrageseite, das heißt der republikanischen Wählerschaft, die sich dank der strategischen Ausrichtung der Partei seit den 1960er Jahren herausgebildet hat. Ein zentraler Schlüssel zu Trumps Erfolg lässt sich schlussendlich in seinen Appellen an die Ressentiments und Ängste der republikanischen Kernwählerschaft und der gemeinsamen populistischen Grundhaltung finden. Im letzten halben Jahrhundert hat sich die Republikanische Partei zu einem Experten in der Nutzung von „Identity Politics“ in der Wählergewinnung entwickelt. Nicht zuletzt dank dieser republikanischen Strategie ist im heutigen politischen Umfeld die eigene Identität - im konkreten Falle die ethnische Zugehörigkeit - zu einer der zentralen gesellschaftlichen 2 Im politikwissenschaftlichen Kontext wird der Nativismus als eine Mischung von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit definiert. Entsprechend dieser Sichtweise sollen die eigene Nation und deren Kultur so weit wie möglich von fremden Elementen (Migranten aber auch „fremde“ Ideen) geschützt werden, die als Gefahr für den bevorzugt homogenen Nationalstaat angesehen werden. Vgl. Mudde, Cas (2007): Populist Radical Right Parties in Europe, S. 18-19. <?page no="9"?> 1 Einleitung 9 und politischen Konfliktlinien in den Vereinigten Staaten geworden. Politik wird hierbei innerhalb eines beträchtlichen Teils der republikanischen Stammwählerschaft immer stärker als Kampf der verschiedenen ethnischen Gruppen wahrgenommen, in dem der Anstieg an politischem Einfluss der Minderheiten (nicht zuletzt symbolisiert durch den Sieg Barack Obamas) unweigerlich auf Kosten der eigenen politischen Relevanz kommt. Es ist ein Narrativ, das von republikanischer Seite seit Jahrzehnten genährt wird - Donald Trumps Triumph stellt hierbei in gewisser Weise nur das jüngste Beispiel dieser bewährten Strategie dar. Ziel des vorliegenden Buches ist es, den heutigen Zustand der Republikanischen Partei auf der Basis einer historischen Aufarbeitung näher zu erläutern und aufzuzeigen, welche Konsequenzen die ideologische Verfassung der Partei für die konservative Mehrheitsfindung in einem Land hat und haben wird - einem Land, dessen demographische Entwicklung die Republikaner vor immer größere Probleme stellen wird. Gegenüber einer Wählerschaft, die immer säkularer, gebildeter und weniger weiß geworden ist (und werden wird), präsentiert sich die Republikanische Partei kurz vor der Präsidentschaftswahl 2020 als eine Partei der weißen, (christlich-)konservativen Wählerinnen und Wähler ohne Hochschulabschluss. Es ist gerade der Weg zu dieser Zusammensetzung, der im historischen Teil des vorliegenden Werkes erläutert wird. Verstanden werden können der heutige Zustand der Partei sowie das Phänomen Trump nur im Kontext des parteipolitischen Wandels einer Region des Landes: den Südstaaten. Die Transformation des Südens von der Bastion des demokratischen Solid South in die Herzkammer der Republikanischen Partei hat Veränderungen innerhalb des Parteiensystem der Vereinigten Staaten bewirkt wie keine andere jüngere Entwicklung und die Republikaner zur Partei Trumps verwandelt. Dementsprechend fängt die historische Analyse der Republikanischen Partei der Neuzeit mit der diesbezüglichen Stunde Null an: Der Präsidentschaftswahl von 1964. In ihr trat der republikanische Kandidat Barry Goldwater auf <?page no="10"?> 10 1 Einleitung einer programmatischen Plattform an, deren Absicht darin bestand, die weißen Wähler des Südens zu erobern. Bis zu diesem Jahrzehnt fest in demokratischer Hand (da im Süden die Demokratische Partei die Partei der Befürworter der Rassentrennung war), sahen republikanische Politiker und Strategen die Region der ehemaligen Confederacy als Fundament zukünftiger konservativer Mehrheiten. Auch wenn Goldwater 1964 eine klare Niederlage hinnehmen musste, bewies die Southern Strategy der Partei ihr Potenzial, denn ihr Kandidat gewann im Süden Einzelstaaten, die seit fast einem Jahrhundert fest in demokratischer Hand gewesen waren. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde diese Strategie der Eroberung des Südens insbesondere von Richard Nixon und Ronald Reagan ausgebaut und perfektioniert. Die heutige Republikanische Partei ist ein Ergebnis dieses Masterplans. Sie hat die Republikaner des 21. Jahrhunderts zu einem ideologisch gefestigten Konstrukt weißer Wähler gemacht, die ihrerseits die Werte des „weißen Südens“ in vieler Hinsicht widerspiegeln. Migration und den wachsenden Bevölkerungsanteil der Minderheiten betrachtet der durchschnittliche Republikaner heute mit Sorge und Argwohn. Die Kapitel bezüglich der heutigen Zusammensetzung der Republikanischen Partei zeigen im Detail auf, wie sehr diese Partei auch auf der Nachfrageseite ein Produkt der Entscheidungen der frühen 1960er Jahre ist. Die Republikanische Partei des 21. Jahrhunderts ist die Partei der amerikanischen Südstaaten und damit auch der weißen evangelikalen Christen. Sie stellen einen überproportional hohen Teil der Parteianhänger dar und dominieren mit ihren konservativen Standpunkten weiterhin die Agenda der Partei in gesellschaftspolitischen Fragen. Die Tea Party besitzt ebenso Wurzeln, die ein halbes Jahrhundert zurückreichen. Die Opposition der Bewegung gegen Barack Obama basierte oft mehr auf der Hautfarbe des Präsidenten denn seinen konkreten politischen Vorstößen. <?page no="11"?> 1 Einleitung 11 Viele Schlussfolgerungen bezüglich des Elektorats der Tea Party treffen auch auf die Wählerschaft Donald Trumps zu. Dessen Fokussierung auf die Statusängste bestimmter Segmente der weißen Wählerschaft des Landes evoziert Erinnerungen an die Kampagnen von Goldwater, Nixon und Reagan in vorherigen Jahrzehnten. Trumps nativistischer Populismus konnte innerhalb der Partei nur erfolgreich sein, da die Vorarbeit dieser Akteure eine Kernwählerschaft mit rassistischen und xenophoben Ressentiments im republikanischen Lager geschaffen hat, die heute eine beträchtliche Größe besitzt und auch in zukünftigen Jahren Vorwahlen entscheiden könnte. Diese Strategie steht jedoch mit jeder Wahl vor einer größeren Herausforderung. Zusammengefasst gesagt gehen der Republikanischen Partei die Wähler aus. Denn so gut wie jeder demographische Trend des Landes spricht für ihren demokratischen Gegner. Kapitel 4 wird diese Entwicklungen und das Ausmaß der Kluft zwischen den Republikanern und den wachsenden Wählergruppen aufzeigen. Es ist eine Kluft, deren Größe die Frage aufwirft, ob die Republikaner sie jemals überwinden können - und damit auch die Zukunft der Partei infrage stellt. Nicht zuletzt da die republikanische Stammwählerschaft mit einer Wagenburgmentalität auf den demographischen Wandel reagiert. Sie interpretiert diesen als Gefahr für den eigenen gesellschaftlichen Status und die Werte des Landes. Für die amerikanische Demokratie birgt diese Sichtweise auch Gefahren in sich, da fragwürdige republikanische Maßnahmen des Machterhalts (wie die Durchsetzung von Restriktionen bezüglich der Nutzung des Wahlrechts) in den eigenen Reihen Unterstützung finden. Der Werdegang der Republikanischen Partei liefert somit auch Einblicke in die allgemeinen Herausforderungen, mit denen sich die amerikanische Demokratie im 21. Jahrhundert konfrontiert sieht. <?page no="13"?> 2 Die Eroberung des Südens Es waren gerade drei Politiker, die mit verschiedenen Strategien die heutige Republikanische Partei prägen sollten. Barry Goldwater, Richard Nixon und Ronald Reagan weisen grundsätzlich unterschiedliche politische Werdegänge und Erfolge auf. Goldwater konnte in der Präsidentschaftswahl 1964 nicht mehr als eine Handvoll von Einzelstaaten gewinnen, während Nixon das Weiße Haus als politischer Aussätziger verließ und Reagan zu einer Ikone des amerikanischen Konservatismus wurde. Doch die politischen Entscheidungen des Trios haben die Republikanische Partei in einem Ausmaß verändert, das sich gerade auch in der Trump-Ära erkennen lässt. Es ist die Geschichte einer Partei, die nach einem Jahrhundert der politischen Pleiten im amerikanischen Süden während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur dominanten Kraft in der Region wurde. Es ist somit auch die Geschichte einer politischen Transformation, die in einem nicht unbeträchtlichen Maße auf rassistischen Ressentiments beruht, die heute wieder verstärkt einen beachtenswerten Einfluss auf den politischen Diskurs des Landes ausüben. 2.1 Die Republikaner und der Süden ‒ ein Jahrhundert gegenseitiger Animosität Die amerikanische Politik von heute lässt sich auf Entscheidungen führender Politiker in den 1960er Jahren zurückführen. Vergleicht man die heutzutage ideologisch klar definierte Demokratische und Republikanische Partei mit ihren Pendants vor einem halben Jahrhundert, erscheint es fast unfassbar, dass sich aus diesen Gruppierungen innerhalb von einigen wenigen Jahrzehnten gänzlich andere politische Gebilde entwickeln sollten. Ist der amerikanische <?page no="14"?> 14 2 Die Eroberung des Südens Nordosten heute eine Bastion der Demokratischen Partei, so war er in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine Region, in der republikanische Kandidaten eine Mehrheit der Abgeordneten stellten. Das Etikett einer „Partei“ mögen die Demokraten in dieser Ära des „Fünften Parteiensystems“ der Vereinigten Staaten (zwischen den 30er und 60er/ 70er Jahren des 20. Jahrhunderts) aufgrund ihrer fundamentalen internen Differenzen vielleicht gar nicht verdient haben. Sie setzte sich zusammen aus liberal-progressiven Akteuren aus dem Norden des Landes sowie erzkonservativen Südstaatlern, die ihrerseits alles daransetzten, die Unterdrückung ihrer schwarzen Mitbürger auch ein Jahrhundert nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges fortzuführen. Mit dem Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung der frühen 1960er Jahre stießen die Demokraten auf eine Weggabelung, die unweigerlich zu einem Bruch der Partei und somit einer fundamentalen Neuausrichtung des amerikanischen Parteiensystems führen musste. Im Zentrum dieser Neuausrichtung sollten die Südstaaten sowie die Frage der Rassenbeziehungen stehen. Der amerikanische Süden, der Themenkomplex Race und die Entwicklung der Republikanischen Partei sind seit jeher untrennbar miteinander verbunden. Es war der Kampf gegen die weitere Ausbreitung der Sklaverei, der 1854 zur Gründung der Republikanischen Partei führte und diese somit unverzüglich zum Erzfeind des politischen Establishments des Südens machte. Anlass zur Parteigründung bot die Verabschiedung des Kansas-Nebraska Act im selben Jahr, der den drei Jahrzehnte alten Missouri Compromise verwarf. Letzterer hatte 1820 die Sklaverei nördlich des Breitengrades 36°30‘ in neuen Staaten westlich des Mississippi (bis auf Missouri) für illegal erklärt. 1854 schlug nunmehr der demokratische Senator Stephen A. Douglas vor, dass die Siedler in den neuen Territorien im Westen selbst über die Frage der Legalität der Sklaverei in den Gebieten entscheiden sollten. Mit der Verabschiedung des Gesetzes im Mai 1854 geriet das delikate Gleichgewicht zwischen Pro- und <?page no="15"?> 2.1 Die Republikaner und der Süden 15 Anti-Sklaverei-Staaten somit endgültig ins Wanken. Für Gegner des Kansas-Nebraska Act symbolisierte dieser in vielerlei Hinsicht einen Verrat an den amerikanischen Idealen, nicht nur aufgrund des potenziellen Ausbaus der Sklaverei und der damit fortwährenden Unterdrückung von, zum damaligen Zeitpunkt, über drei Millionen Menschen. 3 Die geplante Reform schien zudem aufzuzeigen, dass die mächtigen Sklavenbesitzer (für die das Label der „Oligarchen“ passend erscheint) im Kongress politischen Einfluss erkauft hatten. Dieser Einfluss, so die Befürchtung, würde in den darauffolgenden Jahren nur noch weiter ansteigen. In den landwirtschaftlich vielversprechenden Regionen des Westens würden die Sklaverei-Magnaten zweifelsfrei ihre ökonomische Dominanz erweitern und damit ihren politischen Einfluss ebenso. 4 Am Tag nach der Verabschiedung des Kansas-Nebraska Act sollten in der amerikanischen Hauptstadt ungefähr 30 Abgeordnete zusammenkommen, die sich als Ziel vornahmen, eine weitere Verbreitung der Sklaverei in den Westen mit allen erdenklichen Mitteln zu verhindern. Israel Washburn, Mitglied der konservativen und marktliberalen Whig-Partei und Repräsentant aus Maine, war nicht nur der Initiator dieses Treffens, sondern schlug auch einen Namen für die neugeborene Partei vor: Republikaner. Damit griff Washburn die Idee anderer unzufriedener Aktivisten auf. Bereits anderthalb Monate zuvor waren ehemalige politische Unterstützer der demokratischen und Whig-Parteien in Ripon, Wisconsin, mit dem Ziel zusammen gekommen, eine neue Partei des Republikanismus zu gründen. 5 Der Name Republicans sollte die Ideale der amerikanischen Revolution in Erinnerung rufen - schließlich war es Thomas Jefferson, 3 Vgl. Gould, Lewis (2003): Grand Old Party: A History of the Republicans, S. 7. 4 Vgl. Richardson, Heather Cox (2014): To Make Men Free: A History of the Republican Party, S. 6-7. 5 Vgl. Gienapp, William E. (1987): The Origins of the Republican Party, 1852-1856, S. 89; Gould (2003), S. 14. <?page no="16"?> 16 2 Die Eroberung des Südens Autor der Unabhängigkeitserklärung und ihres „All men are created equal“-Grundsatzes, der seiner eigenen politischen Bewegung denselben Namen gegeben hatte. 6 Die parteipolitischen Verhältnisse sowie darauffolgende regionale Spaltungen, die durch die Neugründung der Republikanischen Partei geschaffen wurden, sollten ein beachtliches Maß an Resilienz und Stabilität vorweisen. Die elf Einzelstaaten der Confederacy, 7 die zwischen 1861 und 1865 für die Aufrechterhaltung der Sklaverei zu den Waffen griffen, blieben auch nach dem Ende der politischen Aufarbeitung des amerikanischen Bürgerkrieges für fast ein Jahrhundert weiterhin fest in demokratischer Hand. Betrachtet man die heutige Zusammensetzung der Demokratischen Partei, erscheinen diese regionalen Mehrheitsverhältnisse schier unglaublich. Doch der Blick auf die Entwicklungen der Ära des amerikanischen Bürgerkrieges liefert Aufschluss über den ideologischen Aufbau des damaligen Parteiensystems. In den Kämpfen zwischen den Abolitionists und den Befürwortern des unmenschlichen Systems der Sklaverei, befanden sich auf ersterer Seite vornehmlich die neu gegründeten Republikaner, auf letzterer hauptsächlich Demokraten. Versinnbildlicht wurde dieser Streit durch einen Vorfall im Mai 1856. Im Kongress hatte der republikanische Senator aus Massachusetts, Charles Sumner, eine Brandrede gegen die Institution der Sklaverei im Allgemeinen und den Kansas-Nebraska Act im Speziellen gehalten. Sumner beschrieb den Akt als „crime“ sowie - in Bezug auf die neuen Territorien des Landes und der dortigen potenziellen Durchsetzung der Sklaverei - als „rape of a virgin territory, compelling it to the hateful embrace of slavery“. 8 6 Vgl. Richardson (2014), S. 8. 7 Alabama, Arkansas, Florida, Georgia, Louisiana, Mississippi, North und South Carolina, Tennessee, Texas, und Virginia. 8 Zitiert in: Sumner, Charles (1856): Speech of Hon. Charles Sumner in the Senate of the United States, 19 th and 20 th May, 1856, S. 5 <?page no="17"?> 2.1 Die Republikaner und der Süden 17 Ziel weiterer Attacken war unter anderem Andrew Butler, demokratischer Senator aus South Carolina und damit ein glühender Verfechter der Sklaverei. Unter Nutzung sexueller Allegorien beschrieb Sumner die „Beziehung“ Butlers (sowie im generellen Sinne aller Befürworter der Unterjochung der schwarzen Minderheit) zur Institution der Sklaverei. Die Sklaverei, so Sumner, sei Butlers „mistress“, eine Hure („harlot“), die gut zu ihm, aber schlecht zu allen anderen sei. 9 Im Repräsentantenhaus befand sich mit Preston Brooks (ebenfalls aus South Carolina) ein Cousin Butlers, der diesen Angriff gegen einen Verwandten sowie im weiteren Sinne gegen die Werte des Südens nicht ungesühnt lassen wollte. Zwei Tage nach der Rede Sumners begab sich Brooks in den Senatssaal. Bewaffnet mit einem Stock, an dessen Ende sich ein metallener Knauf befand, schlug der Repräsentant mehrfach auf Sumner ein und brachte den Senator an den Rand des Todes. 10 Der Konflikt zwischen Norden und Süden sollte ein halbes Jahrzehnt danach im amerikanischen Bürgerkrieg gipfeln - anstatt zweier Mitglieder des Kongresses standen sich nunmehr ganze Heere gegenüber. An der Spitze des „Nordens“ stand mit Abraham Lincoln ein republikanischer Präsident. Dieser mag zwar aus heutiger Sicht auch nicht unbedingt progressive Standpunkte bei der Frage der Rassengleichheit vertreten haben, 11 doch war die Beendigung der Sklaverei ein von Lincoln verfügtes Kriegsziel. Auf den 9 Vgl. ebd., S. 9. 10 Vgl. Sinha, Manisha (2003): The Caning of Charles Sumner: Slavery, Race, and Ideology in the age of the Civil War. In: Journal of the Early Republic 23 (2), S. 233-262. 11 Ein friedliches Zusammenleben zwischen Weißen und befreiten Schwarzen sah Lincoln beispielsweise als höchst unwahrscheinlich an. Dementsprechend präferierte Lincoln bis weit in seine erste Amtszeit hinein die Umsiedlung von ehemaligen Sklaven nach Afrika oder in die Karibik. Vgl. Fredrickson, George M. (1975): A Man but not a Brother: Abraham Lincoln and Racial Equality. In: The Journal of Southern History 41 (1), S. 39-58. <?page no="18"?> 18 2 Die Eroberung des Südens Sieg über den Süden folgte die grundlegende Frage, wie mit den ehemaligen Rebellen umgegangen werden sollte. Konnte der weißen Wählerschaft und den Politikern einer Region, die nur wenige Jahre zuvor den Verbund der Vereinigten Staaten zerschlagen hatte, wirklich die politische Selbstbestimmung wieder anvertraut werden - insbesondere bei der Durchsetzung der nunmehr zumindest justiziell festgeschriebenen Gleichheit der Rassen? Beträchtliche Teile der damaligen Republikanischen Partei verneinten diese Frage. Problematisch für die Umsetzung der republikanischen Agenda in der Reconstruction-Ära nach dem Bürgerkrieg sollte zweifelsfrei die Person im Weißen Haus sein. Nach dem Mord Abraham Lincolns übernahm im April 1865 Andrew Johnson das Präsidentschaftsamt. Auch wenn dieser ein halbes Jahr zuvor zusammen mit Lincoln in den Wahlkampf gezogen war, ließ sich Johnsons demokratische Herkunft aus den Südstaaten (Tennessee) nicht verbergen. Johnson hatte sich seinerzeit als einziger der 22 Südstaatensenatoren gegen die Abspaltung seiner Heimat ausgesprochen, jedoch keinesfalls aufgrund einer vehementen Opposition gegen die Sklaverei. Diese, so bekundete er nach dem Krieg, hätte innerhalb der Vereinigten Staaten besser verteidigt werden können als unter dem Banner der Separatisten der Confederacy, deren Niederlage somit auch das Ende der Sklaverei mit sich brachte. 12 Im Interesse der nationalen Einheit und mit dem Ziel, die Partei über ihre klassische Wählerschaft hinaus auszubauen war Johnson jedoch von den Delegierten des republikanischen Parteitages im Sommer 1864 als Lincolns elektoraler Partner einer National Union-Kandidatur ausgesucht worden. Inwieweit Johnson die generelle Agenda der Partei, die ein Jahrzehnt zuvor mit dem Ziel der Abschaffung der Sklaverei gegründet worden war, unterstützte, spielte für die Entscheidungsträger eine untergeordnete Rolle - schließlich erwartete niemand, dass Johnson jemals 12 Vgl. Wineapple, Brenda (2019): The Impeachers: The Trial of Andrew Johnson and the Dream of a Just Nation, S. 65-66. <?page no="19"?> 2.1 Die Republikaner und der Süden 19 an den Schalthebeln der Macht sitzen würde. 13 Das Schicksal wollte es jedoch anders und nunmehr saß ein Präsident im Weißen Haus, der zum Thema Rassengleichheit einen klaren Standpunkt vertrat: „Everyone would and must admit that the white race is superior to the black.“ 14 Diese Einstellung prägte dementsprechend auch die Standpunkte des Präsidenten bezüglich der Ausgestaltung der Reconstruction-Politik. Diese konnte er insbesondere in seinem ersten Amtsjahr relativ frei realisieren, da der Kongress mit seinen republikanischen Mehrheiten für neun Monate zwischen März und Dezember 1865 nicht zusammenkommen sollte. Statt eine Special Session einzuberufen, sah sich der Präsident befugt, die monumentale Aufgabe der Reintegration des Südens selbst anzugehen - mit einer Positionierung, die Johnsons Standpunkte und seine geographische Zugehörigkeit immer wieder offenbarte. Die Übertragung des Wahlrechts auf die befreiten Sklaven betrachtete Johnson als Angelegenheit für die Einzelstaaten - und damit Akteuren, die kurz zuvor noch für die Aufrechterhaltung der Sklaverei gekämpft hatten. 15 Eine fast dreistellige Zahl von Persönlichkeiten der Confederacy wurde von Johnson in der Anfangsphase seiner Präsidentschaft täglich begnadigt 16 und bereits im Dezember 1865 erklärte der Präsident, dass die erneute Zusammenführung des Landes bis auf die Besetzung der Südstaaten-Sitze im Kongress abgeschlossen sei. 17 Die neu formierten Parlamente der Südstaaten zeigten ihrerseits keinerlei Anzeichen, dass sich an ihrer grundsätzlichen Haltung gegenüber der schwarzen Minderheit etwas geändert hätte. Vielmehr verabschiedeten sie eine Reihe von sogenannten Black Codes, deren Umsetzung oftmals eine 13 Vgl. Gould (2003), S. 39-40. 14 Zitiert in: Szalai, Jennifer (2019): Impeachment, the First Time Around. In: New York Times, 15. Mai. 15 Vgl. Gould (2003), S. 45. 16 Vgl. Szalai (2019). 17 Vgl. Richardson (2014), S. 59. <?page no="20"?> 20 2 Die Eroberung des Südens neue Form der Sklaverei darstellten. So existierten in der gesamten Region Gesetze gegen „Vagabundieren“ (Vagrancy Laws), die lokalen Ordnungshütern ein großes Maß an Freiheit bezüglich der Festnahme von Afro-Amerikanern gab. Waren diese etwa nicht imstande, Geldstrafen zu bezahlen, konnten Dritte beispielsweise in Mississippi die Bezahlung dieser Strafe übernehmen - im Gegenzug erhielten sie den „Straftäter“ als Arbeitskraft. 18 Die Reaktion der Republikanischen Partei auf Johnsons Agenda war wenig verwunderlich und alles andere als enthusiastisch. Als die republikanische Mehrheit im Kongress im Dezember 1865 von ihrer Pause zurückkehrte, entschied sie sich, die Sitze des Südens in den beiden Kammern erst einmal unbesetzt gelassen. Mit Nachdruck sollte nunmehr ein weiterer Rückfall des Südens in alte Verhaltensmuster verhindert werden. In Präsident Johnson hatte der republikanische Kongress jedoch einen Gegner, der in fast jeder politischen Frage alles Erdenkliche tat, um den Antebellum-Süden in seinen gesellschaftlichen Formen ausgenommen einer erneuten Einführung der Sklaverei wiederherzustellen. Im Frühjahr 1866 verabschiedete der republikanische Kongress ein Gesetz, das den Status der befreiten Sklaven als amerikanische Bürger mit all den damit verbundenen Rechten garantierte (ohne den betroffenen Personen jedoch das Wahlrecht explizit zuzusichern). Hier machte der Präsident, mit dem Argument, das Gesetz zentralisiere ein zu beträchtliches Ausmaß an Macht innerhalb des föderalen Regierungsapparats, jedoch umgehend von seinem Vetorecht Gebrauch 19 - eine Argumentation für die Stärkung der einzelstaatlichen Rechte, die, wie später aufgezeigt wird, auch ein Jahrhundert danach immer wieder Verwendung fand, wenn es darum ging, die institutionelle und rechtliche Gleichstellung von schwarzen Amerikanern zu verhindern. 18 Vgl. Mississippi Black Codes (1865), Abschitt 4 (Penal Laws). 19 Vgl. Gould (2003), S. 48. <?page no="21"?> 2.1 Die Republikaner und der Süden 21 Auch wenn die republikanische Mehrheit im Kongress den Präsidenten überstimmen konnte (und dies insgesamt in 15 Fällen tat, bis heute ein Rekordwert) 20 , zeigte das Verhalten Johnsons und die fehlende Buße im Süden den Republikanern auf, dass weitreichendere Maßnahmen notwendig waren, um die Ziele Lincolns durchzusetzen. Über 350.000 Soldaten des Nordens sollten nicht für ein Land gestorben sein, das eine Fortführung der Leibeigenschaft schwarzer Bürger unter einem anderen Namen billigte. Die Vorgaben für die Wiederaufnahme der Südstaaten in den amerikanischen Bundesstaat waren dementsprechend strikt. Die von südstaatlicher Seite immer stärker als diktatorische Vorgehensweise betrachtete Auferlegung von Bedingungen sollte dem Ansehen der Republikanischen Partei in der Region nur noch weiteren Schaden zufügen und sie für fast ein Jahrhundert in weiten Teilen der Region zu einem politischen Paria machen. Durch die Military Reconstruction Acts von 1867/ 68 in fünf Militärbezirke unterteilt, mussten sich die ehemaligen Mitgliedsstaaten der Confederacy neue Verfassungen geben, den 14. Zusatzartikel zur US-Verfassung, der in den Vereinigten Staaten geborenen Personen die Staatsbürgerschaft überträgt (und somit sicherstellte, dass ehemalige Sklaven zu amerikanischen Staatsbürgern wurden) anerkennen und garantieren, dass auch die männliche schwarze Bevölkerung das Wahlrecht erhalten würde. 21 Maßnahmen wie diese schafften in den Jahren nach dem Bürgerkrieg eine durchaus beträchtliche Verbundenheit zwischen großen Teilen der schwarzen Wählerschaft und der Republikanischen Partei. So gab es für Frederick Douglass, den vielleicht bekanntesten afroamerikanischen Abolitionisten, keine Frage, welcher politische Akteur für die schwarze Minderheit im Land die einzige Option sei: „The 20 Vgl. Priess, David (2018): How a Difficult, Racist, Stubborn President was Removed From Power - If not From Office. In: Politico Magazine, 13. November. 21 Vgl. Gould (2003), S. 50-51. <?page no="22"?> 22 2 Die Eroberung des Südens Republican Party is the ship and all else the sea.“ 22 Die Dispute zwischen den Republikanern der Legislative und dem demokratischen Präsidenten mit rassistischen Ansichten gipfelten 1868 im ersten Impeachment eines amerikanischen Staatsoberhauptes. Johnson hatte mit seinem Versuch, Kriegsminister Edwin Stanton aus seinem Amt zu entlassen gegen den erst im März 1867 verabschiedeten Tenure of Office Act verstoßen. Dieser sah vor, dass der Präsident Mitglieder des Kabinetts, die vorher mit Zustimmung des Senats berufen wurden nur mit der Billigung des Senats wieder entfernen könne. Stanton, ein überzeugter Befürworter der strikten Reconstruction des Südens, der dank seiner Position an der Spitze der Armee wie nur wenige andere Politiker die diesbezüglichen Vorgaben durchsetzen konnte, missachtete hingegen Johnsons Leitlinien bei der Reintegration der Region geflissentlich. Dementsprechend war Stanton dem Präsidenten ein Dorn im Auge. Johnsons Versuch, den Kriegsminister trotz der durch den Tenure of Office Act dargestellten Warnung des Kongresses zu entlassen, wurde vom republikanischen Repräsentantenhaus dankbar angenommen. Johnsons Amtsenthebung mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit im Senat scheiterte schlussendlich jedoch an einer Stimme. 23 Außerstande, die Kandidatur seiner eigenen Partei für die Präsidentschaftswahl 1868 einzuholen, verließ Johnson im März 1869 das Weiße Haus. Sein Nachfolger, der Republikaner und dekorierte Nordstaatengeneral Ulysses S. Grant, begann seine Amtszeit mit der Absicht, die Fehler seines Vorgängers in Fragen der Reconstruction auszumerzen. Jedoch befand sich seine Partei in einer politischen Zwickmühle. Eines der grundlegenden Ziele der Reconstruction - die vollständige Ermächtigung 22 Zitiert in: Pitre, Merline (1979): Frederick Douglass: The Politician vs. the Social Reformer. In: Phylon 40 (3), S. 277. 23 Vgl. Sefton, James E. (1968): The Impeachment of Andrew Johnson: A Century of Writing. In: Civil War History 14 (2), S. 120-147. <?page no="23"?> 2.1 Die Republikaner und der Süden 23 und Gleichberechtigung schwarzer Amerikaner - stieß nicht nur im Süden auf Opposition. Auch im Norden konnten Demokraten mit ihrer fortwährenden Botschaft der Rassenungleichheit punkten und vermehrt lokale Wahlen gewinnen. Dazu gesellte sich die Herausforderung, bei der Reintegration des Südens handfeste Fortschritte vorweisen zu können. Eine republikanische Vorgehensweise, die auf unbestimmte Zeit den Süden wie eine Kolonie behandelte, erschien politisch ebenso nur wenig zweckdienlich. Fast ein halbes Jahrzehnt nach dem Ende der Kriegshandlungen stellt sich die Frage, inwieweit eine Südstaaten-Politik fortgeführt werden könne, die weiterhin in vielen Fällen von der Unterstützung durch Armeetruppen abhing. 24 Nachdem der Kongress im Sommer vor der Präsidentschaftswahl 1868 sieben der elf Einzelstaaten der Confederacy den Wiedereintritt in den Bund der Vereinigten Staaten erlaubt hatte, lautete für den neuen Präsidenten die Vorgabe, die Ära der Reconstruction zu einem Ende zu bringen. Diese Herausforderung erschien jedoch mit jedem Jahr schwieriger. Mit dem Ku-Klux-Klan hatte sich in weiten Teilen des Südens eine Art paramilitärische Gruppierung etabliert, deren Ziel es war, die Umsetzung der Vorgaben des republikanischen Kongresses im Keim zu ersticken. Ihren Höhepunkt erreichte dieser Aufstand zu Beginn der Grant-Präsidentschaft in Teilen von South Carolina mit einer Kampagne des Terrors gegen Afro-Amerikaner und ihre politischen Verbündeten. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger war Grant nicht willens, die Wiederauferstehung der alten Traditionen des Südens widerstandslos hinzunehmen. In einer Botschaft an den Kongress im Dezember 1870 fasste der Präsident den bemitleidenswerten Zustand der Demokratisierung im Süden zusammen. „Die freie Ausübung des Wahlrechts“, so Grant, bliebe „durch Gewalt und Einschüchterung“ 25 vielen Bürgern der Region weiter- 24 Vgl. Richardson (2014), S. 79-81, Gould (2003), S. 55, 60-61. 25 Zitiert in: Newton, Michael (2014): White Robes and Burning Crosses: A History of the Ku Klux Klan from 1866, S. 18. <?page no="24"?> 24 2 Die Eroberung des Südens hin verwehrt. Föderale Maßnahmen - basierend auf dem Ku Klux Klan Act (auch bekannt als Third Enforcement Act) aus dem Jahre 1871 - lieferten für Amos T. Akerman, Grants Attorney General an der Spitze des neu gegründeten Justizministeriums, schließlich die Grundlage, den Klan zu bekämpfen. Sie gaben dem Ministerium die juristischen Werkzeuge, gegen Personen vorzugehen, die die Bürgerrechte anderer beschnitten und gab der Bundesregierung größere Freiheiten bezüglich der Nutzung des Militärs zur Durchsetzung eben dieser Rechte. 26 Wie die Radical Republicans des Kongresses, erkannte Akerman, dass freundliche Worte und Überzeugungsarbeit bei beträchtlichen Teilen der weißen Südstaatler ein sinnloses Unterfangen darstellten. Ein neuer Süden konnte nur geschaffen werden, in dem der föderale Regierungsapparat mit all seiner Macht die durch die Verfassung garantierten Rechte aller Bürger durchsetzte. 27 Dank des effizienten juristischen Feldzuges gegen den Klan sollten dessen Aktivitäten dann auch wieder eingestellt werden - ein halbes Jahrzehnt nach seiner Gründung war der KKK als Organisation 1871 (erst einmal) wieder verschwunden. Der Kampf gegen den Ku-Klux-Klan und seine kriminellen Handlungen sollte schlussendlich jedoch die letzte große Maßnahme der Republikaner im Reconstruction-Kampf der Gleichberechtigung aller Amerikaner darstellen. Mit jedem Jahr, den der Bürgerkrieg in die Ferne rückte, nahm auch der republikanische Elan zur Sicherung schwarzer Rechte im Süden graduell ab. Andere Aspekte, wie die Entwicklung der Wirtschaft waren nunmehr für die Wähler im Land erheblich relevanter als die Frage, ob Personen, die weiterhin vielfach als inferior betrachtet wurden, ihre verfassungsrechtlich zugestandenen Rechte erhalten würden. Ein 26 Vgl. Horwitz, Joshua/ Casey Anderson (2009): Guns, Democracy, and the Insurrectionist Idea. Ann Arbor, S. 129. 27 Vgl. Kaczorowski, Robert J. (1995): Federal Enforcement of Civil Rights During the First Reconstruction. In: Fordham Urban Law Journal 23 (1), S. 159-160. <?page no="25"?> 2.1 Die Republikaner und der Süden 25 wirtschaftlicher Abschwung, der 1873 begann und bis zum Ende der Präsidentschaft Grants andauern sollte, brachte auch die finanziellen Kosten der Reconstruction auf den Prüfstand. Die passivere (und kostengünstigere) Positionierung der Regierung im Süden bezüglich der Umsetzung föderaler Vorgaben erschien Grant folglich politisch dienlich. 28 Demokratische Erfolge an den Wahlurnen schienen der Republikanischen Partei und ihren Unterstützern ebenso aufzuzeigen, dass die Zeit gekommen war, sich anderen Themen als dem Süden zuzuwenden. In Präsident Grants zweiten Midterm-Wahlen (1874/ 75) halbierte sich die Zahl der republikanischen Sitze im Repräsentantenhaus nahezu von 203 auf 107, der schlechteste Wert seit dem Ende des Bürgerkrieges. Die den Republikanern nahestehende Bostoner Zeitung Commonwealth hatte bereits mehrere Jahre zuvor konstatiert: „A party cannot be maintained on past traditions. It must move on to new conquests.“ 29 Mit dem „Kompromiss von 1877“ sollte die Ära der Reconstruction dann auch ihr offizielles Ende finden. Seit dem Ende des Bürgerkrieges hatte die Armee eine zentrale Rolle in der Implementation der republikanischen Agenda in den Südstaaten gespielt. Als Teil der Demokratisierung durch das Bajonett lag die Registrierung der dortigen Wähler beispielsweise in der Obhut der Streitkräfte während die für Republikaner positiven Wahlergebnisse trotz demokratischer Versuche der Einschüchterung schwarzer Wähler ebenso dank der Präsenz des Militärs umgesetzt werden konnten. 30 Die Frage, inwiefern und wie lange der Süden als eine zumindest partielle Militärkolonie des Nordens behandelt werden sollte, erhielt nach der Präsidentschaftswahl 1876 ein neues Maß an Aufmerksamkeit. In dieser hatte der demokratische Kandidat Samuel J. Tilden zwar die Popular Vote gewonnen, doch fehlte ihm eine einzige Elektorenstimme zur Mehrheit von 185. Mit insgesamt 20 ausstehen- 28 Vgl. Kaczorowski (1995), S. 183. 29 Zitiert in: Gould (2003), S. 64. 30 Vgl. Richardson (2014), S. 67. <?page no="26"?> 26 2 Die Eroberung des Südens den Stimmen im Electoral College in den Einzelstaaten Oregon, sowie drei Südstaaten mit republikanischen Regierungen, deren Ergebnisse mehr Fragen als Antworten aufwarfen, war es Aufgabe einer Kongress-Kommission herauszufinden, wem diese Stimmen zuzusprechen seien. Vier Monate nach der Wahl entschieden die acht republikanischen Mitglieder der Kommission gegen die sieben Stimmen der Demokraten, dass der republikanische Kandidat Rutherford B. Hayes die 20 Elektorenstimmen und damit ebenso das Amt des Präsidenten erhalten solle. 31 Jedoch musste diese Entscheidung die Zustimmung des Kongresses selbst erhalten. Im Repräsentantenhaus drohten die dortigen Demokraten mit einem Filibuster, der die rechtzeitige Vereidigung des Präsidenten infrage stellte. Als Lösung eröffnete sich der bereits erwähnte Kompromiss von 1877. Nach über einem Jahrzehnt von Reconstruction-Maßnahmen war der republikanische Eifer bezüglich der permanenten Demokratisierung des Südens endgültig am Ende. Die Einwilligung der Demokraten zur Präsidentschaft Hayes’ wurde mit dessen Versprechen, die politische Involvierung der Armee im Süden einzustellen, eingeholt. 32 Ohne die Armee als Garant der Umsetzung föderaler Vorgaben, übernahmen die Demokraten in den drei verbleibenden von Republikanern geführten Einzelstaaten des Südens (Florida, Louisiana und South Carolina) die politische Gewalt. Das Experiment der radikalen Transformation des Südens war zu einem enttäuschenden Ende gekommen. Nunmehr sollte sich endgültig die Antebellum-Politik der Zweiklassengesellschaft des Südens auch nach dem Krieg mehr und mehr in der Region durchsetzen. Mit der demokratischen Rückeroberung der Macht in den Landeskammern, entsandten diese auch wieder Demokraten in den Senat in Washington, D.C. Die Folge war, dass die Demokratische Partei 1878 die Mehrheit 31 Vgl. ebd., S. 113-114. 32 Vgl. Gould (2003), S. 76-77. <?page no="27"?> 2.1 Die Republikaner und der Süden 27 im Senat erreichte und somit zum ersten Mal seit dem Bürgerkrieg die Kontrolle über beide Kammern des Kongresses zurückerlangen konnte. 33 Das Parteiensystem der Südstaaten verfiel nach dem Ende der Reconstruction und der Machtübernahme der dortigen Demokraten in einen Dornröschenschlaf - es sollte fast ein Jahrhundert dauern, bis der Bürgerrechtskampf nach dem Zweiten Weltkrieg und eine erneute föderale Intervention (dieses Mal unter Führung der Demokratischen Partei) in den frühen 1960er Jahren für die Rechte der schwarzen Minderheit den dortigen politischen Wettbewerb wieder wachküssen sollten. Trotz des schlussendlichen Rückzugs der Republikaner und der Truppen des Nordens, war die Reputation der Partei im Süden für Jahrzehnte so sehr beschädigt, dass große Teile der Region einem Einparteienstaat glichen. Trent Lott, republikanischer Senator aus Mississippi und zwischen 1996 und 2003 der führende Republikaner in der oberen Kammer des Kongresses, gab mit seiner Erfahrung, er habe in seiner Jugend im Mississippi der 1940er und 50er Jahre nie einen „lebendigen Republikaner“ 34 getroffen, die Realität der meisten weißen Südstaatler wieder. Ohne den föderalen Druck zur Umsetzung der Gleichberechtigung, konnten die politischen Verhältnisse des „alten“ Südens ihre Wiedergeburt feiern. Der Ausgang von Kongresswahlen wurde innerhalb der Demokratischen Partei in ihren Vorwahlen entschieden und weitreichende Maßnahmen zur Unterdrückung der beträchtlichen schwarzen Minderheit durch die Jim Crow-Gesetze durchgesetzt. 33 Vgl. Richardson (2014), S. 116. 34 Zitiert in: Courtwright, David T. (2010): No Right Turn - Conservative Politics in a Liberal America, S. 168. <?page no="28"?> 28 2 Die Eroberung des Südens 2.2 Goldwaters Niederlage ‒ Anfang der erfolgreichen Southern Strategy Als Barry Goldwater 1964 für die Republikanische Partei in den Präsidentschaftswahlen antrat, war der amerikanische Süden weiterhin fest in demokratischer Hand - und damit auch in gewisser Hinsicht die Mehrheiten in der amerikanischen Hauptstadt. Fast ein Jahrhundert nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs ließen sich die Nachwehen dieses Konflikts und seiner Aufarbeitung während der Ära der Reconstruction immer noch an den Wahlergebnissen ablesen. Von den 105 Abgeordneten, die die Region nach den Wahlen 1960 in das amerikanische Repräsentantenhaus schickte, waren 99 Demokraten. 35 Auch auf Präsidentschaftsebene stellte sich das elektorale Umfeld für Republikaner ähnlich miserabel dar. Dwight D. Eisenhower war 1952 in der Lage, vier der elf Südstaaten für sich zu gewinnen - die ersten dortigen Erfolge eines Republikaners seit 1928. Bei den 18 Präsidentschaftswahlen zwischen 1880 und 1948, konnten republikanische Kandidaten insgesamt nur in drei Prozent aller Fälle Einzelstaaten der Region für sich entscheiden. 36 Generell war die Demokratische Partei zwischen den 1930er und 1960er Jahren der dominante politische Akteur in den Vereinigten Staaten. Ein wesentlicher Grund dafür war zweifelsfrei die Dominanz der Partei im Süden, der für die Demokraten zum Solid South geworden war. Wer 100 Wahlkreise des amerikanischen Repräsentantenhauses allein im 35 Vgl. Brookings Institution (2019): Vital Statistics on Congress, Democratic and Republican Seats in the House, by Region, 69th- 116th Congresses, 1925-2019, S. 1. 36 Insgesamt handelte es sich hier um 198 Wahlausgänge in den elf Einzelstaaten. Herbert Hoover gewann 1928 fünf und Warren G. Harding 1920 einen Einzelstaat im Süden. In den 192 anderen Wahlen konnte sich kein republikanischer Präsidentschaftskandidat durchsetzen. <?page no="29"?> 2.2 Goldwaters Niederlage 29 Süden gewinnen konnte, musste zur Erlangung einer Mehrheit von insgesamt 218 Sitzen nur etwas mehr als ein Drittel aller Wahlkreise im Rest des Landes erobern. Auch deswegen kontrollierten die Demokraten zwischen 1933 und 1995 dementsprechend das Repräsentantenhaus für 58 der 62 Jahre. Ähnlich sah es im Senat aus, in dem sich die Demokraten für ungefähr ein Jahrhundert der 22 Sitze des Südens in der oberen Kammer des US-Kongresses sicher sein konnten - und somit außerhalb der Region ebenso nur etwas mehr als ein Drittel aller Senatswahlen für sich entscheiden mussten, um auch in dieser Kammer das Sagen zu haben. Somit besaßen die Demokraten nach der Wahl Franklin D. Roosevelts bis in die frühen 80er Jahre im Senat ebenso fast durchgehend die Mehrheit. 37 Republikanische Politiker sahen trotz des desolaten Zustands ihrer Partei in den Südstaaten spätestens 1948 den ersten Hoffnungsschimmer. Die erste Wahl nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte die internen Risse einer Demokratischen Partei auf, deren progressiver Flügel bei den Themen Rassengleichheit und Bürgerrechte für schwarze Amerikaner immer mehr die Überhand gewann. Zum ersten Mal ließ sich im demokratischen Wahlprogramm ein klares Bekenntnis zum Ausbau der schwarzen Bürgerrechte finden. Dass der demokratische Präsident Harry S. Truman durch Exekutivdekrete die Rassentrennung in der US- Armee aufgehoben und zudem Diskriminierung in der Belegschaft der Bundesbehörden beendet hatte, brachte die Südstaatendemokraten in Aufruhr. 38 An die Spitze der Opposition stellte sich der damalige demokratische Gouverneur South Carolinas, Strom Thurmond, der als Kandidat der States’ Rights Democratic Party (auch bekannt als Dixie- 37 Vgl. Office of the Clerk of the U.S. House of Representatives (2017): Statistics of the Presidential and Congressional Election From Official Sources for the Election of November 8, 2016, S. 85. 38 Vgl. Edsall, Thomas Byrne/ Mary D. Edsall (1992): Chain Reaction: The Impact of Race, Rights, and Taxes on American Politics, S. 33. <?page no="30"?> 30 2 Die Eroberung des Südens crats) gegen den Parteikollegen Truman 1948 für das Amt des Präsidenten kandidierte. Thurmond kommunizierte seine Ansichten auf Wahlkampfveranstaltungen unmissverständlich: „[T]here’s not enough troops in the army to force the southern people to break down segregation and admit the nigger race into our theaters, into our swimming pools, into our homes, and into our churches“. 39 Die Dixiecrat-Kandidatur deutete an, dass weitere Liberalisierungsschritte innerhalb der Demokratischen Partei beim Thema Race unweigerlich zu einer internen Zerreißprobe führen würden. Schlussendlich konnte Thurmond mit einer klaren Opposition gegen jegliche Aufweichung der Rassentrennung vier Bundesstaaten im Süden gewinnen und demonstrierte mit seinen Erfolgen die fortwährende Signifikanz der Frage der Rassengleichheit in weiten Teilen der Südstaaten. Für republikanische Strategen wurden die Südstaaten in den Jahren danach zum Gelobten Land. Verständlicherweise, denn auch sie erkannten, dass der Konflikt innerhalb der Partei ihres politischen Gegenübers nicht zugunsten der Rassisten des Südens ausgehen konnte. Ein Jahrhundert nach der Beendigung des Bürgerkrieges schien somit die Zeit reif, eine Wählerschaft anzusprechen, deren Werte in vielerlei Hinsicht schon damals mehr Überschneidungen mit der republikanischen denn der demokratischen Ideologie vorwiesen. Bereits 1952 äußerte der damalige Vorsitzende des Republican National Committee (des Bundesverbandes der Republikanischen Partei) Guy Gabrielson, die Ansicht, Thurmonds Dixiecrats und die Republikaner verträten in vielerlei Hinsicht dieselben Standpunkte - nämlich eine klare Opposition gegen föderale Bevormundung. Ein Jahr zuvor hatte der republikanische Senator Karl Mundt bereits ebenso gefordert, dass zukünftige republika- 39 Zitiert in: Crespino, Joseph (2012): Strom Thurmond’s America, S. 71. <?page no="31"?> 2.2 Goldwaters Niederlage 31 nische Kandidaten für das Präsidentschaftsamt die Wünsche der weißen Südstaatenwähler beachten sollten. 40 Dieses gewaltige Segment der konservativen Wähler des Südens, so der republikanische Stratege Kevin Phillips Ende der 1960er Jahre, würde „die Säule einer nationalen konservativen Partei“ 41 darstellen. Mit der Eroberung der elf Südstaaten konnten wachsende republikanischen Verluste in urbanen Regionen des Landes zudem mehr als kompensiert werden. „Who needs Manhattan, when we can get the electoral votes of eleven Southern states“, 42 lautete die rhetorische Frage, die Phillips an potenzielle Zweifler innerhalb der eigenen Reihen stellte, die möglicherweise ihrerseits ein gewisses Unbehagen beschlich, da die Partei Lincolns nunmehr im Inbegriff war, dessen Erbe abzulegen. Erreicht werden sollte die Kreation einer dominanten konservativen Partei durch die Umsetzung der Southern Strategy, in deren Zentrum Appelle an die rassistischen Ansichten der weißen Wähler des Südens standen. Auch wenn Republikaner heutzutage gerne bestreiten, die Erfolge in der Region seit den 1960er Jahren seien rassistischen Kampagnen geschuldet, war es zweifelsfrei die Nutzung der Wut und Ängste weißer Wähler durch die gezielte Auslösung dieser Emotionen seitens republikanischer Politiker, die als Basis der Eroberung der Stimmenmehrheit des Südens dienten. Betrachtet man die Historie der Region, war diese Strategie nicht nur der vielversprechendste, sondern wahrscheinlich der einzige Weg, die Wähler des weißen Südens auf die republikanische Seite zu bringen. Wie der amerikanische Historiker der Region V.O. Key, Jr. kurz nach dem 40 Vgl. Adorf, Philipp (2016): How the South was won and the nation lost: The roots and repercussions of the Republican Party’s Southernization and Evangelicalization, S 50. 41 Im Original: „[T]he South is shaping up as the pillar of a national conservative party.“ Phillips, Kevin (1969/ 2015): The Emerging Republican Majority, S. 204. 42 Zitiert in: Tanenhaus, Sam (2013): Original Sin. In: The New Republic, 10. Februar. <?page no="32"?> 32 2 Die Eroberung des Südens Zweiten Weltkrieg schrieb, „in its grand outlines the politics of the South revolves around the position of the Negro“. 43 Mögen andere Themen auch auf der politischen Tagesordnung stehen oder gestanden haben, so argumentierte Key, dass alle Fragen - seien sie soziokultureller oder sozioökonomischer Natur - früher oder später mit den Rechten der lokalen schwarzen Bevölkerung zusammen hingen. Durch die Beschneidung der Rechte von Afro-Amerikanern nach dem Bürgerkrieg, konnten die Demokraten eine Dominanz in der Region etablieren, wie sie keine der beiden Parteien in einem anderen Teil des Landes genoss - durch Appelle an den fortwährenden Rassismus der weißen Südstaatler konnten Republikaner ihrerseits eine regionale Überlegenheit erreichen, die ebenso bis zum heutigen Tage im nationalen Vergleich heraussticht. Zu den konservativen Werten gesellte sich noch ein weiterer Faktor, der republikanische Appelle in den darauffolgenden Jahrzehnten prägen sollte: Eine weit verbreitete Statusangst unter weißen Wählern. Für viele weiße Wähler des Südens stellte die Beziehung zwischen ihnen und der großen schwarzen Population der Region eine Art Nullsummenspiel dar. Würde der schwarzen Minderheit im Kampf um Arbeits- oder Schulplätze, um Wohnungen von Seiten der föderalen Regierung geholfen werden, konnte dies nach dieser Lesart nur unweigerlich auf Kosten der weißen Mehrheit kommen. Es überrascht somit nicht, dass die Opposition der weißen Bevölkerungsmehrheit - und damit auch die Unterstützung der Demokratischen Partei - gegen den Ausbau der Rechte schwarzer Amerikaner in den Einzelstaaten des Südens am stärksten war, in denen sich eine besonders große schwarze Minderheit vorfand. 44 In diesen Regionen wurden afro-amerikanische Mitbürger nicht nur als Wettbewerber für ökonomische Ressourcen gesehen, sondern auch als Gruppe, die in der Politik die Überhand 43 Key, Jr., V.O. (1949): Southern Politics in State and Nation, S. 5. 44 Vgl. Webster, Gerald (1992): Demise of the Solid South. In: Geographical Review 82 (1), S. 43-55; Key, Jr. 1949, S. 5. <?page no="33"?> 2.2 Goldwaters Niederlage 33 gewinnen konnte. Kevin Phillips’ zynische Strategie rief Republikaner dazu auf, in den 1960er Jahren die Umsetzung der Bürger- und Wahlrechtsreformen in der Region dementsprechend zu unterstützen - jedoch nicht aus demokratischen Überzeugungen. Phillips’ Kalkül sah vor, dass die fortan politisch aktiven Afro-Amerikaner der Demokratischen Partei beitreten würden, da diese auf nationaler Ebene zweifelslos deren politische Präferenzen vertrat. Im Süden würden sich die lokalen Demokratischen Parteien und ehemaligen Horte der White Supremacy graduell zur neuen Heimat der schwarzen Wählerschaft entwickeln. Schon 1969 kam Phillips zu dem Fazit, dass in bestimmten Teilen des Südens Afro-Amerikaner im Begriff waren, lokale Verbände der Demokratischen Partei unter ihre Kontrolle zu bringen. 45 Nunmehr nicht mehr Herr im eigenen politischen Haus, so Phillips, hätten die weißen Wähler des Südens keine andere Wahl, als der ehemals verhassten Republikanischen Partei beizutreten, die fortan der stärkste Verfechter der weißen Interessen darstellte. Phillips’ politische Gleichung war simpel: „The more Negroes who register as Democrats in the South, the sooner the Negrophobe whites will quit the Democrats and become Republicans“. 46 Hierzu sei gesagt, dass sich das politische Gewicht der schwarzen Wählerschaft innerhalb weniger Jahre in der Tat enorm steigerte. Waren 1964 beispielsweise nur sieben Prozent aller Afro- Amerikaner im Einzelstaat Mississippi als Wähler registriert, stand dieser Wert nur vier Jahre später bei 60 Prozent. 47 Im gesamten Süden stieg dieser Wert von ungefähr 35 auf 65 Prozent zwischen 1964 und 1969 an. 48 Phillips’ Strategie sollte in den Jahrzehnten danach aufgehen, denn mit jedem Jahr waren demokratische Amtsinhaber gezwungen, stärker 45 Vgl. Phillips (1969/ 2015), S. 543. 46 Zitiert in: Boyd, James (1970): Nixon’s Southern strategy - ‚It’s All In the Charts‘. In: New York Times, 17. Mai. 47 Vgl. Edsall/ Edsall (1992), S. 84. 48 Vgl. Perman, Michael (2009): Pursuit of Unity: A Political History of the American South, S. 301 <?page no="34"?> 34 2 Die Eroberung des Südens auf die Bedürfnisse und Forderungen der schwarzen Wählerschaft einzugehen, sollten sie Interesse am Erhalt ihres politischen Amts besitzen. 49 Die politische Gelegenheitsstruktur hängt jedoch immer auch von der Positionierung externer Akteure ab, Begünstigt wurde die Southern Strategy ebenso von der weiteren Liberalisierung des demokratischen Gegners in Fragen der Rassengleichheit. Hatte Truman nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch die ersten zaghaften Schritte für einen Ausbau der Rechte schwarzer Amerikaner gemacht, so trat Präsident Lyndon B. Johnson entschieden für ein Ende der Segregation in den Südstaaten ein. Auffallend ist hierbei durchaus das Phänomen einer historischen Wiederholung: Hatten die Radical Reconstructionists der Republikaner ein Jahrhundert zuvor jegliche elektoralen Chancen ihrer Partei in der Region zerstört, so läutete der vermeintliche „Bundeszwang“ aus Washington - dieses Mal durch einen demokratischen Präsidenten - den Absturz der Demokraten ein. Wie von Phillips vorausgesagt, sollten die Demokraten im Süden ihre Vormachtstellung verlieren nachdem diese zu einer Partei wurde, die sich für die Interessen der schwarzen Minderheit einsetzte. 50 Einer der entscheidenden Impulsgeber dieser Transformation - der wichtigsten politischen Neuausrichtung der amerikanischen Politik des letzten Jahrhunderts - sollte aus einem unerwarteten Lager kommen. Barry Goldwater war nur einer von sechs Republikanern im Senat, die gegen den Civil Rights Act aus dem Jahre 1964 votierten. Dieser Bürgerrechtsakt sollte das Ende der Rassendiskriminierung im Süden einleiten und gab dem föderalen Staatsapparat eine breite Auswahl an Werkzeugen, um gegen die tief verwurzelte Rassentrennung der Region vorzugehen. Generell 49 Vgl. Black, Earl/ Merle Black (2002): The Rise of Southern Republicans, S. 143ff. 50 Vgl. Kabaservice, Geoffrey (2012): Rule and Ruin: The Downfall of Moderation and the Destruction of the Republican Party, From Eisenhower to the Tea Party, S. 274. <?page no="35"?> 2.2 Goldwaters Niederlage 35 wurde die Praxis der Segregation als rechtswidrig erklärt. Zur Umsetzung der föderalen Vorgaben erhielt der Justizminister die Möglichkeit, Schulen die Rassentrennung praktizierten vor Gericht zu bringen während jegliche finanzielle staatliche Unterstützung für Schulen und andere Institutionen, die eine Rassentrennung vorschrieben, beendet wurde. 51 Dementsprechend entschieden sich auch über 90 Prozent aller Südstaatendemokraten, gegen den legislativen Vorstoß zu stimmen. Senator Goldwater begründete seine Opposition hingegen mit dem Small Government-Mantra, für das er der Allgemeinheit auch noch ein halbes Jahrhundert später bekannt ist. Seine Abstimmung, so Goldwater, habe nicht mit einer vermeintlichen Opposition gegen die Gleichheit der verschiedenen Rassen in Verbindung gestanden. Vielmehr sah der libertäre Senator den Civil Rights Act als einen verfassungswidrigen Ausbau der Macht der Regierung in Washington gegenüber den Einzelstaaten. Goldwater wurde nicht müde zu erwähnen, dass er in der Vergangenheit für andere Gesetze gestimmt hatte, die ebenso die Rechte der Minderheiten ausbauten (wie beispielsweise den Civil Rights Act von 1957), aber dem Bund nicht die Instrumente übertragen hatten, Einzelstaaten zur Umsetzung zu zwingen. In seinem 1960 veröffentlichten Buch The Conscience of a Conservative - ein Werk, das sich seitdem zu einer Art Bibel konservativ-libertärer Amerikaner entwickelt hat - stellte Goldwater (beziehungsweise für ihn sein Ghostwriter Brent Bozell) ebenso klar, dass er natürlich den Grundsatz der Rassengleichheit unterstütze und auch für eine Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen des Südens sei. Doch ließ sich schon in diesem Werk der ideologische Grundsatz finden, den Goldwater einige Jahre später bezogen auf seine Opposition zum Civil Rights Act von 1964 zitierte, um in den Südstaaten als Präsidentschaftskandidat der Republikaner auf Stimmenfang zu gehen. Goldwater misstraute keinem Regierungskörper mehr als den föderalen Institutionen Washingtons. Gewiss sollte die strikte Trennung der Rassen 51 Vgl. Edsall/ Edsall (1992), S. 35. <?page no="36"?> 36 2 Die Eroberung des Südens und die damit einhergehende Benachteiligung der schwarzen Minderheit ein Ende haben; doch dürfte dies nicht implizieren, dass dafür der seit jeher starke föderale Aufbau des Landes geopfert werden solle. Niemand hatte laut Goldwater das Recht, den Süden in diesen Fragen zu bevormunden. Zusammengefasst lautete die von Goldwater bevorzugte Vorgehensweise in Conscience of a Conservative folgend: „I believe it is both wise and just for negro children to attend the same schools as whites, and that to deny them this opportunity carries with it strong implications of inferiority. I am not, however, prepared to impose that judgment on the people of Mississippi or South Carolina. […] That is their business, not mine. I believe that the problem of race relations, like all social and cultural problems, is best handled by the people directly concerned.“ 52 Goldwater war sicherlich kein Rassist. Verschiedene Aspekte seines Lebenslaufes zeigen dies auf. So setzte er sich auch in seiner Heimat in Arizona für die Rechte von Minderheiten ein und war für vier Jahre Mitglieder der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People), einer der wichtigsten schwarzen Bürgerrechtsorganisationen der USA. 53 Aber zu Ende gedacht, bedeutete der in Conscience of a Conservative formulierte Standpunkt jedoch, dass das rassistische politische Konstrukt des amerikanischen Südens und die Benachteiligung amerikanischer Bürger in der Region in Stein gemeißelt sein sollten, solange eine Mehrheit in den entsprechenden Einzelstaaten dies befürwortete - und Anfang der 1960er Jahre gab es keine Anzeichen, dass die dortige weiße Bevölkerung willens war, ihre Macht demokratisch zu teilen. Wenn überhaupt führte die anwachsende Bürgerrechtsbewegung unter weißen 52 Goldwater, Barry M. (1960/ 2007): The Conscience of a Conservative, S. 31. 53 Vgl. Mayer, Jeremy D. (2002): Running on Race: Racial Politics in Presidential Campaigns, 1960-2000, S. 45. <?page no="37"?> 2.2 Goldwaters Niederlage 37 Südstaatlern zu einer Wagenburgmentalität: Mehr denn je galt es nun, die politische Macht zu bewahren. Objektiv betrachtet war eine föderale Intervention folgerichtig die einzige Lösung zur Durchsetzung der Rassengleichheit. Doch diesen Schritt lehnte Goldwater vehement ab. Im Falle des Civil Rights Act von 1964 plädierte Goldwater, wie bereits erwähnt, dass die Gesetzgebung im Vergleich zu vorherigen föderalen legislativen Vorstößen die States’ Rights der betroffenen Staaten einschränke. Goldwaters Standpunkt war aber gerade auch von elektoralen Überlegungen beeinflusst. Wie Kevin Phillips erkannte der Senator aus Arizona das Potenzial des Südens in der Schaffung konservativer Mehrheiten. „I sense here a realignment of Southern conservative Democrats with Democrats and Republicans of the West and Middle West“ 54 hatte Goldwater bereits 1953 kurz nach seiner Ankunft im Kongress in seinem persönlichen Journal vermerkt, da die Demokraten des Südens entsprechend der Interpretation des Senators die Ansicht vertraten, der föderale Staatsapparat habe sich aus lokalen Angelegenheiten rauszuhalten. Die Demokratische Partei der Nachkriegszeit, so erkannte Goldwater ebenso, würde immer stärker vom Ausbau ihrer Popularität innerhalb der schwarzen Minderheit des Landes abhängig sein. Da die Republikanische Partei in Zukunft hingegen ihrerseits ohnehin nur geringe Erfolge unter schwarzen Wählern feiern würde, riet Goldwater seiner Partei „to go hunting where the ducks are“, 55 also dort auf Wählerfang zu gehen, wo vielversprechende Beute vorhanden war. Und dies konnte bezüglich der weißen Südstaatler am besten durch eine entgegenkommende Positionierung beim Thema Bürgerrechte erreicht werden. Während der Debatten im Kongress zum Civil Rights Act von 1964 entwickelte Goldwater seine Position, die er kurz 54 Zitiert in: Dean, John W./ Barry M. Goldwater Jr. (2008): Pure Goldwater, S. 96. 55 Zitiert in: Hillygus, D. Sunshine/ Todd Shields (2008): The Persuadable Voter: Wedge Issues in Presidential Campaigns, S. 117. <?page no="38"?> 38 2 Die Eroberung des Südens danach für die Appelle an weiße Wähler im Süden einsetzen sollte, weiter. Der Ausbau der Macht des föderalen Staatsapparats gegenüber den Einzelstaaten war für Goldwater „a grave threat to the very essence of our basic system of government“. 56 Für Goldwater war es zudem nicht Aufgabe des Staates, eine nach Rassen getrennte oder vereinte, sondern eine „freie“ Gesellschaft zu schaffen. 57 War es aber nicht an der Zeit, föderale Maßnahmen gegen Restaurantbesitzer oder Hoteliers umzusetzen, die sich weigerten, schwarze Amerikaner in ihren Etablissements aufzunehmen? Barry Goldwaters Antwort nahm auch hier das Narrativ der persönlichen Freiheitsrechte auf, ohne sich direkt auf das Thema Race zu beziehen. „Freedom to associate“, so Goldwater, „means the same thing as the freedom not to associate“ 58 - mit anderen Worten, jeder Amerikaner besäße das Recht, frei zu entscheiden, mit wem er sich zusammentut, Umgang pflegt oder eine Geschäftsbeziehung unterhält. Goldwaters Vorgehensweise der gezielten Appelle an die Ressentiments rassistischer Wähler ohne offenkundig rassistisch zu erscheinen war wie gemacht für die Implementierung der noch jungen Southern Strategy. Auch wenn rassistische Ansichten in den frühen 1960er Jahren noch ein enormes Ausmaß an politischem Potenzial vorwiesen, mussten Politiker bei der Anwendung und Ausnutzung der diesbezüglichen Ressentiments ihrer Wähler mit einem gewissen Maß an Vorsicht agieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits eine Norm of Racial Equality auf der politischen Ebene größtenteils durchgesetzt, die den klassischen Rassismus der biologischen Unterschiede ersetzt hatte. 59 Selbst im Süden waren Politiker oft gezwungen, 56 Zitiert in: Smith, Robert C. (2010): Conservatism and Racism, and Why in America They Are the Same, S. 130. 57 Zitiert in: Perlstein, Rick (2001): Before the Storm: Barry Goldwater and the Unmaking of the American Consensus, S. 461. 58 Zitiert in: Smith (2010), S. 131. 59 Vgl. Mendelberg, Tali (2001): The Race Card: Campaign Strategy, Implicit Messages, and the Norm of Equality, S. 67ff. <?page no="39"?> 2.2 Goldwaters Niederlage 39 zumindest in der Öffentlichkeit davon abzusehen, die alten rassistischen Begriffe der Vergangenheit zu verwenden. Statt weiße Überlegenheit zu predigen hieß nun die Devise Separate but Equal. Der republikanische Stratege Lee Atwater fasste diese Transformation und ihre Folgen für die Wählergewinnung Jahre später prägnant zusammen. Konnten laut Atwater in den frühen 1950er Jahren noch problemlos rassistische Ausdrücke wie „Nigger“ benutzt werden, sah die Situation etwas mehr als ein Jahrzehnt anders aus: „By 1968 you can’t say ‚nigger‘ - that hurts you. Backfires. So you say stuff like forced busing, states’ rights and all that stuff“. 60 Genau dies tat Goldwater auch immer wieder während der Präsidentschaftskampagne. Beim Thema der Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen des Südens („forced busing“, also des staatlich vorgeschriebenen Transports von Schulkindern in weiter entfernte Schulen, um diese zu „desegregieren“) stellte der Senator beispielsweise die föderal oktroyierte Integration auf eine Stufe mit der erzwungenen Segregation und hielt fest, dass beide Maßnahmen gleichermaßen zu verurteilen seien. 61 Wie der Journalist Richard Rovere, der Goldwaters Kampagne verfolgte und später seine Erkenntnisse in Buchform festhielt, erkannte, war dem Publikum im Süden immer bewusst, welches Thema (die rechtliche Stellung der Afro-Amerikaner) Goldwater wirklich ansprach, auch wenn Aspekte diskutiert wurden, die zumindest vordergründing nicht rassebezogen waren. Goldwater, so Rovere, „covered the South and never, in any public gatherings, mentioned ‚race‘ or ‚Negroes‘ or ‚whites‘ or ‚segregation‘ or ‚civil rights‘.“ 62 Doch seinen Zuhörern musste keine rassistische Rhetorik vorgelegt werden, um zu verstehen, dass der Senator einer Beibehaltung des Status quo im Süden zumindest nicht abgeneigt war. Wie Rovere 60 Zitiert in: Lamis, Alexander P. (1999): The Two-Party South: From the 1960s to the 1990s, S. 8. 61 Vgl. Perlstein (2001), S. 461. 62 Rovere, Richard (1965): The Goldwater Caper, S. 143. <?page no="40"?> 40 2 Die Eroberung des Südens richtig erkannte, nahm in dieser Sprache des Südens der Ausdruck States’ Rights den Platz einer generellen Opposition gegen die Bürgerrechtsbewegung ein während jedwede Erwähnung von vermeintlichen „Kriminellen“, die mit mehr Nachdruck gegen Diskriminierung kämpften, im Publikum unweigerlich Assoziationen mit Schwarzen auslöste. Barry Goldwaters Ergebnis in der Präsidentschaftswahl 1964 erschien niederschmetternd und konnte zumindest oberflächlich als vollkommene Absage an dessen politische Strategie gesehen werden. Der Senator aus Arizona gewann weniger als 40 Prozent aller Stimmen im gesamten Land (der geringste Anteil eines Kandidaten der beiden großen Parteien seit 1936) und ging in nur sechs Einzelstaaten als Sieger hervor. Wenig überraschend musste die Partei der Sklavenbefreiung nunmehr unter schwarzen Wählern enorme Verluste hinnehmen: Identifizierte sich 1960 noch ungefähr ein Viertel aller Afro-Amerikaner als Republikaner, lag dieser Wert vier Jahre später bei nur 12 Prozent. 63 Ein genauerer Blick auf das Ergebnis offenbart jedoch, dass 1964 das Fundament für den späteren Kurs (sowie darauffolgende Wahlerfolge) der Republikanischen Partei schuf. Neben seiner Heimat Arizona gewann Goldwater die fünf Einzelstaaten des sogenannten Deep South, der Region in der die weiße Opposition zur Gleichstellung der schwarzen Mitbürger am vehementesten geäußert wurde - und dementsprechend auch die Wurzeln der Demokratischen Partei ihre größte Tiefe vorwiesen. Von den fünf betreffenden Einzelstaaten (Georgia, Louisiana, Mississippi, North und South Carolina) hatte zum Zeitpunkt der Wahl 1964 seit den 1870er Jahren nur Louisiana ein einziges Mal für einen republikanischen Präsidentschaftskandidaten gestimmt (1956 für den Amtsinhaber Dwight D. Eisenhower). Von den 60 Kongresswahlkreisen, in denen Goldwater einen Vorsprung genoss, befanden sich ebenso nur 16 außerhalb des Sü- 63 Vgl. Mayer (2002), S. 59. <?page no="41"?> 2.3 Der Süden wird rot ‒ Nixons Adjustierung 41 dens. 64 Mit einem Stimmenanteil von 55 Prozent unter den weißen Wählern der Confederacy, erreichte der Senator das zum damaligen Zeitpunkt beste Ergebnis eines republikanischen Kandidaten in der Region. 65 Goldwaters Kandidatur sollte trotz des landesweiten Misserfolgs somit der erste Schritt eines langen Weges sein, der die amerikanische Politik grundlegend transformieren würde. 2.3 Der Süden wird rot ‒ Nixons Adjustierung der Southern Strategy Rückblickend lassen sich natürlich bereits 1964 die ersten Anzeichen des anschließenden republikanischen Siegeszuges erkennen. Doch manchmal bietet auch ein oberflächlicher Blick lehrreiche Folgerungen. Republikanische Strategen konnten den landesweiten Ausgang der Wahl 1964 nicht kaschieren. Auch wenn Goldwater in der demokratischsten Region der Vereinigten Staaten einen historischen Erfolg feierte, hatte der Rest des Landes eine von Rassismus durchtränkte Botschaft klar abgelehnt. Der Preis des Sieges unter den vehementesten Gegnern der Rassengleichheit war ein Verlust auch derjenigen Wähler, die zwar staatliche Hilfen für Minderheit ablehnten und auf schwarze Amerikaner herabschauten, jedoch Kandidaten, die zu offensiv die rassistischen Segmente der Gesellschaft ansprachen, nicht gutheißen konnten. Der nächste republikanische Präsidentschaftskandidat, Richard Nixon, erkannte die Defizite der 64er Kampagne. Goldwater, so Nixon, habe schlichtweg die „falschen Einzelstaaten“ gewonnen, da er selbst nach Nixons Interpretation 64 Vgl. Thurber, Timothy N. (2007): Goldwaterism Triumphant? Race and the Republican Party, 1965-1968. In: The Journal of the Historical Society 7 (3), S. 352. 65 Vgl. Black/ Black (2002), S. 209. <?page no="42"?> 42 2 Die Eroberung des Südens als „rassistischer Kandidat“ 66 auf Stimmenfang gegangen war. Republikanische Erfolge ließen sich nur durch eine Verfeinerung der Southern Strategy erreichen, die zwar weiterhin die Rassisten des Südens für die Partei erobern konnte, aber gleichzeitig eine Rhetorik zur Wählergewinnung anwandte, die zumindest oberflächlich dessen Nutzer erlaubte über jeden Zweifel oder Vorwurf des Rassismus erhaben zu bleiben. Zwar hatte auch Goldwater dies verstanden, doch waren dessen Appelle in vielerlei Hinsicht noch zu krude gewesen. Ebenso konnte die Uhr der Bürgerrechtsrevolution nicht mehr zurückgedreht werden - 1968 ging es in den politischen Diskussionen kaum noch um die Frage, ob staatliche Maßnahmen zur Sicherung der grundlegenden Rechte der schwarzen Minderheit umgesetzt werden sollten, sondern welches Ausmaß diese staatlichen Interventionen besitzen sollten. 67 Dies hieß jedoch keinesfalls, dass die grundsätzliche Logik hinter der Southern Strategy fehlerhaft war oder fallengelassen werden sollte. Wie bereits erwähnt erreichte Goldwater im Deep South Ergebnisse, von denen Republikaner wenige Jahre zuvor nicht einmal geträumt hätten. In den späten 1960er und frühen 70er Jahren ließ sich auch außerhalb der Bastionen des Rassismus ein durchaus großes Segment an weißen Wählern vorfinden, die mit steigendem Argwohn die Entwicklung der Bürgerrechtsbewegung betrachtete. Waren die eigenen Vorfahren nicht auch ohne staatliche Hilfe ausgekommen? Hatten sich Eltern oder Großeltern, die ohne einen Cent ins Land gekommen waren, nicht selbst hochgearbeitet? Die Früchte der ökonomischen Expansion des Landes in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubten es vielen weißen Blue Collar- Amerikanern, ihr eigenes Haus in den Vororten zu erwer- 66 Zitiert in: Carter, Dan T. (2000): The Politics of Rage: George Wallace, the Origins of the New Conservatism, and the Transformation of American Politics. S. 326. 67 Vgl. Skrentny, John D. (2014): Zigs and Zags: Richard Nixon and the New Politics of Race, S. 29. <?page no="43"?> ben. Und nunmehr sollten schwarze Amerikaner ihnen in die Suburbs folgen und dank staatlicher Unterstützung zu Wettbewerbern im eigenen Sektor des Arbeitsmarktes werden? Nixon und seine Mitstreiter im Kabinett erkannten das enorme Potenzial dieser Wählerschaft, die eine Botschaft des offenen Rassismus ablehnte, sich aber eindeutig einem weiteren Ausbau staatlicher Hilfen für schwarze Amerikaner widersetzte. Die Charakterisierung dieser Amerikaner durch Nixons Arbeitsminister George Shultz erinnert fast ein halbes Jahrhundert später durchaus an die Kernwählerschaft Donald Trumps. Shultz argumentierte, die weißen Wähler, auf die sich die Republikaner konzentrieren sollten, seien: „immigrants, or sons of immigrants, and feel insecure about their own place in the mainstream of American society. They tend to live in neighborhoods that the blacks are most likely to move into, and whose schools blacks’ children might attend. They sometimes have jobs that they feel blacks aspire to attain, and they get wages that are slightly above liberal states’ welfare payments. They suffer a real sense of ‚compression‘ on both the economic and social scales.“ 68 Wie konnten diese Wähler angesprochen werden, während gleichzeitig auf glaubhafte Art und Weise geleugnet werden konnte, man habe rassistische Appelle genutzt? Patrick Buchanan, Berater Richard Nixons und Ikone des rechten Rands der Republikanischen Partei, formulierte in den späten 1960er Jahren, wie Republikaner rhetorisch mit diesen Fragen umgehen sollten. Die Vorgehensweise glich den bereits vorgebrachten Ratschlägen Lee Atwaters. Auf die Frage, wie Nixon das Thema „open housing“ adressieren solle (Maßnahmen der Bundesregierung gegen die Diskriminierung von Minderheiten beim Verkauf oder Vermieten von Wohnungen), schlug Buchanan vor, „sophisticated 68 Zitiert in: Sugrue, Thomas J./ John D. Skrentny (2008): The White Ethnic Strategy, S. 187. 2.3 Der Süden wird rot ‒ Nixons Adjustierung 43 <?page no="44"?> 44 2 Die Eroberung des Südens terminology“ 69 - also eine anspruchsvolle Wortwahl - zu nutzen. Obwohl Race im Zentrum dieser politischen Frage stand, war es laut Buchanan sinnvoll, die republikanische Opposition zu weiteren Anti-Diskriminierungsmaßnahmen in einen generellen Konservatismus zu verhüllen, mit anderen Worten einer Rhetorik, welche die Freiheit des Individuums beim Verkauf seiner Immobilie in den Vordergrund rückte. Die Kandidatur eines anderen Kandidaten in der Präsidentschaftswahl 1968 sollte den Kurs der Republikanischen Partei nicht nur in der darauffolgenden Wahl vier Jahre später, sondern für Jahrzehnte beeinflussen. Als Gouverneur Alabamas dominierte der Demokrat George Wallace fast ohne Unterbrechung für ein Vierteljahrhundert die Politik dieses Einzelstaates des Deep South. Nationale Bekanntheit erhielt er mit seiner Amtseinführungsrede im Januar 1963, als er für Alabama - und in gewisser Weise den gesamten Süden - die Devise „segregation now, segregation tomorrow, segregation forever“ proklamierte. Doch auch Wallace musste in dieser Ära seine Verteidigung des Southern Way of Life und der Rassentrennung in eine zumindest oberflächlich vollkommen vom Thema Race losgelöste Rhetorik kleiden. Den Civil Rights Act von 1964 attackierte er nicht für dessen Zielsetzung des Ausbaus der Rechte der schwarzen Minderheit. Vielmehr stellte dieser nach Wallaces Ansicht ein Gesetzesvorhaben dar, das kaum unamerikanischer sein könnte. Dieser Gesetzesakt zerstöre, so Wallace, das „free enterprise system, […] neighborhood schools, […] the rights of private property“ 70 und stellte ebenso eine Gefahr für das fundamentale amerikanische Recht der freien Meinungsäußerung dar. Schwarze Demonstranten wurden von ihm zumindest öffentlich nicht auf der Basis ihrer Hautfarbe attackiert. Für Wallace waren 69 Buchanan, Patrick (2014): The Greatest Comeback: How Richard Nixon Rose from Defeat to Create the New Majority, S. 140. 70 Wallace, George (1964): The Civil Rights Movement: Fraud, Sham, and Hoax, 4. Juli. <?page no="45"?> sie vielmehr „communists and sex perverts“. 71 Wallaces Mischung aus rassistischen Ressentiments (ohne direkten Bezug zum Thema selbst) und Populismus stellte eine Blaupause dar, deren moderatere Version sich sowohl Nixon als auch Ronald Reagan auf republikanischer Seite in späteren Jahren zumindest in Teilen zu Eigen machten. Der Siegesmarsch der Verfechter der Rassengleichheit in der Demokratischen Partei sowie Zweifel, inwiefern Republikaner verlässliche Fürsprecher des weißen Südens waren, brachte Wallace zu der Überzeugung, dass 1968 die Zeit reif für einen „dritten“ Kandidaten in der Präsidentschaftswahl des selbigen Jahres war. Wie Goldwater vier Jahre zuvor, versuchte Wallace als Kandidat der American Independent Party, rassistische Wähler mit einer Rhetorik für sich zu gewinnen, die zumindest äußerlich vollkommen von rassebezogenen Fragen dissoziiert war. Die Lösung des Problems der Ansprache rassistischer Wähler ohne rassistisch zu erscheinen ließ sich in einer starken Dosis Populismus finden, die nicht erst seit dem Aufstieg Donald Trumps ebenso republikanische Botschaften definiert. Wallace attackierte Washington D.C. als Hort der „pointy-headed intellectuals“ 72 , die durch ihre Programme dem einfachen Mann vorschreiben wollten, wie er zu leben habe. Die Integration von Schulen oder Versuche auf dem Arbeitsmarkt, ein gewisses Maß an Chancengleichheit zu schaffen, wurden somit zu Sozialexperimenten einer Elite umgedichtet, deren Testpersonen der durchschnittliche weiße Amerikaner war. Für Republikaner sollte sich diese Strategie als wegweisend für die darauffolgenden Jahrzehnten herausstellen - ihre Reproduktion erlaubte es konservativen Akteuren, eine starke Bindung zwischen der traditionellen Partei des Unternehmertums und der Arbeiterklasse zu schaffen, die ihrerseits die progressiv-liberale Elite mit Misstrauen be- 71 Zitiert in: Woods, Randall B. (2006): LBJ: Architect of American Ambition, S. 528. 72 Zitiert in: Edsall/ Edsall (1992), S. 85. 2.3 Der Süden wird rot ‒ Nixons Adjustierung 45 <?page no="46"?> 46 2 Die Eroberung des Südens trachtete. Steuern und ein starker Sozialstaat stellten nach der Wallace’schen Lesart nicht Maßnahmen dar, die auch der weißen Arbeiterklasse zugutekamen. Vielmehr mutierten die Steuergelder in diesem Narrativ zu oktroyierten Abgaben, die in den Händen der pseudo-intellektuellen Elite einen Umverteilungsmechanismus finanzierten, dessen einziges Ziel darin bestand, Minderheiten einen ungerechten Vorteil gegenüber weißen Amerikanern im Wettbewerb um begrenzte Ressourcen zu verschaffen. 73 Es wäre jedoch falsch, Gouverneur Wallace als ökonomisch konservativ zu bezeichnen. Staatliche Programme sah er durchaus als sinnvoll an, solange sie seiner Wählerschaft zugutekamen. Die Ablehnung des „starken Staates“ fokussierte sich auf programmatische Bereiche, die in Verbindung mit dem Kampf für schwarze Bürgerrechte und Gleichberechtigung gebracht werden konnten. 74 Das Verbindungsglied zwischen den Wallace-Wählern und der neuen Republikanischen Partei der 1960er Jahre und danach war somit der Racial Conservatism, den Wallace so vehement predigte und der von Republikanern wie Goldwater, Nixon und Reagan zumindest strategisch aufgegriffen wurde. 75 Wähler, die von den konservativen ökonomischen und sozialstaatlichen Zielen der Republikanischen Partei negativ betroffen waren, konnten somit trotzdem für die Partei gewonnen werden, da in den Wahlkämpfen die Fokussierung gerade auf dem Thema Race lag, beziehungsweise verschiedene andere Politikbereiche mit diesem Aspekt verbunden wurden. So erhielten insbesondere auch sozialstaatliche Fragen einen rassebezogenen Anstrich - der Wohlfahrtsstaat wurde hierbei durch stete republikanische Botschaften zu einem weiteren Werkzeug der Umverteilung des weißen Wohlstands in schwarze Hände uminterpretiert. 73 Vgl. Edsall/ Edsall (1992), S. 79. 74 Vgl. Horwitz, Robert B. (2013): America’s Right: Anti- Establishment Conservatism from Goldwater to the Tea Party, S. 57-58. 75 Vgl. Black/ Black (2002), S. 149. <?page no="47"?> Gerade die jüngsten politischen Entwicklungen innerhalb der Republikanischen Partei zeigen die Langlebigkeit dieser Strategie auf. Donald Trump vorzuwerfen, er vertrete die Werte eines George Wallace würde zu weit gehen. Doch lassen sich gewisse ideologische Gemeinsamkeiten festmachen (beispielsweise ein von Nativismus durchtränkter Populismus), die es auch Donald Trump erlaubten, Wähler für eine wirtschaftspolitische Agenda zu gewinnen, die ihren Interessen eigentlich zuwiderläuft. Wie Goldwater verfolgte auch Wallace das Ziel, durch die Nutzung bestimmter Schlüsselbegriffe oder Codewörter rassistische Ressentiments bei seinen potenziellen Wählern auszulösen, beziehungsweise diese wahlentscheidend zu machen. So fokussierte er sich in seiner Kampagne auf das Motiv von Law and Order, der strikten Durchsetzung des Rechts. Politische Demonstrationen in Wahljahr 1968 (insbesondere gegen den Vietnamkrieg), der Aufstieg militanterer schwarzer Bürgerrechtsbewegungen (wie beispielsweise den Black Panthers) und die in bestimmten urbanen Umfeldern steigende Kriminalität führten innerhalb eines nicht unbeträchtlichen Teils der weißen Bevölkerung zu einem Gefühl des staatlichen Kontrollverlustes. Dabei muss konstatiert werden, dass diese Reaktion keinesfalls auf Desinformationen basierte: Zwischen 1960 und 1966 stieg die Zahl der Straftaten im Land um 60 Prozent, in den fünf darauffolgenden Jahren gar um weitere 83 Prozent. Die Zahl der für Tötungsdelikte festgenommenen Afro-Amerikaner nahm zwischen 1960 und 1970 zudem um 130 Prozent zu. 76 Dazu gesellte sich unter potenziellen Wallace-Wählern die Auffassung, der Staat habe der schwarzen Minderheit doch bereits ein ausreichendes Ausmaß an Konzessionen angeboten. Und nun stellte sich heraus, dass Teile der schwarzen Bevölkerung trotzdem nicht mit der staatlich implementierten Rassengleichheit zufrieden waren und nunmehr mit noch mehr Nachdruck im Kampf um begrenz- 76 Vgl. Edsall/ Edsall (1992), S. 52. 2.3 Der Süden wird rot ‒ Nixons Adjustierung 47 <?page no="48"?> 48 2 Die Eroberung des Südens te Ressourcen der weißen Bevölkerung weitere Rechte entreißen wollten? Für die „verweichlichte“ Antwort auf diese Themen attackierte Wallace den amtierenden Demokraten im Weißen Haus, Lyndon B. Johnson, sowie die gesamte politische Elite der amerikanischen Hauptstadt. Schon lange vor der Wahl 1968 wagte Wallace die Vorhersage, dass die Wählerschaft genug von den diesbezüglichen liberalen Lösungsvorschlägen haben würde: „The people are going to be fed up with the sissy attitude of Lyndon Johnson and all the intellectual morons and theoreticians he has around him“. 77 Wenn Wallace das Thema Kriminalität und seine Lösungsvorschläge ansprach und generell den Staatsapparat in Washington für seine Politik anprangerte, wusste jedoch jeder im Wallace-Publikum, um welchen Aspekt dieser Frage es der Südstaaten-Ikone wirklich ging. Ein lokaler Politiker aus Alabama, der während der Wallace-Ära aktiv war, fasste diese Strategie prägnant zusammen: „[Wallace] can use all the other issues - law and order, running your own schools, protecting property rights - and never mention race. But people will know he’s telling them, ‚A nigger’s trying to get your job, trying to move into your neighborhood‘.“ 78 Die Ergebnisse von George Wallace außerhalb seiner Heimat im Süden bei der Wahl 1968 ließen republikanische Strategen aufhorchen. Nicht nur gewann Wallace im Süden fünf Einzelstaaten (bis dato das letzte Mal, dass ein Kandidat einer dritten Partei Einzelstaaten für sich entscheiden konnte), sondern erlaubte seine Botschaft dem Südstaaten-Politiker auch Achtungserfolge weit außerhalb des Südens zu erlangen. In den großen industrialisierten Staaten des Nordens wie Indiana, Michigan und Ohio erlangte Wallace dank beträchtlicher Unterstützung in der weißen Arbeiterklasse zweistelli- 77 Zitiert in: Micklethwait, John/ Adrian Woolridge (2004): The Right Nation: Conservative Power in America, S. 66. 78 Zitiert in: Mendelberg (2001), S. 96-97. <?page no="49"?> ge Ergebnisse. Insgesamt war Wallace in der Lage außerhalb des Südens acht Prozent der Stimmen zu gewinnen - ein deutlicher Unterschied zur Kandidatur Strom Thurmonds, der 20 Jahre zuvor als Repräsentant des Südens weniger als ein Prozent der Nicht-Südstaatler hinter sich bringen konnte. 79 Wichtig für politische Strategen des Nixon-Lagers waren Daten die aufzeigten, dass sich im Süden vier von fünf Wallace-Wähler für Nixon entschieden hätten, wäre der (zu diesem Zeitpunkt) ehemalige Gouverneur aus Alabama nicht auch als Option auf dem Wahlzettel gewesen. 80 Fast hätte sich die Wallace-Kandidatur 1968 als ausschlaggebend herausgestellt, insbesondere da der Gouverneur in demokratischen Einzelstaaten nur geringe Stimmenanteile erlangen konnte, dafür aber in konservativen Landesteilen umso stärker war. 81 Schlussendlich setzte sich Nixon mit 301 Elektorenstimmen (31 mehr als notwendig) und einem Vorsprung in den abgegebenen Stimmen von 0,7 Prozentpunkten gegenüber seinem demokratischen Widersacher Hubert Humphrey durch. Bezogen auf die republikanische Wahlkampagne beklagte George Wallace nur halb scherzhaft, es wäre für ihn von Vorteil gewesen, seine Reden urheberrechtlich schützen zu lassen. Denn die Nutzung seiner thematischen Schwerpunkte durch Nixon und dessen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten, Spiro Agnew, hätte es laut Wallace ihm erlaubt, „immense Lizenzgebühren“ 82 einfordern zu können. Die guten Umfragewerte Wallaces im Sommer vor der Wahl und das Kopf-an-Kopf- 79 Vgl. Carter (2000), S. 369. 80 Vgl. ebd. 81 Wie Kevin Phillips in The Emerging Republican Majority aufzeigte, waren sechs der neun Einzelstaaten, in denen Wallace seine schlechtesten Ergebnisse einfuhr gleichzeitig unter den neun besten Einzelstaaten-Ergebnissen des Demokraten Hubert H. Humphrey zu finden (inklusive Washington, D.C.; Phillips [1969/ 2015], S. 11). 82 Für Zitat und Kontext vgl. Kruse, Kevin M. (2005): White Flight: Atlanta and the Making of Modern Conservatism, S. 253 2.3 Der Süden wird rot ‒ Nixons Adjustierung 49 <?page no="50"?> 50 2 Die Eroberung des Südens Rennen zwischen Nixon und seinem demokratischen Gegner Humphrey hatten das republikanische Duo von der Notwendigkeit überzeugt, eine Neuadjustierung ihrer Kampagne mit dem Ziel der Eroberung von Wallace-Wählern umzusetzen. Wurde das Thema „Kriminalität“ (mit starken anti-schwarzen Untertönen) anfänglich noch hauptsächlich von Wallace thematisiert, so entwickelte es sich auch auf der republikanischen Seite schlussendlich 1968 zum dominanten Wahlthema. Nixon hatte bereits in einem Kommentar in Reader’s Digest im Herbst 1967 einen „bewaffneten Aufstand“ 83 in den amerikanischen Metropolen beklagt; mit Wallace als potenziellem Zünglein an der Waage erhielt das Thema Lawlessness (Gesetzeslosigkeit) eine Schlüsselrolle in der Nixon- Kampagne. In einer seiner schärferen, man mag denken von Wallace inspirierten, Attacken nutzte Nixon das Bild des „Dschungels“, um die amerikanischen Innenstädte zu beschreiben - mit den offensichtlichen rassistischen Konnotationen. Nixon warnte die Amerikaner vor einer Ausbreitung eben dieses Dschungels aus den (überproportional schwarzen) amerikanischen Innenstädten in die (weißen) Vororte: „[T]the city jungle will cease to be a metaphor. It will become a barbaric reality, and the brutal society that now flourishes in the core cities of America will annex the affluent suburbs“. 84 In einer gemäßigteren Art und Weise griff Nixon in seiner Rede auf dem republikanischen Parteitag im Sommer vor der Wahl das Thema auch wieder auf und prangerte vor dem amerikanischen Fernsehpublikum an, dass ein Land „mit der größten Tradition der Rule of Law“ nunmehr durch eine „beispiellose Gesetzeslosigkeit“ 85 83 Im Original: „armed insurrection“. Nixon, Richard (1967): What has Happened to America? In: The Reader’s Digest, Oktober, S. 49. 84 Nixon, Richard (1968): Remarks in New York City: „Toward Freedom From Fear“, 8. Mai. 85 Im Original: „When the nation with the greatest tradition of the rule of law is plagued by unprecedented lawlessness; “ Nixon, Richard (1968): Address Accepting the Presidential Nomination at <?page no="51"?> geplagt sei. Ähnliche Töne schlug ein halbes Jahrhundert später übrigens ebenso der republikanische Kandidat auf dem Parteitag an: 2016 argumentierte Trump, dass „mass immigration“ unweigerlich mit „mass lawlessness“ einhergehe. Auch bei Nixons Wiederwahlgesuch 1972 lautete die strategische Vorgabe, die bewährte Botschaft der Verbindung von Kriminalität und ethnischen Minderheiten ein weiteres Mal anzuwenden. Die Maßgabe, in Nixons eigenen Worten, lautete: „It’s all about law and order and the damn Negro-Puerto Rican groups out there“. 86 Mag die Nixon-Kampagne die Fehler von 1964 erkannt haben, so wurde trotzdem versucht, die Verluste im Süden so gering wie möglich zu halten. So sprach sich auch Nixon gegen Forced Busing aus und sagte einer Gruppe von Delegierten aus den Südstaaten auf dem republikanischen Parteitag 1968: „[B]using the child […] into a strange community - I think you destroy that child“. 87 Generell kam Nixons späterer Rechtsberater im Weißen Haus, John Ehrlichman, zu dem Fazit, dass unterschwellige Appelle an die anti-schwarzen Vorurteile der weißen Wählerschaft durchweg in Nixons Reden und politischen Kommentaren vorzufinden waren. 88 Zur Sicherung der weißen Wählerschaft des Südens kümmert sich Nixon besonders intensiv um die Unterstützung des bereits erwähnten Strom Thurmonds. War dieser 1954 noch als Demokrat in den US-Senat gewählt worden, entschied Thurmond sich 1964 der Republikanischen Partei beizutreten (und somit zum ersten republikanischen Senator aus South Carolina seit den späten the Republican National Convention in Miami Beach, Florida, 8. August. 86 Zitiert in: Zeitz, Josh (2016): How Trump Is Recycling Nixon’s ‚Law and Order‘ Playbook. In: Politico Magazine, 18. Juli. 87 Zitiert in: Skrentny (2014), S. 31. 88 Vgl. Haney López, Ian (2014): Dog Whistle Politics: How Coded Racial Appeals Have Reinvented Racism and Wrecked the Middle Class, S. 24. 2.3 Der Süden wird rot ‒ Nixons Adjustierung 51 <?page no="52"?> 52 2 Die Eroberung des Südens 1870er Jahren zu werden). Wie kein anderer Politiker konnte Thurmond in den Südstaaten glaubhaft argumentieren, die Demokratische Partei habe die Werte der ehemaligen Confederacy verraten während nunmehr die Republikaner die Partei des weißen Mannes sei. Vorstöße wie Nixons Versprechen bezüglich einer Zügelung der föderalen Maßnahmen bei der Integration der Schulen überzeugten auch Thurmond davon, dass Nixon ein Kandidat sei, dem man vertrauen könne. Somit attackierte Thurmond in Wahlkampfveranstaltungen auch immer wieder Wallace. Nicht für dessen Werte, sondern seine potenzielle Rolle in der Wahl Humphreys. Die Befürchtung lautete, dass Wallace insbesondere Nixon Stimmen „klauen“ könnte, die schlussendlich den Demokraten und Verfechter eines weiteren Ausbaus der schwarzen Bürgerrechte Humphrey als lachenden Dritten ins Weiße Haus katapultieren könnten. 89 Thurmonds Strategie und sein unentwegter Einsatz für Richard Nixon sollten sich letzten Endes auszahlen: South Carolina stimmte als einziger Staat des Deep South für Nixon anstatt Wallace. Neben Goldwaters Sieg vier Jahre zuvor stellte Nixons Triumph erst den zweiten republikanischen Sieg im Einzelstaat seit den 1880 dar. Dass ein weiterhin überzeugter Vorkämpfer der Rassentrennung wie Thurmond sein gesamtes politisches Kapital für Nixon einsetzte, zeigt nicht zuletzt auch auf, inwieweit die Kandidatur Nixons auf den weißen Süden und dessen Interessen zugeschnitten war. Wie Goldwater argumentierte Nixon nicht direkt gegen die Ausweitung der Rechte der schwarzen Minderheit, sondern vertrat in der Öffentlichkeit den Standpunkt, dass in vielen Bürgerrechtsfragen der föderale Staatsapparat seinen durch die Verfassung vorgegebenen Kompetenzrahmen überschritten habe. Besondere Aufmerksamkeit erhielt hier die Judikative, insbesondere der Supreme Court, der mit der Bekanntgabe der Verfassungswidrigkeit der Rassentrennung in öffentlichen Schulen mit seinem Urteil Brown v. 89 Vgl. Mayer (2002), S. 92. <?page no="53"?> Board of Education (1954) einen entscheidenden Schritt zum Ende der Segregation einleitete. Weitere Gerichtshof- Entscheidungen der Ära bauten zudem die Rechte Tatverdächtiger sowie von Straftätern aus und erklärten staatlich verordnete Gebete in öffentlichen Schulen als gesetzeswidrig. 90 Entsprechend verhasst war die Institution somit auch im christlich-autoritären Süden. Nixon ließ seinerseits verlauten, dass er im Obersten Gerichtshof nur „strict constitutionalists“ sehen wollte - „Men that interpret the law and don’t try to make the law“. 91 Selbst die „smart judges“ des höchsten Gerichts des Landes, konnten nach Ansicht Richard Nixons nicht besser als lokale Schulgremien beurteilen, welche Regeln für die entsprechenden Kommunen, beispielsweise bezüglich der Frage der Desegregation der Schulen, zu gelten haben. Dies galt ebenso für den gesamten föderalen Staatsapparat. Die Umsetzung der Vorgaben aus Washington, D.C., von „Bürokraten“ vermeintlich ohne jegliches Verständnis für die lokalen Gegebenheiten diktiert, lehnte Nixon zumindest rhetorisch ab. Diese „Doktrin“ war seiner Ansicht nach „eine sehr gefährliche“. 92 Nixons Regierungsarbeit reflektierte zumindest in bestimmten Bereichen die Lehren, die aus der Wahl 1968 im konservativen Lager gezogen wurden. Über das Thema Race hinaus sollte der 37. Präsident in seiner Zeit im Amt die populistischen Pfeiler der Partei verstärken. Auch wenn Richard Nixon in seiner politischen Karriere so gut wie alles erreicht hatte - Mitglied beider Kammern des Kongresses, Vizepräsident, Präsident - sah er sich in Washington trotzdem als Außenseiter an, dem vom politischen Establishment nicht der Respekt gezollt wurde, den er seiner Ansicht 90 Vgl. Edsall/ Edsall (1992), S. 45. 91 Zitiert in: Ebd., S. 75. 92 Im Original: „[T]o force a local community to carry out what a federal administrator or bureaucrat may think is best for that local community - I think that is a doctrine that is a very dangerous one.“ Zitiert in: Edsall/ Edsall (1992), S. 76. 2.3 Der Süden wird rot ‒ Nixons Adjustierung 53 <?page no="54"?> 54 2 Die Eroberung des Südens nach verdiente. 93 Als es um die Zusammensetzung seines Kabinetts ging, gab Nixon beispielsweise seinem Stabschef im Weißen Haus, H.R. Haldeman, die strikte Anweisung, „keinen dieser Harvard-Bastarde“ in die Regierung zu holen. 94 Um die Wähler von George Wallace anzusprechen, sollten zudem Maßnahmen, die den Präferenzen weißer Südstaatler zuwiderliefen, vermieden werden. Als Nixons Minister für Gesundheit, Bildung und Wohlfahrt vorschlug, zusätzliche Schritte für die Integration von Schulen umzusetzen, reagierte Nixon schroff mit der Maßgabe, es solle das gesetzliche vorgeschriebene Minimum realisiert werden - „and not one bit more“. 95 Der Präsident sah ebenso, dass die Judikative in diesem Themenbereich oft als federführende Institution agierte und somit im weißen Süden alles andere als populär war. Richard Nixon war während seiner Zeit im Weißen Haus in der Lage, insgesamt vier Richter zum Supreme Court zu nominieren. Als Richter Hugo Black im September 1971 den Obersten Gerichtshof verließ, sah Nixon die Zeit gekommen, diesen mit einem Mann aus dem Süden zu ersetzen. Für die entsprechende Person hatte Nixon zwei grundlegende Bedingungen. Als erstes musste der Kandidat ein „conservative southerner“ sein. Ebenso sollte dieser eine klare Position gegen „busing, and against forced housing integration“ 96 (also staatliche Maßnahmen, die Afro-Amerikanern helfen sollten, besseren Wohnraum zu erhalten) beziehen. Darüber hinaus, so der Präsident, könne der Aspirant auf den Sitz im Supreme Court mehr oder weniger machen was er wolle. Hier muss jedoch angemerkt werden, dass die fünfeinhalb 93 Vgl. Lütjen, Torben (2016): Partei der Extreme: Die Republikaner - Über die Implosion des amerikanischen Konservativismus, S. 62. 94 Im Original: „None of those Harvard bastards.“ Zitiert in: Thomas, Evan (2016): Being Nixon: A Man Divided, S. 5. 95 Zitiert in: Kruse (2005), S. 255. 96 Zitiert in: Dean, John W. (2001): The Rehnquist Choice: The Untold Story of the Nixon Appointment That Redefined the Supreme Court, S. 46-47. <?page no="55"?> Jahre, die Nixon im Weißen Haus verbrachte, keinesfalls die Leitlinie verfolgten, die Politik Wallaces hinter einer respektableren Fassade durchzusetzen. Die Politik und Programmatik der Nixon-Regierung zeigen auf, in welchem Ausmaß die Figur Richard Nixon schwer zu fassen ist. Mag er öffentlich den Racial Conservatives des Südens versprochen haben, nur existierende vorgeschriebene Maßnahmen bezüglich der Integration der Schulen zu implementieren, so tat Nixon genau dies: Er setzte föderale Vorgaben um und trug somit zum Ende des Vermächtnisses der Segregation bei. Privat gab Nixon zu, das „Race Problem“ werde noch mindestens ein Jahrhundert die amerikanische Politik und Gesellschaft beschäftigen. Lösen könne man es als Präsident also nicht. Dies hieß jedoch nicht, dass die Politik in dieser Frage inaktiv sein sollte: „Desegregation, though, that has to happen now“. 97 Die Ergebnisse zeichnen in diesem Politikbereich durchaus das Bild eines Präsidenten, der keineswegs die Wünsche eines Wallace oder Thurmond in vollem Umfang übernahm. Besuchten 1968 noch 68 Prozent aller schwarzen Kinder im Süden Schulen, deren Schülerschaft gänzlich aus Afro-Amerikanern bestand, lag dieser Wert sechs Jahre später bei nur noch acht Prozent. 98 Richard Nixon verfeinerte die Southern Strategy der Republikanischen Partei jedoch zweifelslos. Der Wissenschaftler Ian Haney López kommt bezüglich Nixon und seiner Anwendung der Southern Strategy zu dem Fazit, dieser habe Wallaces „dark art“ 99 der Auslösung rassistischer Bedrohungsgefühle in der weißen Wählerschaft wie nur wenige andere Politiker beherrscht. Nixon konnte die Ängste, Vorurteile und Ressentiments bezüglich Minderheiten unter weißen Wählern ansprechen und war gleichzeitig in der Lage plausibel zu argumentieren, keine seiner Standpunkte seien mit dem Thema Race verbunden. Bewies Wallaces 97 Zitiert in: Thomas (2016), S. 259. 98 Vgl. Mayer (2002), S. 97. 99 Haney López (2014), S. 24. 2.3 Der Süden wird rot ‒ Nixons Adjustierung 55 <?page no="56"?> 56 2 Die Eroberung des Südens Vergangenheit, dass diese Ansichten auf einer rassistischen Weltanschauung basierten, so konnte Nixon auf vergangene Ansichten und Aktionen verweisen, die seine Unschuld vermeintlich bewiesen. Dazu sei gesagt, dass gerade Nixons Bilanz vor seiner Amtszeit als Präsident diese Belege lieferte. So zwang Nixon beispielsweise während der Präsidentschaftskampagne 1960 seine Mitarbeiter aus einem Hotel auszuziehen, als sich herausstellte, dass dieses die Unterbringung schwarzer Journalisten ablehnte. 100 Ebenso argumentierte er im Kampf gegen John F. Kennedy 1960 noch, dass die Bürgerrechte schwarzer Amerikaner im Süden selbstverständlich eine föderale Frage darstellten und nicht den politischen Akteuren der Region allein überlassen werden sollten. 101 Privat vertrat Nixon zum Thema Rassengleichheit jedoch höchst fragwürdige Ansichten. So vertraute er John Ehrlichman an, dass seiner Ansicht nach Schwarze „genetisch unterlegen“ 102 seien. Doch war Nixons Präsidentschaft samt ihrer Appelle an die weißen Wähler des Südens auch in gewisser Hinsicht ein Produkt ihrer Ära. Der Weg zu konservativen Mehrheiten in Washington, D.C. sollte unweigerlich durch den Süden führen - und das größte Potenzial einer konservativen Botschaft ließ sich in der Ansprache der rassistischen Ressentiments der dortigen weißen Wählerschaft finden. Richard Nixons Strategie der zumindest rhetorischen Fokussierung auf die Interessen und Belange des durchschnittlichen weißen Südstaatlers sollte enorme elektorale Früchte tragen. Richard Nixons Wiederwahl 1972 war aus vielerlei Sicht beeindruckend. Nicht nur konnte Nixon 49 Einzelstaaten für sich entscheiden - seine größten Siege erzielte der Amtsinhaber in den Südstaaten. Nixon gewann ungefähr 80 Prozent der Stimmen weißer Wählerinnen und 100 Vgl. Thomas (2016), S. 116. 101 Vgl. Hillygus/ Shields (2008), S. 107. 102 Zitiert in: Mendelberg (2001), S. 97. <?page no="57"?> 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 57 Wähler im Süden. 103 Dementsprechend überrascht es nicht, dass sich Nixons sechs beste Ergebnisse in den Staaten der ehemaligen Confederacy beziehungsweise in deren Peripherie finden ließen. 104 Insgesamt landeten die elf Einzelstaaten des Südens unter Nixons 17 besten Staaten. Dem Betrachter bot sich somit das Bild einer noch nie dagewesenen Transformation der amerikanischen Politik: Nur acht Jahre nach der Verabschiedung des Civil Rights Act von 1964 war der ehemals „solide Süden“ der Demokraten zumindest auf der Ebene der Präsidentschaftswahlen zur republikanischsten Region des Landes geworden. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung der Southern Strategy Wird die Eroberung der Südstaaten und die damit verbundene Transformation der Republikanischen Partei als Errichtung eines neuen politischen Hauses betrachtet, kommt man zur folgenden Arbeitsaufteilung: Goldwater hob die Grube aus, während Nixon das Fundament legte. Doch es war Reagan, dessen Kandidatur und Präsidentschaft in den 1980er Jahren ein gänzlich neues Heim errichtete, in dem sich die Partei mit einigen Modifikationen bis heute befindet. In diesem Bau residiert auch Trump - auch wenn er ihm durchaus seinen eigenen Anstrich gegeben hat. Ronald Reagan sollte sich als transformative Figur des amerikanischen Konservatismus herausstellen, gerade weil der ehemalige Schauspieler und Gouverneur Kaliforniens die Southern Strategy wie kein zweiter anwandte. Er verbesserte und perfektionierte sie und band somit den Süden dauerhaft an die Republikanische Partei. Dies schaffte Reagan aus 103 Vgl. Phillips, Kevin (2006): American Theocracy: The Peril and Politics of Radical Religion, Oil, and Borrowed Money in the 21st Century, S. 178. 104 Mississippi, Georgia, Oklahoma, Alabama, Florida, South Carolina. <?page no="58"?> 58 2 Die Eroberung des Südens der Kombinierung der Aspekte Race und Religion. Spielte letzteres unter Goldwater noch keine und während der Nixon-Präsidentschaft weiterhin eine untergeordnete Rolle, so verstand Reagan es auch die konservativen Protestanten, die ihre Heimat im Süden des Landes besaßen, in das republikanische Boot zu bringen. Damit sollte Reagan eine elektorale Allianz schaffen, die noch heute die Republikanische Partei definiert. Bestand die Südstaaten-Strategie unter Goldwater aus einer fast durchweg (wenn auch oft unausgesprochenen) rassistischen Botschaft, fügte Nixon eine populistische Komponente hinzu. Reagan nahm diese beiden Pfeiler und addierte die christlich-konservative Wählerschaft zur republikanischen Koalition. In seiner Kapazität als Wahlkämpfer und Präsident formte Ronald Reagan seine Partei wie nur wenige andere Akteure der jüngeren amerikanischen Geschichte. Somit ist er auch mitverantwortlich für die Herausforderungen, auf die die Republikaner in der nahen Zukunft aufgrund des später erörterten demographischen Wandels der Vereinigten Staaten treffen werden. In einem Land, das mit jedem Tag säkularer und weniger weiß wird, ist die Republikanische Partei insbesondere dank Reagan heute eine politische Allianz aus konservativen evangelikalen Protestanten und weißen Wählern mit Ressentiments gegenüber Minderheiten. Der politische Werdegang des ehemaligen Schauspielers zeigte schon früh sein elektorales Potenzial für einen weiteren Ausbau der republikanischen Erfolge im Süden des Landes auf. 1964 unterstützte Reagan mit Nachdruck die Goldwater-Kandidatur. Dessen Niederlage führte Reagan nicht auf die Strategie des Senators aus Arizona zurück, sondern den „Verrat“ 105 von bestimmten Mitgliedern in den eigenen Reihen, die vom ersten Tag an den eigenen Kandidaten als Rassisten denunziert hätten. Reagans bekanntestes Vermächtnis der Wahl 1964 sollte seine A Time for Choosing-Rede werden, in der er das Argument für einen grundlegenden Politikwechsel in einer populistischen Art und 105 Vgl. Kabaservice (2012), S. 127. <?page no="59"?> Weise vorbrachte, wie sie seitdem immer wieder von Republikanern artikuliert wird. Liest man Reagans Rede im Kontext des Essays „The Paranoid Style in American Politics“ des Historikers Richard Hofstadter aus dem Wahljahr 1964, fällt auf in welchem Ausmaß Ronald Reagan die Figur des von Hofstadter charakterisierten Paranoid Spokesman fast perfekt darstellte. In seinem Essay beschrieb Hofstadter die insbesondere an den Rändern der amerikanischen Politik immer wiederkehrende Paranoia: vor Migranten, die sich anschicken, die politische Macht im Land an sich zu reißen, aber auch vor dem politischen Establishment selbst, das sinistere Pläne zur Zerstörung Amerikas umzusetzen versucht. Der Paranoid Spokesman, so Hofstadter, „traffics in the birth and death of whole worlds, whole political orders, whole systems of human values“ - er bemannt immer die „barricades of civilization“ 106 gegen die Feinde der Freiheit. Für ihn geht es in der Politik also nicht um kleinere programmatische Fragen, sondern fortwährend um die Zukunft sowie das Überleben des Landes und seiner grundlegenden Werte, die - nach konservativer Interpretation - von sozialistischen Akteuren in der Demokratischen Partei bedroht sind. Sollte diese Sichtweise dem Leser bekannt vorkommen, dann überrascht dies nicht, denn insbesondere die Tea Party machte sich in der Obama-Ära unentwegt eine ähnliche Argumentation zu eigen während auch Donald Trump den Wettbewerb gegen politische Gegner als Kampf um die Sicherung des Fortbestehen Amerikas darstellt. Die Darstellung politischer Dispute als zivilisatorischen Wettbewerb um die Zukunft des American Way of Life zieht sich durch die besagte A Time for Choosing-Rede Reagans, in der er den Wählern des Landes die zentralen Argumente für eine Goldwater-Präsidentschaft näher brachte. Der demokratische Amtsinhaber Lyndon B. John- 106 Hofstadter, Richard (1965): The Paranoid Style in American Politics. In: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, S. 29-30. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 59 <?page no="60"?> 60 2 Die Eroberung des Südens son stand laut Reagan für eine zutiefst fragwürdige, wenn nicht gar unamerikanische Programmatik. Zu der konkreteren Kritik an der Steuerpolitik der Johnson-Regierung gesellte sich eine Rhetorik, nach der es in der Wahl 1964 um nicht weniger als die Zukunft des Landes, wenn nicht gar der Welt ginge: „If we lose freedom here, there’s no place to escape to. This is the last stand on earth“. 107 Bereits drei Jahre zuvor hatte Reagan einen Ausbau des staatlichen Gesundheitssystem als ernste Gefahr für die Zukunft des Landes dargestellt. Sollte in den USA jemals ein System der „socialized medicine“ eingeführt werden, dann, so Reagan, würde das Amerika der Gründerväter unweigerlich nicht mehr existieren: „One day […] we will awake to find that we have socialism. […] [O]ne of these days you and I are going to spend our sunset years telling our children, and our children’s children, what it once was like in America when men were free.“ 108 In diesem Kontext lohnt sich ein weiterer Blick auf Hofstadters Paranoid Spokesman. Dieser ist stetig durchsetzt von der Angst, dass Land und Zivilisation fortwährend vor dem Untergang stehen: „Time is forever just running out. […] [H]e expresses the anxiety of those who are living through the last days.“ 109 Entsprechend Ronald Reagans Rhetorik war die Wahl zwischen Goldwater und Johnson nicht weniger als die vielleicht wichtigste Weggabelung in der Geschichte des Landes, denn eine falsche Wahl bedeutete die Aufgabe der „Amerikanischen Revolution“. 110 Diese Sichtweise hat in der republikanischen Rhetorik auch bis ins 21. Jahrhundert überdauert. So wandte Donald Trump diese Rhetorik im Wahlkampf 2016 ebenso an, als er seinem Publikum erklärte, der Wettbewerb zwischen ihm und seiner Gegnerin sei 107 Reagan, Ronald (1964): A Time for Choosing. 27. Oktober. 108 Reagan, Ronald (1961): Ronald Reagan Speaks Out Against Socialized Medicine. 109 Hofstadter (1965), S. 30. 110 Ronald Reagan (1964). <?page no="61"?> „a crossroads in the history of our civilization“, der entscheiden würde „whether we are a free nation or whether we have only the illusion of democracy“. 111 Appelle des imminenten Untergangs des Landes zeigen sicherlich eine gewisse Kontinuität innerhalb der Republikanischen Partei bei der Darstellung politischer Konflikte auf. Ronald Reagans fortdauernde Relevanz beruht aber insbesondere auf seinen Ansichten und der diesbezüglichen Rhetorik beim Thema Race. Reagans Standpunkte zu diesem Aspekt trugen dazu bei, den Süden endgültig in das Lager der Republikanischen Partei zu bringen. Den Voting Rights Act des Jahres 1965, der gerade den Südstaaten Auflagen bezüglich ihres Wahlrechts auferlegte, 112 bezeichnete Reagan als „humiliating“ 113 (erniedrigend) für den Süden des Landes. Auch als Kandidat für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien machte sich Reagan einen Namen als Akteur, der alles andere als ein sonderlich extensives Interesse an der Umsetzung föderaler Richtlinien zur Aufhebung der auch im Westen des Landes weit verbreiteten Diskriminierung gegen schwarze Bürger zeigte. 1966 argumentierte Reagan noch, dass es natürlich des Recht eines jeden Bürgers sei, sein Eigentum nicht an Schwarze zu verkaufen oder zu vermieten. 114 Ebenso adressierte er in seinen Wahlbotschaften die Ängste der weißen Wähler. Wie Nixon nutzte Reagan das Bild des „Dschungels“ und beschrieb die Straßen der Städte seines Staats als „jungle paths after dark“. 115 111 Rede von Donald Trump am 13. Oktober 2016. National Public Radio: Donald Trump’s Speech Responding to Assault Accusations. 112 Beispielsweise die vorherige Absegnung von Änderungen der Wahlgesetze oder der Grenzen der Wahlkreise durch das Bundesjustizministerium. 113 Zitiert in: Smith (2010), S. 151. 114 Vgl. Haney López (2014), S. 58. 115 Zitiert in: Dallek, Matthew (2011): The divisive underbelly of Reagan’s sunny optimism. In: Slate, 3. Februar. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 61 <?page no="62"?> 62 2 Die Eroberung des Südens Reagans Reaktion auf die Ermordung der Bürgerrechtsikone Martin Luther King, Jr. gibt weitere Einblicke in seine damalige Denkweise. Nachdem King, Jr. im April 1968 erschossen wurde, argumentierte Reagan zwar, dass dies eine „große Tragödie“ sei, doch gab er dem Bürgerrechtskämpfer und seinen Mitstreitern in gewisser Weise eine Mitschuld an dem Attentat. Der Weg zu dieser Tragödie „began when we began compromising with law and order, and people started choosing which laws they’d break“. 116 In dieser Interpretation standen Attentäter und Opfer fast auf einer Stufe - beide hatten beschlossen, selbst zu entscheiden, welche Gesetze sie als rechtens und beachtenswert sahen. Dass Martin Luther King, Jr. vom ersten Tag an einen friedlichen Widerstand auch in der Konfrontation mit der Polizeigewalt des Südens gegenüber Demonstranten predigte, schien in den Gedankengängen des damaligen Gouverneurs jedoch keine Rolle zu spielen. Reagans fehlender Enthusiasmus anderthalb Jahrzehnte später bei der Einrichtung eines nationalen Feiertags für Martin Luther King, Jr. überrascht in diesem Kontext auch nicht. Als in Diskussionen bezüglich des Feiertages im Senat der Südstaaten-Republikaner Jesse Helms - von einem Kolumnisten der Washington Post noch 2001 als „last prominent unabashed white racist politician in this country“ 117 bezeichnet - Martin Luther King, Jr. vorwarf, ein Marxist gewesen zu sein, dessen Werte mit den amerikanischen „unvereinbar“ 118 waren, reagierte Reagan lakonisch, dass die Wahrheit wohl in 35 Jahren (nachdem die diesbezüglichen FBI-Unterlagen publik gemacht würden) ans Licht käme. Dem Senator aus North Carolina könne er jedoch keine Vorhaltungen machen, da dieser sich, so Reagan, einzig und 116 Zitiert in: Sokol, Jason (2017): Which Martin Luther King are we Celebrating Today? In: New York Times, 16. Januar. 117 Broder, David S. (2001): Jesse Helms, White Racist. In: Washington Post, 29. August. 118 Zitiert in: Dewar, Helen (1983): Helms Stalls King's day in Senate. In: Washington Post, 4. Oktober. <?page no="63"?> allein auf der Suche nach der Wahrheit befand. 119 Zu diesem Zeitpunkt hatte Reagan sich bereits einen Namen unter weißen Wählern mit Ressentiments gegenüber Minderheiten gemacht. Ein Ort im Wahlkampf 1980 sollte diesbezüglich in die Geschichte der Vereinigten Staaten eingehen. Im August 1980 besuchte Ronald Reagan die Neshoba County Fair in Mississippi. Volksfeste wie dieses eigneten sich perfekt zur Wählergewinnung. Dem fast ausschließlich weißen Publikum sagte Reagan, dass er ein klarer Unterstützer von „States’ Rights“ sei. Die Konnotationen dieses Begriffes im Kontext des Kampfes für die Rechte schwarzer Bürger wurden bereits mehrfach erläutert. Besonders war jedoch auch, dass Journalisten, die Reagan auf seiner Wahltour begleitet hatten, sich nicht an eine vorherige Nutzung dieses Ausdrucks durch Reagan erinnern konnten. 120 Die Wahl dieser Worte war dementsprechend kein Zufall, sondern richtete sich an eine Zuschauerschaft, die schon in den Jahrzehnten zuvor genau wusste, für welche Art der Politik der Begriff States’ Rights stand. Die Stätte der Veranstaltung war vorher zudem insbesondere hinsichtlich des zu erwartenden Publikums von einem lokalen Republikaner ausgewählt worden, der das Volksfest in einem Brief an das Republican National Committee (das nationale Organisationsgremium der Partei) als perfekten Ort zur Gewinnung von Wählern, die in der Vergangenheit George Wallace unterstützt hatten, anpries. 121 Mit seiner klaren Positionierung gegen bundesstaatliche Vorschriften, signalisierte Reagan den Besuchern des Volkfestes sowie der konservativen weißen Wählerschaft der Region, dass er auf ihrer Seite stand. Wie Goldwater und Nixon zuvor, positionierte sich Ronald Reagan somit eindeutig als Akteur, der föderale 119 Vgl. Smith (2010), S. 173. 120 Vgl. Crespino, Joseph (2007): In Search of another Country: Mississippi and the Conservative Counterrevolution, S. 1 121 Vgl. Haney López (2014), S. 58. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 63 <?page no="64"?> 64 2 Die Eroberung des Südens Interventionen - auch zur weiteren Implementierung und Wahrung der Rechte der schwarzen Minderheit - strikt und rigoros ablehnte. Die in den Medien durchaus kritische Reaktion auf Reagans Wahlkampfrede basierte jedoch nicht nur auf deren Inhalt, sondern gerade auch auf der Wahl des Veranstaltungsorts. Nur wenige Meilen entfernt waren 16 Jahre zuvor drei Bürgerrechtsaktivisten von Mitgliedern des Ku-Klux-Klan mit der Unterstützung lokaler Polizisten ermordet wurden. Damals wie heute reagieren Unterstützer Reagans empört auf die Unterstellung, dieser habe versucht, rassistische Ressentiments unter potenziellen Wählern anzusprechen. States’ Rights, so die Argumentation, habe für Reagan keinerlei rassebezogenen Konnotationen gehabt, sondern sich einzig und allein auf den Kampf gegen einen überbordenden Staat bezogen. 122 Reagans Handlungen als Präsident erschweren es jedoch, in dieser Frage ein wohlwollendes Fazit zu ziehen. Das vielleicht prägnanteste Beispiel für Reagans Politik gegenüber rassistischen Akteuren lässt sich in einem Gerichtsfall finden, der viele verschiedene Stränge der Südstaaten-Politik vereinte. Wie bereits erwähnt, forcierten Supreme Court und der föderale Staatsapparat in den 1950er und 60er Jahren ein Ende der Rassentrennung in staatlichen Bildungseinrichtungen. Der beste Weg für weiße Eltern, diesen Maßnahmen der Integration zu entkommen, war die Entsendung ihrer Kinder auf Privatschulen, die in einer Vielzahl nach der Gerichtsentscheidung Brown v. Board of Education (1954) aus dem Boden schossen. In den späten 1970er Jahren befanden sich fast 750.000 Schüler auf insgesamt 3.500 Privatschulen im Süden, deren Vorgaben die Aufnahme von Schülern ethnischer Minderheiten oft unmöglich machten. 123 Viele 122 Für eine Apologie, vgl. McLaughlin, Dan (2016): No, Ronald Reagan Didn’t Launch his 1980 Campaign in Philadelphia, MS. In: RedState, 2. Juni. 123 Vgl. Rooks, Noliwe (2018): Cindy Hyde-Smith is Teaching us What Segregation Academies Taught her. In: New York Times, 28. November. <?page no="65"?> der gemeinhin als Segregation Academies bekannten Schulen wurden von christlichen Organisationen betrieben und erhielten Steuerbefreiungen, da sie als karitative Einrichtungen registriert waren. Wie folgend noch erörtert wird, ist es in der Geschichte des Südens nicht unbedingt einfach, die Themen Race und Religion voneinander zu entflechten. Dies sollte gerade bei der Frage der „Re-Segregation“ der Schulen der Fall sein. Manche Beobachter des Bildungssystems des Südens kamen schlussendlich aufgrund der Rolle kirchlicher Institutionen im Kampf für die Beibehaltung der Rassentrennung in Schulen zu dem Fazit, dass kirchliche Schulen und die sogenannten Segregation Academies „fast gleichbedeutend“ 124 waren. Als Reaktion auf ein Gerichtsurteil, das weitere Steuerbefreiungen aussetzte und Druck seitens des Kongresses, traf die Nixon-Regierung im Sommer 1970 die Entscheidung, Steuerbefreiungen für Schulen und Universitäten aufzuheben, deren Status als Privatschulen das Ziel verfolgte, die Rassentrennung in Bildungsinstitutionen auf anderem Wege aufrecht zu erhalten. 1970 entschied sich die amerikanische Bundessteuerbehörde (Internal Revenue Service, IRS), die steuerlichen Vorteile der vielleicht bekanntesten Bildungseinrichtung, die weiterhin Rassentrennung praktizierte, aufzuheben; eine Entscheidung, die eine gerichtliche Konfrontation von über einem Jahrzehnt nach sich ziehen sollte. Beim Ziel des IRS handelte es sich um die evangelikale Bob Jones University (BJU) in South Carolina. Bis 1971 lehnte die Universität die Aufnahme von schwarzen Bewerbern vollkommen ab und untersagte partnerschaftliche Beziehungen zwischen Studenten verschiedener Rassen gar für drei weitere Jahrzehnte. Die Opposition gegen eine weitere Integration basierte laut der Universität jedoch nicht auf einer rassistischen Weltanschauung. Laut BJU konnten Schwarze und Weiße natürlich friedlich und auch gleichberechtigt Seite an Seite miteinander leben. Doch Beziehungen gar 124 Crespino (2007), S. 248. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 65 <?page no="66"?> 66 2 Die Eroberung des Südens sexueller Natur waren indiskutabel. 125 Nachdem die Aufnahmebedingungen gelockert worden waren, argumentierte in den frühen 1980ern der damalige Präsident der Universität, Bob Jones III, weiterhin, dass es „three basic races“ gäbe: „Oriental, Caucasian, and Negroid. At BJU, everyone dates within those three basic races“. 126 Andere Beziehungen oder gar Mischehen stellten laut der Interpretation von BJU hingegen einen Verstoß gegen den Willen Gottes dar. 127 Der Supreme Court sah die Maßnahmen des IRS gegen BJU jedoch nicht als Verstoß gegen die Religionsfreiheit letzterer an und entschied 1983 gegen eine erneute Steuerbefreiung der evangelikalen Universität. In der von Bob Jones III gewählten Argumentation lässt sich auch die zusätzliche Relevanz des Bob Jones University v. United States-Fall erkennen. Unterstützer von BJU, die möglicherweise selbst die fortwährende Rassentrennung an Schulen ablehnten, konnten den Disput als Kampf um die Erhaltung der Religionsfreiheit (und damit als ein Thema, das so alt wie die Vereinigten Staaten selbst sei) darstellen. Ronald Reagan positionierte sich mit dieser Interpretation früh auf Seiten der Universität und dementsprechend aller anderen Segregation Academies. 1982 gab die Reagan- Regierung bekannt, dass der Kampf des IRS gegen BJU und andere Bildungsinstitutionen mit ähnlichen Praktiken beendet sei, da es sich hier um eine Beschneidung des First Amendment-Rechts der Religionsfreiheit handele. Der darauffolgende mediale und politische Aufschrei führte jedoch zu einer direkten Kehrtwende des Präsidenten. Seine Regierung argumentierte nun, der Kongress oder Supreme 125 Vgl. Johnson, Olati (2010): The Story of Bob Jones University v. United States: Race, Religion, and Congress’ Extraordinary Acquiescence. In: Columbia Public Law & Legal Theory Working Papers, Nr. 9184, S. 12. 126 Zitiert in: Albrecht, Lelia C. (1982): Should a Discriminatory School be Tax-Free? Reagan Says yes, Then no; Bob Jones Cries Foul. In: People, 15. Februar. 127 Vgl. Mayer (2002), S. 277-278. <?page no="67"?> Court sollte diese Frage abschließend beantworten. 128 Der Kampf um die Steuerfreiheiten von christlichen Segregation Academies und die Reaktion Reagans spiegelten die Verbindung zwischen den Themen Race und Religion wider; zwei Aspekte, die wie in keiner anderen Region des Landes in den Südstaaten miteinander verknüpft waren - und somit auch im Siegeszug der Republikaner in der Region eine fast gleichermaßen relevante Rolle spielten. Die vorherigen Kapitel konzentrierten sich auf die Relevanz rassebezogener Aspekte bei der Transformation der politischen Präferenzen des Südens. Die „Eroberung“ christlichkonservativer Wähler seitens der Republikaner ist jedoch der zweite Pfeiler der Southern Strategy, in dessen Umsetzung Ronald Reagan eine entscheidendere Rolle als seine Vorgänger spielte. Die Präsidentschaft Reagans und sein langlebiges Vermächtnis können neben seinen Appellen an xenophobe Segmente der Wählerschaft nicht ohne die Allianz, die der 40. Präsident zwischen seiner Partei und dem Elektorat der „Christlichen Rechten“ schuf, verstanden werden. Betrachtet man die heutige Republikanische Partei, mag es überraschend erscheinen, dass die Bindungen zwischen religiösen (insbesondere protestantischen) Interessensvertretern und ihren Unterstützern auf der einen sowie der Republikanischen Partei auf der anderen Seite relativ jung sind. Dabei sei angemerkt, dass schon im frühen 20. Jahrhundert konservative christliche Organisationen versuchten, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Eine dieser Folgen war das Verbot des Lehrens der Evolutionstheorie in fünf amerikanischen Einzelstaaten (vier davon in den Südstaaten). Als der Lehrer John T. Scopes 1925 dieses Verbot in Tennessee missachtete, wurde die Frage gerichtlich aufgearbeitet. Der Prozess weckte ein bis dahin nur selten vorgefundenes nationales Interesse. Diskussionen über die Rolle der Religion im Klassenzimmer und der Wissenschaft 128 Vgl. Haberman, Aaron (2005): Into the Wilderness: Ronald Reagan, Bob Jones University, and the Political Education of the Christian Right. In: The Historian 67 (2), S. 234. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 67 <?page no="68"?> 68 2 Die Eroberung des Südens bescherten dem Gerichtsfall eine Relevanz, die weit über die Frage des Bußgeldes von Scopes hinausging. Zwar wurde dieser letztendlich im vom H. L. Mencken getauften Scopes Monkey Trial zu einer Strafe von 100 Dollar verurteilt, doch verloren die konservativen Christen den Kampf für ihre übergeordneten Absichten. Von den nationalen Medien fast durchgängig für ihre Ansichten verspottet, entschieden sich die meisten religiösen Aktivisten als Folge in eine Art inneres politisches Exil zu gehen. 129 Das Ergebnis war eine fast durchgängige und weit verbreitete politische Abstinenz von politischer Aktivität seitens konservativer Christen für fast ein halbes Jahrhundert. Stattdessen konzentrierte man sich auf die Etablierung einer Art „Staat im Staat“, beispielsweise durch die Errichtung eigener Bildungsinstitutionen (wie zum Beispiel der zwei Jahre nach dem Gerichtsfall gegründeten Bob Jones University). Es sollte gerade dieses extensive Netzwerk innerhalb der konservativen protestantischen Gemeinschaft sein, das sich republikanische Strategen ab den 1970er Jahren beim Versuch der Repolitisierung des christlichen Konservatismus zunutze machen konnten. Noch Mitte der 1960er Jahre argumentierten geistliche Akteure wie Jerry Falwell (später eine der führenden Personen der „Religiösen Rechten“), dass Religion und Politik voneinander strikt zu trennen seien: „Preachers are not called upon to be politicians, but to be soul winners“. 130 Auch im Fall der politischen Wiedergeburt der konservativen Protestanten sollte der Supreme Court wie schon beim Thema Rassentrennung ein bis heute wirkendes politisches Vermächtnis hinterlassen. 1962 entschied der Oberste Gerichtshof im Fall Engel v. Vitale, dass der Staat nicht das Recht besitzt, Gebete in öffentlichen Schulen vorzugeben. Elf Jahre später traf das Gericht eine Entscheidung, dessen Name auch heute den politisch Desinteressierten in den 129 Vgl. Wilcox, Clyde/ Carin Robinson (2011): Onward Christian Soldiers? The Religious Right in American Politics, S. 31-40. 130 Zitiert in: Dionne, Jr., E.J. (2006): Polarized by God? American Politics and the Religious Divide, S. 176 <?page no="69"?> USA bekannt ist. In Roe v. Wade entschieden sieben der neun Richter, dass ein Schwangerschaftsabbruch bis zum Zeitpunkt der Lebensfähigkeit des Fötus legal ist. Für Falwell war es gerade diese Grundsatzentscheidung, die ihn zu einer Abkehr von seiner bis dahin praktizierten politischen Abstinenz bewegen konnte - er erkannte, dass „predigen nicht mehr ausreichen würde“. 131 „Religiöse Rechte“ und Republikanische Partei waren in vielerlei Hinsicht wie füreinander gemacht. In ihrem ideologischen Kern teilten sie ein generelles Misstrauen gegenüber dem föderalen Regierungsapparat. Auf Seiten der Republikanischen Partei entsprieß diese Sichtweise auf der Basis von ökonomischen Grundgedanken, auf Seiten der religiös-konservativen Protestanten wurde der „Staat“ als Akteur gesehen, der zunehmend in die Sphäre der Religion eindrang und Christen seine säkularen Werte aufzwang. Die bereits erwähnten Verbote von Gebeten in öffentlichen Schulen sowie die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen stellten hier nur die Spitze des Eisbergs dar. Mit einer Abkehr von Gott geriet das Land zudem in Gefahr, seinen Exzeptionalismus zu verlieren. Für die Führungsriege der christlich-konservativen Organisationen der damaligen Ära gingen amerikanische Macht und Gottesfurcht Hand in Hand. Nach ihrer Interpretation hatten es die Vereinigten Staaten innerhalb von weniger als zwei Jahrhunderten geschafft, den Status der stärksten Supermacht der Welt zu erlangen, da Gott und Christentum das ideologische Fundament der Nation darstellten. 132 Entsprechend dieser weiterhin durchaus populären Lesart steht eine Art himmlischer Pakt im Zentrum des amerikanischen Gründungsmythos: Amerika als auserwähltes Volk fungiert als das Vehikel für Gottes Pläne auf Erden - im Gegenzug wird 131 Im Original: „Preaching would not be enough.“ Zitiert in: Diamond, Sara (1998): Not by Politics Alone: The Enduring Influence of the Christian Right, S. 64. 132 Vgl. Fea, John (2018): Believe me: The Evangelical Road to Donald Trump, S. 57ff. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 69 <?page no="70"?> 70 2 Die Eroberung des Südens die Entwicklung des Landes durch einen göttlichen Strippenzieher in die richtigen Bahnen gelenkt. Nicht zuletzt Reagan bediente sich, wie später aufgezeigt wird, in seinen Reden auch immer wieder dieser Interpretation. In der extremsten Form dieser Sichtweise müssen biblische Vorgaben für jedwede programmatischen Pläne herhalten. Ein schlanker Staat mit niedrigen Steuern sowie ein Wohlfahrtsstaat, der auf ein Minimum reduziert ist, stellen keine simple ökonomische Präferenz dar, sondern sind nicht weniger als eine biblische Vorschrift (Sichtweisen, die auch insbesondere innerhalb der Tea Party ein großes Maß an Popularität genossen). Jerry Falwell fasste die göttlichen Leitlinien in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wie folgt zusammen: „Ownership of property is biblical. Competition in business is biblical. Ambitious and successful business management is clearly outlined as a part of God’s plan for His People.“ 133 Die Allianz zwischen Republikanern und der Religiösen Rechten basierte jedoch nicht nur auf einer gemeinsamen ideologischen Ausrichtung in gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Fragen. Für erstere war sie gerade auch von strategischer Natur. Der evangelikale Konservatismus konnte von der Republikanischen Partei als einer der wichtigen Schlüssel zur Wählerschaft des Südens genutzt werden, denn diese bestand und besteht weiterhin überproportional aus weißen evangelikalen Wählern. Während ungefähr 30 Prozent aller weißen Amerikaner in den Südstaaten residieren, lassen sich in der Region 45 Prozent aller weißen evangelikalen Amerikaner finden. 134 Eine politische Bewegung, die führende Köpfe der evangelikalen Gläubigen auf ihre Seite bringen konnte, war somit gut positioniert auch im Süden elektorale Erfolge zu feiern. 133 Zitiert in: Horwitz (2013), S. 96. 134 Vgl. Newport, Frank/ Joseph Carroll (2005): Another Look at Evangelicals in America Today. In: Gallup, 2. Dezember. <?page no="71"?> Auch in dieser Frage ist es jedoch schwer, die politischen Entwicklungen gänzlich von rassebezogenen Aspekten zu trennen. Positionierte sich in anderen Landesteilen die Kirche oft auf Seiten der Abolitionists, die der Sklaverei in den Vereinigten Staaten ein Ende setzen wollten, so predigten die evangelikalen Gruppen im Antebellum-Süden oftmals die vermeintlich biblische Vorgabe der Sklaverei. 135 Auch nach dem amerikanischen Bürgerkrieg änderte sich an der gesellschaftspolitischen Positionierung der Kirche im Süden für lange Zeit nur wenig. Nunmehr war die praktizierte Rassentrennung der Jim Crow-Ära ebenso von Gott vorgeschrieben. So beschrieb der Herausgeber eines kirchlichen Magazins in den Südstaaten das göttliche Gesellschaftsmodell wie folgt: „The plan of God is for diversity of races to continue through earthly time and into eternity“. 136 Wer es wagte, sich diesem Plan zu widersetzen, handelte hingegen zutiefst unchristlich. Zur Mixtur des Racial und Religious Conservatism gesellte sich das bereits erwähnte starke Misstrauen konservativer Protestanten gegenüber den meisten staatlichen Akteuren. So wie die Racial Conservatives des Südens Washington, D.C. als Ort der liberal-progressiven Elite sahen, die den einfachen Menschen ihre Fantasien von Rassengleichheit aufzwingen wollten, betrachteten die Christian Conservatives dieselben Personen als gottlose selbsternannte Intellektuelle, die nunmehr das Fundament der amerikanischen Gesellschaft mit ihren säkularen Projekten zu unterminieren suchten. Ein politisch aktiver Staat war für beide dementsprechend ein rotes Tuch. Beide Gruppen - zwischen denen ein durchaus beträchtliches Maß an Überschneidung 135 Hier bezog man sich insbesondere auf den „Curse of Ham“, den Fluch Noahs auf die Nachfahren seines Sohnes Ham, die für alle Ewigkeit als Sklaven zu dienen hatten. Für die Rechtfertigung der Sklaverei wurden Ham und seine Nachkommenschaft als dunkelhäutig dargestellt. 136 Zitiert in: Newman, Mark (2001): Getting Right With God: Southern Baptists and Desegregation, 1945-1995, S. 50. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 71 <?page no="72"?> 72 2 Die Eroberung des Südens in den Südstaaten bestand - sahen sich als Zielscheibe eines nicht enden wollenden Angriffs linksliberaler Kräfte auf ihren Way of Life. Für die wirtschaftspolitisch konservativen Kräfte in der Republikanischen Partei - deren Gott sich oft eher im US-Dollar finden ließ - präsentierte sich hier die Chance ihres Lebens zur Umsetzung der eigenen Small Government-Agenda. Die Möglichkeiten dieser Allianz erkannte auch Ronald Reagan. Segnete er als kalifornischer Gouverneur 1967 noch eines der liberalsten Abtreibungsgesetze des Landes ab, so wurde Reagan schrittweise vom Saulus zum Paulus. 1983 verfasste er, inzwischen Präsident, ein glühendes Plädoyer gegen den Schwangerschaftsabbruch. In seinem Essay „Abortion and the Conscience of a Nation“ 137 (Abtreibung und das Gewissen einer Nation), ließ Reagan keinen Zweifel daran, wie abscheulich er nunmehr Schwangerschaftsabbrüche in allen Fällen sah. Der Feldzug gegen den Ausbau von Reproduktionsrechten dank des Urteils Roe v. Wade wurde vom Präsidenten mit dem Kampf gegen die Sklaverei gleichgesetzt: Vertrat in der Vergangenheit nicht auch ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung die Ansicht, schwarze Mitmenschen besäßen weniger Rechte? Nunmehr stellte sich wieder die Herausforderung zu definieren, wer in den Genuss des Schutzes der amerikanischen Verfassung kommen sollte. Wie wir später sehen werden, hat dieses Thema auch seit der Reagan-Ära nur wenig seiner Brisanz verloren. Auch wenn Reagan selbst kein evangelikaler Christ war, sprach er ihre Sprache wie kein zweiter Präsident und gab konservativen Christen das Gefühl, „einer von ihnen“ sei im Weißen Haus. Der christlich-konservative Mythos der USA als „chosen people/ nation“ war in Reagans Reden und Appellen (auch an eine generelle Wählerschaft) immer wieder vorzufinden. In seiner Rede während der ersten „Conservative Political Action Conference“ (CPAC; heute die wich- 137 In: The Human Life Review, 11(2), Februar 1983. <?page no="73"?> tigste Konferenz auf dem konservativen Kalender) 1974 begeisterte Reagan das Publikum mit einer Mischung aus religiösen und (markt)liberalen Appellen, die seitdem in vielerlei Hinsicht die Basis der republikanischen Interpretation Amerikas darstellen: „You can call it mysticism if you want to, but I have always believed that there was some divine plan that placed this great continent between two oceans to be sought out by those who were possessed of an abiding love of freedom and a special kind of courage.“ 138 Reagan teilte somit die Ansicht viele evangelikaler Protestanten, dass der Glaube an Gott sowie der innige Verbund mit ihm das Fundament der amerikanischen Erfolgsgeschichte darstellten. In einer anderen Rede äußerte Reagan die Sichtweise, dass „our faith in God […] a mighty source of strength“ 139 sei. Die von den Amerikanern genossene Freiheit, so der Präsident in derselben Rede, „springs from an abiding faith in our Creator“. 140 Vielleicht keine Allegorie nutzte Reagan häufiger als die der „city on a hill“, eine Interpretation Amerikas als Leuchtturm der Freiheit und Demokratie, der dem Rest der Welt als Wegweiser für eine bessere Zukunft dienen sollte. Übernommen wurde dieses Bild aus der Bergpredigt Jesu, in der die „Stadt auf einem Hügel“ als „Licht der Welt“ fungiert. 141 Appelle an christlich-konservative Wähler ließen sich in den wichtigsten Reden Reagans finden. Seine Ansprache auf dem republikanischen Parteitag 1980 beendete er beispielsweise folgend: „Can we begin our crusade joined together in a moment of 138 Zitiert in: Schlapp, Matt (Hg., 2019): Reagan at CPAC: The Words That Continue to Inspire a Revolution, S. 16. 139 Reagan, Ronald (1982): Remarks at a White House Ceremony in Observance of National Day of Prayer. 6. Mai. 140 Ebd. 141 Vgl. Fea (2018), S. 76. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 73 <?page no="74"?> 74 2 Die Eroberung des Südens silent prayer? “ 142 In einem etwas persönlicheren Umfeld sprach er wenige Wochen später einer Gruppe von evangelikalen Pastoren ebenso seine Unterstützung für ihre Agenda aus: „I know you can’t endorse me, but I want you to know that I endorse you and what you are doing“. 143 Die jüngsten politischen Entwicklungen der USA offenbaren auch hier ein gewisses Maß an Kontinuität bezüglich der Beziehung zwischen Republikanern und christlichkonservativen Wählern. Donald Trumps Appelle an die religiöse Rechte des Landes sind deutlich kruder und unbeholfener als die Ronald Reagans. Letzterem konnte eine gewisse Religiosität auch abgenommen werden. Doch setzten beide Präsidenten die Verteidigung christlicher Werte mit der Verteidigung amerikanischer Werte gleich. Wie in Kapitel 4.3 aufgezeigt wird, kann gar argumentiert werden, dass Donald Trump in Fragen der konkreten politischen Vorstöße mehr handfeste Ergebnisse für konservative Christen als Ronald Reagan lieferte. Dass letzterer bei der Frage der Rassentrennung von privaten christlichen Schulen von heute auf morgen seine Unterstützer fallen ließ, konnten einige ihm nicht verzeihen. Bob Jones III, Präsident der gleichnamigen Universität zwischen 1971 und 2005, reagierte auf Reagans Kehrtwende bezüglich des juristischen Disputs mit der amerikanischen Steuerbehörde wenig konziliant. Reagan, so Jones III, war für ihn nunmehr „a traitor to God’s people“. 144 Als Ganzes betrachtet stellte sich Reagans Vermächtnis in religiös-politischen Fragen und hinsichtlich der weiteren Rolle der Christlichen Rechten innerhalb der Politik als zwiespältig heraus. Die Allianz zwischen der Führungs- 142 Reagan, Ronald (1980): 1980 Republican National Convention Acceptance Address. 17. Juli. 143 Zitiert in: Fowler, Robert Booth u.a. (2014): Religion and Politics in America: Faith, Culture, and Strategic Choices, S. 33 144 Zitiert in: Williams, Daniel K. (2010): God’s Own Party: The Making of the Christian Right, S. 197. <?page no="75"?> ebene religiös-konservativer Bewegungen und der Republikanischen Partei wurde unter Reagan auf eine Art und Weise gestärkt, die keinen Zweifel daran ließ, wo die Loyalitäten der Prediger, sowie noch viel wichtiger ihrer Gemeindemitglieder, lagen beziehungsweise zu liegen hatten. Weiße evangelikale Christen wurden unter Reagan endgültig zu treuen Republikanern - und seitdem gibt es keine Anzeichen, dass diese Treue nachlässt. Andererseits konnte, beziehungsweise wollte, Reagan in politischen Fragen nur wenig für dieses Segment erreichen. Führende Akteure religiös-konservativer Bewegungen dürften häufig im Oval Office Platz nehmen, doch für die Gläubigen auf den Kirchenbänken ließen sich nur wenige handfeste Errungenschaften vorfinden. Exemplarisch ist hier Reagans Wahl von Sandra Day O’Connor als Richterin für den Supreme Court im Sommer 1981. Dass christlich-konservative Aktivisten befürchteten, die Richterin würde in Fragen des Schwangerschaftsabbruchs zu liberal agieren, schien Reagan kaum zu interessieren. Die Meinungen ranghoher evangelikaler Christen wurden vorab nicht eingeholt und O’Connor sollte sich in ihrer Amtszeit als Richterin herausstellen, die das grundlegende Anrecht auf Schwangerschaftsabbrüche bestätigte. 145 Paul Weyrich, einer der bekanntesten politischen Aktivisten der christlich-konservativen Bewegung der 1970er und 80er, kam bezüglich der Beziehung zwischen Reagan und der Christlichen Rechten zu einem eher ernüchternden Fazit: „[Reagan] basically didn’t do anything for them“. 146 Bezogen auf das andere rhetorisch-strategische Standbein Reagans stellt sich rückblickend auf die 1980er Jahre und die damalige Entwicklung der Republikanischen Partei die 145 Vgl. Flowers, Prudence (2018): ‚A Prolife Disaster‘: The Reagan Administration and the Nomination of Sandra Day O’Connor. In: Journal of Contemporary History 53 (2), S. 391-414. 146 Zitiert in: Marley, David John (2006): Ronald Reagan and the Splintering of the Christian Right. In: Journal of Church and State 48 (4), S. 866. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 75 <?page no="76"?> 76 2 Die Eroberung des Südens fundamentale Frage: War Ronald Reagan ein veritabler Rassist? Der bereits erwähnte Strom Thurmond behauptete zumindest wenige Monate nach Reagans Einzug in das Weiße Haus, dieser sei auf einer programmatischen Plattform angetreten, die im Grunde nicht sonderlich anders als die eigene des Jahres 1948 gewesen wäre (hier sei an Thurmonds vormals eingebrachte Ansichten bezüglich der Rassentrennung im Süden erinnert). 147 Joseph Crespino, Historiker der politischen Transformation des Südens sowie beider Akteure, stimmt dieser Interpretation mit Abstrichen durchaus zu. Reagans Standpunkte zum Thema Civil Rights in den späten 1960er Jahren waren zwar keinesfalls deckungsgleich mit den von Thurmond propagierten, doch handelte es sich hier um graduelle statt grundlegender Unterschiede. 148 Reagan selbst beteuerte, dass seine politischen Positionen in keiner Hinsicht auf rassistischen Überzeugungen gründeten. Reagan-Biograph Lou Cannon argumentiert, der Präsident sei in gewisser Hinsicht Opfer schlechter Beratung gewesen. So sei der juristische Disput um Bob Jones University dem Präsidenten nie als Thema präsentiert worden, in dem es eben nicht nur um religiöse Freiheiten, sondern gerade auch um das Thema der Rechte schwarzer Amerikaner ging. Reagan, so zumindest Cannon, habe gar nicht gewusst, dass viele Schulen insbesondere im Süden des Landes ihre Freiheiten als Privatschulen nutzten, um die Rassentrennung fortzusetzen. 149 Andere Wissenschaftler sehen Reagans Verantwortung in diesen Fragen als erheblich eindeutiger an. Um Reagan hinsichtlich des Themas Bob Jones University oder seiner Rhetorik auf der Neshoba County Fair als unwissend zu betrachten, müssen jahrzehntelange politische Ansichten Reagans zum Thema Race völlig außer Acht gelassen wer- 147 Vgl. Crespino (2012), S. 287 148 Vgl. ebd., S. 288. 149 Vgl. Cannon, Lou (2000): President Reagan: The Role of A Lifetime, S. 459. <?page no="77"?> den. In der Causa „Reagan und Race“ lässt sich, wie auch auf den vorherigen Seiten aufgezeigt wurde, eine lange Spur an fragwürdigen Entscheidungen und Ansichten in der politischen Vergangenheit des 40. Präsidenten vorfinden, die durchaus überzeugend beweist, dass dieser genau wusste, mit welcher Art von Appellen bestimmte von Ressentiments belastete weiße Wählergruppen angesprochen werden mussten, um diese Segmente dauerhaft in das republikanische Lager zu integrieren. Laut Jeremy Mayer war Reagan ein Akteur und Präsident „der Rassismus bei anderen nicht als Problem sah und die meisten öffentlichen Maßnahmen dagegen unterband“. 150 Der bereits erwähnte Ian Haney López geht mit Reagan am härtesten ins Gericht und behauptet, dass für Reagan Konservatismus und eine ablehnende Haltung gegenüber Schwarzen „untrennbar miteinander verbunden“ 151 waren. Jüngst veröffentlichte Aufnahmen begründen weitere Zweifel an einer wohlwollenderen Interpretation der Ansichten Reagans zum Thema Race. Nachdem die Vereinten Nationen im Oktober 1971 die Volksrepublik China anerkannt hatten, äußerte Reagan in einem Telefonat mit Richard Nixon seine Enttäuschung bezüglich der Abstimmung. Zu den afrikanischen Delegierten fiel dem damaligen Gouverneur Kaliforniens nur ein eher fragwürdiger Kommentar ein: „To see those, those monkeys from those African countries - damn them, they’re still uncomfortable wearing shoes! “ 152 Egal welches Fazit bezüglich Reagans wahren Einstellungen zur Frage der Rassengleichheit getroffen werden mag, war er wie nur wenige andere Personen in der Lage, rassistische Appelle, Populismus und Konservativismus miteinander zu verbinden und daraus eine Ideologie zu 150 Im Original: „[W]ho did not see racism in others as a problem and opposed most public efforts to fight it.“ Mayer (2002), S. 155. 151 Im Original: „For Reagan, conservatism and racial resentment were inextricably fused.“ Haney López (2014), S. 57. 152 Zitiert in: Naftali, Tim (2019): Ronald Reagan’s Long-Hidden Racist Conversation With Richard Nixon. In: The Atlantic, 30. Juli. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 77 <?page no="78"?> 78 2 Die Eroberung des Südens schaffen, die ein breites Spektrum an weißen Wählerinnen und Wählern in allen Teilen des Landes ansprach. 153 Er, so der George Wallace-Biograph Dan Carter, „domestizierte“ 154 die Botschaft Wallaces. Es lässt sich konstatieren, dass Ronald Reagan noch bewanderter als seine Vorgänger darin war, Appelle an rassistische Segmente der Wählerschaft in eine Botschaft zu integrieren, die zumindest oberflächlich völlig vom Thema Race separiert war. Mehr noch als Goldwater und Nixon konnte Reagan der Öffentlichkeit gegenüber glaubhaft argumentieren, er habe mit seinen Standpunkten nur konservative, aber keinerlei rassistische Ansichten oder Ziele voranbringen wollen. Das Ziel seiner Attacken gegen den Wohlfahrtsstaat stellte nicht selten die schwarze Minderheit des Landes dar - doch auch hier wurden Afro-Amerikaner nie explizit erwähnt. Schlüsselbegriffe reichten aus, um bei seinem Publikum jedoch gezielt die erwünschten Konnotationen hervorzurufen. Wenn Reagan in seinen Reden das Bild der Welfare Queen aus Chicago nutzte, die dank „80 Namen, 30 Adressen“ und verschiedener anderer illegaler Wege „über 150.000 Dollar“ 155 steuerfrei pro Jahr erhielt, bedurfte es keiner expliziten Erwähnung der Ethnie oder Rasse der betroffenen Person. Dass Reagan bei seinen Unterstützern in dieser Frage über jeden Zweifel erhaben war und bleibt, mag auch seiner jovialen Natur geschuldet sein. Die Folgen seiner Politik und Rhetorik werden heute aber mehr denn je gespürt: Beide Parteien - wie in den folgenden Kapiteln zum Thema Demographie aufgezeigt wird - sind nunmehr klar entlang der Konfliktlinie Race gespalten. Clarence Thomas, von 153 Vgl. Lowndes, Joseph (2008): From the New Deal to the New Right: Race and the Southern Origins of Modern Conservatism, S. 160 154 Carter zitiert in: Thomas, John D. (1996): Invisible Legacy. In: Emory Magazine. 155 Zitiert in: New York Times (1976): ‚Welfare Queen‘ Becomes Issue in Reagan Campaign. 15. Februar. <?page no="79"?> Reagans Nachfolger George H.W. Bush zum zweiten afroamerikanischen Richter im Supreme Court ernannt, kam am Ende der Reagan-Präsidentschaft zu dem Fazit, die Unterstützung des Präsidenten für Rassentrennung praktizierende Bildungsinstitutionen wie Bob Jones University signalisierte das Ende jedweder republikanischen Hoffnungen auf den Gewinn eines relevanten Teils der schwarzen Wählerschaft. 156 Dass Reagan 1986 mit William Rehnquist den einzigen Richter des Obersten Gerichtshofs, der im Streit zwischen Bob Jones University und dem IRS die anfängliche Position der Reagan-Regierung unterstützte, zum Chief Justice (Vorsitzender Richter des Supreme Court) ernannte, untermauerte die Interpretation, Reagans späte Kehrtwende in diesem Fall sei nur eine Folge der negativen öffentlichen Reaktionen gewesen. Die Ergebnisse Reagans unter schwarzen Wählern demonstrieren ein gewisses Maß an beidseitiger Ablehnung. Reagans republikanischer Vorgänger im Weißen Haus, Gerald Ford, war in der Präsidentschaftswahl 1976 immerhin noch in der Lage, 17 Prozent der schwarzen Wählerinnen und Wähler auf seine Seite zu bringen. Obwohl Ronald Reagan acht Jahre später insgesamt zehn Prozentpunkte mehr innerhalb der gesamten Bevölkerung als Ford gewann, hatte sich die Unterstützung unter schwarzen Wählern jedoch auf neun Punkte halbiert. 157 Seitdem können sich republikanische Kandidaten für das Präsidentschaftsamt als glücklich schätzen, wenn sie unter Afro-Amerikanern einen zweistelligen Wert erreichen. 158 Reagans Vermächtnis und seine Bedeutung bezüglich der drei Jahrzehnte später erfolgreichen Trump-Kandidatur 156 Vgl. Mayer, Jeremy D. (2007): Reagan and Race: Prophet of Color Blindness, Baiter of the Backlash, S. 83. 157 Vgl. Roper Center for Public Opinion Research (2019): How Groups Voted. 158 Dies schaffte zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Buches letztmalig George W. Bush in der Wahl 2004 (11 Prozent). 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 79 <?page no="80"?> 80 2 Die Eroberung des Südens lassen sich jedoch auch in anderen Bereichen erkennen. Betrachtet man den Populismus als ein rhetorisches Stilmittel, das die zentrale Konfliktlinie in der Gesellschaft zwischen Volk und Elite (und nicht zwischen Links und Rechts) zieht, dann kann Ronald Reagan in vielerlei Hinsicht als Populist klassifiziert werden. Bereits 1964 sagte er in der bereits erwähnten A Time for Choosing-Wahlkampfrede zur Unterstützung Barry Goldwaters diesbezüglich: „You and I are told increasingly we have to choose between a left or right. Well I’d like to suggest there is no such thing as a left or right“. 159 Für Reagan definierte sich der politische Konflikt über den Kampf zwischen dem „einfachen Mann“ und einem progressiv-liberalen Staatsapparat, der die Freiheiten von ersterem stetig beschnitt. Diese Sichtweise griff Reagan in derselben Rede auf und wandte eine anti-elitäre Rhetorik an, die insbesondere seit der Kandidatur und der Präsidentschaft Donald Trumps wieder Konjunktur im politischen Diskurs der Vereinigten Staaten hat. Die Wahl 1964 zwischen Goldwater und Johnson stellte das amerikanische Volk, so Reagan, vor eine richtungsweisende Wahl zwischen den Idealen der „Amerikanischen Revolution“ und der Option „einer kleinen intellektuellen Elite“, 160 die meine besser als der einfache Bürger entscheiden zu können, wie diese ihr Leben zu gestalten haben. Auch wenn Ronald Reagan von seinen Gegnern gerne als ein politischer Einfaltspinsel dargestellt wurde, lässt sich nicht bestreiten, dass der 40. Präsident der Vereinigten Staaten die Bewegung der tektonischen Platten der US- Politik nicht nur treffend interpretierte, sondern für sich und seine Partei die (zumindest damals) richtigen Schlussfolgerungen traf. Reagan erkannte, dass ein nicht unbe- 159 Reagan (1964). 160 Im Original (ebd.): „This is the issue of this election: whether we believe in our capacity for self-government or whether we abandon the American revolution and confess that a little intellectual elite in a far-distant capitol can plan our lives for us better than we can plan them ourselves.“ <?page no="81"?> trächtlicher Teil der weißen Wählerschaft der Demokraten auf der Suche nach einer neuen Heimat war. Natürlich konnte ein gewisser Teil über das Thema Race in die Partei gebracht werden, doch dauerhafte Mehrheiten benötigten eine Agenda, welche die weiße Arbeiterklasse des Landes auf einer breiten Basis ansprach. Reagans Devise war klar: Die Republikaner mussten sich ihres Country Club/ Big- Business Images entledigen und vielmehr ein Fürsprecher des einfachen Mannes werden, der wie Reagan (als ehemaliger Demokrat) das Gefühl besaß, nicht er habe die Demokratische Partei, sondern sie habe ihn (ideologisch) verlassen. Die Republikaner mussten laut Reagan zur Partei des „man and woman in the factories, […] the farmer, [and] the cop“ 161 werden. Zumindest bezogen auf die weiße Wählerschaft, sind republikanische Erfolge in der Arbeiterklasse ein Merkmal der amerikanischen Politik, das sich nicht erst seit Donald Trump vorfinden lässt. Die Vorarbeit dieser Proletarisierung der Republikanischen Partei hatten Goldwater und Nixon, aber auch George Wallace geleistet. Big Business und der (weiße) Fabrikarbeiter konnten innerhalb einer politischen Partei zusammengebracht werden, da beide einen gemeinsamen Feind teilten: Das linksliberale Establishment, dessen Programmatik der höheren Steuern (zur vermeintlichen Umverteilung an Minderheiten) und Vorgaben bezüglich des alltäglichen Lebens die beiden Pfeiler der Republikanischen Partei vereinte. Natürlich konnte auch ein Arbeiter von der demokratischen Wirtschafts- und Sozialpolitik profitieren. Doch schaffte es die Republikanische Partei, diese Themen mit soziokulturellen Aspekten zu verbinden. In diesem ideologischen Narrativ verwandelte sich der Sozialstaat in ein zutiefst unamerikanisches (sowie nicht-christliches) Konstrukt, dessen Rezipienten zudem eigentlich gar nicht die Unterstützung durch diese Programme verdient hatten. Das Thema Welfare ist somit in den letzten Jahrzehnten wie nur wenige andere Aspekte Subjekt einer Racialization gewor- 161 Zitiert in: Schlapp (2019), S. 52-53. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 81 <?page no="82"?> 82 2 Die Eroberung des Südens den, so dass die Themen Wohlfahrtsstaat und Race immer enger miteinander verwoben sind. 162 Das Narrativ ist hierbei relativ simpel: Der wahre Amerikaner arbeitet hart, ist nicht auf die Hilfe des Staates angewiesen und sieht somit sozialstaatliche Programme mit Argwohn. Big Government ist gleichbedeutend mit Sozialismus und dementsprechend unamerikanisch. Kontrastiert wird das Bild des echten Amerikaners mit Personengruppen, die möglicherweise bereits seit mehreren Generationen staatliche Hilfsprogramme in Anspruch nehmen. Nicht direkt ausgesprochen ist die Implikation jedoch, dass diese Gruppe überproportional aus Minderheiten, insbesondere schwarzen Amerikanern besteht. Es ist eine Sichtweise, die auch noch heute in den höchsten Sphären der Republikanischen Partei vorzufinden ist. So lamentierte beispielsweise Paul Ryan (republikanischer Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten 2012 und Speaker des Repräsentantenhauses von 2015 bis 2019), dass insbesondere in den „inner cities“ eine Kultur vorherrsche, in der die Menschen seit „Generationen“ nicht einmal daran denken würden zu arbeiten oder ein Interesse daran besäßen, den Wert von Arbeit zu verstehen. 163 Sozialstaatliche Hilfen wären bei solch einem fragwürdigen Arbeitsethos Fall höchstens kontraproduktiv. Ob von Ryan unbeabsichtigt benutzt oder nicht, ist festzuhalten, dass nur wenige sozialwissenschaftliche Termini existieren, die stärkere rassebezogene Konnotationen als „inner city/ cities“ vorweisen. 164 Zu rassebezogenen Aspekten gesellte sich ein weiterer gesellschaftspolitischer Disput, den die Republikanische 162 Vgl. Gilens, Martin (1999): Why Americans Hate Welfare: Race, Media, and the Politics of Antipoverty Policy. 163 Vgl. Whitaker, Morgan (2014): Paul Ryan blames poverty on lack of work ethic in inner cities. In: MSNBC, 13. März. 164 Vgl. White, Ismail K. (2007): When Race Matters and When it Doesn’t: Racial Group Differences in Response to Racial Cues. In: American Political Science Review 101 (2), S. 339-354. <?page no="83"?> Partei unter Reagan instrumentalisierte: Der als solcher wahrgenommene linksliberale Krieg gegen gläubige Christen. Schon Nixon hatte seinem Gegner George McGovern 1972 vorgeworfen, dieser sei der Kandidat von Acid (Liberalisierung des Drogenkonsums), Amnesty (für Wehrdienstverweigerer) und Abortion. Differenzen zwischen dem republikanischen Establishment und seiner neuen Blue Collar- Basis können bis heute dadurch übergangen werden, dass potenzielle innerparteiliche Differenzen in der Wirtschaftspolitik keine Aufmerksamkeit erhalten und der Fokus stattdessen auf die gesellschaftspolitischen Entwicklungen innerhalb der Demokratischen Partei gelegt wird. Die, aus konservativer Sicht, Genialität dieser Vorgehensweise liegt darin, dass Ressentiments und Sorgen unter bestimmten schlechter gestellten Segmenten der weißen Wählerschaft genutzt werden können, um Unterstützung für eine Politik zu finden, die gerade Unternehmen sowie den wohlhabenderen Bevölkerungsteilen zugutekommt. Sei es Reagan oder auch Trump, Republikaner können auf diesem Wege elektorale Mehrheiten für Deregulierung und radikale Steuersenkungen für das obere „Ein-Prozent“ finden, da sich in ihrer Wählerschaft das Gefühl etabliert hat, gerade die Menschen der Inner Cities würden unverhältnismäßig und unverdient von einem Sozialstaat nach europäischem Vorbild profitieren. Bezogen auf die republikanische Strategie der Darstellung sozialstaatlicher Hilfe und deren Bezieher als unamerikanisch, hat die von Lyndon B. Johnson 1960 festgestellte Schlussfolgerung bis heute an ihrer Geltung nur wenig verloren: „If you can convince the lowest white man he’s better than the best colored man, he won’t notice you’re picking his pocket. Hell, give him somebody to look down on, and he’ll empty his pockets for you.“ 165 165 Zitiert in: Blow, Charles M. (2018): ‚The Lowest White Man‘. In: New York Times, 11. Januar. 2.4 Ronald Reagan ‒ Die Perfektionierung 83 <?page no="84"?> 84 2 Die Eroberung des Südens 2.5 Die Southern Strategy nach Reagan Am Ende der 1980er Jahre waren die Grundsätze der Southern Strategy der Republikanischen Partei ins Blut übergegangen. Kandidaten haben sie seitdem immer wieder angewandt, ohne dass die Nutzung ihnen immer bewusst war. Nehmen wir das jüngere Beispiel des Senatoren Rand Paul und seiner Rede an der Howard University, einem College, dessen überwältigende Mehrheit der Studenten schwarz ist. Paul wollte hier im April 2013 seinem Publikum die Standpunkte der Republikanischen Partei zum Thema Bürgerrechte näherbringen. Eine nicht unbedingt leichte Aufgabe, da Senator Paul selbst Verständnis für Barry Goldwaters Entscheidung, gegen den Civil Rights Act von 1964 zu stimmen, gezeigt hatte. Wie konnte insbesondere vor einer Gruppe von schwarzen Studierenden argumentiert werden, dass diese und ähnliche andere Ansichten der Republikanischen Partei losgelöst vom Thema Race seien? Warum erhält die Partei von Abraham Lincoln nunmehr nur noch weniger als zehn Prozent der schwarzen Stimmen auf nationaler Ebene? Pauls Antwort beruhte auf der unter weißen Republikanern durchaus weit verbreiteten Sichtweise, dass Afro-Amerikaner nicht nur auf staatliche Hilfen angewiesen sind, sondern durch das Versprechen dieser auch elektoral gekapert werden können. Laut Senator Paul boten die beiden Parteien in den 1960er Jahren grundsätzlich unterschiedlichen Lösungen für das Ziel des Erreichens der Rassengleichheit: „The Democrats promised equalizing outcomes through unlimited federal assistance while Republicans offered something that seemed less tangible - the promise of equalizing opportunity through free markets.“ 166 Dieses Fazit mag zumindest oberflächlich als gänzlich getrennt vom Thema Race erscheinen. Doch inkorporiert es 166 Zitiert in: Wall Street Journal (2013): Rand Paul Delivers Speech at Howard University. 10. April. <?page no="85"?> 2.5 Die Southern Strategy nach Reagan 85 das im vorherigen Kapitel erläuterte Narrativ der oft als vermeintlichen unamerikanisch dargestellten Werte der schwarzen Gemeinschaft, die nicht wie „echte“ Amerikaner einen starken Staatsapparat ablehnen, sondern sich durch ihre Stimmabgabe für einen überbordenden Wohlfahrtstaat einsetzen. Ein Narrativ, das mehrere Generationen republikanischer Politiker mit Nachdruck verbreitet haben und nunmehr selbst in Reden vor einem schwarzen Publikum zu finden ist - ohne dass der Redner sich dessen fragwürdigen Fundament vielleicht bewusst ist. Doch existierten auch nach Ronald Reagans Präsidentschaft eine Vielzahl an Beispielen der bewussten Nutzung von Botschaften, deren Zweck war, die Ressentiments weißer Wähler anzusprechen. Allbekanntheit erhielt hier die republikanische Nutzung eines afro-amerikanischen Schwerstkriminellen in der Kampagne 1988 gegen den demokratischen Präsidentschaftskandidaten und damaligen Gouverneur von Massachusetts, Michael Dukakis. Der für Mord verurteilte schwarze Gefängnisinsasse Willie Horton war zwei Jahre zuvor bei einem Freigang verschwunden und vergewaltigte im Jahr darauf eine Frau, nachdem er ihren Verlobten vorher an den Rand des Todes gebracht hatte. Horton war in einem Gefängnis in Massachusetts untergebracht gewesen. Die erneuten Straftaten beging er, während Michael Dukakis das dortige Amt des Gouverneurs bekleidete. Ein Jahrzehnt zuvor hatte dieser ein Veto gegen die Entscheidung der Landeskammer von Massachusetts, Wochenendfreigänge für Mörder einzustellen, eingelegt. 167 Für republikanische Strategen bot sich hiermit eine Chance auf dem Silbertablett, die sie für ihren Kandidaten George H.W. Bush ausschlachten konnten. Während der Kampagne erwähnte Bush die Geschehnisse immer wieder als Beispiel der demokratischen Milde gegenüber brutalen Straftätern, ohne jedoch explizit auf die Hautfarbe Hortons einzugehen. 168 Diese wurde der breiten Öffentlichkeit zum ersten 167 Vgl. Edsall/ Edsall (1992), S. 222. 168 Vgl. Mayer (2002), S. 218-221. <?page no="86"?> 86 2 Die Eroberung des Südens Mal in einem Wahlwerbespots einer Organisation außerhalb der offiziellen Bush-Kampagne offenbart. Ein 30sekündiger Spot des konservativen National Security Political Action Committee (NSPAC) zu Horton sollte in die Geschichte des amerikanischen Negative Campaigning eingehen. In ihr erhielten Photographien Willie Hortons einen zentralen Platz, während der Sprecher dessen Straftaten detailliert beschrieb („murdered a boy in a robbery“; „stabbing the man and repeatedly raping his girlfriend“) und die Positionierung George H.W. Bushs beim Thema Kriminalität mit der seines Gegners Dukakis kontrastierte: Bush unterstütze die Todesstrafe für Mörder, während Dukakis sie an Wochenende aus dem Gefängnis ließ. Die Reaktion auf die Wahlwerbung war insbesondere bei Weißen mit rassistischen Vorurteilen besonders ausgeprägt. Interessant ist hierbei, dass sich Ressentiments nicht nur auf den Themenbereich Kriminalität auswirkten. So rief der Spot beispielsweise einen Anstieg der Opposition gegen Maßnahmen mit dem Ziel der Linderung von sozialen Ungleichheiten zwischen Weißen und Schwarzen hervor. 169 Man denke hierbei an die bereits erwähnte Racialization des Sozialstaats zurück. Das Horton-Beispiel zeigte auf, wie verflochten scheinbar voneinander unabhängige Themen wie Kriminalität, Wohlfahrtsstaat und Race miteinander waren. Andere Erhebungen erkannten, dass Personen, welche die Wahlwerbung bezüglich des Horton-Falls gesehen hatten, doppelt so stark wie die andere Gruppe die Ansicht vertraten, Kriminalität stelle das größte Problem des Landes dar - ein Anstieg, der gerade unter weißen Frauen besonders ausgeprägt war. 170 Mit der Wahlwerbung konnten republikanische Strategen somit die Vorurteile bestimmter weißer Wähler in verschiedenen Politikbereichen aktivieren (Kri- 169 Vgl. Mendelberg, Tali (1997): Executing Hortons: Racial Crime in the 1988 Presidential Campaign. In: Public Opinion Quarterly 61 (1), S. 134-157. 170 Vgl. Mayer (2002), S. 221. <?page no="87"?> 2.5 Die Southern Strategy nach Reagan 87 minalität sowie auch Feldern, die oberflächlich betrachtet nichts mit Horton zu tun hatten, wie dem Sozialstaat) ohne zu offensichtlich auf diese Ansichten eingehen zu wollen. Hierbei sei noch einmal angemerkt, dass der besagte Horton-Spot nicht von der offiziellen Bush-Kampagne ausging, sondern das Werk eines dritten Akteurs war - auch wenn sich das Wahlkampf-Team um George H.W. Bush letztendlich von der Wahlwerbung distanzierte und immer wieder argumentierte, die strategische Nutzung des Horton-Falls habe nichts mit der Hautfarbe des Straftäters zu tun, dauerte es nach der ersten Publikation des Werbespots 25 Tage bis die Bush-Kampagne bei NSPAC darum bat, die Sendung des Spots einzustellen. 171 Spätestens Ende der 1990er Jahre kontrollierte die Republikanische Partei die Politik des Südens auf fast allen Ebenen. Die umfassende Nutzung rassistischer Vorurteile als Eckpfeiler der Southern Strategy war somit in der Regel nicht mehr notwendig, da die Zielgruppe dieser Ansprachen größtenteils in die Republikanische Partei migriert war. Auch wenn das Thema Race in den Jahren nach Reagan eine eher untergeordnete Rolle in den Wahlkämpfen republikanischer Kandidaten spielte, lässt sich die fortwährende Relevanz dieses Themas nicht negieren. In bestimmten Konstellationen und politischen Kontexten genoss dieser Aspekt auch vor Trumps nativistischer Kandidatur eine nicht zu unterschätzende elektorale Potenz. Rassistische Ressentiments innerhalb der republikanischen Basis boten Strategen weiterhin fragwürdige Mittel zu Wahlerfolgen. Ein besonders skrupelloses Beispiel des (in diesem Falle innerparteilichen) Negative Campaigning richtete sich während des Präsidentschaftswahlkampfes 2000 gegen John McCain. Im Kampf um die Gunst der republikanischen Vorwähler in South Carolina wurde in anonymen Anrufen an Privathaushalte insinuiert, der Senator aus Arizona habe ein außereheliches schwarzes Kind gezeugt. In Wirklichkeit hatten die McCains 1993 ein Mädchen aus Bangladesch adoptiert. Bis heute leugnet 171 Vgl. Mendelberg (2001), S. 141. <?page no="88"?> 88 2 Die Eroberung des Südens George W. Bushs damaliger Kampagnenleiter Karl Rove eine Involvierung des Bush-Teams. Die Relevanz dieser Lüge für das Wahlergebnis kann im Nachhinein nur schwer eingeschätzt werden. Fakt ist jedoch, dass George W. Bush den Heimatstaat Strom Thurmonds für sich entscheiden konnte und der Weg zur republikanischen Präsidentschaftskandidatur daraufhin frei war. Acht Jahre später war John McCain selbst in der Position, das republikanische Banner in die Präsidentschaftswahl zu tragen. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte die republikanische Wählerschaft ihr Führungspersonal im Bereich der Ressentiments gegenüber Minderheiten rechts überholt. Zumindest in einem Fall sollte John McCain seinen afro-amerikanischen demokratischen Gegner gegen xenophobe Attacken verteidigen - auf die Behauptung einer Unterstützerin während einer Wahlkampfveranstaltung, Obama sei ein „Araber“, erwiderte Mc- Cain, dass Obama einzig und allein ein „guter Familienvater, ein Bürger, mit dem ich nur grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten habe“ 172 , sei. Aber auch John McCain musste konstatieren, dass seine Position innerhalb der Partei oft als zu moderat gesehen wurde. Somit fiel die Wahl des Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten auf einen unerfahrenen, aber erzkonservativen Akteur: Sarah Palin. Die damalige Gouverneurin Alaskas ist der Allgemeinheit gerade aufgrund ihrer scheinbaren Einfältigkeit im Gedächtnis geblieben. Auf die Frage, welche Zeitungen sie denn lese, antwortete Palin sichtlich verdutzt „all of them“. 173 Dass die Medien sich auf Palin einschossen, sollte schlussendlich aber gar positive Auswirkungen auf die Popularität der Kandidatin in der eigenen Partei haben, die 172 Im Original: „He’s a decent family man, a citizen that I just happen to have disagreements with on fundamental issues.“ Zitiert in: Dionne, Jr., E.J. (2016): Why the Right Went Wrong: Conservatism - From Goldwater to Trump and Beyond, S. 285. 173 Zitiert in: Jamieson, Alastair (2008): US vice-presidential debate: Sarah Palin fails to name a single newspaper. In: The Telegraph, 1. Oktober. <?page no="89"?> 2.5 Die Southern Strategy nach Reagan 89 dazu führten, dass sie zumindest für einen kurzen Zeitraum nach der Wahl 2008 als potenzielle Favoritin für den nächsten innerparteilichen präsidentiellen Wettbewerb gesehen wurde. Rhetorisch positionierte Palin sich klar am rechten Rand. Obama sah sich von Seiten Palins dem Vorwurf ausgesetzt, er hielte sich gerne in der Gesellschaft von Terroristen auf („pals around with terrorists“ 174 ). Der Vorwurf bezog sich auf Interaktionen Obamas mit Bill Ayers, einem Gründungsmitglied der linksradikalen Weathermen, die in den 1970er Jahren eine Zahl von Bombenanschlägen auf Regierungsinstitutionen durchführten. Spätere Treffen waren jedoch alles andere als konspirativ: Ayers nahm nach seiner Zeit in den Weathermen eine Professur an der University of Illinois an und traf Barack Obama beispielsweise in Beiräten, die sich mit Bildungsfragen beschäftigten. 175 Generell wurde Präsident Obama insbesondere von Sarah Palin - zugegebenermaßen aber als Teil einer größeren Strategie der McCain-Kampagne - als Fremdkörper in der amerikanischen Politik dargestellt. Verbindungen zu Ayers waren nur ein Teil eines argumentativen Konstrukts, das Obama als einen Kandidaten abbildete, der sein eigenes Land nicht nur kritisch sah, sondern gar Hass für Amerikas Geschichte und Werte verspürte. Eine Obama-Präsidentschaft hätte somit nicht nur mindestens vier verlorene Jahre dargestellt, wie dies aus republikanischer Sicht bei demokratischen Präsidenten generell der Fall ist. Vielmehr, so die damalige Argumentation, hätte am Ende dieser Ära ein gänzlich anderes, potenziell sozialistisches Land gestanden. Auch nach der Wahl setzte Palin diese Rhetorik fort und beschrieb die Gesundheitsreform Obamas als „unamerikanisch“ 176 , während sie vor der Wahl 2016 die Obama-Ära folglich resümierte: 174 Für den Kontext, vgl. Smith, Ben (2008): McCain camp: Obama is ‚radical,‘ pals around with terrorists. In: Politico, 4. Oktober. 175 Vgl. Shane, Scott (2008): Obama and ’60s Bomber: A Look Into Crossed Paths. In: New York Times, 3. Oktober. 176 Zitiert in: Fox News (2010): Palin Calls Health Care Process ‚Undemocratic‘ and ‚Un-American‘. 18. März. <?page no="90"?> 90 2 Die Eroberung des Südens „[O]ur country is going to hell in a handbasket under this tragic fundamental transformation of America that Obama had promised us, […] what we need now is a fundamental restoration of America.“ 177 Wie in späteren Kapiteln aufgezeigt wird, trug die Obama- Präsidentschaft zu einer Renaissance der Relevanz des Themas Race und des damit verbundenen Ziels einer „Restauration“ des „echten Amerikas“ bei. Insbesondere die Tea Party-Bewegung schrieb sich die Verteidigung Amerikas gegen den, wie man behauptete, illegitimen schwarzen Präsidenten auf die Fahnen. Anzeichen dieser Transformation und der Relevanz nativistischer Standpunkte innerhalb der Republikanischen Partei ließen sich dementsprechend bereits bei Präsident Obamas Wiederwahlgesuch 2012 erkennen. Auch wenn die Kampagne Mitt Romneys Migration nicht als zentrales Thema nutzte, lassen sich auch hier Aspekte vorfinden, die einerseits die Einordnung der Romney-Kandidatur innerhalb des beschrittenen Pfades vorheriger Republikaner veranschaulichen und gleichzeitig Vorboten auf den republikanischen Weg in den darauffolgenden Jahren aufzeigen. So sprach Romney bezüglich der Frage der irregulären Einwanderung von „Selbstabschieben“ (self deportation) als Lösungsstrategie. Ziel war es hierbei, den sich illegal im Land aufhaltenden Migranten das Leben so zu erschweren, dass die freiwillige Rückkehr in die Heimat die für sie beste Alternative darstellte. 178 Nach dem Verlust der Wahl wurde auch in den eigenen Reihen unter anderem diese Terminologie und programmatische Lösung als kontraproduktiv betrachtet. Bei der innerparteilichen Aufarbeitung der Entwicklung der Partei wurde in einem ausführlichen Bericht argumentiert, dass Latinos für keinerlei programmatische Vorstöße offen sei- 177 Zitiert in: Justice, Jessilyn/ Taylor Berglund (2016): Trump, Palin Challenge ORU Students to Launch ‚Great Awakening‘. In: Charisma News, 20. Januar. 178 Vgl. Madison, Lucy (2012): Romney on Immigration: I’m for „self-deportation“. In: CBS News, 24. Januar. <?page no="91"?> 2.5 Die Southern Strategy nach Reagan 91 en, wenn von ihnen die Republikanische Partei als Partei der „Selbstabschiebung“ wahrgenommen wird. 179 Reince Priebus, damaliger Vorsitzender des Republican National Committee (des landesweiten Organisationsgremiums der Partei), beschrieb 2013 Romneys Kommentare als „furchtbar“ (horrific) und einen Standpunkt, der absolut nichts mit der Partei zu tun habe. 180 Dass Priebus jedoch wenige Jahre später dem Regierungsapparat Donald Trumps in der Funktion des Stabschefs des Weißen Hauses beitrat, zeigt auf, wie ernst es den „Reformern“ innerhalb der Partei mit einer klaren strategischen Neuausrichtung war. Kurz nach der Wahl bot Mitt Romney mit seiner eigenen Analyse der Niederlage Einblicke in die republikanische Wahrnehmung der Gründe, warum Minderheiten Demokraten bevorzugen - eine Interpretation, die Gemeinsamkeiten mit Rand Pauls Ansichten am Anfang dieses Kapitels vorweist. Obama, so Romney, habe nur gewonnen, da er „Geschenke“ an bestimmte Segmente seiner eigenen Wählerschaft verteilt habe. Gerade Afro-Amerikaner und Hispanics hatten nach Romneys Ansicht von staatlichen Gaben profitiert und sich deswegen für Obama entschieden. 181 Schon vorher hatte der Kandidat für Schlagzeilen gesorgt, als er in der entscheidenden Phase des Wahlkampfs 47 Prozent der Bevölkerung vorwarf, sie sähen sich als berechtigt für eine staatliche Versorgung in verschiedenen Bereichen an: „[T]here are 47 percent who are with [Obama], who are dependent upon government, who believe that they are victims, who believe the government has a responsibility to care for them, who believe that they are entitled to health care, to food, to housing, to you-name-it.“ 182 179 Vgl. Republican Party (2013): Growth & Opportunity Project, S. 8. 180 Vgl. Blake, Aaron (2013): Priebus: Romney’s self-deportation comment was ‚horrific‘. In: Washington Post, 16. August. 181 Vgl. Markon, Jerry/ Karen Tumulty (2012): Romney: Obama’s gift giving led to loss. In: Washington Post, 14. November. 182 Zitiert in: Davidson Sorkin, Amy (2012): Mitt’s Forty-Seven-Per- Cent Problem. In: The New Yorker, 18. September. <?page no="92"?> 92 2 Die Eroberung des Südens Oberflächlich mag man es hier „nur“ mit einer gewissen Verachtung eines ehemaligen Private Equity-Geschäftsmanns für die Massen zu tun haben. Ein genauerer Blick offenbart jedoch die zumindest grundlegenden Verknüpfungen zur Rhetorik der Southern Strategy. Denn wer waren nach Romneys Ansicht die Elemente der Obama-Wählerschaft, die durch staatliche Zahlungen erobert werden konnten? Ethnische Minderheiten. Das Bild des schwarzen Amerikaners, der nicht nur von staatlichen Wohlfahrtsprogrammen abhängig ist, sondern dieses Leben genießt, ist eine weit verbreitete Vorstellung, die konservative weiße Amerikaner vom Sozialstaat haben. Sie lehnen die von Romney erwähnten sozialstaatlichen Hilfsprogramme („Health Care, Food [Stamps]“) ab - gerade weil republikanische Politiker in der Vergangenheit stetig Verbindungen zwischen besagten Programmen und missliebigen Minderheiten hergestellt haben. 183 Romney mag keine rassistischen Intentionen mit seinen Kommentaren verfolgt haben, doch zeigt die möglicherweise unfreiwillige Nutzung des Narratives des arbeitsscheuen demokratischen Wählers, der mit Geschenken geködert werden kann, wie tief diese Sichtweise innerhalb der Republikanischen Partei verwurzelt ist. Die jüngsten Auswüchse der Southern Strategy lassen sich in der Kandidatur Donald Trumps erkennen, obwohl in diesem Falle nicht immer erkenntlich ist, ob und inwiefern der 45. Präsident eine kohärente Strategie vorsätzlich verfolgt (sowohl während seiner Kampagne als auch im Amt). Wie die folgenden Abschnitte aufzeigen werden, fand Trump dank der Vorarbeit unzähliger anderer republikanischer Kandidaten und Strategen eine republikanische Wählerschaft vor, die Trumps Ideologie des nativistischen Populismus in großen Zügen teilte. 183 Vgl. Hancock, Ange-Marie (2004): The Politics of Disgust: The Public Identity of the Welfare Queen. <?page no="93"?> 3 Die Zusammensetzung der Republikanischen Partei des 21. Jahrhunderts Die Southern Strategy sollte die kühnsten Erwartungen ihrer Befürworter übertreffen. Daraus resultierte eine fundamentale Verlagerung der ideologischen Zusammensetzung der Republikaner, die sie zur Partei des weißen Südens gemacht hat - sowohl in den Kammern des Kongresses als auch innerhalb der Kernwählerschaft. Infolgedessen feiert sie unter bestimmten Segmenten der Bevölkerung enorme Erfolge, so zum Beispiel bei christlich-konservativen weißen Evangelikalen, weißen Wählern ohne Hochschulabschluss (in den USA generell als White Working Class definiert) und verschiedenen anderen Gruppen, die den föderalen Staatsapparat und Washington, D.C. als Inbegriff des Schlechten sehen. Insbesondere die Tea Party wies eine Gefolgschaft vor, die all diese Werte verkörpern sollte. Von den späten 1960er bis in die frühen 1990er Jahre dominierte die Republikanische Partei Präsidentschaftswahlen, während sich seitdem ihr Einfluss auf die Politik insbesondere aus Erfolgen in Kongresswahlen speist, die sie gerade ihrer Eroberung der Südstaaten verdankt. Deren Bedeutung (und prozentualer Anteil) innerhalb der republikanischen Fraktion ist heute höher denn je. Doch stellt diese Verlagerung ihres regionalen Schwerpunkts die Republikanische Partei auch vor eine monumentale Herausforderung, da der Süden des Landes Werte predigt, mit denen sich außerhalb der Region ein immer geringerer Teil der Bevölkerung identifiziert (wie Kapitel 4.1 erörtert). Eine Botschaft, die auf die Wählerschaft des amerikanischen Südens zugeschnitten ist - nicht zuletzt da die parlamentarische Zusammensetzung der Republikaner immer stärker von den Abgeordneten dieser Region geprägt wird - führt insbesondere in den bevölkerungsreichen Küstenregionen jedoch oft zu einem elektoralen Schattendasein. <?page no="94"?> 94 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert 3.1 Die Republikanische Partei auf der Ebene der politischen Elite Die Republikanische Partei in Washington, D.C. kann heutzutage als die dominante Partei des Repräsentantenhauses betrachtet werden. Nachdem sie 1994 zum ersten Mal nach vier Jahrzehnten eine Mehrheit der Sitze in der unteren Kammer des Kongresses erobern konnte, kontrollierten die Republikaner bis zu den Zwischenwahlen 2018 das Repräsentantenhaus für 20 dieser 24 Jahre. Dies ist insbesondere den Erfolgen republikanischer Kandidaten in den Südstaaten geschuldet. Wie anfangs erwähnt, war die Republikanische Partei in der Region auf allen politischen Ebenen für fast ein Jahrhundert vollkommen irrelevant. Selbst in den für die Republikaner auf nationaler Ebene äußerst erfolgreichen Wahlen von 1952, in der sich Dwight D. Eisenhower mit 442 zu 89 Elektorenstimmen in der Präsidentschaftswahl durchsetzte und seine Partei im Repräsentantenhaus eine Mehrheit erreichte, waren republikanische Kandidaten im Süden nur in der Lage, sechs der 105 dortigen Wahlkreise für das US-Repräsentantenhaus zu gewinnen. Somit stammten weniger als drei Prozent aller Republikaner im Repräsentantenhaus aus einem Wahlkreis des Südens. Auch als Barry Goldwater etwas mehr als ein Jahrzehnt später den ersten Versuch der Umsetzung der Southern Strategy unternahm, stammten zum Zeitpunkt der Wahl weiterhin nur sechs Prozent aller republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus aus den Südstaaten (insgesamt elf Abgeordnete). Goldwaters Kampagne führte fast zu einer Verdoppelung dieses Anteils auf über elf Prozent im 89. Kongress, der zwischen 1965 und 1967 zusammenkam. Dies sollte der Startschuss für einen steten Aufstieg der Südstaaten-Republikaner auch auf Kongressebene und des Ausbaus ihres Einflusses innerhalb der Partei sein (siehe Abbildung 1). Erreichte Anfang der 1980er Jahre der Anteil des Südens in der republikanischen Fraktion im Repräsentantenhaus 20 Prozent, so überschritt dieser Anteil <?page no="95"?> 3.1 Die Partei auf der Ebene der politischen Elite 95 1997 die 30 Prozent-Marke und liegt seit 2009 bei ungefähr 40 Prozent. Da sich nur ungefähr 32 Prozent aller Wahlkreise zum US-Repräsentantenhaus in den Südstaaten befinden (138/ 435), lässt sich folglich ein durchaus starkes Übergewicht des Südens innerhalb der republikanischen Fraktion erkennen, das mit fast 45 Prozent nach den Zwischenwahlen 2018 einen neuen Rekord erreichte. Abb. 1: Prozentualer Anteil der Abgeordneten aus den Südstaaten an der republikanischen Fraktion im Repräsentantenhaus, 1961-2019. Quelle: Eigene Zusammenstellung Diese Erfolge im Süden haben es der Republikanischen Partei ermöglicht, Mehrheiten in der Kammer zu erlangen. Auch wenn in der Gänze betrachtet die Zwischenwahlen 2018 für die Partei bescheiden ausgingen, waren republikanische Kandidaten immer noch in der Lage, ungefähr zwei Drittel aller Wahlkreise in den elf Einzelstaaten des Südens zu gewinnen. In guten Wahlzyklen lag dieser Wert in der jüngeren Vergangenheit gar oft bei über 70 Prozent, ein Anteil, welcher der Partei fast 100 Sitze im Süden allein beschert. Dies bedeutet andererseits, dass die Republikani- <?page no="96"?> 96 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert sche Partei außerhalb der ehemaligen Confederacy nur ungefähr 40 Prozent aller Wahlkreise des US-Repräsentantenhauses gewinnen muss, um eine Mehrheit in der Kammer zu erlangen. An dieser Marke scheiterte sie seit ihrer Eroberung des Repräsentantenhauses 1994 insgesamt nur zwei Mal: 2008 (35 Prozent) und 2018 (37 Prozent). In den zweiten Zwischenwahlen der George W. Bush-Präsidentschaft im Jahre 2006 lag dieser Wert bei 41 Prozent, doch waren zumindest bei dieser Wahl die Verluste im Süden weitreichend genug, um eine Fortführung der republikanischen Kontrolle der Kammer zu verhindern. Der Senat zeichnet für die Republikanische Partei ein etwas gemischteres Bild. Eine Herausforderung stellt hierbei die strikte Parität dieser Kammer dar, die dazu führt, dass die elf Staaten des Südens im Senat einen geringeren Anteil der Abgeordneten stellen als im Repräsentantenhaus (22 anstatt 32 Prozent). Teilweise hat die Republikanische Partei dies in den letzten Jahren durch Erfolge in kleineren Staaten im Rest der Republik ausgleichen können, so dass die Republikaner in dieser Kammer in der jüngeren Vergangenheit auch oft die Mehrheit stellen konnten (siehe Tabelle 1) obwohl demokratische Senatoren, die eher aus bevölkerungsreichen Staaten kommen, tendenziell mehr Amerikaner als ihre republikanischen Kollegen repräsentieren (siehe dazu mehr in Kapitel 4.2.1). Zugewinne im Süden konnte die Republikaner in den letzten Jahrzehnten auch im Senat feiern. Waren 1989 nur sieben der 22 Senatoren der Region Republikaner, so lag dieser Wert dreißig Jahre später nach den Zwischenwahlen 2018 bei 19. Weißes Haus Senat Repräsentantenhaus 1981-83 Republikaner Republikaner Demokraten 1983-85 Republikaner Republikaner Demokraten 1985-87 Republikaner Republikaner Demokraten <?page no="97"?> 3.1 Die Partei auf der Ebene der politischen Elite 97 1987-89 Republikaner Demokraten Demokraten 1989-91 Republikaner Demokraten Demokraten 1991-93 Republikaner Demokraten Demokraten 1993-95 Demokraten Demokraten Demokraten 1995-97 Demokraten Republikaner Republikaner 1997-99 Demokraten Republikaner Republikaner 1999-01 Demokraten Republikaner Republikaner 2001-03 Republikaner Rep./ Dem.* Republikaner 2003-05 Republikaner Republikaner Republikaner 2005-07 Republikaner Republikaner Republikaner 2007-09 Republikaner Demokraten Demokraten 2009-11 Demokraten Demokraten Demokraten 2011-13 Demokraten Demokraten Republikaner 2013-15 Demokraten Demokraten Republikaner 2015-17 Demokraten Republikaner Republikaner 2017-19 Republikaner Republikaner Republikaner 2019-21 Republikaner Republikaner Demokraten * Aufgrund von Parteiwechseln und einem Todesfall wechselten in diesen beiden Jahren die Mehrheiten im Senat. Quelle: Daten des Office of the Clerk of the U.S. House of Representatives. Tab. 1: Kontrolle über die föderalen Regierungsorgane, 1981-2021. Während die Republikaner dank ihrer Eroberung des Südens zumindest in Wahlen zum Repräsentantenhaus in den letzten beiden Jahrzehnten dominieren konnten, präsentiert sich ein anderes Bild in den Präsidentschaftswahlen - eine <?page no="98"?> 98 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert Entwicklung, die auch hier mit den Erfolgen im Süden verbunden ist, da die Daten außerhalb der Südstaaten die Schlussfolgerung aufdrängen, die Popularität eines Kandidaten im Süden korreliere mit gleichzeitiger Ablehnung im Rest des Landes. Generell lässt sich erkennen, dass in der Nachkriegsära bis 1968 republikanische Kandidaten außerhalb des Südens erfolgreicher waren als in der ehemaligen Confederacy (wenig überraschend mit Ausnahme von Barry Goldwater). Bis zum Ende der 80er Jahre erreichten Republikaner sowohl innerals auch außerhalb des Südens ähnliche Ergebnisse. Abb. 2: Anteil der gewonnen Elektorenstimmen von republikanischen Kandidaten inner- und außerhalb der Südstaaten (in Prozent), 1948-2016. Quelle: Eigene Zusammenstellung Wie Abbildung 2 aufzeigt, erhielten sowohl Richard Nixon als auch Ronald Reagan und George H.W. Bush große Zustimmung in beiden Teilen des Landes. So gewann letzterer 1988 alle Elektorenstimmen im Süden sowie fast drei Viertel <?page no="99"?> 3.1 Die Partei auf der Ebene der politischen Elite 99 aller Wahlmänner im Rest des Landes. Die stärkere Südstaaten-Prägung der Partei scheint jedoch seit 1992 auf Kosten von Erfolgen im Rest der Vereinigten Staaten gekommen zu sein. Während George W. Bush sowohl 2000 als auch 2004 alle Electoral Votes des Südens erobern konnte, gewann er im Rest des Landes nur ungefähr ein Drittel aller Elektorenstimmen. Donald Trump war dank seiner überraschenden Erfolge in nördlichen Staaten wie Michigan, Pennsylvania und Wisconsin in der Lage, diese Lücke zu schließen. Trotzdem gewann auch er nur 42 Prozent aller Wahlmännerstimmen außerhalb der Südstaaten. Eine wichtige Säule seines Erfolges stellten die Siege in zehn der elf Einzelstaaten des Südens dar (mit insgesamt 147 der 160 Elektorenstimmen der Region). Diese Ära der Erfolge in Präsidentschaftswahlen im Süden und schwächeren Ergebnisse im Rest der Republik geht mit einer eher durchwachsenen generellen republikanischen Bilanz im Kampf um das Weiße Haus einher. In den sieben Wahlen seit 1992 konnte nur ein einziges Mal ein Republikaner einer Mehrheit der Popular Vote erreichen (George W. Bush in der ersten Präsidentschaftswahl nach den Terroranschlägen des 11. September 2001). Zwei weitere Male bescherte das Electoral College den Republikanern die Schlüssel zum Weißen Haus trotz eines Rückstands in den abgegebenen Wählerstimmen auf ihre demokratischen Kontrahenten. Diese Entwicklung der präsidentiellen Durststrecke steht im Kontrast zu den vorherigen zweieinhalb Jahrzehnten: In den sechs Präsidentschaftswahlen zwischen 1968 und 1988 ging fünf Mal ein republikanischer Kandidat als Sieger hervor. Einzig und allein der Watergate- Skandal führte zu einem denkbar knappen demokratischen Sieg Jimmy Carters in der Wahl von 1976 (mit einem Vorsprung von 2,1 Prozentpunkten in der Popular Vote). Der Süden und seine Werte haben aufgrund ihres Gewichts in der Partei ihr programmatisches Fundament geprägt. Im Kongress lässt sich dies am Phänomen der asymmetrischen Polarisierung erkennen. Die ideologische Kluft in den USA <?page no="100"?> 100 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert hat sich in den letzten drei Jahrzehnten in einem historischen Ausmaß ausgeweitet. Jedoch lässt sich keinesfalls eine vergleichbare Radikalisierung in beiden Parteien vorfinden. Vielmehr muss konstatiert werden, dass die stetig wachsende ideologische Kluft des Landes gerade auf die stetig wachsende ideologische Radikalität der Republikaner zurückzuführen ist. Ein Standard zur Messung der ideologischen Ansichten von Abgeordneten - und damit des Polarisierungsgrads - lässt sich in DW-Nominate-Ergebnissen finden. Diese messen auf der klassischen Links-Rechts-Dimension die Standpunkte von politischen Akteuren bezüglich der Rolle des Staates in wirtschaftspolitischen Fragen. Auf einer Skala von -1 (liberal/ progressiv) bis +1 (konservativ) kann somit auch die ideologische Positionierung der Fraktionen im Kongress gemessen werden. Abb. 3: DW-Nominate-Durchschnittswerte der republikanischen und demokratischen Fraktionen im US-Repräsentantenhaus, 1945 (79. Kongress) bis 2015 (114. Kongress). Quelle: Daten von Voteview: The Polarization of the Congressional Parties, Stand: 30. Januar 2016 Wie Abbildung 3 aufzeigt, hat sich der Durchschnittswert innerhalb der demokratischen Fraktion im Repräsentantenhaus seit den 1970er Jahren nur marginal verändert. Von <?page no="101"?> 3.1 Die Partei auf der Ebene der politischen Elite 101 1975 bis 2015 bewegte sich dieser um 0,083 Punkte nach links. Republikaner im Repräsentantenhaus sind jedoch heute ideologisch gefestigter und extremer denn je. Der Wert ihrer Fraktion bewegte sich in derselben Phase um ungefähr 0,5 Punkte in eine konservativere Richtung. Mit anderen Worten: Der „Radikalisierungsfaktor“ auf der republikanischen Seite in diesen vier Jahrzehnten ist fast sechs Mal so hoch gewesen wie der ihrer demokratischen Pendants. Der politische Einfluss der Südstaatenrepublikaner sowie ihre ideologische Ausrichtung können insbesondere im Repräsentantenhaus auch zu internen Differenzen führen, in denen der Süden jedoch aufgrund seines ansteigenden Gewichts innerhalb der republikanischen Fraktion immer seltener eine parteiinterne Niederlage einfährt. In der Gesellschaftspolitik lässt sich dies beispielsweise am Violence Against Women Act (VAWA) und dessen Erneuerung im Jahre 2013 erkennen. Das Gesetz, zum ersten Mal 1994 verabschiedet, soll Opfer häuslicher Gewalt unterstützen sowie Übergriffe verhindern. Mag dieses Ziel zumindest oberflächlich als parteiübergreifend verstanden werden, so führte die notwendige Erneuerung des Gesetzes 2013 zu einem beträchtlichen Maß an Opposition innerhalb der Republikanischen Partei - jedoch hauptsächlich in ihrem Südstaatenflügel. Schlussendlich unterstützten nur 87 der 232 Republikaner im Repräsentantenhaus die Erneuerung. Somit konnte das Gesetz nur mit Hilfe der damaligen demokratischen Minderheitsfraktion verabschiedet werden. Ein genauerer Blick auf das Abstimmungsverhalten zeigt jedoch die innerparteilichen Gräben auf. Von den 97 Republikanern aus den Südstaaten stimmten nur 15 für die Verlängerung. Mit anderen Worten, nur 15,5 Prozent. 72 der 135 republikanischen Abgeordneten außerhalb des Südens unterstützen das Gesetz jedoch (53,3 Prozent). 184 Erklären lässt sich diese Opposition durch den resoluten Konservatismus der Abgeordneten aus den Südstaaten sowie geplan- 184 Abstimmung abrufbar unter: ProPublica (2013): House Vote 55 - Passes Reauthorization of the Violence Against Women Act. 28. Februar. <?page no="102"?> 102 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert ten Modifizierungen des Gesetzes, die für eine strikte Ablehnung in christlich-konservativen Kreisen und unter Gegnern illegaler Migration sorgten. So sah die Erneuerung des VAWA vor, „undokumentierte Migranten“ sowie sexuelle Minderheiten (beispielsweise Lesben oder Transpersonen) in die geschützten Gruppierungen des Gesetzes aufzunehmen und Opfern von häuslicher Gewalt, die sich illegal im Land befinden, den Erhalt eines zeitlich begrenzten Visums zu ermöglichen. 185 Ein weiteres Beispiel des durchaus radikalisierenden Einflusses der Südstaaten-Fraktion innerhalb der Partei lässt sich beim Disput über die Schließung beziehungsweise Öffnung des Regierungsapparates im Oktober 2013 finden (des ersten Government Shutdown in fast zwei Jahrzehnten). Insgesamt stimmten in der entscheidenden Abstimmung weniger als 40 Prozent aller Mitglieder der republikanischen Fraktion (auch in diesem Fall 87 von 232 Repräsentanten) für die Öffnung der geschlossenen Regierungsbehörden. Unter den republikanischen Repräsentanten außerhalb des Südens, stimmten jedoch fast die Hälfte für den Kompromiss, der im Senat ausgehandelt worden war (67 dafür, 69 dagegen). Das Abstimmungsverhalten der Südstaaten-Republikaner stellte sich jedoch deutlich ablehnender dar: fast 80 Prozent votierten für eine Verlängerung des Government Shutdown. 186 Ähnlich wie während des Shutdown 2018/ 19 unter Präsident Trump, war diese rigide Opposition innerhalb der Bevölkerung alles andere als populär. Ebenso wurde den Republikanern im Kongress von einer überwältigenden Mehrheit der Amerikaner die Verantwortung für den Konflikt übertragen. 187 185 Vgl. Rueb, Emily S./ Niraj Chokshi (2019): The Violence Against Women Act is Turning 25. Here’s how it has Ignited Debate. In: New York Times, 4. April. 186 Abstimmung abrufbar unter: ProPublica (2013): House Vote 550 - Passes Senate Budget Compromise. 16. Oktober. 187 Siehe beispielsweise Langer, Gary (2013): Disapproval of GOP Peaks in Blame for the Budget Crisis. In: ABC News, 14. Oktober. <?page no="103"?> 3.1 Die Partei auf der Ebene der politischen Elite 103 Was bedeutet das angestiegene Gewicht des amerikanischen Südens bezüglich der Zukunft der Republikanischen Partei? Die Südstaaten stellen heute eine republikanische Basis dar, die jedem Präsidentschaftskandidaten der Partei als Sprungbrett dient. Kann ein Republikaner alle Elektorenstimmen der Region für sich entscheiden (160 nach dem Zensus 2010), bräuchte er nur 110 Wahlmänner im Rest des Landes, um ins Weiße Haus einzuziehen (insgesamt weniger als 30 Prozent der Elektorenstimmen außerhalb des Südens). Jedoch sind die Südstaaten indessen auch für die Republikaner kein durchweg Solid South mehr. George W. Bush konnte zwei Mal den gesamten Süden für sich entscheiden. In den drei Präsidentschaftswahlen zwischen 2008 und 2016 votierte Virginia in der Peripherie der Region jedoch jedes Mal für die Demokratische Partei, nachdem der Einzelstaat in dreizehn der vierzehn vorherigen Präsidentschaftswahlen republikanisch abgestimmt hatte. Demographische Veränderungen, die überall im Land vorzufinden sind, werden in Teilen der Region jedoch ein besonderes Maß an Einfluss auf die elektoralen Verhältnisse haben. Texas, seit Jahrzehnten sicher in Händen der Republikaner, könnte in nicht allzu ferner Zukunft gerade dank des steigenden dortigen Bevölkerungsanteils der Hispanics ebenso in das Lager der Demokraten wechseln. Ohne Virginia und Texas stellt sich der Weg ins Weiße Haus für jeden Republikaner deutlich schwieriger dar, da beide Einzelstaaten momentan zusammen 51 Elektorenstimmen auf sich vereinen. Im Kongress ist die Partei dank des wachsenden Gewichts der Südstaaten-Repräsentanten zweifelsfrei zu einer deutlich konservativeren Partei geworden. Ob es um gesellschaftspolitische Fragen - wie die Rechte ethnischer oder sexueller Minderheiten - oder sozioökonomische Angelegenheiten geht, der Süden gibt immer stärker die Standpunkte der Republikaner vor. Dies stellt die Partei in einem nationalen Umfeld, dessen ideologische und demographische Zusammensetzung sich stetig von der republikanischen Basis des Südens entfernt, vor eine enorme Heraus- <?page no="104"?> 104 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert forderung. Der weiße Süden und seine überwiegend republikanischen Repräsentanten sind christlich-konservativ - der Rest des Landes wird säkularer, ideologisch progressiver sowie immer ethnisch diverser (siehe Kapitel 4.1) und kann Abstimmungen, die sich beispielsweise gegen Schutzmaßnahmen für Opfer häuslicher Gewalt richten oder den Regierungsapparat zum Erliegen bringen, nur schwer verstehen. 3.2 Christlich-konservative Wähler Auch wenn führende Politiker der Republikanischen Partei wie Ronald Reagan in soziokulturellen Fragen selten ihre Hoffnungen erfüllten, ist die Gruppe der weißen evangelikalen Protestanten mit ihren erzkonservativen Werten zu einem der verlässlichsten Wählerblocks der Republikanischen Partei geworden. Wie bereits im Reagan-Kapitel erwähnt, stellten die christlich-konservativen Protestanten für die Republikanische Partei einen elementaren Schlüssel für den Erfolg in den Südstaaten dar. Die Gründe dafür lassen sich in der religiösen Zusammensetzung der Region finden. Identifizierten sich 2014 in den Vereinigten Staaten ungefähr 25 Prozent der Bevölkerung als Mitglied einer (weißen) evangelikalen Kirche, lagen diese Anteile in den Südstaaten bis auf Florida höher. In Tennessee stellten evangelikale Protestanten beispielsweise 52 Prozent der Bevölkerung, in Alabama 49 Prozent. 188 Diese Gruppe ist der Garant republikanischer Erfolge in der Region: 2014 identifizierten sich 66 Prozent aller evangelikalen Protestanten in Alabama als Republikaner; sieben Jahre zuvor hatte dieser Wert noch bei 54 Prozent gelegen. 189 188 Auch wenn diese Gruppe nicht explizit weiß ist, ist die überwältigende Mehrheit der „evangelikalen Protestanten“ dieser Studie weiß (in Alabama beispielsweise 85 Prozent). Vgl. Pew Research Center (2014): Religious Landscape Study. 189 Daten der Religious Landscape Study bezüglich Alabama. <?page no="105"?> 3.2 Christlich-konservative Wähler 105 Die steigende Wertschätzung der Ansichten dieser Gruppe seitens der Republikaner war für die Partei somit insbesondere im Kontext der Southern Strategy elektoral sinnvoll. Die zunehmende Fokussierung auf den christlich-konservativen Flügel der Gesellschaft sowie dessen wachsenden Einfluss auf die Partei lassen sich gerade in den Wahlprogrammen der Republikaner ablesen. Das erste republikanische Wahlprogramm (1976) nach der landesweiten Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen durch das Roe v. Wade-Urteil des Obersten Gerichtshofs, sah vor, dass es bei diesem Thema einen „öffentlichen Dialog“ geben müsse, der die unterschiedlichen Ansichten der Gesellschaft als auch der Partei reflektiere. Die grundlegend rigide Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen, die heute ein Definitionsmerkmal der Republikanische Partei darstellt und zu einem enormen Anstieg an diesbezüglichen Restriktionen geführt hat (siehe Kapitel 4.3), existierte damals innerhalb der Partei noch nicht, wie auch die Party Platform festhielt: „The question of abortion is one of the most difficult and controversial of our time. It is undoubtedly a moral and personal issue but it also involves complex questions relating to medical science and criminal justice. There are those in our Party who favor complete support for the Supreme Court decision which permits abortion on demand. There are others who share sincere convictions that the Supreme Court’s decision must be changed by a constitutional amendment prohibiting all abortions. Others have yet to take a position, or they have assumed a stance somewhere in between polar positions.“ 190 Nur acht Jahre danach ließ sich im Wahlmanifest eine grundlegend andere Positionierung vorfinden, die das zentrale Ziel eines „Human Life Amendment“ der Christlichen Rechten aufgriff. Dieses sollte jedem Fötus ab dem Moment 190 Republican Party (1976): Republican Party Platform of 1976. 18. August. <?page no="106"?> 106 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert der Zeugung den Schutz der amerikanischen Verfassung bieten: „The unborn child has a fundamental individual right to life which cannot be infringed. We therefore reaffirm our support for a human life amendment to the Constitution, and we endorse legislation to make clear that the Fourteenth Amendment's protections apply to unborn children.“ 191 Auch dank dieser programmatischen Adjustierung gibt es im 21. Jahrhundert keine andere Wählergruppe, die stärker mit der Republikanischen Partei verbunden ist, als die der christlich-konservativen Wähler, insbesondere weiße Mitglieder evangelikaler Glaubensgruppen. Sie stellen ein Segment der Wählerschaft dar, das auch republikanische Akteure mit einem eher fragwürdigen moralischen Kompass (wie Donald Trump) mit überwältigenden Mehrheiten unterstützt. Für die Republikaner ist dies ein zweischneidiges Schwert. Einerseits besitzen sie mit weißen Evangelikalen ein Wählersegment, das in fast jeder Wahl dank seiner Wahlbeteiligung überrepräsentiert ist. Überzeugungsarbeit muss aufgrund der sich ausbreitenden Kluft zwischen Republikanern und Demokraten bei gesellschaftspolitischen Themen wie Fragen der Reproduktionsrechte oder der Rechte sexueller Minderheiten nur selten geleistet werden, denn auch moderatere republikanische Kandidaten sind in diesem Umfeld für konservative Christen das deutlich geringere Übel als die fast durchweg progressiven Demokraten. Andererseits zieht der in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsene Einfluss der weißen Evangelikalen die Partei generell in eine Richtung, die sie fortwährend weiter vom meinungspolitischen Mainstream entfernt. Insbesondere zwischen dem Segment der jungen Wählerinnen und Wählern auf der einen sowie den weißen Evangelikalen auf der anderen Seite existieren sowohl bei gesellschaftsals auch bei wirtschaftspolitischen Themen enorme grund- 191 Republican Party (1984): Republican Party Platform of 1984. 20. August. <?page no="107"?> 3.2 Christlich-konservative Wähler 107 legende ideologische Differenzen. Dass bei Themen wie der gleichgeschlechtlichen Ehe oder Schwangerschaftsabbrüchen unterschiedliche Ansichten vorherrschen, mag kaum überraschen. Doch auch in wirtschaftspolitischen Fragen ist die christlich-konservative Wählerschaft am rechten Rand vorzufinden. Sie vertritt die Ansicht, dass der Staat sich in sozialstaatlichen Fragen zurückzuhalten habe und bevorzugt vielmehr „small government“. 192 Mit den unter jungen Amerikanern populären Vorstößen zum Ausbau des Sozialstaats - wie einer staatlichen Krankenversicherung - können weiße Evangelikale nur wenig anfangen. Diese Sichtweise basiert nicht nur auf einer simplen Repetition der Argumente seitens der republikanischen Parteispitze, wie wir bereits in vorherigen Kapiteln gesehen haben (man denke hier an Falwells Argument zurück, dass der Schutz des Privateigentums ein biblischer Grundsatz sei). Für Evangelikale gehen Glaube und Aversionen gegen linksliberale staatliche Interventionen Hand in Hand. Hier ist es nochmals sinnvoll, Ronald Reagan zur Rate zu ziehen. Als dieser seine Kandidatur im November 1979 bekannt gab, brachte er das Argument vor, dass die Sicherung der Rolle Amerikas als Leuchtturm der Freiheit nur gewährleistet werden könne, wenn das Land weiterhin „the principles of self-reliance, self-discipline, morality“ 193 verteidigen würde. Entsprechend dieser unter weißen Evangelikalen weit verbreiteten Interpretation sind auf der einen Seite ein moralisch einwandfreier (christlicher) Lebensstil und andererseits die Abhängigkeit von sozialstaatlichen Programmen unvereinbar - letzteres stellt gar die Antithese der grundlegenden amerikanischen Werte dar. Wie der konservative Kommentator und gläubige Christ Glenn Beck zusammenfasste, wären die Founding Fathers selbst zutiefst über den Ausbau des amerikanischen Sozialstaats erschüttert: 192 Vgl. Green, John C. (2004): The American Religious Landscape and Political Attitudes: A Baseline for 2004, S. 19-20. 193 Zitiert in: Domke, David/ Kevin Coe (2010): The God Strategy: How Religion Became a Political Weapon in America, S. 50. <?page no="108"?> 108 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert „Our forbears came to these shores not for free stuff, but for freedom. […] They came here because they knew that God made them free to make their own way in life, take the risk, do their best and take responsibility for their own lives.“ 194 Diese gemeinsamen ideologischen Überzeugungen in gesellschaftssowie wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen und die in Kapitel 2 aufgezeigten historischen Entwicklungen haben die Republikaner zu einer Partei gemacht, in der weiße Evangelikale ein enormes Übergewicht und damit Einfluss auf die bereits erwähnten programmatischen Standpunkte der Partei genießen. In den späten 1970er Jahren waren ungefähr ein Viertel aller Republikaner weiße Evangelikale. Vier Jahrzehnte später lag dieser Anteil bei fast 35 Prozent. 195 Dass diese Entwicklung gerade mit der Eroberung des amerikanischen Südens verbunden ist, lässt sich auch an den lokalen Anteilen der weißen Evangelikalen innerhalb der Republikanischen Partei erkennen. Im „tiefen Süden“ wie Georgia, Mississippi oder Alabama stellen heutzutage weiße evangelikale Christen zwischen der Hälfte und zwei Drittel aller dortigen Republikaner. 196 Noch eklatanter lassen sich diese Veränderungen innerhalb des politisch aktiven Kerns der Partei feststellen. Allein zwischen 1980 und 1988 verdoppelte sich der Anteil der weißen Evangelikalen, die angaben, regelmäßig Gottesdienste zu besuchen unter den erstmaligen Delegierten der republikanischen Parteitage von 7 auf 13 Prozent. 197 194 Beck, Glenn (2013): Glenn gives rousing Civil Rights speech outside the Capitol. 19. Juni. 195 Vgl. Burge, Ryan (2019): The Religious Composition of the Two Major Parties. In: Religion in Public, 25. April. 196 Vgl. Cox, Daniel (2016): White Evangelical Protestants Will Continue to Be a Force in GOP Primaries, but a Force for Whom? In: Public Religion Research Institute, 14. März. 197 Vgl. Layman, Geoffrey (1999): ‚Culture Wars‘ in the American Party System: Religious and Cultural Change among Partisan Activists Since 1972. In: American Politics Research 27 (1), S. 100. <?page no="109"?> 3.2 Christlich-konservative Wähler 109 Dass sich somit die bereits erwähnten Veränderungen der republikanischen Wahlprogramme umsetzen ließen, überrascht in Anbetracht der gesellschaftspolitischen ideologischen Präferenzen an der Basis nicht. Vertraten auf dem republikanischen Parteitag vor der Präsidentschaftswahl 1972 nur ungefähr 20 Prozent aller Delegierten die restriktivste Position bei Schwangerschaftsabbrüchen (immer illegal), so lag dieser Anteil bei über 85 Prozent zwei Jahrzehnte später. 198 Eine vergleichbare Transformation ließ sich ebenso innerhalb der republikanischen Führungsriege vorfinden: Ende der 1970er Jahre nahmen republikanische Senatoren bei Abstimmungen zum Thema Abtreibung in etwas mehr als der Hälfte aller Fälle eine Position ein, die sich für weniger Restriktionen aussprach. 30 Jahre später lag dieser Wert hingegen nur noch bei zehn Prozent. 199 Insbesondere die Präsidentschaftswahl 2016 gibt Aufschluss über die starken Bindungen konservativer Protestanten an die Republikaner. In den Vorwahlen konnte die Unterstützung Donald Trumps innerhalb der streng gläubigen republikanischen Wählerschaft noch durchaus als ausbaufähig bezeichnet werden. Unter Republikanern, die wöchentlich einen Gottesdienst besuchten, gaben ein halbes Jahr vor der Wahl nur 34 Prozent an, dass sie Donald Trump unterstützten. Unter Republikanern, die hingegen weniger als ein Mal die Woche ein Gotteshaus besuchten, lag dieser Wert bei 50 Prozent. 200 Die Unterstützung Trumps unter weißen evangelikalen Wählern in der Präsidentschaftswahl sollte dann jedoch ein beeindruckendes Ausmaß annehmen. 81 Prozent dieser Wählergruppe unterstützte Donald Trump gegenüber Hillary Clinton, ein Wert, der gar höher lag als die 198 Vgl. ebd., S. 104-105. 199 Vgl. D’Antonio, William V. u.a. (2013): Religion, Politics, and Polarization: How Religiopolitical Conflict is Changing Congress and American Democracy, S. 50. 200 Vgl. Smith, Gregory A. (2016): Churchgoing Republicans, once skeptical of Trump, now support him. In: Pew Research Center Fact Tank, 21. Juli. <?page no="110"?> 110 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert Unterstützung des „wiedergeborenen“ Christen George W. Bush bei dessen Wiederwahlgesuch im Jahre 2004 (78 Prozent). 201 Die Arbeit Donald Trumps weiß diese Wähler ebenso zu überzeugen - verschiedene Skandale im Weißen Haus haben seiner Popularität in diesem Wählersegment nichts anhaben können. Während der 45. Präsident in fast allen Bevölkerungsteilen im ersten Amtsjahr teils starke Beliebtheitseinbußen ertragen musste, gaben im April 2018 75 Prozent aller weißen Evangelikalen an, dass sie den Präsidenten in einem positiven Licht sahen. Zu Beginn seiner Präsidentschaft lag dieser Wert bei „nur“ 68 Prozent. 202 Wie lässt sich der Enthusiasmus der christlich-konservativen Wählerschaft für einen Präsidenten erklären, der drei Mal verheiratet war und insgesamt alles andere als bibelfest erscheint? Ein erster Erklärungsansatz (insbesondere bezüglich seines Wahlerfolges) lässt sich in der generellen parteipolitischen Polarisierung des Landes erkennen, die sich immer stärker mit den religiösen Präferenzen des Landes deckt. Wie bereits aufgezeigt, stellen weiße Evangelikale heutzutage eines der republikanischsten Segmente der Wählerschaft dar. Egal welche Person an der Spitze der Partei steht, eine Abwendung der christlich-konservativen Wählerschaft ist nur schwer vorstellbar. Die ideologische Kluft zu überqueren ist im heutigen Umfeld ein fast unmögliches Unterfangen, da die Demokratische Partei ihrerseits säkularer denn je zusammengesetzt ist (siehe auch Kapitel 4.1.3). Bezogen auf die klassischen Culture War-Themen wie Schwangerschaftsabbrüche oder den Rechten gleichgeschlechtlicher Paare sowie sexueller Minderheiten allgemein stehen sich der durchschnittliche Demokrat sowie der 201 Vgl. Martínez, Jessica/ Gregory A. Smith (2016): How the faithful voted: A preliminary 2016 analysis. In: Pew Research Center Fact Tank, 9. November. 202 Vgl. Jones, Robert P. (2018): White Evangelical Support for Donald Trump at All-Time High. In: Public Religion Research Institute, 18. April. <?page no="111"?> 3.2 Christlich-konservative Wähler 111 gemeine weiße evangelikale Wähler diametral gegenüber. So sprachen sich 2019 beispielsweise 75 Prozent aller Demokraten für die gleichgeschlechtliche Ehe aus. Unter weißen evangelikalen Christen lag dieser Wert hingegen bei 29 Prozent. 203 Ähnliche Erkenntnisse lassen sich beim Thema Abtreibung erkennen. Hier sprachen sich 2018 76 Prozent aller Demokraten dafür aus, dass Schwangerschaftsabbrüche in allen oder den meisten Fällen legal sein sollten. Auch in diesem Fall war der entsprechende Wert unter weißen evangelikalen Christen weniger als halb so hoch (34 Prozent). 204 Ein weiterer Punkt, der Donald Trumps steigende Popularität unter konservativen Christen während seiner Zeit im Amt erklärt, sind seine politischen Vorstöße - in vielerlei Hinsicht setzte sich der Präsident stärker für die Interessen der „Religiösen Rechten“ ein als vorherige Republikaner. Mag er bei der Frage des Grenzwalls seine nativistische Basis enttäuscht haben, stellte Donald Trump jedoch die zugegebenermaßen eher niedrigen Erwartungen der christlich-konservativen Wählerschaft mehr als zufrieden. So zog der konservative evangelikale Kolumnist (und vormalige Trump-Gegner) Erick Erickson nach zwei Jahren Trump- Präsidentschaft folgendes Fazit: „The President has shown himself to not share my faith convictions any more than the other side, but the President has shown he is willing to defend my faith convictions and is supportive of them.“ 205 Die in diesen Worten durchklingende Resignation bezüglich des Glaubens der politischen Repräsentanten verspüren - auch auf die Gesellschaft allgemein bezogen - durchaus 203 Pew Research Center (2019): Attitudes on Same-Sex Marriage. Stand: 14. Mai. 204 Vgl. Pew Research Center (2018): Public Opinion on Abortion. Stand: 15. Oktober. 205 Erickson, Erick (2019): I’ll Be Voting for President Trump and Vice President Pence in 2020. In: The Resurgent, 11. Februar. <?page no="112"?> 112 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert viele konservative Christen im Land. Diese haben in vielerlei Hinsicht das Ziel, ihre Mitbürger spirituell zu überzeugen, aufgegeben. Zu verdorben erscheint nach ihrer Interpretation das Amerika des 21. Jahrhunderts. Nunmehr ist der vielversprechendste Weg zur Durchsetzung der eigenen Agenda eher die Wahl von Politikern, die christlichkonservative Anliegen verfechten - auch wenn dies mit fragwürdigen Methoden getan wird und die Kämpfer selbst charakterlich ebenso amoralisch sind. 206 Donald Trump kämpft dreckig, doch ein nicht unbeträchtlicher Teil seiner christlichen Wählerschaft scheint die Sichtweise zu vertreten, dass nur mit dieser Vorgehensweise der gottlose Gegner in die Schranken verwiesen werden kann. Mit seiner Regierungsbilanz erarbeitete Donald Trump sich zudem die Unterstützung von gläubigen (weißen) Christen und bewies sich als einer der stärksten Verteidiger der christlich-konservativen Agenda. So setzte Trump im Politikfeld der Abtreibung Maßnahmen und Vorgaben um, die insbesondere die finanziellen Möglichkeiten von Non- Profit-Organisation wie Planned Parenthood, die unter anderem Schwangerschaftsabbrüche und diesbezügliche Beratungen anbieten, fundamental eingeschnitten haben und teilweise beträchtlich über die Schritte seiner republikanischen Vorgänger im Weißen Haus hinausgingen. Entgegen der ursprünglichen Hoffnungen, Trump könne bei der Frage der Rechte sexueller Minderheiten vielleicht einen - zumindest für republikanische Verhältnisse - moderateren Kurs einschlagen, implementierte Trump auch in diesem Feld mit seinen Maßnahmen eine bewährte, strikt konservative Programmatik (beispielsweise mit der Untersagung des Militärdienstes transsexueller Soldaten). 206 Vgl. Whitehead, Andrew L. u.a. (2018): Make America Christian Again: Christian Nationalism and Voting for Donald Trump in the 2016 Presidential Election. In: Sociology of Religion 79 (2), S. 147- 171; Martí, Gerardo (2019): The Unexpected Orthodoxy of Donald J. Trump: White Evangelical Support for the 45th President of the United States. In: Sociology of Religion 80 (1), S. 1-8. <?page no="113"?> 3.2 Christlich-konservative Wähler 113 Mit Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh wählte Trump zwei Richter für den Supreme Court, die gerade auch in gesellschaftspolitischen Fragen für eine Wahrung erzkonservativer Werte stehen (man erinnere sich hier nochmals an die erwähnte Wahl Sandra Day O’Connors seitens Ronald Reagan, die das christlich-konservative Lager hingegen schwer enttäuschte). 207 In außenpolitischen Fragen steht den weißen Evangelikalen kein Verbündeter näher als Israel, insbesondere da innerhalb evangelikaler Glaubensrichtungen in den Vereinigten Staaten die Meinung vorherrscht, eine Wiederkehr Jesu Christi könne nur dann geschehen kann, wenn Israel als jüdische Heimat existiert (auch als „christlicher Zionismus“ bekannt). Während Trump in seinen ersten beiden Jahren im Amt auf dem außenpolitischen Parkett sowohl Verbündete als auch Gegner oft mit Verachtung oder Geringschätzung behandelte, schien er Benjamin Netanjahu jeden Wunsch von den Lippen gelesen zu haben. Mit dem Umzug der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem, der Anerkennung der Stadt als „ewige Hauptstadt“ Israels und der Unterstützung der Anerkennung der israelischen Souveränität über die Golanhöhen brach Trump mit jahrzehntealten Prinzipien der amerikanischen Außenpolitik, stellte hierbei aber insbesondere die eigene christlich-konservative Basis zufrieden. Die Inkorporation der weißen evangelikalen Wählerschaft hat sich zweifelsfrei in vielen Fragen für die Republikanische Partei ausgezahlt. Mit ihr konnte der amerikanische 207 Hierbei sei gesagt, dass die Zukunft erst zeigen muss, inwiefern Kavanaugh die von konservativen Gruppen gewünschten Restriktionen in Fragen der Reproduktionsmedizin umsetzten wird. In seinem ersten Jahr im Supreme Court schlug sich Kavanaugh zumindest in manchen entscheidenden Fragen auf die Seite der vier progressiv-liberalen RichterInnen. So entschied er sich beispielsweise gegen die Anhörung von Fällen, die Einzelstaaten mehr Rechte gegeben hätten, Planned Parenthood Gelder zu entziehen. Somit galten Urteile von niedrigeren Gerichten, die diesbezüglich im Interesse von Planned Parenthood entschieden hatten. <?page no="114"?> 114 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert Süden, und damit auch ein Sprungbrett zu Mehrheiten im Kongress und Präsidentschaftswahlen, erobert werden. Das Segment der weißen Evangelikalen weist zudem ein hohes Maß an politischer Aktivität auf, so dass diese Bevölkerungsgruppe in Wahlen einen überproportionalen Anteil der Wählerschaft ausmacht: Obwohl 2018 nur 15 Prozent aller Amerikaner weiße Evangelikale waren, stellten sie ein Viertel aller Wähler. 208 Doch stellt die „Evangelisierung“ der Partei diese auch vor Herausforderungen. Die Werte dieser Wähler - und aufgrund ihres innerparteilichen Einflusses dementsprechend auch der Republikanischen Partei - stehen in einem immer stärkeren Gegensatz zu den Werten der säkularen, wirtschafts- und gesellschaftspolitisch progressiven jungen Wählerschaft, die somit keinerlei ideologische Gemeinsamkeiten mit der republikanischen Ideologie vorfindet. 3.3 Die Tea Party 2009 erschien eine Bewegung auf dem politischen Parkett der Vereinigten Staaten, die für einige wenige Jahre die Schlagzeilen dominierte, republikanischen Amtsinhabern das Fürchten lehrte - und dann wieder verschwand. Das Verschwinden aus den Schlagzeilen sollte jedoch nicht als politisches Ableben interpretiert werden, denn die Nachwehen der Tea Party-Aktivität sind heute noch zu spüren. Dies hängt nicht zuletzt auch mit ihrem ideologischen und historischen Fundament zusammen. Auch wenn die Tea Party und ihre politische Aktivität eng mit der Obama-Ära verbunden sind, reichen die Wurzeln der Bewegung lange zurück. Ein halbes Jahrhundert von anti-elitären, rassistischen Appellen konservativer Politiker, die Kompromisse mit politischen Gegnern mit einem Verrat an amerikanischen Grundwerten gleichstellten, schufen mit der Tea 208 Vgl. Edsall, Thomas B. (2019): Trump Needs his Base to Burn With Anger. In: New York Times, 3. Juli. <?page no="115"?> 3.3 Die Tea Party 115 Party eine Bewegung, die nicht der Grund eines Rechtsrucks der Republikanischen Partei war, sondern vielmehr eine Folge dieses ideologischen Wandels darstellte. Der einfachen Klassifizierung widersetzte sich die Tea Party jedoch. Einen Vorläufer der Trump-Kandidatur stellte sie nicht unbedingt dar, auch wenn - wie folgend aufgezeigt wird - verschiedene Aspekte der Trump- und Tea Party- Ideologien sich überlappen, wenn nicht gar deckungsgleich sind. Eine weitere Herausforderung bezüglich der ideologischen Einordnung der Bewegung lässt sich in deren Genese finden. Zumindest inoffiziell gilt die im Fernsehen übertragende Tirade eines Analysten des Wirtschaftsnachrichtensenders CNBC als Startschuss der Bewegung. Auf dem Handelsparkett der Chicago Mercantile Exchange äußerte sich am 19. Februar 2009 Rick Santelli bezüglich des am vorherigen Tag veröffentlichten Plans der jüngst ins Amt gekommenen Obama-Regierung zum Schutz von Hausbesitzern vor Zwangsvollstreckungen. Santelli sah diesen Vorstoß als unnötigen und falschen Eingriff in die Kräfte des Markts - und dementsprechend auch als zutiefst unamerikanisch. Für Santelli waren die betroffenen Hausbesitzer, die sich mit ihren Hypotheken übernommen hatten, allein für ihr Schicksal verantwortlich. Warum sollte die Allgemeinheit für die Fehler Einzelner aufkommen? Live im Fernsehen fragte Santelli die um ihn herumstehenden Trader der Börse, wie viele von ihnen für die Hypotheken anderer aufkommen wollten, nur weil diese Personen sich ein zusätzliches Badezimmer leisten wollten, das ihr Gehalt eigentlich nicht finanzieren konnte? „This is America“, so Santelli, und vielleicht war es nunmehr an der Zeit, in Anlehnung an den Kampf gegen die britische Obermacht im 18. Jahrhundert eine neue „Tea Party“ zu planen. 209 Auch andere Faktoren ließen den Eindruck entstehen, man habe es hier mit einer vorrangig wirtschaftspolitischen Be- 209 Vgl. Kirell, Andrew (2015): When CNBC created the Tea Party. In: The Daily Beast, 30. Oktober. <?page no="116"?> 116 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert wegung zu tun. Gelder erhielten Organisationen innerhalb der Bewegung insbesondere durch Multimilliardäre wie die Brüder Charles und David Koch, die ihrerseits seit Jahrzehnten mit ihrem beträchtlichen Reichtum Einfluss innerhalb der Republikanischen Partei erworben haben. Gesellschaftspolitisch konservative Anliegen sind den Koch Brothers größtenteils fremd - relevant ist für sie hingegen ein schlanker Staat in wirtschaftspolitischen Fragen. 210 Ein durchaus großes Maß an Beliebtheit innerhalb der Bewegung genoss ebenso zumindest anfänglich der Texaner Ron Paul, republikanisches Mitglied des US-Repräsentantenhauses über verschiedene Zeiträume zwischen 1976 und 2013. Paul hatte bereits Ende 2007 in der Stadt der ursprünglichen Tea Party, Boston, eine Veranstaltung unter diesem Titel organisiert. 211 Eine Ikone innerhalb der libertären Bewegung der Vereinigten Staaten, verkörperte Paul in den Augen seiner Unterstützer das Mantra der klassischen amerikanischen Werte des Misstrauens gegenüber einem „starken Staat“. Staatliche Vorgaben lehnte Paul größtenteils ab, egal ob es um wirtschafts-, sozial- oder gesellschaftspolitischen Fragen ging. Auch Kandidaten, die unter dem Banner der Tea Party in republikanischen Vorwahlen antraten, schrieben sich die Forderung nach Small Government auf ihre Fahnen. Betrachtet man insbesondere die Werte der breiteren Masse innerhalb der Tea Party, lassen sich wichtige Details erkennen, die den Wertekanon der Bewegung aufdecken und Einblicke in die Verbindungen zwischen Tea Party und der republikanischen Wählergewinnung seit den 210 Diese Art der Etablierung verschiedener Tea Party-Organisationen führte schlussendlich auch zu dem Vorwurf, man habe es hier nicht mit einer „Grassroots“-Bewegung zu tun. Der Begriff des „Astroturf“ (Kunstrasen) erschien manchen Wissenschaftlern und Analysten passender. Vgl. Arceneaux, Kevin/ Stephen P. Nicholson (2012): Who Wants to Have a Tea Party? The Who, What, and Why of the Tea Party Movement. In: Political Science & Politics 45 (4), S. 700-710. 211 Vgl. Formisano, Ronald P. (2012): The Tea Party: A Brief History, S. 27. <?page no="117"?> 3.3 Die Tea Party 117 1960er Jahren bieten. Diese Erkenntnisse stellen zudem die Einordnung als libertäre Bewegung infrage. Bezogen auf die Präferenz zum „schlanken Staat“ in der Tea Party und den möglichen Erklärungsansätzen, lohnt sich ein weiterer Blick zurück in die Geschichte der Southern Strategy. Wie bereits erwähnt, argumentierte Lee Atwater, dass republikanische Appelle an rassistische Wähler des Südens unter dem Deckmantel des klassischen Konservatismus geschehen mussten. Mit jedem Jahrzehnt waren diese jedoch komplexer zu gestalten, so dass schlussendlich die konservative Botschaft an die entsprechenden Wähler laut Atwater wie folgt aussah: „Now, you’re talking about cutting taxes, and all these things you’re talking about are totally economic things and a byproduct of them is, blacks get hurt worse than whites.“ 212 Im Kontext der Tea Party- Bewegung und ihrer Unterstützer bedeutete dies, dass die Ablehnung sozialstaatlicher Programme (also die Forderung nach „small government“) oft mit den eigenen Ansichten gegenüber Minderheiten - und nicht einer generell libertären Weltanschauung - verbunden war. Anders gesagt: Da bestimmte wohlfahrtsstaatliche Programme als Maßnahmen wahrgenommen wurden, die insbesondere Minderheiten zugutekamen, fand sich unter Tea Party-Wählern hier ein besonderes Maß an Opposition gegenüber diesen Mitteln vor. Eine sonderlich große Gunst für persönliche Freiheiten in anderen politischen Bereichen ließ sich unter Tea Party-Mitgliedern hingegen generell nicht vorfinden. 213 Es war diese nativistisch-rassistische Grundeinstellung, die (wie später aufzeigt wird) ein Grundmerkmal der Bewegung darstellte. In ihrer politischen Gesinnung ließen sich die Tea Party- Republikaner ganz von Barry Goldwaters auf dem republi- 212 Zitiert in: Lamis (1999), S. 8. 213 Vgl. Parker, Christopher S./ Matt A. Barreto (2013): Change They Can’t Believe in: The Tea Party and Reactionary Politics in America, S. 151. <?page no="118"?> 118 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert kanischen Parteitag 1964 vorgegeben Devise leiten: „[E]xtremism in the defense of liberty is no vice. […] [M]oderation in the pursuit of justice is no virtue.“ 214 Wie Goldwater sahen sie sich Mitglieder der Tea Party-Bewegung auf der Seite der Freiheit und der Werte, die Amerika den Aufstieg zur Weltmacht ermöglicht hatten. Ob Goldwater und Tea Party-Anhänger hierbei von denselben Werten sprachen, ist jedoch mehr als fraglich. Zu den bereits erwähnten Faktoren gesellte sich in der Genese der Tea Party das Kriterium der Religiosität und dessen steigender Relevanz innerhalb der republikanischen Allianz - eine Entwicklung, die Goldwater an seinem Lebensende scharf verurteile. Ein definierendes Merkmal der Tea Party (und hier lassen sich durchaus Differenzen zur Kernwählerschaft Donald Trumps finden) war der religiöse Konservatismus ihrer Unterstützer. 52 Prozent aller Tea Party-Republikaner gaben in einer Erhebung im Herbst 2010 an, sich als „evangelikaler“ beziehungsweise „Born Again“-Christ zu definieren. Unter den restlichen Republikanern lag dieser Anteil hingegen bei 38 Prozent. 215 Ebenso beschrieben sich zwei Jahre später 40 Prozent der Tea Party-Republikaner als „stark religiös“ im Vergleich zu einem Wert von 31 Prozent unter den restlichen Republikanern und 26 Prozent innerhalb der allgemeinen Wählerschaft. 216 Insgesamt spielte somit Religion auch eine erheblich wichtigere Rolle in der politischen Entscheidungsfindung von Tea Party-Mitgliedern: Bei den Themen gleichgeschlechtlicher Ehe und Abtreibung gaben jeweils 53 und 46 Prozent an, dass für sie Religion den wichtigsten Faktor bei der Generierung ihrer Standpunkte darstellen. Unter allen 214 Goldwater, Barry (1964): Senator Barry Goldwater 1964 Acceptance Speech, Video auf C-SPAN verfügbar. 215 Vgl. Abramowitz, Alan I. (2012): Grand Old Tea Party: Partisan Polarization and the Rise of the Tea Party Movement, S. 206. 216 Vgl. Abramowitz, Alan I. (2013): Not Their Cup of Tea: The Republican Establishment Versus the Tea Party. In: Sabato’s Crystal Ball, 14. November. <?page no="119"?> 3.3 Die Tea Party 119 Amerikanern lagen diese Werte hingegen bei 37 und 28 Prozent. 217 Libertäre Ansichten waren hingegen kaum verbreitet: Während mehr als die Hälfte aller Tea Party-Unterstützer in einer Umfrage im Jahr 2013 angab, sich als Teil der „Christlichen/ Religiösen Rechten“ zu sehen, identifizierte sich nur ein Viertel als libertär. 218 Für Tea Party-Unterstützer passte somit eher das Etikett des reaktionären religiösen Konservatismus, einer Ideologie, die sich dank der Strategie der Republikanischen Partei im letzten halben Jahrhundert inmitten ihrer Gesamtwählerschaft stetig verbreitet hat. Dies lässt sich insbesondere am ewigen Streitthema Abtreibung erkennen. Wie kein zweites symbolisiert es den Culture War, der gerade wegen des politischen Aktivismus evangelikaler Christen Einzug in die politische Debatte des Landes gefunden hat und ebenso zu einem Definitionsmerkmal republikanischer Werte geworden ist. Daten aus dem Jahre 2012 zeigten auf, dass 60 Prozent aller Tea Party- Republikaner sowie 49 Prozent aller anderen Republikaner Abtreibung strikt ablehnten. 219 Ebenso waren 32 Prozent aller Tea Party-Republikaner der Ansicht, die Position der Partei bei diesem Thema müsse noch konservativer werden (21 Prozent aller anderen Republikaner teilten ebenso diese Forderung). 220 Libertäre Tendenzen ließen sich hier also innerhalb der Tea Party nicht im Geringsten vorfinden. Auch wenn die Kernwählerschaft Donald Trumps in den Vorwahlen 2016 eher zum vergleichsweise säkularen Flügel der Partei gehörte, stellten die Tea Party und ihre Unterstützer einen Vorboten der Trump-Kandidatur dar. Neben 217 Vgl. Clement, Scott/ John C. Green (2011): The Tea Party and Religion. In: Pew Research Center, 23. Februar. 218 Vgl. Jones, Robert P. (2016): The End of White Christian America, S. 97. 219 Vgl. Abramowitz (2013). 220 Vgl. Pew Research Center (2013): Whither the GOP? Republicans Want Change, But Split over Party’s Direction, S. 6. <?page no="120"?> 120 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert ihrer Religiosität ließ sich das definierende Merkmal der Tea Party zweifelsfrei in den rassistischen Ansichten ihrer Unterstützer und auch der damit verbundenen strikten Ablehnung der Einwanderung finden. In diesem Charakteristikum lässt sich ebenso die Entstehung der Bewegung und ihre Einbettung innerhalb der Entwicklung der Republikanischen Partei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ablesen. Wer für ein halbes Jahrhundert am rechten Rand der Gesellschaft fischt und seinen Wählern den Eindruck verleiht, Racial Equality sei ein Nullsummenspiel in dem ein Aufstieg der Minderheiten oft auf Kosten des Wohlstands und Status der (weißen) Mehrheit geschieht, darf nicht überrascht sein, wenn der aktive Kern der eigenen Partei aus ressentimentgeladenen Wählern besteht. Im Vergleich zu anderen Republikanern, waren unter Tea Party-Republikaner Vorurteile gegenüber Minderheiten durchaus verbreiteter. Wird der Maßstab des Racial Resentment 221 als Gradmesser des Ausmaßes an rassistischen Vorurteilen angewandt, so lässt sich erkennen, wie weit rechts Tea Party-Republikaner in dieser Frage von anderen Republikanern standen. Während beispielsweise 54 Prozent aller Republikaner, die sich nicht als Mitglied der Bewegung sahen, der Sichtweise widersprachen, Afro-Amerikaner seien aufgrund vergangener Ungerechtigkeiten und Dis- 221 Dieser soziologische Maßstab misst einen „modernen“ Rassismus, der im Gegensatz zum traditionellen Rassismus (der auf Gefühlen der biologischen Überlegenheit basiert) auf der Sichtweise beruht, Minderheiten verstießen gegen klassische amerikanische Werte des starken Arbeitsethos und der Disziplin. Gemessen wird Racial Resentment auf der Basis von meist vier Fragen/ Propositionen, die beispielsweise messen sollen, inwieweit Probanden die Ansicht vertreten, Afro-Amerikaner seien selbst für potenzielle wirtschaftliche und soziale Probleme in ihrer Gemeinschaft verantwortlich. Generell wird Racial Resentment dementsprechend auch als Vermischung traditioneller konservativer Werte (Personen sollen ohne staatliche Hilfe auskommen) und rassistischen Vorurteilen (Schwarze haben nicht dasselbe Arbeitsethos wie Weiße) betrachtet. <?page no="121"?> 3.3 Die Tea Party 121 kriminierung schwerer in der Lage, die soziale Leiter emporzusteigen, lehnten 74 Prozent aller Tea Party-Republikaner diese Interpretation der Gründe hinter den weiterhin vorhandenen Herausforderungen von Afro-Amerikanern ab. 222 Sie waren mit anderen Worten eher der Ansicht, dass strukturelle Diskriminierung gegen Minderheiten in der heutigen Gesellschaft nicht mehr vorzufinden sei. Andere Studien replizierten diese Ergebnisse und fanden beispielsweise eine positive Korrelation zwischen dem Ausmaß an rassistischen Ressentiments und der Unterstützung der Tea Party. 223 Zudem war unter Tea Party-Mitgliedern die Auffassung, zu viel Aufmerksamkeit werde auf die Probleme schwarzer Amerikaner gelegt und diese seien weniger intelligent als Weiße ebenso erheblich weiter verbreitet als in der allgemeinen Bevölkerung. 224 Dabei sei gesagt, dass in diesen Fragen zwischen beiden Flügeln der Republikanischen Partei graduelle und nicht grundlegende Differenzen existierten. Tea Party-Republikaner äußerten beim Thema Minderheiten zwar radikalere Ansichten als der Rest der Partei, doch fanden sich vergleichbare xenophobe Tendenzen auch in der allgemeinen republikanischen Wählerschaft vor. Zur Interpretation, dass schwarze Amerikaner nur noch selten Ziel von Diskriminierung seien, gesellte sich die Sichtweise, dass nunmehr Weiße eher Opfer von Ungleichbehandlungen sind. Während in einer Umfrage 2010 44 Prozent aller Amerikaner angaben, Diskriminierung gegen Weiße stelle ein „ernstes Problem“ dar, lag dieser Anteil unter Tea Party-Unterstützern bei 61 Prozent. 225 Vertraten insgesamt ungefähr 40 222 Vgl. Abramowitz (2012), S. 206. 223 Vgl. Tope, Daniel u.a. (2015): Anti-minority attitudes and Tea Party Movement membership. In: Social Science Research 51, S. 322-337. 224 Vgl. Zeskind, Leonard (2012): A Nation Dispossessed: The Tea Party Movement and Race. In: Critical Sociology 38 (4), S. 502. 225 Vgl. Jones, Robert P./ Daniel Cox (2010): Old Alignments, Emerging Fault Lines: Religion in the 2010 Election and Beyond. In: Public Religion Research Institute, November, S. 16. <?page no="122"?> 122 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert Prozent aller weißen Amerikaner ebenso die Ansicht, dass man beim Thema Bürgerrechte für Minderheiten zumindest teilweise zu weit gegangen war, lag dieser Anteil bei 63 Prozent unter Mitgliedern der Tea Party-Bewegung. 226 Wie wir später sehen werden, hat sich diese Sichtweise in den vergangenen Jahren innerhalb der republikanischen Wählerschaft nur noch weiter zementiert. Statusängste und ein immer stärker werdendes Gefühl der Benachteiligung innerhalb der konservativen weißen Wählerschaft ebneten in vielerlei Hinsicht Donald Trump den Weg in das Weiße Haus. Ressentimentgeladene Ansichten bezüglich des Themas Race bieten einen zentralen Erklärungsansatz für die rigide Opposition, die Barack Obama innerhalb der Tea Party hervorrief. Internationalen Bekanntheitsgrad erhielt die innerhalb der Tea Party weit verbreitete Sichtweise, der erste schwarze Präsident des Landes sei entsprechend der Vorgaben der amerikanischen Verfassung gar nicht für das Amt des Präsidenten qualifiziert. Klausel 5 in Abschnitt 1 von Artikel 2 des Verfassungstextes besagt, dass einzig und allein ein „natural born citizen“ für das Präsidentschaftsamt wählbar ist. Jedoch lässt der Text die genaue Definition des „natürlich geborenen Staatsbürgers“ offen. Zweifelsfrei war Barack Obama dank der amerikanischen Staatsbürgerschaft seiner Mutter zum Zeitpunkt seiner Geburt ebenso ein Amerikaner. Eine Vielzahl von Verschwörungstheorien verfolgte jedoch das Ziel, dem Präsidenten den Status als „natural born citizen“ abzusprechen. So lautete die in der Tea Party-Bewegung vorherrschende Meinung, Barack Obama sei nicht in Hawaii, sondern außerhalb des Landes geboren und besäße dementsprechend nicht den Status des „natürlich geborenen“ Amerikaners (51 Prozent äußerten diesen Standpunkt, während 37 Prozent aller Republikaner außerhalb der Tea Party diese Auffassung teilten). 227 An die 226 Vgl. Zeskind 2012, S. 503 227 Vgl. Bradberry, Leigh A./ Gary C. Jacobson (2015): The Tea Party and the 2012 presidential election. In: Electoral Studies 40, S. 502. <?page no="123"?> 3.3 Die Tea Party 123 Spitze dieser „Birther“-Bewegung stellte sich schnell ein Reality TV-Star: Donald Trump. Fortwährend forderte dieser den Präsidenten auf, seine Geburtsurkunde zu veröffentlichen, und machte sich somit in nativistischen Kreisen einen Namen. Auch wenn die geltende juristische Meinung bezüglich der Frage des Status als Natural Born Citizen selbst bei einer Geburt im Ausland auf Seiten des Präsidenten stand, gab dieser zermürbt im April 2011 schlussendlich die Anweisung, eine Kopie seiner ursprünglichen Geburtsurkunde publik zu machen. Verbunden wurde der Birtherism mit der Darstellung des Präsidenten als Figur, die innerhalb der amerikanischen Gesellschaft einen vermeintlichen Fremdkörper repräsentierte. 2012 glaubten 25 Prozent aller Amerikaner, Barack Obama sei ein Muslim. Unter Republikanern, die nicht der Tea Party angehörten, lag dieser Wert bei 40 Prozent, unter Tea Party-Republikanern bei 52 Prozent. 228 Diese Einschätzung stellte innerhalb der Tea Party somit einen zentralen Pfeiler der Interpretation Präsident Obamas als „fremdes“ Element dar. Diese Sichtweise gipfelte nicht selten in kruden Attacken gegen den Präsidenten. So richtete ein Redner während einer Tea Party-Kundgebung inmitten des Government Shutdown 2013 den Aufruf an das amerikanische Volk, zu „fordern, dass der Präsident […] den Koran niederlegt“ und mit „erhobenen Händen“ aus dem Weißen Haus komme. 229 Anzumerken sei hier, dass unter anderem Senator Ted Cruz sowie Sarah Palin ebenso an der besagten Kundgebung teilnahmen. Ideologisch damit verwandt, sahen Tea Party und ihre Unterstützer Migration in einem negativen Licht. Eine nähere diesbezügliche Betrachtung legt den Schluss nahe, dass die 228 Vgl. ebd. 229 Im Original: „[D]emand that this president leave town, to get up, put the Quran down, to get up off his knees, and to figuratively come up with his hands out.“ Zitiert in: Alman, Ashley (2013): Larry Klayman Tells Obama ‚to put the Quran Down‘ at Veterans Rally. In: Huffington Post, 13. Oktober. <?page no="124"?> 124 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert Tea Party in gewisser Hinsicht das Fundament der Trump- Kandidatur goss, indem sie eine rigorose Ablehnung der Interpretation der USA als Land der Einwanderer und damit einhergehend die Forderung einer restriktiveren Einwanderungspolitik innerhalb der Partei zur grundsätzlichen republikanischen Leitlinie machte. Tea Party-Unterstützer betrachteten Migranten als Gefahr für Amerika in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht. Fast 60 Prozent sahen Einwanderer als „Belastung“ für das Land, da sie ihrer Ansicht nach Arbeitsplätze und Dienstleistungen der eingesessenen Bevölkerung wegnahmen, ein Wert der 2014 bei 32 Prozent unter allen anderen Amerikanern lag. 230 Der vielleicht wichtigste Aspekt beim Streit um Reformen des Einwanderungsrechts stellt in den Vereinigten Staaten bis heute die Frage dar, inwiefern illegale Einwanderer, die bereits seit vielen Jahren im Land leben und sich nichts zu Schulden haben kommen lassen, „legalisiert“ werden können. Die Lösungsvorschläge reichen hier von einem Weg zur Staatsbürgerschaft („Pathway to Citizenship“) zur sofortigen Abschiebung und dem Verbot einer erneuten Einreise. Es überrascht nicht, dass Tea Party-Wähler, deren Opposition gegenüber jeder Lockerung der Einwanderungsgesetze auf tiefen kulturellen und ökonomischen Sorgen basierte, somit auch jeder liberalen Vorgehensweise eine vehemente Abfuhr erteilten. Ein Drittel aller Tea Party-Mitglieder lehnte 2011 den Vorschlag, dass illegale Migranten eine zukünftige Chance des Erhalts der Staatsbürgerschaft erhalten, strikt ab (unter Demokraten lag der damalige Wert bei elf Prozent). 231 Fast 60 Prozent der Tea Party sprach sich ebenso für eine Verfassungsänderung aus, die den 14. Zusatz- 230 Vgl. Cox, Daniel (2014): Why Loyalty to their Tea Party Constituents is Holding Back House Republicans on Immigration Reform. In: Public Religion Research Institute, 8. August. 231 Vgl. Jones, Robert P. u.a. (2011): What it Means to be an American: Attitudes in an Increasingly Diverse America ten Years after 9/ 11. In: Brookings Institution/ Public Religion Research Institute, 6. September, S. 31-32. <?page no="125"?> 3.3 Die Tea Party 125 artikel der US-Verfassung aufheben würde (alle Amerikaner: 39 Prozent). 232 Dieser überträgt allen in den USA geborenen Kindern die amerikanische Staatsbürgerschaft - somit auch den Kindern illegaler Einwanderer. Obwohl Republikaner in den Kammern des Kongresses in der zweiten Amtszeit Präsident Obamas alles Erdenkliche taten, um Reformen des Einwanderungsrechts zu blockieren, waren zwei Jahre vor der Bekanntgabe der Trump-Kandidatur 41 Prozent aller Tea Party-Republikaner der Ansicht, die Positionierung der Partei in dieser Frage sei weiterhin nicht adäquat konservativ. 233 Während einzelne moderatere Republikaner wie Jeb Bush illegale Einwanderung gar als „Akt der Liebe“ 234 und Versuch, die Lebensumstände der eigenen Familie zu verbessern deklarierten, schien Donald Trump diese rigorose Opposition gegen Migration und eine nachsichtigere Politik gegenüber illegalen Einwanderern innerhalb der Republikanischen Partei am besten verstanden zu haben. Ein Kandidat wie Donald Trump hätte jedoch nicht erfolgreich sein können, wenn die Tea Party-Ansichten nur den Rand der republikanischen Ideologie abgedeckt hätten. Betrachtet man die besonders relevanten politischen Fragen der amerikanischen Politik, so wird ersichtlich, dass die Differenzen innerhalb der Republikanischen Partei selbst zum zeitlichen Höhepunkt der Tea Party-Bewegung zwischen 2010 und 2012 keine grundlegenden Meinungsverschiedenheiten darstellten. In ideologischer Hinsicht lässt sich feststellen, dass die Unterschiede zwischen der Tea Party-Bewegung und „Mainstream“-Republikanern nicht prinzipieller Natur waren, sondern erstere die Werte des konservativen Lagers auf eine kompromisslosere Art artikulierten. Dies taten sie nicht zuletzt auch dank ihrer religi- 232 Vgl. Kehaulani Goo, Sara (2015): What Americans want to do about illegal immigration. In: Pew Research Center, 24. August. 233 Vgl. Pew Research Center (2013): Whither the GOP? , S. 6 234 Zitiert in: Cooney, Peter (2014): Jeb Bush says illegal immigration often ‚an act of love‘. In: Reuters, 7. April. <?page no="126"?> 126 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert ösen Überzeugungen, die generell nur wenig Spielraum für Kompromisse in politischen Fragen lassen. Doch spiegelten diese Ansichten die vorherrschende Meinung innerhalb der Republikanischen Partei wider. Gerade beim Thema Einwanderung sollte nicht vergessen werden, dass George W. Bushs Versuche einer grundlegenden Reform des Einwanderungsrechts während seiner zweiten Amtszeiten durch die Opposition in den eigenen Reihen scheiterten, da Republikaner im Kongress die Vorstöße des Präsidenten als nicht restriktiv genug sahen. Die Relevanz der Tea Party und ihrer ideologischen Radikalität innerhalb der Republikanischen Partei basierte hauptsächlich auf ihrem Aktivismus. In einem politischen Umfeld, dessen Wahlbezirke aufgrund der stetig steigenden Polarisierung des Landes immer republikanischer beziehungsweise demokratischer werden, haben die parteiinternen Vorwahlen oft die Rolle der General Election, also der Wahl selbst übernommen, da die Kandidaten der dominanten Partei nur selten „ihre“ Wahlkreise verlieren. Daten aus dem Jahre 2010 zeigten auf, dass Republikaner, die sich ebenso als Mitglied der Tea Party identifizierten, in verschiedenen Fragen der politischen Aktivität deutlich engagierter als der Rest der republikanischen Wählerschaft waren. So gaben 44 Prozent der Tea Party-Republikaner an, einen politischen Amtsinhaber kontaktiert zu haben - nur 20 Prozent der Republikaner ohne sonderliche Zuneigung zur Bewegung hatten dies ebenso getan. Auch bei politischen Spenden, deren Relevanz in der amerikanischen Politik nur schwer überbewertet werden kann, war der Anteil der politisch aktiven Personen innerhalb der Tea Party mehr als doppelt so hoch wie bei anderen Republikanern: 22 Prozent ersterer sowie 9 Prozent letzterer gaben an, Geld an eine politische Kampagne gespendet zu haben. 235 Die Folge ist wenig überraschend: Innerhalb der republikanischen Vorwählerschaft waren Tea Party-Unterstützer deutlich überrepräsentiert. Während insgesamt im Jahre 2012 235 Vgl. Abramowitz (2012), S. 209. <?page no="127"?> 3.3 Die Tea Party 127 ungefähr die Hälfte aller Republikaner angab, gleichzeitig die Tea Party zu unterstützen, stellten diese Tea Party Supporters fast zwei Drittel der Vorwählerschaft der Republikanischen Partei dar. 236 Ein ideologisch moderater Kurs, der Kompromissbereitschaft als grundlegenden politischen Wert anpries, stellte in diesem Umfeld für die eigenen elektoralen Chancen ein Todesurteil dar. Der Blick auf die Werte der Tea Party-Unterstützer hat aufgezeigt, wie eng diese mit der heutzutage vorherrschenden Ideologie der Republikanischen Partei verbunden waren. Ob es sich um gesellschaftspolitische Fragen wie Abtreibung, das Thema Race und die damit verbundenen Statusängste oder insbesondere einwanderungspolitische Aspekte und die damit einhergehenden Konsequenzen handelte, die Tea Party war als Bewegung eine Folge der strategischen Entscheidungen innerhalb der Republikanischen Partei im vorherigen halben Jahrhundert. Wer vor ungefähr einem Jahrzehnt die Tea Party als potenzielle „dritte Partei“ des amerikanischen Parteiensystems sah, verstand die Ursprünge und Ideologie der Bewegung nicht. Diese Sichtweise war jedoch selbst unter konservativen Akteuren durchaus weit verbreitet. David Frum, ehemaliger Redenschreiber George W. Bushs, äußerte nach dem Shutdown 2013 die Hoffnung, dass eine Abspaltung der Tea Party eine befreiende Wirkung für die Republikanische Partei haben könnte. 237 Dabei übersah er, dass die Bewegung sich nicht am Rand, sondern im Herzen der Partei befand. Rassismus und gesellschaftspolitisch erzkonservative Werte innerhalb der Bewegung waren eine Folge der jahrzehntelangen Southern Strategy. Zumindest die Führung der Partei erkannte die ideologischen Überschneidungen. Mitch McConnell, der ranghöchste Republikaner im Senat, erklärte 2013, dass es zwar durchaus taktische Differenzen zwischen der Tea Party und konventionellen Republikanern gäbe, bei programmati- 236 Vgl. Abramowitz (2013). 237 Vgl. Frum, David (2013): A Tea Party Exit Would be a Blessing for GOP. In: CNN, 14. Oktober. <?page no="128"?> 128 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert schen Fragen aber nur wenige Unterschiede bestünden. 238 Ebenso konstatierte der damalige republikanische Speaker des Repräsentantenhauses, John Boehner, dass ein Tea Party- Unterstützer schlussendlich kaum von einem „durchschnittlichen konservativen Republikaner“ 239 zu unterscheiden sei. Dementsprechend überrascht es auch kaum, dass die Bewegung in nur einigen wenigen Wahlzyklen soweit in die Republikanische Partei integriert werden konnte, dass sie als Organisation heute fast nicht mehr vorhanden ist. Einige wenige Jahre später sollte mit Donald Trump und seiner Kandidatur von Analysten erneut eine Transformation der amerikanischen Politik festgemacht werden. Wie folgend aufgezeigt wird, wurden im Falle Trumps jedoch ähnliche Fehler wie bei der ideologischen Einordnung der Tea Party gemacht. Sowohl Tea Party als auch Trump hätten nicht ohne Goldwater, Nixon und Reagan auf der politischen Bühne des Landes erscheinen und Erfolge feiern können. Erfolge von Tea Party-Kandidaten in den republikanischen Vorwahlen stellten genauso wie Donald Trumps Kandidatur keine feindliche Übernahme der Partei dar. Vielmehr war Donald Trump nach der Tea Party der nächste folgerichtige Schritt in der Entwicklung der Republikanischen Partei in Richtung eines wohlfahrtschauvinistischen, nationalistischen Populismus. 3.4 Donald Trump ‒ die Krönung der Southern Strategy? Donald Trumps Erfolg in den Vorwahlen 2016 basierte auf einer Kombination von verschiedenen Faktoren - manche eher allgemein (wie die ideologischen Präferenzen der re- 238 Vgl. Public Broadcasting Service (2013): Sen. Mitch McConnell: I don’t think anybody can make the health reform law work. 30. Oktober. 239 Zitiert in: Memoli, Mascaro (2014): Republicans keep tea party wing at bay in primary races. In: Los Angeles Times, 20. Mai. <?page no="129"?> 3.4 Trump ‒ die Krönung der Southern Strategy? 129 publikanischen Wählerschaft nach einem halben Jahrhundert der Southern Strategy), manche spezifisch (wie die Gegebenheiten des Vorwahlkampfes 2016). Mag Trump von der republikanischen Elite eine strikte Abfuhr erhalten haben, so konnte er sich trotzdem existierende Strukturen bezüglich der republikanischen Wählerschaft zunutze machen. Auch wenn Analysen nach dem Überraschungserfolg Trumps gerne das Argument vorbrachten, Trump habe dank der „vergessenen“ weißen Wutbürger, die nun endlich genug vom politischen System hatten, gewonnen, so zeigt eine genauere Analyse auf, dass eben diese Wutbürger bereits seit geraumer Zeit innerhalb der republikanischen Kernwählerschaft vorzufinden sind (siehe auch das folgende Kapitel zur weißen Arbeiterklasse). Die Ergebnisse der Vorwahlen 2016 selbst demonstrieren ebenso, dass Trumps Kampagne existierende Entwicklungen und Veränderungen der Parteipräferenzen innerhalb der amerikanischen Wählerschaft fortführte. Die politischen Wettbewerbe der Vorwahlen können nur gewonnen werden, indem Kandidaten den aktiven Kern der eigenen Partei von sich überzeugen. Dies tat Trump - weder in den Vorwahlen noch in der darauffolgenden Präsidentschaftswahl lässt sich hingegen erkennen, dass er eine signifikante Zahl von Nichtwählern oder vormaligen Demokraten für sich gewinnen konnte. Neben den später erörterten Merkmalen der Wählerschaft, um deren Unterstützung Trump und seine Gegner buhlten, sollte sich gerade auch die Größe des Kandidatenfeldes als enorm vorteilhaft für den politischen Novizen herausstellen. 17 Personen entschieden sich im Sommer 2015 für das Amt des republikanischen Präsidentschaftskandidaten anzutreten. Die Nutzung einer klaren Botschaft bezüglich eines zentralen Kernthemas erlaubte es dem politischen Neuling Donald Trump aus dem Feld herauszuragen, während kein anderer Kandidat in der Lage war, einen vergleichbaren Themenkomplex für sich ähnlich auszunutzen. Die Größe des Kandidatenfeldes bedeutete auch, dass kein einziger Kandidat im Verlauf der sogenannten Invisible Primary (des Zeitraums zwischen der Bekanntgabe der <?page no="130"?> 130 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert eigenen Kandidatur und den offiziellen Vorwahlen) sich als die erste Wahl der politischen Amtsinhaber und Geldgeber des republikanischen Mainstreams herauskristallisierte. Somit warteten entscheidende republikanische Akteure bis zum Frühjahr 2016 damit, einem Kandidaten ihre offizielle Unterstützung (Endorsement) zu übertragen. Am Tag der Iowa Caucuses, des traditionell ersten Wettbewerbs der Vorwahlen, wiesen die beiden vorherigen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney und John McCain beispielsweise jeweils 148 und 104 Endorsements vor. George W. Bush besaß zu diesem Zeitpunkt im Jahr 2000 gar fast 550 Endorsements. Im Wahljahr 2016 war es sein Bruder Jeb, der an diesem Tag das republikanische Feld anführte - mit jedoch nur 51 Endorsements. 240 Es sind diese Endorsements, die in der Wissenschaft als durchaus wirksames Mittel gesehen werden, mit dem die Parteielite der Basis signalisieren kann, welcher Kandidat ihrer Ansicht nach die aussichtsreichsten Chancen vorweist und dementsprechend das Votum der Wählerschaft verdient hat. Traditionell folgt die Basis dann auch den Signalen der Elite. 241 Ob der fehlende Fingerzeig der Parteielite Trump den Weg ebnete, ist auch rückblickend schwer zu werten. Es führte jedoch auch dazu, dass mehrere Anwärter auf das Präsidentschaftsamt ihren aussichtslosen Kampf unnötig verlängerten, da sie bis zum Schluss hofften, sie könnten als finaler Kandidat des Mainstream-Flügels in einem direkten Wettbewerb Trump schlagen. Somit gab es zu keinem Zeitpunkt einen Kandidaten des Partei- Mainstreams, der sich als klare und führende Alternative zu Trump profilieren konnte. Noch wichtiger als die interne Zerstrittenheit der republikanischen Elite ist ein Blick auf die Nachfrageseite und diesbezügliche Faktoren, die Donald Trumps Erfolg ermög- 240 Vgl. Bycoffe, Aaron (2016): The 2016 Endorsement Primary. In: FiveThirtyEight, 7. Juni. 241 Vgl. Cohen, Marty u.a. (2008): The Party Decides: Presidential Nominations Before and After Reform. <?page no="131"?> 3.4 Trump ‒ die Krönung der Southern Strategy? 131 lichten. So kam der Politikwissenschaftler Michael Tesler, selbst der Autor einer Vielzahl von Werken zur Nutzung des Themas Race durch die Republikanische Partei, zu dem Fazit, Trump sei „the first Republican in modern times to win the party’s presidential nomination on anti-minority sentiments“. 242 Auch wenn, wie wir bereits gesehen haben, einige andere republikanische Größen versucht haben, die Ressentiments weißer Wähler gegenüber Minderheiten für elektorale Erfolge zu nutzen, stellten diese Standpunkte sowie ihre Botschaft nicht unbedingt das Kernelement der Kandidatur dar. Selbst Goldwater versuchte seine Appelle an rassistische weiße Wähler verhüllt vorzubringen und sich als Kandidat des schlanken Staates darzustellen. Dies war bei Trump anders, wie sich bereits am ersten Tag seiner Kandidatur erkennen ließ. Nachdem Donald Trump am 16. Juni 2015 die Rolltreppe auf dem Weg in das Untergeschoss seines Trump Towers verlassen hatte, hielt er eine Rede, die für internationale Schlagzeilen sorgte und den Ton für seine Kampagne vorgab. Von Populismus und Nativismus durchtränkt, beschrieb Trumps Ansprache gerade Migration als verheerendes Unglück für die Nation. Die vermeintlich weit verbreitete Kriminalität im Land wurde gerade mit ethnischen Minderheiten in Verbindung gebracht. Migranten, insbesondere aber nicht nur aus Mexiko, brächten Drogen und Kriminalität ins Land. Viele von ihnen seien, so Trump, zudem Vergewaltiger. 243 Wenige Monate später ging Trump noch einen Schritt weiter und artikulierte mit seinem „Muslim Ban“ den Vorstoß eines Einreisestopps für spezifische Personengruppen. Es war eine Strategie, mit der Trump in ein für ihn enorm vorteilhaftes innerparteiliches Umfeld vorstieß. Wie nicht zuletzt auch der Aufstieg der Tea Party bewies, war in der Republikanischen Partei das Thema Migration im Kontext 242 Tesler, Michael (2016): Trump is the first modern Republican to win the nomination based on racial prejudice. In: Washington Post, 1. August. 243 Vgl. Trump, Donald (2015): Announcement Speech. 16. Juni. <?page no="132"?> 132 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert einer vermeintlichen Bedrohung in ökonomischen aber gerade auch kulturellen Fragen zu einem Thema mit enormen Mobilisierungspotenzial geworden. Waren 2006 noch 61 Prozent aller Republikaner sowie 54 Prozent aller Demokraten der Ansicht, die steigende Zahl der Einwanderer schade dem amerikanischen Arbeiter, so lagen die jeweiligen Werte ein Jahrzehnt später bei jeweils 67 und 30 Prozent. 244 2016 war somit das Thema Migration zu einer der zentralen ideologischen Konfliktlinien der amerikanischen Politik geworden - gerade auch dank der starken Liberalisierung der Demokraten in dieser Frage. Der Strategie der Darstellung von Migration als Bedrohung sollte sich Trump auch als Präsident mit einer Einwanderungspolitik treu bleiben, die international für Schlagzeilen sorgte. Fortwährend wurde an der südlichen Grenze der Vereinigten Staaten eine Krise heraufbeschworen, die Trump mit teils radikalen Maßnahmen - wie beispielsweise der Durchsetzung von Einfuhrzöllen auf mexikanische Produkte - lösen wollte. Rhetorisch schlug der Präsident immer wieder fragwürdige Töne an und beschrieb nicht selten die Migrationsströme als „Invasion“. 245 Auf Trumps favorisiertem Kommunikationsmedium Twitter ging er manchmal noch einen Schritt weiter und argumentierte beispielsweise im Sommer 2018, illegale Einwanderer würden das Land „befallen“ (infest). 246 Welche Art von Wähler wurde durch diese kruden, wenn nicht gar offen xenophoben Appelle angesprochen? Ein definierendes Merkmal der Trump-Wähler - und zudem auch der republikanischen Wähler allgemein - waren Statusängste und die Sichtweise, das Land befände sich auf einem absteigenden Ast. 81 Prozent aller Trump-Unterstüt- 244 Vgl. Pew Research Center (2016): The State of American Jobs. 6. Oktober, S. 47. 245 Vgl. Barreto, Matt A. (2018): Even for Trump, There is Such a Thing as too far. In: New York Times, 24. Oktober. 246 Tweet von Donald Trump am 19. Juni 2018. <?page no="133"?> 3.4 Trump ‒ die Krönung der Southern Strategy? 131 zer gaben kurz vor der Wahl 2016 an, dass sich ihrer Ansicht nach das Leben für „Leute wie mich“ in den letzten 50 Jahren verschlechtert habe. Unter den Unterstützern von Hillary Clinton lag dieser Anteil hingegen nur bei 19 Prozent. Ebenso sahen die Wähler Trumps die Zukunft mit Sorgen: Über zwei Drittel vertraten die Ansicht, dass es zukünftigen Generationen schlechter gehen werde. 247 Auch hier lassen sich die Folgen der Southern Strategy erkennen, die konservativen Wählern jahrzehntelang den Eindruck gegeben hat, ihre Kultur und Werte seien dank der Politik der Demokraten in Gefahr (man denke hier beispielsweise an Reagans A Time for Choosing-Rede zurück und dem geäußerten Argument, die Wahl des demokratischen Kandidaten würde die Werte der amerikanischen Revolution verraten). Die durchschnittlichen Trump-Wähler stellen somit keine Neuankömmlinge innerhalb der republikanischen Wählerschaft dar, sondern sind vielmehr - ähnlich wie die Aktivisten der Tea Party - das in identitären Fragen ideologische Kernsegment der Partei. Der Standpunkt des gesellschaftlichen Abstiegs in den letzten Jahrzehnten (sowohl persönlich als auch bezogen auf das Land) verband sich bei ihnen mit der Sichtweise, dies sei eng mit Veränderungen der demographischen Zusammensetzung des Landes und der damit einhergehenden ethnischen Vielfalt, verflochten (dazu mehr in Kapitel 4.1.2). Insbesondere ein Vergleich mit den Wählern anderer republikanischer Kandidaten illustriert die charakteristischen Merkmale der Wählerschaft Donald Trumps. Bezüglich der eigenen ideologischen Einordnung ließ sich unter Trump- Wählern ein geringeres Maß an allgemeinen konservativen Werten vorfinden. Bei dem wichtigen gesellschaftspolitischen Thema der Abtreibung zeigte zumindest eine Studie auf, dass Trump-Unterstützer in dieser Frage erheblich moderater als beispielsweise die Wähler von Ted Cruz oder 247 Vgl. Pew Research Center (2016): Clinton, Trump Supporters Have Starkly Different Views of a Changing Nation. 18. August, S. 1. <?page no="134"?> 134 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert Marco Rubio waren und hier gar den Unterstützern Hillary Clintons näherstanden. 248 Definierende Merkmale ließen sich insbesondere im Bereich Migration, negativen Ansichten gegenüber ethnischen Minderheiten sowie einer Ablehnung des Freihandels vorfinden. Trump Cruz Kasich Sanders Clinton Einwanderer stellen eine Belastung dar 69 51 40 14 17 wütend auf den Staatsapparat 50 30 18 13 6 amerikanische Muslime sollten genauer beobachtet werden 64 53 37 12 22 Freihandel ist gut für die USA 27 48 44 55 58 das ökonomische System favorisiert die Mächtigen 61 45 51 91 73 Abtreibung sollte in den meisten/ allen Fällen legal sein 45 23 49 78 72 für staatliche Krankenversicherung 14 11 22 77 82 Tab. 2: Standpunkte der Vorwählerschaft, 2016; Zustimmung in Prozent. Quelle: Pew Research Center (2016): Campaign Exposes Fissures Over Issues, Values and How Life Has Changed in the U.S. 31. März, S. 2 Wie Tabelle 2 aufzeigt, existierte auch innerhalb der republikanischen Vorwählerschaft eine gewisse ideologische Spaltung in der Frage, inwiefern Einwanderer eine Belastung für 248 Vgl. Hopkins, Dan (2016): What Trump Supporters Were Doing Before Trump. In: FiveThirtyEight, 14. März. <?page no="135"?> 3.4 Trump ‒ die Krönung der Southern Strategy? 135 die amerikanische Gesellschaft darstellen. Doch auch wenn Trump-Wähler in einzelnen Fragen herausstachen, lässt sich konstatieren, dass sie klar als Republikaner erkannt, beziehungsweise eingeordnet werden konnten - denn auch beim Thema Migration äußerten sich die Unterstützer der letzten beiden innerparteilichen Kontrahenten Donald Trumps (Ted Cruz und John Kasich) deutlich konservativer als ihre demokratischen Pendants. Die Ansichten der Trump-Vorwähler beim Thema Abtreibung waren für republikanische Verhältnisse hingegen moderat - doch standen auch sie trotzdem deutlich rechts von den Unterstützern der demokratischen Kandidaten. Dies ließ sich ebenso bei der Frage des Freihandels erkennen. Unterstützer des erzkonservativen texanischen Senators Ted Cruz sowie des moderaten Gouverneurs von Ohio, John Kasich, sahen ebenfalls den Abbau von Handelsbarrieren in einem negativeren Licht als die demokratische Vorwählerschaft. Auch wenn Trump-Wähler vergleichsweise zahlreich die Ansicht vertraten, das ökonomische System orientiere sich an den Interessen der Reichen und Mächtigen, standen sie bei der Frage der staatlichen Krankenversicherung (die gerade ärmeren Segmenten der Bevölkerung zugute käme) am ideologischen rechten Rand und vertraten dementsprechend die generelle republikanische Position der strikten Opposition. Die Folgen der Darstellung der Politik als steten Wettbewerb zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen des Landes um begrenzte Ressourcen seitens konservativer Politiker spiegeln sich auch in den Ängsten der republikanischen Wählerschaft bezüglich des demographischen Wandels wider - ein wichtiger Erklärungsansatz für Donald Trumps unerwarteten Erfolg. Die Entwicklung, dass in ungefähr drei Jahrzehnten weiße Amerikaner eine Minderheit darstellen werden (siehe Kapitel 4.1.1), sehen Republikaner allgemein mit Argwohn. Während beispielsweise 85 Prozent aller Demokraten diesen demographischen Wandel als eine eher positive Veränderung betrachten, sieht die Hälfte aller Republikaner die Transformation des Landes <?page no="136"?> 136 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert eher als negativ. 249 Generell werden Migranten von republikanischen Wählern als Gefahr für das kulturelle Fundament des Landes gesehen: 52 Prozent aller konservativen Republikaner, die in den Vorwahlen das entscheidende Wählersegment darstellen, befürchten, dass eine zu große Offenheit für Einwanderer die Identität der Nation bedrohen könne. In derselben Studie lag der entsprechende Anteil unter allen Amerikanern hingegen bei 26 Prozent und Demokraten bei 13 Prozent. 250 Viele republikanische Wähler beschleicht das Gefühl, dieser Wandel wird unweigerlich zur Benachteiligung der eigenen Volksgruppe führen. Vor der Präsidentschaftswahl antworteten 81 Prozent aller Trump-Wähler sowie 75 Prozent aller weißen Republikaner, dass Diskriminierung gegen Weiße heute ein genauso großes Problem wie Diskriminierung gegen Minderheiten darstelle. 251 In anderen Umfragen zeigt sich auf, dass Republikaner gar Diskriminierung gegen Weiße als ausgeprägter ansehen als gegenüber Minderheiten. Auf die Frage, welche Bevölkerungssegmente im Land einem großen Ausmaß an Diskriminierung ausgesetzt seien, waren zu Beginn der Trump-Präsidentschaft nur 27 Prozent aller Republikaner der Ansicht, dies sei bei schwarzen Amerikanern noch der Fall. 43 Prozent glaubten hingegen, Weiße sähen sich mit durchaus weit verbreiteter Diskriminierung konfrontiert. 252 249 Vgl. Vandermaas-Peeler, Alex u.a. (2018): American Democracy in Crisis: The Challenges of Voter Knowledge, Participation, and Polarization. In: Public Religion Research Institute, 17. Juli. 250 Vgl. Fingerhut, Hannah (2018): Most Americans express positive views of country’s growing racial and ethnic diversity. In: Pew Research Center Fact Tank, 14. Juni. 251 Vgl. Jones, Robert P. u.a. (2016): How immigration and concerns about cultural changes are shaping the 2016 election. In: Public Religion Research Institute/ Brookings Institution, 23. Juni, S. 15-16. 252 Vgl. Cox, Daniel/ Robert P. Jones (2017): Majority of Americans Oppose Transgender Bathroom Restrictions In: Public Religion Research Institute, 10. März. <?page no="137"?> Dass weiße Amerikaner nunmehr Menschen zweiter Klasse sind, ist eine Sichtweise, die in den letzten Jahren innerhalb der republikanischen Wählerschaft immer stärkere Zustimmung erhält. Waren beispielsweise 2005 nur sechs Prozent aller Republikaner der Ansicht, es gäbe ein „großes Ausmaß“ an Diskriminierung gegenüber Weißen, so verdreifachte sich dieser Wert innerhalb eines Jahrzehnts auf 18 Prozent (2016) und stand im Frühjahr 2019 bei 21 Prozent. 253 In Anbetracht der wahrgenommenen Diskriminierung gegen die eigene Ethnie überrascht es auch nicht, dass innerhalb der gesamten (überproportional weißen) Republikanischen Partei die Sichtweise, man werde in Zukunft an politischer Relevanz verlieren, weit verbreitet ist. Auf die Frage, wie sich der eigene gesellschaftliche und politische Einfluss im nächsten Jahrzehnt entwickeln wird, antworteten im Frühjahr 2019 36 Prozent aller Republikaner sowie 42 Prozent aller weißen evangelikalen Protestanten, dass dieser sinken werde. Unter Demokraten lag dieser Anteil mit 24 Prozent merkbar niedriger. 254 Es war dieses Umfeld der zunehmenden Angst des eigenen gesellschaftlichen Niedergangs, in das Trump im Sommer 2015 mit seiner nativistisch-populistischen Botschaft vorstieß. Die Existenz weit verbreiteter gesellschaftlicher Bedrohungsgefühle innerhalb der republikanischen Stammwählerschaft bedeutet mitnichten, dass ökonomische Aspekte wie Ängste bezüglich des Abzugs von Arbeitsplätzen oder des generellen Niedergangs bestimmter industrieller Sektoren keine Rolle beim Sieg Donald Trumps gespielt haben. In der amerikanischen Politikwissenschaft findet weiterhin eine teils hitzig geführte Debatte statt, ob wirtschaftliche oder soziokulturelle Gründe bei der Wahl Trumps ausschlagge- 253 Vgl. Pew Research Center (2016): Low Approval of Trump’s Transition but Outlook for His Presidency Improves. 8. Dezember, S. 26; Pew Research Center (2019): Sharp Rise in the Share of Americans Saying Jews Face Discrimination. 15. April, S. 3. 254 Vgl. Piacenza, Joanna (2019): White Evangelicals’ Support for Trump Has a Soft Underbelly. In: Morning Consult, 1. Mai. 3.4 Trump ‒ die Krönung der Southern Strategy? 13 7 <?page no="138"?> 138 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert bend waren. Gewiss lässt sich erkennen, dass Trump auch gerade in (weißen) Landkreisen erfolgreich war, die ärmer als das Land allgemein sind und in denen zudem auch das Wirtschaftswachstum seit geraumer Zeit nicht mit dem landesweiten Durchschnitt Schritt halten kann. Ähnlich wie in Deutschland lautete eine populäre Analyse, dass der vergleichsweise schwache Zustand der Regionen, die beispielsweise von Obama in das Trump-Lager wanderten, 255 ein Beweis für die zentrale Rolle der ökonomischen Botschaft Donald Trumps war, der versprach, Handelsbeziehungen umzukrempeln und Industriezweige wiederzubeleben. Doch ist es schwer, handfeste Ruckschlüsse aus diesen Daten zu ziehen, da sie keine Antworten auf die Frage bieten, welche Probleme und Faktoren Wähler in bestimmten wirtschaftlich eher schwächeren Regionen dazu brachten, Donald Trump zu unterstützen. Generell lässt sich jedoch konstatieren, dass die Wähler Donald Trumps auch in den Vorwahlen ein Einkommen vorwiesen, das sie über dem durchschnittlichen Amerikaner platzierte. 256 Innerhalb der Trump-Vorwählerschaft war der Anteil von Personen mit einem jährlichen Einkommen von über 100.000 Dollar beispielsweise auch genauso hoch wie der Anteil der Wähler mit einem Einkommen unter 50.000 Dollar. 257 Bei der Frage, ob gesellschafts- oder wirtschaftspolitische Fragen entscheidend waren, sollte zudem beachtet werden, dass eine zumindest oberflächlich ökonomische Botschaft, die die Verlagerung von Arbeitsstellen ins Ausland anpran- 255 Insgesamt ließen sich 206 Landkreise vorfinden, die 2008 und 2012 für Barack Obama stimmten und sich 2016 jedoch für Trump entschieden. Diese Wahlkreise waren weißer, weniger gebildet und wiesen ein geringeres Einkommen vor als der landesweite Durchschnitt. Vgl. Ballotpedia (2017): Pivot Counties: The counties that voted Obama-Obama-Trump from 2008-2016. 256 Vgl. Silver, Nate (2016): The Mythology of Trump’s ‚Working Class‘ Support. In: FiveThirtyEight, 3. Mai. 257 Vgl. Carnes, Nicholas/ Noam Lupu (2016): Why Trump’s appeal is wider than you might think. In: MSNBC, 8. April. <?page no="139"?> gert, natürlich auch xenophobe Tendenzen bei den Rezipienten in der Wählerschaft auslösen kann (beziehungsweise, dass beide Aspekte einander bedingen). Das Wahlmotto „Make America Great Again“ in Verbindung mit dem Versprechen besserer Handelsbeziehungen kann durchaus als primär wirtschaftspolitisch verstanden werden. Doch implizierte es auch den Wunsch der Rückkehr in eine andere Ära, in der die überproportional weiße Trump-Wählerschaft zweifelsfrei die politische Dominanz im Land ausübte und sich nicht einer vermeintlichen Diskriminierung ausgesetzt sah - eine Vergangenheit, die in den Augen der Trump-Wähler erheblich besser war als die die Gegenwart. In all diesen Daten lässt sich zweifelsfrei das Ausmaß erkennen, in dem Trump seinen Erfolg vorherigen republikanischen Politikern und Strategen schuldet. Die Vorarbeit seit den 1960er Jahren hatte zum Zeitpunkt der Trump- Kandidatur eine Wählerbasis innerhalb der Republikanischen Partei geschaffen, die einer Kampagne der xenophoben und nativistischen Appelle eine erhebliche Erfolgschance bescherte, wie sich bereits an den Erfolgen der Tea Party mehrere Jahre vor Donald Trumps Kandidatur erkennen ließ. So hat sich der Anteil weißer Wähler mit rassistischen Ressentiments in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Republikanischen Partei vervielfacht. In der Reagan- Bush I-Ära besaßen beispielsweise 44 Prozent aller weißen Republikaner einen Racial Resentment-Wert im oberen Drittel dieser Skala der Vorurteile. Am Anfang der Obama- Ära drei Jahrzehnte später lag der Wert jedoch bei 64 Prozent, zum Zeitpunkt der Wahl Donald Trumps bei 69 Prozent. 258 Gerade bei diesem soziologischen Standard zur Messung latent rassistischer Ansichten stachen Trump- Unterstützer (wie Tea Party-Republikaner wenige Jahre zuvor) mit ihren Ansichten heraus: 59 Prozent von Trumps Wählern in den Vorwahlen besaßen einen Racial Resentment-Wert im oberen Viertel der Skala im Vergleich zu 46 258 Vgl. Abramowitz, Alan I. (2018): The Great Alignment: Race, Party Transformation, and the Rise of Donald Trump, S. 130, 136. 3.4 Trump ‒ die Krönung der Southern Strategy? 13 9 <?page no="140"?> 140 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert Prozent unter Republikanern, die einen anderen Kandidaten bevorzugten. 259 All dies heißt nicht unbedingt, dass Trump selbst ein Rassist ist - diese Frage ist kaum zufriedenstellend zu beantworten. Doch lässt der Blick auf die Nachfrageseite erkennen, dass weiße Wähler mit Sorgen über ihren eigenen Status in der Gesellschaft sowie einem vergleichsweise hohen Ausmaß an Vorurteilen einen beträchtlichen Teil der Trump-Wählerschaft darstellten und seinen Vorwahlsieg ermöglichten. Auch einen europäischen Betrachter sollte die Entwicklung auf der anderen Seite des Atlantiks nachdenklich stimmen. Die Hoffnung, dass eine multiethnische Gesellschaft ethnische Fragmentierungen vergessen macht, steht im Kontrast zu den Trends, die Donald Trumps Wahl ermöglichten. Entsprechend wissenschaftlicher Ausarbeitungen könnte eine gegenteilige Entwicklung in zukünftigen Jahren gar an Fahrt aufnehmen. Studien bezüglich der Auswirkungen demographischer Trends auf ideologische Präferenzen zeigen auf, dass die Konfrontation mit dem eigenen Minderheitenstatus unter weißen Amerikanern selbst in der Mitte der Gesellschaft zu einer Gegenreaktion führt, wie wir sie im Süden des Landes gesehen haben. Mit durchaus ähnlichen Folgen: Weiße Wähler identifizieren sich stärker als Republikaner und äußern stärkere Präferenzen für konservative Politikvorstöße. 260 Die gesellschaftliche Spaltung entlang der Konfliktlinie Weiße/ Minderheiten wird somit voraussichtlich nicht in einigen wenigen Jahren als Relikt einer längst vergangenen Ära gesehen werden. Das Autorentrio Maureen Craig, Julian Rucker und Jennifer Richeson sieht - ganz im Gegenteil - das Potenzial eines weiteren Anstiegs dieser gesellschaftlichen Spaltung: „As the nation 259 Vgl. The Economist (2016): Trump and the Academy. 1. September. 260 Vgl. Craig, Maureen A./ Jennifer A. Richeson (2014): On the Precipice of a „Majority-Minority“ America: Perceived Status Threat From the Racial Demographic Shift Affects White Americans’ Political Ideology. In: Psychological Science 25 (6), S. 1189-1197. <?page no="141"?> continues to diversify, the relevance of race, ethnicity, religion, and identity politics is likely to increase rather than fade“. 261 Die nativistische Basis des „Trumpismus“ wird auch nach Trump ein Merkmal der amerikanischen Politik bleiben - gerade auch weil diese Ansichten schon vor Trumps Kandidatur innerhalb der republikanischen Wählerschaft ein hohes Maß an Popularität genossen. Abschließend muss nochmals festgestellt werden, dass Donald Trump auf dem Weg ins Weiße Haus bestehende Entwicklungen innerhalb „seiner“ Partei ausnutzen konnte. In den Primaries finden Kandidaten nur die engagiertesten und aktivsten Mitglieder der Wählerschaft vor - es waren diese tiefroten Republikaner, die Donald Trump zu ihrem Kandidaten kürten. Obwohl Donald Trump in den Vorwahlen einen neuen republikanischen Rekord für die Zahl der erhaltenen Stimmen aufstellte, lag dieser Wert bei 14 Millionen - bei einer wahlberechtigen Bevölkerung von insgesamt 230 Millionen. Die Zahl der Wähler, die Trump in den Vorwahlen vielleicht zu ihrer ersten Partizipation auf republikanischer Seite bewegen konnte, war somit verschwindend gering. Nicht zuletzt aufgrund der teilweise sehr restriktiven Wahlgesetze, stellt es in den Vereinigten Staaten eine enorme Herausforderung dar, ehemals inaktive Wähler zur Urne zu bringen. Diese Erfahrung musste auch die Trump-Familie selbst machen: Sowohl Ivanka als auch Eric Trump hatten vergessen, sich in ihrem Heimatstaat New York rechtzeitig als Republikaner zu registrieren und konnten somit in der dortigen Vorwahl im April 2016 nicht für ihren Vater stimmen. Zu ihrer Verteidigung sei zu sagen, dass sie diesen Behördengang mindestens sechs Monate vorher hätten durchführen müssen. 262 261 Craig, Maureen A. u.a. (2018): Racial and Political Dynamics of an Approaching „Majority-Minority“ United States. In: ANNALS 677, S. 212. 262 Vgl. Johnson, Jenna (2016): Ivanka and Eric Trump didn’t register in time to vote for their dad in New York primary. In: Washington Post, 11. April. 3.4 Trump ‒ die Krönung der Southern Strategy? 1 41 <?page no="142"?> 142 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert 3.5 Die Partei der weißen Arbeiterklasse Im Vorwahlkampf 2012 stellte der konservative Kolumnist und Autor George Will fest, dass weiße Amerikaner ohne Universitätsabschluss vor ungefähr drei Jahrzehnten noch als Reagan Democrats bezeichnet worden waren, da ihre Unterstützung der Republikanischen Partei mit der Person im Weißen Haus verbunden war. Zum Zeitpunkt des innerparteilichen Wettbewerbs 2012 war der Status der Working Class Whites innerhalb der republikanischen Koalition laut Will jedoch ein anderer: „Today they are called the Republican base.“ 263 Betrachtet man die Politik der Republikanischen Partei in sozialen und ökonomischen Fragen, mag das Ausmaß des Erfolges der Republikaner unter weißen Amerikanern mit einem niedrigen Bildungsgrad überraschen. Doch sehen wir auch in Europa in den letzten Jahrzehnten eine ähnliche Entwicklung, denn egal ob Rassemblement (ehemals Front) National, FPÖ oder AfD, diese Parteien wildern in den traditionellen elektoralen Jagdrevieren der Sozialdemokratie. Auch wenn Trumps Vorwählerschaft in bestimmten Fragen wie beispielsweise dem Freihandel innerhalb der Republikanischen Partei herausstach, zeigte die Zusammensetzung seiner Wählerschaft auf, inwiefern Trump nur den jüngsten Schritt einer jahrzehntelangen Transformation der Partei darstellte. Hier ist es nochmals sinnvoll, Kevin Phillips zur Rate zu ziehen. Seine Analyse und strategischen Ratschläge aus den 1960er Jahren bezüglich der Rolle der Blue Collar- Amerikaner innerhalb der Republikanischen Partei zeigen auf, dass schon ein halbes Jahrhundert vor Trump die „Proletarisierung“ der Republikaner erkennbar war: „Sociologically, the Republican Party is becoming much more lower-middle class and much less establishmentarian than it was during the Nineteen-Fifties, and pursuit of an increasing 263 Will, George (2012): Suddenly, a fun candidate. In: Washington Post, 4. Januar. <?page no="143"?> 3.5 Die Partei der weißen Arbeiterklasse 143 portion of the Northern blue-collar electorate […] would be a logical extension of this trend.“ 264 Auch außerhalb des Südens ist die Republikanische Partei im letzten halben Jahrhundert zur Partei der weißen Arbeiterklasse (in den USA nicht über das Einkommen, sondern den fehlenden Hochschulabschluss definiert) geworden. Besonders plakativ lässt sich dies am Beispiel des Einzelstaates West Virginia darstellen. Weißer, schlechter gebildet, und ärmer als der Rest des Landes, war West Virginia bis zur Jahrtausendwende oft eine demokratische Bastion. In den 17 Präsidentschaftswahlen zwischen 1932 und 1996 stimmte der Einzelstaat insgesamt 14 Mal für einen demokratischen Kandidaten (vier Mal davon für den Verlierer der Wahl). 1976 und 1980 erreichten die demokratischen Präsidentschaftskandidaten in West Virginia Ergebnisse, die ungefähr 14 Prozentpunkte besser waren als ihre Stimmenanteile im gesamten Land (siehe Tabelle 3). Die Wahl 2000 leitete jedoch eine Zeitenwende ein. George W. Bush gewann West Virginia mit über sechs Prozentpunkten Vorsprung. Auch wenn Florida gerne als der entscheidende Battleground State der Wahl 2000 gesehen wird, sollte nicht vergessen werden, dass Al Gore mit den fünf Elektorenstimmen aus West Virginia Präsident geworden wäre. Bill Clinton war seinerseits in der Lage, West Virginia mit jeweils 13 und 15 Prozentpunkten Vorsprung zu gewinnen. Seitdem ist der für seine Kohleförderung bekannte Einzelstaat jedoch fest in republikanischer Hand. Die bereits erwähnte Tendenz West Virginias, demokratischer als das Land insgesamt zu sein, wendete sich in den letzten beiden Jahrzehnten in eine republikanische „Neigung“. Stand diese bei ungefähr sieben Prozentpunkten im Jahr 2000, so lag dieser Wert 16 Jahre später bei 44 Prozentpunkten (Donald Trump gewann West Virginia mit 42 Prozentpunkten Vorsprung während Hillary Clinton die landesweite Popular Vote mit zwei Prozentpunkten für sich entscheiden konnte). 264 Phillips (1969/ 2015), S. 543. <?page no="144"?> 144 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert Wahljahr Rep. Vorsprung Rep. Neigung 1976 -16,1 -14,0 1980 -4,5 -14,2 1984 10,5 -7,7 1988 -4,7 -12,4 1992 -13,0 -7,4 1996 -14,8 -6,3 2000 6,3 6,8 2004 12,9 10,4 2008 13,1 20,4 2012 26,7 30,6 2016 41,7 43,8 Tab. 3: Wahlergebnisse und parteipolitische Neigung West Virginias Negativer Wert bedeutet, dass West Virginia vom jeweiligen demokratischen Kandidaten gewonnen wurde (zweite Spalte), beziehungsweise, dass West Virginia demokratischer abstimmte als die Vereinigten Staaten insgesamt (dritte Spalte). Beispiel: 1984 gewann Ronald Reagan West Virginia mit 10,5 Prozentpunkten Vorsprung. Da er die Popular Vote im gesamten Land mit 18,2 Prozentpunkten gewann, war West Virginia 7,7 Prozentpunkte demokratischer als die gesamten Vereinigten Staaten. Wie sich anhand der Tabelle erkennen lässt, stellte Donald Trumps Sieg einen neuen Höhepunkt des republikanischen Vorsprungs in einer Region dar, welche die White Working Class wie kaum eine zweite symbolisiert. Doch selbst Mitt Romney, ein ehemaliger Hedge Fund-Manager, dessen Botschaft sich eher auf den freien Markt denn einen ökonomischen Nationalismus fokussierte, war in der Lage West Virginia mit 27 Punkten Vorsprung zu gewinnen (zusammen mit Barack Obamas Popular Vote-Vorsprung machte dies West Virginia 31 Punkte „republikanischer“ als die gesamten Vereinigten Staaten). <?page no="145"?> Aber auch andere Daten zeigen auf, inwieweit Donald Trump in seinem Erfolg innerhalb der weißen Arbeiterklasse auf die Vorarbeit anderer Republikaner bauen konnte und somit den existierenden Trend des republikanischen Vorsprungs unter schlechter gebildeten weißen Wählern fortführte. Mitt Romney gewann 2012 weiße Amerikaner ohne Hochschulabschluss mit einem Vorsprung von 25 Prozentpunkten (61%-36%). Diesen Wert konnte Trump seinerseits auf 39 Prozentpunkte ausbauen. (67%-28%). 265 Der Anteil der weißen Non-College-Wählerschaft innerhalb der Republikanischen Partei ist jedoch seit einigen Wahlzyklen relativ stabil. Im Jahre 2004 waren 61 Prozent aller George W. Bush-Wählerinnen und Wähler weiße Amerikaner ohne Hochschulabschluss; zwölf Jahre danach lag dieser Wert bei Donald Trump bei 63 Prozent. 266 2016 zeigte somit ein weiteres Mal die „weiße Proletarisierung“ der Republikanischen Partei auf, die sich insbesondere seit den frühen 1990er Jahren beschleunigt hat - eine für die Republikaner besorgniserregende Entwicklung in Anbetracht des steigenden Anteils der Bevölkerung, der eine Universität besucht. 1994 lagen die beiden Parteien unter weißen Amerikanern, die nie eine Hochschule besucht haben, noch fast gleichauf: 47 Prozent identifizierten sich als Republikaner, 42 Prozent als Demokraten. 2011 lag der republikanische Vorsprung in diesem Segment bereits bei 17 Prozentpunkten (53%-36%). Im ersten Jahr der Trump- Präsidentschaft war diese Kluft dann auf 23 Punkte angestiegen (58%-35%). 267 Auch der allgemeine Bildungsgrad der Unterstützer beider Parteien und dessen Veränderungen im letzten Vierteljahrhundert spiegeln diese Entwicklungen 265 Vgl. Tyson, Alec/ Shiva Maniam (2016): Behind Trump’s victory: Divisions by race, gender, education. In: Pew Research Center Fact Tank, 9. November. 266 Vgl. Cohn, Nate/ Alicia Parlapiano (2018): How Broad, and how Happy, is the Trump Coalition? In: New York Times, 9. August. 267 Vgl. Pew Research Center (2018): Wide Gender Gap, Growing Educational Divide in Voters’ Party Identification. 20. März, S. 11. 3.5 Die Partei der weißen Arbeiterklasse 145 <?page no="146"?> 146 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert wider (siehe Tabelle 4). 1992 besaßen 55 Prozent aller Demokraten sowie 45 Prozent aller Republikaner (bezogen auf alle Bevölkerungsgruppen) höchstens einen High School- Abschluss (ohne gänzliche College-Erfahrungen). 25 Jahre später lagen die jeweiligen Werte bei 30 und 37 Prozent. Die Demokraten haben bezüglich ihres Bildungsgrads somit die Republikaner überholt: Im Vierteljahrhundert zwischen 1992 und 2017 verdoppelte sich fast der Anteil von Personen, die mindestens einen Hochschulabschluss vorweisen können, innerhalb der Demokratischen Partei von 21 auf 39 Prozent. Unter den Republikanern ist dieser Wert hingegen innerhalb desselben Zeitraums unverändert geblieben (28 Prozent; generell stieg der Anteil der Personen mit Hochschulabschluss in den Vereinigten Staaten in diesem Zeitraum von 23 auf 33 Prozent an). Demokraten Republikaner High School oder weniger Hochschulabschluss und mehr High School oder weniger Hochschulabschluss und mehr 1992 55 21 45 28 2017 30 39 37 28 Tab. 4: Bildungsabschlüsse der Wählerschaft der Demokratischen und der Republikanischen Partei, 1992/ 2017 (Anteil in Prozent). Quelle: Für die Werte aus dem Jahr 1992 vgl. Pew Research Center (2016): The Parties on the Eve of the 2016 Election: Two Coalitions, Moving Further Apart. 13. September, S. 1. Für die Werte aus dem Jahr 2017 vgl. Pew Research Center (2018): Wide Gender Gap, Growing Educational Divide in Voters’ Party Identification. 20. März, S. 26. In Anbetracht dieser Werte überrascht es nicht, dass weiße Wähler ohne Hochschulabschluss in der Koalitionsbildung der Demokratischen Partei eine immer geringere Rolle spielen. Waren 43 Prozent aller Wähler des demokratischen <?page no="147"?> Präsidentschaftskandidaten John Kerry 2004 noch weiße Amerikaner ohne einen Hochschulabschluss, lag dieser Wert bei Hillary Clinton ein Dutzend Jahre später bei 26 Prozent. 268 Generell lässt sich erkennen, dass der Bildungsgrad zu einer der wesentlichen Konfliktlinien der amerikanischen Politik geworden ist. Als die Republikaner 1994 zum ersten Mal seit vier Jahrzehnten eine Mehrheit im Repräsentantenhaus gewannen, wiesen die parteipolitischen Präferenzen der weißen Amerikanern ohne beziehungsweise mit einem Bachelorabschluss fast keine Differenzen vor. Ganz im Gegenteil, College-educated weiße Amerikaner unterstützen die Republikanische Partei gar etwas mehr als ihre schlechten gebildeten Pendants innerhalb der weißen Wählerschaft. 269 Die Zwischenwahl 2018 zeigte jedoch auf, dass sich in dieser Frage das Blatt vollkommen gewendet hat: Während die Demokraten weiße Amerikaner mit einem Hochschulabschluss mit einem Vorsprung von acht Prozentpunkten gewinnen konnten, führte bei weißen Wählerinnen und Wählern ohne akademischem Grad die Republikanische Partei mit 24 Punkten Vorsprung. 270 Was bedeutet dies für die Republikanische Partei? Schlussendlich ist die Fokussierung auf weiße Wählerinnen und Wähler ohne Hochschulabschluss eine elektorale Sackgasse. Zwischen 1988 und 2016 sank der Anteil weißer Wähler ohne Hochschulabschluss an der Gesamtwählerschaft von 54 auf 34 Prozent. Gleichzeitig stieg der Anteil weißer Wähler mit Hochschulabschluss von 31 auf 37 Prozent. 271 Wie 268 Vgl. Cohn/ Parlapiano (2018). 269 Vgl. Zitner, Aaron/ Dante Chinni (2018): The Yawning Divide That Helps Explain American Politics. In: Wall Street Journal, 30. Oktober. 270 Vgl. CNN (2018): Exit Polls. 271 Für Daten aus dem Jahre 1988 vgl. Teixeira, Ruy (2013): Will the Future of White Voters be Republican? Don’t be too Sure. In: ThinkProgress, 9. August; Daten 2016 basierend auf Exit Poll von CNN (2016). 3.5 Die Partei der weißen Arbeiterklasse 147 <?page no="148"?> 148 3 Die Zusammensetzung im 21. Jahrhundert das folgende Kapitel aufzeigen wird, sind Veränderungen bezüglich des Bildungsgrads weißer Amerikaner jedoch nur ein Mosaikstein der zukünftigen demographischen Herausforderungen der Republikanischen Partei. <?page no="149"?> 4 Die zukünftigen Herausforderungen der Republikaner Fast jeder wichtige demographische Trend der Vereinigten Staaten spricht gegen die Republikanische Partei, insbesondere aufgrund ihrer Fokussierung auf die amerikanischen Südstaaten im letzten halben Jahrhundert. Dank der Erfolge in dieser Region sind die Republikaner - jüngst illustriert durch den Sieg Donald Trumps - zu einer Partei von Vorurteilen gegenüber Minderheiten durchdrungener weißer christlich-konservativer Wähler geworden. All dies in einem Land, dessen gläubiger und weißer Bevölkerungsanteil mit jedem Tag schrumpft. Schon die Wahlen 2008 und 2012 haben die Herausforderung und potenziellen zukünftigen Probleme der Republikanischen Partei auf beeindruckende Weise aufgezeigt. 2008 schaffte es Barack Obama als erster Kandidat in der Geschichte des Landes trotz eines zweistelligen Rückstands unter weißen Wählerinnen und Wählern Präsident zu werden - sein Rückstand gegenüber John McCain betrug zwölf Prozentpunkte. Vier Jahre später betrug der republikanische Vorsprung unter weißen Wählern gar 20 Prozentpunkte. Ungeachtet dessen setzte Obama sich vergleichsweise komfortabel mit einem Vorsprung von vier Prozentpunkten in der Popular Vote sowie 62 Prozent der Elektorenstimmen (332 Wählmänner) gegen Mitt Romney durch. Gleichzeitig zeigten die jüngsten Mehrheitsverhältnisse im Land jedoch auch auf, dass Republikaner nicht zu elektoralen Verlusten verdammt sind. Zwischen Donald Trumps Sieg und den Zwischenwahlen 2018 kontrollierten sie die drei zentralen Regierungszweige (Weißes Haus sowie beide Kammern des Kongresses). Ebenso konnten republikanische Landesparteien in den letzten Jahren lokale Erfolge historischen Ausmaßes feiern. Im November 2017 waren insgesamt 56 Prozent aller Sitze in den Landeskammern der <?page no="150"?> 150 4 Die zukünftigen Herausforderungen Vereinigten Staaten in den Händen der Republikanischen Partei. 272 Wie kann es eine Partei trotz der weitreichenden demographischen Transformation des Landes trotzdem schaffen, weiterhin an den Schalthebeln der politischen Macht zu sitzen? Die Antwort lässt sich in den aus demokratischen Gesichtspunkten höchst fragwürdigen Maßnahmen zum Machterhalt finden, mit denen republikanische Strategen und Politiker alles Erdenkliche versuchen, den Einfluss und das elektorale Gewicht demokratischer Wählergruppen zu verwässern. Dies wird durch eine für die eigene Partei vorteilhafte Ziehung der Wahlkreisgrenzen sowie die Versuche, demokratischen Wählern die Teilnahme an Wahlen zu erschweren, erreicht. Wenden wir uns aber zuerst den demographischen Entwicklungen zu, welche die semi-legalen republikanischen Maßnahmen des Machterhalts notwendig machen. 4.1 Der demographische Wandel der USA 4.1.1 Veränderungen der ethnischen Zusammensetzung des Landes Für den europäischen Betrachter mögen manche der bereits vorgebrachten Befunde ein wenig befremdlich wirken. Auch als Autor ist es eine Herausforderung, fortwährend über „Rasse“ zu schreiben. Doch lässt sich nicht leugnen, dass Race im Zentrum der Transformation des amerikanischen Parteiensystems im letzten halben Jahrhundert lag und auch heute die ethnische oder Racial Zugehörigkeit eine der Haupttrennlinien der amerikanischen Politik darstellt. 273 Dies soll keinesfalls heißen, sozioökonomische Merkmale spielen keinerlei Rolle. Doch zeigen Analysen 272 Vgl. National Conference of State Legislatures (2017): 2017 State & Legislative Partisan Composition. Stand: 15. November 2017. 273 Vgl. Hajnal, Zoltan/ Marisa Abrajano (2016): Trump’s all too Familiar Strategy and its Future in the GOP. In: The Forum 14 (3), S. 295-309. <?page no="151"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 151 amerikanischer Wahlen auf, dass beispielsweise auch wohlhabende Afro-Amerikaner sowie Hispanics mit der Politik der Republikanischen Partei wenig anfangen können. 274 Die demographischen Veränderungen der Vereinigten Staaten und das stete Absinken des Bevölkerungsanteils der weißen Mehrheit bietet somit Ausblicke auf die potenzielle Entwicklung elektoraler Mehrheiten in den zukünftigen Jahrzehnten. Für die Republikaner sind dies, wie bereits erwähnt, aufgrund der Zusammensetzung ihrer heutigen Wählerschaft fast durchweg schlechte Nachrichten. Zum Verständnis der folgenden Daten ist ein Aspekt zudem wichtig: Im Kontext dieses Themas steht „weiß“ für Amerikaner, die sich nicht nur selbst als weiß definieren, sondern auch keine Latino/ Hispanic-Herkunft besitzen. Mit anderen Worten, jede Person außerhalb der Gruppe der Non- Hispanic Whites (das heißt beispielsweise Biracial Amerikaner, Weiße mit mexikanischen Wurzeln, Native Americans u.v.m.) fallen unter den Dachbegriff der „Minderheit“. Die demographischen Veränderungen der Vereinigten Staaten der letzten Jahrzehnte haben bereits enormen Einfluss auf den Ausgang von Wahlen gehabt. Das Tempo dieses Wandels wird sich in Zukunft noch eher beschleunigen. Schon zwischen den Volkszählungen 2000 und 2010 waren die eben definierten ethnischen Minderheiten für fast 92 Prozent des Bevölkerungswachstums des Landes verantwortlich. 275 Hispanics allein repräsentierten 15,2 der 27,3 Millionen Menschen, die in diesem Jahrzehnt zur Bevölkerungszahl der USA hinzugekommen waren. 276 Somit machte diese Bevölkerungsgruppe allein 56 Prozent des Bevölkerungswachstums zwischen den beiden besagten Volkszäh- 274 Vgl. Rhodes, Jesse H. u.a. (2017): Is America More Divided by Race or Class? Race, Income, and Attitudes among Whites, African Americans, and Latinos. In: The Forum 15 (1), S. 71-91. 275 Vgl. Humes, Karen R. u.a. (2011): Overview of Race and Hispanic Origin: 2010. United States Census Bureau, S. 4. 276 Vgl. Ennis, Sharon R. u.a. (2011): The Hispanic Population: 2010. United States Census Bureau, S. 6. <?page no="152"?> 152 4 Die zukünftigen Herausforderungen lungen aus, obwohl sie im Jahr 2000 nur 12,5 Prozent der Bevölkerung stellte. Es sind gerade dieses Wachstum sowie die parteipolitischen Präferenzen der Hispanics, die Republikaner in ihrer Suche nach Mehrheiten bereits heute vor enorme Herausforderungen stellen. Drei Präsidentschaftswahlen, die weniger als drei Jahrzehnte auseinander liegen, zeigen den enormen Einfluss der demographischen Transformation auf die Mehrheitsverhältnisse des Landes auf (Tabelle 5). 1988 2012 2016 DEM REP DEM REP DEM REP Weiß 40 60 39 59 37 58 Schwarz 89 11 93 6 88 8 Hispanic 70 30 71 27 65 29 Vorsprung Demokraten (Popular Vote) -7,7 +3,9 +2,1 Tab. 5: Präferenzen verschiedener Wählersegmente (in Prozent). Quelle: Roper Center for Public Opinion Research (2019): How Groups Voted Bemerkenswert ist durchaus das Ausmaß der Stabilität der elektoralen Präferenzen der drei wichtigsten Ethnien des Landes: In den drei Präsidentschaftswahlen 1988, 2012 und 2016 stimmten ungefähr 60 Prozent aller weißen, 10 Prozent aller schwarzen sowie 30 Prozent aller Hispanic-Wählerinnen und Wähler für einen republikanischen Kandidaten. Doch warum reichten diese Werte in den späten 1980er Jahren für einen komfortablen republikanischen Sieg von acht Prozentpunkten aus, während sie in den jüngsten Präsidentschaftswahlen zu demokratischen Vorsprüngen führten? Die Antwort lässt sich in der Zusammensetzung <?page no="153"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 153 der Wählerschaft finden. Stellten beim Wahlsieg George H.W. Bushs über seinen demokratischen Widersacher Michael Dukakis weiße Wähler noch 85 Prozent der gesamten Wählerschaft, so war dieser Wert 2012 auf 72 und vier Jahre darauf auf 70 Prozent gesunken. Diese Entwicklung wird in Zukunft die Hürden der Republikaner auf dem Weg zu eigenen Mehrheiten nur noch weiter erhöhen. Nach Daten des amerikanischen Census Bureau stellten Weiße ohne Wurzeln in Lateinamerika (die bereits erwähnten Non-Hispanic Whites) im Jahre 2016 61 Prozent der Bevölkerung des Landes. Dieser Anteil wird kontinuierlich entsprechend der Vorhersagen auf weniger als 45 Prozent im Jahr 2060 fallen (siehe Abbildung 4). Abb. 4: Zusammensetzung der Bevölkerung der USA, 2016‒2060. Quelle: United States Census Bureau (2018): 2017 National Population Projections Tables / Projected Race and Hispanic Origin. Stand: 6. September Generell besagen die Vorhersagen, dass die Vereinigten Staaten Mitte der 2040er Jahre ein Majority-Minority-Land („mehrheitlich minderheitlich“) sein werden, in dem Non- <?page no="154"?> 154 4 Die zukünftigen Herausforderungen Hispanic Whites nur noch die Minderheit stellen. Bereits 2016 sah man in den USA zum ersten Mal seit dem Beginn der Aufzeichnungen einen Rückgang der Bevölkerungszahl der Non-Hispanic Whites. 277 Gleichzeitig könnten gerade Hispanics in zukünftigen Jahrzehnten das Zünglein an der Waage sein: Ihr Anteil an der Bevölkerung wird entsprechend der Vorhersagen des Census Bureau von 18 Prozent im Jahr 2016 auf 28 Prozent im Jahr 2060 ansteigen. In diesem Kontext höchst besorgniserregend für die Republikaner sind die ideologischen Ansichten, welche die bereits eingebrachten parteipolitischen Präferenzen der verschiedenen Ethnien untermauern. Dies gilt insbesondere für das wachsende Segment der Hispanics. Eine große Mehrheit dieser Gruppe vertritt die Ansicht, dass ein aktiver Staat, der mit einem umfassenden Wohlfahrtsstaat seine Bürger vor Armut sichert gegenüber dem Konzept des Small Government zu bevorzugen sei. 2011 beantworteten beispielsweise 48 Prozent aller Einwohner der USA, dass sie eher einen straffen Staat („smaller government“) mit einem kleineren Aufgabenfeld bevorzugen würden. Nur 41 Prozent sprachen sich hingegen für einen aktiveren Akteur auf staatlicher Ebene aus. Hispanics positionierten sich jedoch klar auf der linken Seite: 75 Prozent präferierten „Bigger Government“. 278 In dieser grundsätzlichen ökonomischen Frage offenbart sich eine Kluft zwischen Hispanics und Republikanern, die nur schwer zu überbrücken sein wird. Drei Viertel letzterer bevorzugen einen kleineren Regierungsapparat. 279 Auch andere Studien spiegeln diese ideo- 277 Vgl. Frey, William H. (2018): US white population declines and Generation ‚Z-Plus‘ is minority white, census shows. In: Brookings Institution, 22. Juni. 278 Vgl. Taylor, Paul u.a. (2012): When Labels Don’t Fit: Hispanics and Their Views of Identity. In: Pew Research Center, 4. April. Unterkapitel: Politics, Values and Religion. 279 Vgl. Pew Research Center (2017): With Budget Debate Looming, Growing Share of Public Prefers Bigger Government. 24. April, S. 8. <?page no="155"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 155 logischen Differenzen wider. Entsprechend einer „Ökonomischen Orientierungsskala“ des Public Religion Research Institute gelten 39 Prozent aller Hispanics als wirtschaftlich progressiv und nur 7 Prozent als wirtschaftlich konservativ. Unter Republikanern liegt letzterer Wert hingegen bei 55 Prozent. 280 Insbesondere bei einem der wichtigsten politischen Themen der letzten Jahre - dem amerikanischen Gesundheitssystem - wird diese Lücke ebenfalls ersichtlich. Während 85 Prozent aller Hispanics die Ansicht vertreten, dass es Aufgabe des Staates ist, seine Bürger mit Gesundheitsleistungen zu versorgen, teilen nur 20 Prozent aller Republikaner diese Ansicht. 281 In den Zwischenwahlen 2018 besaß dieser Sachverhalt für Hispanics zudem eine größere Bedeutung als Themen wie Migration oder Löhne. 282 Die Republikanische Partei hat diese demographischen Herausforderungen durchaus erkannt. Nach der Niederlage Mitt Romneys veröffentlichte die Partei im Frühjahr 2013 einen Bericht, der durchaus schonungslos die Defizite der Partei im Bereich des Minority Outreach aufzeigte. Entsprechen der Analyse antworteten Teilnehmer mit einem Latino-Migrationshintergrund, dass Republikaner schon mit ihrer migrationspolitischen Rhetorik allein viele Brücken zur Hispanic Community zerstören. Ebenso wurde die Positionierung der Partei beim Thema Migration als „Lackmustest“ gesehen, der Latino-Wählern aufzeigt, inwiefern die 280 Vgl. Jones, Robert P. u.a. (2013): Do Americans Believe Capitalism & Government are Working? In: Public Religion Research Institute/ Brookings Institution, 18. Juli, S. 29. 281 Für Daten bezüglich Hispanics, vgl. Bialik, Kristen (2017): More Americans say government should ensure health care coverage. In: Pew Research Center Fact Tank, 13. Januar. Für Republikaner, vgl. Dunn, Amina (2019): Democrats differ over best way to provide health coverage for all Americans. In: Pew Research Center Fact Tank, 26. Juli. 282 Vgl. Latino Decisions (2018): American Election Eve Poll 2018 - Latino Voters, S. 1. <?page no="156"?> 156 4 Die zukünftigen Herausforderungen Partei sie willkommen heißt. 283 Dass nur drei Jahre nach der Veröffentlichung des Berichts ein Kandidat die Präsidentschaftskandidatur der Partei eroberte, der Migranten aus Lateinamerika als Gefahr und Speerspitze einer „Invasion“ porträtierte, weist auch auf die entstandene Kluft zwischen Teilen des republikanischen Establishments und der Kernwählerschaft der Partei, sowie einer gewissen Ohnmacht ersterer hin. Schon heute lässt sich erkennen, dass die Demokraten hingegen die Zusammensetzung des „neuen“ Amerikas deutlich besser widerspiegeln (Tabelle 6). Die Entwicklung der demographischen Zusammensetzung der beiden Parteien im letzten Vierteljahrhundert veranschaulicht die Kluft zwischen den Republikanern und der generellen Wählerschaft besonders prägnant. 1992 2016 Gesamt REP DEM Gesamt REP DEM Weiß 84 93 76 70 86 57 Schwarz 10 2 17 12 2 21 Hispanic 5 3 6 9 6 12 Tab. 6: Zusammensetzung der amerikanischen Wählerschaft, 1992 und 2016. Quelle: Pew Research Center (2016): The Parties on the Eve of the 2016 Election, S. 1 Während sich der Anteil der weißen Wähler in der Gesamtwählerschaft zwischen 1992 und 2016 um 17 Prozent und unter Demokraten gar um 25 Prozent verringerte, sank der Anteil weißer Amerikaner innerhalb der republikanischen Wählerschaft um nur acht Prozent. Dies bedeutet, dass schon heute in der amerikanischen Politik die ethnische Zugehörigkeit eine der ausgeprägtsten Konfliktlinien 283 Vgl. Republican Party (2013), S. 15. <?page no="157"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 157 ist. Waren Anfang der 1990er Jahre beide Parteien noch von weißen Wählern geprägt, war zum Zeitpunkt der Präsidentschaftswahl 2016 bereits nur noch etwas mehr als die Hälfte aller Demokraten weiß. Eine nähere Betrachtung der Präsidentschaftswahlen zeichnet ein ähnliches Bild der ethnischen Kluft innerhalb der Wählerschaft. Minderheiten repräsentierten in der Präsidentschaftswahl 1976 15 Prozent aller demokratischen sowie 4 Prozent aller republikanischen Wählerinnen und Wähler. Zwei Jahrzehnte später lagen die jeweiligen Werte bei 25 und 7 Prozent, zwei weitere Jahrzehnte danach bei 45 und 10 Prozent. 284 Die ersten Zwischenwahlen der Trump-Präsidentschaft zeigen ebenso auf, unter welchen Segmenten die heutige Republikanische Partei Verluste erleidet und welchen Einfluss dies auf die Mehrheitsverhältnisse im Land hat und haben wird. Auch wenn die Republikanische Partei im Senat in der Lage war dank eines vorteilhaften Umfeldes ihre Mehrheit 2018 auszubauen, 285 so muss das Ergebnis im Repräsentantenhaus als desaströs bezeichnet werden. Die Demokraten konnten 41 Wahlkreise im Vergleich zur Wahl 2016 erobern, ihr größter Zugewinn seit 1974. Ihr Vorsprung von 8,6 Prozentpunkten stellte ebenso den größten Sieg einer Partei dar, die eine Wahl zum Repräsentantenhaus als Minderheitenpartei bestritt (seit dem Beginn der Aufzeichnung der „Popular Vote“ in der Wahl 1942). 286 Eine zentrale Erklärung für diesen „Blaue Welle“ der Demokraten lässt sich in der Zusammensetzung der Wählerschaft der Midterms und den Verlusten der Republikaner in bestimmten Gruppierungen finden. Besonders stark stellt sich der Einbruch der Republikaner zwischen den Midterms 284 Vgl. Abramowitz (2018), S. 126. 285 Die Demokraten mussten 2018 im Senat fast drei Mal so viele Sitze verteidigen wie ihre republikanischen Gegner. 286 Vgl. Enten, Harry (2018): Latest House results confirm 2018 wasn’t a blue wave. It was a blue tsunami. In: CNN, 6. Dezember. <?page no="158"?> 158 4 Die zukünftigen Herausforderungen 2014 und 2018 unter jungen und gebildeten Wählerinnen und Wählern dar. Gab es entsprechend des Exit Poll zur Wahl des Repräsentantenhauses 2014 noch einen Vorsprung von drei Prozentpunkten für Republikanische Kandidaten unter Wählern mit Universitätsabschluss, so gewannen die Demokraten dieses wachsende Segment der Wählerschaft mit 20 Punkten in Donald Trumps erster Zwischenwahl. Unter den republikanischen elektoralen Eckpfeilern - den konservativen Christen und weißen Wählerinnen und Wählern ohne Universitätsabschluss - waren die Zugewinne hingegen überschaubar. In Anbetracht der eben aufgezeigten demographischen Veränderung des Landes können Demokraten ihren Rückstand unter diesen Wählern jedoch verschmerzen. 2014 2016 2018 Veränderung 2014-18 18-29-Jährige 11 19 35 +24 Hispanic 26 38 40 +14 weiße Frauen -14 -10 0 +14 mit Universitätsabschluss -3 10 20 +23 Einkommen unter $100.000 0 4 14 +14 Evangelikale Christen -58 -64 -53 +5 Weiße ohne Universitätsabschluss -30 -37 -24 +6 Tab. 7: Vorsprung der Demokratischen Partei unter ausgewählten Wählergruppen (in Prozentpunkten). Quelle: CNN Exit Polls Einerseits lassen sich diese Verluste durch verändertere parteipolitische Präferenzen von Wählern, die an beiden Zwischenwahlen teilnahmen, erklären. Wichtiger mag <?page no="159"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 159 jedoch die Mobilisierung von zusätzlichen Wählern in den Segmenten der jungen Wählerschaft und ethnischen Minderheiten gewesen sein, die beide traditionell in Zwischenwahlen in deutlich geringeren Zahlen teilnehmen als in Präsidentschaftswahlen. Dieses Merkmal amerikanischer Wahlen galt jedoch 2018 nicht. Während die Wahlbeteiligung 2018 im Vergleich zu den vorherigen Zwischenwahlen um 27 Prozent anstieg, lag diese Steigerung bei 18-29- Jährigen bei 79 Prozent (von 19,9 auf 35,6 Prozent). Unter Hispanics ließ sich ein Anstieg vom 50 Prozent verzeichnen (von 27,0 auf 40,4 Prozent). 287 Nahmen 2014 weniger als sieben Millionen Hispanics an den Zwischenwahlen teil, so lag diese Zahl vier Jahre später bei fast zwölf Millionen. 288 Dies hatte zur Folge, dass die republikanische Kernwählerschaft der weißen Wähler 2018 einen historischen Tiefststand bezüglich ihres Anteils innerhalb der allgemeinen Wählerschaft vorwies. Waren in den 2014-Midterms noch 76,2 Prozent aller Wähler non-Hispanic Whites, lag dieser Anteil vier Jahre später bei weniger als 73 Prozent. 289 4.1.2 Republikanische Defizite in weiteren wachsenden Segmenten der US-Bevölkerung Eine große Herausforderung für die Republikanische Partei stellt nicht nur die ethnische Transformation des Landes dar. Wie bereits in Kapitel 3.5 erläutert wurde, ist die Republikanische Partei heute die Partei der weißen Wähler ohne Hochschulabschluss. Auf der anderen Seite stellen Amerikaner mit Hochschulabschluss heute einen der Eckpfeiler der Demokratischen Partei dar. Diese Entwicklung 287 Vgl. Misra, Jordan (2019): Voter Turnout Rates Among all Voting age and Major Racial and Ethnic Groups Were Higher Than in 2014. In: United States Census Bureau, 23. April. 288 Vgl. Krogstad, Jens Manuel u.a. (2019): Historic highs in 2018 voter turnout extended across racial and ethnic groups. In: Pew Research Fact Tank, 1. Mai. 289 Eigene Berechnungen auf der Basis von Daten des United States Census Bureau (2019: Voting and Registration). <?page no="160"?> 160 4 Die zukünftigen Herausforderungen hat sich jedoch auch erst in den letzten beiden Jahrzehnten herauskristallisiert, wie Tabelle 8 aufzeigt. 1994 genoss die Republikanischen Partei noch unter Amerikanern, die einen vierjährigen Hochschulabschluss (zumeist ein Bachelor’s Degree) vorweisen konnten, einen komfortablen Vorsprung von 15 Prozentpunkten. Selbst unter Personen, die danach ihre akademische Laufbahn fortsetzten, lagen Republikaner und Demokraten Mitte der 1990er Jahre gleichauf. Fast ein Vierteljahrhundert später sind die besser gebildeten Schichten jedoch fest in demokratischer Hand. 1994 2017 DEM REP DEM REP Hochschulabschluss ohne Aufbaustudium 39 54 54 39 Hochschulabschluss mit Aufbaustudium 47 45 63 31 Tab. 8: Parteipräferenzen von Hochschulabsolventen, 1994 und 2017 (in Prozent). Quelle: Pew Research Center (2018): Wide Gender Gap, S. 10 Auch hier befindet sich die Republikanische Partei in einem Rennen gegen die Zeit. Allein zwischen 2000 und 2018 wuchs der Anteil der über 24-Jährigen in den USA, die mindestens einen Bachelorabschluss vorweisen konnten, von 25,6 auf 35 Prozent an. Der Anteil mit einem Masterabschluss oder einer Promotion stieg im selben Zeitraum von 8,6 auf 13,1 Prozent an. 290 Dies hat natürlich auch Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Wählerschaft. Waren bei der Wiederwahl George W. Bushs 2004 noch 58 Prozent aller Wählerinnen und Wähler des Landes ohne 290 Vgl. United States Census Bureau (2019): CPS Historical Time Series Tables, Table A-4: Detailed Years of School Completed by People 25 Years and Over: 2000 to 2018. <?page no="161"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 161 Hochschulabschluss (ein Segment, das Bush mit sechs Prozentpunkten Vorsprung gewann) 291 , so hielten sich in der Präsidentschaftswahl 2016 die Wähler mit und ohne Hochschulabschluss die Waage. Wähler mit Hochschulabschluss konnte Hillary Clinton mit einem Vorsprung von zehn Prozentpunkten für sich gewinnen. 292 Mit jeder Wahl wird die Wählerschaft des Landes einen besseren Bildungsgrad vorweisen, der dementsprechend eine für die Demokratische Partei günstigerer Ausgangsposition mit sich bringt. Die historische Herausforderung des demographischen Wandels, der die Republikanische Partei in das elektorale Nirvana senden könnte, lässt sich insbesondere am Wertewandel der verschiedenen Generationen des Landes ablesen, die ihrerseits die bereits erwähnten Veränderungen innerhalb der Wählerschaft bezüglich Ethnie, Bildung aber auch Religiosität (siehe nächstes Kapitel) widerspiegeln. Millennials (geboren zwischen 1981 und 1996) stehen insbesondere bezüglich ihrer gesellschaftspolitischen Werte oft erheblich weiter links als die amerikanischen Vorgängergenerationen. 293 47 Prozent aller Millennials äußerten 2019 beispielsweise die Ansicht, dass die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe eine gute Sache für die Gesellschaft sei. Wie Tabelle 9 aufzeigt, waren diese Werte in den älteren Generationen deutlich geringer. Eine ebenso große Kluft ließ sich bei der insbesondere in der Trump-Ära enorm relevanten Frage finden, ob Migranten eine Bereicherung für das Land darstellen. 291 Insgesamt gewann George W. Bush seine Wiederwahl mit einem Vorsprung von zweieinhalb Prozentpunkten. Bei Wählerinnen und Wählern mit Hochschulabschluss lagen George W. Bush und sein demokratischer Kontrahent John Kerry gleichauf. 292 Daten aus Exit Polls von CNN. 293 Generation X (geboren zwischen 1965 und 1980), Baby Boomer (geboren zwischen 1946 und 1964), sowie die Silent Generation (geboren zwischen 1928 und 1945). <?page no="162"?> 162 4 Die zukünftigen Herausforderungen Millennials Generation X Baby Boomer Silent Generation gleichgeschlechtliche Ehe gut für die Gesellschaft 47 33 27 18 Einwanderer stärken unser Land 79 66 56 47 Abtreibung sollten meistens/ immer legal sein 62 59 53 48 Tab. 9: Ansichten zu verschiedenen relevanten gesellschaftspolitischen Themen (Zustimmung in Prozent). Quelle: Frage 1: Parker, Kim u.a. (2019): Generation Z Looks a Lot Like Millennials on Key Social and Political Issues. In: Pew Research Center, 17. Januar, S. 11. Fragen 2 und 3: Pew Research Center (2018): The Generation Gap in American Politics. 1. März, S. 28 und 30. Die Generationskluft lässt sich auch in wirtschaftspolitischen Themen vorfinden. Wie bereits erwähnt, wird in den USA die grundsätzliche Einstellung zur Rolle des Staates und seinem Aufgabengebiet gerne anhand der Frage gemessen, ob „big“ oder „small government“ präferiert wird. Millennials vertreten in diesem Bereich ebenso linksliberalere Werte als ältere Wählerinnen und Wähler, die einen starken oder aktiven Staat mehrheitlich ablehnen (siehe Abbildung 5). Hier verläuft die vielleicht entscheidende Trennlinie zwischen jungen Amerikanern und der Republikanischen Partei des 21. Jahrhunderts. Erstere sehen den Staatsapparat als Akteur, der Land und Gesellschaft zum Besseren verändern kann. Letztere betrachten Government hingegen als Gegner, der dem Bürger unnütze Vorschriften oktroyiert, eine feindselige gesellschaftspolitische Agenda verfolgt und somit in allen erdenklichen Bereichen klein gehalten werden muss - eine Sichtweise, die in den letzten Jahrzehnten im konservativen Lager eine noch stärkere Ausbreitung er- <?page no="163"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 163 reicht hat. Sahen 1996 22 Prozent aller Republikaner den föderalen Regierungsapparat als „Feind“, lag dieser Wert zwei Jahrzehnte später bei 35 Prozent. 294 Abb. 5: Präferenzen verschiedener Generationen zur Rolle des Staates (in Prozent). Quelle: Pew Research Center (2014): Millennials in Adulthood: Detached from Institutions, Networked with Friends. 7. März, S. 35. In Anbetracht dieser Präferenzen überrascht es kaum, dass nur wenige Millennials die Republikanische Partei als ihre politische Heimat betrachten. 2016 gaben 54 Prozent aller Millennials an, sich als Demokraten zu identifizieren. Nur 33 Prozent sahen sich hingegen als Republikaner. Wie Tabelle 10 aufzeigt, lagen die republikanischen Werte bei den älteren Generationen deutlich höher. 294 Vgl. Pew Research Center (2015): Beyond Distrust: How Americans View Their Government. 23. November, S. 34. <?page no="164"?> 164 4 Die zukünftigen Herausforderungen Millennials Generation X Baby Boomer Silent Generation Demokraten 54 48 44 41 Republikaner 33 37 44 48 Tab. 10: Parteiidentifikation unter verschiedenen Generationen, 2016 (in Prozent). Quelle: Maniam, Shiva/ Samantha Smith (2017): A wider partisan and ideological gap between younger, older generations. In: Pew Research Center Fact Tank, 20. März. Anhand dieser Statistiken lassen sich die negativen Konsequenzen des republikanischen Kurses des letzten halben Jahrhunderts gut ablesen. Eine allgemein moderatere Positionierung der Partei bei den Themen der gleichgeschlechtlichen Ehe oder des Schwangerschaftsabbruchs ist nur schwer möglich, da christlich-konservative Wähler (trotz der im nächsten Kapitel aufgezeigten Säkularisierung des Landes) weiterhin einen beträchtlichen Teil der republikanischen Stammwählerschaft ausmachen. Die nativistische Kernwählerschaft, die Donald Trumps Sieg in den republikanischen Vorwahlen ermöglichte, genießt nur ein geringes Ausmaß an ideologischen Gemeinsamkeiten mit Millennials. Die elektorale Herausforderung für Republikaner lässt sich auch daran erkennen, dass Millennials 2019 zur bevölkerungsreichsten Generation der Vereinigten Staaten wurden: Mit einer Größe von 73 Millionen überholten sie (auch dank der Einwanderung jüngerer Migranten) die Baby Boomer. 295 Wie folgend noch aufgezeigt wird, stellt diese linksliberale Sichtweise junger Amerikaner keine Reflektion einer vergleichbaren ideologischen Positionierung vorheriger Generationen in einem ähnlichen Alter dar. Millennials stehen deutlich weiter links als andere Kohorten zu ähnlichen 295 Vgl. Fry, Richard (2018): Millennials projected to overtake Baby Boomers as America’s largest generation. In: Pew Research Center Fact Tank, 1. März. <?page no="165"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 165 Zeitpunkten ihres Lebens. Besorgniserregend für die Republikaner sind auch die Entwicklungen bezüglich der ideologischen Präferenzen der jüngsten Generation (die nunmehr das Label „Generation Z“ erhalten hat und nach 1996 geboren wurde). In ihren gesellschaftspolitischen Positionen lässt sich hier teilweise noch ein größeres Ausmaß an progressiven Werten als bei Millennials vorfinden. Unter Mitgliedern der Generation Z sind beispielsweise 70 Prozent der Ansicht, der Staat solle mehr tun, um Probleme und Herausforderungen zu lösen (ein Wert, der bei 64 Prozent unter Millennials liegt). 296 Zum Vergleich: nur ein Viertel aller Republikaner vertritt ebenso diese Ansicht während zwei Drittel aller Demokraten sich ihrerseits für einen aktiveren Staat aussprechen. 297 Ein weiteres Thema, dessen Relevanz in Zukunft nur ansteigen wird und bei dem sich eine enorme ideologische Lücke zwischen Republikanern und den jüngsten Wählerinnen und Wählern des Landes erkennen lässt, ist der Klimawandel. Von Donald Trump als chinesische Erfindung bezeichnet, die das Ziel verfolge, die amerikanische Industrie in Ketten zu legen, 298 steht die Republikanische Partei in dieser Frage generell am skeptischen Rand. Während zwei Drittel aller Demokraten im Frühjahr 2019 die Ansicht vertraten, der neu zusammengekommene Kongress solle die Erderwärmung als eine seiner wichtigsten Prioritäten betrachten, sahen nur 21 Prozent aller Republikaner dieses Thema als bedeutsam an. 299 Insgesamt hat sich trotz der klimatischen Entwicklungen der letzten Jahre sowie der wachsenden Beweislage nur wenig an den republikanischen 296 Vgl. Parker/ Graf/ Igielnik (2019), S. 2. 297 Vgl. Pew Research Center (2015): Beyond Distrust, S. 39. 298 So Trump im November 2012 auf Twitter: „The concept of global warming was created by and for the Chinese in order to make U.S. manufacturing non-competitive.“ 299 Vgl. Pew Research Center (2019): Public’s 2019 Priorities: Economy, Health Care, Education and Security All Near Top of List. 24. Januar, S. 3. <?page no="166"?> 166 4 Die zukünftigen Herausforderungen Ansichten geändert. Im Sommer 1999 nahmen 21 Prozent aller Demokraten und 15 Prozent aller Republikaner den Klimawandel als ernste Bedrohung wahr, die „sofortiges Handeln“ erfordere. Zwei Jahrzehnte später lagen die jeweiligen Anteile bezüglich dieser Frage bei 71 und weiterhin 15 Prozent. 300 Zwischen jungen Amerikanern und dem konservativen Kern der Republikanischen Partei herrscht dementsprechend auch Uneinigkeit über die Gründe hinter den steigenden Temperaturen. Während 54 Prozent aller Mitglieder der Generation Z und 56 Prozent aller Millennials die Ansicht vertreten, der Mensch trage die Verantwortung für die Erderwärmung, teilen nur 18 Prozent aller konservativen Republikaner diese Ansicht. 36 Prozent sehen hingegen keine handfesten Beweise, dass sich das Klima überhaupt verändert. 301 Besteht für die Republikaner Hoffnung auf eine zukünftige grundlegende Kehrtwende der Ansichten und Parteipräferenzen junger Amerikaner? Es ist eine durchaus populäre Ansicht zu meinen, mit erhöhtem Alter steige auch die Tendenz sich konservativen Werten zuzuneigen. Sicherlich ist es wenig überraschend, dass ein mit steigendem Alter assoziiertes höheres Einkommen mit einer gewissen Adjustierung der parteipolitischen Sympathien einhergeht. Doch zeigt die wissenschaftliche Literatur vielmehr auf, dass die politischen Ansichten, die in jungen Jahren geformt werden, die meisten Menschen durch ihr Leben begleiten. So lässt sich in den USA eine enorme Relevanz des generellen politischen Umfelds zum Zeitpunkt der ersten politischen Aktivität (beispielsweise der ersten Teilnahme an einer Wahl) bezüglich der lebenslangen politischen Neigungen vorfinden (in der Sozialwissenschaft als „impressionable years hypothesis“ bekannt). Amerikaner, die ihren 18. Ge- 300 Vgl. Kamisar, Ben (2018): Deep partisan divisions drive sentiment on climate change. In: NBC News, 17. Dezember. 301 Vgl. Parker/ Graf/ Igielnik (2019), S. 7; Pew Research Center (2018): Majorities see Government Efforts to Protect the Environment as Insufficient. 14. Mai, S. 11. <?page no="167"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 167 burtstag während der gemeinhin als erfolgreich betrachteten Reagan-Präsidentschaft feierten, sind heute republikanischer als die Gesamtwählerschaft. Bis in die 1990er Jahre waren die ältesten Amerikaner zudem auch oft die Alterskohorte mit der demokratischsten Neigung, ein Merkmal, das sich durch ihr Aufwachsen in der Franklin D. Roosevelt-Präsidentschaft der 1930er und 40er Jahre erklären lässt. 302 In den jüngsten Wahlen war diese Altersgruppe hingegen treu im republikanischen Lager (Donald Trump gewann 2016 Amerikaner mit einem Alter von mindestens 65 Jahren mit einem Vorsprung von sieben Prozentpunkten). Natürlich existiert keine Regel ohne Ausnahme und gewisse Schwankungen bezüglich dieser Präferenzen lassen sich durchaus vorfinden. Doch selbst wenn die These des steigenden Konservatismus im Alter die Realität akkurat widerspiegeln würde, sehen sich republikanische Strategen mit der Herausforderung konfrontiert, dass junge Amerikaner heutzutage deutlich progressivere Werte besitzen als vorherige Generationen in einem ähnlichen Lebensabschnitt. Während 55 Prozent aller „Generation X“-Amerikaner Mitte der 1990er Jahre die Ansicht vertraten, der Staatsapparat sei meist verschwenderisch und agiere ineffizient, waren nur 42 Prozent aller Millennials in einer Umfrage im Jahre 2010 derselben Ansicht. 303 Mit anderen Worten, selbst wenn es in Zukunft eine uniforme Bewegung in Richtung konservativerer Werte unter Millennials gäbe, würde die Gesamtwählerschaft trotzdem aufgrund des Ausscheidens der konservativen älteren Wähler insgesamt eine progressivere Politik bevorzugen - nicht zuletzt da die nachrückende „Generation Z“ von der unpopulären Vorgehensweise Donald Trumps nachhaltig davon abgehalten werden könnte, ihr Kreuz in zukünftigen Jahren - wenn nicht gar Jahrzehn- 302 Vgl. Motel, Seth (2013): JFK torchbearers now vote more Republican. In: Pew Research Center Fact Tank, 21. November. 303 Vgl. Pew Research Center (2010): Millennials: Confident. Connected. Open to Change. 24. Februar, S. 72. <?page no="168"?> 168 4 Die zukünftigen Herausforderungen ten - bei der Republikanischen Partei zu setzen. Es lässt sich also konstatieren, dass Amerikas politische Mehrheiten durch die Veränderung der Zusammensetzung der Wählerschaft auf fundamentale Weise beeinflusst werden. Gruppen, die in der Vergangenheit den politischen Kurs des Landes bestimmt haben, müssen nunmehr erkennen, dass ihre politischen Wünsche und Ansichten von einem immer kleineren Anteil der Bevölkerung unterstützt werden. Diese demographische Transformation des Landes in Verbindung mit den Präferenzen der stetig wachsenden Wählerschaft der (überproportional jungen) ethnischen Minderheiten, führt zu beträchtlichen Statusängsten innerhalb der republikanischen Basis, die - wie bereits in Kapitel 3.4 beschrieben - die Wahl Donald Trumps in vielerlei Hinsicht erst ermöglichte. Diese Entwicklung mag selbst manche Wissenschaftler überrascht haben. Vor ungefähr anderthalb Jahrzehnten vertrat die amerikanische Politikwissenschaft noch oft die Ansicht, Whiteness, beziehungsweise die eigene weiße Identität, spiele innerhalb der weißen Wählerschaft des Landes nur eine untergeordnete Rolle. Der Grund dafür ließ sich in der Dominanz dieser Bevölkerungsgruppe in fast allen sozialen Bereichen des Landes finden. 304 Nationale Wahlen konnten nur schwer gegen den Willen weißer Wähler entschieden werden. Zwar verloren auch Jimmy Carter und Bill Clinton das Segment der weißen Wählerinnen und Wähler, doch lag der Rückstand jeweils im niedrigen einstelligen Bereich. Dies hat sich jedoch spätestens mit der Präsidentschaftswahl 2008 grundlegend geändert. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes war ein Kandidat in der Lage, die weiße Wählerschaft mit einem zweistelligen Rückstand zu verlieren während der Einzug in das Weiße Haus trotzdem ermöglich wurde. Trotz der ökonomischen Krise des Jahres 2008, konnte der Republikaner 304 Vgl. Sears, David O./ Victoria Savalei (2006): The Political Color Line in America: Many „Peoples of Color“ or Black Exceptionalism? In: Political Psychology 27 (6), S. 901. <?page no="169"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 169 John McCain weiße Wähler mit einem Vorsprung von zwölf Prozentpunkten gewinnen; vier Jahre später lag der republikanische Vorteil hier gar bei 20 Prozentpunkten. Auch Hillary Clinton verlor weiße Wähler mit einem Rückstand von 20 Prozentpunkten und war trotzdem in der Lage, die Popular Vote mit 2,1 Prozentpunkten zu gewinnen. Zum Vergleich: Jimmy Carter wies vier Jahrzehnte zuvor denselben landesweiten Vorsprung in der Popular Vote vor, musste dafür aber noch 48 Prozent aller weißen Wählerinnen und Wähler auf seine Seite bringen. 305 Im Aspekt der ethnischen Diversität lässt sich eine Konfliktlinie erkennen, die möglicherweise in zukünftigen Jahren die amerikanische Politik definieren wird. Während (und auch dank) der Trump-Präsidentschaft hat sich innerhalb der republikanischen Wählerschaft die Sichtweise zementiert, dass weiße Amerikaner nunmehr diskriminiert werden. Stimmten im Sommer 2017 63 Prozent aller Republikaner der Behauptung zu, dass Weiße im Land „under attack“ wären, so lag dieser Anteil ein Jahr später bei 71 Prozent. 306 Problematisch für die amerikanische Demokratie ist nicht zuletzt, dass sich in diesen Fragen eine breite Kluft zwischen Republikanern und Demokraten aufgetan hat, die ihrerseits in Fragen bezüglich des Themas Race in den letzten Jahren deutlich stärker die Ansicht vertreten, dass nicht die weiße Mehrheit sondern die ethnischen Minderheiten das Landes benachteiligt werden. Insgesamt zeigt eine Vielzahl an Statistiken die divergierenden Standpunkte bezüglich des Themas der Vielfalt sowie der Vorteile einer multiethnischen Demokratie auf (siehe Tabelle 11). Nicht zuletzt auch aufgrund der parteipolitischen und ideologischen Präferenzen von nicht-weißen Wähler überrascht es nicht, dass Demokraten die demogra- 305 Für die diesbezüglichen Daten, vgl. Roper Center for Public Opinion Research (2019). 306 Daten von Erhebungen aus zwei Studien von Reuters, Ipsos und dem Center for Politics der University of Virginia. Siehe Reuters u.a. „Race Poll“ im Literaturverzeichnis. <?page no="170"?> 170 4 Die zukünftigen Herausforderungen phische Entwicklung des Landes in Richtung Majority- Minority in einem weitaus positiveren Licht als ihre republikanischen Pendants sehen. Republikaner Demokraten alle Amerikaner Es muss mehr für die Gleichstellung von Schwarzen und Weißen getan werden. 29 85 59 Dem Thema „Race“ wird heute zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. 75 21 41 Dass 2050 eine Mehrheit aller Amerikaner Teil einer ethnischen Minderheit sein wird, ist gut. 16 50 35 Es ist sehr gut für die USA, dass das Land aus Menschen verschiedener Ethnien und Rassen zusammengesetzt ist. 39 71 57 Es stört mich, wenn Menschen im öffentlichen Raum nicht Englisch sprechen. 47* 18* 27 * Nur weiße Republikaner und Demokraten befragt. Tab. 11: Zustimmung zu verschiedenen Fragen der ethnischen Diversität des Landes (in Prozent) Quellen: Frage 1: Pew Research Center (2018): 2018 Midterm Voters: Issues and Political Values. 4. Oktober, S. 2; Frage 2: Horowitz, Juliana Menasce u.a. (2019): Race in America 2019. In: Pew Research Center, 9. April, S. 23; Frage 3: Parker, Kim u.a. (2019): Looking to the Future, Public Sees an America in Decline on Many Fronts. In: Pew Research Center, 21. März, S. 36; Fragen 4 und 5: Horowitz, Juliana Menasce (2019): Americans See Advantages <?page no="171"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 171 and Challenges in Country’s Growing Racial and Ethnic Diversity. In Pew Research Center, 8. Mai, S. 5 und 15. Wie die Zukunft der Republikanischen Partei aussehen könnte, lässt sich an den Entwicklungen des bevölkerungsreichsten amerikanischen Einzelstaats, Kalifornien, erkennen. In vielerlei Hinsicht scheinen Trends, die sich am Pazifik offenbaren, zeitversetzt auf nationaler Ebene zu entfalten. Für Jahrzehnte war der Golden State in Präsidentschaftswahlen ein sicherer Ort für republikanische Kandidaten - nicht zuletzt lässt sich hier auch die politische Heimat Richard Nixons und Ronald Reagans finden. In den zehn Präsidentschaftswahlen zwischen 1952 und 1988 konnte ein demokratischer Kandidat nur ein einziges Mal Kalifornien für sich entscheiden. Seit 1992 ist der Einzelstaat jedoch fest in demokratischer Hand. Mit 30 Prozentpunkten Vorsprung errang Hillary Clinton hier hinter Washington, D.C. und Hawaii ihr stärkstes Ergebnis. Die Gründe hinter dieser Transformation lassen sich an Entwicklungen innerhalb der lokalen Republikanischen Partei erkennen, die in den frühen 1990er Jahren einen nativistischen Kurswechsel umsetzte. Federführend war hier der republikanische Gouverneur Pete Wilson, der 1994 mit Proposition 187 einen plebiszitären Vorstoß unterstützte, der verschiedene Maßnahmen gegen irreguläre Migration vorsah; beispielsweise das Verbot des Besuchs von öffentlichen Schulen für Kinder ohne legalen Aufenthaltsstatus. Auch wenn fast 60 Prozent aller Wähler die Initiative in einem Volksentscheid unterstützten, sollten sich die Folgen dieser Positionierung für die Republikaner Kaliforniens als katastrophal herausstellen. Dies ist auch auf die demographische Entwicklung Kaliforniens zurückzuführen. Stellten Hispanics 1990 25,8 Prozent der Bevölkerung Kaliforniens, so lag dieser Anteil 2018 bei fast 40 Prozent. 307 307 Daten des United States Census Bureau. Vgl. Guzmán, Betsy (2001): The Hispanic Population - Census 2000 Brief, S. 4. United States Census Bureau (2018): QuickFacts California. <?page no="172"?> 172 4 Die zukünftigen Herausforderungen Unter diesen Wählern führte der republikanische Kurs der 1990er Jahre zu erheblichen Einbußen. Konnten Republikaner in den späten 1980er Jahren gar noch Zugewinne unter den dortigen Hispanics feiern, 308 so stellten Proposition 187 und andere einwanderungskritische republikanische Schritte ein Mobilisierungsprogramm für die Demokraten dar, das sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätten ausmalen können. Hispanics, die sich in den in den späten 1990er Jahren als Wähler in Kalifornien registrierten, präferierten die Demokratische Partei mit einem Wert von sechs zu eins. 309 Somit wurden die lateinamerikanisch-stämmigen Wähler Kaliforniens auch zu einer festen Bank demokratischer Kandidaten. Lag der Stimmenanteil der demokratischen Präsidentschaftskandidaten 1980 und 1984 unter den kalifornischen Hispanics bei jeweils 60 und 55 Prozent, so erreichte dieser Wert 2012 78 Prozent. 310 Der gleichzeitige Anstieg des Anteils von Hispanics an der Gesamtwählerschaft transformierte die demographische Zusammensetzung des Staats - und damit auch das politische Schicksal der dortigen Republikaner. Waren 1992 weniger als zehn Prozent aller registrierten kalifornischen Wähler Hispanics, so lag dieser Anteil im Jahr 2000 bei 14 Prozent und weitere zwölf Jahre später bei 26 Prozent. 311 Die blaue Transformation Kaliforniens trug sich nicht nur auf Präsidentschaftsebene zu. In den Wahlen zum US- Repräsentantenhaus des Jahres 1994 konnten Republikaner 49 Prozent aller abgegebenen Stimmen in Kalifornien ge- 308 Vgl. Bowler, Shaun u.a. (2006): Earthquakes and Aftershocks: Race, Direct Democracy, and Partisan Change. In: American Journal of Political Science 50 (1), S. 146-159. 309 Vgl. Damore, David/ Adrian Pantoja (2013): Anti-Immigrant Politics and Lessons for the GOP from California. In: Latino Decisions, S. 2. 310 Vgl. Barreto, Matt (2013): The Prop 187 Effect: How the California GOP lost their way and implications for 2014 and beyond. In: Latino Decisions, 17. Oktober. 311 Vgl. Damore/ Pantoja (2013), S. 14. <?page no="173"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 173 winnen und kontrollierten 50 Prozent aller Wahlkreise des Einzelstaats. Ein Vierteljahrhundert später sind die dortigen Republikaner jedoch zu einem größtenteils irrelevanten Akteur geworden. Nur noch sieben der 53 kalifornischen Wahlkreise des US-Repräsentantenhauses konnte die Partei in den Zwischenwahlen 2018 für sich entscheiden. In der Landeshauptstadt Sacramento spielen Republikaner auch keine Rolle mehr. Im 40-köpfigen Landessenat kontrollierten die Demokraten im Sommer 2019 29 Sitze; in der unteren Kammer der Landesversammlung waren zum selben Zeitpunkt 61 der 80 Abgeordneten Demokraten. 312 Kalifornien ist natürlich nur ein Einzelbeispiel. Doch zeigte die Vergangenheit, dass politische Entwicklungen im Einzelstaat sich ungefähr anderthalb bis zwei Jahrzehnte später oft auch auf nationaler Ebene ereignen. Wandte sich in Kalifornien beispielsweise die dortige Republikanische Partei Mitte der 1990er dem radikalen Nativismus zu, so geschah dies 2009/ 10 mit der Tea Party auf nationaler Ebene. 313 Auch wenn sich in Washington, D.C. der Zustand der Republikaner momentan noch vergleichsweise erheblich besser präsentiert, wäre die Partei somit gut beraten, die politischen Entwicklungen des größten amerikanischen Einzelstaates in ihre zukünftigen Strategien mit einzubeziehen. 4.1.3 Die Säkularisierung des Landes Wie dieses Buch aufgezeigt hat, hat die Allianz der Republikanischen Partei mit dem Süden des Landes erstere zum Verfechter christlich-konservativer Werte in fast alle relevanten politischen Fragen gemacht. Mag das Akronym GOP traditionell noch für „Grand Old Party“ gestanden haben, so erscheint der Titel God’s Own Party heute passender. 314 312 Daten von Ballotpedia zum California State Senate und California State Assembly. 313 Vgl. Leyden, Peter/ Ruy Teixeira (2017): Why California Politics is Always 15 Years Ahead. In: Medium, 17. Oktober. 314 So auch der Titel eines Buches des Historikers Daniel K. Williams (God’s Own Party: The Making of the Christian Right). <?page no="174"?> 174 4 Die zukünftigen Herausforderungen Diese Positionierung birgt für Republikaner verschiedene Probleme, bringt aber durchaus auch Vorteile mit sich. Der wichtigste liegt in der Mobilisierungsfähigkeit konservativer Protestanten. Ralph Reed, ehemaliger Vorsitzender der Christian Coalition of American (einer der wichtigsten christlich-konservativen Interessensgruppen des Landes) äußerte beispielsweise die Ansicht, dass die starke Mobilisierung des Wählerblocks der weißen Evangelikalen nicht zuletzt daher rührte, dass diese Gruppe immer am Wochenende vor dem Wahltag zusammenkommt. 315 Aber auch die unter weißen evangelikalen Protestanten vorgefundene hohe Wahlbeteiligung kann den demographischen Trends des Landes nur begrenzt entgegenwirken. Wie überall in der westlichen Welt sehen wir auch in den Vereinigten Staaten einen Rückgang der Religiosität und damit einhergehend der Religionszugehörigkeit. Zusammengefasst unter der Kennzeichnung Nones beziehungsweise den Religiously Unaffiliated 316 steigt gerade in den letzten beiden Jahrzehnten die Zahl der Amerikaner, die sich als Teil dieser säkularen Gruppe sehen. Äußerten 1976 nur sieben Prozent aller Amerikaner, dass sie keiner bestimmten Religionsgruppe zugehörten, lag dieser Wert 1994 nur marginal höher bei neun Prozent. Zwischen 2004 und 2016 ist der Anteil der Nones an der amerikanischen Bevölkerung jedoch sprunghaft von 14 auf 24 Prozent angestiegen. 317 Dies bedeutet, dass bezogen auf die Unterteilung der Bevölkerung anhand ihrer religiösen Identität nunmehr Amerikaner ohne spezifische religiöse Zugehörigkeit das größte Segment darstellen (wenn Protestanten in evangelikale [23 315 Vgl. Wald, Kenneth D./ Allison Calhoun-Brown (2011): Religion and Politics in the United States, S. 201 316 Eine Kennzeichnung, die Atheisten, Agnostiker aber auch Gläubige, die keiner bestimmten organisierten Glaubensrichtung zuzuschreiben sind, umfasst. 317 Vgl. Jones, Robert P./ Daniel Cox (2017): America’s Changing Religious Identity. In: Public Religion Research Institute, 6. September, S. 25. <?page no="175"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 175 Prozent] und „mainline“ [11 Prozent] Gruppen unterteilt werden). 318 Dies hat natürlich ebenso einen Einfluss auf die Zusammensetzung der Wählerschaft. Waren in der Präsidentschaftswahl 2000 nur 9 Prozent aller Wählerinnen und Wähler dem Segment der Nones zugehörig, so lag dieser Anteil sechzehn Jahre später bei 15 Prozent. 319 Auch hier lässt sich die Transformation der amerikanischen Gesellschaft am besten an den jüngsten Wählern des Landes erkennen. Während unter den über 65-jährigen Amerikanern nur 12 Prozent im Jahre 2016 angaben, keine religiösen Präferenzen zu besitzen, lag dieser Wert unter den 18- 29-Jährigen mehr als drei Mal so hoch (Tabelle 12). Auf der anderen Seite sehen wir den Abstieg des weißen Evangelikalismus: 26 Prozent der amerikanischen Pensionäre (65 und älter) gaben in derselben Studie an, sie wären weiße Evangelikale. Nur acht Prozent aller 18-29-Jährigen gehörten hingegen dieser Glaubensrichtung an. 18-29 30-49 50-64 65+ keine Zugehörigkeit 38 26 18 12 evangelikal (weiß) 8 14 21 26 katholisch (weiß) 6 9 15 16 Tab. 12: Religiöse Zugehörigkeit verschiedener Altersgruppen (in Prozent; 2016). Quelle: Jones/ Cox (2017), S. 11. Ähnlich wie beim Aspekt der ökonomischen Präferenzen, haben wir es bei den säkularen Ansichten der jüngsten Amerikaner nicht mit einem Phänomen zu tun, dass unter vorherigen Generationen in einem ähnlichen Ausmaß vor- 318 Vgl. Monahan, Neil/ Saeed Ahmed (2019): There are now as many Americans who claim no religion as there are evangelicals and Catholics, a survey finds. In: CNN, 26. April. 319 Vgl. Martínez/ Smith (2016). <?page no="176"?> 176 4 Die zukünftigen Herausforderungen handen war. 1986 gaben 10 Prozent aller 18-29-Jährigen an, dass sie keine spezifische religiöse Zugehörigkeit besäßen. 320 In ihren „Zwanzigern“ identifizierten sich nur 20 Prozent aller Mitglieder der „Generation X“ sowie 13 Prozent aller Baby Boomer als Religiously Unaffiliated. 321 Da sich auch in diesen Generationengruppen keine Anzeichen für eine steigende Religiosität in einem höheren Alter vorfinden lassen, ist auch bei den jüngsten nicht-religiösen Amerikanern zu erwarten, dass sie in späteren Jahren nur selten den Weg in die Kirche finden werden. Für eine Partei der explizit christlichen Werte schmilzt das Segment der potenziellen Wählerinnen und Wähler auch hier in einem immer schnelleren Tempo. Die Nones haben sich in den letzten Jahrzehnten zum demokratischen Gegenstück zu den weißen Evangelikalen und ihrer Rolle innerhalb der Republikanischen Partei entwickelt. Je stärker die Republikanische Partei auf die Interessen der Born Again-Christen eingegangen ist, desto demokratischer ist das wachsende Segment der säkularen Wählerinnen und Wähler geworden. Genoss die Demokratische Partei in dieser Gesellschaftsgruppe 1994 einen Vorsprung von 19 Prozentpunkten, so lag dieser Wert 2017 bei 46 Prozentpunkten. Dazu sei gesagt, dass die Republikaner im selben Zeitraum ihren Vorsprung unter weißen Evangelikalen von 30 auf 59 Prozentpunkte ausbauten. 322 Die religiöse Zusammensetzung der beiden Parteien nach der Wahl Donald Trumps spiegelt die Spaltung des Landes ebenso wider. Trotz des stetig sinkenden Anteils weißer Evangelikaler an der Gesamtbevölkerung des Landes, stellten diese 2017 immer noch ein Drittel aller republikanischen Wähler - fast derselbe Wert wie zwei Jahrzehnte 320 Vgl. Jones, Robert P. u.a. (2016): Exodus: Why Americans are Leaving Religion - and Why They’re Unlikely to Come Back. In: Public Religion Research Institute, 22. September, S. 3. 321 Vgl. Pew Research Center (2010): Millennials, S. 85. 322 Vgl. Pew Research Center (2018): Wide Gender Gap, S. 18, 21. <?page no="177"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 177 zuvor (siehe Tabelle 13). Auf der demokratischen Seite haben sich die Wähler ohne religiöse Zugehörigkeit nunmehr zum Eckpfeiler der Partei entwickelt und repräsentierten ihrerseits ebenso ein Drittel aller Demokraten. 1997 2017 Gesamt REP DEM Gesamt REP DEM evangelikal (weiß) 25 34 19 18 33 7 katholisch (weiß) 21 20 22 13 17 10 keine Zugehörigkeit 8 5 9 24 13 33 Tab. 13: Religiöse Zusammensetzung der Demokratischen und der Republikanischen Partei, 1997 und 2017 (in Prozent). Quelle: Pew Research Center (2018): Wide Gender Gap, S. 28 Die Konfliktlinie der Religion und Ansichten bezüglich der Rolle religiöser Werte in der alltäglichen Politik werden in Anbetracht dieser Daten auch in zukünftigen Jahren von zentraler Bedeutung in der amerikanischen Politik sein. Der von Patrick Buchanan (erzkonservativer Herausforderer George H.W. Bushs in den republikanischen Vorwahlen von 1992) auf dem republikanischen Parteitag desselben Jahres geäußerten Ansicht, Amerika befände sich in einem „religious war […] for the soul of America“, 323 der schlussendlich die Relevanz des Kalten Krieges erreichen würde, kann ein Vierteljahrhundert später nur zugestimmt werden. Wie in Kapitel 4.3 später aufgezeigt wird, scheint mit der 323 Buchanan, Patrick J. (1992): Address to the Republican National Convention. 17. August. <?page no="178"?> 178 4 Die zukünftigen Herausforderungen Trump-Präsidentschaft eine neue Ära in diesem Konflikt eingeläutet worden zu sein, in der beide Seiten mit einer stetig steigenden Kompromisslosigkeit ihre Ansichten verteidigen und keinen Zentimeter auf dem Schlachtfeld preisgeben wollen. Aufgrund der Relevanz des christlich-konservativen Flügels innerhalb der Republikanischen Partei, lässt sich bei verschiedenen zentralen „Kulturkampf“-Themen eine ideologische Kluft zwischen der Partei und einem wachsenden Segment der Bevölkerung (insbesondere den jungen säkularen Wählern) erkennen. Ein wichtiger Aspekt ist die Frage der Rechte sexueller Minderheiten. Für Gesetzesvorstöße zum Verbot der Diskriminierung von Schwulen, Lesben oder Transsexuellen im Arbeitsplatz sprachen sich 2018 56 Prozent aller Republikaner aus. Dieser Anteil war jedoch fünf Prozentpunkte niedriger als drei Jahre zuvor. Auf der anderen Seite sprachen sich fast 80 Prozent der Demokraten sowie 76 Prozent aller 18-29-Jährigen für diese Schutzmaßnahmen aus. Interessant ist, dass laut dieser Studie gerade unter jungen Republikanern ein Rückgang bezüglich der Unterstützung von Anti-Diskriminierungsmaßnahmen zu erkennen ist. Zwischen 2015 und 2018 sank der Anteil der 18-29-jährigen Republikaner, die in dieser Frage staatliche Maßnahmen guthießen, um mehr als zehn Prozentpunkte, von 74 auf 63 Prozent. 324 Auch beim Thema der gleichgeschlechtlichen Ehe existiert somit eine Kluft zwischen Republikanern und dem Rest der amerikanischen Wählerschaft. Hier sei jedoch anzumerken, dass die meisten Studien eine Abmilderung der Opposition auch unter der weißen evangelikalen Stammwählerschaft der Republikanischen Partei aufzeigen. Sprachen sich 2013 noch 71 Prozent aller weißen Evangelikalen gegen eine Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe aus, so lag 324 Vgl. Jones, Robert P. u.a. (2019): Fifty Years After Stonewall: Widespread Support for LGBT Issues. In: Public Religion Research Institute, 26. März, S. 8. <?page no="179"?> 4.1 Der demographische Wandel der USA 179 dieser Anteil vier Jahre später nur noch bei 58 Prozent. Diese fortwährende Opposition erschwert es der Republikanischen Partei jedoch weiterhin, gerade unter den jungen, überproportional säkularen Wählern als akzeptable politische Option zu gelten. In derselben demoskopischen Erhebung sprachen sich 77 Prozent aller 18-29-Jährigen für den legalen Status der gleichgeschlechtlichen Ehe aus. 325 Für Strategen der Demokratischen Partei stellt diese Entwicklung eine weitere Säule zukünftiger progressiver Mehrheiten dar. Dass die Zwischenwahlen 2018 für die Republikaner im Repräsentantenhaus desaströs endeten, ist auch damit verbunden, dass der Anteil der Nones an der Wählerschaft im Vergleich zu den vorherigen Zwischenwahlen 2014 von 12 auf 17 Prozent anstieg. Unter diesen Wählern konnte die Demokratische Partei einen Vorsprung von 42 Prozentpunkten erreichen. 326 Zukünftige Schritte zur Mobilisierung dieser Gruppe können durchaus weitere Früchte tragen. Wie am Anfang dieses Kapitels erwähnt, weist inzwischen ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung keine religiöse Zugehörigkeit vor, doch stammten nur 15 Prozent aller Wählerinnen und Wähler in der Präsidentschaftswahl 2016 aus diesem Segment. Sollten Demokraten in Zukunft in der Lage sein diese Gruppe ähnlich stark zur Wahlbeteiligung motivieren zu können, wie Republikaner dies mit weißen Evangelikalen erreicht haben, wird der Weg zu konservativen elektoralen Mehrheiten noch einmal ein deutlich steinigerer sein. 325 Vgl. Jones, Robert P. u.a. (2018): Emerging Consensus on LGBT Issues. In: Public Religion Research Institute, 1. Mai, S. 9-10. 326 Vgl. Podrebarac Sciupac, Elizabeth/ Gregory A. Smith (2018): How religious groups voted in the midterm elections. In: Pew Research Center Fact Tank, 7. November. <?page no="180"?> 180 4 Die zukünftigen Herausforderungen 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts 4.2.1 Redistricting und das Ungleichgewicht der Repräsentation Seit der Wahl 1992 sind die Demokraten auf der Ebene der Präsidentschaftswahlen eindeutig die stärkere Partei. In sechs der sieben Wahlen konnten sie eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreichen - auch wenn sie gleichzeitig nur vier Mal als Gewinner des Electoral College hervorgingen. Diese Ära koinzidiert jedoch mit einer in der jüngeren Vergangenheit einzigartigen Dominanz der Republikanischen Partei in Wahlen zum amerikanischen Repräsentantenhaus. Seit die Partei 1994 zum ersten Mal seit vier Jahrzehnten in der unteren Kammer des Kongresses eine Mehrheit erlangen konnte, war ihr demokratischer Gegner bis zu den Zwischenwahlen 2018 insgesamt nur vier Jahre (zwischen 2007 und 2011) in der Lage, eine Mehrheit im Repräsentantenhaus zu stellen. Diese Diskrepanz ist zumindest teilweise die Folge der Art und Weise wie die Wahlkreisgrenzen des Repräsentantenhauses gezogen werden. Während diese politische Frage in Deutschland fast keine Aufmerksamkeit genießt, hat sich Redistricting in den Vereinigten Staaten zu einem der wichtigsten politischen Themen in den letzten Jahren entwickelt. Vom ehemaligen Präsidenten Barack Obama als eine der prinzipiellen institutionellen Herausforderungen der heutigen USA gesehen, versucht die Demokratische Partei landauf und landab in dieser Frage Reformen umzusetzen - da ihr republikanischer Gegner die Neuziehung der Wahlkreisgrenzen im letzten Jahrzehnt perfektioniert hat und sich auch dank der Arbeit der eigenen Kartographen konservative Mehrheiten historischen Ausmaßes im Repräsentantenhaus sichern konnte. Dass in jedem Jahrzehnt die Wahlkreisgrenzen neu gezogen werden, ist mit den Vorgaben der amerikanischen Verfassung verbunden. Gemäß Artikel 1, Absatz 2 muss alle zehn <?page no="181"?> 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts 181 Jahre eine Volkszählung durchgeführt werden. Auf der Basis des Zensus werden die 435 Wahlkreise im Repräsentantenhaus den Einzelstaaten gemäß ihrer Einwohnerzahl zugeteilt. Ebenso überträgt die Verfassung den Einzelstaaten das Recht zur Durchführung der Wahlen zum Kongress und somit natürlich auch der Art und Weise der Grenzziehung ihrer Kongress-Wahlkreise. Da entsprechend des Zensus aus dem Jahre 2010 sieben Einzelstaaten nur jeweils einen Repräsentanten in Washington erhielten, mussten insgesamt 43 Einzelstaaten die Grenzen für ihre Wahlkreise des US-Repräsentantenhauses entsprechend der Daten der Volkszählung neu ziehen. In 37 Fällen waren die Landesparlamente für diese Grenzziehung verantwortlich. Aus Politikern zusammengesetzte Kommissionen zogen in zwei, unabhängige Kommissionen in vier Einzelstaaten die Wahlkreisgrenzen. 327 Hatten Einzelstaaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch ein großes Maß an Freiheiten bei der eigenen Wahlkreisgrenzziehung, so waren es Urteile des amerikanischen Obersten Gerichtshofes in den 1960er Jahren, die zu einer fundamentalen Reform führten. Bis zu diesem Jahrzehnt war die geltende Meinung des Supreme Court, das Thema der Wahlkreisgrenzziehung sei eine „politische Frage“, da die Verfassung den Einzelstaaten - wie erwähnt - explizit die Durchführung der Wahlen übertragen hatte. Nunmehr forderten die Richter aber die Umsetzung des Prinzips der Wahlgleichheit. Dieser Grundsatz fand in der damaligen Ära in einigen Regionen des Landes jedoch keine Anwendung. Stattdessen ließ sich in einer Vielzahl von Einzelstaaten ein enormes Ungleichgewicht bezüglich der Bevölkerungszahl ihrer Wahlkreise (und somit des Stimmgewichts der dortigen Wählerinnen und Wähler) vorfinden. So besaß im Jahre 1963 der bevölkerungsreichste Kongress- Wahlkreis im Einzelstaat Georgia eine Population von über 820.000 Einwohnern; der kleinste wies mit 270.000 Einwohnern hingegen weniger als ein Drittel der Bevölkerung 327 Vgl. Ballotpedia (2019): State-by-state redistricting procedures. <?page no="182"?> 182 4 Die zukünftigen Herausforderungen vor. 328 Sukzessive Entscheidungen des Supreme Court in den darauffolgenden Jahrzehnten haben nunmehr die Vorgabe einer fast vollständigen Parität bei der Zahl der Einwohner in den Kongress-Wahlkreisen des Landes durchgesetzt. 329 Aber auch die Vorgaben der Bevölkerungsparität können bei der heutigen Ziehung der Wahlkreisgrenzen nicht die Missachtung verschiedener demokratischer Grundsätze verhindern. Generell genießen Republikaner in dieser Frage heutzutage zwei elementar wichtige Vorteile: Einerseits sind ihre Wähler geographisch deutlich günstiger als ihre demokratischen Pendants verteilt und andererseits führt die niedrigere Wahlbeteiligung in Wahlen zu den Landeskammern zu einem überproportional starken republikanischen Ergebnis. Während demokratische Wähler insbesondere in urbanen Regionen konzentriert sind und dementsprechend die dortigen Städte zu liberal-progressiven Hochburgen gemacht haben, in denen Kandidaten der Partei auch ohne die selektive Ziehung der Wahlkreisgrenzen Stimmenanteile von 75 Prozent oder mehr erhalten, sind die Unterstützer ihrer republikanischen Gegner über eine größere geographische Fläche weniger angesammelt verteilt. 330 Die bereits erwähnte demographische Zusammensetzung der Anhängerschaft der Parteien wirkt sich ebenso auf den Ausgang der Wahlen aus. Säulen der demokratischen Wählerschaft (ethnische Minderheiten und junge Wählerinnen und Wähler) nehmen deutlich seltener an lokalen oder regionalen Wahlen teil als ältere, weiße Amerikaner - die wiederum das elektorale Rückgrat der Republikanischen Partei darstellen. Dies führte in der jüngeren Vergangenheit 328 Vgl. Bullock III, Charles S. (2010): Redistricting: The Most Political Activity in America, S. 35. 329 Vgl. Issacharoff, Samuel/ Pamela S. Karlan (2004): Where to Draw the Line: Judicial Review of Political Gerrymanders. In: University of Pennsylvania Law Review 153 (1), S. 541-578. 330 Vgl. Goedert, Nicholas (2014): Gerrymandering or geography? How Democrats won the popular vote but lost the Congress in 2012. In: Research and Politics. <?page no="183"?> 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts 183 zu einer republikanischen Dominanz auf der politischen Ebene, die für die Ziehung der Wahlkreisgrenzen verantwortlich ist. Vor den Zwischenwahlen 2018 kontrollierten Republikaner beide Landeskammern und das Amt des Gouverneurs in insgesamt 26 Einzelstaaten; in nur acht Einzelstaaten waren Demokraten hingegen an allen Schalthebeln der lokalen politischen Macht. 331 Republikanische Siege auf Landesebene während der Obama-Ära haben republikanischen Kartographen erheblich mehr Chancen auf eine für die eigene Partei vorteilhafte Grenzziehung gegeben. Konnten Demokraten und Republikaner in den Einzelstaaten im Jahre 2000 noch eine ähnliche Zahl an Wahlkreisen für das US-Repräsentantenhaus ohne Mitwirkung der gegnerischen Partei neuziehen (jeweils 101 und 98 der insgesamt 435 Wahlkreise), so besaßen die Republikaner dank ihrer Erfolge auf Landesebene anderthalb Jahrzehnte später einen Vorsprung von über 190 Wahlkreisen (200 auf republikanischer und 7 auf demokratischer Seite). 332 Aus dieser republikanischen Vormachtstellung resultieren Wahlkreiskarten, die für Republikaner vorteilhafte Ergebnisse liefern und manchmal den Anschein erwecken, den demokratischen Willen der Bevölkerung zu missachten. So gewannen die Republikaner in den Wahlen zum Repräsentantenhaus 2012 48 Prozent aller abgegebenen Stimmen (und lagen somit 1,2 Prozentpunkte hinter den Demokraten). Trotzdem konnte sie in der unteren Kammer des Kongresses mit 234 Sitzen ihr zweitbestes Ergebnis seit 1946 und einen Anteil der Sitze von 53,8 Prozent erreichen. Wie viele republikanische Sitze schlussendlich auf die Dominanz der Partei bei der Grenzziehung zurück zu führen sind, ist eine eher ungenaue Wissenschaft. Die Antworten reichen von einer mittleren einstelligen Zahl bis 331 Vgl. Ballotpedia (2018): State Government Trifectas. 332 Vgl. Skelley, Geoffrey/ Kyle Kondik (2017): 2018 Governors: The Battle Lines for Drawing the Lines. In: Sabato’s Crystal Ball, 23. Februar. <?page no="184"?> 184 4 Die zukünftigen Herausforderungen über 20. 333 Schlussendlich bedeutet dies jedoch, dass in den jüngsten Wahlen zum US-Repräsentantenhaus die Demokratische Partei einen Vorsprung von mindestens sechs Prozentpunkten erlangen musste, um eine Mehrheit der Sitze zu erhalten. 334 Es sei jedoch angemerkt, dass die effizientere geographische Ausbreitung der republikanischen Wähler auch zu einem unweigerlichen Ungleichgewicht zwischen Stimmenanteil und dem Anteil der Sitze im Repräsentantenhaus führt. Diesbezügliche Studien zeigen auf, dass selbst automatisch generierte Wahlkreise zu einer parlamentarischen Überrepräsentation der Republikanischen Partei im Repräsentantenhaus führen. 335 Die Folge ist eine oftmals signifikante Unterrepräsentation der Demokratischen Partei in der unteren Kammer des Kongresses. Wie Abbildung 6 aufzeigt, haben die Demokraten in den Wahlen zum Repräsentantenhaus seit 1992 fast durchweg weniger Sitze erhalten, als ihnen entsprechend ihres Stimmenanteils proportional eigentlich zustünden. Nur in drei der insgesamt vierzehn Wahlen ließ sich eine demokratische Überrepräsentation vorfinden. Auffallend ist zudem, dass seit der letzten Neuziehung der Wahlkreisgrenzen vor den Wahlen 2012, die „Repräsentationslücke“ (die Differenz zwischen Stimmen- und Sitzanteil) der Demokraten bis zu ihrem Sieg in den Zwischenwahlen 2018 ihr größtes Ausmaß erreicht hatte. 333 Eine ausführliche Analyse kam diesbezüglich beispielsweise auf einen Wert von 16-17 zusätzlichen republikanischen Sitzen. Vgl. Royden, Laura/ Michael Li (2017): Extreme Maps. In: Brennan Center for Justice, S. 1. 334 Vgl. Arrington, Theodore S. (2013): The Republicans’ Built-In House Advantage. In: Sabato’s Crystal Ball, 3. Oktober. 335 Vgl. Chen, Jowei/ Jonathan Rodden (2013): Unintentional Gerrymandering: Political Geography and Electoral Bias in Legislatures. In: Quarterly Journal of Political Science 8 (3), S. 1-31. <?page no="185"?> 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts 185 Abb. 6: Stimmenanteil und Anteil der gewonnen Sitze der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus, 1992‒2018. Quelle: Eigene Berechnungen Bezüglich der elektoralen Zukunft der Republikanischen Partei lassen sich beim Thema Redistricting für die Partei positive als auch negative Entwicklungen erkennen. In den Zwischenwahlen 2018 stimmten in Volksabstimmungen in vier Einzelstaaten die Wählerinnen und Wähler für eine Entmachtung der jeweiligen Landeskammer bezüglich der Wahlkreisgrenzziehung und die Errichtung von unabhängigen Kommissionen, die frei von parteipolitischen Abwägungen operieren. Andererseits hat sich die republikanische Strategie bei der Neubesetzung des Obersten Gerichtshofs in den letzten Jahren ausgezahlt: Im Juni 2019 entschieden die fünf konservativen Richter des Supreme Court im Fall Rucho v. Common Cause, dass die Frage der Bewertung der Verfassungsmäßigkeit von Wahlkreiskarten zumindest auf föderaler Ebene nicht justiziabel sei. Kläger hatten in der Vergangenheit immer wieder argumentiert, dass die Schaffung von Wahlkreisen mit besonderen Vorteilen für eine <?page no="186"?> 186 4 Die zukünftigen Herausforderungen Partei (bekannt als Partisan Gerrymandering) dazu führe, dass Wähler der Minderheitenpartei in ihrem Recht der freien Meinungsäußerung beschnitten werden (da ein Versuch der Einschränkung des Wahlrechts besteht), beziehungsweise hier ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Grundsatz der Gleichbehandlung aller Bürger vorliege. Mit der jüngsten Entscheidung dürfte die Hoffnung der justiziell vorgeschriebenen Reformen bei der Ziehung der Wahlkreisgrenzen zumindest auf der Bundesebene begraben worden sein. Es ist somit zu erwarten, dass Aktivisten für eine gerechtere Grenzziehung nunmehr hauptsächlich über den Weg der Volksabstimmungen versuchen können und werden, die Kompetenz der Grenzziehung den Landeskammern zu entziehen. In der oberen Kammer des Kongresses, dem Senat, spielt die Grenzziehung keine Rolle. Doch auch hier lässt sich ein republikanischer Vorteil bezüglich der Repräsentation der eigenen Wählerinnen und Wähler erkennen. Wie in vielen anderen parlamentarischen Zweikammersystemen, ist der Senat nicht nach dem Prinzip einer akkuraten Repräsentation der Wählerschaft aufgebaut. Jeder Einzelstaat besitzt zwei Sitze im Senat. Kommen auf einen Senator in Kalifornien insgesamt ungefähr 18,7 Millionen Einwohner, liegt dieser Wert im kleinsten Einzelstaat Wyoming bei 284.000 Menschen. 336 Ersterer Staat ist seit einigen Jahren fest in demokratischer, letzterer fest in republikanischer Hand. Dieses Phänomen lässt sich auch aus einer umfassenderen Perspektive erkennen. Die 25 kleinsten Einzelstaaten vereinen nur ungefähr 16 Prozent der Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten auf sich - doch kontrollieren sie die Hälfte aller Sitze im Senat. 337 Am Anfang des 116. Kongresses (2019) befanden sich 29 der 50 Sitze dieser Gruppe in 336 Stand: Mai 2017. Vgl. The Green Papers (2017): 2012-2020 Federal Representation by People per House Seat, Senate Seat, and Electors. 337 Vgl. Bump, Philip (2017): The Senate may be developing an electoral college issue. In: Washington Post, 10. April. <?page no="187"?> 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts 187 republikanischer Hand - ein Übergewicht, das den Erhalt von Mehrheiten durchaus erleichtert (insgesamt kontrollierten die Republikaner zu diesem Zeitpunkt 53 Sitze im Senat). Berechnet man, wie viele Bürger die beiden Fraktionen im Senat repräsentieren, 338 so existierte am Ende des 115. Kongresses (2017-19) ein demokratisches Übergewicht von fast 40 Millionen Einwohnern: demokratische Senatorinnen und Senatoren repräsentierten 182, Republikaner 143 Millionen Menschen. 339 Trotzdem war die Republikanische Partei zu diesem Zeitpunkt im Besitz von 51 Sitzen im Senat. Diese republikanische Dominanz hat Folgen, die weit über den Prozess der einfachen Gesetzgebung hinaus reichen. Das Electoral College setzt sich aus den Sitzen jedes Einzelstaats im Kongress zusammen. In Anbetracht des republikanischen Übergewichts in kleineren Staaten überrascht es nicht, dass innerhalb von anderthalb Jahrzehnten mit George W. Bush und Donald Trump zwei republikanische Kandidaten trotz ihres Verlustes der Popular Vote eine Mehrheit der Elektorenstimmen auf sich vereinen konnten. Der Senat wählt darüber hinaus auch die Mitglieder des Supreme Court. Vier der fünf konservativen Richter, die dieser Institution zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Buches (Sommer 2019) beiwohnen, wurden von einer Gruppe von (größtenteils republikanischen) Senatoren in ihrem Amt bestätigt, die insgesamt weniger Stimmen gewonnen hatten als die Senatoren des „Nein“-Lagers. Brett Kavanaugh, Donald Trumps zweiter Kandidat für den Supreme Court, wurde von einer Gruppe von Senatorinnen und Senatoren unter- 338 Nach dieser Berechnung würden die beiden demokratischen Senatoren aus Kalifornien die 40 Millionen Einwohner des Staates repräsentieren. Ebenso erhielten die Demokraten die Hälfte der 13 Millionen Einwohner Pennsylvanias, da dieser Staat zum Zeitpunkt der Berechnung einen Demokraten und einen Republikaner nach Washington entsandte. 339 Vgl. Brownstein, Ronald (2018): Small states are getting a much bigger say in who gets on Supreme Court. In: CNN, 10. Juli. <?page no="188"?> 188 4 Die zukünftigen Herausforderungen stützt, die ihrerseits nur 44 Prozent der amerikanischen Bevölkerung repräsentierten - ein historischer Tiefstwert bei der erfolgreichen Bestätigungswahl eines Kandidaten zum Obersten Gerichtshof. 340 4.2.2 Maßnahmen zur Einschränkung des Wahlrechts Der bereits beschriebene demographische Wandel des Landes ist kaum aufzuhalten. Ein Weg zur Einschränkung dessen elektoraler Konsequenzen lässt sich jedoch in Maßnahmen finden, deren Ziele eine Reduzierung der Wahlbeteiligung der demokratischen Kernwählerschaft verfolgen. Wie in den meisten anderen Demokratien, lässt sich in den Vereinigten Staaten eine soziale Kluft in der Wahlbeteiligung erkennen, die aufgrund des Einkommensgefälles zwischen Weißen und Minderheiten somit auch eine ethnische beziehungsweise rassebezogene Komponente vorweist. Dies hat schlussendlich zur Folge, dass demokratische Kampagnen bei ihren Get Out The Vote-Maßnahmen mit einer größere Herausforderung konfrontiert sind, als republikanische Kandidatinnen und Kandidaten, deren wohlhabendere, ältere und tendenziell eher weiße Wähler gerade in Wahlen unterhalb der Präsidentschaftsebene eine deutlich stärkere Wahlbeteiligung vorweisen als ethnische Minderheiten. Ähnlich wie in der Frage der Ziehung der Wahlkreisgrenzen, wissen Republikaner jedoch „natürliche“ Gegebenheiten wie die geographische Konzentration bestimmter Bevölkerungsteile nicht nur für sich auszunutzen, sondern deren Einfluss auf Wahlergebnisse durch eigene Maßnahmen (wie die Schließung von Wahllokalen in bestimmten hauptsächlich von Minderheiten bewohnten Stadtteilen) zu verschärfen. Einer der populärsten Schritte ist dabei die Vorgabe, bei der Wahl einen gültigen Ausweis vorzeigen zu müssen. Zwischen 2006 und 2011 wurden alle diesbezüglichen legislativen Vorstöße (gemeinhin als Voter ID Laws 340 Vgl. GovTrack.us (2018): With Kavanaugh vote, the Senate reaches a historic low in democratic metric. 7. Oktober. <?page no="189"?> 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts 189 bekannt) von republikanischen Landeskammern umgesetzt. 341 Offiziell lautet die Argumentation republikanischer Kreise, die Maßnahmen sollen einzig und allein verhindern, dass Wähler unter der Vorgabe einer falschen Identität abstimmen können. Somit ließe sich durch die Gesetze großflächigem Wahlbetrug (Voter Fraud) ein Riegel vorschieben. Selbst wenn die Autoren der Gesetze beim Wort genommen werden, lässt sich konstatieren, dass diese Schritte ein Problem adressieren, das nicht existiert. Anhand einer Analyse von einer Milliarde in den USA abgegebenen Wählerstimmen zwischen 2000 und 2012, fand der Rechtswissenschaftler Justin Levitt nur 31 Fälle, in denen Wähler unter der Vorgabe einer falschen Identität versuchten, an einer Wahl teilzunehmen. 342 Beweise wie diese hinderten Präsident Trump jedoch nicht daran, im Mai 2017 eine Commission on Election Integrity einzusetzen, die vermeintlichen Wahlbetrug während der Präsidentschaftswahl 2016 aufarbeiten sollte. Trump selbst argumentierte auf Twitter kurz nach seinem Wahlsieg, dass er auch die Popular Vote gewonnen hätte, wären „die Millionen von Menschen, die illegal abstimmten“ 343 vom Ergebnis abgezogen worden. Ohne nennenswerte Ergebnisse produziert zu haben, wurde die Kommission im Januar 2018 dann auch wieder aufgelöst. Dieser Misserfolg hielt den Präsidenten jedoch nicht davon ab, immer wieder Vorwürfe des Wahlbetrugs zu äußern. Bereits in der Bekanntmachung der Kommissionsauflösung, äußerte das Weiße Haus die Interpretation, dass „erhebliche Beweise von Wahlbetrug“ 344 von 341 Vgl. Bentele, Keith G./ Erin E. O’Brien (2013): Jim Crow 2.0? Why States Consider and Adopt Restrictive Voter Access Policies. In: Perspectives on Politics 11 (4), S. 1088-1116. 342 Vgl. Levitt, Justin (2014): A comprehensive investigation of voter impersonation finds 31 credible incidents out of one billion ballots cast. In: Washington Post, 6. August. 343 Tweet von Donald Trump, 27. November 2016. 344 White House (2018): Statement by the Press Secretary on the Presidential Advisory Commission on Election Integrity. 3. Januar. <?page no="190"?> 190 4 Die zukünftigen Herausforderungen ihr aufgedeckt worden waren, eine weitere Verfolgung aber schlussendlich daran scheiterte, dass viele Einzelstaaten eine Übergabe von detaillierten Wählerregistern an die Kommission verweigerten. Ein Jahr später gab der Präsident über Twitter im Januar 2019 bekannt, dass seiner Ansicht nach überall im Land (und insbesondere im demokratischen Einzelstaat Kalifornien) Wahlbetrug „rampant“ (weit verbreitet) sei und nur „strong voter ID“ 345 die Lösung darstelle. Die von den Republikanern beständig geäußerte Unterstellung des (demokratischen) Wahlbetrugs ist nicht spurlos an der republikanischen Wählerschaft vorbei gegangen: Während 84 Prozent aller Demokraten die Ansicht vertreten, es solle alles Mögliche getan werden, um die Teilnahme an Wahlen zu erleichtern, betrachten nur 48 Prozent aller Republikaner diesen Ausbau fundamentaler demokratischer Rechte als richtig. 346 Hinter vorgehaltener Hand wird die wahre Intention der angeblichen Maßnahmen gegen Wahlbetrug jedoch zugegeben. Ziel ist es, Minderheiten von der Wahl abzuhalten, indem zusätzliche Hürden zur Ausführung des Wahlrechts aufgestellt werden. 347 Die Forderung eines gültigen Lichtbildausweises zur Teilnahme an Wahlen betrifft gerade die demokratische schwarze Wählerschaft übermäßig. Daten aus dem Jahr 2006 zeigten, dass 25 Prozent aller Afro-Amerikaner keinen gültigen Lichtbildausweis besaßen - im Vergleich zu einem Wert von 11 Prozent unter allen Amerikanern und 8 Prozent unter Weißen. 348 In der Frage des 345 Tweet von Donald Trump, 27. Januar 2019. 346 Vgl. Laloggia, John (2018): Conservative Republicans are least supportive of making it easy for everyone to vote. In: Pew Research Center Fact Tank, 31. Oktober. 347 Vgl. Wan, William (2016): Inside the Republican creation of the North Carolina voting bill dubbed ‚monster‘ law. In: Washington Post, 2. September. 348 Vgl. Brennan Center for Justice (2006): Citizens Without Proof: A Survey of Americans’ Possession of Documentary Proof of Citizenship and Photo Identification, S. 3. <?page no="191"?> 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts 191 Ausbaus der Einschränkungen des Wahlrechts trifft den Supreme Court auch eine durchaus beträchtliche Schuld. Seine Entscheidung im Fall Shelby County v. Holder aus dem Jahre 2013 weichte die Vorgaben des erstmals 1965 verabschiedeten Votings Rights Act (VRA) auf. Dieser verfolgt das Ziel, Maßnahmen mit dem Ziel der Einschränkung des Wahlrechts von Minderheiten zu verhindern. Um Regionen mit einer Tradition der Diskriminierung eine Fortsetzung ihrer elektoralen Zweiklassengesellschaft besonders zu erschweren, sahen Abschnitte 4(b) und 5 des VRA vor, dass ausgewählte Einzelstaaten und Landkreise Änderungen ihrer Wahlpraktiken (beispielsweise auch die Ziehung der Wahlkreisgrenzen) vom amerikanischen Justizministerium absegnen lassen mussten. Entsprechend Abschnitt 4(b) waren dies sieben Einzelstaaten des Südens, einige Landkreise in North Carolina, sowie einige wenige andere Regionen des Landes. 349 Da diese Vorgabe auf den Bewertungen der 1960er und 70er Jahren lagen, vertrat der Supreme Court 2013 die Ansicht, die in Abschnitt 4(b) getroffene Auswahl an Regionen sei nunmehr überholt und dementsprechend verfassungswidrig. Die Freiheit, ohne die Erlaubnis des US- Justizministers Wahlgesetze zu ändern, nutzten die betroffenen Staaten zumeist direkt aus. Innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Bekanntgabe des Urteils hatten bereits fünf der sieben vom VRA abgedeckten und von Republikanern geführten Einzelstaaten Restriktionen bekanntgegeben, beziehungsweise umgesetzt. 350 Die Folgen des Urteils sind weitreichende Hindernisse auf dem Weg zur Teilnahme an Wahlen, die nur in manchen Fällen dank Interventionen der Judikative verhindert werden können. Die republikanische Mehrheit auf Landesebene in North Carolina nutzte die neuen Freiheiten, um eine der 349 Vgl. United States Department of Justice (2015): Jurisdictions previously covered by Section 5 at the time of the Shelby County decision. 350 Vgl. Childress, Sarah (2013): With Voting Rights Act Out, States Push Voter ID Laws. In PBS, 26. Juni. <?page no="192"?> 192 4 Die zukünftigen Herausforderungen striktesten Vorgaben bezüglich der Vorlage eines Lichtbildausweises anzuordnen, „Early Voting“ (also die vorzeitige Stimmzettelabgabe) zu reduzieren und die Registrierung für die Teilnahme an Wahlen am Wahltag selbst zu verbieten. 351 2016 erklärte ein Berufungsgericht die neuen Wahlpraktiken als gesetzeswidrig, nicht zuletzt da herausgekommen war, dass die federführenden republikanischen Akteure sich von Unterlagen und Statistiken leiten ließen, die veranschaulichten, inwieweit insbesondere die Wahlbeteiligung afro-amerikanischer Wähler von bestimmten Maßnahmen betroffen werden würde. 352 Danach führten erneute Schritte und Vorgaben seitens der republikanischen Landeskammer dazu, dass zwischen 2014 und 2018 ungefähr ein Fünftel aller Wahllokale in North Carolina schließen musste. 353 Besonders hohe Hürden zur Teilnahme an Wahlen wurden durch republikanische Politiker in Ohio aufgestellt. Im dortigen Einzelstaat kann die Nichtteilnahme an Wahlen zum Verlust des Wahlrechts führen. Die Schritte auf dem Weg zur Einschränkung der eigenen demokratischen Rechte sehen wie folgt aus: Personen, die zwei Jahre nicht an einer Wahl teilnehmen, erhalten daraufhin einen Brief der Wahlbehörde. Antworten sie auf diesen nicht und nehmen in den darauffolgenden vier Jahren ebenso nicht an einer Wahl teil, werden sie von den Wählerverzeichnissen gelöscht ‒ eine Vorgehensweise, die der Supreme Court im Juni 2018 als verfassungsmäßig deklarierte. 354 Von Seiten 351 Vgl. Brennan Center for Justice (2018): The Effects of Shelby County v. Holder, 6. August. 352 Vgl. Wines, Michael/ Alan Blinder (2016): Federal Appeals Court Strikes Down North Carolina Voter ID Requirement. In: New York Times, 29. Juli. 353 Vgl. Peterson, Blake (2018): Bipartisan Furor as North Carolina Election Law Shrinks Early Voting Locations by Almost 20 Percent. In: ProPublica, 24. September. 354 Vgl. Lopez, German (2018): Supreme Court’s conservative justices uphold Ohio’s voter purge system. In: Vox, 11. Juni. <?page no="193"?> 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts 193 der federführenden Akteure hinter dem Gesetz wurde auch in diesem Falle argumentiert, dass einzig und allein das Ziel der Verhinderung des Wahlbetrugs verfolgt wurde. Schließlich, so die Begründung, könnten ohne eine gewisse Kontrolle des Wählerverzeichnisses, Bürger, die schon vor Jahren Ohio verlassen haben, trotzdem an Wahlen im dortigen Staat teilnehmen. Doch auch hier muss konstatiert werden, dass weitere Hindernisse auf dem Weg zum Wahllokal ein vermeintliches Problem angehen, das evident nicht existiert. Vielmehr wird insbesondere demokratischen Wählergruppen wie Minderheiten und jüngeren Wählern, die tendenziell seltener an Wahlen teilnehmen, der Gebrauch ihres Wahlrechts erschwert. Ohio ist hier nur ein Beispiel. 2005 eingeführt, soll der Interstate Voter Registration Crosscheck sicherstellen, dass Personen nicht in mehreren Einzelstaaten registriert sind und mehrfach an Wahlen teilnehmen. Um dies zu gewährleisten, teilen Einzelstaaten 355 ihre Wählerverzeichnisse mit dem Amt des Secretary of State von Kansas. Fällt auf, dass Wähler mit gleichem Namen und Geburtsdatum in mehreren Staaten registriert sind, können die entsprechenden Personen aufgefordert werden, ihre rechtmäßige Registrierung im Wählerverzeichnis zu verifizieren. Problematisch ist diesbezüglich, dass das Crosscheck-System laut einer Analyse in über 99 Prozent aller Fälle „False Positives“ vorlegt und somit die Basis schafft, legitimen Wählern ihre Registrierung zu entziehen. 356 Dies ist nicht zuletzt der Fall, da Crosscheck beispielsweise zweite Vornamen oft gar nicht beachtet. 357 Ebenso werden ethnische Minderheiten überproportional von der simplen Aufarbeitung der Daten er- 355 2017 nahmen 28 Einzelstaaten an dem Programm teil. Die überwältigende Mehrheit wird von der Republikanischen Partei auf Landesebene dominiert. 356 Vgl. Goel, Sharad u.a. (2017): One Person, One Vote: Estimating the Prevalence of Double Voting in U.S. Presidential Elections. 357 Vgl. Palast, Greg (2016): The GOP’s Stealth War Against Voters. In: Rolling Stone, 24. August. <?page no="194"?> 194 4 Die zukünftigen Herausforderungen fasst, da diese Gruppe eher als Weiße einen häufig vorkommenden Nachnamen teilt (man denke hier insbesondere an Hispanics mit den weit verbreiteten Nachnamen wie Garcia, Rodriguez oder Martinez). 358 2010 konnte beispielsweise ein Viertel der 50 weit verbreitetsten Nachnamen in den USA Hispanics zugeschrieben werden, obwohl diese ungefähr 16 Prozent der allgemeinen Bevölkerung stellten. 359 Somit erhält gerade dieses tendenziell eher demokratische Segment unverhältnismäßig oft die Aufforderung, seinen Wohnort zu bestätigen. Entscheidet sich das Volk in Referenden gegen diese Schritte vorzugehen, geben republikanische Gesetzgeber jedoch trotzdem nicht auf. Im November 2018 votierten fast zwei Drittel aller Floridianer dafür, freigelassenen Straftätern (außer Mördern und Sexualstraftätern) ihr bis dahin entzogenes Wahlrecht zurückzugeben. Die Gesetzesänderung betraf anderthalb Millionen potenzieller Wähler, von denen ungefähr 420.000 Afro-Amerikaner waren. 360 Die von den Republikanern kontrollierte Landeskammer verabschiedete daraufhin jedoch ein Gesetz, entsprechend dessen nur Straftäter ihr Wahlrecht zurückerhalten sollen, wenn sie die in Verbindung mit ihrer Rechtssache angefallenen finanziellen Obligationen und Schulden an die Gerichte vollständig zurückgezahlt haben. Vom republikanischen Gouverneur Ron DeSantis im Juni 2019 unterschrieben, dürfte diese eher fragwürdige Umsetzung des Volksentscheids somit weiterhin vielen, überproportional nicht-weißen und damit tendenziell demokratischen Wählern im Battleground State Florida das Wahlrecht vorenthalten, wenn in dieser Frage nicht die Judikative interveniert. Zusammenfassend lässt 358 Vgl. Brater, Jonathan u.a. (2018): Purges: A Growing Threat to the Right to Vote. In: Brennan Center for Justice, 20. Juli, S. 7. 359 Vgl. Comenetz, Joshua (2016): Frequently Occurring Surnames in the 2010 Census. In: United States Census Bureau, S. 4. 360 Vgl. Uggen, Christopher u.a. (2016): 6 Million Lost Voters: State- Level Estimates of Felony Disenfranchisement, 2016. In: The Sentencing Project, S. 15-16. <?page no="195"?> 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts 195 sich festhalten, dass 35 der 50 amerikanischen Einzelstaaten im Frühjahr 2019 Vorgaben zur Identifizierung von Wählern implementiert hatten. Restriktionen und jüngere Maßnahmen lassen sich allesamt in Staaten finden, in denen Republikaner weitestgehend die politische Macht auf Landesebene ausüben. 361 Inwiefern diese Gesetze Konsequenzen für den Ausgang von Wahlen auf nationaler Ebene vorweisen, ist weiterhin wissenschaftlich umstritten. Manche Studien erkennen einen negativen Einfluss auf die Wahlbeteiligung von Minderheiten, 362 während andere Wissenschaftler diese Auswirkungen nicht vorfinden. 363 Dass die Schließung von Wahllokalen, Hindernisse bei der Registrierung sowie die Vorgabe des Besitzes eines Ausweises die Teilnahme an Wahlen erschweren, ist jedoch evident. Zusammengetragene Zahlen des Brennan Center for Justice der New York University Law School zeigen auf, dass nach der Shelby County v. Holder-Entscheidung allein zwischen 2014 und 2016 ungefähr 16 Millionen Wähler aus den Wählerverzeichnissen entfernt wurden - in einem besonders großen Ausmaß in Einzelstaaten, die vormals von den Vorgaben der Preclearance des Voting Rights Act betroffen waren und, wie erwähnt, die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs scheinbar als Startschuss interpretierten, nunmehr ihre eigenen Restriktionen endlich nach Belieben durchsetzen zu können. 364 Werden die Präsidentschaftswahlen 2012 und 2016 näher analysiert, lassen sich gewisse Veränderungen in der Zusammensetzung der Wählerschaft erkennen. Zwar 361 Vgl. Ballotpedia (2019): Voter Identification Laws by State. Stand: 1. April 2019. 362 Vgl. Hajnal, Zoltan u.a. (2017): Voter Identification Laws and the Suppression of Minority Votes. In: The Journal of Politics 79 (2), S. 363-379. 363 Vgl. Pryor, Ben, u.a. (2019): Voter ID Laws: The Disenfranchisement of Minority Voters? In: Political Science Quarterly 134 (1), 63-83. 364 Vgl. Brater u.a. (2018), S. 1. <?page no="196"?> 196 4 Die zukünftigen Herausforderungen schaffte es Präsident Obama, die Wahlbeteiligung unter schwarzen Amerikanern in einem Ausmaß zu steigern, dass diese zum ersten Mal in der Geschichte ihrer Aufzeichnung höher als die Wahlbeteiligung weißer Amerikaner war, so sank diese 2016 wieder unter 60 Prozent (siehe Tabelle 14). Besonders problematisch für demokratische Strategen ist darüber hinaus die konstant niedrige Wahlbeteiligung unter Hispanics, die 1992 das letzte Mal über 50 Prozent lag. 1996 2000 2004 2008 2012 2016 Weiß 60,7 61,8 67,2 66,1 64,1 65,3 Schwarz 53,0 56,9 60,3 65,2 66,6 59,6 Hispanic 44,0 45,1 47,2 49,9 48,0 47,6 Tab. 14: Wahlbeteiligung in Präsidentschaftswahlen nach Ethnie/ Race , 1996-2016 (in Prozent). Quelle: File, Thom (2017): Voting in America: A Look at the 2016 Presidential Election. In: United States Census Bureau, 10. Mai. Das Absinken der Wahlbeteiligung der ethnischen Minderheiten mag ausschlaggebend für die Präsidentschaftswahl 2016 gewesen sein, die schlussendlich durch weniger als 80.000 Stimmen in den drei Einzelstaaten Michigan, Pennsylvania, und Wisconsin entschieden wurde, die Donald Trump mit einem respektiven Vorsprung von 0,2, 0,7 und 0,8 Prozentpunkten gewann. Zwar war Trump in der Lage, als erster Republikaner seit den 1980er Jahren in den entsprechenden Staaten Erfolge zu feiern, doch waren diese Gewinne nicht einem sprunghaften Anstieg der republikanischen Stimmen geschuldet. Vier Jahre zuvor war Mitt Romney beispielsweise in der Lage, in Wisconsin 2.700 Stimmen mehr als Donald Trump auf sich zu vereinen - verlor jedoch den Einzelstaat mit einem Rückstand von sieben Prozentpunkten an Barack Obama. In Michigan gewann George W. Bush 2004 34.000 Stimmen mehr als Donald Trump. Aber auch er verlor hier gegen seinen de- <?page no="197"?> 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts 197 mokratischen Widersacher John Kerry mit einem Rückstand von dreieinhalb Prozentpunkten. Dass Hillary Clinton 2016 beispielsweise den Einzelstaat Michigan mit 10.000 Stimmen verlor, lag somit gerade am fehlenden Enthusiasmus innerhalb der dortigen schwarzen Wählerschaft. Ihre Wahlbeteiligung sank in Michigan um über 12 Prozentpunkte. 365 Dies hing sicherlich auch mit der Kandidatin selbst zusammen. Es überrascht nicht, dass der erste afro-amerikanische Präsident Mitglieder der schwarzen Gemeinschaft in einem größeren Ausmaß zur Wahlurne bringen konnte als Hillary Clinton. Bezüglich der Rolle republikanischer Beschneidungen der Ausübung des Wahlrechts muss im konkreten Fall des Einzelstaates Michigan jedoch angemerkt werden, dass hier zum Zeitpunkt der Wahl 2016 keine Schritte unternommen worden waren. Andere wichtige Swing States, die in dieser Wahl knapp auf Seiten der Republikaner landeten (wie beispielsweise Pennsylvania), hatten ebenso keine grundlegenden Einschnitte bei der Ausübung des Wahlrechts umgesetzt. 366 Republikanische Maßnahmen können jedoch auch über die einfache Schließung von Wahllokalen oder Vorgaben bezüglich der Ausweisung hinausgehen. Einen weiteren Versuch der Sicherung des elektoralen Gewichts republikanischer Wähler, stellte der - vom Supreme Court im Juni 2019 blockierte - Vorstoß der Trump-Regierung dar, in den amerikanischen Zensus des Jahres 2020 eine Frage nach der Staatsbürgerschaft einzubauen. Oberflächlich mag dieser Schritt nicht sonderlich kontrovers erscheinen, doch hätte solch eine Modifizierung für amerikanische Einzelstaaten mit einem großen Anteil an ausländischen Einwohnern potenziell erhebliche negative Konsequenzen besessen, denn die relevante Zahl des Zensus ist die berechnete Ge- 365 Vgl. Fraga, Bernard L. u.a. (2017): Why did Trump win? More whites - and fewer blacks - actually voted. In: Washington Post, 8. Mai. 366 Vgl. Brennan Center for Justice (2019): New Voting Restrictions in America. Stand: 7. Januar. <?page no="198"?> 198 4 Die zukünftigen Herausforderungen samtbevölkerung des Vereinigten Staaten, beziehungsweise der Einzelstaaten („counting the whole number of persons in each State“ 367 ). Diese umfasst somit US-Bürger, aber auch reguläre wie irreguläre Migranten. Insbesondere letztere hätten durch die Staatsbürgerschaftsfrage davon abgehalten werden können, an der Volksbefragung teilzunehmen, da ihrerseits möglicherweise befürchtet worden wäre, dass ihre Daten eventuell zu einer Abschiebung führen könnten - auch wenn das Census Bureau keine Informationen mit Immigrationsbehörden teilen darf. Die voraussichtliche Folge wäre dementsprechend gerade bezüglich der Hispanic-Bevölkerung eine beträchtliche Reduzierung der erfassten Population gewesen: Laut einer Prognose wären im Falle der Aufnahme der Staatsbürgerschaftsfrage über sechs Millionen Hispanics (über zwölf Prozent dieser Bevölkerungsgruppe im Zensus 2010) nicht erfasst worden. 368 Es wären nicht nur Finanzmittel des amerikanischen Bundes gewesen, die Einzelstaaten mit einer beträchtlichen ausländischen Population durch eine ungenaue Zählung der Bevölkerung verloren gegangen wären. Der Zensus und seine Daten zur Gesamtbevölkerung stellen die Basis für die zehnjährliche Neuverteilung der 435 Sitze im amerikanischen Repräsentantenhaus dar - und damit auch der Verteilung der 538 Elektorenstimmen des Electoral College. Nähmen Ausländer in geringeren Zahlen am Zensus teil, käme dies insbesondere Regionen zugute, die eine eher geringe Zahl an Migranten vorweisen (und tendenziell republikanischer sind). Die Trump-Regierung nannte für ihren Vorstoß der Modifizierung des Zensusbogens jedoch verständlicherweise offiziell andere Gründe. 2017 argumentierte das Justizministerium unter dem damaligen Attorney General Jeff Sessions, dass die Fragestellung bei der Umsetzung von Abschnitt 2 des Voting Rights Act helfen solle, entsprechend 367 14. Zusatzartikel der US-Verfassung, Abschnitt 2. 368 Vgl. Baum, Matthew A. u.a. (2019): Estimating the Effect of Asking About Citizenship on the U.S. Census. In: The Shorenstein Center on Media, Politics and Public Policy, S. 2. <?page no="199"?> 4.2 Republikanische Maßnahmen des Machterhalts 199 dessen der Versuch der Beschneidung des Wahlrechts unter anderem auf der Basis von Ethnie und Rasse illegal ist. Die Kombinierung der durch den Zensus generierten Daten bezüglich der lokalen ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung sowie des durch die Änderung erhaltenen genauen Anteils der entsprechenden volljährigen Bevölkerung mit amerikanischem Pass (mit anderen Worten wahlberechtigen Personen) wurden bezüglich der Sicherung des Wahlrechts von Minderheiten vom Justizministerium als hilfreich tituliert. 369 Die wahren republikanischen Intentionen waren jedoch anderer Natur. Dokumente, die auf der Festplatte des im Sommer 2018 verstorbenen republikanischen Strategen Thomas Hofeller gefunden wurden, offenbarten, dass insbesondere in Fragen des Redistricting eine Modifizierung des US-Zensus für republikanische Mehrheitschancen als gewinnbringend gesehen wurde. Hofeller, von der New York Times aufgrund seiner jahrzehntelangen Arbeit bei der Umsetzung vorteilhafter republikanischer Wahlkreisgrenzen als „Michelangelo of gerrymandering“ 370 beschrieben, hatte bereits 2015 eine Analyse zum Zensus und der Staatsbürgerschaftsfrage verfasst. Diese zeigte auf, dass das Erfragen der Nationalität innerhalb des Zensus und die damit verbundene potenzielle Ziehung der Wahlkreisgrenzen auf der Basis der Zahl amerikanischer Staatsbürger statt der Gesamtbevölkerung (der heute generell genutzte Standard), die Grenzziehung zugunsten weißer Wähler und somit auch der Republikanischen Partei erleichtern würde. Hofeller kam jedoch auch zu dem Fazit, dass diese Änderung nur mit genauen Statistiken zur Zahl der wahlberechtigten amerikanischen Staatsbürger (der „Citizen Voting Age Population“, CVAP) möglich sei. Denn ohne die Erhebung dieser 369 Vgl. Ciurczak, Peter/ Ted McEnroe (2018): Citizenship and the census, in context. In: The Boston Foundation, März. 370 Wines, Michael (2019): Deceased G.O.P. Strategist’s Hard Drives Reveal new Details on the Census Citizenship Question. In: New York Times, 30. Mai. <?page no="200"?> 200 4 Die zukünftigen Herausforderungen Zahlen fürchtete Hofeller, dass der Supreme Court eine Ziehung der Wahlkreisgrenzen auf der Basis der Zahl amerikanischer Staatsbürger möglicherweise aufgrund des unzureichenden Datenmaterials als rechtswidrig deklarieren könnte. 371 Die Nutzung der CVAP anstatt der Gesamtbevölkerung als Basis der Populationsberechnung der Wahlkreise hätte entsprechend Hofellers Kalkül insbesondere in demokratischen Wahlkreisen eine Verringerung der Bevölkerungszahl mit sich gebracht. Demokratische Wahlkreise hätten somit teilweise miteinander vereint werden können. 372 Ländliche republikanische Wahlkreise mit einem erheblich geringeren Anteil ausländischer Einwohner hätten andererseits ihr elektorales Gewicht erhöht. Nach dem Einzug Donald Trumps in das Weiße Haus setzte sich Hofeller für die Änderung des Zensus ein und arbeitete als Autor an einem Brief des amerikanischen Justizministeriums an das Handelsministerium (dem das United States Census Bureau untersteht), in dem die Gründe für Aufnahme der Staatsbürgerschaftsfrage in den Zensus dargelegt wurden - wie bereits beschrieben, unter dem Argument, dies würde die Rechte von Latino-Wählern sichern. 373 Im Juni 2019 entschied der Supreme Court in einer 5-4-Entscheidung jedoch, dass eine Inklusion der Staatsbürgerschaftsfrage zwar für sich genommen nicht verfassungswidrig sei, die offizielle Begründung der Regierung für deren Einfügung aber im Kontrast zur Faktenlage bezüglich der echten Intentionen stand. Auch der von George W. Bush ernannte Chief Justice John Roberts musste erkennen, dass seitens der Trump-Regierung scheinbar zuerst die Entscheidung getroffen wurde, die Staatsbürgerschaftsfrage 371 Vgl. Jamieson, Amber (2019): A Republican consultant died. His progressive daughter then found documents that might affect the census citizenship question. In: BuzzFeed News, 30. Mai. 372 Vgl. Hofeller, Thomas (2015): The use of citizen voting age population in redistricting. Dokument wurde von der American Civil Liberties Union am 30. Mai im Supreme Court eingereicht. 373 Vgl. Wines (2019). <?page no="201"?> 4.3 Die Republikanische Partei heute 201 auf den Fragebogen des Zensus zu bringen und erst danach nach einem juristisch glaubhaften Grund gesucht wurde. Auch wenn dieser republikanische Vorstoß scheiterte, zeigt er auf, mit welchen höchst fragwürdigen Mitteln Republikaner versuchen, ihre elektorale Pfründe zu sichern. 4.3 Die Republikanische Partei heute ‒ die Partei des „Trumpismus“ Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Werkes neigt sich die erste Amtszeit Donald Trumps dem Ende zu. Die erwarteten Turbulenzen haben sich in einigen Fragen bestätigt, insbesondere in Bezug auf den unkonventionellen Regierungsstil des 45. Präsidenten und der fortwährenden Infragestellung demokratischer Konventionen und Normen. Stellte sich zu Anfang der Trump-Präsidentschaft jedoch gerade in den Medien die Frage nicht ob, sondern in welchem Ausmaße Donald Trump samt seiner Wählerschaft die Republikanische Partei verändern würden, so bietet sich nach den ersten zweieinhalb Jahren die Bilanz einer Regierung, die in vielerlei Hinsicht eine „konventionelle“ republikanische Programmatik umgesetzt hat. Die einzige große legislative Errungenschaft ließ sich in einer Steuerreform finden, die vornehmlich Unternehmen und den oberen Gehaltsschichten zugutekam. Den von Ronald Reagan artikulierten republikanischen Grundsatz, Government sei nicht „die Lösung“ sondern „das Problem“ verfolgte Trump im Amt vom ersten Tag an. Noch im Januar 2017 unterschrieb der Präsident ein Exekutivdekret, das vorsah, für jede von einer Regierungsbehörde verabschiedete neue Regulierung zwei existierende zu entfernen. Diese Ziele konnte der Staatsapparat unter Trump auch erreichen. In den ersten 18 Monaten des republikanischen Präsidenten brach die regulative Aktivität um ungefähr 70 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum unter seinem Vorgänger <?page no="202"?> 202 4 Die zukünftigen Herausforderungen ein. 374 Bei der Frage des Klimawandels agierte Trump eindeutig als Vorsitzender einer Partei der „Skeptiker“. Neben dem Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen stellte Trump mit Scott Pruitt zunächst einen Akteur an die Spitze der Environmental Protection Agency (EPA), der diese Umweltbehörde vormals 14 Mal wegen vermeintlich zu strengen Auflagen verklagt hatte - 13 Mal mit Unternehmen aus dem Industrie- und Energiesektor. 375 Im Amt setzte Pruitt eine „Back to Basics“-Agenda um, entsprechend derer die zentrale Aufgabe der EPA sei, „ökonomisches Wachstum zu fördern“. 376 Umweltschutz wurde dementsprechend auch klein geschrieben, Vorgaben aufgeweicht oder gar ganz abgeschafft. Im Juni 2019 wurde mit der Affordable Clean Energy Rule dann auch die zentrale umweltpolitische Richtlinie der Obama-Ära (der Clean Power Plan, CPP) ersetzt. Die neuen Richtlinien geben den Einzelstaaten deutlich mehr Spielraum bei der Frage, auf welche Art und wie weit CO2-Emissionen von ihnen reduziert werden während Obamas CPP erheblich extensivere föderale Vorgaben vorsah. 377 Bei der Besetzung richterlicher Vakanzen konnte Trump auch die Erwartungen des konservativen Mainstreams erfüllen. Die Auswahl der potenziellen Richter des Supreme Court und anderer Positionen der Bundesjudikative überließ Donald Trump konservativen Akteuren und Think Tanks, die den Präsidenten mit Kandidaten versorgten, die eine Verlagerung des ideologischen Mittelpunkts der Gerichte 374 Vgl. Dooling, Bridget C.E. (2018): Trump Administration Picks up the Regulatory Pace in its Second Year. In: The George Washington Regulatory Studies Center, 1. August. 375 Vgl. New York Times (2017): Pruitt v. EPA: 14 Challenges of EPA Rules by the Oklahoma Attorney General. 14. Januar. 376 Zitiert in: United States Environmental Protection Agency (2017): EPA Launches Back-To-Basics Agenda at Pennsylvania Coal Mine. 13. April. 377 Vgl. Friedman, Lisa (2019): E.P.A. Finalizes its Plan to Replace Obama-Era Climate Rules. In: New York Times, 19. Juni. <?page no="203"?> 4.3 Die Republikanische Partei heute 203 nach rechts garantieren würden. Insgesamt wird Donald Trumps Vermächtnis dank der Besetzung von Richterstellen seine Zeit im Weißen Haus weit überdauern. Nicht zuletzt dank der rigiden Oppositionspolitik des republikanischen Senats in den letzten beiden Amtsjahren Präsident Obamas, traf Donald Trump am ersten Tag im Oval Office auf 108 zu füllende Positionen in der föderalen Judikative des Landes 378 - genau doppelt so viele wie Präsident Obama zu seinem Amtsantritt besetzen konnte. 379 In Zusammenarbeit mit Mitch McConnell und der republikanischen Senatsmehrheit konnte Donald Trump in den ersten zweieinhalb Jahren im Amt in den direkt unter dem Supreme Court stehenden Berufungsgerichten (United States Courts of Appeals) insgesamt 43 neue Richter installieren - fast genauso viele wie die beiden demokratischen Präsidenten Barack Obama und Bill Clinton ihrerseits zusammen in derselben Zeitspanne ernannten (44). 380 Somit besetzten von Donald Trump ernannte Richterinnen und Richter bereits im Sommer 2019 fast ein Viertel der 179 Stellen auf Lebenszeit der Berufungsgerichte. Insgesamt konnte Präsident Trump in den ersten 30 Monaten im Amt 146 offene Posten in Bundesgerichten besetzen (51 mehr als Barack Obama in derselben Phase seiner Präsidentschaft). Die Opposition gegen Trumps Kandidaten erwies sich jedoch als deutlich stärker als unter vorherigen Präsidenten: Unter den 95 von Präsident Obama bis Anfang 378 Stellen auf Lebenszeit. Diese Zahl bezieht sich auf die sogenannten „Article III“-Richerstellen. Diese bestehen aus dem Supreme Court (insgesamt 9 Richter), den United States Court of Appeals (179), United States District Court (677) sowie den United States Court of International Trade (9). Für diese Positionen schlägt der Präsident Kandidaten vor, die danach vom Senat bestätigt werden. 379 Vgl. Ballotpedia (2019): Judicial vacancies during Trump’s first term. Stand: 31. Mai. 380 Vgl. The Heritage Foundation (2019): Judicial Appointment Tracker. Stand: 2. August 2019. <?page no="204"?> 204 4 Die zukünftigen Herausforderungen August seines dritten Amtsjahres ernannten Richtern, ließen sich nur zwei Kandidaten vorfinden, in der mehr als 25 Prozent des Senats gegen deren Ernennung stimmte. Im Falle von Donald Trumps auserkorenen Kandidaten lag dieser Wert jedoch bei knapp 50 Prozent (71 von 146). 381 Diese Entwicklung ist zugegebenermaßen zumindest partiell dadurch zu erklären, dass seit November 2013 die Ernennung von Bundesrichtern 382 nicht mehr durch einen Filibuster verhindert, beziehungsweise verzögert werden kann. Somit besteht nicht mehr die Notwendigkeit des Vorschlags von Kandidaten, die dank einer Unterstützung von mindestens 60 Senatoren zumindest eine gewisse parteiübergreifende Zustimmung genießen. 383 Doch lassen auch diese Daten erkennen, dass Donald Trump bei der Frage der Richterernennung keinerlei Interesse an Kompromissen hat, sondern vielmehr die Pläne des konservativen Flügels der Partei in vollem Umfang unterstützt. Überraschender mag das programmatische Profil Donald Trumps in gesellschaftspolitischen Fragen gewesen sein. Als dreimal verheirateter Mann mehrerer Affären, der im Gegensatz zum Born-Again Christen George W. Bush nicht geläutert war, sollte sich die Unterstützung der evangelikalkonservativen Wählerschaft für Donald Trump in den Vorwahlen, wie bereits erwähnt, als vergleichsweise schwach herausstellen. Dazu kam Trumps Selbstdarstellung als in diesem Themenbereich eher moderate Person. Bezo- 381 Vgl. The Heritage Foundation (2019), Stand: 2. August 2019. 382 Diese Regelung galt zuerst nicht für Kandidaten des Supreme Court. Die Ausweitung auf potenzielle Richter des Obersten Gerichtshofs wurde im April 2017 von Mitch McConnell umgesetzt. 383 Bis zu diesem Zeitpunkt bestand die Regel, dass Debatten bezüglich der Ernennung von Kandidaten zu Bundesgerichten nur mit einer Dreifünftel-Mehrheit im Senat beendet werden konnte. In der Realität bedeutete dies, dass ein Kandidat die Unterstützung von 60 Senatoren zur erfolgreichen Ernennung brauchte, da andernfalls ein Filibuster die endgültige Abstimmung verhindern konnte. <?page no="205"?> 4.3 Die Republikanische Partei heute 205 gen auf sexuelle Minderheiten beschrieb sich Trump als Kandidat im Sommer 2016 als ein „echter Freund“ 384 der LGBTQ-Gemeinschaft, für deren Interessen er vorgab sich als Präsident einsetzen zu werden. Zudem hatte Trump in einer republikanischen Debatte wenige Monate zuvor gar die Non-Profit-Organisation Planned Parenthood verteidigt. Diese bietet unter anderem Beratungen zu Schwangerschaftsabbrüchen an und führt diese ebenso durch. Jedoch stellt Planned Parenthood auch eine Vielzahl anderer medizinischer Dienste bereit, gerade für finanzschwache Personen. Zwar stellte Trump klar, dass er wie seine republikanischen Kontrahenten staatliche Hilfen für die Organisation ebenso einstellen würde, doch repräsentierte die Charakterisierung von Planned Parenthood als Akteur, der laut Trump „Millionen von Frauen“ 385 helfe, einen merkbaren Kontrast zu seinen innerparteilichen Gegnern und der geltenden republikanischen Sichtweise. Entsprechend dieser ist Planned Parenthood gerade aufgrund der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen ein rotes Tuch. Im Amt sollte Trump sich jedoch als enger Verbündeter des sozio-kulturell konservativen Parteiflügels beweisen. Ausländischen Nichtregierungsorganisationen, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten oder gar nur Informationen diesbezüglich bereitstellen, wurde der Zugriff zu finanziellen Hilfsmitteln des amerikanischen Staats kurz nach Trumps Vereidigung vollständig verwehrt. Auch vorherige republikanische Präsidenten haben Restriktionen dieser Art seit den 1980er Jahren umgesetzt (bekannt als „Global Gag Rule“ oder „Mexico City Policy“), jedoch meist in einem deutlich geringeren Ausmaß. Handelte es sich bei George W. Bush um den Verlust des Zugriffs auf Gelder in einer Höhe von ungefähr 600 Millionen US-Dollar, so lag dieser Wert dank Trumps extensiveren Einschränkungen bei fast 384 Zitiert in: Diamond, Jeremy (2016): Donald Trump to LGBT community: I’m a ‚real friend‘. In: CNN, 13. Juni. 385 Zitiert in: Krieg, Gregory (2016): Donald Trump defends Planned Parenthood at GOP debate. In: CNN, 26. Februar. <?page no="206"?> 206 4 Die zukünftigen Herausforderungen 9 Milliarden US-Dollar. 386 Auf nationaler Ebene setzte die Trump-Regierung des Weiteren Vorstöße um, die es auch Einzelstaaten erleichtern sollen, den Anbietern von Schwangerschaftsabbrüchen finanzielle Mittel zu entziehen. Ebenso wurden auch Maßnahmen zum Schutz sexueller Minderheiten vor Diskriminierung, die unter der Obama- Regierung ausgebaut wurden, oftmals wieder rückgängig gemacht. Internationale Aufmerksamkeit in diesem politischen Bereich erhielten hierbei Maßnahmen zum Verbot des Militärdienstes Transsexueller sowie das von der Regierung ausgesprochene Verbot des Hissens der Regenbogenflagge an amerikanischen Botschaften während des Gay Pride-Monats im Juni 2019. Auch wenn medial manchmal der Anschein erweckt wurde, Donald Trump und der Mainstream-Flügel der Partei befänden sich in einem steten Kampf miteinander, zeichnet das Abstimmungsverhalten der Republikaner im Kongress das Bild einer Partei, die einiger denn je ist. Verschiedene Faktoren sind dafür verantwortlich. Einerseits ist die ideologische Kohäsion beider Parteien im Kongress auf oder in der Nähe eines historischen Höchststands. In Abstimmungen das Lager zu wechseln und den demokratischen Gegner zu unterstützen, verlangt den Sprung über einen enormen ideologischen Spalt. Egal welche Person im Weißen Haus residiert, Abweichler aus den eigenen Reihen wird es auch in Zukunft nur in einem überschaubaren Maße geben. Ein zweiter Trump-spezifischer Faktor ist die bereits erwähnte Politik. Nach den ersten zweieinhalb Jahren lässt sich das Fazit ziehen, dass Trump größtenteils die republikanischen Wünsche in verschiedenen programmatischen Fragen bedient hat. Die Folge ist ein Ausmaß an Geschlossenheit in den republikanischen Reihen hinter Donald Trump, das selbst seine eher konventionellen Vorgänger nicht genossen haben. So unterstützten die Republikaner im Senat Donald 386 Vgl. Joseph, James P. u.a. (2017): President Trump’s Mexico City Policy: An Expansion of Restrictions on Foreign Aid. In: Arnold & Porter, 21. Juli. <?page no="207"?> 4.3 Die Republikanische Partei heute 207 Trumps programmatische Positionen in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit in 93 Prozent aller Fälle - im Repräsentantenhaus lag dieser Wert unter Republikanern nur marginal niedriger bei 91 Prozent. 387 Selbst einer der schärfsten Trump-Kritiker wie der verstorbene Senator John McCain wies ein Abstimmungsverhalten vor, das in 83 Prozent aller Fälle mit dem Standpunkt des Präsidenten übereinstimmte. 388 Neben der Realisierung konservativer Wünsche, lässt sich ein weiterer Erklärungsansatz für die enge Bindung der Republikaner im Kongress an den Präsidenten finden. Unter republikanischen Wählerinnen und Wählern historisch populär, könnte die Folge der offenen innerparteilichen Opposition gegen Donald Trumps Politik ein innerparteilicher Herausforderer in den Vorwahlen sein - mit guten Erfolgsaussichten für die Verfechter des „Trumpismus“. Im Sommer des dritten Amtsjahres unterstützten im Juni 2019 90 Prozent aller republikanischen Wähler entsprechend der Daten des Meinungsforschungsinstituts Gallup die Arbeit von Präsident Trump. Zum selben Zeitpunkt ihrer Präsidentschaft lag dieser Wert bei den eigenen Unterstützern unter Präsident Obama bei 79 Prozent, bei Bill Clinton bei 78 Prozent. 389 Selbst George W. Bush, der als Folge der Reaktion auf die Anschläge des 11. September einen langen demoskopischen Höhenflug genoss, war in den eigenen Reihen zu diesem Zeitpunkt seiner Präsidentschaft nicht populärer als Donald Trump. Andere Erhebungen zeigten zudem auf, dass die republikanische Wählerschaft insgesamt eher dem Präsidenten als den parlamentarischen Re- 387 Vgl. Frostenson, Sarah (2019): Republicans in Congress Have Been Very Loyal to Trump. Will it Last? In: FiveThirtyEight, 3. Januar. 388 Vgl. FiveThirtyEight (2019): Tracking Congress in the age of Trump. 389 Daten im Juni des dritten Amtsjahrs des jeweiligen Präsidenten. Gallup: Presidential Approval Ratings - Barack Obama / Presidential Approval Ratings - Bill Clinton. <?page no="208"?> 208 4 Die zukünftigen Herausforderungen präsentanten der Partei vertrauten. Auf die Frage, wer bei Meinungsdifferenzen zwischen Trump und den Republikanern im Kongress eher den richtigen Standpunkt vertreten würde, stellten sich Ende 2017 52 Prozent aller republikanischen Wählerinnen und Wähler auf Seiten des Präsidenten und nur 15 Prozent auf die der Kongress-Republikaner. 390 Dies erklärt auch das Abstimmungsverhalten im Kongress bezüglich einer Resolution, die Donald Trumps erstes präsidentielles Veto erforderte. Nachdem der Präsident trotz des längsten Government Shutdown in der Geschichte des Landes nicht in der Lage war, Gelder für das Projekt seines Grenzwalls zu Mexiko zu erhalten, erklärte dieser am 15. Februar 2019 den Notstand an der südlichen Grenze. Ziel war es, über diesen Umweg Gelder für Maßnahmen der Grenzsicherung ohne vorherige Absegnung des Kongresses nutzen zu können. Verfassungsrechtlich höchst fragwürdig, reagierten die Demokraten im Kongress mit einem Vorstoß, um den offiziell erklärten Notstand an der Grenze wieder auszusetzen. Trotz der Mehrheitsverhältnisse im Senat konnte die Vorlage verabschiedet werden, da sich insgesamt 12 Republikaner auf Seiten ihrer 47 demokratischen Kollegen schlugen. Die Zusammensetzung dieses Dutzends gibt auch Aufschluss über die Herausforderungen, mit denen sich moderate republikanische Amtsinhaber im Zeitalter Trump ausgesetzt sehen. Unter den 12 republikanischen Abweichlern befand sich nur eine einzige Senatorin, die zum Zeitpunkt der Abstimmung plante, 2020 zur Wiederwahl anzutreten (Susan Collins aus Maine). Von den insgesamt 20 republikanischen Senatorinnen und Senatoren, die nur etwas mehr als anderthalb Jahre nach der Abstimmung höchstwahrscheinlich zur Wiederwahl antreten würden, wagte es keine weitere Person, sich gegen den Präsidenten zu stellen - wohlwissend, dass dies insbesondere im innerparteilichen Wettstreit negative Konsequenzen mit sich bringen könnte. 390 Vgl. Bartels, Larry (2018): Partisanship in the Trump era, S. 35. <?page no="209"?> 4.3 Die Republikanische Partei heute 209 Doch besteht eine Partei natürlich nicht nur aus dem Präsidenten - ebenso wie die amerikanische Politik nicht nur in Washington, D.C. gemacht wird. Mag innerhalb der amerikanischen Gesellschaft der Einfluss der christlich-konservativen Wähler stetig sinken, so deuten bei der Betrachtung der Republikanischen Partei auf lokaler Ebene nur wenige Indikatoren darauf hin, dass dieses Segment heute eine untergeordnete Rolle spielt. Dies lässt sich gerade an dem bereits erwähnten Thema der Reproduktionsmedizin, insbesondere der Frage der Legalität von Schwangerschaftsabbrüchen erkennen. Das System des amerikanischen Föderalismus überträgt in diesem Bereich den Einzelstaaten ein beträchtliches Maß an Zuständigkeiten. Da auf Bundesebene Restriktionen nur schwer realisierbar sind, lautete die Strategie in den vergangenen beiden Jahrzehnten, den Zugriff auf Schwangerschaftsabbrüche in den Einzelstaaten so weit wie möglich zu reduzieren. Eine beliebte Methode besteht darin, Kliniken, die hauptsächlich Schwangerschaftsabbrüche anbieten, mit denselben Vorschriften zu belasten, die für allgemeine Krankenhäuser gelten. Die Folge ist beispielsweise eine größere Mindestbreite von Fluren, die in Krankenhäusern sinnvoll ist, aber keine Notwendigkeit für Abtreibungskliniken darstellt. In Texas führten weitreichende Restriktionen dazu, dass zwischen 2011 und 2014 40 Prozent aller medizinischen Einrichtungen, die hauptsächlich Schwangerschaftsabbrüche durchführen, schlossen. 391 Gerade in einem teilweise sehr ländlichen Einzelstaat wie Texas brachte dies weitreichende Konsequenzen mit sich. Berechnungen zeigen auf, dass 2013 keine Texanerin im gebärfähigen Alter mehr als 200 Meilen entfernt von einer Abtreibungsklinik lebte. Ende 2014 war dies jedoch bei 800.000 Frauen der Fall. 392 Der amerikanische Supreme Court hob 2016 zwar die texani- 391 Vgl. Guttmacher Institute (2018): State Facts About Abortion: Texas. Stand: Mai. 392 Vgl. Munguia, Hayley (2014): How Abortion Access has Changed in Texas. In: FiveThirtyEight, 4. Oktober. <?page no="210"?> 210 4 Die zukünftigen Herausforderungen schen Vorlagen für Abtreibungskliniken wieder auf, doch führte dies nicht zu einem erneuten Ausbau des Netzwerkes von medizinischen Institutionen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Daten des Guttmacher-Instituts zeigen das ausgeprägte Wachstum der von Republikanern verabschiedeten Restriktionen im Bereich der Reproduktionsrechte auf. Galten im Jahr 2000 nur vier Einzelstaaten als gegenüber Abtreibungen „feindlich gesinnt“ 393 , so lag dieser Wert im Januar 2019 bei 21 Einzelstaaten. Lebten im Jahr 2000 sieben Prozent aller Frauen im reproduktionsfähigen Alter (13-44 Jahre) in einem Anti-Abtreibungs-Einzelstaat, befand sich dieser Anteil bei über 43 Prozent zwei Jahrzehnte später. 394 Die jüngsten Entwicklungen deuten auf eine weitere Intensivierung dieser Agenda auf republikanischer Seite hin. Hierbei wird oft offen zugegeben, dass die weitreichenden Restriktionen verfassungswidrig sind, da sie gegen den im Roe v. Wade-Urteil determinierten Grundsatz des Anrechts auf Abtreibung bis zum Zeitpunkt der Lebensfähigkeit des Fötusses außerhalb des Körpers der Mutter verstoßen. 395 Da die Reaktion auf die entsprechenden Gesetze unverzügliche Klagen sind, hoffen Abtreibungsgegner, dass auf dem gerichtlichen Wege das Thema Abtreibung erneut vor den Supreme Court gebracht wird - zuversichtlich, dass die konservative Mehrheit Roe v. Wade aufheben wird. So verabschiedeten allein in der ersten Jahreshälfte 2019 sechs auf Landesebene von Republikanern dominierte Einzelstaaten 393 Dies bedeutet entsprechend der Interpretation des Guttmacher- Instituts, dass ein Einzelstaat mindestens vier von sechs relevanten Restriktionen im Bereich des Zugriffs auf Schwangerschaftsabbrüche umgesetzt hat, beispielsweise eine obligatorische Wartephase vor einer Abtreibung oder die Vorschrift der elterlichen Zustimmung bei Patientinnen unter 18 Jahren. 394 Vgl. Guttmacher Institute (2019): State Abortion Policy Landscape: From Hostile to Supportive. Stand: 23. Januar 2019. 395 Ein Zeitpunkt, der gemeinhin zwischen der 24. und 28. Woche definiert wird. <?page no="211"?> 4.3 Die Republikanische Partei heute 211 sogenannte „Heartbeat Bills“, die Abtreibungen vom Zeitpunkt der ersten Messung eines Herzschlags bei einem Fötus verbieten. 396 Schlussendlich bedeutet dies die Untersagung von Schwangerschaftsabbrüchen ungefähr ab der sechsten Woche und kommt somit einem fast vollkommenen Verbot von Abtreibungen in den entsprechenden Einzelstaaten gleich. Noch weiter ging ein im Mai 2019 verabschiedetes Gesetz in Alabama, das Abtreibungen zu allen Zeitpunkten der Schwangerschaft untersagte, zudem keine Ausnahmen für die Opfer von Vergewaltigungen vorsah und für Verstöße Gefängnisstrafen von 99 Jahren forderte. 397 Auch wenn die Anti-Abtreibungswelle des Jahres 2019 durch richterliche Interventionen aller Voraussicht nach ein überschaubares Vermächtnis vorweisen wird, lassen sich nur wenige Gründe für ein generelles Abebben der rigiden Opposition gegen Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der Republikanischen Partei finden. Zu mächtig ist weiterhin der christlich-konservative Flügel, der scheinbar durch die Kampfeslust Donald Trumps angesteckt wurde und keinerlei Interesse an überparteilichen Kompromissen vorweist. Zu groß ist auch die Verlockung der konservativen Mehrheit im Supreme Court. Mit dem dank Trumps Nominierungen zu erwartenden Rechtsruck, scheint der Zeitpunkt gekommen, alles daran zu setzen, auf judikativem Wege weitreichende Maßnahmen gegen Reproduktionsrechte zu zementieren. Inwieweit auch die konservativen Richter diesem Wunsch Rechnung tragen werden ist jedoch ungewiss. Insbesondere der von George W. Bush 2005 ernannte 396 Fünf der sechs Staaten wiesen sogenannte Republikanische „Trifectas“ vor. D.h., dort kontrollierten Republikaner beide Landeskammern, sowie das Amt des Gouverneurs. Im sechsten Staat (Louisiana) unterschrieb ein demokratischer Gouverneur die verabschiedeten Restriktionen. Vgl. Nash, Elizabeth (2019): A Surge in Bans on Abortion as Early as six Weeks, Before Most People Know They are Pregnant. In: Guttmacher Institute, Stand: 31. Mai. 397 Vgl. Williams, Timothy/ Alan Blinder (2019): Lawmakers Vote to Effectively Ban Abortion in Alabama. In: New York Times, 14. Mai. <?page no="212"?> 212 4 Die zukünftigen Herausforderungen Chief Justice John Roberts hat in der jüngeren Vergangenheit zu erkennen gegeben, dass er eine Übertragung der politischen Grabenkämpfe im Kongress auf den Obersten Gerichtshof als alles andere als wünschenswert betrachtet. 398 Die Durchsetzung der von Republikanern gewünschten fundamentalen Einschränkungen des Rechts auf Schwangerschaftsabbrüche durch das Gericht könnte der Legitimität der traditionell hoch angesehen Institution des Supreme Court einen Schaden zufügen, der die amerikanische Demokratie zusätzlich schwächt. Schon heute ist eine steigende Mehrheit der Amerikaner der Ansicht, dass sich die RichterInnen des Supreme Court von politischen anstatt legalen Kriterien in ihrer Entscheidungsfindung führen lassen. 399 Der Ansehensverlust einer weiteren politischen Institution wäre ein zusätzlicher Mosaikstein im Bild des fragwürdigen Zustands der amerikanischen Demokratie. 4.4 Die amerikanische Demokratie in der Trump-Ära Bei einem Zweiparteiensystem ist es keine sonderlich revolutionäre Feststellung, dass der Zustand einer Partei auch einen enormen Einfluss auf die generelle Verfassung des politischen Systems hat. Wie wir gesehen haben, trägt die Republikanische Partei zweifelsfrei einen Löwenanteil an der Polarisierung des Landes - und damit auch am politischen Stillstand und den fortwährenden Grabenkämpfen, die immer wieder in Wissenschaft und Medien die Frage aufwerfen, inwieweit die amerikanische Demokratie kränkelt. 398 Vgl. Stohr, Greg (2019): Hold the Revolution: Roberts Keeps Joining High Court Liberals. In: Bloomberg, 1. März. 399 Im Mai 2019 äußerten 55 Prozent die Ansicht, das Gericht orientiere sich an politischen Bedenken, während 38 Prozent glaubte, die RichterInnen konzentrieren sich auf rechtliche Aspekte. Quinnipiac University (2019): National Poll. 22. Mai, S. 3. <?page no="213"?> 4.4 Die amerikanische Demokratie in der Trump-Ära 213 Dies tut sie zweifelsfrei. Der Demokratie-Index des Economist sieht die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren nunmehr nur noch als eine „flawed“ also fehlerhafte Demokratie. Lag das Land 2008 in diesem Index noch auf dem 18. Platz, fand es sich ein Jahrzehnt später nur noch auf Platz 25 vor. 400 Die dafür als verantwortlich gesehenen Gründe wie der dysfunktionale Regierungsapparat sowie der damit verbundene Vertrauensverlust in die Politik lassen sich durchaus auf die Entwicklungen zurückführen, die im vorliegenden Buch erörtert wurden. Das amerikanische politische System basiert auf einer Kompromissbereitschaft der politischen Akteure, die in einem Umfeld der tiefen ideologischen Gräben zwischen den beiden Parteien heutzutage nur noch selten vorzufinden ist. Mit einer Vielzahl an Vetopunkten innerhalb des politischen Systems verfolgten die Founding Fathers im späten 18. Jahrhundert das Ziel, insbesondere legislative Schnellschüsse zu vermeiden. Denn, so Alexander Hamilton im Federalist Paper Nr. 70, „[i]n the legislature, promptitude of decision is oftener an evil than a benefit.“ 401 Schnelles Regieren war somit von Anfang an nicht erwünscht, ganz im Gegenteil: Die Zusammensetzung des politischen Systems durch verschiedene Wahlmodi und mehrere gleichberechtigte Akteure sollten jeden Handelnden im Zaum halten. „Durchregieren“ mit einer eigenen Mehrheit ist nur selten möglich, da in den meisten Sachverhalten beide Kammern des Kongresses gleichberechtigt sind und die starke präsidentielle Exekutive einer parlamentarischen Mehrheit mit einem Veto (das nur mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kongress-Kammern überstimmt werden kann) einen Strich durch die Rechnung machen kann. Selbst ein hervorragendes Wahljahr mag nicht zu einer Mehrheit im Senat 400 Vgl. The Economist Intelligence Unit (2019): Democracy Index 2018: Me too? Political participation, protest and democracy, S. 11. 401 Hamilton, Alexander (1788): The Federalist Papers: No. 70. In: Yale Law School - Lillian Goldman Law Library. <?page no="214"?> 214 4 Die zukünftigen Herausforderungen führen, da immer nur ein Drittel aller Senatorinnen und Senatoren zur Wiederwahl stehen - dies erklärt auch den republikanischen Zugewinn im Senat in den Zwischenwahlen 2018, da fast drei Viertel aller zur Wahl stehenden Senatssitze in diesem Zyklus in demokratischer Hand waren. Somit boten sich für die Republikaner deutlich mehr Einzelstaaten zur Eroberung. 402 Da das Repräsentantenhaus selbst in einem zweijährigen Zyklus gewählt wird, können auch komfortable Mehrheiten in allen Bereichen des Regierungsapparates nach kurzer Zeit verschwunden sein - sowohl Barack Obama als auch Donald Trump mussten dies am eigenen Leib erfahren. Die Folge ist ein legislativer Stillstand, exemplifiziert durch das nunmehr fast alljährliche Schreckgespenst des Government Shutdown. Der amerikanischen Bevölkerung sind gewisse negative Entwicklungen ihrer Demokratie nicht entgangen (siehe Abbildung 7). Auf die Frage, wie gut die Demokratie in ihrem Land heute funktioniere, antworteten im Frühjahr 2018 nur 18 Prozent aller Amerikaner „sehr gut“ - ein vergleichbarer Anteil von 13 Prozent sah hingegen die Funktionsweise der amerikanischen Demokratie als „überhaupt nicht gut“ an. Insgesamt ließ sich eine Unterteilung von 58 Prozent im zufriedenen und 40 Prozent im unzufriedenen Lager vorfinden. 402 Das demokratische „Übergewicht“ in der Senatswahl 2018 lässt sich auch dadurch erklären, dass diese Sitze vormals 2012 und 2006 zur Wahl standen; zwei Wahljahre mit exzeptionell guten Ergebnissen für die Demokratische Partei, die zur Folge hatten, dass Demokraten in teilweise zutiefst Republikanischen Regionen ihre Sitze verteidigen mussten. Andererseits bedeutet dies, dass Republikanische Senatoren 2020 in mehr Staaten zur Wiederwahl stehen (22 von 34). <?page no="215"?> 4.4 Die amerikanische Demokratie in der Trump-Ära 215 Abb. 7: Wie gut funktioniert heutzutage die Demokratie in den USA? Quelle: Pew Research Center (2018): The Public, the Political System and American Democracy. 26. April, S. 6. Hier ist anzumerken, dass diese Unzufriedenheit zumindest nicht in ihrer Gesamtheit auf Trump zurückzuführen ist, denn auch Republikaner erkennen durchaus beträchtliche Defizite. Während 68 Prozent aller Demokraten nach dem ersten Jahr der Trump-Ära argumentierten, der Aufbau des amerikanischen Regierungsapparates bedürfe fundamentalen Veränderungen, waren immerhin auch 50 Prozent aller Republikaner dieser Ansicht. 403 In Anbetracht dieser Daten überrascht es nicht, dass das Meinungsforschungsinstitut Gallup Anfang 2019 einen historischen Tiefstwert bezüglich des Vertrauens der Amerikaner in ihren Regierungsapparat fand, nationale sowie internationale Probleme zu lösen. 404 Auch wenn die Republikanische Partei als Hauptschuldiger für einige der problematischen Entwicklungen der amerikanischen Demokratie betrachtet werden kann, lassen sich trotzdem auf der anderen Seite des politischen Grabens 403 Vgl. Pew Research Center (2018): The Public, the Political System and American Democracy. 26. April, S. 6. 404 Vgl. Brenan, Megan (2019): Americans’ Trust in Government to Handle Problems at new low. In: Gallup, 31. Januar. <?page no="216"?> 216 4 Die zukünftigen Herausforderungen ebenso Entwicklungen vorfinden, die ein eher düsteres Fazit bezüglich der Zukunft des Landes bieten. War die interne ideologische Kohäsion lange Zeit ein Merkmal, das hauptsächlich auf die Republikaner zutraf, so lässt sich dies nun auch für die Demokraten behaupten (in gewisser Weise auch als Reaktion auf die steigende ideologische Radikalität der Republikaner). Im Jahre 2000 war die Demokratische Partei noch eine Partei der verschiedenen ideologischen Strömungen. Der Anteil der Demokraten, die sich als konservativ betrachteten (24%), war zu diesem Zeitpunkt fast so hoch die der Anteil der Liberalen 405 innerhalb der Partei (28%; die restlichen Demokratischen Wähler beschrieben sich als „moderat“). In den Jahren zuvor waren diese beiden Strömungen gar gleichauf. 406 Für Demokratische Präsidentschaftskandidaten war es vor nur zwei Jahrzehnten möglich, in den Vorwahlen eine moderate Allianz von Zentristen und Konservativen auf dem Weg zur Nominierung zu vereinigen. Wurden vom Demokratischen Parteiestablishment Sorgen bezüglich der ideologischen Werte eines potenziellen Präsidentschaftskandidaten geäußert, handelte es sich hierbei um die Befürchtung, ein Kandidat könne zu (links-)liberal für die allgemeine Wählerschaft sein. Ebenso wie auf der republikanischen Seite, lässt sich indessen auf der demokratischen Seite eine Konvergenz zwischen Parteipräferenz und ideologischen Werten finden. 2018 beschrieben sich 51 Prozent aller Demokraten als liberal; der Anteil der Konservativen war innerhalb der Partei hingegen auf nur noch 13 Prozent gesunken. 407 Auch auf der Elitenebene lässt sich auch ein gewisser 405 Hier sei angemerkt, dass „liberal“ im amerikanischen Kontext sich eher auf linksliberale Ansichten bezieht. Ebenso steht eine liberale ökonomische Politik in den Vereinigten Staaten für einen aktiven Staat samt einem vergleichsweisen starken Sozialstaat. 406 Vgl. Saad, Lydia (2019): U.S. Still Leans Conservative, but Liberals Keep Recent Gains. In: Gallup, 8. Januar. 407 Vgl. ebd. <?page no="217"?> 4.4 Die amerikanische Demokratie in der Trump-Ära 217 Linksruck erkennen. Umfasste der eher linksstehende Congressional Progressive Caucus (CPC) 408 der Demokratischen Partei vor der Zwischenwahl 2018 76 Mitglieder, so lag diese Zahl danach bei 95. Dies bedeutete, dass der Anteil von CPC-Mitgliedern innerhalb der demokratischen Fraktion im Repräsentantenhaus von 30 auf 40 Prozent angestiegen war. 409 Die Folgen dieser ideologischen Transformation konnten auch bereits in der Anfangsphase des Wahlkampfs 2020 erkannt werden. Galt Bernie Sanders vier Jahre zuvor mit seinen - für amerikanische Verhältnisse - linken Standpunkten bezüglich des Gesundheitssystems und der allgemeinen Rolle des Staates als Außenseiter, so sind sozialdemokratische Werte nunmehr selbst auf der höchsten Ebene fast zu einer parteiinternen Norm geworden, wohlwissend, dass in der heutigen Demokratischen Partei die Label „moderat“ oder gar „konservativ“ das Todesurteil der eigenen elektoralen Hoffnungen darstellen können. Dazu gesellt sich eine sinkende Kompromissbereitschaft innerhalb der demokratischen Wählerschaft. Lange Zeit waren es die Demokraten und ihre Unterstützer, die Politik als ein Geben und Nehmen betrachteten und die Notwendigkeit der ideologischen Brückenbildung im amerikanischen System erkannten. 2011 gaben 46 Prozent aller Demokraten aber nur 31 Prozent aller Republikaner an, dass sie Kandidaten bevorzugen, die auf Akteure mit konträren Standpunkten zugehen - 2018 betrug diese Differenz nur zwei Prozentpunkte. 410 Donald Trump erscheint den demokratischen Wählern hier als ein rotes Tuch. Während beispielsweise immerhin 25 Prozent aller Republikaner nach den Zwischenwahlen 2018 argumentierten, Präsident 408 Eine parteiinterne Gruppe/ Fraktion, die das Ziel der Umsetzung einer progressiven Agenda innerhalb der Demokratischen Partei vorantreiben möchte. 409 Vgl. Skelley, Geoffrey (2018): The House Will Have Just as Many Moderate Democrats as Progressives Next Year. In: FiveThirtyEight, 20. Dezember. 410 Vgl. Pew Research Center (2018): The Public, S. 91. <?page no="218"?> 218 4 Die zukünftigen Herausforderungen Trump solle in einem hohen Maß mit seinen demokratischen Gegnern im Kongress bis zur nächsten Wahl kooperieren, äußerten nur zehn Prozent aller Demokraten diese Einstellung bezüglich der geforderten Kompromissbereitschaft der demokratischen Führungsriege im Kongress. 411 Die Gräben innerhalb der amerikanischen Wählerschaft erscheinen somit tiefer denn je. Sowohl ideologisch als auch emotional. Der politische Gegner wird nicht mehr als Kontrahent mit validen Standpunkten, sondern als Feind für das eigene Wohl und die amerikanische Demokratie betrachtet. Sahen 1994 noch 21 Prozent aller Republikaner sowie 17 Prozent aller Demokraten die gegnerische Partei in einem „sehr negativen“ Licht, so lagen die jeweiligen Werte ein Vierteljahrhundert später bei 58 und 55 Prozent. 412 Es überrascht kaum, dass über 60 Prozent der Unterstützer beider Parteien somit die Ansicht vertreten, die andere Partei stelle eine „sehr“ oder „teilweise ernste Bedrohung“ für Land und Leute dar. 413 Ansichten wie diese haben gar enormen Einfluss auf das alltägliche Leben: 45 Prozent aller Demokraten sowie 35 Prozent aller Republikaner antworteten 2019, dass sie „sehr unglücklich“ darüber wären, wenn ihr Kind einen Ehepartner aus dem gegnerischen politischen Lager heiraten würde. 414 Ob diesen Entwicklungen Einhalt geboten werden kann, ist höchst fraglich. Wie gesagt kann der Anstieg der demokratischen Radikalität zumindest in Teilen auch als Reaktion 411 Vgl. Pew Research Center (2018): Public Expects Gridlock, Deeper Divisions With Changed Political Landscape. 15. November, S. 14. 412 Vgl. Pew Research Center (2016): Partisanship and Political Animosity in 2016. 22. Juni, S. 5. 413 Vgl. Baker Center/ Knight Foundation (2018): 2018 American Institution Confidence Poll: The Health of American Democracy in an Era of Hyperpolarization, S. 15. 414 Vgl. Jones, Robert P./ Maxine Najle (2019): American Democracy in Crisis: The Fate of Pluralism in a Divided Nation. In: Public Religion Research Institute, 19. Februar, S. 20. <?page no="219"?> 4.4 Die amerikanische Demokratie in der Trump-Ära 219 auf die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im republikanischen Lager gesehen werden. Der Sieg Donald Trumps in den republikanischen Vorwahlen sowie seine stete Popularität innerhalb der eigenen Reihen sind Anzeichen, dass ein Konfrontationskurs im konservativen Lager enorm populär ist. Demokratische Politiker reagieren ihrerseits ebenso mit einer rhetorischen Aufrüstung, die darauf deutet, dass politische Konflikte in zukünftigen Jahren in den Vereinigten Staaten aller Voraussicht nach noch erbitterter ausgetragen werden. <?page no="221"?> 5 Fazit Kevin Phillips prophezeite in den späten 1960er Jahren, dass seine Southern Strategy den Republikanern bis zum Jahre 2004 zu sicheren Mehrheiten verhelfen werde. 415 Wie so viele andere Prognosen des damals noch nicht einmal 30- Jährigen sagte sie die Zukunft der Partei erstaunlich akkurat voraus. Republikanische Kandidaten gewannen fünf der sechs Präsidentschaftswahlen zwischen den späten 1960er und 1980er Jahren. Einzig und allein nach dem Watergate- Skandal konnte sich der Demokrat Jimmy Carter in der Wahl 1976 durchsetzen. Auch wenn seit 1992 die Demokraten in Wahlen zum Weißen Haus die eindeutig dominierende Partei sind, haben die Republikaner gerade dank ihrer Eroberung des Südens seit 1994 ein vergleichbares Ausmaß an Überlegenheit in Wahlen zum Repräsentantenhaus genossen. Außer einer vierjährigen Schwächeperiode am Ende der George W. Bush und Anfang der Barack Obama- Präsidentschaften, kontrollierte die Partei bis zu den Zwischenwahlen 2018 die untere Kammer des Kongresses in dieser Phase durchweg. Es wäre vermessen zu sagen, dass die strategischen Entscheidungen konservativer Kräfte in den 1960er Jahren fehlerhaft waren. Moralisch sicherlich mehr als fragwürdig, führte der Siegeszug im Süden dank der Fokussierung auf weiße Wähler mit rassistischen Ressentiments zu einer politischen Dominanz, die der Republikanischen Partei auf verschiedenen politischen Ebenen zum Status des federführenden Akteurs verhalf. Auch zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Fazits im Sommer 2019 sieht die Situation im Lande für die Republikaner zumindest oberflächlich alles andere als bedenklich aus, kontrollieren sie das Amt des Präsidenten, den Senat sowie eine überwältigende Mehrheit 415 Vgl. Boyd (1970). <?page no="222"?> 222 5 Fazit der Landeskammern, in denen weiterhin oft die wichtigsten alltäglichen politischen Entscheidungen des Landes getroffen werden. Hier können legislative Projekte, die die Kerninteressen der elektoralen Basis realisieren (wie die Umsetzung einer rigiden Einschränkung von Schwangerschaftsabbrüchen), verfolgt werden. Auch wenn die Partei seit 1992 nur ein einziges Mal in sieben Versuchen die Popular Vote der Präsidentschaftswahl gewinnen konnte, verfügt sie trotzdem über eine Zusammensetzung der Wählerschaft, die es ihr dank des Modus des Electoral College erlaubt, auch in diesem elektoralen Umfeld wettbewerbsfähig zu sein. Die jüngere Vergangenheit hat jedoch auch die Kehrseite der nativistisch-populistischen Strategie der letzten 50 Jahre aufgezeigt. Fortwährende Attacken gegen die politische Elite Washingtons und Minderheitengruppen haben innerhalb der Partei eine Wählerschaft geschaffen, die von der republikanischen Führungsriege kaum kontrolliert werden kann. Es ist eine Wählerschaft, die in beeindruckendem Ausmaß den Personen des rechten Rands gleicht, die Richard Hofstadter in seinem bereits erwähnten Essay The Paranoid Style in American Politics in den 1960er Jahren beschrieb. „[T]he modern right wing“, so Hofstadter, „feels dispossessed. America has largely been taken away from them and their kind … .“ 416 Es sind Wähler, die das Gefühl beschleicht, „ihr“ Amerika sei nunmehr verschwunden und befinde sich auf einem fortwährenden gesellschaftlichen und ökonomischen Abstieg. Bei der Wahl Donald Trumps spielten sie eine tragende Rolle und werden auch in den Jahren nach Trump in der Republikanischen Partei von Kandidaten Beachtung finden. Auch wenn Hofstadter in seinem Essay vom rechten Flügel der Gesellschaft sprach, repräsentiert die Wählerschaft, die Trump den Schlüssel zum Weißen Haus übertrug, keinesfalls den radikalen Rand der Republikanischen Partei, sondern vielmehr ihr ideologisches Herz. Es sind Wähler, die 416 Hofstadter (1965), S. 23. <?page no="223"?> 5 Fazit 223 weniger Einwanderung wollen und die demographische Veränderung des Landes samt dem damit verbundenen steigenden Einfluss nicht-weißer Minderheiten mit Argwohn betrachten. Dies erklärt auch den Erfolg der Partei innerhalb der weißen Arbeiterklasse, die von den wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen der Republikaner keineswegs profitiert. Der Sozialstaat wird von konservativen Politikern und Strategen seit Jahrzehnten als Institution dargestellt, die insbesondere eben diesen Minderheiten einen unverdienten Vorteil verschafft und ihnen damit hilft, die soziale Leiter emporzusteigen. Ausgeprägt in Bezug auf das Thema Migration ist hier gerade die Divergenz zwischen den Schlussfolgerungen, die von der republikanischen Elite nach der Niederlage 2012 getroffen wurden, und der Präferenz der Basis, die sie durch ihre Unterstützung für Donald Trump kundtat. Vorschläge bezüglich einer Moderierung der Parteiposition beim Thema Einwanderung stießen und stoßen innerhalb der Basis auf taube Ohren. In ihrer Analyse der Wahlniederlage von 2012 kamen die Autoren des republikanischen Berichtes zu folgendem Fazit: „We have become expert in how to provide ideological reinforcement to like-minded people, but devastatingly we have lost the ability to be persuasive with, or welcoming to, those who do not agree with us on every issue.“ 417 Auch die republikanische Führungsriege erkennt, dass ihre Partei ein Konstrukt von beeindruckender ideologischer (sowie auch demographischer) Homogenität ist. Zeichen der gewünschten Moderierung sind nur schwer erkennbar. Ganz im Gegenteil: Auf die Frage, ob sie eine moderatere oder konservativere Partei sehen wollen, äußert die republikanische Wählerschaft schon seit Jahren, dass sie sich mehr ideologische Radikalität wünscht. 418 Die Kehrseite der ideologischen Geschlossenheit lässt sich im Unvermögen 417 Republican Party (2013), S. 5. 418 Vgl. Pew Research Center (2019): Public’s 2019 Priorities, S. 10. <?page no="224"?> 224 5 Fazit der Gewinnung von Wählern finden, deren Ansichten marginal von der Parteiideologie abweichen. Der demographische Wandel des Landes wird der Partei jedoch keine andere Möglichkeit offenlassen, als Wählersegmente anzusprechen, die sie bis jetzt missachtet hat. Doch auch hier muss konstatiert werden, dass die Partei selbst für diese Defizite verantwortlich ist. Über Jahrzehnte hinweg sind verschiedene Gesellschaftsgruppen nicht nur außer Acht gelassen, sondern aktiv als Feind der eigenen Kernwählerschaft dargestellt worden. Ethnische und sexuelle Minderheiten für die Partei zu gewinnen, würde eine Kehrtwende voraussetzen, die von der Stammwählerschaft vehement abgelehnt wird. Die von den Autoren des erwähnten Berichts geäußerte Sorge, eine Beibehaltung der jetzigen republikanischen Vorgehensweise würde schlussendlich darin münden, dass die Partei auf ihren harten Kern schrumpft, ist der Kernwählerschaft schlichtweg egal. Für die Erfolgsaussichten eines potenziellen republikanischen Kandidaten spielen die Ängste, die seit Jahrzehnten an der Basis genährt werden, zudem eine erheblich relevantere Rolle. Das diesbezüglich beste Beispiel stellt hier Donald Trump dar, der jede Schlussfolgerung sowie Empfehlung des Berichtes missachtete und sich mit einer Botschaft der Angst trotz seiner unterschiedlichsten Defizite durchsetzen konnte. Ist die Republikanische Partei also dazu verurteilt, auf dem Müllhaufen der Geschichte zu landen? Zuerst einmal muss angemerkt werden, dass Vorhersagen zu Mehrheitsverhältnissen in der amerikanischen Politik oft eine relativ überschaubare Halbwertzeit vorweisen. 1988 argumentierte der liberale Autor und Kolumnist E.J. Dionne, Jr. noch, dass die Republikanische Partei mit Freude auf die Zukunft schauen könne, da am Ende der Reagan-Ära die Partei selbst unter jungen Wählern durchaus gut aufgestellt war 419 - George 419 Vgl. Dionne, Jr., E.J. (1988): Political Memo; G.O.P. Makes Reagan Lure of Young a Long-Term Asset. In: New York Times, 31. Oktober. <?page no="225"?> 5 Fazit 225 H.W. Bush gewann 18bis 29-jährige Wählerinnen und Wähler mit einem Vorsprung von sechs Prozentpunkten, nur marginal unter seinem generellen Stimmenvorsprung von acht Punkten gegenüber Michael Dukakis. Ebenso gibt es wahrscheinlich keinen besseren Katalysator zur Umsetzung von Reformen als elektorale Niederlagen. Doch auch hier bietet das amerikanische politische System enorme Herausforderungen für Republikaner. Ein Schrumpfen der Partei auf ihre Kernwählerschaft bedeutet gerade in Bezug auf die Kandidatenauswahl schlussendlich, dass der ideologisch radikalere Kern der Partei ein größeres Gewicht vorweist. Dies ist gerade in den Vorwahlen der Fall, in denen der Ausgang von den Präferenzen der politisch aktiven Stammwählerschaft abhängt. Schon während der Tea Party- Ära zogen republikanische Amtsinhaber die Lehre, dass ein politisches Überleben nur durch einen Rechtsruck gesichert werden könne. Zukünftige republikanische Aspiranten auf hohe politische Ämter werden somit zumindest für die absehbare Zukunft auch den Weg der rigiden Verteidigung konservativer Ansichten als den vielversprechendsten sehen. Dazu kommt die Frage, inwiefern die weitere demographische Transformation des Landes Einfluss auf das Wahlverhalten der (jetzigen) weißen Mehrheit haben wird. Ein stetig wachsender Fundus an wissenschaftlicher Literatur verdeutlicht, dass die Konfrontation mit dem bevorstehenden Minderheitenstatus nicht nur am Rand der weißen Gesellschaft zu einem Wachstum an Konservatismus führt. 420 Ist die Republikanische Partei in der Lage, unter weißen Wählerinnen und Wählern Zugewinne zu feiern, kann sie zumindest in der nahen Zukunft weiterhin Mehrheiten auf verschiedenen politischen Ebenen erreichen. Welchen Weg wird diese Wählerschaft in den nächsten Jahren gehen? Die jüngsten Entwicklungen haben offenbart, dass die Statusängste, die zur Wahl Donald Trumps 420 Ein guter Einstieg in dieses Thema lässt sich im bereits erwähnten Text von Craig/ Richeson (2014) finden. <?page no="226"?> 226 5 Fazit beitrugen, innerhalb der republikanischen Wählerschaft fest verankert sind - die Eroberung des weißen Südens durch die Partei hat somit schlussendlich auch zu einer Reproduktion der weißen Befindlichkeiten der Region innerhalb der Partei geführt. Wurde die schwarze Minderheit in der Region über Jahrhunderte als Gefahr für den gesellschaftlichen Status und politischen Einfluss der weißen Mehrheit gesehen, so lassen sich diese Auffassungen heute auch in beträchtlichen Teilen der republikanischen Wählerschaft im gesamten Land finden. Nur wenige Indikatoren deuten darauf hin, dass sich in diesem Segment in naher Zukunft eine gemäßigtere Sichtweise durchsetzen könnte. „Kulturkriege“ zum Thema Abtreibung, der demographische Wandel des Landes und die damit verbundenen ideologischen Veränderungen (immer mehr Amerikaner verschreiben sich säkularer und linksprogressiver Werte) dürften vielmehr unter republikanischen Kernwählern ebenso zu einer noch rigideren Wagenburgmentalität führen - mit den damit verbundenen negativen Konsequenzen für die amerikanische Demokratie. Donald Trumps Sieg in den republikanischen Vorwahlen verhalf der Sichtweise, die Partei befände sich in einer Art Bürgerkrieg und stünde möglicherweise vor einer imminenten Spaltung zu Konjunktur. Zweifelsfrei gibt es weiterhin verschiedene Flügel mit verschiedenen programmatischen Schwerpunkten. Doch haben die vergangenen Jahrzehnte gezeigt, dass diese Gruppen friedlich miteinander koexistieren können und schlussendlich mit elektoralen Siegen eine Politik für alle beteiligten Akteure innerhalb der Partei umgesetzt wird. Business Conservatives wissen ihrerseits ebenso, dass sie ohne Social Conservatives nur schwer Mehrheiten erringen können. Letztere, oft wirtschaftlich schwächer gestellt, können mit einem Abbau des Wohlfahrtsstaates und Deregulierung leben, solange ihre Präferenzen in gesellschaftspolitischen Fragen von der Partei verteidigt werden. Dazu gesellt sich das politische Umfeld der Vereinigten Staaten. Die immense ideologische Kluft zwischen den beiden Parteien erschwert ein Überlaufen in <?page no="227"?> 5 Fazit 227 das andere Lager. Die Gründung einer dritten Partei erscheint für abtrünnige Konservative ebenso wenig aussichtsreich. Mag der traditionelle Grundsatz, das Mehrheitswahlrecht führe zu Zweiparteiensystemen („Duvergers Gesetz“) in verschiedenen Ländern widerlegt worden sein, so scheint der politische Wettbewerb in den USA ein Kampf zwischen Republikanern und Demokraten zu bleiben. Man denke nur an die Wahl 2016 zurück, in der zwei Kandidaten mit historisch niedrigen Popularitätswerten trotzdem fast 95 Prozent aller Stimmen auf sich vereinen konnten. Bezogen auf die generelle Zukunft der amerikanischen Demokratie muss abschließend konstatiert werden, dass die Republikaner hier gerade in jüngerer Vergangenheit eine schädliche Rolle gespielt haben. Wie bei seiner nativistischen Positionierung bildet Donald Trumps Affinität zum Autoritarismus ebenso die existierende republikanische Grundeinstellung nach, anstatt die Partei in eine grundsätzlich neue anti-demokratische Richtung zu bewegen. Steven Levitsky, Autor des Buches „Wie Demokratien sterben“, stuft das Verhalten der Partei außerhalb des Weißen Hauses gar als noch gefährlicher als Donald Trumps Missachtung demokratischer Normen ein. Levitskys Ansicht nach haben sich die Republikaner allgemein in eine autoritäre Richtung bewegt, in der alles Erdenkliche versucht wird, um den politischen Gegner von den Schalthebeln der Macht fernzuhalten. 421 Auch andere Wissenschaftler stellen nunmehr die Frage, ob sich die Republikanische Partei heute noch demokratischen Grundsätzen verschreibt. 422 Die im vorliegenden Buch dargelegten republikanischen Maßnahmen des Machterhalts, die oftmals alles daran setzen, die Ausübung grund- 421 Vgl. Tomasky, Michael (2019): Do the Republicans Even Believe in Democracy Anymore? In: New York Times, 1. Juli. 422 Der Rechtswissenschaftler Aziz Huq kam in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen zu folgendem Fazit: „We don’t know how committed the Republican Party is to the project of democracy.“ Kommentar während der American Constitution Society for Law and Policy Convention, 7. Juni 2019. Video verfügbar über C-SPAN. <?page no="228"?> 228 5 Fazit legender demokratischer Rechte der gegnerischen Wählerschaft zu verhindern, zeigen auf, dass die Darstellung der Republikaner als semi-demokratische Partei durchaus die Realität der heutigen politischen Verhältnisse Amerikas widerspiegelt. Republikanische Strategen haben mit ihrer Vorgehensweise in den letzten Jahrzehnten innerhalb der konservativen Wählerschaft ein Klima der Angst erzeugt, das nicht nur zur Wahl Donald Trumps beitrug. Vielmehr hat es ebenso dazu geführt, dass republikanische Wähler anti-demokratische Maßnahmen nicht nur tolerieren, sondern teilweise begrüßen. Schließlich geht es in ihren Augen um nicht weniger als die Wahrung der Republik vor dem Sozialismus der Demokraten und ihren Wählern, die Amerika grundlegend verändern wollen. Dank des Werdegangs der Republikanischen Partei in den letzten 50 Jahren steht auch die amerikanische Demokratie vor einer ihrer größten Herausforderungen. <?page no="229"?> Literaturverzeichnis Abramowitz, Alan I. (2012): Grand Old Tea Party: Partisan Polarization and the Rise of the Tea Party Movement. In: Lawrence Rosenthal/ Christine Trost (Hg.): Steep: The Precipitous Rise of the Tea Party. Berkeley/ Los Angeles: University of California Press, S. 212-241. Abramowitz, Alan I. (2013): Not Their Cup of Tea: The Republican Establishment Versus the Tea Party. In: Sabato’s Crystal Ball, 14. 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United States 65-67 Boehner, John 128 Brown v. Board of Education 53, 64 Buchanan, Patrick 43, 177 Bush, George H.W. 153 Vorsprung unter jungen Wählern, 1988 225 Willie Horton- Wahlwerbung 85-87 Bush, George W. 96 Erfolge im Süden 99 Bush, Jeb 130 C Carter, Jimmy 99 Christliche Rechte Entstehung 69 sozialpolitische Ansichten 70 und die Südstaaten 71 Clinton, Hillary 109, 133, 134, 147 Rückstand bei weißen Wählern 169 Vorsprung unter Amerikanern mit Hochschulabschluss 161 Commission on Election Integrity 189 Cruz, Ted 123, 134 D Diskriminierung von Republikanern gegen Weiße wahrgenommen 136-37, 169 Dukakis, Michael 85, 153 E Ehrlichman, John 51, 56 Einwanderung und Tea Party-Mitglieder 124 Wahrnehmung von Republikanern als Gefahr 134-36 <?page no="264"?> 264 Index Eisenhower, Dwight D. 28, 94 Environmental Protection Agency 202 Erickson, Erick 111 F Falwell, Jerry 68 Frum, David 127 G Generation Z 162, 165-167 Goldwater, Barry Ansichten zum Civil Rights Act 1964 37-38 Conscience of a Conservative 35-36 Ergebnis 1964 40-41 Gorsuch, Neil 113 Grant, Ulysses S. 22-24 H Haldeman, H.R. 54 Hamilton, Alexander 213 Haney López, Ian 55 Hayes, Rutherford B. 26 Helms, Jesse 62 Hispanics Bevölkerungswachstum 152 ideologische Ansichten 155 zukünftiges Bevölkerungswachstum 153 Hofeller, Thomas 199-200 Hofstadter, Richard 59, 222 Paranoid Spokesman 59- 61 Horton, Willie 85-87 Humphrey, Hubert H. 49 I Interstate Voter Registration Crosscheck 193 J Johnson, Andrew 18-22 Johnson, Lyndon B. 34, 48, 83 K Kansas-Nebraska Act 14-15 Kasich, John 135 Kavanaugh, Brett 113, 187 Kennedy, John F. 56 Kerry, John 147, 197 Key, Jr, V.O. 31 Kompromiss von 1877 25 L Lincoln, Abraham 17 Lott, Trent 27 M McCain, John 87-88, 149, 169, 207 McConnell, Mitch 127, 203 McGovern, George 83 Mexico City Policy 205 Millennials ideologische Präferenzen 161-63 <?page no="265"?> Index 265 Missouri Compromise 14 Muslim Ban 131 N Nixon, Richard Bewertung von Goldwaters Kandidatur 41 Fokussierung auf die Südstaaten 52-54 Law and Order-Rhetorik 50-51 Maßnahmen zur Desegregation 54-55 und die weiße Arbeiterklasse 42-43 und Strom Thurmond 52 Wahlergebnisse im Süden 56-57 O O’Connor, Sandra Day 75 P Palin, Sarah 88-90, 123 Paul, Rand 84 Paul, Ron 116 Phillips, Kevin 142, 221 und Southern Strategy 31, 33-34 Planned Parenthood 112, 205 Proposition 187 171 Pruitt, Scott 202 R Racial Resentment innerhalb der republikanischen Wählerschaft 139 und Donald Trumps Wähler 140 und Tea Party-Mitglieder 120 Reagan Democrats 142 Reagan, Ronald Gemeinsamkeiten mit George Wallace 78 Neshoba County Fair 63- 64 populistische Rhetorik 59-60 rassistische Ansichten 76-78 Reaktion auf Attentat auf Martin Luther King, Jr. 62 und Abtreibung 72 und Bob Jones University 66-67 und die Christliche Rechte 72-75 und die weiße Arbeiterklasse 81 und schwarze Wähler 78-79 Reconstruction 19-27 Redistricting Reformen 185 republikanische Vorteile 182-83 Reed, Ralph 174 Rehnquist, William 79 <?page no="266"?> 266 Index Republikanische Partei als Partei der weißen Arbeiterklasse 143-45 Ansichten bezüglich der Rechte sexueller Minderheiten 178 Ansichten zum Zustand der Demokratie 215 Bildungsgrad der Wählerschaft 146, 160 Gründung 15-16 heutige Zusammensetzung 94-96, 156-57, 177 heutiger Einfluss der Südstaaten auf 94-95 ideologische Radikalität 101 Opposition zur Einwanderung 132 und Abtreibung 105-6 und Klimawandel 166 Unterstützung der Politik Donald Trumps 206-8 Roberts, John 200, 212 Roe v. Wade 69, 72, 105, 210 Romney, Mitt 130, 149, 155, 196 47 Prozent-Kommentar 91 Ergebnis in der weißen Arbeiterklasse 145 Nutzung von rassistischen Ressentiments 90-92 Rove, Karl 88 Rubio, Marco 134 Ryan, Paul 82 S Santelli, Rick 115 Scopes Monkey Trial 68 Sessions, Jeff 198 Shelby County v. Holder 191, 195 Shultz, George 43 Solid South 28-29 Southern Strategy 31 Dominanz des Südens innerhalb der Republikanischen Partei als Folge 94-95 unter Goldwater 37-40 unter Nixon 44 unter Reagan 63-64, 72- 74 Stanton, Edwin 22 Sumner, Charles 16 T Tea Party Ansichten zu Barack Obama 122-23 Rassismus 120-23 Religiosität 117-19 und Barry Goldwater 118 und Einwanderung 123- 25 und politischer Aktivismus 126 <?page no="267"?> Index 267 und wahrgenommene Diskriminierung gegen Weiße 121 Tenure of Office Act 22 Thomas, Clarence 78 Thurmond, Strom Gemeinsamkeiten mit Reagan 76 Kampagne 1948 29-30 Unterstützung für Nixon 52 Tilden, Samuel J. 25 Truman, Harry S. 29 Trump, Donald Ansichten seiner Stammwähler 133-34 Deregulierungspolitik 202 Gesellschaftspolitik 206 Immigration als Bedrohung 51, 131, 132 ökonomische Ängste seiner Wähler 138 Rassismus 131 Rassismus seiner Wählerschaft 140 Umweltpolitik 202 und Israel 113 Unterstützung durch die weiße Arbeiterklasse 145 Vorwahlen 2016 128-30 V Voter ID Laws 189 Beschneidung des Wahlrechts ethnischer Minderheiten durch 194 Einfluss auf die Wahl 2016 197 W Wallace, George 44-48 weiße evangelikale Protestanten Angst des Statusverlustes 137 Rolle innerhalb der Republikanischen Partei 108 Unterstützung von Donald Trump 110, 112 Welfare Queen 78 Weyrich, Paul 75 Will, George 142 Wilson, Pete 171 Z Zwischenwahl 2018 158 <?page no="268"?> Stefan Marschall Das politische System Deutschlands utb M 4., aktualisierte Auflage 2018, 294 Seiten €[D] 24,99 ISBN 978-3-8252-4978-6 eISBN 978-3-8385-4978-1 Das Buch führt in ein Kerngebiet der Politikwissenschaft und der politischen Bildung ein. Es vermittelt im Textbook-Format auf didaktisch-eingängigem Weg grundlegende Kenntnisse über das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Es verbindet diese Kenntnisvermittlung mit der Einführung in relevante wissenschaftliche Theorien und Debatten. In den zwölf Kapiteln werden die zentralen Akteure des politischen Systems (u.a. Medien, Parteien, Bundestag, Bundeskanzler) ebenso behandelt wie wichtige strukturelle Facetten (u.a. Föderalismus, Europäisierung). In den jeweiligen Kapiteln dient das Demokratiekonzept als gemeinsamer Ausgangspunkt (z.B. »Verbändedemokratie«, »Kanzlerdemokratie«). Damit wird immer wieder auch die Frage nach der Legitimation und etwaigen Legitimationsproblemen der Bundesrepublik Deutschland aufgeworfen. Am Ende des Buches steht die Zukunftsfähigkeit der deutschen Demokratie im Fokus. Die Neuauflage berücksichtigt die jüngsten Entwicklungen in der deutschen Politik, u.a. die Änderungen im Wahlrecht. Zudem sind die Literaturangaben sowie die Liste der Internet-Verweise grundlegend aktualisiert worden. NEUAUFLAGE \ LEHRBUCH UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (07071) 9797-0 Fax +49 (07071) 97 97-11 \ willkommen@uvk.de \ www.narr.de